Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts: Akten der IVR-Tagung vom 28.-30. September 2006 in Würzburg 3515091017, 9783515091015

Der moderne Verfassungsstaat gewährt umfassende Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und ist selb

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
ERSTER TEIL: GRUNDLEGENDE ORIENTIERUNGEN
RELIGION UND VERFASSUNGSSTAAT IM KAMPF DER KULTUREN
RÖMISCHES RECHT UND EUROPÄISCHE KULTUR
RELIGION ALS STÜTZE ODER GEFÄHRDUNG EINER FREIEN GESELLSCHAFT
KATHOLIZISMUS UND RECHTSORDNUNG
PROTESTANTISMUS UND RECHTSORDNUNG
ORTHODOXER GLAUBE: KIRCHE UND RECHTSORDNUNG
RELIGION, GEWALT UND MENSCHENRECHTE – EINE PROBLEMSKIZZE AM BEISPIEL VON CHRISTENTUM UND ISLAM –
ZWEITER TEIL: BEREICHSSPEZIFISCHE ANALYSEN
NOTWENDIGKEIT UND UMRISSE EINER KULTURTHEORIE DES RECHTS
PLURALITÄT DER KULTUREN ALS HERAUSFORDERUNG AN DAS VERFASSUNGSRECHT?
KULTURELLES SELBSTVERSTÄNDNIS ALS TABUZONE FÜR DAS RECHT?
CHRISTLICHE IMPRÄGNIERUNG DES BGB?
CHRISTLICHE IMPRÄGNIERUNG DES STRAFGESETZBUCHS?
STRAFRECHTLICHE VERBOTSNORMEN ZUM SCHUTZ VON KULTURELLEN IDENTITÄTEN
RECHTSVORSTELLUNGEN IM ISLAM
AUTORENVERZEICHNIS
SACHREGISTER
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Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts: Akten der IVR-Tagung vom 28.-30. September 2006 in Würzburg
 3515091017, 9783515091015

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Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts

ARSP BEIHEFT 113

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Archives for Philosophy of Law and Social Philosophy Archives de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale Archivo de Filosofía Jurídica y Social

Horst Dreier / Eric Hilgendorf (Hg.)

Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts Akten der IVR-Tagung vom 28.–30. September 2006 in Würzburg

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2008

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09101-5 Zugleich: 978-3-8329-3426-2 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf alterungs­bestän­digem Papier Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ..................................................................................................................

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Erster Teil: Grundlegende Orientierungen Horst Dreier: Religion und Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen .................. 11 Reinhard Zimmermann: Römisches Recht und europäische Kultur ..................... 29 Karl Gabriel: Religion als Stütze oder Gefährdung einer freien Gesellschaft ...... 55 Ansgar Hense: Katholizismus und Rechtsordnung ............................................... 69 Friedrich Wilhelm Graf: Protestantismus und Rechtsordnung ............................... 129 Nikitas Aliprantis: Orthodoxer Glaube: Kirche und Rechtsordnung .................. 163 Eric Hilgendorf: Religion, Gewalt und Menschenrechte – Eine Problemskizze am Beispiel von Christentum und Islam – .................................................... 169 Zweiter Teil: Bereichsspezifische Analysen Ulrich Haltern: Notwendigkeit und Umrisse einer Kulturtheorie des Rechts ...... 193 Christoph Möllers: Pluralität der Kulturen als Herausforderung an das Verfassungsrecht? ............................................................................................ 223 Uwe Volkmann: Kulturelles Selbstverständnis als Tabuzone für das Recht? ........ 245 Joachim Rückert: Christliche Imprägnierung des BGB? ........................................ 263 Thomas Gutmann: Christliche Imprägnierung des Strafgesetzbuchs? .................. 295 Tatjana Hörnle: Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten ....................................................................................................... 315 Christine Schirrmacher: Rechtsvorstellungen im Islam – Grenzen und Reichweite des Rechtssystems „Scharia“, dargestellt am Beispiel des Strafrechts sowie des Ehe- und Familienrechts – ........................................... 339 Autorenverzeichnis ................................................................................................. 365 Sachregister ............................................................................................................. 369

VORWORT Der vorliegende Band enthält die Vorträge, die auf der Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) vom 29. bis zum 30. 9. 2006 in Würzburg gehalten wurden. Das Thema der gut besuchten und von anregenden Diskussionen gekennzeichneten Veranstaltung lautete „Kulturelle Identität(en) als Grund und Grenze des Rechts“. Der moderne Verfassungsstaat gewährt umfassende Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und ist selbst – Spiegelbild dieses Umstandes – religiös und weltanschaulich neutral. Ungeachtet dessen liegt aber die Prägung der westlichen Demokratien durch die Kulturmacht des Christentums auf der Hand. Die Beiträge widmen sich den vielfältigen Fragen, die sich aus diesem spannungsreichen Verhältnis ergeben. Sie tragen insbesondere dem Tatbestand Rechnung, daß sich die Grundproblematik durch die religiöse Pluralisierung der letzten Jahrzehnte in entscheidender Weise verschärft hat. Die vormittäglichen Plenarvorträge finden sich im ersten Teil („Grundlegende Orientierungen“). Hier wurden zusätzlich Beiträge der beiden Herausgeber aufgenommen, die sich aus ihrem je spezifischen Blickwinkel dem Tagungsthema widmen. Ein kürzerer Text über das orthodoxe Christentum fand Aufnahme, weil der entsprechende Beitrag in der Diskussion aus tagungsökonomischen Gründen stark gekürzt werden mußte, die Sache selbst aber eine entsprechende Ergänzung des Themenspektrums durchaus geraten erscheinen läßt. Die Vorträge der nachmittäglichen Sektionssitzungen sind im zweiten Teil des vorliegenden Bandes versammelt, wobei es ungeachtet der Kennzeichnung als „Bereichsspezifische Analysen“ auch hier stets zugleich um Fragen prinzipieller und grundsätzlicher Art geht. Die Durchführung der Tagung und der Abdruck der Beiträge wurden großzügig unterstützt von der Edgar Michael Wenz-Stiftung, der Thyssen-Stiftung und den Juristen Alumni Würzburg. Allen drei Institutionen sind wir sehr zu Dank verpflichtet. Für die von vielen Teilnehmern ausdrücklich sehr gelobte Organisation der Tagung „vor Ort“ danken wir Herrn Dr. Brian Valerius und seinen Helferinnen Chantsaldulam Dashzeveg, Klara Opavská und Anna Kristina Scheffner. Nicht zuletzt schulden wir Frau Friederike Lange und Herrn Cornelius Held herzlichen Dank für kompetente Unterstützung bei der Redaktion des Bandes. Würzburg, im Herbst 2007 Horst Dreier

Eric Hilgendorf

(vakat)

ERSTER TEIL: GRUNDLEGENDE ORIENTIERUNGEN

HORST DREIER, WÜRZBURG RELIGION

UND

VERFASSUNGSSTAAT

I. DIE AMBIVALENZ

DES

IM

KAMPF

DER

KULTUREN

RELIGIÖSEN

1. Zum Gewaltpotential von Religionen Wer in unseren Tagen von Kultur oder von kultureller Identität spricht, sieht sich unvermeidlich mit den geläufigen Schlagworten vom Kampf oder dem Zusammenprall der Kulturen konfrontiert1. Die Dramatisierung und Pauschalität dieser Formel zugestanden, sind doch einschlägige Zeichen und Phänomene für einen solchen Konflikt nicht zu übersehen. Jeder Kampf zwischen Kulturen beruht im Kern auf dem Ausschließlichkeitsanspruch einer bestimmten Weltdeutung und Glaubensrichtung2, der Abwertung der Andersdenkenden oder Andersgläubigen und dem so oder so verstandenen Missionsbefehl – bis hin zum Krieg oder zum terroristischen Akt. Nun hat man unlängst darauf hingewiesen, daß derzeit der westliche Kulturkreis nicht von muslimischen Staaten und auch nicht vom Islam als Religion angegriffen wird, sondern von islamistischen Terroristen als Einzelgängern oder kleinen Gruppen3. 1

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Begriffs- und diskussionsprägend: S. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (1996), dt. u.d.T.: Kampf der Kulturen (zahlreiche Auflagen, zuletzt etwa 2006). – Das Buch hat eine intensive Diskussion ausgelöst. Aus der Vielzahl kritischer Stimmen vgl. etwa M. Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der ‚Kampf der Kulturen’, 2000, insb. 15 ff.; F.W. Graf, Die Wiederkehr der Götter, 2004, 203 ff., 222 ff. Nicht überzeugend A. Sen, Die Identitätsfalle, 2. Aufl. 2007, 9, 26 ff., 54 ff. u.ö. mit der zentralen These, die Rede von muslimischen Gesellschaften oder einer christlichen Kultur suggeriere eine Homogenität, die es aufgrund der „pluralen Identitäten“ (S. 87) bzw. der parallel existierenden unterschiedlichen Rollen und Präferenzen eines jeden Einzelnen niemals geben könne. Der durch gutgemeinte kosmopolitische Postulate nicht aufhebbare springende Punkt besteht aber gerade darin, daß eine bestimmte Identität, etwa eine tiefe religiöse oder politische Überzeugung, alle anderen Identitäten oder Rollen auf entscheidende Weise dominieren kann. Und dies war und ist eben nicht nur eine böse oder dumme Illusion, sondern bittere Realität. Das macht den nicht leichthin wegzudefinierenden Kern des Problems aus, für den „Fundamentalismus“ die derzeit gängige Chiffre ist. Karl Kardinal Lehmann, Chancen und Grenzen des Dialogs zwischen den „abrahamitischen Religionen“, in: Benedikt XVI., Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung, 2006, 97 ff. (102); eine gekürzte Fassung erschien unter dem Titel: Kampf der Kulturen?, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 219 v. 20. September 2006, 8. Der Punkt ist auch schon thematisiert bei Huntington (Fn. 1), 334 f. – Noch sehr viel weitgehender und mit deutlich apologetischer Tendenz im Verhältnis zum Islam A. Höfert, Die glorreichen Tage des Dschihad sind Geschichte, FAZ Nr. 243 v. 19. Oktober 2006, 37: „Kriege werden von Armeen und Institutionen ausgefochten, die dies unter Verweis auf Religion oder Kultur tun mögen. Der Islam an sich, egal, ob er nun im Sinn von Kultur oder Religion verstanden wird, ist eine abstrakte Größe, kein handelndes Subjekt in der Weltgeschichte.“ Wenn man das so sieht, dann haben die blutigen konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts in England, Frankreich und Deutschland natürlich auch nichts mit Protestantismus und Katholizismus zu tun gehabt, sondern nur mit irgendwelchen Armeen und Institutionen. Aber eine derartige klare Scheidung zwischen der quasi unbefleckten religiösen Überzeugung und ihrer in die politische Realität verstrickten Durchsetzung finden wir in der Geschichte ebensowenig vor wie in der Gegenwart. Auch wenn Kulturen weder geschlossene Blöcke

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Doch ändert dies nichts an dem beunruhigenden Befund, daß diese ihre Handlungen gerade unter explizitem Bezug auf ihren Glauben und ihre als bedroht empfundene muslimische Kultur rechtfertigen, wie das bei den Selbstmordattentätern vom 11. September 2001 der Fall war4. Der Koran diente und dient insofern als unmittelbare Handlungsanleitung, jedenfalls als Legitimierung für die eigenen terroristischen Akte. Und was hier nun in Bezug auf diesen heiligen Text rechte Lehre, was extremistische Deformation, was immanenter Gehalt und was propagandistisch-politischer Auswuchs, was also authentische Anweisung des Koran und was Verstoß gegen ihn ist, läßt sich beileibe nicht immer mit Gewißheit sagen. Dies auch und vor allem nicht, weil es ein institutionalisiertes Lehramt mit verbindlicher Auslegungs- und Deutungskompetenz der religionsstiftenden Schriften ebensowenig gibt5 wie feste Standards einer wissenschaftlichen Theologie, die das Fegefeuer der Aufklärung hinter sich hat und der historisch-kritischen Methode der Behandlung der Schriftüberlieferung folgt6. Schon deshalb bringt es keinen weiterführenden Erkenntnisgewinn, wenn in der öffentlichen Debatte mit schöner Regelmäßigkeit die religiös-spirituelle Seite des Islam gegen seine politisch-autoritäre Seite ausgespielt wird, häufig mit entsprechend selektiv herangezogenen Koran-Zitaten, wie man dies in den Leserbriefspalten namhafter Tageszeitungen verfolgen kann7. Andererseits ist es natürlich kein wirklicher Trost, wenn sich bei historischer Betrachtung rasch zeigt, daß religiös legitimierte und motivierte Gewalt keineswegs der Einzelfall oder gar ein Spezifikum des Islam ist. Eine solche dunkle, destruktive Seite läßt sich bei vielen Religionen (selbst dem Buddhismus8) ausmachen; kaum eine zeigt sich gegen entsprechende Deutungen völlig immun. Die Gefahr totalitärer Intoleranz scheint Religionen schon wegen ihres inhärenten Wahrheitsanspruches, der sich Relativierungen gegenüber rasch unduldsam zeigen kann, jedenfalls als

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noch militärische Formationen sind, kann man die Existenz von (häufig religiös motivierten) Kulturkonflikten bis hin zur kriegerischen Auseinandersetzung oder zum terroristischen Akt nicht ausblenden. Siehe zu den Motiven und Rechtfertigungen der Attentäter etwa U.K. Preuß, Krieg, Verbrechen, Blasphemie. Gedanken aus dem alten Europa, 2003, 12 f., 138 ff., 166 ff. Zum Fehlen einer Anstaltskirche mit festgelegter Lehrautorität etwa G. Krämer, Zum Verhältnis von Religion, Recht und Politik: Säkularisierung im Islam, in: H. Joas/K. Wiegandt (Hrsg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, 2007, 172 ff. (179 ff.). Aufforderung in diese Richtung etwa bei K.-H. Ohlig, Wir müssen uns wehren. Appell für eine neue Islamwissenschaft, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 271 v. 21. November 2006, 41, 43. Vgl. auch den Bericht von S. Wild, Drei Tage in Medina, FAZ Nr. 279 v. 30. November 2006, 33: „Methodisch ist das Haupthindernis, daß für die muslimischen Teilnehmer der Glaube an den unmittelbar göttlichen Ursprung des Korans verbietet, nach ‚Quellen’ des Korans oder nach einer historischen Entwicklung des Textes zu suchen.“ In diesem Kontext noch W. G. Lerch, Wer bändigt die rauhen Sitten?, FAZ Nr. 286 v. 8. Dezember 2006, L 17. – Zum Koran als „Offenbarungsschrift“ K. Prenner, Islamischer Fundamentalismus und Koraninterpretation, in: K. Salamun (Hrsg.), Fundamentalismus „interdisziplinär“, Wien 2005, 117 ff. (118 ff.). An Leserzuschriften aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ der Monate Oktober und November 2006 etwa: G. Böhme, Einsicht in die Pluralität gefordert, FAZ Nr. 237 v. 12. Oktober 2006, 8; E. Jain, Kein friedliches Nebeneinander, FAZ Nr. 253 v. 31. Oktober 2006, 13; M. Wieck, Intolerante Formulierungen, FAZ Nr. 256 v. 3. November 2006, 11; N. Riecken, Ein Islam für liberale Bildungsbürger, ebd. Vgl. J.-U. Hartmann, Triffst du den Buddha, wirst du ihn töten, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 2004, 107 ff.

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Möglichkeitsform gleichsam eingeschrieben zu sein. Religionen können daher nicht nur Toleranz, Mitmenschlichkeit und Humanität fördern, sondern waren und sind vor allem infolge massiver Politisierung, gegen die ebenfalls kaum eine von ihnen innerlich gefeit ist, nicht selten Ursache von Intoleranz und Unterdrückung, von Konflikt und Krieg9. Zu den schlimmsten und blutigsten Auseinandersetzungen gehören die konfessionellen Bürgerkriege im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts10. Auf den Aspekt immanenter Gewaltträchtigkeit oder doch eines gewissen Gewalt- und Fanatisierungspotentials von Religion11 in seiner mittlerweile vor allem wegen eines bestimmten Zitates vieldiskutierten Regensburger Universitätsrede vom 12. September 2006 hingewiesen zu haben, war also durchaus verdienstlich von Papst Benedikt XVI.12 Problematischer mutet an, daß er insofern allein vom Islam gesprochen hat. Zumindest ein kleiner Parallelhinweis auf entsprechende Lehren und Praktiken in der langen Geschichte des Christentums hätte wohl nicht geschadet13. Denn auch diese Geschichte ist ja keineswegs durch konsequente Abstinenz von Gewaltanwendung in Glaubenssachen gekennzeichnet14. Sie zeigt vielmehr, wie verschieden die Lesart der Bibel ausfallen kann, wie oft die Heilige Schrift (zumal in ihr Gewalt selbst keineswegs durchweg negativ dargestellt wird15) als Anleitung und Legitimierung für Kreuzzüge, Hexenverfolgungen, Ketzerbekämpfungen und anderes

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Mit Scott Appleby kann man von einer „Ambivalenz des Heiligen“ sprechen (R. Scott Appleby, The Ambivalence of the Sacred: Religion, Violence, and Reconciliation, New York/Oxford 2000): dem Gewaltpotential von Religionen einerseits (insbesondere in Form von ethno-religiösen Konflikten, S. 58 ff., und Gewalt als „heiliger Pflicht“, S. 85 ff.), ihrem Friedens- oder Befriedungspotential andererseits (etwa in Konflikten, in denen säkulare Akteure gescheitert sind, S. 207 ff.). Siehe auch V. Krech, Götterdämmerung. Auf der Suche nach Religion, 2003, 45 ff.; ferner E. Hilgendorf, Religion, Gewalt und Menschenrechte, in diesem Bande S. 169 ff. Vgl. die Beiträge in F. Brendle/A. Schindling (Hrsg.), Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa, 2006, insb. Brendle/Schindling, Religionskriege in der Frühen Neuzeit. Begriff, Wahrnehmung, Wirkmächtigkeit, 15–52. Treffend M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rn. 48: „Der 11. September 2001 mag als Chiffre dafür stehen, die zeigt, daß Religion neben der sozialproduktiven Dimension auch eine destruktive Seite kennt und insoweit vom Religionsrecht immer als Ambivalenzphänomen wahrzunehmen ist.“ Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen, in: ders., Glaube und Vernunft (Fn. 3), 11 ff. (15 f.). (Auszugsweise wurde die Rede in verschiedenen Tageszeitungen abgedruckt; vgl. etwa: Papst Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 213 v. 13. September 2006, 8). – Siehe dazu jetzt auch die Kommentare in: C. Dohmen (Hrsg.), Die „Regensburger Vorlesung“ Papst Benedikts XVI. im Dialog der Wissenschaften, 2007. Scharf im Urteil K. Flasch, Von Kirchenvätern und anderen Fundamentalisten, in: K. Wenzel (Hrsg.), Die Religionen und die Vernunft. Die Debatte um die Regensburger Vorlesung des Papstes, 2007, 17 ff. (18), der die Papst-Rede schlicht als „unhistorische Schwarz-Weiß-Malerei“ bezeichnet. (Erstabdruck des Beitrages in: Süddeutsche Zeitung Nr. 239 v. 17. Oktober 2006, 11). Vgl. etwa: K. Hilpert, Art. Toleranz, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 10, 2001, Sp. 95 ff. Sehr gründlich und differenziert jetzt A. Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, 2007, insb. Dritter Teil („Religionstoleranz und Religionsgewalt“, S. 232 ff.) und Vierter Teil („Heiliger Krieg und Heiliger Frieden“, S. 372 ff.). Siehe etwa O. Kehl, Gewalttätigkeit in der Bibel, in: K. Hilpert (Hrsg.), Die ganz alltägliche Gewalt. Eine interdisziplinäre Annäherung, 1996, 117 ff. (117).

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mehr ge- bzw. mißbraucht worden ist16. Es gibt eben auch den Terror der frommen Seele17. Zutreffend und durchaus selbstkritisch hat etwa die katholische deutsche Bischofskonferenz vor einiger Zeit davon gesprochen, daß die Christenheit der Versuchung durch die Gewalt durchaus nicht immer widerstanden habe18, und ähnlich deutliche Worte finden sich in verschiedenen Dokumenten und Stellungnahmen von evangelischer Seite19. Erst eine offene und selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte macht Forderungen an den Islam plausibel und glaubwürdig, der „religiösen Legitimation von Gewalt und der Instrumentalisierung von religiösen Überzeugungen zu politischen Zwecken deutlich und wirksam“ entgegenzutreten20. Man darf die eigene Gewaltgeschichte auf keinen Fall verschweigen oder schönreden. 2. Akkomodation an den Verfassungsstaat Ebenso wie beim Islam führt es nicht sinnvoll weiter, angesichts der Gewaltgeschichte des Christentums gerade zu seinen Zeiten als Staatskirche die historische Praxis als mit dem „wahren“ Kern des christlichen Glaubens oder der „richtigen“ Interpretation der christlichen Offenbarung für unvereinbar zu erklären; das hieße, eine jahrhundertelange Tradition ungeschehen machen und in den Orkus werfen zu wollen. Auch der sog. Fundamentalismus beschränkt sich weder auf religiöse Gemeinschaften21 noch innerhalb derer auf den Islam22. Entscheidend im Falle der beiden christlichen Großkirchen in Deutschland ist die letztlich erfolgreiche kulturelle Zivilisierung23, also der Friedensschluß, den beide mit der politischen Moderne, mit Demokratie und Menschenrechten, gemacht haben. Zudem ist es bei einem Friedensschluß im Sinne der bloßen Akzeptanz eines politischen, als unabänderlich empfundenen status quo nicht 16 Kompakt G. Baudler, Gewalt in den Weltreligionen, 2005, 154 ff. („Die Blutspur: Inquisition, Hexenverfolgung, Kreuzzüge, Gewalt-Mission“). 17 Formulierung: F.W. Graf, Protestantismus und Rechtsordnung, in diesem Bande S. 129 ff. (153). 18 Gemeinsame Erklärung der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz v. 29.6.2006, abrufbar unter: http://www.radiovaticana.org/ted/Articolo.asp?c=97232. 19 Sinnfällig im Kontext des christlich-islamischen Dialogs: Rat der EKD, Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland, 2006, 24, 46. 20 Bischof Wolfgang Huber, Glaube und Vernunft. Ein Plädoyer für ihre Verbindung in evangelischer Perspektive, in: Wenzel (Fn. 13), 57 ff. (66). (Erstabdruck des Beitrages in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 253 v. 31. Oktober 2006, 10). 21 Zu anderen (moralischen, ästhetischen, erotischen) Formen des Fundamentalismus instruktiv S. Breuer, Moderner Fundamentalismus, 2002. 22 Im Überblick K. Kienzler, Der religiöse Fundamentalismus. Christentum, Judentum, Islam, 4. Aufl. 2002; ferner M. Riesebrodt, Fundamentalismus, Säkularisierung und die Risiken der Moderne, in: H. Bielefeldt/W. Heitmeyer (Hrsg.), Politisierte Religion, 1998, 67 ff.; zu den evangelischen Pfingstlern etwa F. W. Graf, Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart, 2006, 54 ff. 23 Das darf nicht mit Säkularisierung verwechselt werden. Gemeint ist mit Zivilisierung vielmehr die Überwindung der destruktiven, gesellschaftlichen Frieden und politische Stabilität gefährdenden Züge und die Akkomodation der Religion(en) mit den Systemimperativen eines modernen, weltanschaulich neutralen demokratischen Verfassungsstaates. – E. Hilgendorf, Religion, Recht und Staat, in: ders. (Hrsg.), Wissenschaft, Religion und Recht, 2006, 359 ff., spricht im Untertitel noch stärker von der „Notwendigkeit einer Zähmung der Religionen durch das Recht“.

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geblieben. Vielmehr zählen die katholische Kirche sowie die evangelischen Kirchen in Deutschland heute zu den entschiedenen Befürwortern moderner Grundrechtsdemokratien einschließlich der Religionsfreiheit und der Freiheit zum Religionswechsel (wie sie die islamischen Staaten nach wie vor gerade nicht kennen24). Das ist zweifelsohne vorbehaltlos zu begrüßen, sofern nicht andernorts noch Vorbehalte bleiben. Dieser erfolgreiche Lernprozeß und die darin liegende „Anpassungsleistung“25 der christlichen Großkirchen sollten aber wiederum nicht vergessen lassen oder zu übertünchen suchen, daß Katholiken wie Protestanten lange Zeit und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein den Grundfesten eines freiheitlichen Verfassungsstaates bestenfalls gleichgültig, nicht selten gar in scharfer Opposition gegenüberstanden. So erklärte Papst Pius VI. im Jahre 1791 die französische Menschenrechtsdeklaration für unvereinbar mit Vernunft und Offenbarung und prägte damit bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die dominante Sichtweise26. Der Umschwung erfolgte erst mit Papst Johannes XXIII. und dem II. Vatikanischen Konzil27. Und auch der Protestantismus wehrte zwar im Kampf für das eigene Bekenntnis äußeren Glaubenszwang ab, entband damit aber noch keineswegs die Idee individuell radizierter, pluraler

24 Nach C. Schirrmacher, Rechtsvorstellungen im Islam, in diesem Bande S. 339 ff. (345) „ist die Forderung der Scharia nach der Todesstrafe für Abgefallene unter Theologen aller vier sunnitischen sowie der schiitischen Rechtsschule weitgehend unstrittig“. Näher dazu B. Ucar, Die Todesstrafe für Apostaten in der Scharia. Traditionelle Standpunkte und neuere Interpretationen zur Überwindung eines Paradigmas der Abgrenzung, in: H. Schmid u.a. (Hrsg.), Identität durch Differenz?, 2007, 227 ff. (237): „Die herrschende Meinung innerhalb der traditionellen Lehre sieht aufgrund der eindeutigen Regelung in der Sunna und der Indizien im Koran für beide Geschlechter bei einem Abfall vom Islam die Todesstrafe vor“, mit Hinweis auf abweichende Auffassungen für „einfache“ Apostaten ohne anti-islamische oder kriegerische Absicht (S. 238 ff.). Beim Thema Religionswechsel sind, was sonst selten genug vorkommt, auf dem Parkett internationaler Menschenrechtsdokumente in den letzten Jahrzehnten Rückschritte zu verzeichnen. Saudi-Arabien enthielt sich 1948 bei der Abstimmung über die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Stimme, weil in der Deklaration das Recht zum Religionswechsel ausdrücklich garantiert ist; der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ von 1966 führt die Freiheit zum Religionswechsel nicht mehr explizit auf. Die (nicht verbindliche, 1990 von den Außenministern der Organisation der Islamischen Konferenz angenommene) „Kairoer Erklärung“ statuiert in Art. 24: „Alle Rechte und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt werden, unterstehen der islamischen Scharia.“ Bündige Information bei H. Gröhe, Art. Religionsfreiheit (Th), in: Evangelisches Staatslexikon, 4. Aufl. 2006, Sp. 2006 ff. (2010 f.) 25 H. Rottleuthner, Wie säkular ist die Bundesrepublik?, in: M. Mahlmann/H. Rottleuthner (Hrsg.), Ein neuer Kampf der Religionen? Staat, Recht und religiöse Toleranz, 2006, 13 ff. (28). 26 Eingehend für das 19. Jahrhundert J. Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum – Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, ZRG KA 73 (1987), 296 ff.; aufschlußreich für die tiefliegende Skepsis gegenüber vorstaatlichen Grundrechten des Einzelnen insofern der Beitrag von Kämpfe, rev. Ettlinger, Art. Menschenrechte, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 4. Aufl., Bd. 3, 1911, Sp. 1083 ff.; weitere Hinweise hierzu und zum folgenden bei H. Dreier, Vorbemerkungen vor Artikel 1 GG, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Rn. 3 f. 27 Siehe etwa K. Breitsching, Menschenrechte, Grundrechte und kirchliche Rechtsordnung, in: Tradition – Wegweisung in die Zukunft. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 75. Geburtstag, 2001, 191 ff.; K. Graf Ballestrem, Katholische Kirche und Menschenrechte, in: M. Brocker/T. Stein (Hrsg.), Christentum und Demokratie, 2006, 147 ff. (155 ff.).

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Menschenrechte28; desgleichen währte die Distanz zur demokratischen Staatsform lange29. Vom Gottesrecht zum Menschenrecht war es eben ein weiter Weg30. II. CHRISTENTUM

ALS KULTUR- UND RECHTSPRÄGENDER

FAKTOR

1. Rationalitätsschub durch die Kanonistik Andererseits läßt sich das Christentum auch nicht auf eine bloße Gewaltgeschichte verkürzen, wie dies reißerisch anmutende „Kriminalgeschichten“ dieser Religion nahelegen mögen31. Vielmehr hat das lateinische Christentum auf vielen Feldern als ein kulturprägender Faktor allerersten Ranges und denkbar größter Bedeutung gewirkt32. Wer von Kultur spricht, kann von Religion nicht schweigen; wer von west28 Vgl. näher M. Heckel, Die Menschenrechte im Spiegel der reformatorischen Theologie, 1987, 38 f.; W. Huber, Art. Menschenrechte/Menschenwürde, in: Theologische Realenzyklopädie XXII, 1992, Sp. 577 ff. (591 ff.); Graf (Fn. 17), S. 155 ff. jeweils m.w.N. 29 Zur weitgehenden Ablehnung der Weimarer Republik in Protestantismus und Katholizismus Nachweise bei H. Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001), 9 ff. (11). Zur Diskussion im Protestantismus des 19. Jahrhunderts A. Dörfler-Dierken, Luthertum und Demokratie. Deutsche und amerikanische Theologen des 19. Jahrhunderts zu Staat, Gesellschaft und Kirche, 2001. – Heute fällt die Beurteilung der Demokratie positiv aus (vgl. Denkschrift der EKD: „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“, 1985), und die Evangelischen Kirchen treten „aktiv für die Weiterentwicklung der demokratischen Ordnung wie der Bereitschaft zur demokratischen Mitwirkung ein“ (W. Huber, Religionen und säkularer Staat, ZSE 5 [2007], 153 ff. [155]). 30 Formulierung in Aufnahme des Titels der nunmehr maßgeblichen Monographie zum Thema der langwierigen Aussöhnung der katholischen Kirche mit den Ideen von Demokratie und Menschenwürde: R. Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil, 2005; speziell zur reformatorischen Theologie Heckel (Fn. 28), 46 ff. Zum ganzen knapp M. Spieker, Christen, Grundgesetz und Grundrechte, in: R. Morsey/K. Repgen (Hrsg.), Christen und Grundgesetz, 1989, 127 ff. 31 Gleiches trifft natürlich auf andere Religionen in anderen Kulturkreisen zu. Allgemein I.U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 2003, 1: „Höchste kulturelle Leistungen verdanken sich den Religionen ebenso wie grausamste Unmenschlichkeiten, selbstloser Einsatz für das Wohl anderer ebenso wie erbarmungslose Gewalt gegen Ungläubige und Andersdenkende. Die Religionen sind ein Panoptikum des Menschseins, im Guten wie im Bösen.“ 32 Vgl. an Klassikertexten etwa E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 1911; M. Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus (1904/05), herausgegeben und eingeleitet von Klaus Lichtblau und Johannes Weiß, 1993; ders., „Vorbemerkung“ (S. 1 ff.), „Resultat: Konfuzianismus und Puritanismus“ (S. 512 ff.) und „Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung“ (S. 536 ff.), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920), 1988. – Aus der älteren Literatur M. Odenheimer, Der christlich-kirchliche Anteil an der Verdrängung der mittelalterlichen Rechtsstruktur und an der Entstehung der Vorherrschaft des staatlich gesetzten Rechts im deutschen und französischen Rechtsgebiet, Basel 1957; knappe Überblicke aus jüngerer Zeit etwa bei U. Matz, Zum Einfluß des Christentums auf das politische Denken der Neuzeit, in: G. Rüther (Hrsg.), Geschichte der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Bewegungen in Deutschland, 2. Aufl. 1987, 27 ff.; E.-W. Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche und moderner Welt. Aufriß eines Problems, in: R. Koselleck (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, 1977, 154 ff.; A. Freiherr von Campenhausen, Christentum und Recht, in: P. Antes (Hrsg.), Christentum und europäische Kultur, 2002, 96 ff.; siehe auch A. Hense, Katholizismus und Rechtsordnung, in diesem Bande S. 69 ff.

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licher Kultur oder in lange Zeit gebräuchlicher Diktion vom „Abendland“ spricht, hat der Bedeutung des Christentums gebührend Rechnung zu tragen. Das gilt auch und gerade für den juridischen Bereich33. Keine tiefergehende Betrachtung unserer heutigen Lage kann sich der Frage entziehen, in welcher Weise das Christentum unsere Rechtsordnung (explizit oder implizit, an der Oberfläche oder in Tiefenschichten) noch immer mitformt und mitgestaltet – und welche Folgeprobleme das möglicherweise aufwirft. Dabei ist zunächst ganz unbestritten, daß es mannigfaltige christliche Wurzeln unserer Rechtsordnung gibt, die Religion insofern also durchaus als Grund des Rechts gewirkt hat. Das Eherecht, genauer: die Gültigkeit der als prinzipiell unauflöslich konzipierten Ehe allein aufgrund der übereinstimmenden Willenserklärungen der beiden Partner, ist ein gern genanntes Beispiel34. Weit über dieses Exempel hinaus kann man ganz allgemein mit Fug und Recht davon sprechen, daß mit der Ausbildung der Kanonistik durch die „Juristenpäpste“ im hohen Mittelalter ein zentraler Meilenstein für die Entwicklung hin zu einer modernen, wissenschaftlich traktierten, von einer bürokratisch durchorganisierten Anstalt verwalteten und weiterentwickelten Rechtsordnung gesetzt war35. Modern waren die das kanonische Prozeßrecht beherrschenden Maximen der Schriftlichkeit des Verfahrens, des Instanzenzuges und des für sein Amt in besonderer Weise qualifizierten Richters; modern waren im Strafrecht die Offizialmaxime und die Ausbildung zentraler justizieller Garantien wie des Rückwirkungsverbotes oder des Grundsatzes in dubio pro reo; modern war im öffentlichen Recht die klare Ausformung des Mehrheitsprinzips36. Nicht von ungefähr hat Max Weber das kanonische Recht als „Führer auf dem Wege zur Rationalität“37 bezeichnet. Dabei stellte er stärker noch auf die kompetentiellinstitutionelle Ausprägung der hochmittelalterlichen Papstkirche ab, die nach der vielzitierten Wendung des englischen Rechtshistorikers Maitland38 ein Staat, ja im 33 Und umgekehrt darf natürlich die wichtige Rolle des Römischen Rechts (auch und gerade in seiner Amalgamierung zum „Gelehrten Recht“) für die westliche Kultur nicht übersehen werden (in dem verbreiteten Sammelband von H. Joas/K. Wiegandt [Hrsg.], Die kulturellen Werte Europas, 2005, fehlt ein eigenständiger Beitrag zum Recht völlig). Knappe Schilderung der Bedeutung etwa bei P. Nemo, Was ist der Westen? Die Genese der abendländischen Zivilisation, 2005, 21 ff.; eingehend R. Zimmermann, Römisches Recht und europäische Kultur, in diesem Bande S. 29 ff. 34 Siehe W. Huber, Rechtfertigung und Recht. Über die christlichen Wurzeln der europäischen Rechtskultur, 2001, 12; R. Weigand, Art. Ehe, B. Recht, II. Kanonisches Recht, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. III, 1986, Sp. 1623 ff. (1623). 35 Dazu nunmehr in gültiger Zusammenfassung H. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, 1991 (Original: Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition, 1983), insb. 144 ff.; vor ihm bereits E. Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen. Volkscharaktere und Staatenbildung, 1931, 121 ff. („Papstrevolutionen“). Siehe jetzt auch Nemo (Fn. 33), 45 ff. 36 Zu den vorstehenden Beispielen näher und mit weiteren Nachweisen H. Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, Juristenzeitung (JZ) 2002, 1 ff. (2 ff.). Zu ergänzen wäre zu Webers Sichtweise der christlichen Kirche als charismatischer Anstalt noch W. Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 2, 1991, 243 ff. 37 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1976, 481. Vgl. vertiefend die Beiträge in: W. Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums, 1988. 38 F.W. Maitland, William of Drogheda and the Universal Ordinary, in: ders., Roman Canon Law in the Church of England, London 1898, 100: „The medieval state was a church.“ – Zur anderen Sichtweise der orthodoxen Kirche N. Aliprantis, Orthodoxer Glaube: Kirche und Rechtsordnung, in diesem Bande S. 163 ff.

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Grunde der erste moderne Staat überhaupt war: ein Staat mit umfassender Rechtsetzungsgewalt, mit einer klaren hierarchischen Ordnung der Ämter und, vor allem, mit der Vorstellung, daß es sich bei der Ausübung der entsprechenden Funktionen um ein vom jeweiligen Inhaber unabhängiges, anstaltlich zu begreifendes Amt handelt. In der Organisation als hierarchischer Herrschaftsverband (und nicht als Liebeskirche) unterscheidet sich die lateinische Kirche Wolfgang Reinhard zufolge von allen anderen Religionen einschließlich des orthodoxen Christentums39. 2. Christliche Relikte in der säkularen Rechtsordnung? So sehr die anstaltskirchlichen Strukturen die moderne Staatlichkeit noch heute fundamentieren, so klar ist andererseits, daß nach dem Siegeszug der Aufklärung und dem Ende des Staatskirchentums die inhaltliche Prägung der säkularen Rechtsordnung (wiederum im Unterschied zum Islam40) durch den christlichen Glauben auf Dauer ein Ende finden mußte. Doch so unterschiedlich die Prägung, die bis in die Tiefenschichten des Strafund Zivilrechts hinabreicht, so unterschiedlich auch das Ende. Für das Strafrecht hat Stephan Kuttner in einer magistralen Studie aus den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Herkunft fundamentaler straftheoretischer Konzepte wie Schuld, Verbrechen oder Zurechnung aus der hochmittelalterlichen Kanonistik herausgearbeitet41. Obgleich somit heute die „historische Herkunft der meisten Theoriebausteine der Strafrechtswissenschaft aus dem Kontext der christlichen Theologie des Mittelalters“ außer Frage steht, ist doch der zusätzliche Hinweis von zentraler Bedeutung, daß die Strafrechtstheorie seit der Aufklärung einen Säkularisierungsprozeß durchlaufen hat, der die überkommenen Figuren und Argumente auf neue, eigene Fundamente gestellt hat und es sich bei der Beibehaltung entsprechender Konzeptionen eben gerade nicht um die „Umsetzung authentischer theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung, sondern um einen Prozeß der Abtragung ererbter Problemlagen bei gleichzeitigem Anschluß an den erreichten Stand der Theoriebildung unter den veränderten Begründungsbedingungen der sich entwickelnden Moderne“ handelt42. 39 W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999, 260 f.: „Daß die lateinische Kirche in erster Linie Rechtskirche … wurde, daß sie sich konkret zunächst einmal als hierarchisch organisierter Herrschaftsverband verwirklichte, unterscheidet sie von allen anderen Religionen einschließlich des orthodoxen Christentums. … Die römische Rechtskirche besaß nicht nur in der Theorie, sondern auch in der institutionellen Praxis einen Vorsprung vor werdenden Staaten. Päpstlicher Alleinvertretungsanspruch (Plenitudo Potestatis), Zentralismus, Verwaltungsapparat und Steuerwesen ließen sie im Mittelalter zum Modell des modernen Staates werden.“ Siehe auch Odenheimer (Fn. 32), 139; Berman (Fn. 35), 790 ff. 40 Die Scharia kennt die freiheitsermöglichende Trennung von Religion und Recht, von Recht und Moral gerade nicht, sondern umfaßt Regelungen für alle Lebensbereiche mit gleicher Verbindlichkeit: religiöse Pflicht und weltliches Gebot werden nicht unterschiedlichen Sphären zugeordnet. Vgl. näher Schirrmacher (Fn. 24), S. 340 ff. (Zitat S. 343): „Die Scharia gilt also als weltliches wie sakrales Recht, ein in seinem Ursprung göttliches Recht, das in seinem Anspruch aber nicht nur den religiösen, sondern auch den weltlichen Bereich reglementiert“. 41 S. Kuttner, Kanonistische Schuldlehre, 1935, insb. 3 ff., 39 ff.; umfassende und reich belegte Darstellung jetzt bei L. Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe, 2006. 42 T. Gutmann, Christliche Imprägnierung des Strafgesetzbuchs?, in diesem Bande S. 295 ff. mit

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Schwerer zu vollziehen ist eine solche Autonomisierung kraft Auswechslung der tragenden Begründungsstrukturen bei den materiellen Delikten selbst, also bei den Schutzgütern strafrechtlicher Sanktionsnormen. Vielfach angeführte Beispiele für christlich motivierte bzw. in den Glaubenssätzen des Christentums fundierte Strafvorschriften sind etwa Bigamie, Gotteslästerung43 oder die einfache Homosexualität unter Erwachsenen. Hier bleibt im säkularen Verfassungsstaat letztlich nur die Alternative, entweder in Analogie zu den tragenden Elementen des Allgemeinen Strafrechts die Begründung der Strafbarkeit von ihrem direkt religiösen Bezug (etwa: Strafbarkeit der Gotteslästerung, weil Gott selbst damit beleidigt werde) in überzeugender Weise zu lösen und auf eigene, immanente und allgemein konsentierbare Gründe umzustellen (etwa: Schutz des öffentlichen Friedens statt Lästerung Gottes)44 oder aber die insofern nicht neutralisierungsfähigen Normen abzuschaffen45. Vor diesem Hintergrund sind denn auch die Reformwellen der 60er und 70er Jahre im Bereich des Strafrechts als Säkularisierungsprozesse und insofern als Absetzbewegungen der Rechtsordnung vom materiell christlichen Erbe zu begreifen46. Im Zivilrecht lassen sich, was oft übersehen und selten genauer untersucht wird, in vergleichbarer Weise christliche Motive und Prägungen ausmachen wie im Strafrecht: neben dem notorischen Eherecht kann hier auf die Privilegierung des Sonntags in den Fristvorschriften47, die bis heute unveränderte Vorschrift des § 618 II BGB,

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treffendem Hinweis auf die hier wie auch andernorts oft nicht hinlänglich beachtete Differenz von Genesis und Geltung (S. 298; dort auch das Zitat im Text zuvor). Denn daraus, daß sich eine bestimmte Regel dem Kulturhumus des Christentums verdankt, folgt eben nicht, daß seine Fortgeltung an diesen Humus gebunden wäre; vielmehr sind eigenständige Begründungen möglich und nötig (s. auch C. Möllers, Pluralität der Kulturen als Herausforderung an das Verfassungsrecht?, in diesem Bande S. 223 ff. (232 f.). Speziell dazu jüngst die Beiträge in: J. Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung. Der rechtliche Schutz des Heiligen, 2007. Zu rechtspolitischen Versuchen, schon allein die Beschimpfung eines religiösen Bekenntnisses unter Strafe zu stellen, etwa Rottleuthner (Fn. 25), 35. Eingehend dazu und zugleich sehr kritisch zu den gängigen Erklärungsmustern M. Pawlik, Der strafrechtliche Schutz des Heiligen, in: Isensee, Religionsbeschimpfung (Fn. 43), 31 ff. Näher zu den auch heute noch bestehenden Schwierigkeiten, für manche überkommenen Strafnormen eine allgemeingültige, von spezifisch religiösen Bezügen entkoppelte Begründung zu finden: S. Ott, Christliche Aspekte unserer Rechtsordnung, 1968, 63 ff. (zur seinerzeitigen Rechtslage); eingehend zur Rechtslage de lege lata nunmehr T. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005. Vgl. etwa die bei Rottleuthner (Fn. 25), 26 ff. genannten Beispiele (Abschaffung der Strafbarkeit des Ehebruchs und der männlichen Homosexualität, Reform des Scheidungsrechts); als Zeitdokument eindrucksvoll die Beiträge in: L. Reinisch (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtsreform, 1967. Zu Reformen im Besonderen Teil des StGB im Rückblick E. Hilgendorf/T. Frank/B. Valerius, Die deutsche Strafrechtsentwicklung 1975–2000, in: T. Vormbaum/J. Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen. Supplementband 1: 130 Jahre Strafgesetzgebung – Eine Bilanz, 2004, 258 ff., insb. 316 ff. Speziell zu den „Religionsdelikte(n) in der säkularisierten Rechtsordnung“ der so betitelte Beitrag von W. Hassemer in: G. Dilcher/I. Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht, 1984, 232 ff. Vgl. § 193 BGB. Eine verwandte verfassungsrechtliche Frage ist die nach Bedeutung und Reichweite des in das Grundgesetz über Art. 140 GG inkorporierten Art. 139 WRV: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Dazu etwa Ott (Fn. 45), 81 ff.; M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 2000, Art. 140/139 WRV Rn. 12, 22 ff.; P. Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl. 2006.

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auf Wucher- und Schikaneverbot (§§ 138 II, 226 BGB) sowie – sich einmal mehr als Exerzierfeld par excellence für christliche Prägung und Imprägnierung erweisend – auf das gesamte Familienrecht verwiesen werden48. Und die Schleusenbegriffe der zivilrechtlichen Generalklauseln49 waren natürlich auch immer breit geöffnete Tore für die sittlich-moralischen Überzeugungen einer unzweideutig und ungespalten christlich geprägten Gesellschaft. Die Entwicklung hin zum weltanschaulich neutralen Staat der Gegenwart50 mit religiöser Bekenntnisfreiheit und umfassender Pluralität der Interessen, Lebensformen und Freiheitsbetätigungen ist nun aber ebenso unzweideutig eine Entwicklung klarer Trennung von Staat und Kirche und somit auch des sukzessiven Abstreifens und Ablegens rein christlich geprägter (und auch nicht in der angedeuteten Weise „umprägbarer“) Rechtsnormen51. Doch stellt sich bis in unsere Tage hinein oft die Frage, inwiefern manche Rechtsnormen als rein christlich (und damit religiös-partikular) geprägt anzusehen sind, wann hingegen als Ausdruck allgemein gültiger, wenngleich in der spezifisch christlichen Kultur verwurzelter Überzeugungen. Die Grenze läßt sich keineswegs immer trennscharf ziehen. So überlebt manches im säkularen Gewand oder durch die interpretatorische Verwandlung von christlichen Gehalten in vorgeblich religionsneutrale Kultur- oder Bildungsfaktoren. Unter Hinweis auf eine solche Deutungsverschiebung hat das Bundesverfassungsgericht vor mittlerweile 30 Jahren eine noch heute gültige Bestimmung der Bayerischen Verfassung für grundgesetzkonform erklärt, wonach in den öffentlichen Volksschulen „die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen“ werden (Art. 135 Satz 2)52. Diese Rettung einer prekären 48 Zu den vorgenannten Beispielen näher die pionierhafte Untersuchung von J. Rückert, Christliche Imprägnierung des BGB?, in diesem Bande S. 261 ff. (270 ff.). 49 Zu ihrer ambivalenten Funktion und Ausdeutung (teils als Nachvollzug empirisch feststellbarer Einstellungen und Verhaltensweisen, teils als von solchen empirischen Vorgängen gerade ganz unabhängige normative Vorgabe) H. Dreier, Gesellschaft, Recht, Moral, Universitas 1993, 247 ff. (253 f.). 50 Überblick zu den entscheidenden Entwicklungsschritten (insb. die Friedensschlüsse von 1555 und 1648, sodann die Aufklärung und schließlich die im 19. und 20. Jahrhundert sukzessiv erfolgende [verfassungs-]rechtliche Verankerung allgemeiner Religionsfreiheit) bei E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, 42 ff. (in stärker didaktischer Umsetzung ders., Die stufenweise Auflösung der Einheit von geistlich-religiöser und weltlich-politischer Ordnung in der Verfassungsentwicklung der Neuzeit, in: G. Dilcher/N. Horn [Hrsg.], Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. IV: Rechtsgeschichte, 1978, 43 ff.); Morlok (Fn. 11), Art. 4 Rn. 1 ff.; C. Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, 22 ff., 96 ff. (allerdings, nicht anders als Böckenförde, für die frühe Neuzeit in Vermengung rechtsgeschichtlicher Vorgänge und ideengeschichtlicher Entwürfe; zu diesem Problem näher Dreier, Kanonistik [Fn. 36], 6 ff.); eine umfassende historische Entwicklungsschau bietet jetzt: M. Heckel, Vom Religionskonflikt zur Ausgleichsordnung, 2007. – Speziell zur Entwicklung in Österreich vgl. R. Thienel, Religionsfreiheit in Österreich, in: G. Manssen/B. Banaszak (Hrsg.), Religionsfreiheit in Mittel- und Osteuropa zwischen Tradition und Europäisierung, 2006, 35 ff. 51 So steht etwa das Ehescheidungsrecht in deutlichem Kontrast zu den einschlägigen Passagen der Bibel. 52 Vgl. BVerfGE 41, 65 (78): „Die Bejahung des Christentums in den profanen Fächern bezieht sich in erster Linie auf die Anerkennung eines prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, wie er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildet hat, jedoch nicht auf Glaubenswahrheiten …“. In BVerfGE 41, 29 ging es um die christliche Gemeinschaftsschule badischer Überlieferung; in dieser Entscheidung, auf die sich die unmittelbar darauf folgende zur Bayerischen Verfas-

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landesverfassungsrechtlichen Norm53 hat zweifelsohne ihren Preis, den möglicherweise nicht nur der auf ethische Neutralität verpflichtete Staat, sondern wegen der Verwässerungsgefahr auch die christlichen Kirchen selbst zu zahlen haben. Insofern ist äußerst bemerkenswert, daß das Gericht in der späteren und heftigst kritisierten Kruzifix-Entscheidung aus dem Jahre 199554 diesen Weg nicht noch einmal gegangen ist, sondern das Zeichen des Gekreuzigten stärker zu seinem religiösen Nennwert genommen hat55 – gerade auch mit Blick auf Personen anderen Glaubens oder anderer Weltanschauung. III. VIELFALT

DER

RELIGIONEN

UND

KULTUREN

1. Entchristlichung und Pluralisierung der Gesellschaft Die Kultur in Europa oder in Deutschland, das zeigt der Kruzifix-Fall auf seine eigene Weise auch, ist aber längst keine zutiefst christlich geprägte mehr. Die Gründe sind vielfältig und nicht von vornherein allein auf die heute ganz im Vordergrund stehende Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft zu verengen. Nicht vergessen werden sollte, daß der Agnostizismus totalitärer Ordnungen des 20. Jahrhunderts seine Wirkung sicher nicht verfehlt hat. Auch allgemeine Modernisierungs- und

sungsbestimmung des öfteren bezieht, heißt es im Anschluß an die soeben zitierte, weitgehend wortgleiche Passage noch: „… und ist damit auch gegenüber den Nichtchristen durch das Fortwirken geschichtlicher Gegebenheiten legitimiert“ (BVerfGE 41, 29 [52]). Vgl. noch BayVerfGH BayVBl. 1988, 397; BayVGH BayVBl. 1991, 539 (541). Aus der Literatur A. Hollerbach, Freiheit kirchlichen Wirkens, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 1989, § 140 Rn. 30 m.w.N.; kritisch L. Renck, Verfassungsprobleme der christlichen Gemeinschaftsschule, NVwZ 1991, 116 ff.; eingehend und m.w.N. S. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, 182 ff. 53 Zu ihrer Deutung etwa R. Stettner, in: H. Nawiasky/C. Leusser (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 135 (2007), Rn. 16 ff.; zur verwandten Norm des Art. 131 BV (insb. Absatz 2: „Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung …“) ders., ebd., Art. 131 (2003), Rn. 25 ff. – Allgemein sehr kritisch zu kirchlichen Ansprüchen in Erziehungsfragen L. Renck, Öffentliche Schule und kirchliches Erziehungsrecht, BayVBl. 2006, 713 ff.; dagegen D. Pirson, Christliche Traditionen in der staatlichen Schule, BayVBl. 2006, 745 ff., der S. 747 aber die Folgeprobleme des Art. 135 BV deutlich benennt („In Bayern weist die Kennzeichnung der Schule als christliche Schule freilich eine Besonderheit auf, die kaum überzeugend zu lösende Auslegungsprobleme mit sich bringt.“). 54 BVerfGE 93, 1. Repräsentativ für die ungewöhnlich breite und scharfe Kritik aus der Rechtswissenschaft (jeweils m.w.N.) etwa M. Heckel, Das Kreuz im öffentlichen Raum, DVBl. 1996, 453 ff.; A. v. Campenhausen, Zur Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 121 (1996), 448 ff.; D. Merten, Der „Kruzifix-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts aus grundrechtsdogmatischer Sicht, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, 987 ff. Die wohl eingehendste (und sie letztlich befürwortende) Behandlung der Entscheidung bietet Huster (Fn. 52), 127–249. 55 Keine Überraschung insofern, daß einige Kritiker der Kruzifix-Entscheidung die gleiche Argumentationslinie wie bei den Judikaten zu den christlichen Erziehungszielen verfolgten und demgemäß dafür plädierten, das Kreuz als säkulares Symbol zu deuten, das nur auf das Christentum als prägenden Kultur- und Bildungsfaktor hinweise (so etwa M. Jestaedt, Das Kreuz unter dem Grundgesetz, Journal für Rechtspolitik 1995, 237 ff. [248 f.]; eingehend zur Interpretation des Kreuzes Huster [Fn. 52], 149 ff.).

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Säkularisierungstendenzen56 führten zu fundamentalen Umgestaltungen von Staat, Recht und Kultur. Am tiefsten hat aber zweifelsohne die in den letzten Jahrzehnten forcierte Einwanderung aus Ländern die Lage verändert, die weder in klassischer Weise dem „Westen“ zugerechnet werden können noch von der christlichen Kultur geprägt worden sind. So kann, wer heute von Kultur oder von kultureller Identität spricht, dies im pluralistischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes eigentlich immer nur in der Mehrzahl tun, muß von Kulturen oder kulturellen Identitäten sprechen. Nun bedeutete religiöse Pluralität in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit kaum mehr als Bi-Konfessionalität. Katholische Kirche und protestantische Kirchen waren zueinander und gegenüber dem Staat ins rechte Verhältnis zu setzen. Auf der Basis letztlich relativ großer Konformität christlicher Kultur und eines hohen Organisationsgrades der Akteure konnten hier lange Zeit recht auskömmliche und befriedende Regelungen gefunden und existentielle Konflikte vermieden werden57. Mit dem Wandel von der bi-konfessionellen zu einer multi-religiösen Gesellschaft hat sich die Lage dramatisch verändert, sind vermeintliche Selbstverständlichkeiten weggebrochen, traditionell vorausgesetzte Organisationsstrukturen entschwunden, stillschweigende Einverständnisse fraglich oder schlicht unverständlich geworden58. 2. Zur schwierigen Rolle des Rechts Infolgedessen geraten manche christlich geprägte Rechtsnormen unter Druck, so daß es wohl beispielsweise nur noch eine Frage der Zeit sein dürfte, bis die Verfassungsmäßigkeit des strafrechtlich sanktionierten Verbots der Bi- oder Polygamie angezweifelt wird59. Weit über solche punktuellen Aspekte hinaus hat das Recht insgesamt in seiner Ordnungs-, Streitentscheidungs- und Freiheitsermöglichungsfunktion schwere Lasten zu tragen. Vielleicht stellt es eine gravierende Überforderung seiner Rolle dar,

56 Einige Hinweise bei Rottleuthner (Fn. 25), 13 ff. 57 Im Rück- und Überblick: Hans Maier, Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen, in: J. Listl/D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Bd. I, 1994, 85 ff.; A. Hollerbach, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat, 1998, 6 ff.; M. Heckel, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, 379 ff. 58 So liegt eine wesentliche Herausforderung für das traditionelle Staatskirchenrecht darin, sich auf die neue Situation einzustellen und sich von daher – weit über eine Frage bloßer Nomenklatur hinausgehend – zu einem Religionsverfassungsrecht auszubilden. Vgl. symptomatisch den neuen Untertitel des Lehrbuches von A. v. Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht. Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa, 4. Aufl. 2006 (in den ersten Auflagen des Alleinautors v. Campenhausen firmierte es lediglich als „Staatskirchenrecht“); wieder anders C. D. Classen, Religionsrecht, 2006. Eingehend jetzt zum Problem die Beiträge in: H. M. Heinig (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, 2007. – Ein konkretes Problem stellt sich etwa bei der Frage, ob und wie in Parallele zum katholischen und evangelischen auch ein spezifischer islamischer Religionsunterricht realisierbar sein könnte: dazu die Beiträge in W. Bock (Hrsg.), Islamischer Religionsunterricht?, 2006. 59 Zur Rechtfertigungsfähigkeit der Strafnorm des § 172 StGB (Verbot der Doppelehe) siehe T. Hörnle, Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten, in diesem Bande S. 315 ff. (322 ff.).

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wenn ihm allein oder überwiegend die Integration einer vielfältig zersplitterten und auseinanderdriftenden Gesellschaft angesonnen wird. Jedenfalls dürften Sakralisierungen des Grundgesetzes nach Art einer vielbeschworenen Zivilreligion auf Dauer kaum weiterhelfen, sondern sich entweder als letztlich hilflose Beschwörung oder als Einfallstor für eine dem freiheitlichen Verfassungsstaat zuwiderlaufende Gesinnungsprüfung entpuppen60. Schlicht falsch gestellt ist zudem die oft aufgeworfene Frage, wie denn dieser oder jener Aspekt des Islam mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Denn mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes ist zweifelsohne auch die autokratische Struktur der katholischen Kirche unvereinbar61. Aber religiöse Gemeinschaften müssen sich nicht so organisieren wie ein freiheitlicher Verfassungsstaat, und ihre Glaubenssätze können und dürfen vom Ideal der gleichen Freiheit aller Menschen und dem Ideal ihrer privaten wie politischen Selbstbestimmung signifikant abweichen62. Überprüfbare Verfassungstreue des einzelnen Bürgers oder ein Bekenntnis von dessen Seite wird nicht verlangt63; auch einen Bürgereid auf die Verfassung gibt es nicht64. Umgekehrt muß der Staat an der Durchsetzung seiner allgemein und für alle geltenden Gesetze (des öffentlichen Rechts wie des Straf- und auch des Zivilrechts) festhalten, ja er muß diese auch gegenüber jenen durchsetzen, die sich für ihr davon abweichendes Verhalten auf ihre Religion berufen65. Das ist als Grundsatz unbestritten – oder sollte es doch sein. Wo aber nun jeweils im Einzelfall der insofern selbstverständliche Bereich des für alle geltenden Gesetzes aufhört und das Recht zur Lebensführung gemäß den eigenen religiös oder anderweitig begründeten Überzeugungen anfängt (wo dem Recht also eine Grenze gezogen wird), läßt sich oft nur schwer ausmachen. So kann es nicht überraschen, daß der Rechtsordnung im Alltag 60 Berechtigte scharfe Kritik bei E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 2007, 27 ff. (30: „Wertordnungsfundamentalismus“). Skeptisch zu zivilreligiösen Konzepten auch G. Essen, Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts, 2004, 85 ff. 61 Signifikant das neue vatikanische Grundgesetz (legge fondamentale). Vgl. W.-D. Barz, Habemus legem fundamentalem! Das neue vatikanische Grundgesetz, Einführung und Text, Jahrbuch des öffentlichen Rechts 52 (2004), 505 ff. 62 Das hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas (BVerfGE 102, 370) klar herausgestellt. Dort heißt es S. 394 f.: „Die in Art. 20 GG niedergelegten Grundprinzipien und die Grundsätze des Religions- und Staatskirchenrechts sind schon ihrer Herkunft und ihrem Inhalt nach Strukturvorgaben staatlicher Ordnung. Nur als solche verdienen sie Schutz. Sie enthalten keine Vorgaben für die Binnenstruktur einer Religionsgemeinschaft. Überdies widerspräche es der Religionsfreiheit und dem in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, von einer korporierten Religionsgemeinschaft etwa eine demokratische Binnenstruktur zu verlangen oder ihre Äußerungen über andere Religionen und Religionsgemeinschaften dem Gebot der Neutralität zu unterstellen.“ Zustimmend Böckenförde, Der säkularisierte Staat (Fn. 60), 30; eingehende Diskussion bei Walter (Fn. 50), 554 ff. 63 H. Dreier, Staatliche Legitimität, Grundgesetz und neue soziale Bewegungen, in: J. Marko/A. Stolz (Hrsg.), Demokratie und Wirtschaft, 1987, 139 ff. (164 f., 170 ff.); R. Poscher, Du musst nicht verfassungstreu sein, FAZ Nr. 147 v. 28. Juni 2007, S. 7. 64 Zu seiner eher geringen Rolle im deutschen Konstitutionalismus H. Hofmann, Grundpflichten und Grundrechte, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 1992, § 114 Rn. 12. 65 Schulbeispiel: der Ritualmord aus religiösen Gründen. Wie hier M. Rohe, Islamisierung des deutschen Rechts?, JZ 2007, 801 ff. (u.a. mit Hinweis auf die nicht akzeptable Praxis der Verstümmelung weiblicher Genitalien).

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mit seinen vielfältigen Problemen vom Schwimmunterricht für muslimische Mädchen über das notorische Kopftuch bis hin zur Schächtproblematik oder anderen Konfliktfeldern66 oft eine schwierige Gratwanderung zugemutet wird – eine Gratwanderung zwischen dem Respekt vor der grundrechtsgestützten Vielfalt religiöser Lebensformen und dem Primat individueller Freiheit einerseits, den unabweisbaren Gemeinschaftsbelangen und einer nicht beliebig abstufbaren Pflichtenstellung der Bürger andererseits. Hier ist durchaus problematisch, wenn immer öfter und immer selbstverständlicher Ausnahmen zugelassen werden. Berichten zufolge gibt es Schulen, in denen Schwimmunterricht für muslimische Mädchen praktisch nicht mehr stattfindet und Klassenfahrten für alle ausfallen, weil diese Schülerinnen daran ohne männliche Begleitung aus ihrer Verwandtschaft nicht meinen teilnehmen zu können67. Die insofern von Behörden und Gerichten vielleicht allzu lange allzu bereitwillig erteilten Dispensionen sind letztlich keine Lösung, weil der Kohäsion einer Gesellschaft abträglich68. Derartige Rechtskonflikte fungieren gleichsam als „Seismograph“69 für entsprechende Glaubensspannungen, vor allem eben auch für eine möglicherweise rasant fortschreitende Desintegration. Und je mehr sich die vielfältig fragmentierten kulturellen Milieus gegenüber jenen Anforderungen des Ausgleichs und der Begrenzung von Freiheitssphären verhärten, desto größer scheint die Gefahr, daß die Rechtsordnung selbst daran zerspringt. Besonders destruktiv macht sich dabei ein offenkundig grassierender Geist der Abschottung gegen die vermeintlichen Zumutungen einer pluralistischen Gesellschaft bemerkbar, die ein freiheitlicher Staat nicht unterbinden kann, ohne seinen innersten Prinzipien untreu zu werden. Bei den dänischen Mohammed-Karikaturen70 hat der damit verbundene Kränkungsfetischismus gleichsam seinen ersten Globalisierungsschub erfahren, während der Fall der 66 Zusammenfassende Schilderung bei G. Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, 2000, 8 ff., mit Beispielen konfliktträchtiger religiös-kultureller Anliegen u.a. aus dem Bereich des Familien-, Miet- und Steuerrechts; instruktiv auch F. Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 2007, § 22 Rn. 43 ff. Speziell zur Schächt-Problematik die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 104, 337), wonach die Verweigerung einer Ausnahmegenehmigung eine Grundrechtsverletzung darstellt (dazu statt aller F. Wittreck, Religionsfreiheit als Rationalisierungsverbot, Der Staat 42 [2003], 519 ff.); in der Nachfolge dieses Urteils hat mittlerweile das Bundesverwaltungsgericht befunden, die (als Reaktion auf jene Entscheidung deutbare) Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel in Art. 20a GG stehe einer Ausnahmegenehmigung zum Schächten nicht entgegen (BVerwG NVwZ 2007, 461 = JuS 2007, 765 [Sachs]). 67 Zur Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen insbesondere vom Sportunterricht vgl. C. Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten: eine Herausforderung für das deutsche Schulwesen, AöR 123 (1998), 375 ff. (387 ff.). 68 Zur Integrationsfunktion des Sportunterrichts etwa U. Volkmann, Kulturelles Selbstverständnis als Tabuzone für das Recht?, in diesem Bande S. 245 ff. (251 f.); sehr viel verhaltener Huster (Fn. 52), 428. 69 F.W. Graf, Moses Vermächtnis, 2006, 11. 70 Zu den Ereignissen rekapitulierend L. Reuter, Hintergründe zum dänischen Karikaturenstreit, Stimmen der Zeit 4/2006, 239 ff. (246 ff.; ebd. 239 ff. interessante Hinweise zum spezifischen dänischen Kontext der Auseinandersetzung). Tiefergreifende verfassungstheoretische Überlegungen zum Konflikt bei H. Rossen-Stadtfeld, Darf der Islam verspottet werden?, Merkur 692 (2006), 1173 ff.; eher grundrechtsdogmatisch akzentuiert F. Ekardt/I. Zager, Der Karikaturenstreit und das Recht, Neue Justiz 2007, 145 ff.; zu den völkerrechtlichen Aspekten U. Saxer, Grundrechtsausübung in globalisierten Verhältnissen. Zum Mohammed-Karikaturen-Streit, in: Individuum und Verband. Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 2006, hrsgg. von Roger Zäch, 2006, 435 ff. (439 ff.).

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abgesagten „Idomeneo“-Inszenierung ein bedenklich stimmendes Beispiel für die (in diesem Fall halbwegs revidierte) Bereitschaft zur Selbstaufgabe der ansonsten so vielfach und inflationär beschworenen westlichen Werte der Menschenrechte, insb. der Kunst- und Meinungsfreiheit, lieferte. Während die Boykottaufrufe gegen Dänemark und die Drohungen gegen die Journalisten später vielleicht einmal als erster eklatanter muslimischer Versuch gewertet werden, einem nichtmuslimischen Land einen bestimmten Umgang mit der eigenen Religion vorzuschreiben, hielten manche die Absetzung der Mozart-Oper für letztlich unschädlich und vertretbar, weil es sich bei der umstrittenen Inszenierung ja gar nicht um wertvolle Kunst gehandelt habe. Als ob die Garantie der Kunstfreiheit an einen wie auch immer zu definierenden „guten Geschmack“ gebunden wäre! Auch von dieser Seite her droht also eine – wenn auch ganz anders geartete – Erosion des Bewußtseins für das Proprium grundrechtlicher Freiheitsgarantien. Konflikte der genannten Art werden uns in Zukunft mit einiger Wahrscheinlichkeit in steigender Anzahl und in changierender Gestalt beschäftigen. Sie bilden eine gewaltige Herausforderung für die gesamte Gesellschaft, nicht minder auch für die Staats- und Verfassungstheorie. Wie kann eine auf Freiheit und Gleichheit verpflichtete politische Ordnung des Gemeinwesens unter Bedingungen verschärfter gesellschaftlicher Pluralität und religiöser Heterogenität fortbestehen? Wie kann sie als solche weiterhin ihre dienende Funktion ausüben, die Realisierung eines in den Augen ihrer Bürger guten und gelingenden Lebens zu ermöglichen? Sicher wäre es die falsche Lösung, die liberale Struktur einer offenen Gesellschaft mit extensiv gewährten Grund- und Freiheitsrechten einer grundlegenden Revision zu unterziehen und im zweifelsohne hochsensiblen Bereich von Kultur und Religion restriktivere Regeln greifen zu lassen71. Wenn rechtliche Normen Niklas Luhmann zufolge als Form kontrafaktischer Stabilisierung kongruent generalisierter Erwartungshaltungen zu begreifen sind72, dann müssen wir uns auch künftig darauf verlassen können, daß auf dem Feld von Kunst und Meinungsfreiheit, von Pressefreiheit und Satire, von Religionsfreiheit und Religionskritik derjenige hohe Grad an verfassungsrechtlich garantierter Freiheit herrscht, den wir seit Jahrzehnten genießen. Kein Zweifel – diese Garantien bringen zuweilen harte Auseinandersetzungen mit sich, und die Grenzen zwischen zulässiger Kritik und unzulässiger Ehrverletzung sind immer wieder aufs Neue fallbezogen zu fixieren73. Aber im Kern muß unverrückbar feststehen, daß nicht die Anhänger muslimischen Glaubens vor einer bestimmten Operninszenierung geschützt werden müssen, sondern jene, die sich diese ansehen wollen, vor potentiellen Störern. Es bedarf gerade angesichts der mittlerweile inflationär gewordenen Rede davon, man sei durch bestimmte Vorgänge oder Ereignisse in seinen Gefühlen, seiner Ehre, seiner religiösen Überzeugung oder was oder wem auch immer gekränkt oder verletzt, der Erinnerung daran, daß niemand einen Anspruch darauf hat, bestimmte ihm lästige oder widerwärtige Dinge nicht zu sehen oder zur Kenntnis nehmen zu müssen74. Das gilt für Opernaufführungen, Fernsehsendungen oder das nicht immer 71 72 73 74

Gegen ein neues multi-kulturalistisches Paradigma auch Möllers (Fn. 42), S. 240 f. N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1972, 40 ff., 94 ff., 340 ff. Vgl. dazu mit zahlreichen Nachweisen H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 5 I, II Rn. 150, 177 ff., 278 ff. Treffend Pawlik (Fn. 44), 47 f.: „Jemand kann unmöglich allein deshalb zur Unterlassung einer bestimmten Äußerung verpflichtet sein, weil irgendein anderer sie als eine Verletzung seines

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erbauliche Erscheinungsbild von Mitbürgern im öffentlichen Raum gleichermaßen. Im Zweifel muß man also wegschauen, ausschalten oder hinnehmen, daß manche eine Kunst- oder Lebensform goutieren, die man selbst für geschmacklos und heuchlerisch, vielleicht sogar für Sünde oder Häresie hält. Narzißtischer Kränkungseifer bildet kein taugliches Richtmaß für die Frage, was in einer freien und pluralistischen Gesellschaft an Andersartigkeit ausgehalten werden muß; Geschmacklosigkeiten oder Unhöflichkeiten führen nicht sogleich zum Verdikt der Verfassungswidrigkeit. Aber auch dort, wo höchst kontroverse Beurteilungen des Richtigen und Gerechten ganz im Sinne diskursiver Auseinandersetzung verhandelt werden, muß beständig in Erinnerung gerufen werden, daß die Entkoppelungen von Moral und Recht, von Religion und Staat eine zivilisatorische Leistung höchsten Ranges und zugleich eine entscheidende Fundamentierung moderner Verfassungsstaatlichkeit darstellen. Auch hier ist es von der moralisch bzw. religiös motivierten Ablehnung bestimmter Verhaltensweisen bis hin zur (für alle Bürger gleichermaßen verbindlichen) strafbewehrten Norm der Staatsgewalt ein weiter und begründungsbedürftiger Weg75. IV. DISSENSBEWÄLTIGUNG

IM

VERFASSUNGSSTAAT

Nochmals daher: was vermag das Recht für eine solche politische Kultur wechselseitiger Toleranz und des Lebens im Dissens zu leisten? Die Rechtsordnung kann eine entsprechende Integration durch das Aushalten von Unterschieden sicher nicht allein und gegen dominante Trends in der Gesellschaft bewerkstelligen. Integration durch Recht, etwa durch ein ebenso allgemeines wie folgenloses „Bekenntnis“ zum Grundgesetz, ist weitestgehend romantische Illusion und Ausdruck chronischer Überschätzung der Motivations- und Steuerungskraft von Rechtsnormen. Ein bloßes (Lippen-)Bekenntnis zur freiheitlichen und demokratischen Verfassungsordnung bewirkt noch gar nichts und kann im übrigen vom Staatsbürger auch gar nicht zwingend eingefordert werden76. Viel stärker kommt es

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religiösen Gefühls empfinden könnte. (…) Der idiosynkratische Gefühlshaushalt einzelner Individuen taugt nicht als Maßstab für die Strafwürdigkeit eines bestimmten Verhaltens.“ Unter spezifischer Bezugnahme auf die weltweite Resonanz etwa im Falle der Mohammed-Karikaturen treffend Rossen-Stadtfeld (Fn. 70), 1178: bei der Würdigung massenmedialer Botschaften könne „nicht jede Empfindlichkeit berücksichtigt werden, mit der an irgendeinem Ort dieser Welt zu rechnen ist.“ Ein insbesondere in bioethischen Debatten häufig anzutreffender Kurzschluß liegt etwa darin, Handlungen, die der eigenen Überzeugung gemäß für moralisch verwerflich angesehen werden, umstandslos einer (straf-)rechtlichen Sanktion zu unterwerfen. Hier ist an Georg Jellineks Wort vom Recht als dem „ethischen Minimum“ und an die freiheitsnotwendige Differenz von moralischem Gebot und staatlichem (Straf-)Gesetz zu erinnern (richtig etwa D. Birnbacher, Embryonenforschung – erlauben oder verbieten?, in: U. Neumann/L. Schulz [Hrsg.], Verantwortung in Recht und Moral, 2000, 157 ff. [169 ff.]; vgl. auch Nationaler Ethikrat, Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft, 2003, 146 ff. [Mehrheitsposition]). Der freiheitsgefährdenden Moralisierung des Rechts wehrt insbesondere die Kantsche Trennung von Rechts- und Tugendpflichten sowie von Legalität und Moralität (vgl. resümierend H. Dreier, Kants Republik, JZ 2004, 745 ff. [746 f.]). Entsprechende Warnungen vor einem Bekenntniszwang etwa bei Böckenförde, Der säkularisierte Staat (Fn. 60), 29 f. Desgleichen Graf (Fn. 17), S. 160: „Zu fordern ist weder eine religiös begründete Anerkenntnis irgendwelcher ‚Werte‘ (etwa der ‚westlichen‘) noch eine innerliche Gesinnungs-

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auf das an, was Hermann Heller einmal treffend den „nichtnormierten Unterbau der Verfassung“77 genannt hat, also auf praktizierte Toleranz78, auf eingeschliffene zivilisatorische Verhaltensmuster, auf kulturelle Selbstverständlichkeiten. Diese können von einer Rechtsordnung unterstützt und gefördert, ja vielleicht sogar mitgeformt79, nicht aber originär erzeugt werden. In letztlich entscheidender Weise sind entsprechende politische Tugenden „Sache der Sozialisation und der Eingewöhnung in die Praktiken und Denkweisen einer freiheitlichen politischen Kultur“80. Die Bildungsund Sozialisationsagenturen der Gesellschaft, allen voran die Schule, haben hier eine zentrale und kaum zu überschätzende, aber auch immer schwerer zu erfüllende Verantwortung zu tragen. Darüber hinaus könnte unter Umständen eine durchaus auch rechtsförmig ausgestaltete Stärkung des Pflichtgedankens, möglicherweise in Gestalt eines „sozialen Jahres“, hilfreich wirken. Und für die praktische Einübung in die Demokratie sind bei allen zugestandenen Defiziten in der Realisierung nach wie vor die politischen Parteien von erstrangiger Bedeutung. Die mit alledem für notwendig gehaltene positive Annahme des freiheitlichen Pluralismus, seiner tragenden Ideen von individueller Autonomie, kritischer Öffentlichkeit und demokratischer Staatsorganisation mag von vielen gerade unter dem Vorzeichen verschärfter religiös-kultureller Heterogenität mit entsprechenden Unduldsamkeitsreaktionen als Zumutung81 betrachtet werden. Entscheidendes hängt davon ab, wie lange und wie intensiv wir uns dieser Zumutung gewachsen fühlen, sie vielleicht sogar als eigentlich belebendes Elixier politischer Existenz empfinden, um den demokratischen politischen Prozeß beständig mit Leben zu erfüllen82. Intreue gegenüber den sog. ‚Werten‘ des Grundgesetzes, sondern äußerlicher Respekt gegenüber dem geltenden Recht, also Rechtsgehorsam.“ Ähnlich I.U. Dalferth, Naturrecht in protestantischer Perspektive, 2008 (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, Bd. 38), S. 64 ff. 77 H. Heller, Staatslehre, 1934 (6. Aufl. 1983), 251 (284). 78 Toleranz im alten (und ursprünglich auch auf den noch religiös geprägten Staat bezogenen) Sinne des Ertragens und Duldens von etwas, das man selbst für falsch hält und inhaltlich ablehnt (und nicht im verbreiteten, aber mißverstandenen Sinne als Terminus für die Pflicht des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität). Im modernen Verfassungsstaat ist Toleranz in erster Linie Tugend des Bürgers (dazu R. Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, 656 ff., 666 ff., der selbst aber weitergehende Konzepte entwickelt), während der Staat durch das strikte Gebot der Neutralität gebunden ist. Vgl. M. Winkler, Toleranz als Verfassungsprinzip?, in: I. Erberich u.a. (Hrsg.), Frieden und Recht, 1998, 53 ff.; Huster (Fn. 52), 222 ff., 234 f.; H. M. Heimann, Die Toleranz ist ein Anachronismus, FAZ Nr. 101 v. 2. Mai 2007, 40. 79 Vgl. A. Hollerbach, Art. Rechtsethik, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. IV, 1988, Sp. 692 ff. (693): Staat als Erziehungsträger, Vermittler von Wertebewußtsein, Veranstalter eines Ethikunterrichts; ders., Religion und Kirche (Fn. 57), 34 f. 80 J. Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders./J. Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, 2005, 15 ff. (23). 81 Vgl. G. Lübbe-Wolff, Homogenes Volk – Über Homogenitätspostulate und Integration, ZAR 2007, 121 ff. (126 f.). 82 Zur legitimen und notwendigen Rolle auch und gerade der Religionsgemeinschaften, die sich freilich den verfassungsstaatlichen Rahmenbedingungen eines religionsneutralen Staates und pluraler Glaubensfreiheit zu fügen haben, etwa K. Gabriel, Religion als Stütze oder Gefährdung einer freien Gesellschaft, in diesem Bande S. 55 ff. (61 ff.); dort auch zur als offen eingeschätzten Frage, ob der Islam (etwa nach dem Muster der katholischen Kirche nach dem II. Vaticanum) zu einer Anpassung an die freiheitliche Moderne in der Lage sein wird. Zu diesem Punkt noch Böckenförde, Der säkularisierte Staat (Fn. 60), 37 ff.

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sofern stellt nicht nur der Fundamentalismus eine Gefährdung dar, sondern auch Privatismus und Defätismus. In der stark unterkühlten Sprache der Systemtheorie läßt sich der moderne Verfassungsstaat mit seiner demokratischen Legitimation und rechtsstaatlichen Limitation der Herrschaft sowie den Grundrechtsgewährleistungen als eine evolutionär unwahrscheinliche Errungenschaft83 charakterisieren. Nichts garantiert, daß diese unter vielen Opfern errungene Existenzweise politischer wie privater Selbstgesetzgebung nicht wieder zerrinnt und anderen, vielleicht nur allzu bekannten Gestaltungsmustern Platz macht. Der moderne Verfassungsstaat bildet eine Möglichkeitsform gelingender politischer Einheitsbildung auf der Basis wechselseitig anerkannter grundrechtsgestützter Pluralität und einer lebendigen Demokratie, ohne die Garantie seines Gelingens in sich zu tragen. Auch ist dieser Staat kein Sinnproduzent. Aber er soll ein sinnvolles, d.h. den eigenen Überzeugungen und Anschauungen gemäßes Leben seiner Bürger ermöglichen84. Die daraus resultierende anspruchsvolle Form politischer Vergemeinschaftung kann nur bestehen, wenn zentrale vorpolitische Voraussetzungen gewahrt und bewahrt bleiben. Dazu zählen die Loyalität gegenüber Mehrheitsentscheidungen und die Achtung des anderen in seiner möglicherweise ganz entgegengesetzten politischen oder religiösen Überzeugung ebenso wie das Beharren auf dem, was man mit Ernst-Wolfgang Böckenförde die Emanzipationsstruktur der Gesellschaft nennen kann, der patriarchalisch dominierte vormoderne Parallelgesellschaften gerade nicht entsprechen85. Ein von Pluralität und Dissens geprägtes politisches Gemeinwesen bedarf für die Erhaltung seiner Handlungs- und Integrationsfähigkeit selbst eines Mindestmaßes an kultureller, sozialer und zivilisatorischer Homogenität86. Eine gemeinsame Sprache zu sprechen ist insofern ganz wesentlich – denn, wie Hans Kelsen es einmal formuliert hat, nur wenn man sich untereinander verständigen kann, kann man sich auch vertragen87. Insgesamt bleibt der schwierige Gedanke auszuhalten und im Alltag zu verwirklichen, daß der einheitsstiftende Konsens einer pluralen Gesellschaft im Dissens der divergenten religiösen, weltanschaulichen und politischen Positionen nicht seinen feindlichen Widerpart, sondern seine Grundlage hat.

83 In Anlehnung an N. Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), 176 ff. (176, 183 f., 208 ff.). 84 In bündiger Zusammenfassung zentraler Aussagen Kants wie Savignys formuliert H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 3. Aufl. 2006, 166: „Die Rechtsordnung soll nicht sittlich sein, sondern Sittlichkeit ermöglichen.“ Siehe auch Rückert (Fn. 48), S. 277 ff. 85 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Bd. III, 2004, § 24 Rn. 60. 86 Zu Recht betont bei Volkmann (Fn. 68), S. 261 f.; s. auch H. Dreier, Integration durch Verfassung? Rudolf Smend und die Grundrechtsdemokratie, in: Verfassungen – Zwischen Recht und Politik. Festschrift für Hans-Peter Schneider, 2008, 70 ff. (92 ff.), jeweils m.w.N. 87 H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, 65 f.: „Der Anwendung des Majoritätsprinzipes sind gewisse, gleichsam natürliche Schranken gesetzt. Majorität und Minorität müssen sich miteinander verständigen können, wenn sie sich miteinander vertragen sollen. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die gegenseitige Verständigung der an der sozialen Willensbildung Beteiligten müssen also gegeben sein: eine kulturell relativ homogene Gesellschaft, insbesondere gleiche Sprache.“

REINHARD ZIMMERMANN, HAMBURG RÖMISCHES RECHT

UND EUROPÄISCHE

KULTUR

I. EUROPÄISCHE KULTUR Das Thema des Vortrages, um den mich die Veranstalter dieser Tagung gebeten haben, lautet: Römisches Recht und Europäische Kultur. Alle in dieser Themenformulierung verwandten Begriffe und stillschweigend vorausgesetzten Beziehungen sind umstritten, problematisch oder jedenfalls erklärungsbedürftig. „Kultur“ ist ein ausgesprochen schillernder, besonders aus der anthropologischen und soziologischen Literatur bekannter Ausdruck, mit dem die Eigenart einer bestimmten Gesellschaft erfasst werden soll. Dabei geht es im Grunde um Abgrenzung, nicht selten bis hin zur Ausgrenzung oder Abwehr, so wenn man im späteren 18. und 19. Jahrhundert gegenüber dem universalistischen Pathos französischer Provenienz diesseits des Rheins zur Bewahrung deutscher Kultur aufrief.1 Eine nähere Bestimmung des Begriffs Kultur erscheint so gut wie unmöglich. Allein in dem Zeitraum von 1920–1950 sind mehr als 150 verschiedene Definitionsvorschläge unterbreitet worden.2 Auch „Europa“ ist kaum eindeutig fixierbar, jedenfalls wenn wir den Ausdruck, wie seit Herodot üblich,3 in einem politisch-kulturellen statt lediglich geographischen Sinne verwenden. Vor allem die Grenze nach Osten war seit jeher so offen und so vielen Wandlungen unterworfen, dass sie mit einer Meeresküste verglichen worden ist, die dem Wechsel der Gezeiten unterliegt („tidal Europe“).4 Heute wird mit Europa vielfach der in der Europäischen Union zusammengeschlossene Staatenbund assoziiert. Doch auch die Schweiz und Norwegen gehören mit Sicherheit zu Europa. Viele Engländer verstehen unter „Europa“ das kontinentaleuropäische Europa. Und doch ist das Vereinigte Königreich Teil der Europäischen Union (wenngleich nicht der Währungsunion). Seit mehr als 500 Jahren wird darüber diskutiert, ob Russland ein europäischer Staat ist, neuerdings, ob auch die Türkei zu Europa gehört. Sowohl die Russische Föderation als auch die Türkei sind Mitglieder des Europarates, die Türkei bereits seit 1949. Dazu gehören auch eine ganze Reihe weiterer Staaten, einschließlich Georgien und Aserbaidschan. 1 2

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H. Patrick Glenn, Legal Cultures and Legal Traditions, in: Mark van Hoecke (Hrsg.), Epistemology and Methodology of Comparative Law, 2004, 7 ff. Vgl. Adam Kuper, Culture: The Anthropologists‘ Account, 1999, 56 f. (unter Hinweis auf A.L. Kroeber, Clyde Kluckhohn, Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions, 1952). Neuerdings etwa Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, 1 ff., 18 ff., der als Kultur „das grundlegende soziale Zeichen- und Orientierungssystem einer Gemeinschaft“ versteht, die erst „durch den gleichsinnigen Gebrauch eines solchen Sinnsystems zur Gemeinschaft“ werde. „Asien nämlich und die darin wohnenden Völker eignen sich die Perser zu, Europa aber und die hellenische Welt ist nach ihrer Auffassung davon abgesondert“. Herodot, Historien, Erstes Buch, 4 am Ende (in der Übersetzung von Walter Marg, 1973). Vgl. Norman Davies, Europe: A History, 1996, 7 ff. Auch Peter Häberle, Europäische Rechtskultur, in: idem, Europäische Rechtskultur, 1997, 13 ff., versteht Europa als „offenen Begriff “; ebenso Ulrich Beck/Edgar Grande, Das kosmopolitische Europa, 2004, 19. Zur Frage „Wo liegen die Grenzen Europas“ auch Adolf Muschg, Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil, 2005, 67 ff.

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Reinhard Zimmermann

Damit wird klar, dass die Bedeutung der zusammengesetzten Wendung „europäische Kultur“ jedenfalls nicht einfacher zu bestimmen sein kann als ihre Bestandteile. Weithin wird als ein Spezifikum europäischer Kultur ihre christliche Prägung angesehen;5 in diesem Sinne hat man lange vom christlichen Abendland, oder der res publica Christiana, statt von Europa gesprochen. Doch lebten die Christen stets in der Spannung von Einheitsanspruch und Teilungserfahrung. Sie mussten sich mit den Angehörigen der beiden anderen monotheistischen Religionen auseinandersetzen und entwickelten dabei ein Bewusstsein von Differenz und Vielfalt.6 Und auch unter den Christen selbst herrschte so gut wie ständig Streit: von den Kontroversen um Arianismus, Pelagianismus und Monophysitismus über die Trennung in lateinisch-römische und griechisch-orthodoxe Kirche im Schisma von 1054 bis zur Kirchenspaltung als Folge der Reformation. Als ein weiteres Charakteristikum europäischer Kultur wird vielfach ihre spezifische Rationalität genannt.7 Sie entstammt im Wesentlichen der griechisch-römischen Antike8 und führte in eine ständige Spannung zwischen ratio und fides. Beide wurden, jedenfalls im Mittelalter, nicht als Gegensätze verstanden.9 Vielmehr bot bereits die Bibel selbst mit ihrem Gegensatz von Altem und Neuem Testament und dem Nebeneinander von vier Evangelien genügend Ansatzpunkte für historische Kritik und für die Grundlegung einer wissenschaftlichen Theologie. Zudem hat der christliche Glaube neben der eschatologischen auch eine dezidiert auf die diesseitige Welt bezogene Perspektive. Daraus ergab sich der universale Herrschaftsanspruch der Päpste (der wiederum mit demjenigen des Kaisers kollidierte), daraus ergab sich aber auch das Bemühen um intellektuelle Beherrschung und Durchdringung der Welt. Leitmotiv der europäischen Philosophie im Mittelalter war insoweit „intellege ut credas, crede ut intellegas“. Damit bestand eine Grundlage für die Anerkennung und praktische Assimilation der geistigen Grundlagen und kulturellen Errungenschaften der Antike: eine erste wesentliche Antikerezeption, der noch viele weitere folgen sollten.10 So erschienen etwa die griechischen und römischen 5

Dazu, was das heute bedeuten könnte, vgl. J. H. H. Weiler, Ein christliches Europa: Erkundungsgänge, 2004. 6 Dazu Michael Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt, 1050–1250, 2002, 242 ff.; idem, Wie Europa seine Vielfalt fand, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, 2005, 144 ff. Dies ist im Grunde auch das Thema von Muschg (Fn. 4), 37 ff. 7 Dazu Wolfgang Schluchter, Rationalität – das Spezifikum Europas?, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, 2005, 237 ff. 8 Dazu Christian Meier, Die griechisch-römische Tradition, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, 2005, 93 ff. 9 Aus heutiger Sicht vgl. die Enzyklika Fides et Ratio von Papst Johannes Paul II vom 14. September 1998, beginnend mit den Worten: „Glaube und Vernunft … sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt“; dazu auch Josef Kardinal Ratzinger, Der angezweifelte Wahrheitsanspruch – Die Krise des Christentums am Beginn des dritten Jahrtausends, in: Joseph Ratzinger/Paolo Flores d‘Arcais, Gibt es Gott?, 2006, 7 ff. (ursprünglich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Januar 2000). 10 Zum Thema Antike und Christentum, zu dem seit Franz Josef Dölger (1879–1940) eine enorm umfangreiche Literatur erschienen ist, vgl. zusammenfassend etwa Hans Dieter Betz, Antiquity and Christianity, Journal of Biblical Literature 117 (1998), 3 ff. Zur Antikerezeption in Europa allgemein vgl. etwa Walther Ludwig (Hrsg.), Die Antike in der europäischen Gegenwart, 1993, sowie nunmehr umfassend Manfred Landfester/Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hrsg.), Der Neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, Bände 13–15 (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte), 1999–2003.

Römisches Recht und europäische Kultur

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Philosophen in ihrer Erkenntnis des Wahren und Guten bereits von göttlichem logos beseelt; es handelte sich gewissermaßen um Christen avant la lettre. Durch die christliche Offenbarung wurde die Weisheit des Altertums nunmehr überhöht und zu ihrem Ziel geführt.11 Man kann insofern als konstitutiv für Europa geradezu das „Prinzip der Dialogik“ betrachten, das befruchtende Aufeinandertreffen von Unterschieden, Antagonismen, Konkurrenzen und Komplementaritäten:12 fides und ratio, Papst und Kaiser, Reich und Territorien, Rom und Byzanz, griechisch-römische Antike, jüdisch-christliche Tradition, der wiederholte muslimische Ansturm als Geburtshelfer europäischer Identität,13 die Rolle von Revolutionen in der Herausbildung, aber auch Bewahrung dieser Identität,14 Freiheit und Bindung, Innerlichkeit und Tätigkeit,15 der eine Gott als trinitarischer Gott, Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott, der Christ, der der Welt entsagt und sie doch annimmt: der nämlich, weil ihm etwas anderes wichtiger ist als diese Welt, auch diese Welt mehr liebt als derjenige, der nur auf sie fixiert ist. In geschichtlicher Perspektive sind Europa und europäische Kultur gedachte Einheiten, die sich aus spannungsreicher Vielfalt konstituieren.16 Aus diesem Gegensatz von Einheit und Vielfalt erklärt sich die eigentümliche Dynamik und Entwicklungsfähigkeit der europäischen Kultur.17 II. RECHT

UND

KULTUR

Zurück zum Titel dieses Vortrages! Dass „römisches Recht“ jedenfalls ein erklärungsbedürftiger Begriff ist, und zwar schon deshalb, weil es „das“ römische Recht nicht gibt, wird im Folgenden noch deutlich werden. Schließlich gibt selbst das „und“ Anlass zu Fragen. Gemeint ist vermutlich: Der Beitrag des römischen Rechts zur europäischen Kultur. Vorausgesetzt ist hier, dass Recht überhaupt eine Kulturerscheinung im Sinne eines konstitutiven Elements oder einer Manifestation einer spezifischen 11 Besonders deutlich wird dies in dem ikonographischen Programm der Stanza della Segnatura, der von Raffael ausgemalten Privatbibliothek von Papst Julius II. im Vatikan; vgl. Marcia Hall (Hrsg.), Raphael‘s School of Athens, 1997. 12 Borgolte, in: Joas/Wiegandt (Fn. 6), 129 unter Berufung auf Edgar Morin, Europa denken, 1991. 13 Franco Cardini, Europa und der Islam: Geschichte eines Mißverständnisses, 2000, 13. 14 Dies ist das große Thema von Eugen Rosenstock-Huessy (Die europäischen Revolutionen, 1931; idem, Out of Revolution: The Autobiography of Western Man, 1938) und, daran anschließend, Harold J. Berman, Law and Revolution: The Formation of the Western Legal Tradition, 1983; idem, Law and Revolution II, 2003; vgl. auch Robert I. Moore, The First European Revolution, c. 970–1215, 2000. 15 Dazu, im Anschluss an Lukas 10, 38–42 (die Geschichte der Schwestern Martha und Maria), Kurt Flasch, Wert der Innerlichkeit, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, 2005, 219 ff. 16 Dies ist eine Art cantus firmus der modernen Europa-Literatur; vgl. etwa Davies (Fn. 4), 16; Borgolte (Fn. 6), 356 ff.; Hans Joas, Die kulturellen Werte Europas: Eine Einleitung, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, 2005, 11 ff.; Jacques Le Goff, Das alte Europa und die Welt der Moderne, 1996, 53; Häberle (Fn. 4), 26 ff.; Beck/Grande (Fn. 4), 29; sehr pointiert auch Rudolf Schieffer, Einheit in Vielfalt, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Dezember 2005, 7. Vgl. ferner Muschg (Fn. 4), 57 mit der These, dass die Integration Europas „nur zu einer in jedem Sinne geteilten Einheit“ führen könne. 17 In ähnlichem Sinne Muschg (Fn. 4), 56 f.: die europäische Geschichte war „eine Geschichte kritischer Teilungen, und in jeder von ihnen steckte ein integratives Moment, das … zu einer neuen höheren Einheit führte“.

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Kultur ist.18 Das könnte bezweifeln, wer als Rechtsvergleicher einem extrem funktionalistischen Ansatz folgt. Denn wer davon ausgeht, dass jede Gesellschaft ihrem Recht im Wesentlichen dieselben Probleme aufgibt und dass es deshalb letztlich darum geht, für diese Probleme die funktional beste Lösung zu ermitteln,19 der, so wird bisweilen behauptet, könne kulturell bedingte Alterität des Rechts kaum mehr zur Kenntnis nehmen; jedenfalls müsse er sie marginalisieren oder transzendieren.20 Aber auch wer die These vertritt, die Entwicklung des Rechts beruhe im Wesentlichen auf einer Abfolge von Rezeptionen und folge damit einer autonomen intellektuellen Dynamik,21 stellt neben der ökonomischen Fundierung auch die kulturelle Verankerung des Rechts in Frage. Doch anerkennt natürlich auch eine am Funktionalitätsprinzip ausgerichtete Rechtsvergleichung, dass die verschiedenen Rechtsordnungen die Probleme, selbst wenn am Ende die Ergebnisse vielfach gleich sind, auf sehr unterschiedliche Weise lösen, und dass diese Unterschiede auch kulturell bedingt sein können.22 Selbst die Beobachtung von Rezeptionsvorgängen, und insbesondere interkulturellen Rechtstransfers (etwa: der Übernahme deutschen Rechts in Japan oder schweizerischen Rechts in der Türkei), kann hier zu keinem anderen Ergebnis führen; denn zum einen wandelt sich infolge der Rezeption die Rechtskultur des Nehmerlandes, zum anderen lässt diese aber auch das rezipierte Recht nicht unverändert.23 Eine Wechselwirkung von Recht und Kultur ist demnach jedenfalls plausibel. Doch lässt sie sich zum einen vielfach nur schwer konkret demonstrieren; der Schritt vom Recht hin zur allgemeinen Kultur ist vergleichsweise weit. Zum anderen ist der Bezugspunkt für den kulturellen Ansatz zweifelhaft: liegt er in einer europäischen 18 Vgl. bereits Josef Kohler, Das Recht als Kulturerscheinung: Einleitung in die vergleichende Rechtswissenschaft, 1885; heute zur kulturellen Prägung des Rechts insbesondere Bernhard Grossfeld, Macht und Ohnmacht der Rechtsvergleichung, 1984, 80 ff.; zur kulturprägenden Bedeutung des Rechts Helmut Coing, Das Recht als Element der europäischen Kultur, Historische Zeitschrift 238 (1984), 1 ff. Dass das römische Recht ein Exponent der europäischen Kultur sei, ist der Grundgedanke des mit leidenschaftlichem Schwung geschriebenen Werkes von Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, 4. Aufl., 1966. Inwieweit sich das römische Recht in der europäischen Kultur widerspiegelt, untersucht Peter Blaho, Europa und das römische Recht nebst dessen Reflexion in der Literatur, Kunst und Wissenschaft, in: Wolfgang Ernst/Eva Jakab (Hrsg.), Usus Antiquus Juris Romani, 2005, 13 ff. 19 Vgl. etwa Konrad Zweigert/Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl., 1996, 33. 20 Pierre Legrand, Paradoxically, Derrida: For A Comparative Legal Studies, 27 Cardozo Law Review 639 ff. (2005). 21 Alan Watson, Roman Law and Comparative Law, 1991, 97 ff.; idem, Aspects of Reception of Law, 44 American Journal of Comparative Law 335 ff. (1996). 22 Zur funktionalen Methode der Rechtsvergleichung jüngst eingehend Ralf Michaels, The Functional Method of Comparative Law, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 339 ff. 23 Vgl. für Japan Zentaro Kitagawa, Die Rezeption und Fortbildung des europäischen Zivilrechts in Japan, 1970; Helmut Coing (Hrsg.), Die Japanisierung des westlichen Rechts, 1990; Guntram Rahn, Rechtsdenken und Rechtsauffassung in Japan, 1990; für die Türkei Ernst E. Hirsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, Schweizerische Juristenzeitung 1954, 337 ff.; idem, Vom schweizerischen Gesetz zum türkischen Recht, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 95 (1976), 223 ff.; Erich Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch der Türkei: Seine Rezeption und die Frage seiner Bewährung, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957), 123 ff. Zum Phänomen der Rechtsrezeption allgemein Michele Graziadei, Comparative Law as the Study of Transplants and Receptions, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 441 ff.

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Kultur oder den vielen nationalen Kulturen in Europa? Gerade Vertreter eines dezidiert kulturellen Rechtsverständnisses argumentieren kurioserweise gelegentlich vor dem Hintergrund des modernen Nationalstaates und seiner besonderen Kultur, die es vor Europäisierungsbestrebungen zu bewahren gelte.24 Hier ist der Bezugspunkt demgegenüber europäisch. Dabei soll freilich die Themenstellung insoweit etwas variiert werden, als der Schwerpunkt dieses Vortrages auf der römischen Prägung einer Tradition liegt, deren Charakteristika spezifisch europäisch sind und die deshalb auch als Ausdruck und Bestandteil einer europäischen Kultur gelten kann. Es wird somit also der Begriff der „Rechtstradition“ zwischen die im Titel des Vortrages genannten Begriffe „Recht“ und „Kultur“ eingeschaltet. Andere hätten an diese Stelle vermutlich den Begriff der „Rechtskultur“ gesetzt, der seit einiger Zeit gebräuchlich ist, um hervorzuheben, dass es jedenfalls im Rahmen der Rechtsvergleichung um mehr gehen muss als um einen bloßen Vergleich von Regeln.25 Das bringt der Begriff „Rechtstradition“ ebensogut zum Ausdruck. Darüber hinaus betont er von vornherein den Charakter von Recht und Rechtskultur als etwas historisch Gewachsenem, von der Vergangenheit Geprägtem.26 Zudem vermeidet er die latent konfrontative Konnotation des Kulturbegriffes.27 III. RÖMISCHES RECHT

IN DEN MODERNEN

KODIFIKATIONEN

Wenn wir heute von Herausgabeansprüchen reden oder schreiben, unterscheiden wir die Vindikation von der Kondiktion.28 Bei Vorliegen einer Vindikationslage 24 Dazu Jürgen Basedow, Rechtskultur – zwischen nationalem Mythos und europäischem Ideal, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 4 (1996), 379 ff.; Nikolas Roos, NICE Dreams and Realities of European Private Law, in: Mark van Hoecke (Hrsg.), Epistemology and Methodology of Comparative Law, 2004, 210 ff. 25 Dazu etwa die Beiträge in David Nelken (Hrsg.), Comparing Legal Cultures, 1997; Heinz Mohnhaupt, Europäische Rechtsgeschichte und europäische Einigung: Historische Beobachtungen zu Einheitlichkeit und Vielfalt des Rechts und der Rechtsentwicklungen in Europa, in: Recht – Idee – Geschichte, Festschrift für Rolf Lieberwirth, 2000, 657 ff.; sowie jüngst Roger Cotterrell, Comparative Law and Legal Culture, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 709 ff. 26 Dazu auch Koschaker (Fn. 18), 4; Häberle (Fn. 4), 21 f.; Mohnhaupt (Fn. 25), 657 ff.; Géza Alföldy, Das Imperium Romanum – ein Vorbild für das vereinte Europa?, 1999, 7; Peter Wagner, Hat Europa eine kulturelle Identität?, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, 2005, 498 f. 27 Patrick Glenn, Comparative Legal Families and Comparative Legal Traditions, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 421 ff.; idem, in: van Hoecke (Fn. 1), 7 ff.; idem, Legal Traditions of the World, 2. Aufl., 2004, 1 ff. Zu einer feststehenden Formel ist der „Kampf der Kulturen“ seit Samuel P. Huntingtons berühmten Buch geworden (so die deutsche Übersetzung des englischen Titels The Clash of Civilizations, 1996); vgl. auch etwa Otto Hondrich, Kampf der Kulturen, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. April 2006, S. 6.; Karl Kardinal Lehmann, Kampf der Kulturen?, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. September 2006, S. 8. 28 Die Begriffe finden sich auch in bewusst knapp gefassten Erläuterungen zum BGB wie denjenigen bei Othmar Jauernig (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch, 11. Aufl., 2004 (vgl. § 985, Rdz. 1, wo sogar der lateinische Begriff rei vindicatio verwandt wird; Vor §§ 987–993, Rdz. 3: Vindikationslage; § 812, I. Voraussetzungen der Leistungskondiktion, II. Kondiktion wegen Bereicherung in sonstiger Weise).

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kann Verwendungsersatz geschuldet werden. Die entsprechenden Ansprüche sind in den §§ 994 ff. BGB geregelt und vom römischen Regelungsmodell inspiriert.29 Der wichtigste Fall der Leistungskondiktion in § 812 I 1, 1. Alt. BGB wird nicht selten als condictio indebiti bezeichnet. Ferner finden sich in § 812 I 2 BGB die Kondiktion wegen Wegfalls des rechtlichen Grundes (condictio ob causam finitam) und wegen Zweckverfehlung (condictio causa data causa non secuta).30 In § 817, 1 BGB begegnet uns die condictio ob turpem vel iniustam causam, die nach dem Grundsatz in pari turpitudine melior est causa possidentis ausgeschlossen sein kann (§ 817, 2 BGB).31 Nicht immer werden wir schon durch die noch heute gängige Terminologie so deutlich auf den römischen Ursprung unseres modernen Privatrechts gestoßen. Der Begriff „Delikt“ führt direkt auf das römische delictum zurück; aber auch der Ausdruck „Vertrag“ (von „sich vertragen“) ist in Anlehnung an das lateinische pactum (von pacisci = sich vertragen) geprägt worden,32 das wir im Edikt des römischen Prätors finden („pacta conventa … servabo“).33 Die Generalklausel des § 242 BGB beruht jedenfalls in der Interpretation, die ihr schon unmittelbar nach Inkrafttreten des BGB gegeben wurde, auf der doppelten Wurzel der exceptio doli und der bona fides, die ihrerseits eine der wichtigsten Antriebskräfte in der Entwicklung des römischen Vertragsrechts war.34 Eine Rechtsausübung ist unzulässig, wenn sich der Berechtigte mit ihr in Widerspruch zu seinem eigenen Vorverhalten setzt (venire contra factum proprium), wenn er sich selbst vertragsuntreu verhalten hat (tu quoque) oder wenn er etwas verlangt, das er seinem Schuldner alsbald zurückgewähren muss (dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est). Wir lesen diese römischen Rechtsmaximen in den § 242 BGB hinein.35 In anderen Fällen hat der BGB-Gesetzgeber derartige Maximen unmittelbar in das BGB übernommen, wenngleich nicht in lateinischer Sprache; so bei plus valere quod agitur, quam quod simulate concipitur (§ 117 BGB) oder bei der interpretatio contra eum qui clarius loqui debuisset (oder: ambiguitas contra stipulatorum; oder: contra proferentemRegel: § 305 c II BGB).36 Römisch inspiriert sind systematische Unterscheidungen 29 So werden bis heute nach dem Vorbild des römischen Rechts notwendige, nützliche und Luxusverwendungen unterschieden (impensae necessariae, utiles und voluptuariae): siehe etwa Othmar Jauernig, in: Jauernig (Fn. 28), Vor §§ 994–1003, Rdz. 8 (obwohl das Gesetz selbst nur für die ersten beiden Typen von Verwendungen Regelungen enthält). 30 Auch hier finden sich die lateinischen Begriffe noch in Kurzkommentaren wie Astrid Stadler, in: Jauernig (Fn. 28), § 812, Rdz. 13 und 14. 31 Jauernig/Stadler (Fn. 28), § 817, Rdz. 1 erwähnt nur die erste Wendung, nicht die letztere Maxime. 32 Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, Halle, 1754, § 438; dazu Klaus-Peter Nanz, Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert, 1983, 164 ff. 33 Ulp. D. 2, 14, 7, 7. 34 Simon Whittaker/Reinhard Zimmermann, Good faith in European contract law: surveying the legal landscape, in: Reinhard Zimmermann/Simon Whittaker, Good Faith in European Contract Law, 2000, 16 ff.; Martin Josef Schermaier, Bona fides in Roman contract law, in: Zimmermann/ Whittaker (wie soeben), 63 ff.; Reinhard Zimmermann, Roman Law, Contemporary Law, European Law, 2001, 83 ff. Der einflussreichste Versuch einer Systematisierung der Rechtsprechung zu § 242, Franz Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956, ist denn auch deutlich vom römischen Recht inspiriert. 35 Sie werden erwähnt bei Heinz-Peter Mansel, in: Jauernig (Fn. 28), § 242, Rdz. 39, 47, 48; vgl. auch Rdz. 37 und 44 mit der Unterscheidung von exceptio doli praesentis und exceptio doli praeteriti. 36 Dazu Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations: Roman Foundations of the Civilian Tradition, paperback edition, 1996, 639 ff.; Stefan Vogenauer, in: Mathias Schmoeckel/Joachim Rückert/

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wie die zwischen Vertrag und Delikt oder zwischen absoluten und relativen Rechten und, damit verbunden, zwischen Sachenrecht und Schuldrecht; Vertragstypen wie Kauf, Tausch und Schenkung, Auftrag, Verwahrung und Bürgschaft, oder auch die Unterscheidung von Leihe und Darlehen; allgemeine Haftungsstandards wie Vorsatz, Fahrlässigkeit und diligentia quam in suis37 oder auch spezielle, verschuldensunabhängige Haftungsregimes wie die des Vermieters nach § 536 a BGB38 oder des Gastwirts nach §§ 701 ff. BGB;39 und schließlich eine unübersehbare Vielzahl von Rechtsinstituten und Einzelregelungen: von der Nichtigkeit sittenwidriger Rechtsgeschäfte (Verträge contra bonos mores) über die Sonderregeln für den Schuldnerverzug (mora debitoris) und für den Gläubigerverzug (mora creditoris), Rücktritt und Minderung im Sachmängelrecht des Kaufs (actio redhibitoria und actio quanti minoris), bis hin zur Geschäftsführung ohne Auftrag (negotiorum gestio) und zur Tierhalterhaftung nach § 833 BGB. Damit sind nur einige wenige Beispiele genannt, die allenfalls einen gewissen Eindruck von der romanistischen Imprägnierung des BGB geben können und die zudem einem einzigen Bereich des Privatrechts, nämlich dem des Schuldrechts, entstammen. Für andere Bereiche (vor allem: Sachenrecht und Erbrecht) lassen sich ähnliche Kataloge aufstellen.40 Dasselbe gilt auch für die anderen modernen Kodifikationen.41 Der Code civil von 1804 ist in Manchem sogar noch römischer als das BGB:42 so in seiner grundsätzlichen Ablehnung des Vertrages zugunsten Dritter in Art. 1121 (alteri stipulari nemo potest); in seinem Insistieren auf der Bestimmtheit des Kaufpreises als Wirksamkeitsvoraussetzung von Kaufverträgen (Art. 1591 Code civil;

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Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (HKK), Band II, 2007, §§ 305–310. Gestaltung rechtsgeschäftlicher Schuldverhältnisse durch Allgemeine Geschäftsbedingungen III, Rdz.13 ff. Dazu Martin Schermaier, in: HKK (Fn. 36), §§ 276–278. Verantwortlichkeit des Schuldners, passim. Dazu Klaus Luig, Zur Vorgeschichte der verschuldensunabhängigen Haftung des Vermieters für anfängliche Mängel nach § 538 BGB, in: Festschrift für Heinz Hübner, 1984, 121 ff. Dazu Reinhard Zimmermann, Die Geschichte der Gastwirtshaftung in Deutschland, in: HansPeter Haferkamp, Tilman Repgen (Hrsg.), Usus modernus: Römisches Recht, Deutsches Recht und Naturrecht in der frühen Neuzeit, 2007, 271 ff. Eingehend zum Thema römisches Recht und BGB Max Kaser, Der römische Anteil am deutschen bürgerlichen Recht, Juristische Schulung 1967, 337 ff.; Rolf Knütel, Römisches Recht und deutsches Bürgerliches Recht, in: Walter Ludwig (Hrsg.), Die Antike in der europäischen Gegenwart, 1993, 43 ff.; Eduard Picker, Zum Gegenwartswert des Römischen Rechts, in: Hans Bungert (Hrsg.), Das antike Rom in Europa, 1985, 289 ff. Vgl. ferner das von Rolf Knütel und Markus Goetzmann zusammengestellte Register der in den Materialien zum BGB zitierten römischen Rechtsquellen, in: Reinhard Zimmermann/Rolf Knütel/Jens Peter Meincke (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 2000, 679 ff. Bis hin zum neuen niederländischen Gesetzbuch; vgl. Hans Ankum, Römisches Recht im neuen niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuch, in: Reinhard Zimmermann/Rolf Knütel/Jens Peter Meincke (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 2000, 101 ff.; allgemein zum Thema Alexander Beck, Römisches Recht in unserer Rechtsordnung, in: Horizonte der Humanitas: Freundesgabe Walter Wili, 1960, 120 ff.; Reinhard Zimmermann, The Civil Law in European Codes, in: David L. Carey Miller/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), The Civilian Tradition and Scots Law: Aberdeen Quincentenary Essays, 1997, 259 ff.; Alfons Bürge, Das römische Recht als Grundlage für das Zivilrecht im künftigen Europa, in: Filippo Ranieri (Hrsg.), Die Europäisierung der Rechtswissenschaft, 2002, 19 ff. Dazu auch James Gordley, Myths of the French Civil Code, American Journal of Comparative Law 42 (1992), 459 ff.

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im römischen Recht: pretium certum); in seiner Anordnung, dass die Aufrechnung sich „de plein droit par la seule force de la loi, même à l‘insu des débiteurs“ vollzieht (Art. 1290; im römischen Recht: ipso iure); oder in seiner Beibehaltung der Systemkategorien Vertrag, Quasivertrag, Delikt und Quasidelikt.43 IV. WIE

RÖMISCH IST DAS HEUTIGE RÖMISCHE

RECHT?

1. MISSVERSTÄNDNISSE, UNTERSCHIEDLICHE TRADITIONSSCHICHTEN, MEHRDEUTIGKEITEN In all diesen und vielen anderen Fällen sind unser modernes Recht und unser modernes Rechtsdenken vom römischen Recht geprägt. In den wenigsten Fällen (wenn überhaupt je) sind die modernen Regeln jedoch mit dem römischen Recht (oder auch untereinander!)44 identisch; gelegentlich ist das römische Vorbild geradezu auf den Kopf gestellt worden. Quasidelikt war, wie wir heute zu wissen meinen, eine Systemkategorie, in der Fälle einer verschuldensunabhängigen, außervertraglichen Haftung zusammengefasst und von der verschuldensabhängigen Deliktshaftung abgegrenzt wurden.45 Lange Zeit ging man jedoch davon aus, dass deliktische Haftung auf Vorsatz, quasideliktische Haftung auf Fahrlässigkeit beruht.46 Dieses Missverständnis, das dadurch verursacht wurde, dass Justinian die Quellen des klassischen Rechts unter ein verallgemeinertes culpa-Erfordernis zu zwingen versuchte, prägte auch das Verständnis des französischen Gesetzgebers. Da die Haftung für fahrlässig begangene unerlaubte Handlungen derjenigen für vorsätzliches Handeln gleichgestellt ist, hatte die Unterscheidung zwischen deliktischer und quasideliktischer Haftung damit jedoch jede praktische Relevanz verloren. Zudem fehlte nunmehr ein geeigneter Ort für die systematische Einbettung des praktisch zunehmend wichtigen Phänomens der Gefährdungshaftung in das System des Privatrechts.47 Auf einem Missverständnis beruht auch die Interpretation der Wendung ipso iure im Sinne von sine facto hominis (d.h. automatisch eintretend) im Recht der Aufrechnung. Gemeint war damit lediglich, dass es sich hier nicht um eine durch den Richter bewirkte Form der Aufrechnung handelte, sondern dass dem Kläger durch das Recht selbst die Aufrechnung aufgenötigt wird, indem er von vornherein den Betrag der Gegenforderung von seiner eigenen Forderung abzuziehen hat.48 Zudem bezogen sich die einschlägigen Stellen nur auf einen ganz bestimmten Typ der Aufrechnung, nämlich das agere cum compensatione 43 Vgl. Buch III, Titel IV, Kapitel I und II des Code civil. Zur entsprechenden justinianischen Vierteilung der Schuldverhältnisse (Inst. III, 13, 2) vgl. Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 14 ff. 44 Dazu anhand des Beispiels der Gesetz- und Sittenwidrigkeit Zimmermann, Civil Law (Fn. 41), 267 f. 45 Dazu Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 16 ff. 46 Vgl. z.B. Robert Joseph Pothier, Traité des obligations, in: idem, Traités de droit civil, Band I, 1781, n. 116. 47 Dazu Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 1126 ff. 48 Pascal Pichonnaz, La compensation: Analyse historique et comparative des modes de compenser non conventionnels, 2001, 127 ff.; Reinhard Zimmermann, in: HKK (Fn. 36), §§ 387–396. Aufrechnung, Rdz. 6.

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des Bankiers. Anders als das heutige Recht kannte das römische Recht überhaupt kein einheitliches Institut der Aufrechnung mit standardisierten Tatbestandsvoraussetzungen; vielmehr standen, gemäß dem aktionenrechtlichen Charakter des römischen Rechts, vier verschiedene Formen der Aufrechnung nebeneinander.49 So bedurfte es bei den bonae fidei iudicia einer Geltendmachung der Aufrechnung. Auch Justinian sprach in einer seiner Konstitutionen davon, dass die Aufrechnung erklärt werden müsse,50 und diese Anordnung führte schließlich zu dem uns bekannten Modell der Aufrechnung nach § 388 BGB.51 Wir haben damit hier den Fall zweier ganz unterschiedlicher Lösungen ein- und desselben Problems, die beide auf das römische Recht zurückreichen. Dieses Phänomen ist keineswegs selten. So wird nicht nur die Konzeption des Gläubigerverzuges, die ihren Weg ins BGB gefunden hat (bloße Obliegenheitsverletzung, kein Verschuldenserfordernis, damit auch kein Schadensersatz) aus dem römischen Recht abgeleitet, sondern auch das Gegenmodell, wonach der Gläubigerverzug gewissermaßen das Spiegelbild des Schuldnerverzuges darstellt (Pflichtverletzung, Verschulden, Schadensersatz).52 Ein weiteres berühmtes Beispiel bieten das Abstraktionsprinzip und die Lehre von der iusta causa traditionis bei der Eigentumsübertragung.53 Es kommt sogar vor, dass zwei unterschiedliche Lösungen auf ein- und dieselbe Quellenstelle gestützt werden. So etwa bei Gai. D. 19, 2, 25, 7. Hier wurde ein Transportunternehmer für den Schaden an dem Transportgut verantwortlich gemacht, „si qua ipsius eorumque, quorum opera uteretur, culpa occiderit“. Versteht man das „que“ in „eorumque“ disjunktiv,54 so bietet der Text eine Grundlage für eine strikte, von eigenem Verschulden unabhängige Haftung des Unternehmers für das Verschulden seiner Angestellten. Wir finden diese Lösung heute, für den außervertraglichen Bereich, in Art. 1384 Code civil.55 Im deutschen Pandektenrecht des 19. Jahrhunderts las man hingegen: Haftung bei Schadenszufügung durch eigenes Verschulden und das Verschulden derer, deren man sich zur Ausführung der Verrichtung bedient.56 Der Text entsprach in dieser Interpretation einem der juristischen Axiome jener Zeit, dem das Deliktsrecht beherrschenden Verschuldensprinzip,57 und trug damit die verschuldensabhängige Verrichtungsgehilfenhaftung,58 die § 831 BGB bis heute perpetuiert. 49 Zu den Details vgl. Pichonnaz (Fn. 48), 9 ff.; Überblick bei Max Kaser, Das römische Privatrecht, Erster Abschnitt, 2. Aufl., 1971, 644 ff.; Reinhard Zimmermann, in: HKK (Fn. 36), §§ 387–396, Rdz. 5 ff. 50 C. 4, 31, 14. 51 Dazu im einzelnen Reinhard Zimmermann, in: HKK (Fn. 36), §§ 387–396, Rdz. 11 ff. 52 Dazu Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 817 ff. 53 Dazu Filippo Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, 2. Aufl., 2003, 383 ff. 54 Das entspricht der Mehrheitsmeinung in der heutigen Romanistik; vgl. Rolf Knütel, Die Haftung für Hilfspersonen im römischen Recht, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 100 (1983), 419 ff.; Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 397 ff.; Hartmut Wicke, Respondeat Superior, 2000, 69 ff. 55 Dazu Alan Watson, Failures of the Legal Imagination, 1988, 6 ff., 15 ff.; Zweigert/Kötz (Fn. 19), 639 ff. 56 Vgl. etwa Bernhard Windscheid/Theodor Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, 9. Aufl., 1906, § 401, 5. 57 Dazu etwa Hans-Peter Benöhr, Die Entscheidung des BGB für das Verschuldensprinzip, Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis 46 (1978), 1 ff. 58 Zur Entwicklung vgl. Hans Hermann Seiler, Die deliktische Gehilfenhaftung in historischer Sicht, Juristenzeitung 1967, 525 ff.

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2. „… MAGIS DIFFERAT, QUAM AVIS A QUADRUPEDE“ Dass aufgrund einer formlosen Einigung klagbare Verbindlichkeiten entstehen können, ist eine Errungenschaft des römischen Rechts. Doch galt dies zunächst nur in bestimmten Fällen; der allgemeine Grundsatz lautete: nuda pactio obligationem non parit.59 Dennoch wurden in der antiken Rechtsentwicklung immer mehr pacta klagbar gestellt.60 Damit war schon im römischen Recht der Grund gelegt für die Herausbildung des Prinzips pacta sunt servanda, das, obwohl in Latein formuliert, als solches unrömisch ist.61 Auch die Geschichte des Vertrages zugunsten Dritter, des Rechts der Stellvertretung und der Forderungsabtretung lässt sich in ähnlicher Weise schreiben. Zwar stand der Anerkennung aller drei, für uns heute unentbehrlichen, Rechtsinstitute im römischen Recht lange Zeit die Vorstellung vom Schuldverhältnis als einer strikt persönlichen „juristischen Fessel“62 zwischen den vertragschließenden Parteien im Wege, doch enthielt schon das Corpus Juris Civilis eine Reihe von Ansatzpunkten zur Überwindung dieses restriktiven Verständnisses.63 Ein einziger unscheinbarer Text im Codex Justiniani64 wurde zum Katalysator der allgemeinen Versionsklage des französischen Rechts,65 die als solche zweifellos nicht dem römischen Recht entspricht. Die condictio indebiti des modernen deutschen Rechts hat demgegenüber zwar ein Vorbild im römischen Recht, von dem sie sich jedoch erheblich unterscheidet. So richtet sie sich nur auf die noch vorhandene Bereicherung66 und setzt auch nicht mehr voraus, dass der Rückforderungsgläubiger irrtümlich auf eine Nichtschuld gezahlt hat. Insbesondere die Geschichte des Irrtumserfordernisses zeigt, wie sich Generationen von Juristen an zwei konfligierenden Quellenstellen, die eine von Papinian,67 die andere den Kaisern Diokletian und Maximian zugeschrieben,68 zum Problem des Rechtsirrtums abarbeiteten.69 Die condictio causa data causa non secuta hat angesichts 59 Ulp. D. 2, 14, 7, 4. 60 Dazu näher Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 508 ff. 61 Der Satz „pacta quantumcunque nuda servanda sunt“ findet sich zum ersten Mal im Corpus Juris Canonici, der grossen kirchlichen Rechtssammlung des Mittelalters. Vgl. näher Law of Obligations (Fn. 36), 542 ff.; Peter Landau, Pacta sunt servanda: Zu den kanonistischen Grundlagen der Privatautonomie, in: „Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert“, Festschrift für Knut Wolfgang Nörr, 2003, 457 ff. 62 Inst. III, 13 pr.: „[O]bligatio est iuris vinculum, quo necessitate adstringimur alicuius solvendae rei secundum nostrae civitatis iura“. 63 Zur Entwicklung Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 34 ff., 45 ff., 58 ff. 64 C. 4, 26, 7, 3: „Alioquin si cum libero rem agente eius, cuius precibus meministi, contractum habuisti et eius personam elegisti, pervides contra dominum nullam te habuisse actionem, nisi vel in rem eius pecunia processit vel hunc contractum ratum habuit“. 65 Berthold Kupisch, Die Versionsklage, 1965; Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 878 ff. 66 Anders als die §§ 812 ff. BGB war die römische condictio nicht am Gesamtvermögen des Bereicherungsschuldners orientiert. Denn der Empfänger schuldete Rückgabe des empfangenen Gegenstandes, und Inhalt und Schicksal dieser Verbindlichkeit richtete sich nach den allgemeinen Grundsätzen; dazu und zur weiteren Entwicklung, Wolfgang Ernst, Werner Flumes Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, in: Werner Flume, Studien zur Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, 2003, 2 ff. 67 Pap. D. 22, 6, 7: „Iuris ignorantia non prodest adquirere volentibus, suum vero petentibus non nocet“. 68 C. 1, 18, 10: „Cum quis ius ignorans indebitam pecuniam persolverit, cessat repetitio“. 69 D. P. Visser, Die rol van dwaling by die condictio indebiti, Dissertation Leiden, 1985, 66 ff.; Law of Obligations (Fn. 36), 868 ff.

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der Anerkennung des Prinzips pacta sunt servanda ihre Funktion weitgehend eingebüßt, die condictio ob turpem vel iniustam causam hat sie vollkommen verloren.70 Damit ist auch die Anwendung der in pari turpitudine-Regel problematisch geworden.71 Da die römischen Kondiktionen das fragmentarische Vertragsrecht ergänzten,72 war mit der frühneuzeitlichen Herausbildung des allgemeinen Vertragsbegriffs auch der Weg zu einer generalisierten Bereicherungshaftung vorgezeichnet. Diesen Weg beschritten vor allem Hugo Grotius,73 die französische Cour de cassation74 und Friedrich Carl von Savigny75 von jeweils unterschiedlichen Ansatzpunkten aus. Mit der Verallgemeinerung der Haftung aus ungerechtfertigter Bereicherung mussten aber wiederum, beispielsweise, die römischen Regeln über den Impensenersatz ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren: denn wenn einem Besitzer, der auf die Sachen eines anderen Verwendungen gemacht hatte, nunmehr ein Bereicherungsanspruch zur Verfügung stand, bedurfte er keines besonderen Schutzes mehr. Wenn unter diesen Umständen die Verfasser des BGB sich gleichwohl dafür entschieden, die Impensenersatzregelung in den §§ 994 ff. beizubehalten, so stellten sie damit gleichzeitig deren ratio auf den Kopf.76 Diese Entscheidung, die römischen Regeln in einem veränderten rechtsdogmatischen Umfeld und unter umgekehrten rechtspolitischen Vorzeichen beizubehalten, erwies sich als ausgesprochen unglücklich.77 Schritt für Schritt modernisiert und verallgemeinert wurde in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Jurisprudenz auch die deliktische Haftung.78 Dabei konnte man anknüpfen an die Versuche der römischen Juristen, ein eng begrenztes, einigermaßen seltsam formuliertes Volksgesetz aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert, die lex Aquilia, zu einem zentralen Pfeiler des römischen Deliktsrechts zu machen.79 Dass man nach wie vor von einer aquilischen Haftung sprach, obwohl sie sich von ihrem römischen Ursprung stärker 70 71 72 73

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Näher dazu Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 857 ff. Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 863 ff. Berthold Kupisch, Ungerechtfertigte Bereicherung: geschichtliche Entwicklungen, 1987, 4 ff.; Law of Obligations (Fn. 36), 841 ff. Dazu Robert Feenstra, Grotius‘ Doctrine of Unjust Enrichment as a Source of Obligation: Its Origin and its Influence in Roman-Dutch Law, in: E.J.H. Schrage (Hrsg.), Unjust Enrichment: The Comparative Legal History of the Law of Restitution, 2. Aufl., 1999, 197 ff.; Daniel Visser, Das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung, in: Robert Feenstra/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Das römisch-holländische Recht: Fortschritte des Zivilrechts im 17. und 18. Jahrhundert, 1992, 369 ff. Dazu zuletzt Alfons Bürge, Der Arrêt Boudier von 1892 vor dem Hintergrund der Entwicklung des französischen Bereicherungsrechts im 19. Jahrhundert, in: Festschrift für Hans Jürgen Sonnenberger, 2004, 3 ff. Dazu zuletzt Nils Jansen, Die Korrektur grundloser Vermögensverschiebungen als Restitution? Zur Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung bei Savigny, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 120 (2003), 106 ff. Dazu im einzelnen Dirk A. Verse, Verwendungen im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis: Eine kritische Betrachtung aus historisch-vergleichender Sicht, 1999; im Überblick auch Reinhard Zimmermann, Europa und das römische Recht, Archiv für die civilistische Praxis 202 (2002), 259 ff. Die Probleme werden analysiert bei Verse (Fn. 76), 1 ff. Horst Kaufmann, Rezeption und usus modernus der actio legis Aquiliae, 1958; Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Band I, 1985, 509 ff.; Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 1017 ff.; Jan Schröder, Die zivilrechtliche Haftung für schuldhafte Schadenszufügungen im deutschen usus modernus, in: La responsabilità civile da atto illecito nella prospettiva storico-comparatistica, 1995, 142 ff. Dazu im einzelnen Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 953 ff.

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unterschied als ein Vogel vom Vierfüßler,80 bewog Christian Thomasius bereits im frühen 18. Jahrhundert, der außervertraglichen Schadensersatzklage die aquilische Maske herunterzureißen.81 Und doch ist unsere Dogmatik des Deliktsrechts bis heute von Begriffen geprägt (insbesondere: Rechtswidrigkeit und Verschulden), die ihren Ursprung im römischen Recht haben, die uns aber deshalb Schwierigkeiten bereiten, weil sich die Funktion des Deliktsrechts gegenüber dem römischen Recht grundlegend geändert hat.82 Einem von vielen „produktiven Missverständnissen“83 der römischen Quellen durch die mittelalterliche Jurisprudenz verdankt sich die Erstreckung des römischen Kaufrechts (das nur den Spezieskauf kannte und ganz auf diesen zugeschnitten war) auf den reinen Gattungskauf.84 Das war einerseits ein ausgesprochen zukunftweisender Schritt, überflügelte der Gattungskauf doch den Spezieskauf zunehmend in seiner praktischen Bedeutung. Andererseits passten aber eine Reihe der römischen Rechtsregeln nicht, vor allem nicht die alte Gefahrtragungsregel emptione perfecta periculum est emptoris und das Haftungsregime für Sachmängel. Das erste dieser Probleme löste der BGB-Gesetzgeber schließlich durch die vom römischen Recht abweichende Regel des § 446;85 das zweite blieb trotz der in § 480 BGB (alte Fassung) getroffenen Kompromisslösung virulent.86 V. PRÄGENDE MERKMALE

DES ANTIKEN RÖMISCHEN

RECHTS

Bereits diese wenigen Beispiele verdeutlichen eine Reihe von Eigenarten des römischen Rechts, die für die weitere Entwicklung von Bedeutung waren. (i) Es handelte sich um eine hoch entwickelte Fachwissenschaft, die von Juristen getragen wurde. Das war für die antike Welt einmalig. (ii) Damit verbunden war eine prinzipielle Abgrenzung (oder, nach einem Ausdruck von Fritz Schulz: Isolierung)87 von Recht gegenüber Religion, Sitte, Politik und Ökonomie: eine Sonderung des Rechts vom Nichtrecht. (iii) Damit wiederum hing zusammen eine sehr starke Konzentration auf das Privatrecht (und die Durchsetzung des Privatrechts im Zivilprozeß); Strafrecht und Staatsverwaltung schienen den römischen Juristen demgegenüber offenbar weitgehend nicht unter spezifisch juristischen Kriterien erfassbar. (iv) Das römische Privatrecht war weithin Juristenrecht; es war in keinem Gesamtgesetz systematisch 80 „[A]ctio nostra, qua utimur, ab actione legis Aquiliae magis differat, quam avis a quadrupede“: Thomasius, Larva Legis Aquiliae, § 1. 81 Christian Thomasius, Larva Legis Aquiliae, herausgegeben und übersetzt von Margaret Hewett, 2000. 82 Das zeigt Nils Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts: Geschichte, Theorie und Dogmatik außervertraglicher Ansprüche auf Schadensersatz, 2003. 83 Den Begriff hat jedenfalls für die Rechtsgeschichte H. R. Hoetink geprägt (der ihn seinerseits aus der theologischen Literatur übernommen hat); vgl. H. R. Hoetink, Over het verstaan van vreemd recht, in: idem, Rechtsgeleerde opstellen, 1982, 34 f., 266 f. 84 Martin Bauer, Periculum Emptoris: Eine dogmengeschichtliche Untersuchung zur Gefahrtragung beim Kauf, 1998, 98 ff.; Wolfgang Ernst, Kurze Rechtsgeschichte des Gattungskaufs, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1999, 612 ff.; Reinhard Zimmermann, The New German Law of Obligations: Historical and Comparative Perspectives, 2005, 84 ff. 85 Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 291 f. 86 Zimmermann, New German Law of Obligations (Fn. 84), 87 ff. 87 Fritz Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts, 1934, 13 ff.

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geordnet, sondern wurde von praktisch erfahrenen und praktisch tätigen Juristen angewandt und fortgebildet.88 (v) Das erklärt einerseits die große Anschaulichkeit und Lebensnähe des römischen Rechts. Es erklärt andererseits aber auch die vielen Kontroversen, die sich um die Beurteilung von Rechtsproblemen herumrankten. (vi) Diese Kontroversen waren Ausdruck der inneren Dynamik des römischen Rechts. Es war in ständiger Fortentwicklung begriffen. Zwischen Publius Mucius Scaevola, den ein Handbuch aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus zu denen rechnete, „qui fundaverunt ius civile“89 (er war im Jahre 133 v. Chr. Konsul gewesen), und Aemilius Papinianus, Prätorianerpräfekt von 205–212 n. Chr. und überragender Jurist der Spätklassik, liegt ein Zeitraum von mehr als dreihundert Jahren, innerhalb derer Staat und Gesellschaft, römische Rechtskultur und römisches Recht grundlegenden Veränderungen unterworfen waren. (vii) Die Redeweise von „dem“ römischen Recht ist insofern ungenau. Vielmehr bildete schon das antike römische Recht eine Tradition, in der die jüngeren Autoren auf der Jurisprudenz der älteren aufbauten und einen generationenübergreifenden Diskussionszusammenhang schufen. Ein Beispiel90 mag das verdeutlichen. In D. 24, 3, 66 pr. überliefert Justinian ein Fragment des an der Wende der Frühklassik zur Hochklassik stehenden Juristen Javolen.91 Es stammt aus einer Bearbeitung der nachgelassenen Schriften des Marcus Antistius Labeo (eines Zeitgenossen des Augustus; er gilt als einer der herausragenden römischen Rechtsgelehrten)92 und enthält einen Rechtssatz, wonach der Ehemann bei den Sachen, die er außer Bargeld als Mitgift hat, für Vorsatz und Fahrlässigkeit einstehen muss. Für diesen Rechtssatz wird der bedeutendste Jurist der vorklassischen Zeit, Servius Sulpicius Rufus als Autorität zitiert.93 Servius hatte dabei an die Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits durch den bereits erwähnten Publius Mucius94 angeknüpft. Dieser Rechtsstreit hatte die Mitgiftgegenstände der Licinnia, der Ehefrau des Gaius Sempronius Gracchus betroffen, die in den durch die gracchische Agrargesetzgebung veranlassten Unruhen untergegangen waren. (viii) Das römische Recht war damit außerordentlich komplex. Es gründete sich in der Hauptsache auf Fallentscheidungen. Es bildete einen über mehrere Jahrhunderte reichenden Traditionszusammenhang. Es war in einer kaum noch überschaubaren Literatur dokumentiert.95 Und es beruhte auf zwei unterschiedlichen Geltungsgrundlagen: dem traditionellen Kern der alten Bürgerordnung (ius civile) und dem ius honorarium, das, wie es bei Papinian heißt, die Prätoren im öffentlichen Interesse eingeführt haben, „adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis gratia“.96 (ix) Gleichwohl bildete das römische Recht kein undurchdringliches Gestrüpp von Einzelheiten. Vielmehr entwickelten die römischen 88 89 90 91 92 93 94 95

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Anschaulich hierzu Bürge (Fn. 41), 21 ff.; idem, Römisches Privatrecht, 1999, 17 ff. Pomp. D. 1, 2, 2, 39. Gewählt im Anschluss an Jens Peter Meincke, Juristenzeitung 2006, 299. Zu diesem Wolfgang Kunkel, Die römischen Juristen: Herkunft und soziale Stellung, 2. Aufl., 1967, 138 ff. Wolfgang Waldstein/J. Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 10. Aufl., 2005, 201; Kunkel (Fn. 91), 32 ff. Zu diesem Waldstein/Rainer (Fn. 92), 135; Kunkel (Fn. 91), 25. Zu Publius Mucius Scaevola siehe Waldstein/Rainer (Fn. 92), 133; Kunkel (Fn. 91), 12. Der justinianischen Gesetzgebungskommission lagen im sechsten Jahrhundert noch etwa 2.000 Bücher vor (C. 1, 17, 2, 1); das klassische Schrifttum wird jedoch ein Vielfaches dieser Zahl ausgemacht haben: Waldstein/Rainer (Fn. 92), 199. Pap. D. 1, 1, 7, 1. Dazu im Überblick Max Kaser/Rolf Knütel, Römisches Privatrecht, 18. Aufl.,

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Juristen eine Vielzahl von Rechtsfiguren, Rechtsbegriffen und Rechtsregeln, die sie im Sinne innerer Widerspruchsfreiheit aufeinander abzustimmen suchten. Damit entstand eine Art von offenem System, das gedankliche Stringenz, gleichzeitig aber auch ein großes Maß an Flexibilität bei der Lösung praktischer Probleme gewährleistete.97 Dabei wurden die römischen Juristen geleitet von einer Reihe grundlegender Werte oder Prinzipien wie etwa der Freiheit der Person, den Geboten der bona fides und der humanitas, oder dem Schutz erworbener Rechte, insbesondere des Eigentums.98 (x) Eine weitere Eigenheit der römischen Jurisprudenz, die sie ihrerseits zu so einem fruchtbaren Gegenstand rechtswissenschaftlicher Analyse machte, lag darin, dass Begründungen für die Fallentscheidungen vielfach entweder überhaupt nicht gegeben oder nur kurz angedeutet wurden.99 Die römischen Quellentexte sind damit ausgesprochen voraussetzungsvoll. Auch hierfür wiederum ein Beispiel. In Marci. D. 18, 1, 44 heißt es in lapidarer Kürze: „Si duos quis servos emerit pariter uno pretio, quorum alter ante venditionem mortuus est, neque in vivo constat emptio.“ Verkauft waren zwei Sklaven zu einem Gesamtpreis. Zur Zeit des Vertragsabschlusses lebte jedoch einer der Sklaven nicht mehr. Seine Lieferung konnte deshalb nicht verlangt werden; der Kaufvertrag war insoweit unwirksam. Das wurde im Gemeinen Recht auf die Regel „impossibilium nulla obligatio“ gestützt.100 Doch kann der Käufer jedenfalls die Lieferung des zweiten Sklaven verlangen? Damit stellt sich hier das Problem der Teilunwirksamkeit von Rechtsgeschäften. Hierzu wird seit der Glosse die allgemeine Regel „utile per inutile non vitiatur“ überliefert:101 das Gültige wird durch das Ungültige nicht in Mitleidenschaft gezogen. Sie stammt aus einem Fragment von Ulpian,102 war dort jedoch nicht als allgemeine Regel gedacht, sondern bezog sich auf die Lösung eines konkreten Falles. Dass „utile per inutile non vitiatur“ im klassischen römischen Recht nicht als allgemeine Regel anerkannt gewesen sein konnte, zeigt die von Marcianus mitgeteilte Entscheidung: der Vertrag ist unwirksam auch hinsichtlich des zweiten Sklaven. Das wird damit zusammenhängen, dass der Preis für nur einen der beiden Sklaven nicht bestimmt oder auch nur einigermaßen sicher bestimmbar war; es fehlte damit eine der Wirksamkeitsvoraussetzungen eines römischen Kaufvertrages.103

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2005, 22 ff. Kaser/Knütel betonen die Uneinheitlichkeit des römischen Rechts, das aus mehreren Rechtsschichten bestand (19). In diesem Sinne auch etwa Waldstein/Rainer (Fn. 92), 196 f. und Kaser/Knütel (Fn. 96), 27 knapp die heute herrschende Einschätzung zusammenfassend. Hierzu vor allem Schulz, Prinzipien (Fn. 87), 95 ff. (Freiheit), 128 ff. (Humanität), 151 ff. (Treue) und 162 ff. (Sicherheit im Sinne der Sicherheit des erworbenen Rechts). Zur Billigkeit im römischen Recht vgl. Peter Stein, Equitable Principles in Roman Law, in: idem, The Character and Influence of the Roman Civil Law: Historical Essays, 1988, 19 ff. Wesentlich für ihre Legitimation war die auf Fachwissen und praktische Erfahrung gegründete auctoritas der Juristen. Zum Gesichtspunkt der Autorität als prägendem Merkmal des römischen Rechts vgl. Schulz, Prinzipien (Fn. 87), 112 ff. (zu den Juristen vgl. S. 125 ff.). Sie entstammt D. 50, 17, 185 (Celsus), ist aber bis hin zu § 306 BGB (alte Fassung) ganz überwiegend missverstanden worden; dazu im einzelnen Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 686 ff. Dazu Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 75 ff. Ulp. D. 45, 1, 1, 5 am Ende: „… neque vitiatur utilis per hanc inutilem“. Hans Hermann Seiler, Utile per inutile non vitiatur: Zur Teilunwirksamkeit von Rechtsgeschäften im römischen Recht, in: Festschrift für Max Kaser, 1976, 130 f. Zum Erfordernis des pretium certum vgl. Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 36), 253 ff.

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VI. RÖMISCHE JURISPRUDENZ

UND IHRE

ÜBERLIEFERUNG

Die Herausbildung einer Privatrechtswissenschaft mit diesen Charakteristika war sicherlich nicht möglich ohne die Rezeption griechischer Philosophie und Wissenschaftslehre im republikanischen Rom.104 Von entscheidender Bedeutung war aber die Rolle des juristischen Fachmannes bei der Anwendung und Fortbildung des Rechts. Daran hatte es beispielsweise in Griechenland selbst gefehlt. Das griechische Recht war, pointiert gesagt, ein Recht ohne Juristen gewesen: wurde dort ein Rechtsstreit doch von einer Anzahl durch Los bestimmter Laien entschieden, die aufgrund einer mündlichen Verhandlung, in der beide Parteien eine genau begrenzte Redezeit hatten, ohne Diskussion und Nachfrage durch geheime Abstimmung und mit einfacher Mehrheit ihr Urteil fällten.105 Es ist nicht schwer zu sehen, dass dies keine günstige Grundlage für das Entstehen einer privatrechtlichen Fachwissenschaft war. Für die europäische Wirkung des römischen Rechts entscheidend war dann freilich etwas, das dem klassischen römischen Recht selbst ganz fremd gewesen war: ein umfassender Gesetzgebungsakt durch Kaiser Justinian. Dieser ließ im sechsten nachchristlichen Jahrhundert eine gewaltige Sammlung von Auszügen aus den klassischen Juristenschriften (die Digesten) erstellen und zusammen mit einer Sammlung von Kaiserkonstitutionen und einem Einführungslehrbuch als Gesetz verkünden. Gedacht waren die Digesten, wie sich schon aus ihrer griechischen Bezeichnung „Pandekten“ ergibt, als allumfassend: auch dies ein eigentlich unrömischer Gedanke. „[K]ein Rechtsgelehrter wage es in Zukunft“, dekretierte Justinian deshalb, „[unserem Werk] Kommentare hinzuzufügen und durch seine Geschwätzigkeit [dessen] Kürze … zu verderben“.106 Doch dies blieb eine naive Hoffnung. Justinian konnte der Wissenschaft nicht verbieten, ein Werk der Wissenschaft ihrerseits zum Gegenstand der Wissenschaft zu machen. Dies erwies sich als notwendig nicht zuletzt deshalb, weil Justinian noch einen zusätzlichen Grad an Komplexität in das römische Quellencorpus hineingetragen hatte: er hatte die inzwischen mehrere Jahrhunderte alten Texte überarbeiten und den Verhältnissen seiner Zeit anpassen lassen (die sog. Interpolationen); er hatte Texte, die unterschiedlichen Entwicklungsstadien des römischen Rechts entstammten, mit gleichem Geltungsrang nebeneinander gestellt; und er hatte in seine (in nur drei Jahren entstandene!) Sammlung eine Vielzahl von Texten aufgenommen, die römische Juristenkontroversen widerspiegelten, in einem Gesetzbuch aber zu kaum auflösbaren Widersprüchen führen mussten.

104 Vgl. im Überblick Waldstein/Rainer (Fn. 92), 134 f.; näher dazu vor allem Fritz Schulz, History of Roman Legal Science, 1946, 38 ff.; Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, Band I, 1988, passim, etwa 351 f. (mit weiteren Querverweisen) und 618 ff.; Martin Schermaier, Materia, 1992, 35 ff. 105 Vgl. etwa Ernst Heitsch, Beweishäufung in Platons Phaidon, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, Jahrgang 2000, Nr. 9, 493 ff.; Gerhard Thür, Recht im antiken Griechenland, in: Ulrich Manthe (Hrsg.), Die Rechtskulturen der Antike, 2003, 211 ff. 106 C. 1, 17, 1, 12; vgl. auch C. 1, 17, 2, 21. Dies wurde ganz überwiegend als ein allgemeines Kommentierverbot verstanden; vgl. Hans-Jürgen Becker, Kommentier- und Auslegungsverbot, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band II, 1978, Sp. 963 ff. Das wird jedoch neuerdings bestritten: das Verbot habe sich lediglich auf das Schreiben von Kommentaren in die Gesetzbücher selbst bezogen; vgl. Waldstein/Rainer (Fn. 92), 252.

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44 VII. WANDLUNGEN

IN DER

WAHRNEHMUNG

DES RÖMISCHEN

RECHTS

Die Universität gilt als „die europäische Institution par excellence“.107 Sie entstammt nicht der Antike, sondern entstand als Ausdruck und Träger der großen abendländischen Bildungsrevolution seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert zuerst in Bologna, dann in Paris, Oxford und an einer ständig wachsenden Zahl von Orten in West-, Zentral- und Südeuropa.108 Die römische Jurisprudenz hatte den Charakter einer Wissenschaft, ohne aber universitäre Wissenschaft gewesen zu sein. Als das Recht jedoch im hohen Mittelalter von der erwähnten Bildungsrevolution erfasst wurde, war es das römische Recht, das sich wie keine andere zeitgenössische Rechtsordnung (mit einer Ausnahme, die den kirchlichen Bereich betraf) als Gegenstand scholastischanalytischer Interpretation und damit der universitären Lehre anbot.109 So rückten von Anfang an die römischen Quellentexte in das Zentrum des Studiums des weltlichen Rechts. Dies galt für alle nach dem Modell von Bologna in Europa gegründeten Universitäten, und es blieb so bis in das Zeitalter der nationalen Kodifikationen, d.h. in Deutschland bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Doch unterlag die Einstellung gegenüber dem römischen Recht erheblichen Wandlungen.110 Die mittelalterliche Jurisprudenz verstand die Quellen ganz überwiegend als logisch konsistentes Ganzes und bemühte sich um die Herstellung einer Concordantia discordantium legum. Das provozierte eine Reaktion durch den juristischen Humanismus der Renaissance. Ihm ging es in erster Linie darum zu ermitteln, was die Texte ursprünglich, das heißt für ihre antiken Autoren, bedeutet hatten. Damit begann im Grunde die Geschichte der Rechtsgeschichte. Da freilich die Humanisten die römischen Texte nicht nur als vorbildlich für die Antike, sondern auch für ihre eigene Zeit betrachteten, standen sie wiederum vor dem Problem, dass manche Quellen widersprüchlich waren, dass sich Fragen stellten, auf die die Quellen keine Antworten boten und dass manche Antworten, die sie boten, auf offensichtlich veralteten Vorstellungen oder Voraussetzungen beruhten. Dies Problem bewegte dann vor allem die Vertreter des usus modernus pandectarum. Da sie gewissermaßen durch die Aufklärung des Humanismus hindurchgegangen waren, betrachteten sie jedoch die Texte des Corpus Juris, anders als die mittelalterlichen Juristen, nicht mehr als unbedingt verbindlich: man konnte die darin enthaltenen Gedanken verallgemeinern oder weiterentwickeln, man konnte sie kritisieren oder durch Nichtgebrauch außer Kraft setzen.111 Gleichzeitig wurde 107 Walter Rüegg, Vorwort, in: idem (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa, Band I, 1993, 13. 108 Vgl. etwa Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt (Fn. 6), 296 ff. (dort auch die Kapitelüberschrift „Die abendländische Bildungsrevolution“) sowie das Verzeichnis und die instruktiven Karten bei Jacques Verger, Grundlagen, in: Walter Rüegg (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa, Band I, 70 ff. 109 Dasselbe galt bereits für die privaten Rechtsschulen im Bologna der zweiten Hälfte des 11. und dann des 12. Jahrhunderts, vor allem für die des „ersten Erleuchters der Wissenschaft“, Irnerius; zu dessen Bedeutung Franz Dorn, in: Gerd Kleinheyer/Jan Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Aufl., 1996, 211 ff. 110 Dazu eingehend Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967; Koschaker (Fn. 18), 55 ff.; im Überblick auch etwa Peter G. Stein, Römisches Recht und Europa: Die Geschichte einer Rechtskultur, 1996, 68 ff.; besonders prägnant neuerdings James Gordley, Comparative Law and Legal History, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 753 ff. 111 Es entstanden deshalb Bücher wie Philibert Bugnyon, Tractatus legum abrogatarum et inusitatarum

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eine weitere Schule einflussreich, die ebenfalls anerkannte, dass das römische Recht lückenhaft sei und die Grundlagen des richtigen Rechts bisweilen nur andeute, die sich aber darum bemühte, die zugrunde liegenden Wahrheiten durch philosophische Analyse der Texte zu gewinnen: das zunächst spätscholastische, später säkulare Naturrecht. Das 19. Jahrhundert wurde in Deutschland von der Historischen Schule dominiert (mit starker Ausstrahlung in weite Teile Europas).112 Damit wurde ein Ansatz herrschend, der das römische Recht im Grunde vom Standpunkt der Gegenwart aus bewertete und die historische Erkenntnis in den Dienst am geltenden Recht stellte. Bei der Interpretation der Texte dominierten gemeinrechtliche Anwendbarkeitsrücksichten. Von diesen befreite erst das BGB die Romanisten, die sich damit wiederum von Rechtsdogmatikern zu Rechtshistorikern wandelten. Die Folgen waren einerseits enorme Erkenntnisgewinne im Bereich der antiken Rechtsgeschichte und andererseits eine weithin ungeschichtliche Rechtswissenschaft.113 VIII. RÖMISCHES RECHT

UND IUS COMMUNE

Dies, in den gröbsten Zügen, ist die wissenschaftliche Wirkungsgeschichte des römischen Rechts. Es wurde zur Grundlage des ius commune. Dieses ius commune war ein wissenschaftlich entwickeltes, d.h. gelehrtes Recht; es beruhte auf einheitlichen ethischen Grundlagen; es manifestierte sich in einer einheitlichen, europäischen Literatur; und es beruhte auf einer einheitlichen universitären Ausbildung.114 Freilich stand es nie allein. Der Dualismus von Reich und Kirche, von Kaiser und Papst, spiegelte sich in einem Dualismus von römischem Recht und kanonischem Recht, von weltlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit, von Legistik und Kanonistik. Dabei in omnibus curiis, terris, jurisdictionibus, et dominiis regni Franciae, 1563; Simon van Groenewegen van der Made, Tractatus de legibus abrogatis et inusitatis in Hollandia vicinisque regionibus, Leiden, 1649. 112 Zur Ausstrahlung der Historischen Schule vgl. z.B. Jan-Olof Sundell, German Influence on Swedish Private Law Doctrine 1870–1914, Scandinavian Studies in Law 1991, 237 ff.; J. H. A. Lokin, Het NBW en de pandektistiek, in: Historisch vooruitzicht, Opstellen over rechtsgeschiedenis en burgerlijk recht, BW-krant jaarboek 1994, 125 ff.; Reiner Schulze (Hrsg.), Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1990; Alfons Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert: Zwischen Tradition und Pandektenwissenschaft, Liberalismus und Etatismus, 1990; idem, Ausstrahlungen der historischen Rechtsschule in Frankreich, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 5 (1997), 643 ff.; Werner Ogris, Der Entwicklungsgang der österreichischen Privatrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert, 1968; Pio Caroni, Die Schweizer Romanistik im 19. Jahrhundert, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 16 (1994), 243 ff.; Peter Stein, Legal Theory and the Reform of Legal Education in Mid-Nineteenth Century England, in: idem, The Character and Influence of the Roman Civil Law, 1988, 238 ff.; Alan Rodger, Scottish Advocates in the Nineteenth Century: The German Connection, Law Quarterly Review 110 (1994), 563 ff.; John Cairns, The Influence of the German Historical School in Early Nineteenth Century Edinburgh, Syracuse Journal of International Law and Commerce 20 (1994), 191 ff. 113 Näher dazu Reinhard Zimmermann, Heutiges Recht, Römisches Recht und heutiges Römisches Recht: Die Geschichte einer Emanzipation durch „Auseinanderdenken“, in: Reinhard Zimmermann/Rolf Knütel/Jens Peter Meincke (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 2000, 1 ff. 114 Dazu näher Coing (Fn. 78), 7 ff.; R.C. van Caenegem, European Law in the Past and the Future, 2002, 22 ff., 73 ff.

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reichte die Zuständigkeit der Kirchengerichte zeitweise weit in Kernmaterien des Zivilrechts hinein.115 Es gab Jurisdiktionskonflikte und machtpolitisch motivierte Zuständigkeitsverschiebungen. Doch es gab auch weitreichende intellektuelle Verbindungen. Das kanonische Recht war in der römischen Kirche und auf römischrechtlicher Grundlage entstanden, aber es wirkte auch seinerseits auf das weltliche Gemeinrecht zurück.116 Der allgemeine Grundsatz pacta sunt servanda entstammt dem kanonischen Recht117 ebenso wie etwa derjenige der Naturalrestitution.118 Neben dem römischen und kanonischen Recht gab es das Lehnsrecht, das freilich durch die Libri feudorum in das Corpus des römischen Rechts übernommen worden war.119 Es gab die Systementwürfe der spanischen Spätscholastik120 und später des rationalistischen Naturrechts, die einerseits vom römischen Recht geprägt waren, andererseits aber auch auf das ius commune einwirkten. Es gab in ihrem Geltungsbereich beschränkte consuetudines, die im Rahmen des ius commune anerkannt und wissenschaftlich durchdrungen wurden. Es gab die überwiegend ungeschriebenen, teilweise aber auch schriftlich niedergelegten Gebräuche und Regeln, die sich seit dem 12. Jahrhundert im Handelsverkehr an den Messe- und Marktplätzen sowie den Hafenstädten von Mittelmeer, Atlantikküste und Ostsee herausbildeten und für deren Anwendung besondere Kaufmannsgerichte zuständig waren.121 Auch hier bestanden Wechselwirkungen mit dem römischen und dem römisch geprägten Gemeinrecht. Vor allem aber gab es eine Fülle territorialer und lokaler Rechtsquellen, denen vor den ordentlichen Gerichten stets jedenfalls theoretisch der Anwendungsvorrang zukam. Denn das ius commune galt immer nur subsidiär. Praktisch setzte es sich vielfach dennoch durch. Nach der frühneuzeitlichen Literatur sprach für die Anwen115 Vor allem: Ehesachen, Testamentsangelegenheiten und eidlich bekräftigte Versprechen. Vgl. im Überblick Winfried Trusen, Die gelehrte Gerichtsbarkeit der Kirche, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Band I, 1973, 483 ff.; für England vgl. den Überblick in Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1 (1993), 21 ff. 116 Allgemein zur Bedeutung des kanonischen Rechts vgl. Peter Landau, Der Einfluss des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte: Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, 1991, 39 ff.; Heinrich Scholler (Hrsg.), Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien, 1996; Hans-Jürgen Becker, Spuren des kanonischen Rechts im Bürgerlichen Gesetzbuch, in: Reinhard Zimmermann/Rolf Knütel/Jens Peter Meincke (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik 2000, 159 ff. 117 Vgl. oben (Fn. 51). 118 Dazu Udo Wolter, Das Prinzip der Naturalrestitution nach § 249 BGB, 1985; Nils Jansen, in: HKK (Fn. 36), §§ 249–253, 255, Rdz. 16 ff. 119 Dazu Coing (Fn. 78), 27 ff., 352 ff.; vgl. auch Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, 2003, 109 ff. 120 Dazu vor allem James Gordley, The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine, 1991; idem, Foundations of Private Law, 2006. 121 Zur sogenannten lex mercatoria (im Englischen: law merchant) Coing (Fn. 78), 519 ff.; Berman, Law and Revolution I (Fn. 14), 348 ff.; Albrecht Cordes, Auf der Suche nach der Rechtswirklichkeit der Lex mercatoria, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 118 (2001), 168 ff.; Karl Otto Scherner, Lex mercatoria – Realität, Geschichtsbild oder Vision?, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 118 (2001), 148 ff.; idem, Goldschmidts Universum, in: „Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert“, Festschrift für Knut Wolfgang Nörr, 2003, 859 ff.; sowie die Beiträge in: Vito Piergiovanni (Hrsg.), From lex mercatoria to commercial law, 2005; vgl. auch (für England) Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1 (1993), 29 ff.

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dung des Gemeinen Rechts sogar eine gegründete Vermutung (fundata intentio).122 Auch sie reflektierte aber nicht die Rechtswirklichkeit, die sich vielmehr im Laufe der Zeit wandelte, die regional ganz unterschiedlich sein konnte und die schließlich auch von Rechtsbereich zu Rechtsbereich variierte. Selbst für die Gerichtspraxis im Alten Reich, dem Kerngebiet der Rezeption, lässt sich zusammenfassend nur sagen, dass sie im Zeichen „eines kaum vorstellbaren Rechtspluralismus“ stand.123 Doch es war eine praktische Vielfalt im Rahmen einer intellektuellen Einheit, und diese intellektuelle Einheit wurde vermittelt durch eine überall in Europa am römischen Quellencorpus orientierte Ausbildung. Besonders deutlich wurde diese einigende Wirkung noch einmal im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Denn nur teilweise hatte hier das Gemeine Recht unmittelbar gegolten. Im übrigen gab es jede Menge partikularer Rechtsquellen, darunter vor allem das Preußische Allgemeine Landrecht, das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch Österreichs, den Code civil, das Badische Landrecht, das Bayerische Landrecht und später das Sächsische BGB.124 Doch bot das Gemeine Recht, das denn auch in der Juristenausbildung ganz im Vordergrund stand, die Grundlage für das Verständnis aller partikularen Rechte in Deutschland;125 diese wurden vor dem Hintergrund des Gemeinen Rechts ausgelegt und angewandt, sie wurden vom Standpunkt des Gemeinen Rechts aus beurteilt und mit ihm verglichen.126 Damit schuf (oder bewahrte) der pandektistische Zweig der Historischen Schule eine durch Rechtswissenschaft vermittelte Einheitlichkeit der Rechtskultur, die es Professoren wie Studenten ermöglichte, von Königsberg nach Straßburg, von Gießen nach Wien oder von Heidelberg nach Leipzig zu gehen.127

122 Wolfgang Wiegand, Zur Herkunft und Ausbreitung der Formel „habere fundatam intentionem“, in: Festschrift für Hermann Krause, 1975, 126 ff.; Coing (Fn. 78), 132 ff.; Klaus Luig, Usus modernus, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band V, 1998, Sp. 628 ff. Im übrigen waren die vom Gemeinen Recht abweichenden Rechtsquellen eng auszulegen: „statuta sunt stricte interpretanda, ut quam minus laedent ius commune“; dazu Winfried Trusen, Römisches und partikuläres Recht in der Rezeptionszeit, in: Festschrift für Heinrich Lange, 1970, 108 ff.; Hermann Lange, Ius Commune und Statutarrecht in Christoph Besolds Consilia Tubigensia, in: Festschrift für Max Kaser, 1976, 646 ff.; Reinhard Zimmermann, Statuta sunt stricte interpretanda, Statutes and the Common Law: A Continental Perspective, Cambridge Law Journal 56 (1997), 315 ff. 123 So das Resümee von Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, 2002, 681. 124 Vgl. dazu etwa Anlage zur Denkschrift zum BGB, in: Benno Mugdan (Hrsg.), Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Band I, 1899, 844 f., sowie die von Diethelm Klippel 1996 neu herausgegebene Allgemeine Deutsche Rechts- und Gerichtskarte, 1896. 125 Es galt eben in seiner pandektistischen Version nicht nur in den Gebieten des Gemeinen Rechts, sondern stellte auch in denen des kodifizierten Rechts „dessen Theorie“: Koschaker (Fn. 18), 292. 126 Nähere Nachweise dazu bei Zimmermann, Heutiges Recht (Fn. 113), 2 ff. 127 Emil Friedberg, Die künftige Gestaltung des deutschen Rechtsstudiums nach den Beschlüssen der Eisenacher Konferenz, 1896, 7 f.

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48 IX. RÖMISCHES RECHT

UND EUROPÄISCHE

RECHTSTRADITION

Das Spannungsverhältnis zwischen Vielfalt und Einheit ist, wie zuvor erwähnt,128 charakteristisch für die europäische Kultur. Es ist, wie wir nunmehr sehen, von zentraler Bedeutung gerade auch für die europäische Rechtstradition.129 Ihre spezifische Prägung erhielt sie durch das ius commune, das wiederum ganz wesentlich auf dem römischen Recht beruhte. Fragt man nun nach weiteren Merkmalen, die die europäische im Vergleich mit anderen Rechtstraditionen der Welt (also: der chthonischen, talmudischen, islamischen, hinduistischen und [ost-]asiatischen)130 charakterisieren, dann zeigt sich Punkt für Punkt der Einfluss des römischen Rechts. Da ist zum einen das Merkmal der Schriftlichkeit.131 Römisches Recht war nicht zuletzt deshalb im mittelalterlichen Europa so einflussreich, weil es schriftlich niedergelegtes Recht war; es galt als ratio scripta. Das zeigt nicht nur der Vorgang der Rezeption selbst, sondern auch das Streben nach schriftlicher Fixierung des mittelalterlichen Gewohnheitsrechts in Europa seit dem Ausgang des 12. Jahrhunderts (Glanvill und Bracton in England, die coutumes in Frankreich, die fueros in Spanien, Sachsenspiegel und Schwabenspiegel in Deutschland). Den Anstoß für diese Rechtsdokumentationswelle gaben die gelehrten Rechte.132 Doch galt das römische Recht jahrhundertelang eben auch als ratio scripta: als Modell eines vernünftigen, das heißt der menschlichen Vernunft gemäßen Rechtes. Römisches Recht war damit gleichzeitig Ausdruck und Grundlage eines Strebens nach Rationalität und Wissenschaftlichkeit des Rechts, nach intellektueller Kohärenz und System.133 Zugleich verhinderte die Eigenart der römischen Quellen aber, dass es sich bei diesem System um etwas Starres oder Statisches handelte. Vielmehr ist dem europäischen Recht eine spezifische Entwicklungsfähigkeit eigen; oder wie Harold Berman schreibt: “The concept of a … system of law depended for its vitality on the belief in the ongoing character of law, its capacity for growth over generations and centuries – a belief which is uniquely Western. The body of law only survives because it contains a built-in mechanism for organic change.”134 Europäisches Recht ist ste128 Supra (bei Fn. 17). 129 In diesem Sinne auch etwa Berman, Law and Revolution I (Fn. 14), 10; Mohnhaupt (Fn. 25), 657 ff. 130 So die Aufteilung bei Patrick Glenn, Legal Traditions of the World, 2. Aufl., 2004. Keines der im folgenden genannten Merkmale findet sich nur in der europäischen Rechtstradition, doch nur hier finden sich alle von ihnen. 131 Demgegenüber zeichnet sich eine chthonische Tradition durch mündliche Überlieferung aus: Glenn (Fn. 130), 61 ff. 132 Sten Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, 1960, 288 ff. 133 Glenn (Fn. 130), 143 ff.; Coing, Historische Zeitschrift 238 (1984), 7 f.; Franz Wieacker, Foundations of European Legal Culture, American Journal of Comparative Law 38 (1990), 25 ff.; Häberle (Fn. 4), 22 ff. Chthonisches Recht ist demgegenüber unstrukturiert: Glenn (Fn. 130), 78 ff.; die Rationaliät der talmudischen Tradition ist nicht systematischer Natur: Glenn (Fn. 130), 106 ff.; ähnlich für das islamische Recht Glenn (Fn. 130), 190 ff. 134 Berman, Law and Revolution I (Fn. 14), 9; vgl. auch Glenn (Fn. 130), 146 ff.; Muschg (Fn. 4), 37 („Zeitpfeil“). Anders demgegenüber vor allem chthonische Traditionen und die (ost-)asiatische Tradition, die keinen linearen Begriff von Geschichte haben und die damit nicht das europäische Verständnis von Fortschritt und Entwicklung teilen: Glenn (Fn. 130), 74 ff., 322 ff.; anders aber auch die talmudische, islamische und hinduistische Tradition: Glenn (Fn. 130), 110 ff., 193 ff., 287 ff.

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tem Wandel unterworfen; es kann auf neu aufgetretene Bedürfnisse und veränderte Umstände reagieren, und es hat immer wieder eine erstaunliche Integrationsfähigkeit bewiesen. Das römische Recht des Mittelalters war nicht mehr das römische Recht der Antike, der usus modernus pandectarum entsprach nicht mehr dem usus medii aevi, und die Pandektendoktrin nicht mehr dem usus modernus. Die Entwicklung ging, mit einem berühmten Wort Rudolf von Jherings,135 durch das römische Recht über das römische Recht hinaus. In der Antike hatte es sich von einer bloßen Rechtskunde zu einer Wissenschaft entwickelt. An den mittelalterlichen Universitäten wurde daraus ein gelehrtes Recht, das an der Universität studiert wurde. Darin liegt ein weiteres, mit dem vorigen eng zusammenhängendes Charakteristikum des europäischen Rechts, und wiederum eines, das im römischen Recht vorgeprägt war. Die Jurisprudenz ist eine gelehrte Profession, und Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung sind Aufgabe des gelehrten Juristen.136 Damit wiederum verbunden ist die Tatsache, dass die Jurisprudenz in der europäischen Bildungstradition eine eigenständige Fachdisziplin ist und dass Recht dementsprechend als ein von anderen gesellschaftlichen Verhaltensordnungen und Steuerungsmechanismen, insbesondere von der Religion, prinzipiell unabhängiges Normensystem erfasst wird.137 Das entspricht der römischen Isolierung des Rechts vom Nichtrecht.138 Aus dem römischen Recht stammt die Dominanz des Privatrechts in der Tradition des ius commune mit einem besonderen Akzent auf einem fein ausdifferenzierten Vertragsrecht.139 Und schließlich gründet sich das Recht in Europa auf bestimmte Werte, die letztlich auf der Zentralität der Person als Subjekt und intellektuellem Bezugspunkt des Rechts beruhen.140 Eine spezifische Ausformung erhielt diese Idee durch die auf 135 Rudolf von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 6. Aufl., Teil I, 1907, 14. 136 Dazu Koschaker (Fn. 18), 164 ff. Zur Rechtsfindung in der islamischen Tradition vgl. demgegenüber Glenn (Fn. 130), 176 ff. 137 Coing, Historische Zeitschrift 238 (1984), 6 f.; Wieacker, American Journal of Comparative Law 38 (1990), 23 ff. Anders demgegenüber die chthonischen Rechte („Chthonic law is … inextricably interwoven with all the beliefs of chthonic people and is inevitably, and profoundly, infused with all those other beliefs“), die talmudische („The jewish tradition is a normative or legal tradition in much the same measure as it is a religious tradition. The two have become fused in the idea that the divine will express itself best in legal norms, which have sanctions, leaving relatively little outside the reach of the law, or halakhah“), die islamische („[Islamic law] has been described as a ‚composite science of law and morality‘, and this must be understood not as a joint administration of the two separate concepts but as a fusion, or composition, of [almost all of] both“) und die hinduistische Tradition („You may wish to talk about law and morals, but the reason it is law is because of the [religious] morals, which infuse all types of obligation“): Glenn (Fn. 1). 69, 102 f.; 186, 282. Allgemein zum Thema Recht(svergleichung) und Religion vgl. jüngst Harold J. Berman, Comparative Law and Religion, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 739 ff. 138 Supra (bei Fn. 87). 139 Coing, Historische Zeitschrift 238 (1984), 8 ff.; Mohnhaupt (Fn. 25), 662. Coing betont in diesem Zusammenhang selbst den Unterschied zu anderen Rechtskulturen. 140 Wieacker, American Journal of Comparative Law 38 (1990), 20 ff.; vgl. auch Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt (Fn. 6), 346 f. Für Glenn ist dies offenbar das entscheidende Charakteristikum der kontinentaleuropäischen Rechtstradition; der Titel des entsprechenden Kapitels ist deshalb: „A Civil Law Tradition: The Centrality of the Person“. Anders demgegenüber vor allem die chthonische, islamische und (ost-)asiatische Tradition: Glenn (Fn. 130), 70 ff., 192 f., 319 ff. Mit der Zentralität der Person als Subjekt des Rechts hängt die keineswegs selbstverständliche Entwicklung

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seine Gottesebenbildlichkeit gegründete Würde des Menschen, doch angelegt war sie bereits in dem Prinzip der Freiheit der Person des römischen Rechts. Auch hier lässt sich damit sagen, dass durch die christliche Offenbarung die Weisheit des Altertums überhöht und zu ihrem Ziel geführt wurde.141 In ganz ähnlicher Weise harmonierten aequitas canonica und römische fides miteinander.142 X. WIE

EUROPÄISCH IST DIE

„EUROPÄISCHE“ RECHTSTRADITION?

Vielfalt und Einheit stehen auch heute in einem spannungsvollen Verhältnis miteinander. So werden etwa die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen in den romanischen und den deutschen Rechtskreis unterteilt.143 Ferner gibt es eine Reihe von Rechtsordnungen, die zwischen beiden Rechtskreisen stehen, darunter insbesondere die niederländische und die italienische. Doch auch die Rechtsordnungen des deutschen Rechtskreises weisen zum Teil erhebliche Unterschiede in Stil und Substanz auf. Die österreichische und die deutsche Zivilrechtskodifikation entstammen unterschiedlichen Epochen und sind durch unterschiedliche intellektuelle Strömungen geprägt. Für das Schweizerische Zivilgesetzbuch wird gesagt, dass seine charakteristischen Züge „weitgehend von den besonderen Verhältnissen der Schweiz und den Traditionen ihres Rechtslebens geprägt sind“.144 Gleichwohl lässt sich kaum bestreiten, dass alle Rechtsordnungen des romanischen und deutschen Rechtskreises eine besondere Prägung aufweisen, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, sie zu einer in wesentlichen Punkten einheitlichen Tradition zusammenzufassen.145 Hierfür hat sich im englischen Sprachgebrauch der Begriff „civil law“ (oder: „civilian tradition“) eingebürgert, der jedenfalls historisch auf das römische Recht verweist.146 Doch können wir wirklich von einer europäischen Tradition sprechen? Für die Staaten des mittleren und östlichen Europa ist diese Frage wohl zu bejahen. Sie haben in der Zeit bis zu den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts dem vom römischen Recht geprägten Kulturraum angehört.147 In manchen von ihnen (vor allem: Ungarn und Polen) hat

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der Vorstellung von subjektiven Rechten zusammen; dazu Helmut Coing, Zur Geschichte des Begriffs „subjektives Recht“, in: idem, Gesammelte Aufsätze zu Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Zivilrecht, Band I, 1982, 241 ff.; idem, Historische Zeitschrift 238 (1984), 8 ff.; idem (Fn. 78), 172 ff.; vgl. ferner Glenn (Fn. 130), 140 ff. gegenüber 86 ff. (chthonische Traditionen), 108 f., 119 ff. (talmudische Tradition), 192 f., 209 ff. (islamische Tradition), 286 f. (hinduistische Tradition), 320 f., 336 f. (asiatische Tradition). Vgl. allgemein Apostelgeschichte 17, 23 sowie Römer 1, 19; ferner oben (bei Fn. 11). James Gordley, Good faith in contract law in the medieval ius commune, in: Reinhard Zimmermann/Simon Whittaker (Hrsg.), Good Faith in European Contract Law, 2000, 93 ff. Zweigert/Kötz (Fn. 19), 62 ff. Zweigert/Kötz (Fn. 19), 174. Zu Rezeptionsvorgängen in der Schweiz vgl. neuerdings Martin Immenhauser, Zur Rezeption der deutschen Schuldrechtsreform in der Schweiz, recht 2006, 1 ff. So etwa Glenn (Fn. 130), 125 ff. Zur den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „civil law“ siehe Zimmermann, in: Carey Miller/Zimmermann (Fn. 41), 262 f. Deutlich wird die Verbindung von civil law und römischem Recht etwa in der Bezeichnung der königlichen Lehrstühle für römisches Recht in Oxford und Cambridge als Regius Chairs in Civil Law. Vgl. im Überblick Zweigert/Kötz (Fn. 19), 154; Zdenek Kühn, Comparative Law in Central and Eastern Europe, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 215 ff.

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der Unterricht des römischen Rechts auch während der Phase der sozialistischen Herrschaft die Verbindung zur gemeinsamen Tradition mit dem Westen bewahrt.148 Und seit dem Ende dieser Herrschaft erleben wir einen Prozess der Reintegration „im Wege rechtsvergleichender Zivilrechtserneuerung“.149 Auch die Juristen des Zarenreichs hatten im 19. Jahrhundert die Dogmatik und Methodik des römischen Rechts genutzt, um die sozialen und rechtspolitischen Herausforderungen zu bewältigen, denen das überkommene russische Recht nicht gewachsen war. Dabei hatten sie, wie die Juristen in vielen anderen europäischen Ländern, Anschluss an die Rechtsentwicklung in Deutschland gefunden, die von Savigny und der Historischen Rechtsschule geprägt war.150 Die Türkei rezipierte 1926 das schweizerische Privatrecht und „verließ [damit] endgültig den islamischen Rechtskreis“.151 Auch die nordischen Rechte werden trotz eigenständiger stilprägender Merkmale überwiegend dem Rechtskreis des civil law zugerechnet.152 Den zentralen Einwand gegen die Existenz einer genuin europäischen Rechtstradition bildet für viele der Hinweis auf das englische common law, das sich in „nobler Isolation“ von Europa entwickelt habe153 und fundamental andersartig sei.154 Doch handelt es sich bei der Vorstellung vom englischen Recht als einer autochthonen nationalen Errungenschaft um einen Mythos. Denn in Wirklichkeit war England von der kontinentalen Rechtskultur niemals völlig abgeschnitten; vielmehr bestand ein ständiger intellektueller Kontakt, der das englische Recht maßgeblich und charakteristisch geprägt hat.155 Schon in seinem Ursprung handelte es sich um norman148 Vgl. etwa die sehr persönlichen Worte von Ferenc Mádl (damals Präsident der Republik Ungarn) in: Jürgen Basedow/Ulrich Drobnig et al. (Hrsg.), Aufbruch nach Europa, 2001, vii. 149 Lajos Vékás, Integration des östlichen Mitteleuropa im Wege rechtsvergleichender Zivilrechtserneuerung, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 12 (2004), 454 ff. 150 Dazu vor allem die Arbeiten von Martin Avenarius, Rezeption des römischen Rechts in Rußland – Dmitrij Mejer, Nikolaj Djuvernua und Iosif Pokrovskij, 2004; idem, Das russische Seminar für römisches Recht in Berlin (1887–1896), Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 6 (1998), 893 ff.; idem, Savigny und seine russischen Schüler: Juristischer Wissenschaftstransfer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Vortrag auf dem Universitätstag Köln, Mai 2004, russische Fassung in Ius Antiquum – Drevnee Pravo 15 (2005); idem, Das pandektistische Rechtsstudium in St. Petersburg in den letzten Jahrzehnten der Zarenherrschaft, in: Wojciech Dajczak/Hans-Georg Knothe, Deutsches Sachenrecht in polnischer Gerichtspraxis, 2005, 51 ff. 151 Hans Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 10. Aufl., 2005, 214, der darauf hinweist, dass diese Rezeption weder außergewöhnlich noch völlig überraschend war. Vgl. aber auch Zweigert/Kötz (Fn. 19), 175 f. 152 Zweigert/Kötz (Fn. 19), 271. 153 J. H. Baker, An Introduction to English Legal History, 3. Aufl., 1990, 35; in der 4. Aufl., 2002, ist das Wort „nobel“ gestrichen. 154 Vgl. etwa Klaus Schurig, Europäisches Zivilrecht: Vielfalt oder Einerlei?, in: Festschrift für Bernhard Großfeld, 1999, 1102 ff.; Eugen Bucher, Rechtsüberlieferung und heutiges Recht, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 8 (2000), 409 ff.; besonders pointiert ferner Pierre Legrand, Legal Traditions in Western Europe: The Limits of Commonality, in: R. Jagtenberg/E. Örücü/A. J. de Roo (Hrsg.), Transfrontier Mobility of Law, 1995, 63 ff.; idem, European Legal Systems are Not Converging, International and Comparative Law Quarterly 45 (1996), 52 ff. Legrand spricht von einem unüberbrückbaren epistemologischen Abgrund. In grotesker Weise personalisiert und zugespitzt ist diese These noch einmal in Pierre Legrand, Antivonbar, Journal of Comparative Law 1 (2006), 13 ff. 155 Zum folgenden näher die Beiträge von Peter Stein, in: idem (Fn. 112), 151 ff.; Reinhard Zimmermann, Der europäische Charakter des englischen Rechts: Historische Verbindungen zwischen

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nisches Feudalrecht nach dem für das mittelalterliche Europa typischen Muster.156 Auf Jahrhunderte hinaus blieben Latein und Französisch die Sprachen des englischen Rechts. Die katholische Kirche brachte das kanonische Recht,157 der internationale Handel die lex mercatoria. In Oxford und Cambridge, zwei der ältesten europäischen Universitäten, wurde nach dem in ganz Europa üblichen Muster römisches Recht gelehrt und studiert. Auch aus Schottland, wo ein besonders reger intellektueller Kontakt vor allem zu Frankreich und den Niederlanden gepflegt wurde,158 gelangte römisch-rechtliches Gedankengut nach England. Das englische common law wurde überlagert durch ein an gemeineuropäischen Gerechtigkeitsvorstellungen (aequitas) geprägtes ius honorarium: die Equity. Den hochmittelalterlichen Vorgang der Verschriftlichung des Rechts finden wir in England ebenso wie auf dem Kontinent. Gleiches gilt für die Verbreitung des Literaturtyps der Institutionenlehrbücher in der frühen Neuzeit. Vermittler des kontinuierlichen Prozesses der Rezeption und Adaptation waren Schriftsteller von Bracton über Blackstone bis Birks und Richter wie Hale, Holt, Mansfield oder Blackburn. Das moderne englische Vertragsrecht ist durch massive Anleihen bei Autoren wie Pothier und Domat, Grotius, Pufendorf, Burlamaqui und Thibaut geprägt worden.159 Natürlich hat in vielen Fällen der römisch inspirierte Anstoß zu ganz unrömischen Ergebnissen geführt; doch das war im kontinentalen Recht nicht anders. “The real question in this case”, heißt es etwa in der berühmtesten der sogenannten Krönungszugsentscheidungen,160 “is the extent of the application in English law of the principle of the Roman law which has been adopted and acted on in many English decisions.” Dieses den Ausgangspunkt bildende Prinzip ist die gemeinrechtliche Regel „debitor speciei liberatur casuali interitu rei“: Der Schuldner wird durch zufälligen Untergang des zu leistenden Gegenstands von seiner Leistungspflicht frei.161 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten englische Gerichte damit begonnen, diese Regel in die Parteivereinbarung hinein zu interpretieren.162 Sie

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civil law und common law, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1 (1993), 4 ff.; zusammenfassend bereits JBl 1998, 282 ff. Ein anderes Thema, das hier aber ebenfalls eine Rolle spielt, ist das der „inneren Verwandtschaft“ von (klassischem) römischem und englischem Recht; vgl. Fritz Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, Cambridge Law Journal 5 (1935), 347 ff.; Peter Stein, Roman Law, Common Law, and Civil Law, Tulane Law Review 66 (1992), 1591 ff.; idem, Logic and Experience in Roman and Common Law, in: idem (Fn. 112), 37 ff. R. C. van Caenegem, The Birth of the English Common Law, 2. Aufl., 1988. Richard H. Helmholz, Canon Law and the Law of England, 1987; idem, Roman Canon Law in Reformation England, 1990; Javier Martinez-Torrón, Anglo-American Law and Canon Law: Canonical Roots of the Common Law Tradition, 1998. Zur civilian tradition in Schottland vgl. die Beiträge in Robin Evans-Jones (Hrsg.), The Civil Law Tradition in Scotland, 1995; David L. Carey Miller/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), The Civilian Tradition and Scots Law: Aberdeen Quincentenary Essays, 1997; und Kenneth Reid/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), A History of Private Law in Scotland, 2 Bände, 2000. Dazu vor allem A. W. B. Simpson, Innovation in Nineteenth Century Contract Law, Law Quarterly Review 91 (1975), 247 ff.; James Gordley, Philosophical Origins (Fn. 120), 134 ff.; vgl. allgemein auch David Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, 1999, der sein Werk mit dem Satz eröffnet, das englische Schuldrecht sei aus der Vermischung einheimischer Ideen und verfeinerter römischer Gelehrsamkeit entstanden. Krell v. Henry, [1903] 2 KB 740 (CA) 747 f. Dazu Hermann Dilcher, Die Theorie der Leistungsstörungen bei Glossatoren, Kommentatoren und Kanonisten, 1960, 185 ff. Taylor v. Caldwell, (1863) 3 B & S 826; dazu etwa Max Rheinstein, Die Struktur des vertraglichen

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bedienten sich dazu eines ebenfalls aus dem römischen Recht stammenden dogmatischen Kunstgriffs: der Einfügung einer (stillschweigenden) auflösenden Bedingung.163 Damit waren die Grundlagen der „doctrine of frustration of contract“ gelegt. Sie entspricht funktional der im kontinentalen ius commune auch aus römischen Bausteinen zusammengesetzten, als solche dem römischen Recht aber ebenfalls unbekannten Lehre von der clausula rebus sic stantibus.164 Wer sich nicht auf bestimmte, in den römischen Quellen vorfindliche Lösungen fixiert, sondern die immanente Flexibilität der darauf begründeten Tradition und ihre Fähigkeit zu Weiterentwicklung und produktiver Assimilation berücksichtigt, wird wenig Schwierigkeiten haben, auch das englische common law als Ausprägung einer europäischen Rechtstradition zu begreifen.165 Natürlich hat es im Laufe der Zeit eine Reihe von Besonderheiten entwickelt. Doch ist heute deutlich, dass diese zunehmend abgeschliffen werden, und zwar auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Basil Markesinis spricht von einer schrittweisen Konvergenz,166 James Gordley von einer überholten Unterscheidung (zwischen civil law und common law).167 Das gilt sowohl für das materielle Recht selbst, als auch für dessen institutionelle und methodologische Rahmenbedingungen.168 Bedenkt man schließlich die weltweite Ausstrahlung

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Schuldverhältnisses im anglo-amerikanischen Recht, 1932, 173 ff.; G.H. Treitel, Unmöglichkeit, ‚Impracticability‘ and ‚Frustration‘ im anglo-amerikanischen Recht, 1991; Martin Schmidt-Kessel, Standards vertraglicher Haftung nach englischem Recht: Limits of Frustration, 2003, 45 ff. Dazu näher Reinhard Zimmermann, „Heard melodies are sweet, but those unheard are sweeter …“: Conditio tacita, implied condition und die Fortbildung des europäischen Vertragsrechts, Archiv für die civilistische Praxis 193 (1993), 121 ff. Zu implied terms im modernen englischen Vertragsrecht Martin Schmidt-Kessel, Implied Term – auf der Suche nach dem Funktionsäquivalent, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 96 (1997), 101 ff.; Wolfgang Grobecker, Implied Terms und Treu und Glauben: Vertragsergänzung im englischen Recht in rechtsvergleichender Perspektive, 1999. Dazu Zimmermann, AcP 193 (1993), 134 ff. So insbesondere auch Berman (Fn. 14), der von einer „Western legal tradition“ spricht. Auch Glenn (Fn. 130), 166 regt an, “[to] start thinking about the common law and the civil law as representing some of the same ideas, compared with other traditions. We can then talk about a universalizing western law …“. Vgl. ferner die eindrucksvollen Studien von Richard Helmholz, The ius commune in England: Four Studies, 2001, oder auch idem, Magna Charta and the Ius commune, University of Chicago Law Review 66 (1999), 297 ff. (wo gezeigt wird, dass sogar diese grundlegendste Festlegung des englischen Gewohnheitsrechts und Verfassungsprinzips in wichtigen Punkten die Signatur des ius commune trägt). The Gradual Convergence: Foreign Ideas, Foreign Influences and English Law on the Eve of the 21st Century, 1994; vgl. ferner zuletzt R.C. van Caenegem, The Unification of European Law: a pipedream? European Review 14 (2006), 33 ff. Common law und civil law: eine überholte Unterscheidung, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1 (1993), 498 ff. Für den Bereich der Gesetzesauslegung bezeichnet Stefan Vogenauer aufgrund seiner umfassenden Untersuchung über Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2 Bände, 2001, England nicht nur unter historischem Blickwinkel geradezu als eine Provinz des ius commune, sondern stellt auch für die Gegenwart wieder eine grundlegende Einheitlichkeit der Interpretationspraxis englischer und kontinentaler Gerichte fest. Auch zur Frage der Präjudizienbindung vgl. Vogenauer, 1293 f. sowie idem, Zur Geschichte des Präjudizienrechts in England, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 28 (2006), 48 ff. Vgl. ferner z.B. (zur Rolle der Rechtswissenschaft) Robert Goff, The Search for Principle, nachgedruckt in: William Swadling/Gareth Jones, The Search for Principle: Essays in Honour of Lord Goff of Chieveley, 1999, 313 ff. oder (zur Frage des „legal style“ der englischen Rechtsprechung) Jonathan E. Levitsky, The Europeanization of the British Legal Style, American Journal of Comparative Law 42 (1994), 347 ff.

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des europäischen Rechts,169 dann gilt bis heute, was Rudolf von Jhering in der Einleitung zu seinem Geist des römischen Rechts folgendermaßen formuliert hat: „Die welthistorische Bedeutung und Mission Roms in ein Wort zusammengefasst ist die Überwindung des Nationalitätsprinzips durch den Gedanken der Universalität. … Nicht darin besteht die Bedeutung des römischen Rechts für die moderne Welt, dass es vorübergehend als Rechtsquelle gegolten …, sondern darin, dass es eine totale innere Umwandlung bewirkt, unser ganzes juristisches Denken umgestaltet hat. Das römische Recht ist ebenso wie das Christentum ein Kulturelement der modernen Welt geworden.“170

169 Vgl. etwa für die USA Mathias Reimann, Historische Schule und Common Law, 1993; Michael H. Hoeflich, Roman and Civil Law and the Development of Anglo-American Jurisprudence in the Nineteenth Century, 1997; für Lateinamerika Eugen Bucher, Zu Europa gehört auch Lateinamerika!, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 12 (2004), 515 ff.; für Südafrika Reinhard Zimmermann/Daniel Visser, Southern Cross: Civil Law and Common Law in South Africa, 1996; für Ostasien vgl. Zentaro Kitagawa, The Development of Comparative Law in East Asia, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 237 ff. 170 Jhering (Fn. 135), 1, 2 f.

KARL GABRIEL, MÜNSTER RELIGION ALS STÜTZE GESELLSCHAFT I.

ZUR AKTUALITÄT

DES

ODER

GEFÄHRDUNG

EINER FREIEN

THEMAS

Die Vorlesung eines globalen Religionsführers in einer bayerischen Provinzstadt – so geschehen beim Besuch von Papst Benedikt XVI. in seiner bayerischen Heimat im Jahr 2006 – löste weltweite Proteste auf der einen und betretenes Bedauern über ein mißverstandenes Zitat auf der anderen Seite aus.1 Über mehrere Tage gehörten Meldungen zum „Zitatenstreit“ zu den Topnachrichten der Weltkommunikation. Die Szene verweist darauf, welche tiefgreifenden Veränderungen in Sachen Religion gegenwärtig zu verzeichnen sind. Die Religionen und ihr Verhältnis zueinander spielen in der Weltkommunikation eine bedeutsame Rolle. Wenn sie denn je aus ihr verschwunden waren, so sind die Religionen in die Öffentlichkeit unübersehbar zurückgekehrt. Das weltweite Vordringen westlicher kultureller Muster hat offensichtlich nicht zur Folge, dass die Praxis einer Zurückdrängung der Religion in die Privatsphäre, wie wir sie aus Europa kennen, globale Verbreitung fände.2 Das genaue Gegenteil scheint der Fall zu sein. In den gesellschaftlichen und politischen Konflikten kommt der religiösen Dimension ein wachsendes Gewicht zu. Schon vor über zehn Jahren hat der amerikanische Religionssoziologe José Casanova die These einer Entprivatisierung der Religion vertreten.3 Als Prognose gelesen haben die Weltereignisse der letzten Jahre 10 Jahre seiner These eine erstaunliche empirische Evidenz verliehen. In den Sozial- und Geisteswissenschaften ist in diesem Zusammenhang ein Theoriestück auf den Prüfstand geraten, das seit Max Webers Zeiten zu den sichersten Beständen der Wissenschaftskultur zählte: die Säkularisierungsthese.4 Es überrascht und stimmt nachdenklich, mit welcher Vehemenz und Breite die Säkularisierungs1 2 3 4

Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 174, 2006, 72–84. Hans Joas, Gesellschaft, Staat und Religion. Ihr Verhältnis in der Sicht der Weltreligionen. Eine Einleitung, in: H. Joas/K. Wiegandt (Hrsg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, 2007, 15. José Casanova, Public Religions in the Modern World, 1994. Karel Dobbelaere, Secularization: A Multi-Dimensional Concept, Current Sociology 29 (1981), 1–213; ders., Toward an Integrated Perspective of the Process Related to the Descriptive Concept of Secularization, Sociology of Religion 60 (1999), 229–247; Timothy Crippen, Old und New Gods in the Modern World. Toward a Theory of Religious Transformation, Social Forces 67 (1988), 316–336; Rodney Stark/William S. Bainbridge, The Future of Religion. Secularization, Revival und Cult Formation, 1985; Rodney Stark/Laurence Iannaccone, A Supply-Side Reinterpretation of the Secularization of Europe, Journal of the Scientific Study of Religion 338 (1994), 230–252; William Tschannen, The Secularization Paradigm. A Systematization, Journal for the Scientific Study of Religion 30 (1991), 395–415; Frank J. Lechner, The Case Against Secularization. A Rebuttal, Social Forces 69 (1991), 1103–1119; Steve Bruce, Religion in the Modern World, Chicago/London 1996; Mark Chaves, Secularization as Declining Religious Authority, Social Forces 72 (1994), 749–774; David Martin, Europa und Amerika. Säkularisierung und Vervielfältigung der Christenheit – zwei Ausnahmen und keine Regel, in: Otto Kallscheuer (Hrsg.), Das Europa der Religionen, Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, 1996, 161–180; Monika Wohlrab-Sahr,

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these inzwischen auf Ablehnung stößt und – wie Detlef Pollack kritisch anmerkt – die Gegenthese von der „Wiederkehr des Religiösen“ zur neuen „Meistererzählung der Sozialwissenschaften“ zu avancieren scheint.5 Ob die Veränderungen in Sachen Religion stärker die Wahrnehmungsmuster der Mehrheit der westlichen Intellektuellen betreffen, wie Hans Joas meint,6 und die Religion faktisch nie verschwunden war oder ob man tatsächlich von einer Wiederkehr des Religiösen sprechen kann, lässt sich kaum mit einem „Entweder-Oder“ entscheiden. Wie es für Paradigmenwechsel typisch ist, scheinen empirisch nachweisbare Entwicklungen und eine veränderte Wahrnehmung Hand in Hand zu gehen. Zur kulturellen Globalisierung gehört, dass ein weltweites Referenzsystem in Sachen Religion im Entstehen begriffen ist, das Prozesse religiöser Homogenisierung mit einer verschärften Betonung der Differenz und des Konflikts verknüpft.7 Um die Ausgestaltung dieses Referenzsystems wird augenblicklich gerungen und es ist noch keineswegs klar, welche Gestalt es annehmen wird. Für Charakter und Tradition der freien Gesellschaft des Westens stellt die skizzierte Situation eine besondere Herausforderung dar. Historisch kommt sie aus der Spannung einer Freiheit von der Religion – näherhin ihren Zwängen – und der Freiheit für die Religion und eine freie Religionsausübung auch im öffentlichen Raum.8 Zwei Ausgangsthesen drängen sich auf, die meine weiteren Überlegungen leiten werden: (1.) Die freie Gesellschaft benötigt heute mehr denn je einen Ort für die Religion, der ihre Freiheitlichkeit vor den Gefährdungen der Religion schützt, gleichzeitig deren Potential für eine Stütze ihres freiheitlichen Charakters freisetzt. (2.) Die Religionen müssen sich den Herausforderungen stellen, die eine freie, auf der Geltung der Menschenrechte und der Religionsfreiheit basierende Gesellschaft für sie bedeutet. II. FREIE GESELLSCHAFT Im Sprachgebrauch des Alltags wie in den Sozialwissenschaften besitzt der Begriff der Gesellschaft eine große Vielschichtigkeit.9 Unterschiedliche Traditionen im Verständnis und im Umgang mit dem Begriff der Gesellschaft lassen sich unterscheiden.

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Säkularisierte Gesellschaft, in: Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie, 2001, 308–332; Klaus Eder, Europäische Säkularisierung – ein Sonderweg in die postsäkulare Gesellschaft?, Berliner Journal für Soziologie 3 (2002), 331–343; Joas (Fn. 2), 13–19. Detlef Pollack, Die Wiederkehr des Religiösen. Eine neue Meistererzählung der Soziologen, Herder Korrespondenz spezial. Renaissance der Religion. Mode oder Megathema, 2006, 6–11. Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, 2004, 124. Vgl. für den gesamten Bereich der Kultur: Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung? Voraussetzungen und Erscheinungsformen von Weltkultur, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 (2006), 226. Zur Geschichte der Religionsfreiheit siehe neuerdings: Perez Zagorin, How the Idea of Religious Toleration Came to the West, 2003. Georg Kneer/Armin Nassehi/Manfred Schroer (Hrsg.), Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie, 2001.

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Im deutschsprachigen Raum ist ein Gesellschaftsbegriff dominierend geworden, der Gesellschaft in Differenz und im Gegenüber zum Staat begreift. Als (bürgerliche) Gesellschaft bezeichnet Hegel den Raum zwischen familiären Hausgemeinschaften und Staat, in der die Bürger frei ihren eigenen Interessen nachgehen können.10 Der Gesellschaftsbegriff dient hier zur Abgrenzung einer Sphäre des freien Warenverkehrs der Bürger untereinander, aber auch des freien Austauschs der Meinungen und der Verständigung der Bürger über ihre eigenen Angelegenheiten. Der freiheitliche Verfassungsstaat lebt in dieser Tradition bis in die Gegenwart hinein vom Gegenüber von Staat und Gesellschaft.11 Die Religionen gehören im Differenzmodell von Gesellschaft und Staat prinzipiell der Sphäre der Gesellschaft an. Die positive wie negative Religionsfreiheit schützt das Recht der Bürger, ohne die Zwangsgewalt des Staates ihre Religion frei wählen, pflegen oder auch abwählen zu können. Während Max Weber Soziologie ohne einen Gesellschaftsbegriff betrieb, begründete die französische Soziologie mit Auguste Comte und Émile Durkheim ein Verständnis von Gesellschaft, das die Gesamtheit und den Zusammenhalt der sozialen Beziehungen zum Ausdruck bringt.12 Gesellschaft erhält den Charakter einer moralischen Größe, die über den Individuen steht und ihren Interessen Grenzen setzt. In ihrem Verpflichtungscharakter erhält die Gesellschaft bei Durkheim eine religiöse Dimension, werden schließlich Gesellschaft und Religion zu austauschbaren Größen.13 Religion bestimmt sich funktional von der Fähigkeit von Sinn- und Normenkomplexen her, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern. Die angelsächsische Tradition knüpft bis heute am stärksten an die Ursprünge des Gesellschaftsbegriffs bei Aristoteles an. Dieser hatte den Gesellschaftsbegriff als „koinonia politiké“, als politische Gemeinschaft, konzipiert. Wie bei Aristoteles kommt in der angelsächsischen Tradition das Spezifische der Gesellschaft in ihrer Autarkie zum Ausdruck. So gilt im amerikanischen Struktur-Funktionalismus die Gesellschaft als diejenige soziale Einheit, die alle ihre Funktionen aus sich heraus zu erfüllen vermag.14 Zur Autarkie als Spezifikum der Gesellschaft gehört auch deren religiöse Funktion. Als Zivilreligion dient sie der Erhaltung, Legitimation und Weitergabe der geltenden Grundwerte. Es gibt meines Erachtens gute Gründe, im Interesse der Freiheit von einem Gesellschaftsbegriff auszugehen, der die Differenz von Staat und Gesellschaft impliziert. Die freie Gesellschaft schließt, wie am Demokratieverständnis des Grundgesetzes ablesbar ist, eine spezifische Form der Wertbindung nicht aus.15 Zur freien 10 Manfred Riedel, Der Begriff der ,Bürgerlichen Gesellschaft‘ und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs, in: ders., Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1969, 135–166. 11 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 2007. 12 Émile Durkheim, Bestimmung der moralischen Tatsache (1906), in: ders., Soziologie und Philosophie, 1976, 84–117. 13 Horst Firsching, Die Sakralisierung der Gesellschaft. Émile Durkheims Soziologie der ‚Moral‘ und der ‚Religion‘ in der ideenpolitischen Auseinandersetzung der Dritten Republik, in: V. Krech/H. Tyrell (Hrsg.), Religionssoziologie um 1900, 159–193. 14 Talcott Parsons, Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven, 1975, 32. 15 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Bd. I. Grundlagen von Staat und

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Gesellschaft gehört ein Staat, der an einer Wertbindung im Sinne der verbindlichen Verpflichtung auf eine bestimmte politische Kultur festhält. In ihrem Zentrum steht das Gebot der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde durch alle vom Volk ausgehende staatliche Gewalt.16 Die Grundrechte geben der politischen Kultur Profil und grenzen einen Raum des Unabstimmbaren ab. Über ihre Funktion als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat hinaus setzen sie verbindliche, dem Mehrheitsentscheid entzogene Maßstäbe fest. Dies schließt ein politisch-plurales Ringen um ihre jeweilige Interpretation und Reichweite keineswegs aus, macht es vielmehr als Ausdruck einer lebendigen politischen Kultur geradezu erforderlich. In der freien Gesellschaft dient der Staat nicht der Wahrheit, sondern der Gerechtigkeit und dem Ausgleich.17 „Wahrheiten“ – so formuliert Ernst Benda – „lassen sich nicht abstimmen, sie werden durch Überzeugung oder mit Gewalt durchgesetzt“18. Niemand kann in der freiheitlichen Demokratie einen privilegierten Zugang zur Wahrheit beanspruchen. Dies gilt schon deshalb, weil die Meinungen aller prinzipiell gleichen Wert besitzen. An die Stelle des Besitzes der Wahrheit treten in der Demokratie die Entfaltung des Informations- und Meinungsaustauschs, die öffentliche Debatte und die vorläufige Entscheidung vor dem Horizont einer Vielzahl von Sach- und Wertgesichtspunkten. Es ist gerade der Reichtum an Alternativen, an den sich in der freiheitlichen Demokratie die Hoffnung knüpft, sachgerechte Lösungen zu finden. III. DIE SÄKULARISIERUNGSTHESE

IN DER

KRITIK

In der Religionssoziologie der Vereinigten Staaten äußert sich heute die Kritik an den Hintergrundannahmen und Perspektiven einer dem Säkularisierungsparadigma verpflichteten soziologischen Theorie religiösen Wandels am schärfsten.19 Eine differenzierte Kritik an den Annahmen des Säkularisierungsparadigmas hat – gestützt auf eigene empirische Forschung – der oben schon erwähnte amerikanische Religionssoziologe José Casanova vorgelegt.20

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Gesellschaft, 21987, 887–952; Ernst Benda, Demokratie II. Verfassungsrecht, in: Staatslexikon Bd. 1, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, 71985, 1192–1201. Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage staatlicher Gemeinschaft, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Bd. I. Grundlagen von Staat und Gesellschaft, 21987, 815–863. Dies gilt seit dem 2. Vatikanischen Konzil auch für die katholische Kirche. Siehe neuestens: Enzyklika DEUS CARITAS EST von Papst Benedikt XVI. an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und alle Christgläubigen über die christliche Liebe. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 171. Herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2006, 36–39. Benda (Fn. 15), Sp. 1198. Siehe die Literangaben in Fn. 4 und: David Martin, A General Theory of Secularization, 1978; ders., On Secularization. Towards a Revised General Theory, 2005; ders., Secularization and the Future of Christianity, in: Journal of Contemporary Religion 20 (2005), 145–160. José Casanova (Fn. 3); ders., Beyond European and American Exceptionalisms: Toward a Global Perspective, in: Grace Davie/Paul Heelas/Linda Woodhead (Hrsg.), Predicting Religion, hrsg. von, 2003, 17–29; ders., Chancen und Gefahren öffentlicher Religion, in: Otto Kallscheuer (Hrsg.), Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularismus und Fundamentalismus, 1996, 181–210; ders., Die religiöse Lage in Europa, in: H. Joas/K. Wiegandt (Hrsg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, 2007, 322–357.

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Casanovas Ausgangspunkt ist der Hinweis auf weltweite Phänomene der Rückkehr der Religionen in den öffentlichen und politischen Raum. Unter diesem Vergleichsgesichtspunkt lenkt er die Aufmerksamkeit auf so unterschiedliche Phänomene wie die islamische Revolution im Iran, die Rolle der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und den Beitrag der Religionen in den politischen Umbrüchen am Ende der religionsfeindlichen, kommunistischen Regime Ost-Mittel-Europas. In eigenen Fallstudien untersucht er den unterschiedlich erfolgreichen Gang gerade traditioneller religiöser Gemeinschaften in die gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit. Der Katholizismus spielt dabei eine prominente Rolle. Dessen neuere Entwicklungen untersucht er in Spanien, Polen, Brasilien und in den Vereinigten Staaten, ergänzt durch eine Fallstudie über den US-amerikanischen freikirchlichen Protestantismus.21 Casanova nutzt die Ergebnisse seiner Fallstudien zur empirischen Validierung seines Vorschlags einer Revision und Differenzierung des Säkularisierungsparadigmas. Die Kritik Casanovas an der Säkularisierungstheorie entzündet sich daran, dass sie in seinen Augen drei Dimensionen religiösen Wandels verquickt und gleichschaltet, die unbedingt einer gesonderten Analyse unterzogen werden müssen. Er schlägt vor, die Theorie der „Differentiation and Secularization of Society“ von der „Decline of Religion Thesis“, sowie von der „Privatization of Religion Thesis“ klar zu unterscheiden.22 Wenn man die in den Annahmen des Säkularisierungsparadigmas zusammenlaufenden Prozesse der funktionalen Differenzierung von Religion, der Erosion religiöser Überzeugungen und Praktiken und der Zurückdrängung der Religion in die Privatsphäre einer gesonderten Analyse unterzieht, kommt man für Casanova zu einer mit den neueren Entwicklungen im religiösen Feld kompatibleren Konzeption religiösen Wandels. Funktionale gesellschaftliche Differenzierung und die Trennung von Religion, Politik und Ökonomie etc. müssen als konstitutiv für moderne Gesellschaften betrachtet werden und machen den Kern eines berechtigten Konzepts von Säkularisierung aus. Die funktionale Differenzierung ist aber für Casanova keineswegs notwendig mit einem Rückgang religiöser Überzeugungen und Praktiken verbunden, wenn dieser Zusammenhang auch mit Blick auf Westeuropa empirisch gut bestätigt erscheint. Betrachtet man die Religionsentwicklung weltweit, so lässt sich ein müßiger Streit darüber führen, ob es sich im Falle Westeuropa um den Regelfall oder die Ausnahme handelt. Ähnlich sieht Casanova die Lage hinsichtlich der Privatisierung der Religion. Stellt man sich ernsthaft den weltweiten Phänomenen der „Deprivatization of Modern Religion“23 und versucht sie nicht theoriegeleitet weg zu interpretieren, so wird man für Casanova nicht länger daran festhalten können, dass die funktionale Differenzierung notwendig zu einer Privatisierung der Religion führt. Hier erscheint gerade mit Blick auf die herkömmlichen religiösen Traditionen von Katholizismus und Protestantismus, aber auch der anderen Weltreligionen eine Revision der klassischen Säkularisierungsthese der Religionssoziologie notwendig. Zur Deutung der erklärungsbedürftigen westeuropäischen (Sonder-)Entwicklung in Sachen Religion bietet Casanova den plausiblen Gedanken an, ob nicht gerade der lange Widerstand der großen religiösen Traditionen in Europa gegen die Trennung von Religion und Politik erst den antiklerikalen sozialen Bewegungen Nahrung 21 Casanova (Fn. 3), 75–210. 22 Casanova (Fn. 3), 19–39. 23 Casanova (Fn. 3), 211 ff.

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gegebenen hat, die sich – seien sie liberal oder sozialistisch geprägt – verständlicher Weise die von ihnen angestrebte gesellschaftliche Zukunft nur ohne Religion oder bestenfalls mit privatisierter Religion vorstellen konnten. Wo – wie in den Vereinigten Staaten – die spezifische europäische Frontstellung zwischen Herrschaftskirche und Freiheitsbewegungen nie bestanden habe, sei es auch nicht zum europäischen Pfad der Modernisierung als Säkularisierung gekommen. Die neuere Entwicklung der katholischen Kirche hat für Casanova eine gewisse paradigmatische Bedeutung, weil hier eine in einem langen Kampf gegen die moderne Trennung von Religion und Politik und gegen die Freiheitsidee erprobte religiöse Institution einen radikalen Wandlungsprozess vollzogen hat, der es ihr erlaubt, dem Differenzierungsprozess ihre Zustimmung nicht länger zu verweigern, ohne den eigenen Anspruch auf einen öffentlichen Status der Religion aufzugeben.24 Die öffentliche Rolle der Religionen kann sich allerdings für Casanova nicht auf die Arena des Staates und der Politik im engeren Sinne, auch nicht auf die Sphäre der politisch-weltanschaulichen Lager und Parteien beziehen, sondern muss ihren primären Bezugspunkt in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit haben.25 Wo es religiösen Traditionen gelingt, sich dem weiter wirksamen Druck der Privatisierung zu entziehen, haben sie für Casanova auch die größten Chancen, der Erosion ihrer Glaubensüberzeugungen und religiösen Praktiken zu entgehen und gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zu den Wertgrundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft zu leisten. IV. RELIGION

ALS

STÜTZE

EINER FREIEN

DIE ZIVILGESELLSCHAFTLICHE

ROLLE

DER

GESELLSCHAFT: RELIGION

Prinzipiell lassen sich Staatskirchentum, parteipolitische Organisation der Religionen, Religionen als Akteure der Zivilgesellschaft und die Indienstnahme des Staates durch die Religion als Modelle der Zuordnung von Religion und staatlicher Politik unterscheiden.26 Die Tradition des Staatskirchentums reicht in Europa bis in das 20. Jahrhundert hinein. Der gesellschaftliche Modernisierungsprozess hat faktisch überall das Modell der Staatskirche in den Hintergrund treten lassen. In Europa kommen die skandinavischen Länder dem Modell einer staatskirchlich verfaßten Religion am nächsten.27 24 José Casanova, Global Catholicism and the Politics of Civil Society, Sociological Inquiry 66 (1996), 356–363; ders., Civil Society and Religion: Retrospective Reflections on Catholicism and Prospective Reflections on Islam, Ms. 2006. 25 Casanova (Fn. 3), 218–234. 26 Winfried Brugger unterscheidet sechs Modelle zur Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche bzw. Staat und Religion: „1. Feindschaft zwischen Staat und Kirche 2. Strikte Trennung in Theorie und Praxis 3. Trennung und Rücksichtnahme 4. Scheidung und partielle Zusammenarbeit 5. Formelle Einheit von Kirche und Staat 6. Materielle Einheit von Kirche und Staat“ („Von Feindschaft über Anerkennung zur Identifikation“, in: H. Joas/K. Wiegandt (Hrsg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, 2007, 257). Diese juristische Typologie unterscheidet sich von der hier an Casanova angelehnten soziologischen Typenbildung. Sie macht darauf aufmerksam, dass sich eine Reihe von Untertypen in dem hier gewählten Schema von vier Zuordnungsverhältnissen verbergen. Die Darstellung konzentriert sich auf die beiden polaren Grundtypen von Religion als Stütze und Gefährdung einer freien Gesellschaft. 27 Öyvind Foss, Zwischen nationaler Tradition und ökumenischer Perspektive. Religion in den

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Allerdings tendiert die neuere Religionsgesetzgebung in den skandinavischen Ländern zu einer Verabschiedung des staatskirchlichen Modells. Gerade mit Blick auf die Schwäche der christlichen Tradition in den skandinavischen Ländern wird die These der Vertreter einer ökonomischen Religionssoziologie plausibel, dass die Tendenzen der Säkularisierung im heutigen Europa mit ihrer langen Nähe und ihrem verspäteten Abschied von staatskirchlichen Konzeptionen und mit einer Überregulierung des europäischen religiösen Marktes im Zusammenhang steht.28 Als Nachfolgemodell des Staatskirchentums bildete sich in Teilen Europas seit dem 19. Jahrhundert das Modell einer parteipolitischen Organisation der Religion heraus. So hat im Katholizismus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die parteipolitische Lagerbildung eine große Rolle gespielt. Sie sollte für die Wahrung und Durchsetzung katholischer Interessen im öffentlich-politischen Raum nach dem Ende des Staatskirchentums sorgen. Mit der Erosion der katholischen Milieus und der konfessionell geprägten politischen Lager in Westeuropa seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ist auch dieses Modell öffentlicher Wirksamkeit von Religion und Kirche in die Krise geraten.29 Heute tritt ein drittes Modell der Zuordnung von Religion und Politik in den Vordergrund, das die Religion primär im Raum der Zivilgesellschaft verortet. Die Wiederentdeckung der Bedeutsamkeit und Unverzichtbarkeit einer Zivilgesellschaft gehört zu den Früchten der Umbruchprozesse in Osteuropa.30 Die Zivilgesellschaft stellt das organisatorische Substrat dar, in dem sich eine diskursive Öffentlichkeit entfalten kann.31 Nicht-staatliche und nicht-ökonomische Assoziationen, Organisationen und Bewegungen machen den Kernbestand der Zivilgesellschaft aus. Sie vermitteln intermediär zwischen der Privatsphäre und der veranstalteten Öffentlichkeit des demokratischen politischen Systems. Öffentlichkeit erhält im Kontext der Zivilgesellschaft gewissermaßen einen zweistufigen Charakter.32 Mit ihren Interessen, Orientierungen, Traditionsbeständen und Leidenserfahrungen treten die Bürger aus der Privatsphäre heraus und suchen im Rahmen einer Pluralität von Assoziationen und Bewegungen nach gemeinsamer Verarbeitung, Deutung und Bündelung ihrer Erfahrungen. Die grundrechtlich garantierte Versammlungs- und Meinungsfreiheit bietet die strukturelle Basis für die Bildung einer pluralen, informellen Öffentlichkeit mit unterschiedlichen Anliegen, Zielen und Ausrichtungen. Sie muss sich auf eine

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skandinavischen Ländern, in: Karl Gabriel (Hrsg.), Religionen im öffentlichen Raum: Perspektiven in Europa. Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, 2003, 143–160. R. Stephen Warner, Work in Progress Towards a New Paradigm for the Sociological Study of Religion in the United States, American Journal of Sociology 98 (1993), 1044–1093; Roger Finke, The Consequences of Religious Competition: Supply-Side Explanations for Religious Change, in: L. A. Young (Hrsg.), Rational Choice Theory and Religion: Summary and Assesment, 1997, 45–65; Rodney Stark/Laurence Iannacone (Fn. 4), 230–252. Karl Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, 72000, 69 ff. Ansgar Klein, Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Hintergründe und demokratietheoretische Folgerungen. Bürgerschaftliches Engagement und Nonprofit-Sektor 4, 2001. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 31993, 399–467. Joachim von Soosten, Civil Society. Zum Auftakt der neueren demokratietheoretischen Debatte mit einem Seitenblick auf Religion, Kirche und Öffentlichkeit, Zeitschrift für Evangelische Ethik 37 (1993), 152–155; Karl Gabriel, Religion und Kirche im Spiegel- und Diskursmodell von Öffentlichkeit, Jahrbuch für Biblische Theologie (JBTh) 11 (1996), 48–51.

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Pluralität von Lebensformen, Subkulturen und Glaubensrichtungen stützen können, wie sie die menschen- und grundrechtliche Norm der Religions- und Gewissensfreiheit zu schützen sucht. Die Erfahrungen in den totalitären Staaten Osteuropas haben gezeigt, dass nur eine intakte Privatsphäre eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit hervorzubringen vermag. Neben freiheitlichen Grundrechten setzt die Zivilgesellschaft sozio-moralische Ressourcen voraus, „aus denen sich mit Blick auf die Beteiligten einer Zivilgesellschaft die Orientierung an Fragen des Gemeinwohls speist“.33 Während Religionen im Modernisierungsprozess strukturell erzwungen aus der staatlichen wie parteipolitischen Öffentlichkeit zurückgedrängt werden, gilt dies nicht ebenso für die Sphäre der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit. Im zivilgesellschaftlichen Rahmen erhalten Motive – eingeschlossen der religiösen – eine besondere Bedeutung, die zum Überschreiten des Grabens vom Privaten zum Öffentlichen anleiten und animieren. Die Zivilgesellschaft ist auf im Privatbereich wurzelnde sozial-moralische Ressourcen angewiesen, die ein Interesse und eine Orientierung am Gemeinwesen hervorbringen. Religiöse Traditionen sind entsprechend – aus dem privaten Bereich heraustretend – herausgefordert, ihre Vorstellungen von Gemeinwohl, Gerechtigkeit, Solidarität und gutem Leben in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Die diskursive Auseinandersetzung um Wertorientierungen und um die Legitimität normativer Bindungen gehört in den Raum zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit. Die religiösen Traditionen können dafür sorgen, dass Wertfragen, Wahrheitsfragen und Themen kultureller Bindung nicht aus dem zivilgesellschaftlichen, öffentlichen Diskurs herausgedrängt werden. Dank der ihnen zur Verfügung stehenden religiösen Sprache und Symbolik sind sie in besonderem Maße in der Lage, Erfahrungen des gesellschaftlichen Leidens artikulierbar und in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit hörbar zu machen. Die Präsenz der Religionen in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit ist dabei an ihre Fähigkeit gebunden, sich auf die besondere Qualität eines diskursiven Kommunikationsstils einzulassen. Sie sind gezwungen, ihre Anliegen, Vorstellungen und Lösungsperspektiven argumentativ und offen für Kritik vorzutragen. V. RELIGION ALS GEFÄHRDUNG DER FUNDAMENTALISMUS

EINER FREIEN

GESELLSCHAFT:

Zur weltweiten Rückkehr der Religionen in den öffentlichen Raum haben die fundamentalistischen Bewegungen in hohem Maße beigetragen. Dies gilt zum Beispiel sowohl für den protestantischen Fundamentalismus in den USA wie für den schiitischen Fundamentalismus im Iran, auf deren verwandte Struktur Martin Riesebrodt früh hingewiesen hat.34 Im weltweiten Fundamentalismus, der sich in allen Weltreligionen beobachten lässt, erhält heute ein viertes Modell der Zuordnung von

33 von Soosten (Fn. 32), 140. 34 Der Fundamentalismusbegriff entbehrt häufig der analytischen Brauchbarkeit. Eine Ausnahme macht hier Riesebrodt, der einen ausgearbeiteten soziologischen Fundamentalismusbegriff entwickelt hat: Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchale Protestbewegung. Amerikanische Protestanten (1910–1928) und iranische Schiiten (1961–1979) im Vergleich, 1990.

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Religion und Politik Konturen.35 Beim Fundamentalismus haben wir es mit primär religiösen Protestbewegungen mit unmittelbaren Konsequenzen für die Politik zu tun. Das Verhältnis der fundamentalistischen Bewegungen zum Politischen trägt dabei Züge einer spezifischen Modernität. Im Unterschied zu den genuin religiösen Erweckungsbewegungen im Christentum wie in anderen Weltreligionen setzen die modernen Fundamentalisten auf die Politik zur Durchsetzung ihrer Wahrheit. Sie glauben gewissermaßen an die politische Durchsetzbarkeit und Machbarkeit ihrer Überzeugungen. Die Politik ist ihnen ein zentrales Mittel, die aus den Fugen herkömmlicher Ordnung geratene Welt wieder ins Lot zu bringen. Die Bedrohung des Fundamentalismus für die freiheitliche Gesellschaft hat ihren Kern dort, wo er auf die politische Macht und das staatliche Gewaltmonopol zurückgreift, um sein Wahrheitsmonopol durchzusetzen. Der Fundamentalismus hat ein modernes, totalitäres Potential. Es setzt sich zusammen aus den Elementen Wahrheitsmonopol, heilige, patriarchale Ordnung, einfache, umfassende Welterklärung aus einem Guß und Verteufelung des Fremden, verbunden mit dem Glauben an das Politische, an die politische Machbarkeit der Welt und der Ordnung.36 Das Explosive des modernen Fundamentalismus besteht in seiner antimodernen Modernität. Sie ist es, die aus dem religiösen Protest gegen die Moderne heute unter bestimmten sozialen und politischen Bedingungen eruptive Massenbewegungen entstehen lässt. Der Fundamentalismus zieht jene gesellschaftlichen Gruppierungen an, die sich in einer solchen antimodernen Modernisierung die Aufhebung ihrer sozialen Benachteiligung erhoffen. Politische Eliten können sich seiner bedienen – und tun dies auch vermehrt –, um ihre Machtziele strategisch durchzusetzen. Fundamentalistisch-theokratische Strömungen als Form der „Modernisierung“ religiöser Traditionen – so lässt sich zusammenfassen – sind in allen Weltreligionen zu beobachten. Im Islamismus findet die Distanzierung von der Neutralität und Säkularität des Staates gegenwärtig seine schärfste Ausprägung. Die Islamisten können sich auf ein breites Schrifttum beziehen, in dem der säkulare Rechtsstaat und die Demokratie als unislamisch abgelehnt werden.37 Insgesamt wird man sagen können, dass der Islam in Europa die neueren Tendenzen zur Entprivatisierung der Religionen unterstützt. Unter den muslimischen Stimmen finden sich auch Vertreter einer faktischen Anerkennung des säkularen Rechtsstaats wie Ansätze zu seiner theologischen Würdigung. Es ist eine offene Frage, ob die lebenspraktische Eingewöhnung in Europa wie auch die Stimmen der theologischen Würdigung des säkularen Rechtsstaats im Islam eine Entwicklung auslösen, die zu einer Anerkennung eines religionsneutralen Staates mit einem öffentlichen religiösen Engagement im intermediären Feld der Zivilgesellschaft führt. Stellt man die Erklärung zur Religionsfreiheit auf dem 2. Vatikanischen Konzil in den Horizont der skizzierten neueren Tendenzen zur Entprivatisierung der Reli35 Heiner Bielefeldt/Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Politisierte Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus, 1998. 36 Riesebrodt (Fn. 34), 214–251. 37 Hierzu und zum Folgenden siehe: Heiner Bielefeldt, Muslime im säkularen Staat. Intergrationschancen durch Religionsfreiheit, 2003, 59–84. Wo die Schwierigkeiten für den Islam im Verhältnis von Religion, Recht und Politik liegen, wird bei Gudrun Krämer scharf herausgearbeitet: Zum Verhältnis von Religion, Recht und Politik: Säkularisierung im Islam, in: H. Joas/K. Wiegandt (Hrsg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, 2007, 172–193.

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gionen, so erhält ihre Bedeutung spezifische Konturen. Im 2. Vatikanischen Konzil gelang es der katholischen Kirche, sich von der Tradition einer Staatslehre zu verabschieden, die dem Irrtum kein Existenzrecht zusprach und dem Staat die Verpflichtung aufgab, den Glauben mit den Mitteln staatlicher Gewalt durchzusetzen.38 Mit dem Rekurs auf die Würde der Person schaffte sie es, aus den Quellen der eigenen Überzeugungen heraus eine lange verhängnisvoll wirksame Tradition zu überwinden und hinter sich zu lassen. Das Konzil eröffnete damit der katholischen Kirche die Chance, eine zivilgesellschaftliche öffentliche Rolle jenseits von Privatisierung und Fundamentalismus einnehmen zu können. Angesichts des konfliktiven Aufeinandertreffens der Weltreligionen liegt damit ein Muster bereit, wie religiöse Traditionen von ihren eigenen Grundlagen her zu einer Rolle finden können, die es ihnen ermöglicht, einen Beitrag dazu zu leisten, dass – wie die Konzilserklärung formuliert – „friedliche Beziehungen und Eintracht in der Menschheit entstehen und gefestigt werden,…“.39 VI. DIE WANDLUNGSFÄHIGKEIT ALS PARADIGMA?

RELIGIÖSER

TRADITIONEN:

DER

KATHOLIZISMUS

Es ist Beobachtern der globalen politischen Szenerie wie Samuel Huntington früh aufgefallen, dass die sogenannte „dritte Welle“ der Demokratisierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stark von Religionen und religiösen Gruppierungen beeinflusst war und dass unter diesen die katholische Kirche eine prominente Rolle spielte. Huntington sprach deshalb von einer „katholischen Welle“ der Demokratisierung.40 Tatsächlich spielte sich die „dritte Welle“ der Demokratisierung überproportional häufig in katholischen Ländern ab, wie in Spanien, Brasilien, Polen oder auf den Philippinen. In anderen Ländern mit einer katholischen Minderheitsbevölkerung – wie etwa in Südkorea und Südafrika – trugen katholische Akteure und Gruppierungen zum Erfolge der Demokratisierungsprozesse bei. Casanova hat darauf hingewiesen, dass zwei Drittel der Länder, die seit Mitte der 70er Jahre demokratisch geworden sind, einen katholischen Hintergrund haben.41 Vergleicht man die dritte Welle der Demokratisierung mit den vorhergehenden, fallen drei überraschende Phänomene auf: (1.) Wie nie zuvor spielten Religionen und kirchliche Akteure eine positive Rolle bei den Transformationsprozessen. (2.) Für den Katholizismus war es das erste Mal, dass er sich für die Durchsetzung demokratischer Strukturen einsetzte. Bis dahin fand man ihn stets auf der Seite der Gegner von Demokratisierungsprozessen. (3.) Die Gründung neuer katholischer Parteien spielte in den Prozessen keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Dies hätte man mit den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts im Rücken anders erwartet. Nicht die Parteipolitik ist die Arena, in der sich die katholischen Kräfte formieren und bewegen. In der Hauptsache 38 Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789–1965), 2005. 39 Karl Rahner/Herbert Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium, 1966/2003, 675. 40 Samuel Huntington, The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century, 1991.

Religion als Stütze oder Gefährdung einer freien Gesellschaft

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entfalten Kirche und katholische Gruppen als Akteure der Zivilgesellschaft ihre Wirkung. Für die katholische Kirche handelte es sich um ein Novum. Wie ist diese weitreichende Veränderung zu erklären? Der überraschende Durchbruch des 2. Vatikanums – dieser Erklärungszusammenhang legt sich nahe – zur Religionsfreiheit in der Konzilserklärung „Dignitatis humanae“ hat es möglich gemacht, dass die katholische Kirche weltweit zu einer Kraft zivilgesellschaftlicher Demokratisierung geworden ist.42 Angesichts der gegenwärtig global zu beobachtenden Phänomene einer Rückkehr der Religionen in die Öffentlichkeit erhält der Durchbruch des Katholizismus zu einer zivilgesellschaftlichen Rolle in der Weltgesellschaft eine gewisse paradigmatische Bedeutung. Wenn es wider Erwarten der katholischen Religion gelungen ist, den Durchbruch zu einer stützenden Funktion einer freiheitlichen Gesellschaft zu schaffen, warum dann nicht auch anderen religiösen Traditionen wie zum Beispiel dem Islam?43 Im Konzilsdokument „Dignitatis humanae“ wird unter Nr. 2 formuliert: „Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird. Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht wird“.44

In dieser Formulierung steckt der prinzipielle Abschied von der bis dahin geltenden katholischen Staatslehre. In folgenden Punkten kommt die neue, eine zivilgesellschaftliche Rolle der Kirche ermöglichende Perspektive des Konzils nachdrücklich zum Ausdruck:45 (1.) Nicht mehr nur Toleranz, sondern das Recht auf Religionsfreiheit wurde anerkannt, und zwar als unabdingbares Recht der Person zur privaten und öffentlichen Religionsausübung nach den Forderungen des eigenen Gewissens. Mit dem Schritt vom Recht der Wahrheit zum Recht der Person war dem katholischen Glaubensstaat die Grundlage entzogen. (2.) Die Kirche geht nicht mehr von einer prinzipiellen Höherwertigkeit des religiöskirchlichen gegenüber dem staatlich-rechtlichen Bereich aus. Damit wird auf der Grundlage der Religionsfreiheit eine Trennung von Staat und Kirche möglich. (3.) Die Konzilserklärung unterscheidet klar zwischen Recht und Moral, zwischen rechtlicher Ordnung und moralischen Pflichten. Das Recht gehört zur Friedensund Freiheitsordnung, nicht zur Tugend- und Wahrheitsordnung. (4.) Als allgemeine Schranke der Religionsfreiheit definiert Dignitatis humanae das sittliche Prinzip der personalen und sozialen Verantwortung. Die einzelnen Menschen und die sozialen Gruppen sind bei der Ausübung ihrer Rechte durch das 41 Casanova, Civil Society (Fn. 24), 1. 42 Zur breiten Diskussion um das Konzil und seine Rezeption 40 Jahre nach seinem Abschluss siehe: Karl Gabriel/Stefan Nacke/Hartmann Tyrell, Konzil und kein Ende – oder: Das schwierige ZurWelt-Kommen. 40 Jahre Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965), Soziologische Revue 29 (2006), 412–424. 43 Casanova, Civil Society (Fn. 24), 1–34. 44 Rahner/Vorgrimler (Fn. 39), 663. 45 Uertz (Fn. 38), 481 f.

Karl Gabriel

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Sittengesetz verpflichtet, sowohl die Rechte der anderen wie auch die eigenen Pflichten den anderen und dem Gemeinwohl gegenüber zu beachten. (5.) Als Bedingung des friedlichen Zusammenlebens betrachtet die Konzilserklärung einen wirksamen Rechtsschutz, den öffentlichen Frieden und die Wahrung der öffentlichen Sicherheit. Im übrigen soll in der Gesellschaft eine ungeschmälerte Freiheit walten, wonach dem Menschen ein möglichst weiter Freiheitsraum zuerkannt werden muss. Die Erklärung zur Religionsfreiheit war auf dem Konzil bis zuletzt umstritten. Der mehrfach überarbeitete Text wurde im Oktober 1965 in detallierten Abstimmungen noch einmal leicht verändert. Die feierliche Schlussabstimmung am 7. Dezember 1996 ergab 2308 Ja- gegen 70 Nein-Stimmmen. Bedenkt man, dass noch das entsprechende Kapitel des Entwurfs „Über die Kirche“ von 1962 die Religionsfreiheit rundweg abgelehnt hatte, wird die Reichweite des Umbruchs erkennbar. Vorbereitet durch die christliche Idee der Würde der Person, die etwa für Jacques Maritain unabdingbar die Autonomie des menschlichen Gewissens und die Religionsfreiheit implizierte, fand das Konzil einen eigenständigen Weg zur Norm der Religionsfreiheit.46 Der Konzilstext selbst stellt im letzten Abschnitt die Beziehung der Religionsfreiheit zum globalen Aufeinandertreffen der Religionen her. Es heißt in Nr. 15: „Denn es ist eine offene Tatsache, dass alle Völker immer mehr eine Einheit werden, dass Menschen verschiedener Kultur und Religion enger miteinander in Beziehung kommen und dass das Bewusstsein der eigenen Verantwortung im Wachsen begriffen ist. Damit nun friedliche Beziehungen und Eintracht in der Menschheit entstehen und gefestigt werden, ist es erforderlich, dass überall auf Erden die Religionsfreiheit einen wirksamen Rechtsschutz genießt und dass die höchsten Pflichten und Rechte des Menschen, ihr religiöses Leben in der Gesellschaft in Freiheit zu gestalten, wohl beachtet werden“.47

Hier erhält die Hoffnung des Konzils von einer zusammenwachsenden, in friedlichen Beziehungen und in Eintracht lebenden Welt Konturen, zu deren Voraussetzungen die Religionsfreiheit zu rechnen ist. VII. BEDINGUNGEN GESELLSCHAFT

UND

FUNKTIONEN

ÖFFENTLICHER

RELIGION

IN DER FREIEN

Im Anschluss an Jürgen Habermas lassen sich die Herausforderungen und Bedingungen zusammenfassend in den Blick nehmen, unter denen die religiösen Traditionen als Stütze einer freiheitlichen Gesellschaft in Frage kommen. Zieht man in Betracht, dass sich die Religionen im globalen Rahmen, aber auch lokal immer weniger ausweichen können, müssen sie in der Lage sein, die „kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und Religionen (zu) verarbeiten“.48 An dieser Herausforderung war das konfessionelle Christentum am Beginn der Moderne kläglich gescheitert und hatte damit die öffentliche Neutralisierung und Privatisierung der 46 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Bedeutung der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit. Überlegungen 20 Jahre danach, in: ders., Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt, 1990. 47 Rahner/Vorgrimmler (Fn. 38), 675. 48 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, FAZ vom 15.10.2001, Nr. 239/S. 9.

Religion als Stütze oder Gefährdung einer freien Gesellschaft

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Religion zu einer Frage des physischen Überlebens gemacht. Inzwischen haben die religiösen Traditionen Reflexionsprozesse hinter sich gebracht, die ihr Potential zur Verarbeitung des konfessionellen und religiösen Pluralismus gestärkt haben. Wie die mühsamen Prozesse der ökumenischen Verständigung innerhalb des Christentums und die Auseinandersetzungen um die Erklärung der Glaubenskongregation der katholischen Kirche „Dominus Jesus“ belegen, handelt es sich um Herausforderungen, mit denen die religiösen Traditionen immer wieder neu konfrontiert sind. Neben dem religiösen Pluralismus ist es der Umgang mit der modernen Wissenschaft und deren Anspruch, für das geltende Weltwissen allein zuständig zu sein, denen sich die Religionen stellen müssen. Am Eindringen wissenschaftlicher Erklärungsansprüche in die Bibelexegese hatte sich in den Vereinigten Staaten jene religiöse Bewegung entzündet, die dem modernen Fundamentalismus seinen Namen gegeben hat. Sah man doch die „fundamentals“ gefährdet, wenn die Bibel der modernen Wissenschaft und ihren Methoden unterworfen wird. Wie die gegenwärtige Auseinandersetzung um den Kreationismus nicht nur in den Vereinigten Staaten zeigt, können sich auch auf diesem Feld immer aufs neue Konfrontationen ergeben. Trotz einer seit Jahren abgeklärten hermeneutischen Debatte in Exegese und Fundamentaltheologie ist auch ein kluger Kardinal der katholischen Kirche wie Kardinal Schönborn nicht davor gefeit, die Evolutionstheorie an der Richtschnur seiner Schöpfungstheologie zu messen. Als dritte Bedingung kann die Aussöhnung mit dem modernen Verfassungsstaat gelten, der sich nicht mehr aus Gott, sondern aus einer profanen Moral begründet. Wie schon angesprochen, haben erst ein charismatisches Konzil und schmerzhafte Lernprozesse mit den Diktaturen und Kriegen des 20. Jahrhunderts den Katholizismus dazu gebracht, der profanen, menschenrechtlichen Begründung des Staates Legitimität zuzusprechen. Im Islam bildet die Lösung des Staates aus einer unmittelbaren religiösen Begründung einer der strittigen Fragen, auf die es keine einheitliche Antwort im Islam gibt. Die Religionen können aber ihren Beitrag zu einer freiheitlichen Gesellschaft erst dann leisten, wenn sie auf die staatliche Macht zur Durchsetzung ihres Glaubens verzichten und dem Staat religiöse Neutralität gegenüber allen spezifischen religiösen Glaubensbekenntnissen einräumen.49 In entgegengesetzter Blickrichtung lassen sich im Anschluss an José Casanova Felder benennen, in denen Religionen eine positive Funktion für eine freie Gesellschaft zu erfüllen vermögen.50 Ein erstes Feld betrifft die Verteidigung der Menschenrechte. Breite Strömungen in den Religionen haben sich in den letzten Jahren zu den konsequentesten Verteidigern der Menschenrechte entwickelt und – wie die beiden großen Kirchen in Deutschland – eine Vorreiterrolle in Asylfragen, in Fragen des menschenrechtlichen Schutzes für Statuslose und in einer an den Menschenrechten orientierten Entwicklungspolitik eingenommen. Es ist der Glaube an die geheiligte Würde der menschlichen Person als Ebenbild Gottes, die die Religion zum bedingungslosen Eintreten für den menschenrechtlichen Schutz der Person drängt. Ein zweites Feld betrifft die seit Alexis de Tocqueville bekannte Wahlverwandtschaft 49 José Casanova (Fn. 24); Karl Gabriel, Fragmentierte Gesellschaft und die Suche nach humanem Zusammenleben, in: Gerhard Mertens (Hrsg.), Fragmentierte Gesellschaft – Einheit der Bildung, 2007, 11–23. 50 Casanova, Chancen und Gefahren (Fn. 20), 207–210.

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Karl Gabriel

zwischen religiösen und republikanischen Tugenden. Die freie Gesellschaft ist auf Motive angewiesen, die den gewachsenen Graben zwischen privatem Rückzug und öffentlicher Verantwortung immer wieder zu überschreiten erlauben. „Würde eine religiöse Wiedererweckung“ – so Casanova 1996 mit Blick auf Osteropa – „zu einer moralischen Erweckung im Privatbereich führen, könnte dies nur günstige Folgen für den öffentlichen Bereich haben“.51 In der öffentlichen Sphäre der Zivilgesellschaft fallen den Religionen vornehmlich folgende Funktionen zu: Sie zwingen moderne Gesellschaften, öffentlich über ihre normativen Grundlagen nachzudenken, indem sie ihre eigenen normativen Traditionen in die aktuellen Streitfragen, etwa um den Embryonenschutz und die Bioethik einbringen. Sie bilden mit ihrem Selbstverständnis als sittliche Gemeinschaften ein Gegengewicht zu den gegenwärtigen Tendenzen eines radikalen Individualismus, für den sich das Gemeinwohl auf die Gesamtsumme persönlicher Präferenzen reduziert. Schließlich sind es die Religionen, die heute mit besonderem Nachdruck für eine Solidarität eintreten, die in der Konstruktion einer Menschheitsfamilie ihre Grundlage besitzt.

51 Casanova, Chancen und Gefahren (Fn. 20), 207.

ANSGAR HENSE, DRESDEN/BONN KATHOLIZISMUS

UND

RECHTSORDNUNG

A. HINFÜHRUNG Die Frage nach „Katholizismus und Rechtsordnung“ ist ein heikles und ein (zu) großes Thema1. Sie ist mit nicht wenigen Stereotypen verbunden. Katholizismus wird mit intellektueller Rückständigkeit (Inferiorität) ebenso assoziiert wie mit religiösem Fundamentalismus. Die Verteidigung der Kirche gegen einen – vermeintlichen oder tatsächlichen – „antirömischen Affekt“ durch die in der ersten Auflage mit dem kirchlichen Imprimatur versehene Schrift „Römischer Katholizismus und politische Form“ des (später) exkommunizierten2 Staatsrechtlers Carl Schmitt monopolisierte teilweise die Katholizismus-Assoziationen bei einem Rechtswissenschaftler, der nach einer hermetischen Selbstauskunft so katholisch sei wie der Baum grün ist. Als „Theologe der Jurisprudenz“ belegte er die wirklichen Theologen mit einem despektierlichen Schweigegebot in weltlichen Dingen und vertrat selbst eine kryptisch anmutende Attitüde der „eigentlich katholischen Verschärfung“. Der nicht selten mit Schmitt verbundene „Primat des Katholischen“ beruht auf einer Fehleinschätzung, da sich gerade die Katholizität dieses Autors erheblich anzweifeln läßt3: Er war vielleicht eher „unkatholisch“4 oder jedenfalls nur sehr einseitig katholisch. Jenseits der Schmitt’schen Position wurde und wird immer wieder ein übermäßiger Einfluß des Katholischen auf das Rechtsdenken und die Rechtsetzung ausgemacht. So problematisierte der spätere Verfassungsrichter und engagierte evangelische Christ Helmut Simon 1962 in einer kleinen Schrift ein wachsendes Unbehagen an den katholischen Einflüssen auf die Gestaltung der Rechtsordnung5, während der Würzburger Staatsrechtslehrer Helmuth Schulze-Fielitz an der Milleniumswende eine latente Katholisierung der Verfassungsinterpretation festzustellen meinte. Für Schulze-Fielitz wird dabei der Stellenwert des katholischen Denkens über Staat und Gesellschaft generell vertiefungsbedürftig6. In nicht wenigen Fällen wird die Aufregung über den katholischen 1

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Grundlegendes findet sich aber bei A. Hollerbach, Katholizismus und Jurisprudenz: Beiträge zur Katholizismusforschung und zur neueren Wissenschaftsgeschichte, 2004. Siehe auch schon T. Tomandl (Hrsg.), Der Einfluß des katholischen Denkens auf das positive Recht, 1970. Zu den Umständen und der Tatsache näher B. Rüthers, Entartetes Recht, 1988, 159 ff. Umfassende Würdigung unterschiedlicher Facetten in dem Sammelband von B. Wacker (Hrsg.), Die eigentlich katholische Verschärfung …. Konfession, Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts, 1994. Siehe auch den instruktiven kleinen Tagungsbericht von A. Kemmerer, „Schweigt, Theologen“! Unkatholisch: Ein Münchener Angriff auf Carl Schmitt, FAZ – Nr. 56 – 7. März 2007, S. 36. H. Simon, Katholisierung des Rechts? Zum Einfluß katholischen Rechtsdenkens auf die gegenwärtige deutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung (Bensheimer Hefte, 16), 1962. Simon selbst promovierte unter der Ägide von Ulrich Scheuner und Hans Welzel mit einer rechtstheologischen Arbeit: Der Rechtsgedanke in der gegenwärtigen evangelischen Theologie unter besonderer Berücksichtigung des Problems materialer Rechtsgrundsätze, Diss. iur. Bonn 1952. H. Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz – in der Beleuchtung des Handbuchs des Staatsrechts, Die Verwaltung 32 (1999), 241 (269). Ob dies auch für die dritte Auflage des Handbuchs des Staatsrechts gelten wird, ist

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Einfluß verallgemeinert zu einem nicht selten etwas diffusen Unbehagen am Einfluß der katholischen Kirche auf Rechts- und Moralvorstellungen insgesamt; vice versa gilt dies auch für die evangelischen Kirchen. Kritische Haltungen gegenüber den beiden „Großkirchen“ werden in unterschiedlichsten Zusammenhängen dann zusammengefaßt unter der Chiffre Christentum, dem eine übermäßige Präsenz im öffentlichen Raum attestiert wird und die der eigentlichen Leitkultur7 Humanismus und Aufklärung der Bundesrepublik zuwiderlaufe8. Während der mitbestimmende Einfluß kirchlich-katholischer Rechtsvorstellungen – also insbesondere des mittelalterlichen9 Kanonischen Rechts – auf die Ausbildung und Ausformung eines weltlichen Rechts und die abendländische Rechtskultur seit dem Mittelalter kaum in Abrede gestellt wird10, wird der gegenwärtige Einfluß des Christentums auf das politische Gemeinwesen und dessen politische wie kulturelle Identität überaus kontrovers beurteilt11. Bemerkenswert ist, daß die konfessionelle Zuspitzung eher vermieden und stattdessen die Kategorie Christentum – ggfs. auch in Umschreibungen wie christliches (oder christlich-jüdisches) Abendland – verwendet wird12. Die Diskussionen um die Aufnahme eines Gottesbezugs in eine mögliche EU-Verfassung zeigen dies ebenso wie Diskussionen um die Frage, ob der grundgesetzlichen Ordnung ein christlich fundierter Kulturvorbehalt zugrunde liegt oder nicht. Insgesamt läßt sich als aktuelles angesichts grundlegender Veränderungen in der Autorenschaft eine vielleicht nicht völlig uninteressante Frage. 7 Zu Begriff und Funktion näher G. Göhler, Leitkultur als symbolische Integration: Überlegungen zum Gebrauch eines umstrittenen Konzepts, in: J. Fischer/H. Joas (Hrsg.), Kunst, Macht und Institution: Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, 2003, 304 ff. 8 M. Schmidt-Salomon, Leitkultur Humanismus und Aufklärung: Die kritizistische Alternative zu Fundamentalismus und Beliebigkeit, in: Wissenschaft, Religion und Recht: Hans Albert zum 85. Geburtstag, hrsg. von E. Hilgendorf, 2006, 223 ff. 9 Es handelt sich auf lange Sicht um überaus komplexe Wechselbezüge: Das Recht der „Jungen Kirche“ wurde in der Antike durch das Römische Recht beeinflußt und besaß Einfluß auf die Tradition des Römischen Rechts, wurde sogar selbst Garant für dessen Weitergabe. 10 Neben dem Klassiker von H. J. Berman, Recht und Revolution: Die Bildung westlicher Rechtstradition, 2. Aufl. 1991, auch P. Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit: Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, 2. Aufl. 2005. Ferner etwa Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, 71 ff.; D. Wyduckel, Ius Publicum: Grundlagen und Entwicklung des Öffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1984, 91 ff.; R. Zimmermann, Das römisch-kanonische ius commune als Grundlage europäischer Rechtseinheit, JZ 1992, 8 ff.; P. Landau, in: H. Scholler (Hrsg.), Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien, 1996, 23 ff.; ders., Pacta sunt servanda: Zu den kanonistischen Grundlagen der Privatautonomie, in: ‚Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert‘: Festschrift für Knut Wolfgang Nörr, hrsg. von M. Ascheri u.a., 457 ff.; H.-J. Becker, Spuren des kanonischen Rechts im Bürgerlichen Gesetzbuch, in: R. Zimmermann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 1999, 159 ff.; H. Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, in: G. Siebeck (Hrsg.), Artibus ingenuis: Beiträge zu Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft, 2001, 133 ff. 11 Die Diskussionen kreisen etwa um die verfassungstheoretische und –rechtliche Herleitung und Relevanz eines „Kulturvorbehalts“ u.ä. Vgl. J. Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat: jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts, 2003, 79 ff.; K.-A. Schwarz, Das christlich-abendländische Fundament des Grundgesetzes als Topos der Verfassungsinterpretation, in: Die Ordnung der Freiheit: Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. von R. Grote u.a., Tübingen 2006, 419 ff. m.w.N. 12 Siehe etwa H. Maier, Demokratischer Verfassungsstaat ohne Christentum – was wäre anders?, 2006.

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Phänomen feststellen, daß religiöse Themen durchaus Konjunktur haben, wenngleich die mögliche „Renaissance der Religion“ teilweise aus politisch-praktischer Sicht für ein herbeigeredetes und –geschriebenes Phänomen gehalten wird13. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß das Säkularisierungskonzept neu überdacht wird und mittlerweile auch in der Rechtswissenschaft14 von einem „post-säkularen“ Zeitalter gesprochen wird. Die spürbare Präsenz z.B. einer nicht-christlichen Religion in Deutschland und Europa leistet ihren Beitrag zur Neuverortung bisheriger religionsverfassungsrechtlicher Ordnungskonfigurationen. Der religiösen Vitalität nicht-christlicher Religionen wie des Islam oder christlicher, geistlicher Gruppierungen stehen dabei Entwicklungen bei den sog. „Amtskirchen“ entgegen, die eher auf Abnahme denn religiös-institutionelle Lebendigkeit hindeuten. Ob die Zähmung der christlichen Religionen in Deutschland und ihres Einflusses auf die öffentliche Ordnung nicht bereits durch antezipierte Selbstsäkularisierungen15 der beiden Kirchen erfolgt ist und der immer noch unterstellte, sich vermeintlich offensichtlich oder subkutan auf die Rechtsordnung auswirkende Einfluß der Kirchen nicht auch mittlerweile ein stereotyper Reflex geworden ist, sei als Frage nur aufgeworfen. Die Wahlverwandtschaft zwischen Theologie und Jurisprudenz16, der Zusammenhang von legistischer und kanonistischer Jurisprudenz17 einerseits und Theologie andererseits bei der Grundlegung frühmoderner Rechts- und Staatslehre18 beantwortet nicht die Frage nach dem Verhältnis von Katholizismus und Rechtsordnung. Das Thema Katholizismus und Rechtsordnung hinsichtlich seiner je eigenen Dimensionen, seines Zusammenhangs von Ausschließlichkeit und Durchlässigkeit19 zu untersuchen, bedeutet, eine detektivische Spurensuche zu unternehmen und Fragen zu stellen, ohne abschließende Antworten geben zu können: Was bedeutet überhaupt Katholizismus? Ist dieser Topos nicht eher altertümlich in einer Zeit, in der angesichts verpflichtend „ökumenischer“ Grundhaltung eher das (Gemein-) Christliche, das Christentum herausgestellt wird? Sind katholisch, katholische Kirche und Katholizismus Synonyma? Läßt sich eine Binnenperspektive des Themas Katholizismus und Rechtsordnung auffinden, weil der Katholizismus selbst über eine Rechtsordnung verfügt? Worin liegen deren Grund und Grenzen der katholischen Eigenrechtsmacht? Wie wirkt sich der Katholizismus auf die staatliche Rechtsordnung aus? Bestehen Wechselbezüglichkeiten, Abhängigkeiten? Die nur kursorischen Fragen zeigen, daß das Thema sich grob unterscheiden läßt nach dem Schema innen und außen, 13 Etwa die 5. Berliner Rede zur Religionspolitik von der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, Religion und Recht, am 12. Dezember 2006 in der Humboldt-Universität. Zur „Wiederkehr des Religiösen“ differenziert K.-H. Ladeur/I. Augsberg, Toleranz-Religion-Recht: Die Herausforderung des ‚neutralen‘ Staates durch neue Formen von Religiösität in der postmodernen Gesellschaft, 2007, 1 ff. m.w.N. 14 Vgl. etwa C. Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, Tübingen 2006, 607 ff. 15 Zu diesem Terminus siehe R. Altmann, Abschied von den Kirchen (1970), in: ders., Abschied vom Staat, 1998, 237 (240). 16 Dreier (Fn. 10), 133. 17 Beide Teilrechtsgebiete standen in Wechselbeziehung, wie die Parömie „legista sine canonibus parum valet, canonista sine legibus nihil“ verdeutlicht. Vgl. P. Kardinal Erdö, Geschichte der Wissenschaft vom kanonischen Recht: Eine Einführung, 2006, 80 ff., insbes. 82 m.w.N. 18 Vgl. D. Wyduckel, Princeps legibus solutus, 1979, 33. 19 Zu diesem Topos H. Rombach, Strukturontologie, 2. Aufl., 1988, 74.

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endogene und exogene Faktoren, Schließung und Öffnung gegenüber der Umwelt (Staat, Gesellschaft). Letztlich basieren die Fragen schon auf der das Gemeinwesen bestimmenden Grundunterscheidung zwischen weltlicher und geistlicher Sphäre, die Alexander Hollerbach so treffend als „Scheidung in der Wurzel“20 charakterisiert hat, die eine Folge einer fast kontinuierlichen Entwicklung seit dem Mittelalter ist und – jedenfalls in Deutschland – in dem Verbot der institutionellen Verquickung von Staat und Kirche mündet, die aber keine strikte Trennung von Staat und Kirche ist. B. RÜCK-

UND

SEITENBLICKE: WAS

IST DAS ÜBERHAUPT

– KATHOLIZISMUS?

I. Assoziierendes: Katholisch, Katholisches, Katholizität, Katholizismus Das Wort „katholisch“ ist – streng juristisch betrachtet – keine quantité négligeable und kein frei verfügbares Gut21. In der Sprache der Werbung könnte man formulieren: Wo katholisch draufsteht, muß auch katholisch drin sein. So nimmt es nicht wunder, daß z.B. über die Führung der Bezeichnung katholisch als Namensbestandteil einer Institution Streit entstehen kann22. Bei dem Wort Katholizismus scheint dies anders zu sein. Katholizismus kommt in einer Reihe sehr unterschiedlicher Verwendungszusammenhänge vor und weist nicht die Ausschließlichkeit einer markenrechtlichen Kennzeichnung auf. Nicht selten wird der Begriff adjektivisch näher justiert, so daß beispielsweise vom politischen, sozialen oder kulturellen Katholizismus die Rede ist23. Ebenso wird der Katholizismus als Beschreibungskategorie für nationalstaatliche Zusammenhänge verwendet, so daß z.B. vom deutschen oder polnischen Katholizismus gesprochen wird24, um besondere Eigenheiten zu kennzeichnen25. Darüber 20 A. Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, VVDStRL 26 (1968), 57 (62) = ders., Ausgewählte Schriften, hrsg. von G. Robbers, 2006, 253 (257). 21 Maßgebliche theologische Selbstauskunft Katechismus der Katholischen Kirche: Neuübersetzung aufgrund der Editio Typica Latina, 2005, Tz. 830 ff. Ferner Knut Wenzel, Artikel ‚Katholisch‘, in: LThK 3V (1996), Sp. 1345 f. Bemerkenswert die Ausführungen des verstorbenen Bischofs von Aachen K. Hemmerle, Was heißt ‚katholisch’ in der katholisch sozialen Bildung, in: ders., Die Alternative des Evangeliums: Beiträge zu gesellschaftlichen Fragen, Ausgewählte Schriften, Bd. 3, Freiburg i.Br. 1995, 276 ff. 22 Z.B. bei der Titulierung eines Verlagsprogramms als „Pro Fide Catholica“ (BGH, NJW 2005, 948), bei der Bezeichnung von Veranstaltungen und Einrichtungen einer religiösen Gruppierung, deren schismatische Verhaltensweise kirchlicherseits nicht völlig eindeutig festgestellt worden ist (BGHZ 124, 173 – es geht um die Priesterbruderschaft St. Pius X) u.a.m. Instruktive Darlegung all dieser Fragen bei R. Tillmanns, Im Namen der Kirche – zum Schutz der Bezeichnung ‚katholisch‘ nach § 12 BGB, NJW 2006, 3180 ff.; ders., Die Führung der Bezeichnung ‚katholisch‘ nach dem Recht der lateinischen Kirche, in: Recht – Bürge der Freiheit: Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag, hrsg. von K. Breitsching u. W. Rees, 2006, 699 ff. 23 Pars pro toto siehe nur W. Schöpsdau, Artikel ‚Katholizismus‘, in: EvStL (Neuausgabe 2006), Sp. 1114 ff. 24 Zu nationalstaatlichen Kontexten der historischen Literatur siehe etwa E. Gatz (Hrsg.), Kirche und Katholizismus seit 1945, Bd. 1 (Mittel-, West- und Nordeuropa), 1998. Zur nationalen Differenzierung des Katholizismus siehe auch Heinz Hürten, Geschichte des deutschen Katholizismus 1800–1960, Mainz 1986, 10. 25 Bemerkenswert der Vergleich nationaler Katholizismen siehe exemplarisch W. Damberg/A. Liedhegener (Hrsg.), Katholiken in den USA und Deutschland: Kirche, Gesellschaft und Politik, 2006. Ferner

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hinaus wird vom Ghetto-Katholizismus, vom römischen Katholizismus, Milieukatholizismus u.a.m. gesprochen. Es scheint eine Vielfalt an Erscheinungs- und Ausdrucksformen „des Katholizismus“ zu geben. Wie läßt der Begriff sich von anderen Kategorien wie Klerikalismus abgrenzen? In welcher Beziehung stehen Katholizismus und Kirche/Amtskirche zueinander? Ist Katholizismus nicht selten ein Gegenbegriff: in erster Linie zu Protestantismus, aber auch zu Liberalismus26 oder anderen Phänomenen27? Ist Katholizität der Kirche etwas anderes als Katholizismus? Aktuell hat es weiterhin den Anschein, daß der Katholizismus eher historischer Forschungsgegenstand28 und soziologische Beschreibungskategorie ist denn ein gegenwärtiges und wirkmächtiges Phänomen. Dies gilt national wie übernational: Die These von der „Auflösung des Katholizismus“ ist eine Kurzformel dafür, daß sich etwa die historisch überkommenen Formen eines „deutschen Katholizismus“ als einer räumlich und zeitlich beschränkten sozialen Erscheinungsweise des Christentums vermutlich überlebt haben29, und auch universal wird – als Folge des II. Vatikanums – eine „décomposition du Catholicisme“ 30 konstatiert. Aber selbst die Feststellung dessen, was – genuin oder ‚wesenhaft‘ – als „katholisch“ bezeichnet werden kann, bereitet Schwierigkeiten31. Der Sitz im Leben der Gemeinde scheint verloren zu sein. Dieser ernüchternde Befund, der viele begriffliche Aspekte des Feldes katholisch und Katholizismus wenn nicht erudiert, so doch in einem nicht unerheblichen Maße relativiert, läßt deshalb die Themenstellung Katholizismus und Rechtsordnung noch nicht ins Leere laufen. Der Befund ist aber eine Mahnung davor, voreilige thematische Konsequenzen zu ziehen. Es kann allenfalls um Andeutungen von Deutungen gehen.

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A. Liedhegener, Macht, Moral und Mehrheiten: Der politische Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland und den USA seit 1960, 2006. Bemerkenswert zu diesem Punkt O. Kallscheuer, Katholizismus und Liberalismus: Römische Kirche und politische Moderne, in: ders., Gottes Wort und Volkes Stimme: Glaube, Macht, Politik, 1994, 44 ff. Es ließe sich die Frage auch umformulieren: Sind nicht wenige real existierende Ideen oder Phänomene eine Antithese zum Katholizismus? Sehr aufschlußreich bspw. die thematisch konzentrierte wie konzentrierende Reflexion der wissenschaftlichen Diskussion in dem Sammelband von K.-J. Hummel (Hrsg.), Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung: Tatsachen, Deutungen, Fragen – Eine Zwischenbilanz, 2004. Siehe auch die Vorgängerpublikation U. von Hehl/K. Repgen (Hrsg.), Der deutsche Katholizismus in der zeitgeschichtlichen Forschung, 1988. Ferner der Forschungsbericht von Benjamin Ziemann, Der deutsche Katholizismus im späten 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 40 (2000), 402 ff. m.w.N. Siehe dazu F. X. Kaufmann, Kirche begreifen: Analysen und Thesen zur gesellschaftlichen Verfassung des Christentums, 1979, 90 ff., der sogar die Unwiderruflichkeit dieses Prozesses annimmt. So das berühmte, vor dem Hintergrund französischer Entwicklungen geschriebene Buch von L. Bouyer, Der Verfall des Katholizismus, München 1970. So W. Kasper, Zur Lage des deutschen Katholizismus heute: Stellungnahme eines Theologen, in: von Hehl/Repgen (Fn. 28), 79 (79 f.).

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II. Binnenperspektivisches 1. Kirche und Katholizismus Lexikographisch wird Katholizismus gegenwärtig in einem sehr allgemeinen Sinn folgendermaßen definiert: als „all jene Erscheinungsformen des katholischen Christentums, die historisch-kontingenter Natur sind, also ‚weder zum bleibenden Wesen der Kirche gerechnet noch als dessen notwendige geschichtliche Ausprägung angesehen werden können‘“32. Diese auf den Theologen Karl Rahner zurückgehende terminologische Umschreibung33 ist bis heute die maßgebliche Referenz. „Denn Katholizismus und katholische Kirche sind nicht schlechthin dasselbe; wie sie zusammenhängen und was sie unterscheidet, ist jedoch nicht ganz leicht zu beschreiben“34. Während die Kirche nach katholischem Verständnis „in ihrer Substanz in allen Zeiten dieselbe ist, auch wenn sich diese Substanz selbst nochmals in der Geschichte auslegt und entfaltet“35, will es den Anschein haben, daß der Katholizismus von großer historischer Wandlungsfähigkeit und situativ-kontextueller Abhängigkeit ist. Katholizismus und römisch-katholische Kirche scheinen demnach durchaus zwei gegensätzliche Phänomene zu sein, in denen Spannungen und Kräfte wirken, die letztlich schicksalhaft miteinander verkettet sind. In diesem Kraftfeld wirken zentrifugale wie zentripetale Kräfte. Da das Katholische sich de iure als universal versteht und de facto sein will, ist die innerkatholische Beziehung zwischen Weltkirche und Ortskirche immer wieder von nicht einfachen Auseinandersetzungen und Konflikten gekennzeichnet. Der Streit um die Schwangerschaftskonfliktberatung und die Suche nach einem glaubwürdigen katholischen Weg ist ein aktuelles Beispiel für die Komplexität und Mehrdimensionalität des Problems, zumal der Schutz des ungeborenen Lebens als das klassische katholische Thema seit den 1970er Jahren gilt. Die Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft erteilen nach einer römischen Weisung an die deutschen Diözesanbischöfe aus religiös-theologischen Gründen keinen Beratungsschein mehr. Die deutschen Diözesen sind damit zwar nicht aus dem staatlichen System der Pflichtberatung bei Schwangerschaftskonflikten ausgestiegen, sie wirken aber nicht mehr bei der Erteilung des Beratungsscheins mit36. Eine straffreie Abtreibung ohne Beratung und ohne Erteilung des Beratungsscheins ist gesetzlich nicht möglich37. 32 So H. Maier, Artikel ‚Katholizismus‘, LThK 3V (1996), Sp. 1368 (1368). Ähnlich W. Beinert, Artikel ‚Katholizismus‘, RGG, Bd. 4 (2001), Sp. 888 (888). Siehe auch K. Kardinal Lehmann, Das katholische Christentum, in: H. Joas/K. Wiegandt (Hrsg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, 2007, 44 ff. 33 K. Rahner, Artikel ‚Katholizismus‘, LThK 2VI (1961), Sp. 88 f. 34 Hürten (Fn. 24), 7. 35 Kasper (Fn. 31), 81. 36 Zur Frage, ob Beratung nur mit Scheinerteilung förderungswürdig ist oder nicht, siehe nur W. Rüfner, Zur öffentlichen Finanzierung katholischer Schwangerenberatungsstellen, in: Flexibilitas Iuris Canonici: Festschrift für Richard Puza zum 60. Geburtstag, hrsg. von A. Weiß und S. Ihli, Frankfurt a.M. u.a. 2003, 741 ff.; ders., Die staatliche Förderung von Schwangerenberatungsstellen: Beratung und Abtreibung im Schutzkonzept des Gesetzgebers, DÖV 2004, 696 ff. Die Frage ist mittlerweile höchstrichterlich entschieden. 37 Bemerkenswerte strafrechtliche Analyse von Zurechnungsfragen – als rechtswidrige Beihilfe zum rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch – bei G. Jakobs, Lebensschutz durch Pflichtberatung, Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V. Nr. 17, 2000, 17 ff. m.w.N.

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Über die Mitwirkung an den Schwangerschaftsabbrüchen mittels Beratungsscheinen waren die deutschen Bischöfe und Katholiken über lange Zeit unterschiedlicher Auffassung. Während einige in der Konfliktberatung mit Schein ein glaubwürdiges katholisches Eintreten für den Lebensschutz Ungeborener sahen, erblickten andere darin einen Verrat gerade dieses katholischen Anliegens. Eine katholische Laieninitiative wollte den kirchlichen „Teilrückzug“ aus dem Schwangerenberatungskonzept mit Schein nicht hinnehmen und gründete 1999 einen Trägerverein „Donum Vitae“, der nunmehr Einrichtungen betreibt, die „katholisch geprägte“ Beratung anbieten und auch den Beratungsschein erteilen38. Der Verein „Donum Vitae“ kann u.U. nicht als katholischer oder kirchlicher Verein qualifiziert werden39, ist aber vielleicht doch Ausdruck eines deutschen Katholizismus, der sich an einem deutschen Weg des Lebensschutzes beteiligen will40. In einer historischen Retrospektive verdeutlicht sich die Polarität zwischen Katholizismus und katholischer Kirche weiterhin. Katholizismus wurde und wird als ein Phänomen gesehen, bei dem einzelne Katholiken oder Verbände von Katholiken ein katholisches Engagement verfolgen, das vorrangig auf dem freien Koalitionswillen der Beteiligten beruht; dieses Engagement erfolgte meist „neben der hierarchischen Kirche“ (Hans Maier)41. Die katholischen Vereine als Paradigma des deutschen Verbändekatholizismus waren als Strukturelement einer bürgerlichen Gesellschaft ein Stück Modernität im katholischen Milieu42. Katholische Vereine wurden weniger auf bischöfliche Weisung hin gegründet, sondern waren weitgehend eine freie Initiative der Katholiken. Ob und inwieweit das Verbändewesen auch zur stillen Emanzipation der Laien in der Kirche beigetragen hat, wird unterschiedlich beurteilt. Die katholischen 38 Zum Problemkreis S. Muckel, Die Schwangerenkonfliktberatung durch den Verein ‚Donum Vitae‘ als kirchenrechtliches Problem, öarr 2001, 223 ff.; R. Tillmanns, Roma locuta, causa finita?, NJW 2001, 873 f.; ders., Die Mitwirkung katholischer Laien an der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung in der Bundesrepublik Deutschland, ZKTh 123 (2001), 189 ff. 39 Die deutschen Bischöfe haben im Juni 2006 in einer abschließenden Erklärung noch einmal darauf hingewiesen, daß es sich bei dem Verein „Donum Vitae“ um eine Vereinigung außerhalb der katholischen Kirche handelt. Siehe Erklärung der deutschen Bischöfe zu Donum Vitae e.V., Kirchliches Amtsblatt für das Bistum Dresden-Meißen 2006, 78 f. 40 Im Herbst 2006 ist der Konflikt zwischen deutschem Laienkatholizismus und Amtskirche wieder aufgelebt, weil in einem Schreiben der Glaubenskongregation verlangt wurde, daß sich Katholiken nicht nur aus der Leitung des Vereins „Donum Vitae“ fernhalten sollten, sondern auf jegliche Unterstützung dieses Vereins zu verzichten hätten. Dies führte zu nicht unheftigen Diskussionen. Im Februar 2007 ist das Problem durch ein Schreiben des Präfekten der Glaubenskongregation an den Vorsitzenden der Freisinger Bischofskonferenz erneut auf die Tagesordnung gesetzt worden, weil der Freistaat Bayern und große Teile der CSU den Verein „Donum Vitae“ ideell sowie finanziell unterstützen und es in diesem Bundesland eine starke personelle Verflechtung des Vereins und kirchlichen Gremien gibt. Vgl. D. Deckers, Geschenk des Lebens: Der Verein ‚Donum Vitae‘ bleibt ein Streitthema in der katholischen Kirche, FAZ – Nr. 68 – 21. März 2007, S. 10. 41 H. Hürten, Zukunftsperspektiven kirchlicher Zeitgeschichtsforschung, in: von Hehl/Repgen (Fn. 28), 97 (99). 42 Über den engen territorialen Untersuchungsgegenstand hinaus aufschlußreich dazu die grundlegende und umfassende Studie von C. Kösters, Katholische Verbände und moderne Gesellschaft: Organisationsgeschichte und Vereinskultur im Bistum Münster 1918–1945, 1995. Das katholische Vereinswesen war Kern und Fixpunkt des Katholizismus. Das katholische Milieu kennzeichnete eine sehr hohe Organisationsdichte, wobei es – wohl – in der Tendenz ein Land-Stadt-Gefälle gab und die Städte nicht den hohen Organisationsgrad aufwiesen, wie er auf dem Land verbreitet war.

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Vereine dienten einerseits der Milieustabilisierung einer konfessionellen Teilkultur und sind demnach ein Beleg für den Katholizismus als Abgrenzungsphänomen43, andererseits begegnete die „Vereinsmeierei“ frühzeitig kirchlichen Bedenken und wird auch als ein Ansatzpunkt für eine „schleichende Säkularisierung“ betrachtet44. Als Abgrenzungsphänomen ist die Ausprägung und Formierung des Katholizismus einer spezifischen konfessionellen Minderheitensituation geschuldet. Der Außendruck auf die Katholiken in dem weitgehend protestantischen gesellschaftlichen Umfeld des Deutschen Reichs verstärkte im 19. Jahrhundert die Bereitschaft, in konfessionellen Milieus zu verharren und sich daneben zu neuen, religiös-orientierten Gemeinschaftsformen zusammenzufinden, um die Identifikation mit der Konfession sicherzustellen45 und auch öffentliche Präsenz zu signalisieren. Die katholischen Verbände waren überwiegend nach sozialen Merkmalen organisiert und intendierten eine Deckungsgleichheit von Konfession und sozialer Lage46. Der Soziologe Kaufmann beschreibt den Katholizismus als eine Art konfessioneller Teilkultur47. Katholische Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge standen aber nicht wie ein Block neben der kirchlichen Hierarchie. Auf lange Sicht – insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg – ist ein weitreichender Verkirchlichungsprozeß des Katholizismus in Deutschland eingetreten48. Die deutschen Bischöfe wollten zunehmend die katholischen Organisationen näher an sich und damit an amtskirchliche Strukturen binden. Der Katholizismus sollte von der Peripherie wieder ins kirchliche Zentrum gelangen, die Gruppen und Verbände sollten aus der Informalität in die Formalität der kirchlichen Ordnung geführt werden. Die ursprünglichen freien Laieninitiativen wurden deshalb zunehmend in das kirchliche Ordnungsgefüge integriert. Der Katholizismus ist gleichwohl nicht rückstandslos verkirchlicht worden, sondern es haben sich neue Bewegungen herausgebildet, zu denen der Bochumer Historiker Damberg die sozial-karitativen Initiativen ebenso zählt wie kirchliche Friedensbewegungen in den 1980er Jahren oder etwa das Engagement von Katholiken bei anderen Parteien als den „C-Parteien“49. Der Katholizismus hat sich erneut gewandelt, indem sich neue Phänomene herausbildeten und entwickeln, die nicht unbedingt amtskirchlich approbiert sind. Der genannte Verein „Donum Vitae“ ist ein besonders signifikantes Beispiel hierfür. Der Soziologe Michael N. Ebertz diagnostiziert aktuell sechs Hauptströmungen des deutschen Katholizismus: katholischer Parochialismus, katholischer Erneuerungsaktivismus, katholischer Fundamentalismus, spiritueller Katholizismus, gesellschaftspolitischer Katholizismus und privatisierter Kulturkatholizismus50. 43 44 45 46

Zu diesem Aspekt näher Kaufmann (Fn. 29), 70 ff. Ziemann (Fn. 28), 407. Dazu und zum Folgenden Kaufmann (Fn. 29), 72 f. Hierbei darf sich der Blick nicht auf die Arbeiter- und Gesellenvereine verengen, da sie nicht den Großteil des katholischen Vereinsnetzes ausmachten. Vgl. Ziemann (Fn. 28), 406 f. m.w.N. Später wurde das Konzept einer berufsständischen Gesellschaft von Gustav Gundlach konzipiert. 47 Bemerkenswert zur Selbstorganisation des Katholizismus als Teil der „Zivilgesellschaft“ der programmatische Aufsatz von C. Kösters/A. Liedhegener/W. Tischer, Religion, Politik und Demokratie: Deutscher Katholizismus und Bürgergesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, i.E. 48 So die nachhaltige These des Historikers Hürten (Fn. 41), 97 ff. 49 W. Damberg, Katholizismus und pluralistische Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hummel (Fn. 28), 115 (126 f.). 50 Dazu und zum Folgenden M. N. Ebertz, Transformation und Pluralisierung des Katholizismus.

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Nicht zu übersehen ist auch, daß das für den Katholizismus so typische Vereinsund Verbandswesen nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Krise geraten ist. Die Krise beschränkte sich aber nicht nur darauf, sondern ging wesentlich weiter: Infolge der Vertreibungen kam es nach 1945 zu nachhaltigen Änderungen der konfessionellen Landkarte in Deutschland51. Dies führte zu einer weitgehenden und tiefen Fragmentierung und Aushöhlung des katholischen Sozialmilieus52. Schon frühzeitig konstatierte Otto. B. Roegele, daß der deutsche Katholizismus nach 1945 „Abschied vom Milieu“53 genommen habe, sich in seinem religiösen Erscheinungsbild „Fassadenhaftes“ zeige und deshalb nach Wegen zu suchen sei, das Katholische neu zu beleben und die katholischen Laien neu zu aktivieren. Mit dem Milieukatholizismus war eine „Einigelung“ der Gläubigen verbunden, die zugunsten neuer, im Alltag abzulegender Zeugnisse in Handeln und Wort überwunden werden sollte54. 2. Katholizismus, Katholiken und Kirche – ekklesiologische Hinweise Den Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus beschreibt der evangelische Theologe Schleiermacher im 19. Jahrhundert dahingehend, daß für den Protestanten sein Verhältnis zur Kirche abhängig sei von seinem Verhältnis zu Christus, für den Katholiken umgekehrt sein Verhältnis zu Christus abhängig von seinem Verhältnis zur Kirche55. Was ist das nur: die katholische Kirche56? War über lange Zeit die Definition Robert Bellarmins maßgeblich, die die Kirche von ihrem sichtbaren Wesen und ihrer hierarchischen Verfaßtheit her definierte57, so ist es durch das Zweite Vatikanische Konzil vor allem durch die Konzilskonstitution Lumen gentium zu einer ekklesiologischen Neujustierung gekommen58, die sich stark theologischen Bildbegriffen wie Volk Gottes oder Leib Christi verbunden weiß. Das Konzil wollte sowohl die übermäßige Betonung der Hierarchie als auch die Trennung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche überwinden. Aus verschiedenen Perspektiven wird die Kirche trinitarisch, sakramental59, universal, heilgeschichtlich, missionarisch und marianisch

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Anmerkungen und Thesen aus soziologischer Perspektive, in: Hummel (Fn. 28), 151 (156 ff. m.w.N.). Vgl. B. Ziemann, Auf der Suche nach der Wirklichkeit: Soziographie und soziale Schichtung im deutschen Katholizismus 1945–1970, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), 409 (415). Ziemann (Fn. 51), 429. So der Titel der Studie von W. Damberg, Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945–1980, 1997. Ziemann (Fn. 51), 417. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, Berlin 1960, 137. Ausführlich zu all den Fragen katholischer Ekklesiologie z.B. M. Kehl, Die Kirche, 3. Aufl. 1994; G. L. Müller, Katholische Dogmatik, 2. Aufl. 1996, 570 ff. „Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, die durch das Bekenntnis des selbigen Glaubens, durch die Teilnahme an denselben Sakramenten vereinigt sind unter der Leitung der rechtmäßigen Hirten und besonders des einen Stellvertreters Christi auf Erden, des römischen Papstes“ (Controv. 4,3,2), zitiert nach Müller (Fn. 56), 609. Neben Müller (Fn. 56) siehe auch J. Kardinal Ratzinger, Die Ekklesiologie der Konstitution Lumen gentium, in: ders., Weggemeinschaft des Glaubens: Kirche als Communio, 2002, 107 ff. „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen Gentium, 1). Zu den Wesensmerkmalen der Kirche als „Wurzelsakrament“ näher Müller (Fn. 56), 573 f.

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beschrieben. Die Neuakzentuierungen münden sämtlich in dem Topos von der Kirche als Communio, der als Schlüsselbegriff und Leitmotiv der konziliaren Kirchenvorstellung fungiert und eine Abkehr von dem eher „pyramidalen Kirchenaufbau“ bedeutet60 und etwa auf der außerordentlichen Bischofsynode 1985 als Grundbegriff besonders hervorgehoben wurde61: „Kirche wird vielmehr verstanden als die von Gott geschaffene Communio aller Menschen in der gemeinsamen Teilhabe am Glauben sowie an den Heilsmitteln und Heilsdiensten. Wegen der gemeinsamen Verwirklichung der kirchlichen Sendung von Priestern und Laien und in der Zuordnung der bischöflich verfaßten Ortskirchen zur Universalkirche erscheint die communio als das neue Paradigma der Ekklesiologie (Communio-Ekklesiologie)“62. Das besondere Weihepriestertum, das vorkonziliar ausschlaggebend war, wird durch das allgemeine bzw. gemeinsame Priestertum ergänzt, so daß die Laien (Mit-) Träger der sakramentalen Sendung der Kirche sind63, selbst wenn die kirchliche Hierarchie nach wie vor mitbestimmend für die Wesensverfassung der Kirche ist. „So stellt sich die Kirche in Gestalt von Subjekten dar, die zur communio werden. Die irdische und gesellschaftliche Seite der Kirche gilt als Teil ihrer Communio-Struktur, so daß die Mehrheit der Konzilsväter darauf bedacht war, die gesellschaftliche und rechtliche Komponente der Communio-Ekklesiologie nicht isoliert auszugrenzen. Vielmehr macht gerade LG 8 deutlich, daß es ihnen darauf ankam, daß die sichtbare, hierarchisch gegliederte und die geistliche, mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche nicht wie voneinander getrennte Größen sind, sondern die una realitas complexa, die aus göttlichem und menschlichem Element zusammenwächst“64. Die komplexe Realität der Kirche spiegelt sich in vielen Fragen. Sie reichen von der Frage nach der „Vorrangigkeit der universalen Kirche vor den Teilkirchen“65 bis hin zu den theologisch und kirchenrechlichen Aspekten der Kirchenmitgliedschaft66. III. Pragmatisches Begriffsverständnis für den Untersuchungszusammenhang Einem Diktum Oswald von Nell-Breunings zufolge sind es die Katholiken, die den Katholizismus konstituieren und weniger die Kirche67. Gleichwohl wird das Phänomen Katholizismus sich nicht gänzlich in subjektiv-individueller Tendenz auflösen lassen. Es ist über die einzelnen Getauften immer vermittelt und institutionell rückgekoppelt an das Muttergemeinwesen Kirche, ohne das es einen Katholizismus gar 60 Statt vieler I. Riedel-Spangenberger, Die Communio als Strukturprinzip der Kirche und ihre Rezeption im CIC/1983, TrThZ 97 (1988), 217 (228 m.w.N.). 61 Vgl. Ratzinger (Fn. 58), 112 ff. 62 Müller (Fn. 56), 579. 63 Vgl. Lumen Gentium 30–38. Siehe auch Müller (Fn. 56), 616 f. 64 Riedel-Spangenberger (Fn. 60), 228. 65 Siehe dazu die Kontroverse zwischen dem damaligen Bischof von Rottenburg-Stuttgart Walter Kasper und dem Präfekten der Glaubenskongregation Kardinal Ratzinger zum Verhältnis von Gesamt- und Teilkirche. Zur Vorrangigkeit schreibt der heutige Papst damals: „Nicht eine Ortsgemeinde erweitert sich langsam, sondern der Sauerteig ist immer dem Ganzen zugeordnet und trägt daher Universalität vom ersten Augenblick an sich“. Ratzinger (Fn. 58), 119. 66 H. Pree/H. J. F. Reinhardt, Artikel ‚Kirchengliedschaft’, in: LThK 3VI (1996), Sp. 11 ff. 67 O. von Nell-Breuning, Katholizismus, in: K. Gabriel/F.-X. Kaufmann (Hrsg.), Zur Soziologie des Katholizismus, 1980, 24 (25).

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nicht geben könnte. Die Spannungen zwischen „Katholizität“ und Kirchlichkeit und Kirche liegen in der Mehrdimensionalität des Katholizismus und des Katholischen. Es ist vielleicht mehr als eine Verlegenheitslösung, wenn der Tübinger Theologe Karl Adam in einem lange Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts vor dem Konzil sehr verbreiteten Buch das Wesen des Katholizismus als „complexio oppositorum“ bezeichnet68. Die Spannung und das Ausgespanntsein zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Personen und Gemeinschaft, zwischen geistlich und weltlich, geht über eine dialektische Determination auf Synthese hinaus. In ihr liegt immer Aufgabe und Aufgegebenes, das auf Vermittlung hin angelegt ist. Auch der Einzelne muß sich dem Anruf Gottes stellen und in seinem Leben seine je eigene Antwort darauf finden, er ist dabei nicht auf sich allein gestellt. Um das berühmte Werk des französischen Theologen Henri de Lubac heranzuziehen: Katholizismus ist immer Katholizismus als Gemeinschaft. Im Anschluß an die Religionssoziologen Michael N. Ebertz und Karl Gabriel läßt sich Katholizismus als problem- bzw. konfliktbezogener Relationsbegriff kennzeichnen, der die Auseinandersetzung zwischen der katholischen Tradition einerseits und der Entwicklung in der Gesellschaft andererseits in den Blick nimmt und danach Ausschau hält, wie sich die Katholische Kirche und die katholische Bevölkerung bei der Herausbildung und dem Wandel moderner Gesellschaftsformen69 selbst organisieren. Der Such- und Fragehorizont sollte sich nicht introvertiert auf reine Selbstorganisation und Binnenperspektivisches beschränken, sondern wäre gleichsam wieder von innen nach außen zu richten: wie versucht der Katholizismus nach außen, in die Gesellschaft oder den Staat hinein zu wirken, selbst (rechts-) politische Gestaltungskraft wahrzunehmen. Es ist hierbei offensichtlich, daß „der Katholizismus“ weniger ein monolithischer Block denn eine (mehr oder minder) stark differenzierte Erscheinung ist, in der es ein Miteinander genauso wie Nebeneinander, aber auch ein Gegeneinander geben kann. Die Spannung ist nicht aufzulösen, sie kann nur in des Wortes mehrfacher Bedeutung aufgehoben werden. C. KATHOLIZISMUS

UND

RECHTSORDNUNG:

KIRCHENRECHTLICH UND NACH

INNEN BETRACHTET

I. Die Frage und das Problem Das Thema Katholizismus und Rechtsordnung würde verkürzt, wenn es sich auf die Perspektive Kirche und Staat beschränkte. Die Kirche muß sich nicht nur mit dem Recht der staatlichen Umwelt auseinandersetzen. Vielmehr stellt sich auch die Frage nach dem Grund der kircheneigenen Rechtsordnung70. Verfassungsrechtlich ist die 68 „Ja, der Katholizismus ist eine Verbindung von Gegensätzen.“ K. Adam, Das Wesen des Katholizismus, 13. Aufl. 1957 (1. Aufl. 1924), 12 f. 69 Es ließe sich ergänzen: Staatsformen. 70 Die Anzahl der Publikationen, die sich etwa um eine rechtstheologische Fundierung bemühen, ist seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in die Höhe geschnellt. Pars pro toto seien hier nur genannt. E. Corecco, Theologie des Kirchenrechts: Methodologische Ansätze, 1980 (Canonistica – Beiträge zum Kirchenrecht, Bd. 4); die grundlegenden Aufsätze des verstorbenen Bischofs von Luzern sind abgedruckt in: Corecco, Ordinatio Fidei: Schriften zum kanonischen Recht, hrsg. von L. Gerosa und

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kirchliche Befugnis zur Schaffung einer eigenen Rechtsordnung durch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG i.V.m. 137 Abs. 3 WRV verbürgt. Hier kann man sich allenfalls darüber streiten, ob diese Befugnis staatlicherseits rechtsbegründend zur Verfügung gestellt wird oder der Staat eine vorgefundene kircheneigene Regelungsmacht im Rahmen der für alle geltenden Gesetze anerkennt und garantiert71. Die Frage nach Grund und Grenzen des katholischen Kirchenrechts setzt aber fundamentaler an. Gerade der kirchlichen Rechtsordnung wird mit heftigem Widerspruch begegnet, weniger engagiert begegnet man ihr mit Gleichgültigkeit und häufig mit gediegener Unkenntnis. Verbreitet ist der antikirchenrechtliche Affekt, der mit dem antiinstitutionellen zusammenfällt. In den 1970er Jahren markierte den Widerspruch das Wort „Jesus ja – Kirche nein“. Das Kirchenrecht wird für die eigentliche christliche Botschaft als unerheblich, vielleicht sogar als hinderlich angesehen. Was als Ordnung der äußeren, um nicht zu sagen weltlichen Zusammenhänge der Kirche gerade noch toleriert wird, soll innerlich hohl und bedeutungslos sein. Mit solch untheologischen und unreligiösen Ordnungsansprüchen will die Gemeinschaft der Gläubigen in ihrem Glaubensleben nicht tangiert werden. Unter Verwendung von protestantisch-theologischen Ansätzen werden Widersprüche konstruiert und Frontstellungen aufgebaut: Gesetz gegen Evangelium, sichtbare Kirche des Rechts gegen unsichtbare geistige Kirche, ecclesia iuris gegen ecclesia caritatis72. Das Recht wird in der Kirche als paradox und ihrem spirituellen Wesen fremd empfunden73. Ende des 19. Jahrhunderts hat der evangelische Rechtsgelehrte Rudolph Sohm festgehalten, daß das Wesen der Kirche geistlich und das Wesen des Rechts weltlich sei, und daraus die Schlußfolgerung gezogen: „Das Wesen des Kirchenrechts steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch“74. Sohms These blieb seitdem Widerlager und Herausforderung für die Frage nach dem Grund einer kircheneigenen Rechtsordnung75.

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L. Müller, 1994. Die Aufsätze des Madrider Kardinals A. M. Rouco Varela finden sich in dem Sammelband: Schriften zur Theologie des Kirchenrechts und zur Kirchenverfassung, hrsg. von W. Aymans u.a., 2000. Bemerkenswert der Dialog der beiden Kirchenrechtler Rouco Varela und Corecco: Sakrament und Recht – Antinomie in der Kirche, hrsg. von L. Gerosa und L. Müller, Paderborn 1998 (zuerst ital. 1971). Aus fundamentaltheologischer Sicht der akademische Lehrer Papst Benedikts XVI. G. Söhngen – zu ihm und darüber hinaus jetzt Grundlegendes bei M. Graulich, Unterwegs zu einer Theologie des Kirchenrechts: Die Grundlegung des Rechts bei Gottlieb Söhngen (1892–1971) und die Konzepte der neueren Kirchenrechtswissenschaft, 2006. Siehe auch P. Krämer, Warum und wozu kirchliches Recht? Zum Stand der Grundlagendiskussion in der katholischen Kirchenrechtswissenschaft, 1979 (Canonistica – Beiträge zum Kirchenrecht, Bd. 3); ders., Kirchenrecht I: Wort – Sakrament – Charisma, 1992, insbes. 15 ff. Ludger Müller, Kirchenrecht – analoges Recht? Über den Rechtscharakter der kirchlichen Rechtsordnung, 1991 (Dissertationen, Kanonistische Reihe, Bd. 6). Als Lehrbuch sehr stark rechtstheologisch orientiert L. Gerosa, Das Recht der Kirche, 1995. Aus der Feder des Primas von Ungarn: P. Kardinal Erdö, Theologie des kanonischen Rechts: Ein systematisch-historischer Versuch, 1999. Zum Problem von Gewährleistung und Garantie in diesem Zusammenhang siehe S. Magen, Religionsfreiheit und Körperschaftsstatus: Zur Bedeutung des Art. 137 Abs. 5 WRV im Kontext des Grundgesetzes, 2004, 111. Ferner S. Muckel, Rezension, in: De Processibus Matriomonalibus 12 (2005), 405 (407). Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 14, 16. Siehe auch P. Krämer, Katholische Versuche einer theologischen Begründung des Kirchenrechts, in: Theologische Berichte XV: Die Kirche und ihr Recht, 1986, 11 (11 f.). Zu dieser gefühlten Ambivalenz der Rechtserfahrung näher Gerosa (Fn. 70), 19 f. R. Sohm, Kirchenrecht: Erster Band: Die geschichtlichen Grundlagen, 1892 (Neudruck 1970), 700. So konstatierte der Nestor der Münchener kanonistischen Schule Klaus Mörsdorf hinsichtlich

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II. Geschichtliche Entwicklungsstufen im Überblick Die Frage nach der Existenzberechtigung einer kirchlichen Rechtsordnung ist retrospektiv genuin eine neuzeitliche Frage. Auf den ersten Entwicklungsstufen des Kanonischen Rechts stand die Grundlagenproblematik weniger im Vordergrund. Zuerst ging es um die Herausbildung und Konsolidierung als rechtlich faßbare und verfaßte Ordnung. Grundsätzlich werden drei bzw. vier Entwicklungsphasen bei der Herausbildung der kirchlichen Rechtsordnung unterschieden76. 1. Die vorgratianische Phase des ius vetus Die Urkirche dürfte in den ersten Jahrhunderten kaum über „reine Rechtsquellen“ verfügt haben77. Gleichwohl war sie nicht rechtlos, da die Heilige Schrift als Rechtserkenntnisquelle und Quelle der für die frühe Kirche geltenden Ordnung fungierte78. Es wäre zu einseitig, den Rechtsentwicklungsprozeß in der Kirche lediglich als einen Verrechtlichungsprozeß einer ursprünglich charismatischen Kirche zu deuten, die weniger Rechtsgemeinschaft denn „anarchische Liebesgemeinschaft“79 war und sein sollte. Der Kirchenrechtler Ludger Müller weist auf den fundamentalen Zusammenhang zwischen dem Ursprung der Kirche und dem Glaubensleben der frühen Christen hin. Die ersten Synoden und Konzilien trafen Regelungen, die einerseits theologische, d.h. dogmatische Entscheidungen trafen und andererseits auch disziplinäre Urteile fällten und Handlungsmaßstäbe aufstellten80, ohne ein Normensystem zu schaffen81. Corecco und Gerosa charakterisieren diese Entwicklungsphase als eine Etappe fragmentarischer Gesetzesproduktion, die oft nicht gesamtkirchlich anerkannt wurde82. Die ersten Wurzeln kirchlicher Rechtsordnung in den Kanones oder Dekretalen der ersten Jahrhunderte hatten in ihrem Bezug auf die Theologie der Kirchenväter eher weisheitlichen Charakter und zielten darauf ab, „die konkreten Probleme der Kirche zu lösen, ohne den Anspruch zu erheben, Ausdruck eines organischen, begrifflich durchgebildeten Systems zu sein“83. Die ersten Entwicklungsschritte des Kirchenrechts erfolgten in der Praxis und aus der Praxis heraus, ohne daß ihre

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Rudolph Sohm: „[…] der von den Fachgenossen oft tot Gesagte und tot Geglaubte hat der Kirchenrechtswissenschaft einen Stachel eingepflanzt, der sie nicht zur Ruhe kommen läßt“. K. Mörsdorf, Altkanonisches ‚Sakramentsrecht‘? Eine Auseinandersetzung mit den Anschauungen Rudolph Sohms über die inneren Grundlagen des Drecretum Gratiani, in: ders., Schriften zum kanonischen Recht, hrsg. von W. Aymans u.a, 1989, 3 (6). Siehe auch Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 15 ff. Statt vieler siehe nur Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht: Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. I, 1991, 57 ff. Zur Periodisierung siehe auch Müller (Fn. 70), 1 f. m.w.N. Vgl. H.-E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte: Die katholische Kirche, 4. Aufl. 1964, 32. Näher Ludger Müller, Das kanonische Recht zu Beginn des dritten Jahrtausends, in: AfkKR 170 (2000), 353 (354 m.w.N.). Topos bei G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, 289. Müller (Fn. 78), 355. Vgl. Erdö (Fn. 70), 42. Gerosa, Einführung, in: Erdö (Fn. 70), 9 (10); E. Corecco, Erwägungen zum Problem der Grundrechte des Christen in Kirche und Gesellschaft, in: ders., Ordinatio fidei (Fn. 70), 161 (164). Corecco, ebda.

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Fundamente näher reflektiert worden wären. Eine eigenständige Wissenschaft oder theologische Disziplin existierte in dieser Phase noch nicht. Es war eine Periode der Vorbereitung84. 2. Die Phase des klassischen Kanonischen Rechts (ius novum) Dies änderte sich erst in der Periode der klassischen Kanonistik. In ihr endete die „Ungeschiedenheit des Lebens“ der jungen Kirche und es kam zu wegweisenden Ausdifferenzierungsprozessen. Die wissenschaftliche Arbeit der Kanonisten trennte sich von denen der dogmatischen Theologen und emanzipierte sich als erste unter den theologischen Disziplinen zu einer selbständigen Wissenschaft85. Verbunden ist dieser Wissenschaftssprung mit Gratian, dessen Kompendium das Kirchenrecht des ersten Jahrtausends systematisierend zusammenstellte. Das Decretum Gratiani (um 1140) blieb – ergänzt und verändert durch päpstliches Recht (Dekretalen) – als erster Teil des Corpus Iuris Canonici bis 1917 die Textquelle des kirchlichen Rechts86. Die begrifflich-systematische Konzeption des Kanonischen Rechts, die die grundsätzliche Widerspruchsfreiheit der verstreuten kirchlichen Rechtsquellen nachzuweisen suchte, besaß das Potential und die Intention, zusammen mit dem Römischen Recht die rechtliche Fundamentalordnung mitzugestalten87. Beide konstituierten das ius commune der res publica christiana. Als allgemeines Recht war das Kanonische Recht in der Lage, unterschiedslos kirchliche und weltliche Rechtsbeziehungen zu ordnen88. Dies konnte es, weil es zu einer Distanz zwischen Glaube und kanonischem Recht gekommen war89. Das kanonische Recht war – wie die scholastische Philosophie insgesamt – nicht in der Lage, einen kirchlichen Eigencharakter adäquat abzubilden und damit das kirchliche Mysterium zu vermitteln90. Die wissenschaftlich-systematische Hochphase des klassischen ius novum dauerte nur gut zwei Jahrhunderte. Ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts91 verflachte das Niveau rapide und degenerierte letztlich zu einer Gebrauchsliteratur für Beichtväter. Zwischen Moraltheologie und kanonischem Recht kam es zu einer immer tieferen Verquickung92, die teilweise bis

84 Aymans/Mörsdorf (Fn. 76), 58. 85 Gerosa (Fn. 82), 9. 86 Zur Dekretistik bzw. Dekretalistik und deren methodischem Vorgehen siehe nur Aymans/Mörsdorf (Fn. 76), 58 f. 87 Der Kirchenrechtler Corecco umschreibt das Phänomen folgendermaßen: „Das kanonische Recht hat die Autorität eines gemeinen Rechts, das kirchliche und weltliche Rechtsbeziehungen ordnet. Es ist nicht der Inhalt, der die beiden Wissenschaften unterscheidet, sondern ihre je eigene Rechtsquelle. Das kanonische Recht erscheint konsequenterweise als Zweig einer universalen Rechtsordnung, die, ausgehend von ein und demselben formalen Rechtsbegriff – den die scholastische Philosophie erarbeitet hat –, imstande ist, eine Antwort zu geben auf jedwedes Problem der materiellen Gerechtigkeit, kirchlicher oder weltlicher Natur“. So Corecco (Fn. 82), 165. 88 Gerosa (Fn. 82), 11. 89 Müller (Fn. 78), 356. 90 Vgl. Gerosa (Fn. 82), 12; Corecco (Fn. 82), 165. 91 Zu der Periode der nachklassischen Kanonistik (1350–1550) siehe nur Aymans/Mörsdorf (Fn. 76), 59. 92 Gerosa (Fn. 82), 13.

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heute fortwirkt und deren Vermengung von Recht und Moral als „verhängnisvoll“ beschrieben wird93. 3. Longue durée des nachtridentinischen Kirchenrechts a) Erste Phase: Konfessionalisierung und Konsolidierung Erst das Zeitalter der Konfessionalisierung konnte sich langsam der Frage nach dem Existenzgrund des Kirchenrechts nähern, weil es zu einer Auflösung der mittelalterlichen Einheitswelt führte und die Ausbildung der unterschiedlichen Konfessionen auch die Differenz zwischen geistlich-weltlich verschärfte. Signifikant für diesen Umstand ist, daß Martin Luther am 10. Dezember 1520 mit der Bannandrohungsbulle die Rechtssammlung des Corpus Iuris Canonici öffentlich verbrannte und die lutherische Ekklesiologie die verborgene Kirche (ecclesia abscondita) gegen die sichtbare Kirche (ecclesia manifesta) ausspielte94. Dem katholischen Ruf „Kirche! Kirche!“ stellten die Anhänger der Reformation den Ruf „Evangelium! Evangelium!“ entgegen95. Ein gemeinrechtlicher Regelungsanspruch des katholischen Kirchenrechts über das gesamte Rechtsleben wurde dadurch unterminiert, seine Mutation in ein vorrangig konfessionelles Recht und damit ausschließliches Recht der katholischen Kirche vorgezeichnet96. Gleichzeitig wurde das Kirchenrecht als Recht der Kirche theologisch angezweifelt97. Das Konzil von Trient trug nicht nur für eine theologische Konsolidierung Sorge, sondern setzte auch beim Kirchenrecht und der Kirchenrechtswissenschaft eine Entwicklung in Gang, die sich insbesondere den historisch-genetischen Zusammenhängen und Systematisierungsfragen widmete, ohne aber eine wirkliche Suche nach Grund und Grenzen kirchlicher Rechtsordnung zu initiieren98. Kirchenrechtlich kam es deshalb nur zu einer nicht das Wesen der Kirche erfassenden rechtlichen Konsolidierung. Zwar war die Konsolidierungstendenz inhaltlich-material nicht völlig abstinent, so flankierte Francisco de Suárez sie mit der Fragestellung nach der spezifischen Identität des katholischen Kirchenrechts gegenüber dem weltlichen Recht, doch blieb sie letztlich eine hinreichende Antwort schuldig99.

93 Aymans/Mörsdorf (Fn. 76), 59. 94 Vgl. Krämer (Fn. 72), 12. 95 So Y. Congar, Die Lehre von der Kirche: Vom Abendländischen Schisma bis zur Gegenwart, in: Schmaus u.a. (Hrsg.), Handbuch der Dogmengeschichte, Faszikel 3 d (1971), 40. 96 Siehe Müller (Fn. 78), 357. 97 Nicht nur das katholische Kirchenrecht wurde durch die Reformation unter Rechtfertigungsdruck gesetzt. Luthers Anfrage an das Phänomen kirchliches Recht sorgt bis heute für Schwierigkeiten bei der Begründung des evangelischen Kirchenrechts. Zur Grundlagendiskussion und den unterschiedlichen Ansätzen in der protestantischen Kirchenrechtswissenschaft siehe nur K. Schlaich, Die Grundlagendiskussion zum evangelischen Kirchenrecht, Pastoraltheologie 72 (1983), 240 ff. 98 Vgl. zu dieser Periode der neuklassischen Kanonistik (16. Jahrhundert bis 1917) nur Aymans/ Mörsdorf (Fn. 76), 59 f. 99 Corecco (Fn. 82), 165.

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b) Zweite Phase: Begründung und Verteidigung kirchlicher Eigenrechtsmacht durch das Ius Publicum Ecclesiasticum aa) Kirchenrechtliche Novation durch die Vertreter der Würzburger Schule Die Theorien über den modernen säkularen Staat als einzigen Souverän innerhalb seines Territoriums und Träger aller Rechtsmacht hätten zur Folge gehabt, daß die katholische Kirche unter vollständiger staatlicher Kuratel gestanden hätte und kirchliches Recht nur noch als staatliches Recht zu verstehen gewesen wäre, wenn nicht eine wissenschaftliche Gegenposition dieser Entwicklung zumindest einen theoretischen Kontrapunkt entgegengesetzt hätte. Die kirchenrechtliche Herausforderung bestand in doppelter Hinsicht: Einerseits mußte den staatlichen Herrschaftsansprüchen ein kirchenrechtliches Konzept entgegengestellt werden, das Sichtbarkeit und Eigenständigkeit der katholischen Kirche hervorhob und begründete; andererseits mußte das Konzept den – aus katholischer Sicht –Versuchungen der protestantischen Kollegialtheorie widerstehen, die den Ursprung der Kirche auf einen freiwilligen Vertrag von Gleichberechtigten zurückführte. Diese doppelte Apologie war die Stoßrichtung des Ius Publicum Ecclesiasticum. Um die Kirche nicht als freiwilligen Zusammenschluß von Gleichen (societas aequalis) definieren zu müssen, qualifizierten die Vertreter des Ius Publicum Ecclesiasticum die Kirche als eine notwendige Gemeinschaft, die auch ohne Territorium über alle souveränen Rechte und Allzuständigkeiten verfügt, die zur Erreichung ihres Zieles – des ewigen Heils ihrer Glieder – erforderlich sind. Insofern sei die Kirche „societas perfecta“100. Damit knüpft die Würzburger Schule an ein philosophisch-naturrechtliches Konzept an, das letztlich seinen Fluchtpunkt für die Begründung des Kirchenrechts in der Sentenz findet: ubi societas, ibi ius. Eine wenig theologische Begründung für die Existenz kirchlichen Rechts. Primärer apologetischer Zweck des Ius Publicum Ecclesiasticum war es, der katholischen Kirche im säkularisierten Umfeld des neuzeitlichen Staats ein „Bürgerrecht als vollkommene Gesellschaft“ zu verschaffen und zu gewährleisten101. Die rechtstheologische Crux des Ius Publicum Ecclesiasticum in dieser Form liegt darin, daß er Kirche und Kirchenrecht nur nach dem Modell und als Parallele zur Verfassungsstruktur des Staates darstellen und denken konnte. Gleichwohl ist das Konzept des Ius Publicum Ecclesiasticum ein Novum, weil es half, die Kirche als societas und Gegenüber des Staates theoretisch und methodisch zu konstruieren. Der theoretische Ansatz war ein Durchbruch zur wissenschaftlichen Aufarbeitung von Grundfragen.

100 Vgl. zur Herkunft des Konzepts grundlegend J. Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, 1978, 9 ff.; ders., Aufgabe und Bedeutung der kanonischen Teildisziplin des Ius Publicum Ecclesiasticum: Die Lehre der katholischen Kirche zum Verhältnis von Kirche und Staat seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Fides et Ius: Festschrift für Georg May zum 65. Geburtstag, hrsg. von Aymans u.a., 1991, 455 (463 ff.); ferner G. Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem Codex Iuris Canonici 1983, 1993, 18 ff. Ferner etwa K. Walf, Die katholische Kirche – eine ‚societas perfecta‘?, ThQ 157 (1977), 107 ff.; P. Granfield, Aufkommen und Verschwinden des Begriffs ‚societas perfecta‘, Concilium 18 (1982), 460 ff. 101 Corecco, Theologie des Kirchenrechts (Fn. 70), 96.

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bb) Gesamtkirchliche Rezeption des Ansatzes durch die römische Kirchenrechtsschule War der Vorstoß der Würzburger Schule zuerst eine Reaktion auf die Thesen Pufendorfs, der die Kirche in Deutschland als societas aequalis einstufen wollte, die dem Staat als der einzigen societas inaequalis und seiner Oberhoheit unterfiel, so wurde der Ansatz später gesamtkirchlich rezipiert und weiter ausgebaut. Der Grundsatz „ecclesia est societas perfecta“ wurde von der römischen Kirchenrechtsschule übernommen und insbesondere unter dem Pontifikat Leo XIII (1878–1903) zur gesamtkirchlichen Lehre erhoben. Trotz gewisser Neuakzentuierungen blieb das Ius Publicum Ecclesiasticum aber weitgehend in seiner eher philosophischen, naturrechtlich verankerten „methodologischen Grundinspiration“ verfangen und war „nicht imstande, die Kirche vom Mysterium der Inkarnation des Gottessohnes oder von ihrer kerygmatisch-sakramentalen Natur aus zu definieren“102. Die apologetische und damit nach außen gerichtete Stoßrichtung des Konzepts mußte zwangsläufig die innere Dimension des Kirchenrechts aus dem Blick verlieren103. Ihr Verdienst bleibt es aber, die eigene Institutionalität und Freiheit der Kirche gegen die vielen Angriffe behauptet zu haben104. 4. Die Promulgation des CIC 1917 als Schlußstein der Kodifikationsbewegung Die Kodifikation des katholischen Kirchenrechts im Codex Iuris Canonici ließ die Frage nach der Existenzberechtigung des Kirchenrechts erst einmal in den Hintergrund treten, weil die rechtsdogmatische Verarbeitung der praktischen Fragen zwangsläufig in den Vordergrund treten mußte. Es begann die Phase einer eher gesetzespositivistischen Perspektive auf das Kirchenrecht, die Ulrich Stutz hellsichtig als „Kodizistik“105 apostrophierte und die in zahlreichen Kommentaren und Lehrbüchern zum CIC ihren Ausdruck fand. Die gesetzessystematische Erfassung des neuen Codex band weitgehend die wissenschaftlichen Energien und ließ für weitreichende Grundlagendiskussionen keinen Raum.

102 Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 34 f. Was dem Ius Publicum Ecclesiasticum fehlt, „ist die theologische Methode. Das Recht fällt mit der Norm zusammen, die aus den Erfordernissen der Gesellschaft begründet und von der mit der entsprechenden Vollmacht ausgestatteten Autorität erlassen wird. Sowohl die Ekklesiologie als auch das Recht werden auf den Begriff der Gesellschaft zurückgeführt, wie dies auch in der staatlichen Rechtsordnung der Fall ist“. So Graulich (Fn. 70), 194. Umfassend zur römischen Schule Listl, Kirche und Staat (Fn. 100), passim. 103 Siehe dazu Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 36 f. Ferner Graulich (Fn. 70), 194 ff. 104 Graulich (Fn. 70), 196. 105 U. Stutz, Der Geist des Codex iuris canonici: Eine Einführung in das auf Geheiss Papst Pius X. verfasste und von Benedikt XV. erlassene Gesetzbuch der katholischen Kirche, 1918, 169.

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III. Das Zweite Vatikanische Konzil als Wendepunkt kirchlichen Lebens und Aggiornamento des Kirchenrechts – ein neuer, ein anderer Anfang? Die Einordnung des Zweiten Vatikanums ist alles andere als eindeutig. Viele haben das Konzil als Fortschritt begrüßt und erheben seinen „Geist“ zum Maßstab aller kirchlichen Fragen. Nicht wenige stehen dem Konzil kritisch bis ablehnend gegenüber und sehen in ihm den Anfang des Verfalls. Während die einen die mangelnde Rezeption seiner Ansätze beklagen, treten die anderen für die nachhaltige Revision des „kirchengeschichtlichen Betriebsunfalls“ ein. Die nicht selten antijuridische Haltung der Konzilsväter oder mindestens ihre kirchenrechtliche Skepsis konnte und sollte nicht ohne Einfluß auf das Katholische Kirchenrecht bleiben und mündete in einer Kodexreform und dem Codex von 1983106. Wie sich CIC 1917 und CIC 1983 zueinander verhalten, ob der CIC 1983 in hinreichendem Maße konziliare Postulate einlöste oder hinter dem Konzil zurückfiel, sind viel diskutierte Fragen, über die sich ad infinitum streiten läßt107. Das intensivere Nachdenken über Grund und Grenzen des Kirchenrechts hatte bereits am Vorabend des Konzils begonnen; früh hat dies der Münchener Theologe Gottlieb Söhngen im Rahmen seiner fundamentaltheologischen Arbeiten eingefordert108, und früh ist diese Fragestellung von seinem Münchener Kollegen, dem Kanonisten Klaus Mörsdorf, eindringlich aufgenommen worden. Wenngleich dies bis heute nicht zu einem der Fundamentaltheologie109 vergleichbaren Fach „Fundamentalkanonistik“110 als Grundlagendisziplin geführt hat111, gehört heute doch das Nach- oder Vordenken der theologisch-religiösen Fundamente des Kirchenrechts zum Standard. Der Theoriebedarf der Kanonistik soll dabei weniger durch Theorieimporte aus dem Sektor der weltlichen Rechtswissenschaft – in Form der Rechtsphilosophie, Rechtstheorie oder Rechtslehre – gestillt werden. Vielmehr wird eine intradisziplinäre Fundierung und Erweiterung des Grundlagenspektrums angestrebt. Dies schließt eine grundsätzliche interdisziplinäre Offenheit für die Nachbarwissenschaft und –disziplinen des weltlichen Rechts nicht aus. Die extrinsezistische Position des Ius Publicum Ecclesiasticum als eine von außen an das Kirchenrecht herangetragene theoretische Konzeption soll aber nicht unter neuem Vorzeichen dupliziert werden. Damit wird ein Nachdenken über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Phänomen Kirchenrecht und dem weltlichen Recht nicht unterbunden, eine Implementation der rechtsphilosophischen oder rechtstheoretischen Perspektive auf das Katholische 106 Papst Johannes XXIII. hat in seiner Ansprache vom 25. Januar 1959 (AAS 51 [1959], 65 ff.) neben der Einberufung des Konzils gleichzeitig die Revision des CIC 1917 bekannt gegeben. 107 Zu den Fragen etwa K. Walf, Kanonistische Grundlagenfragen zwischen Codex und Codex, in: ET-Bulletin, 3. Jg. (1992), Heft 2, 78 ff. Oder jüngst der Sammelband: S. Demel/L. Müller (Hrsg.), Krönung oder Entwertung des Konzils? Das Verfassungsrecht der katholischen Kirche im Spiegel der Ekklesiologie des Zweiten vatikanischen Konzils, 2007. 108 Zu diesem Theologen – dem Doktor- und Habilitationsvater von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. – und dessen kirchenrechtstheologischen Überlegungen grundlegend Graulich (Fn. 70). 109 Siehe den moraltheologischen Wurf von F. Böckle, Fundamentalmoral, 6. Aufl. 1994. 110 Siehe aber die Monographie des Jesuiten R. Sebott, Fundamentalkanonistik: Grund und Grenzen des Kirchenrechts, 1993. 111 Zu deren Notwendigkeit W. Aymans, Die wissenschaftliche Methode der Kanonistik, in: ders., Kirchenrechtliche Beiträge zur Ekklesiologie, 1995, 351 (361 f.).

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Kirchenrecht ist folglich nicht ausgeschlossen112. Kirchenrechtsheorie und weltliche Rechtstheorie können in einem Dialog stehen, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Formalobjekt „Recht“ beziehen113. Bemerkenswert ist, daß das im deutschen Sprachraum als kirchenrechtliche Summa konzipierte Handbuch des katholischen Kirchenrechts gemäß dem gut katholischen Grundsatz et-et sowohl einen Abschnitt über die rechtstheologischen als auch über die rechtsphilosophischen Grundlagen des Kirchenrechts aufgenommen hat, die je wechselseitig ihre theologischen oder philosophischen Implikationen beleuchten114. Die kirchenrechtliche Grundlagendiskussion wurde nicht nur zugelassen, sondern vom Konzil und von Papst Paul VI. geradezu eingefordert115. Die kirchenrechtlichen Grundlagendiskussionen lassen sich tendenziell um die beiden Pole eines eher theologischen oder eines eher juristischen Ansatzes gruppieren. Beide Pole markieren das intradisziplinäre Methodenproblem des Verhältnisses von Rechtswissenschaft und Theologie116. Eine Theologisierung des Kirchenrechts wird keineswegs einhellig befürwortet. Dem Extrem der Enttheologisierung begegnet das andere Extrem der reinen Theologisierung117. Das Kirchenrecht scheint in der Gefahr zu stehen, wie ein Schilfrohr zwischen theologischem Spiritualismus und Gesetzespositivismus hin und her zu schwanken. In jedem Fall soll eine bloße Referenz auf den sozialphilosophischen Grundsatz ubi societas ibi ius des Ius Publicum Ecclesiasticum – weitestgehend – vermieden werden. Statt dessen soll ein komplexeres, kirchen- und theologieadäquates Rechtsbegründungsmodell generiert werden. IV. Einige Profile der Kirchenrechtsbegründung Die einzelnen wissenschaftlichen Ansätze zur Begründung des katholischen Kirchenrechts werden vorsichtig als Versuche118 charakterisiert. Es wird als Aufgabe und Herausforderung gesehen, nicht nur eine theologische Begründung für das Katholische Kirchenrecht zu liefern, sondern vielmehr darüber hinauszugehen, um zu einer The112 Siehe vor allem die Forschungen des Wiener Kanonisten L. Müller, Institutionelle Rechtslehre und kanonisches Recht, Revista Espanola de Teología 62 (2002), 307 ff.; ders. (Fn. 70). 113 Aymans (Fn. 111), 362 f. Zur Notwendigkeit eines „kritischen Dialogs“ mit der Rechtsphilosophie auch Gerosa (Fn. 70), 23 ff. 114 E. Corecco, Theologie des Kirchenrechts, in: J. Listl u.a. (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts (HdbKathKR), 1983, 12 ff.; G. Luf, Rechtsphilosophische Grundlagen des Kirchenrechts, ebda., 24 ff. In der aktuellen Auflage: P. Erdö, Theologische Grundlegung des Kirchenrechts, in: J. Listl/H. Schmitz, HdbKathKR, 21999, 20 ff.; G. Luf, Rechtsphilosophische Grundlagen des Kirchenrechts, ebda., 33 ff. 115 Näher Graulich (Fn. 70), 176 ff. Siehe auch C. Huber, Papst Paul VI. und das Kirchenrecht, 1999. 116 Dies trifft nicht nur die Wissenschaft vom Katholischen Kirchenrecht, sondern ebenso die evangelische Kirchenrechtswissenschaft. Vgl. grundlegende Überlegungen dazu bei R. Dreier, Methodenproblem der Kirchenrechtslehre, ZevKR 23 (1978), 343 ff. m.w.N. auch zur evangelischen Diskussion. Ferner C. Link, Rechtstheologische Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts, ZevKR 45 (2000), 73 ff. m.w.N. 117 Vgl. dazu und zum Folgenden S. Demel, Zwischen Rechtspositivismus und Kirchenspiritismus: eine theologische Grundlegung und Theologie des Kirchenrechts, in: dies./Müller, Krönung oder Entwertung des Konzils (Fn. 107), 17 (25); siehe auch Gerosa (Fn. 70), 23 und passim. Umfassend L. Müller, ‚Theologisierung’ des Kirchenrechts?, AfkKR 160 (1991), 441 ff. m.w.N. 118 So die vorsichtige Kennzeichnung bei Krämer, Kirchenrecht I (Fn. 70), 15.

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ologie des Kirchenrechts zu gelangen, unter der eine „durchgehend theologische Befassung mit dem Recht der Kirche“ verstanden wird119. Zwischen den beiden großen Linien einer eher theologischen und einer juristischen Orientierung des Kirchenrechts lassen sich letztlich keine garstig breiten Gräben aufreißen oder Frontstellungen aufbauen, da die unterschiedlichen Ansätze sich selten gegenseitig ausschließen120. Die unterschiedlichen Ansätze verdanken sich nicht einer strengen Schulbildung, wenngleich es bemerkenswert ist, welchen großen Einfluß der Umstand einer gemeinsamen Ausbildung etwa an dem Münchener Kanonistischen Institut besitzt. Eine Gruppe von Wissenschaftlern – nicht selten spätere kirchliche Würdenträger, etwa der Erzbischof von Madrid, Kardinal Rouco Varela, oder der Bischof von Lugano, Eugenio Corecco, – hat sich unter der Ägide von Klaus Mörsdorf zu einer Gruppe zusammengefunden, die sich mit der theologischen Grundlegung des Kirchenrechts und der Erarbeitung einer Theologie des Kirchenrechts ein gruppenspezifisches Thema zur Aufgabe gestellt hat. Ob man dies als Denkkollektiv121, wissenschaftliche Schule oder – wie Peter Kardinal Erdö – nur als „markante Tendenz“122 bezeichnet, ist im weiteren zu vernachlässigen. Andere Ansätze verdanken sich vielleicht weniger solchen institutionellen Zusammenhängen mit einem Ausbildungsort, ohne deshalb theoretisch weniger bedeutungsvoll oder wirkmächtig zu sein. 1. Die eher theologische Profilierung des Kirchenrechts a) Inkarnatorischer Ansatz Am Vorabend des Zweiten Vatikanums konzipierte der deutsche Jesuit Wilhelm Bertrams einen eigenständigen Ansatz zur theologischen Ortsbestimmung des Katholischen Kirchenrechts. Das Katholische Kirchenrecht wird mit der Inkarnation in Verbindung gebracht. Die Kirche sei die Fortsetzung der Menschwerdung Christi. Bertram will die Trennung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche, innen und außen mit seinem Ansatz überwinden, indem er beide Seiten koppelt: Die von Christus gestiftete und in seinem Opfertod am Kreuz wurzelnde Kirche ist zwar äußerlich sichtbare Gemeinschaft, sie ist aber durch übernatürliche Prinzipien geprägt123. Die Sozialnatur der Kirche verdankt sich nicht allein dem Gemeinschaftstreben des Menschen als sozialem Wesen, sondern ihr Grund und Ziel ist übernatürlich, weil ihr Ursprung nicht im Willen ihrer Mitglieder liegt, sondern in Christus als Gottes Sohn. Diese innere übernatürliche Wurzel kann aber nur in der äußeren Form verwirklicht werden, die als wahre menschliche Gemeinschaft zugleich auch rechtliche Gemeinschaft sein muß, weil es zur äußeren Struktur der rechtlichen Ordnung und Form bedarf124. Insoweit überwindet das inkarnatorische Verständnis des Kirchen119 Vgl. L. Gerosa/L. Müller, Kirche ohne Recht? Stand und Aufgaben der Kirchenrechtswissenschaft heute, 2003, 13. 120 Graulich (Fn. 70), 222. 121 Zu diesem Konzept F. Günther, Denken vom Staat her: Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004, 15 ff. 122 Erdö (Fn. 70), 53. 123 Vgl. W. Bertrams, De origine Ecclesiae, in: ders., Quaestiones fundamentales Iuris Canonici, 1969, 35 (41). 124 Vgl. Graulich (Fn. 70), 225.

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rechts nicht den sozialphilosophischen Grundsatz des ubi societas ibi ius125, obwohl Bertrams dem Katholischen Kirchenrecht eine stärkere theologische Nuancierung zu verschaffen und das Kirchenrecht vor Nachahmungen des staatlichen Rechtskreises abzuschirmen sucht. Die der Kirche durch Christus vorgegebenen übernatürlichen Ziele sollen das innerste Wesen des Kirchenrechts ausmachen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Bedingungen geschaffen werden, die es dem Menschen ermöglichen, ein religiöses Leben zu führen. Dafür müssen die Mittel bereitgestellt werden, deren die Menschen zur Gestaltung des religiösen Lebens bedürfen“126. Dazu gehört für Bertrams notwendigerweise eine kircheneigene Rechtsordnung. Diese Rechtsordnung ist der staatlichen aber nur ähnlich. Das Kirchenrecht will zwar Recht sein, ist aber hingeordnet auf die „Verwirklichung geistlicher, übernatürlicher Güter, auf die übernatürliche Bereicherung und Erfüllung des Menschen zur Ehre Gottes“127. Die Kirche als „Fortsetzung der Menschwerdung Christi“ ist einerseits den diesseitigen sozial-strukturellen Notwendigkeiten unterworfen, andererseits wirkt in ihr Christus weiter und bindet die Kirche auch in ihrem äußeren Handeln128. Das Katholische Kirchenrecht soll mittels des Inkarnationsprinzips von innen her gestaltet werden und seinen geistlichen Charakter erhalten. Bertrams versucht am Vorabend des Konzils die extrinsezistische Position des Ius Publicum Ecclesiasticum zu überwinden. Die Hauptsünde des Ius Publicum Ecclesiasticum wird in seinem „ekklesiologischen Extrinsezismus“ gesehen, weil der fundamentale Ausgangspunkt des Kirchenrechts von vornherein außerhalb des Wesens der Kirche gefunden wird129: Die Kirche kommt nur als das Gegenüber des Staates in den Blick und das Kirchenrecht wird vorrangig als Nachahmung der staatlichen Rechtsordnung bzw. der außer ihr liegenden Regelungsbedürfnisse verstanden. Trotz der Neuakzentuierung des Kirchenrechts „als metaphysische Folge des Inkarnationsprinzips“130 steht Bertram mit seinen sozialphilosophischen Grundannahmen in einer Kontinuitätslinie zum IPE und damit letztlich in der Gefahr, dem Extrinsezismus doch nicht zu entkommen131, sondern ihm sogar eine Tür offenzuhalten132. In der Denklinie Bertrams befinden sich andere inkarnatorische Konzepte des Kirchenrechts, wie etwa die Positionen von Alphons M. Stickler und Hans Heimerl, die zwar an Bertrams anknüpfen, aber auch andere Akzente setzten133. Allen inkarnatorischen Ansätzen wird entgegengehalten, daß die Verbindung zwischen 125 126 127 128

129 130 131 132 133

Siehe Krämer, Kirchenrecht I (Fn. 70), 15. W. Bertrams, Vom Sinn des Kirchenrechts, in: ders., Quaestiones (Fn. 123), 47 (49). W. Bertrams, Das Recht in theologischer Sicht, in: ders., Quaestiones (Fn. 123), 31 (31). Bertrams (Fn. 127), 56: „Das ist das Geheimnis der Kirche: Göttliches Leben, Christi Leben in der Gestalt einer wahren, menschlichen, rechtlich organisierten Gemeinschaft. Die Rechtsgemeinschaft ist Hülle und Offenbarung des inneren Lebens der Kirche, des Lebens Christi. Auch die Kirche ist Sakrament, ein heiliges Zeichen, das göttliches Leben versinnbildlicht und bewirkt. Denn die Kirche als Rechtsgemeinschaft dient ausschließlich der Offenbarung und Vermittlung des übernatürlichen Lebens“. Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 39. Gerosa (Fn. 70). Vgl. näher Graulich (Fn. 70), 228, 232 f.; siehe auch die kritische Würdigung bei Gerosa (Fn. 70), 38 f. Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 40. Siehe im einzelnen die Darstellung bei Graulich (Fn. 70), 228 ff. m.w.N. Ferner Rouco Varela/ Corecco (Fn. 70), 49 f.

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Inkarnation und gesellschaftlicher Verfaßtheit nicht zweifelsfrei den Rechtscharakter der Kirche und die Notwendigkeit einer kirchlichen Rechtsordnung begründet134. Letztlich bleibt man bei der Qualifikation der Kirche als societas stehen und reicht lediglich das theologische Movens der kirchlichen Rechtsordnung nach135. Schließlich wird in einer undifferenzierten Verwendung des Inkarnationsprinzips die Gefahr gesehen, kirchliches Recht in einem zu weitgehenden Maße zu sakralisieren, weil es als unmittelbarer Ausfluß des Gottesgeistes interpretiert werden kann. Dadurch werde die Differenzierung zwischen göttlich und menschlich unterminiert und bestehe die Gefahr einer vorschnellen Ideologisierung des Kirchenrechts. Wenngleich das Inkarnationsprinzip ein „wichtiges Datum für eine mögliche theologische Grundlegung des Kirchenrechts“ ist, so darf nicht übersehen werden, daß das Konzil mit einer Verwendung des Prinzips vorsichtig ist und sich aus ihm nicht ohne weiteres ergibt, „daß sich der Geist auch rechtlicher Strukturen bedient, um Christus und sein Heilswerk in der Geschichte gegenwärtig zu machen“136. b) Die Münchener Schule des Kanonischen Rechts aa) Der Nestor Klaus Mörsdorf: Wort und Sakrament als Fundament kirchlicher Rechtsstruktur In Auseinandersetzung mit Rudolph Sohm steht Klaus Mörsdorf137 vor der Herausforderung, „daß die Kanonistik, um den theologischen Beweis für die Daseinsberechtigung einer kirchlichen Rechtsordnung erbringen zu können, jeglichen Spiritualismus und kirchlichen Extrinsezismus sowie jede Lösung aufgrund eines Naturrechts vermeiden muß“138. Mörsdorf ist der Auffassung, daß das Kirchenrecht eine Funktion des vorausgesetzten Kirchenbegriffs und dessen theologischer Realität ist. Anders als aber Hans Barion will Mörsdorf keinen tiefen Graben zwischen Theologie und Kanonistik schaufeln, sondern die Begründung der kirchlichen Rechtsordnung mittels einer „ekklesiologischen Brücke“139 schaffen. Dafür soll das kirchliche Recht in den Elementen nachgewiesen werden, die für die Kirche konstitutiv sind. Die zwei fundamentalen Pfeiler für die Kirche und deren Rechtsordnung verortet Mörsdorf in Wort und Sakrament. „Wortverkündung und sakramentales Handeln sind zwei verschiedene Weisen der Heilsvermittlung, sie stehen aber in einer tiefgreifenden Zuordnung zueinander und begegnen sich in lebendiger Wirklichkeit, weil es der Herr selbst ist, der in beiden Weisen sein Heilswirken fortsetzt“140. Wortverkündung und sakramentalem Handeln der Kirche wohnt ein eminent rechtliches Moment inne. Rechtlichen Charakter hat das Wort/die Wortverkündigung, „weil sie in Vollmacht 134 135 136 137

Eingehend Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 50 f. So Graulich (Fn. 70), 232 f. So Krämer (Fn. 72), 16; ders., Kirchenrecht I (Fn. 70), 16. Umfassende Würdigung bei A. Cattaneo, Grundfragen des Kirchenrechts bei Klaus Mörsdorf: Synthese und Ansätze einer Wertung, Amsterdam 1991. Siehe auch A. Rudiger, Klaus Mörsdorf – bleibender Inspirator der Theologie, in: AfkKR 171 (2002), 3 ff. 138 So die prägnante Zusammenfassung bei Gerosa (Fn. 70), 41. Siehe K. Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. I, 11. Aufl., München u.a. 1964, 13. 139 Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 54. Siehe auch Gerosa (Fn. 70), 41. 140 K. Mörsdorf, Wort und Sakrament als Bauelemente der Kirchenverfassung, in: ders., Schriften zum Kanonischen Recht (Fn. 75), 46 (50).

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des Herrn geschieht“141 und mit ihr ein Geltungsanspruch verbunden ist142, der den Gehorsam der Gläubigen etwa gegenüber ihren Bischöfen einfordert. Die Wortverkündigung erschöpft sich aber nicht in der Einforderung des Gehorsams, sondern ist konstitutiv für die gemeinschaftsbildende und –erhaltende Kraft beim Aufbau der Kirche143. Eine vergleichbar verpflichtende Kraft besitzt das sakramentale Zeichen. Das sakramentale Zeichen macht die an sich unsichtbare Heilswirklichkeit Gottes erfahrbar. Als wirksames Sinnbild ist das Sakrament dem Rechtssymbol ähnlich. Wort und Sakrament sind demnach befähigt, bindende, rechtliche Anforderungen zu formulieren. „Das Verdienst Mörsdorfs (und das ist bei einem Beitrag zur Theologie des Kirchenrechts entscheidend) besteht in seiner Einsicht, daß die Kirche sich auf keine menschliche Weise ‚inkarniert‘ noch ‚inkarnieren‘ kann, sondern nur weil – und soweit – sie Gemeinschaft des Wortes und des Sakraments ist“144. Die Besonderheit des kirchlichen Rechts gegenüber dem staatlichen Recht liegt darin begründet, daß es ein ius sacrum ist. Das Kirchenrecht ist „heiliges Recht, weil es Gottes Werkzeug ist für die der Kirche aufgetragene Sendung für das Heil des Menschen. Es ist kein notwendiges Übel, das man um der kirchlichen Ordnung hinnehmen muß. Es ist nicht etwas Äußerliches oder Nebensächliches, das aus einem menschlichen Sicherheitsbedürfnis heraus zu der durch Wort und Sakrament aufgebauten Kirche hinzukommt, sondern wesentliches Element der sakramentalen Zeichenhaftigkeit der Kirche. In ihrer rechtlichen Gestalt – und nie ohne sie – ist die Kirche das von Jesus Christus aufgerichtete Zeichen des Heiles“145. Methodologisch ist das Kanonische Recht für Mörsdorf eine theologische Disziplin mit juristischer Methode146. Mörsdorfs Konzept und Methodenvorstellung erfahren durchaus kritische Anfragen. Bemerkenswert ist, daß Mörsdorf seinen kanonistischen Ansatz nie im einzelnen entfaltet und konkretisiert hat147. Fragwürdig ist bei seinem Ansatz, ob es für den formalen Geltungsanspruch ausreichend sein kann, allein auf Botschaft und den Auftrag Christi zu verweisen148. Kritisch gewürdigt wird ferner – übrigens auch von seinen Schülern – sein methodischer Ansatz, weil die Zuordnung von theologischer Disziplin und juristischer Methode zweifelhaft erscheint149.

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Mörsdorf (Fn. 138), 14. Mörsdorf (Fn. 140), 51. Mörsdorf (Fn. 140), 50. Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 54. Mörsdorf (Fn. 140), 53. Mörsdorf (Fn. 138), 36 f.; ders., Kanonisches Recht als theologische Disziplin, in: ders., Schriften (Fn. 75), 54 ff. Zu dieser und anderen Formeln als „Erklärungsbehelf “ siehe Aymans (Fn. 111), 352 ff. m.w.N. 147 So die Feststellung von Krämer, Kirchenrecht I (Fn. 70), 20. 148 Krämer, Kirchenrecht I (Fn. 70), 21. Zu voluntaristisch und zu wenig das Geschenkhafte der Sakramente beachtend für Graulich (Fn. 70), 238 f. 149 Corecco, Theologie des Kirchenrechts (Fn. 70), 98: „Die kanonistische Wissenschaft muß mit Strenge die theologische Methode anwenden und darf der juristischen – so wie sie von der modernen Rechtswissenschaft erarbeitet wurde – nur die Rolle einer Hilfswissenschaft überlassen, weil die Verbindung zwischen göttlichem und menschlich-kanonistischen Recht nur innerhalb der dem Glauben eigenen Logik und Methodologie festgesetzt werden kann“. Siehe auch Gerosa (Fn. 70), 44.

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bb) Die Kirchenrechtskonzeptionen der Mörsdorf-Schüler Rouco Varela und Corecco (1) Eugenio Corecco: Kirchenrecht als ordinatio fidei Sehr eingehend hat sich Eugenio Corecco mit den Grundlagen des Kirchenrechts auseinandergesetzt150. Seine Position wird als theologische Radikalisierung des Ansatzes seines Lehrers Mörsdorf verstanden151. Bei der katholischen Kirche wird die Idee des Rechts nach Corecco im Vergleich mit der staatlichen Rechtsordnung in „analoger Weise“ umgesetzt, wenngleich er die „Analogie“ wegen der substanziellen Ver- und Unterschiedenheit zwischen staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung auch wieder relativiert152. Der zentrale Punkt ist für Corecco die Sicht der ordinatio fidei. Corecco verortet den locus theologicus des Kirchenrechts weniger in dem Umstand und der Dynamik des sozialen Zusammenlebens. Vielmehr geht es ihm um die spezifische, in der Natur der kirchlichen Gemeinschaft liegende Dynamik: „Deren Sozialität wird nicht von der menschlichen Natur, sondern von der Gnade hervorgebracht, diese schafft andere intersubjektive und strukturelle Beziehungen, die zur Konstitution der Kirche gehören und einzig durch den Glauben zu erkennen sind“153. Aus diesem Grund setzt sich Corecco von dem Konzept eines Gesetzes als ordinatio rationis ad bonum commune ab. Materiell in der Kirche zu verwirklichender Maßstab seien weniger gesellschaftliche Gemeinwohlvorstellungen oder rational begründete Geltungskonzepte. Ferner haben sich für Correco der Zusammenhang und das Verhältnis zwischen ratio und fides gewandelt154. Die in der Offenbarung wurzelnde Kirche als Institution ist nur im Glauben erkennbar. Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für die rechtliche Ordnung: „Das kanonische Gesetz ist als ordinatio fidei zu definieren, weil es nicht von irgendeinem menschlichen Gesetzgeber erlassen wird, sondern von der Kirche, deren entscheidendes epistemologisches Kriterium nicht die Vernunft, sondern der Glaube ist. Die menschliche Rationalität, die der Kirche als menschlichem und geschichtlichem Erkenntnissubjekt eignet, das indes nicht nach menschlichen Kriterien, sondern der ‚communio Ecclesia et Ecclesiarum‘ entspre150 Würdigungen L. Gerosa, ‚Lex canonica’ und ‚ordinatio fidei’: Einleitende Erwägungen zum Schlüsselbegriff der kanonistischen Lehre von Eugenio Corecco, in: Corecco, Ordinatio fidei (Fn. 70), IX ff., ders., Die kanonistische Methode: Kritische Erwägungen zur Methodologie von Eugenio Corecco, AfkKR 163 (1994), 11 ff.; L. Müller, Ordo ecclesiae: Theologische Grundlegung und Theologie des kanonischen Rechts nach Eugenio Corecco, AfkKR 163 (1994), 96 ff. 151 Näher Graulich (Fn. 70), 262. 152 Vgl. Corecco, Theologie des Kirchenrechts (Fn. 70), 98 ff. Kritische Würdigung des „AnalogieTopos“ allgemein und seiner Verwendung bei Corecco speziell – insbesondere seiner Unentschiedenheit bzw. Undeutlichkeit in diesem Punkt bei Müller (Fn. 70), 43 ff. und passim. Siehe auch Gerosa, ‚Lex canonica’ (Fn. 150), XXI. 153 E. Corecco, ‚Ordinatio rationis‘ oder ‚Ordinatio fidei‘, in: ders., Ordinatio fidei (Fn. 70), 17 (20). 154 „Definitionsgemäß bedient sich der Jurist – Vertreter einer nichttheologischen Humanwissenschaft – der Vernunft als einziger Erkenntnisquelle und beschäftigt sich mit einem Gegenstand menschlichen Ursprungs und menschlicher Natur, mit dem weltlichen Recht im allgemeinen. […] Definitionsgemäß bedient sich der Theologe des Glaubens als letztgültigen Erkenntniskriteriums und beschäftigt sich mit einem nicht natürlichen, sondern geoffenbarten Gegenstand. In unserem Fall befaßt sich der Kanonist mit dem geoffenbarten göttlichen Recht und mit dem menschlichen Recht, das, um authentisch zu sein, stets ein mehr oder weniger vom positiven göttlichen Recht vermittelter Ausfluß sein muß“. Corecco (Fn. 82), 169.

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chend sozialisiert ist, bleibt folglich innerlich vom Glauben gestaltet, da sie nicht einfach eine Rechtsordnung hervorzubringen hat, die sich mit dem philosophischen Gerechtigkeitsbegriff vereinbaren läßt, sondern eine Ordnung, die sich vom theologischen Begriff der communio ableitet, deren Dynamik in der Institutionalisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen von der jeder anderen rein menschlichen gesellschaftlichen Wirklichkeit von Grund auf verschieden ist“155. Das Kirchenrecht ist für Corecco die „der kirchlichen communio implizite strukturelle Dimension“, die nur im Glauben in ihrer Eigenart erkennbar wird156. Kirchenrecht bedarf der kanonistischen157 Methodik158, da das letzte, die Methodik bestimmende Prinzip für Corecco nur der Glaube sein kann159. Coreccos Bemühen um Verständnis der kirchlichen Rechtsordnung basiert auf dem Ausgangspunkt, daß die kirchliche Rechtsordnung nur eine eingeschränkte Aufgabe erfüllen kann, die sich strikt auf die Sendungsaufgabe der Kirche bezieht160. Die Bewahrung des ursprünglichen Auftrags in Wort und Sakrament ist der primäre Zweck kirchlicher Verfassung161. Hiergegen wird aber eingewandt, ob Corecco in diesem Punkt nicht letzten Endes Ziel der Kirche und Ziel der kirchlichen Rechtsordnung verwechselt bzw. gleichsetzt162. Coreccos fundamental rechtstheologischer Ansatz differenziert zwischen Konstitution und Institution. Das Institutionelle der Kirche wurzelt in Wort und Sakrament, denn nur durch die Taufe wird ein Mensch Mitglied der Kirche und hat Teil am „allgemeinen Priestertum“ der Gläubigen. Nach der ekklesiologischen Grundentscheidung des Zweiten Vatikanums ist es für ihn nicht mehr richtig, das Priestertum auf die Kleriker – also das besondere Weihepriestertum – zu reduzieren. Deshalb widerspricht Corecco auch der Verwendung des Terminus „Amtskirche“, weil zur Institution Kirche auch das allgemeine Priestertum aller Gläubigen gehöre, welches das Fundament der Teilhabe an der Sendung der Kirche in der Welt bildet163. In der Polarität der Institution komme das charismatische Element der einzelnen Personen zum Tragen, das für die Kirche ebenso primär sei wie Wort und Sakrament, ohne selbst institutionell zu sein164. Gleichwohl gehört das 155 Corecco (Fn. 153), 35. 156 Corecco, Theologie des Kirchenrechts (Fn. 70), 94 f. 157 Für Corecco ist eine methodische Selbständigkeit nicht nur gegenüber dem weltlichen Rechtskreis, sondern auch gegenüber den anderen theologischen Disziplinen von Bedeutung. Gerosa, ‚Lex canonica’ (Fn. 150), XXII f. 158 Coreccos Anliegen ist eine „allgemeine Theorie des kanonischen Rechts unter Berücksichtigung der Koessentialität des Theologischen Prinzips“. E. Corecco, Die kulturellen und ekklesiologischen Voraussetzungen des neuen CIC, in: ders., Ordinatio fidei (Fn. 70), 85 (94). 159 Vgl. Corecco (Fn. 153), 34. „Da aber der Gegenstand oder das ‚obiectum quod’ des kanonischen Rechts die ‚communio’ ist, weil das Recht der Kirche als ‚implizite strukturelle Dimension’ der kirchlichen communio bezeichnet werden kann, kann das Erkenntnisinstrument oder das ‚obiectum quo’, das zur Erfassung des inneren Wesens fähig ist, kein anderes sein als der Glaube“. So Gerosa, Die kanonistische Methode (Fn. 150), 15. 160 Müller (Fn. 150), 100. 161 Corecco (Fn. 82), 176. 162 Müller (Fn. 150), 111. 163 Corecco, Amt und Charisma in der Verfassung der Kirche, in: ders., Ordinatio fidei (Fn. 70), 249 (252). Allgemeines Priestertum und Weihepriestertum begegnen sich nicht in einem Über-Unterordnungsverhältnis von Person und Institution, sondern sind beide institutionell, als sie Pole oder Pfeiler der Kirche als Institution sind. Siehe auch Müller (Fn. 150), 114. 164 „Das Charisma ist jenes Element in der Kirche, das eine Identifizierung der Verfassung mit der

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Charisma für Corecco zur Konstitution von Kirche, die deshalb ebenso institutionell wie charismatisch geprägt sei. Die starke religiöse Focussierung der kirchlichen Rechtsordnung auf die ordinatio fidei wirkt sich nicht nur hinsichtlich des charismatischen Moments auf die Ausübung der Kirchengewalt aus, sondern auch bei der Bedeutung materieller Rechtskriterien wie die Rechtssicherheit in der Kirche. Da es sich bei Kirchengewalt nicht um einen politischen, am Mehrheitsprinzip ausgerichteten Willensbildungsprozeß handelt, mißt Corecco schon der bloßen Beteiligung der Gläubigen mit beratender Stimme einen anderen Stellenwert zu. Weiterhin ist für Corecco die Rechtssicherheit als formales Prinzip kirchenrechtlich zu relativieren, weil der formalen Sicherheit gegenüber der materialen Wahrheit kein Vorrang eingeräumt werden sollte165. Mit dem Wiener Kirchenrechtler Ludger Müller wird man dabei fragen müssen, ob diese allgemeine Feststellung nicht selbst wiederum zu relativieren ist, jedenfalls nur im Kernbereich der kirchlichen Rechtsordnung, die in den Konstitutiva Wort und Sakrament wurzeln, Beachtung finden kann. Schließlich enthalte die kirchliche Rechtsordnung nicht nur konstitutive, die Wahrheit nur noch deklarierende Normen, sondern regelmäßig viele, auch theologisch legitime Regelungsgesichtspunkte, bei denen es nicht unmittelbar um die „Verwaltung“ von Wort und Sakrament geht166. Corecco nimmt mittels seiner dezidiert theologischen Grundlegung des Kirchenrechts eine Reduktion der kirchlichen Rechtsordnung auf einen „innersten Kern“ vor, die dem Phänomen Rechtsordnung nicht ganz gerecht wird, weil die vielen anderen innerkirchlichen Rechtsbereiche ausgeblendet werden167. Um kirchliche Glaubwürdigkeit geht es nicht nur in den Bereichen der Glaubensweisung (ordinatio fidei). Vielmehr zeigt sich diese Aufgabe und Herausforderung gerade auch in praktischen Fragen, die etwa den Bereich kirchlichen Vermögensrechts oder andere Rechtsbereiche betreffen können. (2) Kardinal Antonio Rouco Varela: Kirchenrecht als Recht des Volkes Gottes Wie Mörsdorf setzt sich auch Rouco Varela mit Rudolph Sohm und insbesondere auch der evangelischen Rechtstheologie auseinander. Maßgeblich ist für ihn die Frage, ob das Recht der Kirche notwendig ist, damit die Kirche ihre Sendung und ihre Funktion als „Wurzelsakrament“ erfüllen kann. Rouco Varela unterscheidet hier zwei Aspekte: Zum einen die „theologische Sinndeutung der Existenz von Recht in der Kirche“ und zum anderen die Ent- und Ausfaltung der „theologisch so ans Licht gebrachte[n] Dimension der Kirche“168. „Das katholische Verständnis vom

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Institution nicht zuläßt. Es ist selbst ein primäres Element der Verfassung, auch wenn es den beiden Polen der Institution – den Klerikern und den Laien – vom Heiligen Geist verliehen werden kann. In dieser Hinsicht kann es also keine Zweifel bezüglich der großen rechtlichen Relevanz des Charismas geben. Wenn die Existenz des kanonischen Rechts sich tatsächlich von der verbindlichen Kraft des Wortes und des Sakraments ableitet, dann hat auch das Charisma eine rechtliche Relevanz, weil es immer eine Quelle der Brüderlichkeit und der Gemeinschaft ist. Diese Tatsache beweist die verfassungsrechtliche Rolle des Charismas in der Kirche als ‚communio’“. Corecco, Amt und Charisma (Fn. 163), 249 (253). E. Corecco, Handlung ‚contra legem’ und Rechtssicherheit im kanonischen Recht, in: ders., Ordinatio fidei (Fn. 70), 36 (45, 53). Müller (Fn. 150), 118. Müller (Fn. 150), 119 f. Ebenso Graulich (Fn. 70), 262 f. A. Rouco Varela, Grundfragen einer katholischen Theologie des Kirchenrechts: Überlegungen

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Kirchenrecht muß von der Sicht der Kirche als Volk Gottes ausgehen. Darin liegt die erste und grundlegende Möglichkeit für die Existenz von Recht in der Kirche. In der Idee vom Volke Gottes liegt notwendigerweise die Idee der Intersubjektivität und der Zwischenmenschlichkeit mit eingeschlossen. In dem letzten, definitiven Stadium der Heilgeschichte hat Gott die Vermittlung des Heils zwischenmenschlich bzw. intersubjektiv, interpersonal gestaltet“169. Das Recht der Kirche hat für Rouco Varela die Funktion, die ontologische Struktur darzustellen, die der kirchlichen Gemeinschaft eigen ist170. Der Ankerpunkt des Kirchenrechts befindet sich in der die interpersonale Bindung stiftenden Relation, „durch die sich die Kirche auf der lokalen Ebene als wahre apostolische ‚communio‘ in Wort und Sakrament Jesu Christi und auf der universalen Ebene als apostolische ‚communio Ecclesiarum‘ im selben Wort und Sakrament Jesu Christi darstellt. In diesem Sinn ist das Kirchenrecht zuerst Struktur, die mit der Existenz der Kirche notwendig mitgegeben wird, die dann aber wegen ihres fortschreitenden Dynamismus normative Kraft entfaltet und schließlich nicht ohne subjektive Folgen bleiben kann“171. Die rechtliche Struktur der Kirche als Volk Gottes bzw. communio basiert auf verschiedenen Prinzipien, die das Recht der Communio als verpflichtenden Ordo umschreiben172. Für Rouco Varela zählen dazu die jedem zuteil werdende Berufung und Sendung, die sakramentale Teilnahme, die apostolische Sukzession und schließlich die Katholizität173. c) Das ekklesiologische Communio-Prinzip als Grundlage des Kirchenrechts Der Zugang und die Grundlegung der kirchlichen Rechtsordnung in dem ekklesiologischen Strukturprinzip des Zweiten Vatikanums, der Communio, scheint ebenso naheliegend wie notwendig174. Als einer der Schlüsselbegriffe des Konzils, ohne daß er in den Konzilsdokumenten in auffälliger Weise in Erscheinung tritt, will die Communio-Ekklesiologie verschiedene Dimensionen – communio christifidelum, communio Ecclesiarum und communio hierarchica – zu einem Gefüge integrieren. Rechtstheologische Konzepte – dies wurde schon an der einen oder anderen Stelle angedeutet – greifen immer wieder auf das Communio-Prinzip zurück, um den Zugang zum Grund des Kirchenrechts offenzulegen, da die Funktion des Kirchenrechts nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht losgelöst von den theologischen Vorgaben und Bezügen entschlüsselt werden kann175. Ob es auch das Formalprinzip des Kanonischen Rechts – insbesondere des CIC 1983 – ist, wird immer wieder erörtert.

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zum Aufbau einer katholischen Theologie des Kirchenrechts, in: ders., Schriften (Fn. 70), 183 (188). Rouco Varela (Fn. 168), 189. Graulich (Fn. 70), 245. Siehe Rouco Varela (Fn. 168), 191. Rouco Varela (Fn. 168), 192. Graulich (Fn. 70), 246. A. Rouco Varela, Das kanonische Recht im Dienst der kirchlichen Communio, in: ders., Schriften (Fn. 70), 291 (304 ff.). Zu diesem Themenkreis siehe etwa Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 70 ff; H. Müller, Communio als kirchenrechtliches Prinzip im Codex Iuris Canonici von 1983?, in: M. Böhnke/H. Heinz (Hrsg.), Im Gespräch mit dem dreieinen Gott: Elemente einer trinitarischen Theologie. Festschrift zum 65. Geburtstag von Wilhelm Breuning, 1985, 481 ff. Weiter Riedel-Spangenberger (Fn. 60), 217 ff.; H. Hallermann, Die Funktion des Rechts in der Communio, AfkKR 166 (1997), 453 ff. Hallermann (Fn. 174), 455.

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In einem der ersten Beiträge zu diesem Thema unterzieht der verstorbene Bonner Kanonist Hubert Müller das neue kirchliche Gesetzbuch einer eingehenden Würdigung. Müller kommt zu dem differenzierten Ergebnis, daß der CIC 1983 sowohl communio-theologische Elemente umfaßt als auch nicht selten an der überkommenen Lehre der societas perfecta anknüpft, also theologische Neuansätze mit überkommenen und als bewährt angesehenen sozialphilosophischen Konzepten kombiniert176. Das Recht soll im Dienst an der kirchlichen Communio stehen. Dieser Begriff ist der Schlüsselbegriff, der alle theologischen und rechtlichen Sinngehalte zusammenfaßt und das kanonische Recht als strukturelle Dimension der Communio Kirche erschließen hilft177. Dem Prinzip Communio kommt für die Kirche gleichsam Verfassungsrang zu178. Wegen der Gefahr, sämtliche Rechtsfragen der kirchlichen Rechtsordnung in dem Communio-Prinzip aufzulösen, wird dieser Ansatz zur Begründung des Kirchenrechts nicht ohne Skepsis betrachtet179. Fragwürdig ist, ob dem Prinzip Communio „nur“ Verfassungsrang zukommt oder ob es nicht besser als ein dem Kirchenrecht vorausliegendes, begründendes Prinzip verstanden wird, das aber gleichermaßen die einzelnen Regelungszusammenhänge der kirchlichen Rechtsordnung durchwirkt und dirigiert180. Die Frage ist: Kommt das Prinzip nur insoweit zum Tragen, als der CIC 1983 communial ausgestaltet ist, oder geht das Prinzip über die juristische Ebene hinaus und ist es die Klammer zwischen Ekklesiologie und Kirchenrecht? Während das Communio-Prinzip im ersten Fall u.U. durch die Positivierung des Kirchenrechts „verbraucht“ ist181, würde es im zweiten Fall Ankerpunkt und kritisches Widerlager des Kirchenrechts allgemein wie der kirchengesetzlichen Regelungen sein, das ggfs. auch Änderungsbedarfe markieren kann182. Ziel des Kirchenrechts ist dann nicht nur die Gewährleistung eines eher institutionell bezogenen kirchlichen Gemeinwohls,

176 Näher Müller (Fn. 174), 484 ff. „Auf die eingangs gestellte Frage nach dem kirchenrechtstheoretischen Konzept, das der Neukodifikation des kanonischen Rechts zugrunde liegt, ist demnach zu antworten, daß neben dem theologischen Ansatz, der auf der Communio-Ekklesiologie basiert und im Kernbereich des neuen Gesetzbuches dominiert, wie in den zehn Leitlinien für die Erarbeitung des Codex Iuris Canonici so auch in einigen Fundamentalnormen des neuen Gesetzbuches eine sozialphilosophische Begründung des Kirchenrechts aufscheint, die von der Kirche als einer ‚societas perfecta’ ausgeht“ (ebda. 490). 177 Vgl. Gerosa (Fn. 70), 50; Hallermann (Fn. 174), 455 f. 178 Vgl. H. Schmitz, Wertungen des Codex Iuris Canonici, AfkKR 154 (1985), 19 (32). 179 Bemerkenswert – auch wegen der ökumenischen Akzente – aus der Sicht des evangelischen Kirchenrechtlers D. Pirson, Communio als kirchenrechtliches Prinzip, ZevKR 29 (1984), 35 ff.; Schmitz (Fn. 178), 33 ff. m.w.N.; Graulich (Fn. 70), 255 f. 180 Vgl. Gerosa (Fn. 70), 50. 181 Ob dies bei Müller (Fn. 174) der Fall ist, sei hier offengelassen. Ihm wird durchaus eine Ebenenvermischung vorgehalten, die ihm den Weg zu einer umfassenden Würdigung versperrt. Er differenziere nicht hinreichend zwischen Prämissen (Verwirklichung der ekklesiologischen Grundstruktur communio) und Konsequenzen (Aufnahme des Communio-Prinzips im kodifizierten Kirchenrecht). Näher Graulich (Fn. 70), 255 f. 182 Den Kirchenrechtlern wird es wohl nur dann gelingen, die communio als auch einen für das Kirchenrecht „brauchbaren und rechtlich fixierbaren Begriff “ zu verstehen, „wenn man sich nicht allein mit dem Formalprinzip communio als Begründung des Kirchenrechts begnügt, sondern das Verhältnis der juristischen Komponente der communio zur Sozialgestalt der Kirche im Zusammenhang mit der theologischen Begründung dieser Sozialgestalt zu erfassen sucht“. So Riedel-Spangenberger (Fn. 60), 238. Siehe auch Hallermann (Fn. 174), 461 ff.

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sondern die Verwirklichung der communio ecclesiae, bei der Form und Inhalt konvergieren müssen183. d) Sendungstheologisches Fundament des Kirchenrechts? Der sendungstheologische Ansatz zur Begründung des Kirchenrechts geht davon aus, daß die Kirche als Communio, Volk Gottes nicht ohne den Impetus der Sendung verstanden werden kann184. Kirchliche Sendung geht bspw. über die kirchliche Lehrbefugnis – missio canonica – für Lehrkräfte mit der Facultas im Fach Katholische Religionslehre hinaus. Die Sendung läßt sich zu einem Fundament kirchlicher Rechtsordnung ausbauen. Dieser Ansatz wurde insbesondere durch die Mainzer Kirchenrechtlerin Riedel-Spangenberger konzipiert185. Der auch in der Trinititätstheologie wurzelnde Sendungsauftrag der Kirche als Volk Gottes besitzt neben der geistlich-theologischen auch eine juristische Dimension, weil „die Sendung“ mit einer spezifischen Vollmacht verbunden ist und aus diesem Grund in der Lage ist, rechtliche Folgen zu setzen186. Sinnfällig kommt dies im Weihesakrament zum Tragen, mit dem eine Beauftragung zum Handeln im Namen der Kirche verbunden ist187. Der Sendungsauftrag ist aber keineswegs eine klerikale Exklusivität. Er betrifft vielmehr die Teilhabe aller Gläubigen am gemeinsamen Sendungsauftrag der Kirche und die damit verbundene Verpflichtung, den Sendungsauftrag weiter auszuführen188. Ähnlich argumentiert Kardinal Erdö in seiner Rechtstheologie, wenn er den Daseinsgrund der Kirche als Volk Gottes in der Weiterführung der Sendung Christi erblickt189. Der Sendungsauftrag ist Hauptgrund und Movens der Institutionalisierung von Kirche und ihrer Institutionalität190. Die Sendung ist aber keineswegs nur auf das Weihesakrament bezogen. Das Zweite Vatikanum und der CIC 1983 setzen die Sendung in Beziehung zur Tria-munera-Lehre, nach der die allgemeine Sendung der Kirche in den drei Formen der Verkündigung, der Heiligung und der Leitung191 in Erscheinung tritt. Der sendungstheologische Ansatz ist vielleicht kein umfassendes Konzept zur Begründung des Kirchenrechts. Bei der Antwort nach dem Woher und Wozu der kirchlichen Rechtsordnung und ihrer Ausgestaltung sind die sendungstheologischen Aspekte aber sicherlich – als Teil eines übergreifenden Ordnungsmodells – eine grundlegende Komponente. 183 Vgl. Gerosa (Fn. 70), 66 f. 184 Vgl. Graulich (Fn. 70), 272. 185 I. Riedel-Spangenberger, Sendung in der Kirche: Die Entwicklung des Begriffs ‚missio canonica’ und seine Bedeutung in der kirchlichen Rechtssprache, 1991. Siehe auch die Darstellung und Würdigung bei Graulich (Fn. 70), 272 ff. m.w.N. 186 Näher Riedel-Spangenberger (Fn. 185), 159 f. Siehe auch dort 283: Juristisch ist die Sendung in der Kirche „insofern, als sie selbst einen Rechtsvorgang einschließt, mit dem Stellvertretungsvollmacht in Verbindung mit dem göttlichen Sendungsauftrag übertragen wird. Die Sendungen, die von der Kirche ausgehen, sind verbunden mit der spezifischen Sendung der Personen, die in der Nachfolge der Sendung der Apostel stehen“. 187 Ausführlich Riedel-Spangenberger (Fn. 185), 160 ff. Siehe auch Graulich (Fn. 70), 276 f. 188 Vgl. diese Charakterisierung bei Graulich (Fn. 70), 282. 189 Erdö (Fn. 70), 106. 190 Erdö (Fn. 70), 111. Ein weiterer Faktor der Institutionalisierung sind Wort und Sakrament, Erdö, ebda. 113 ff. 191 Munus docendi, munus santificandi und munus regendi.

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e) Kirchenrecht als praxisorientierte ordinatio caritatis In „sehr origineller Weise“192 versucht der Jesuit Ladislas Örsy die Grundlagenproblematik des Kirchenrechts zu lösen. Für Örsy ist ein Gesetz „eine Norm für die Praxis, die die Verwirklichung eines Wertes durch die Gemeinschaft vorschlägt, von einer legitimen Autorität auferlegt ist und von ihren Gliedern mit Vernunft und in Freiheit angenommen wird“193. Örsy unterscheidet bei seinem Ansatz ziemlich strikt zwischen Theologie und Kirchenrecht. Er hält es für unabdingbar, neben der Theologie noch die Philosophie heranzuziehen, weil das Phänomen Kirchenrecht sich nur aus einer bifokalen Betrachtung dieser beiden Disziplinen erschließen lasse194. Grundsätzlich soll die Theologie über das sprechen, was ist, während das Kirchenrecht darüber zu reden hat, was getan werden soll195. Die recht strikte Unterscheidung zwischen Kirchenrecht und Theologie führt für Örsy aber nicht zu einer Trennung. Theologie und Kirchenrecht sind miteinander verbunden durch „die Werte, die die Theologie aufzeigt, und die Notwendigkeit, diese Werte in die Praxis umzusetzen“196. Beides sind Seiten ein und derselben Medaille. Eine Kirche ohne die integrative Verknüpfung von Theologie und praktisch wirkendem Kirchenrecht ist für Örsy fragmentarisch und wäre nicht in der Lage, Zeugnis für das Evangelium abzulegen. Örsy’s Ansatz ist demzufolge insbesondere ein erkenntnistheoretischer, den er selbst „als eine Bewegung von der Einsicht zur Praxis“ bezeichnet197. Gesetze sind für Örsy „wert-los“, wenn das im Wert zum Ausdruck gelangende Gut von der Gemeinschaft nicht angenommen, sprich praktiziert werden kann, weil es etwa nicht zur wirklichen Entfaltung des einzelnen Menschen und zur Gemeinschaft beitragen kann198. Für Örsy, nach dessen Vorstellung sich das Kirchengesetz in zwei Welten bewegt, in der Welt des Geistes und der Welt der Geschichte, ist dieser Prozeß der Transformation in den Glaubenssinn der Kirche als Gemeinschaft Bedingung für die Rechtswirksamkeit. Örsy will dabei Extreme vermeiden und keinem Relativismus das Wort reden199. Relevant für das Kirchenrecht sind aber nur die Werte, „die definiert und begrenzt sind durch die Bedürfnisse der organischen Gemeinschaft“200, die die Kirche ist. Kirchenrecht muß für Örsy zur Praxis kommen. Der Glaube selbst verbindet die beiden zu unterscheidenden Phänomene Theologie und Kirchenrecht, in dem die Gemeinschaft ihre gläubig gewonnene Einsicht in Werte in die Praxis umsetzen möchte. In all dem bestehen die Besonderheiten des kirchlichen Rechts gegenüber 192 So Graulich (Fn. 70), 263. Grundlegende Darstellung und Motor der Rezeption im deutschsprachigen Raum die Erfurter Kirchenrechtlerin M. Wijlens, Fides quaerens actionem: Eine Analyse der Theorie Ladislas Örsy’s, ÖAKR 40 (1991), 367 ff. 193 Ladilas Örsy, Lonergan’s Cognitional Theory and Foundational Issues in Canon Law: Method, Philosphy and Law, Theology and Canon Law, in: Studia canonica 13 (1979), 177 (224) – zitiert nach Wijlens (Fn. 192), 373. 194 Vgl. Wijlens (Fn. 192), 374. 195 Für Örsy bildet sich dies schon in einer unterschiedlichen Sprachlichkeit ab: Die Theologie formuliert in der indikativen Sprache, während das Kirchenrecht sich der imperativen Sprache bedient. Vgl. Graulich (Fn. 70), 263 m.N. 196 Wijlens (Fn. 192), 375. 197 Wijlens (Fn. 192), 376. 198 Vgl. Wijlens (Fn. 192), 377 ff. 199 Graulich (Fn. 70), 266. 200 Wijlens (Fn. 192), 380.

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dem staatlichen: dient die staatliche Rechtsordnung der Friedenswahrung und Ordnungssicherung, so hat die Kirche ihre Gesetze „darüber hinaus auch deshalb, weil sie den Gläubigen helfen will, das Geschenk der Erlösung anzunehmen“201. Kirchliche Rechtsordnung ist einer staatlichen Rechtsordnung nur ähnlich und normiert in einem „analogen Sinne“ Recht202. 2. Ansätze einer eher juristischen Fundierung des Kirchenrechts Neben der eher theologischen Grundlegung des Kirchenrechts gibt es eine Reihe von kanonistischen Ansätzen, die die im Kirchenrecht liegenden Paradoxien dadurch aufzulösen suchen, daß das Kirchenrecht nicht mehr zwingend mit dem Wesen der Kirche verbunden wird. Das Kirchenrecht soll für diese Ansichten eine juristische Disziplin sein, die von der Theologie getrennt ist. a) Kirchenrecht als Kirchenordung – Peter Huizing Der niederländische Kanonist Peter Huizing203 plädiert für ein Kirchenrechtsverständnis, das den Begriff des Kirchenrechts durch den der Kirchenordnung ersetzt. Dieser weitere Begriff bringt für Huizing die Eigenart, Zweckbestimmung und Geltung kirchenrechtlicher Bestimmungen besser zum Ausdruck. Für Huizing kann die Kirchenordnung aber immer nur vorletzte, niemals letzte und absolute Norm kirchlichen Handelns sein204. „Die Kirchenordnung ist ein Komplex von Satzungen für das religiöse Handeln, in denen Bedingungen oder Dispositionen für die – amtliche und nichtamtliche – Teilnahme an der sakramentalen Heilsgemeinschaft festgelegt werden“205. Sie ist die „Gesamtheit der positiven Normen, die in der Kirchengemeinschaft als Richtlinien für das Handeln der Kirchenglieder und für ihr Verhältnis untereinander maßgebliche Geltung haben. Die ganze Kirchenordnung bleibt, im allgemeinen und bei allen konkreten Anwendungen, der Verbundenheit aller Kirchenglieder mit Christus verpflichtet. Sie hat niemals absolute und bedingungslose Geltung, die sich dem Gehorsam dem Geist Christi gegenüber entziehen könnte“206. Huizings Ansatz sieht in der kirchlichen Rechtsordnung eher ein Rechtsgefüge, das aus sozialer Notwendigkeit besteht, weil eine Gemeinschaft ohne bindende Ordnung nicht bestehen kann207. Kirchlich besteht der alleinige Dienst darin, das Zusammenwirken der Gläubigen und der Institution als menschliches Werk äußerlich zu strukturieren, dh. rechtlich zu ordnen. Darin wird eine nicht unproblematische Unterordnung des Kirchenrechts unter pastorale Erfordernisse mittels seines eminent 201 Wijlens (Fn. 192), 383. 202 Wijlens, ebda. 203 Eingehend untersucht das Werk J. Vries, Kirchenrecht oder Kirchenordnung? Zum Kirchenrechtsverständnis bei Peter Huizing, 1998. 204 P. Huizing, Die Kirchenordnung, in: J. Feiner/M. Löhrer (Hrsg.), Mysterium Salutis: Grundriß heilgeschichtlicher Dogmatik, Bd. IV/2, Einsiedlen 1973, 156 (158). 205 Huizing, Reform des kirchlichen Rechts, Concilium 1 (1965), 670 (677). 206 Huizing, Um eine neue Kirchenordnung, in: A. Müller/F. Elsener/P. Huizing, Vom Kirchenrecht zur Kirchenordnung?, 1968, 55 (69). Ders. (Fn. 204), 158: „Letzte Norm ist niemals das Gesetz, sondern die Unterscheidung der Geister“. 207 Huizing (Fn. 204), 158.

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ausgeprägten Dienstcharakters gesehen208. In der distanzierenden Loslösung der kirchlichen Rechtsordnung von materialen, in der Theologie der Kirche liegenden Voraussetzungen entzieht Huizing dem Kirchenrecht letztlich den theologischen Boden209. Er degradiert die Kanonistik zu einer funktional-pragmatischen Technik210. In der rein äußerlichen Ordnung bleibt als Fundament der Rechtsordnung nur noch das Moment ubi societas, ibi ius. Diese Verankerung des Kirchenrechts in einer soziologischen Notwendigkeit wird aber als Rückschritt betrachtet211. Die Relativierung des Kirchenrechts bei diesem Ansatz führt letztlich auch dazu, daß der juristische Charakter der Rechtsordnung unklar wird212. „Das kanonische Recht wird zu einer rechtlichen Struktur, die lediglich das äußere Verhalten der Christen regelt, in einer Kirche, die im Grunde auch rein charismatischer Natur sein könnte“213. Eine Antwort auf das theologische Warum und Wozu des Kirchenrechts will dieser Ansatz bewußt umgehen. Letztlich wird die religiöse Existenz von Gläubigen „rechtsfrei“, zumindest im Widerspruch zum Kirchenrecht gedacht, womit der Geltungs- und Verbindlichkeitsanspruch von Recht und die ekklesial-rechtliche Beziehung in der „plena communio“ Kirche geleugnet wird214. Huizings Ansatz wird entgegengehalten, daß er konsequenterweise auf eine kirchliche Rechtsordnung verzichten müßte. b) Die italienischen Laienkanonisten und die Schule von Navarra: Kirchenrecht als „primäre Rechtsordnung“ Nach der Promulgation des CIC 1917 waren die sog. italienischen Laienkanonisten eine Gruppe von Wissenschaftlern, die jenseits des Gedankens der Kirche als einer societas perfecta und ihrer eigenständigen Rechtsordnung eine Grundlagenkonzeption für das Kirchenrecht finden wollten215. Sie gingen dabei von einer Trennung zwischen Theologie und Kirchenrecht aus. Um die Rechtsqualität der kirchlichen Rechtsordnung nachzuweisen, bezogen sich die sog. Laienkanonisten auf den theoretischen Ansatz des italienischen Juristen Santi Romano von der „primären Rechtsordnung“216. Eine Rechtsordnung ist primär, wenn sie losgelöst und unabhängig von jeder anderen Rechtsordnung ist. Die Eigenständigkeit der kirchlichen Rechtsordnung hervorgehoben zu haben, wird den Laienkanonisten als nicht geringzuschätzendes Verdienst zugebilligt217. Wenn man die Eigenrechtsmacht vom Begriff der societas perfecta218 löst und auf stabile, eine soziale Einheit repräsentierende Dauerinstitu208 209 210 211 212 213 214 215

Huizing (Fn. 204), 176 ff. Siehe auch Gerosa (Fn. 70), 40. Vries (Fn. 203), passim. Vgl. Krämer, Kirchenrecht I (Fn. 70), 18. Gerosa (Fn. 70), 23 f.; Graulich (Fn. 70), 303. In diesem Sinn Graulich (Fn. 70), 304 f. Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 42. Eingehend Vries (Fn. 203), 137 ff. und passim; siehe auch 221 f. Vgl. näher Gerosa (Fn. 70), 33 ff.; Graulich (Fn. 70), 307 ff. m.w.N.; Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 64 ff. Ferner Müller (Fn. 78), 361 ff. 216 Näher dazu bspw. Müller (Fn. 112), 308 ff. m.w.N. 217 Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 70; Müller (Fn. 78), 362. 218 Zu dessen Hinderlichkeit bei der wissenschaftlichen Verarbeitung institutionellen Rechtsdenkens näher Müller (Fn. 112), 326 f. Aber auch das institutionelle Rechtsdenken stößt bei der Legitimation des Kirchenrechts an seine Grenzen, weil dieser Nachweis nur theologisch führbar ist. So Müller, ebda., 329.

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tionen erstreckt, könnte dies sogar als Perspektivenerweiterung in Richtung eines pluralistischen Rechtsbegriffs219 bzw. der Pluralität von Rechtsordnungen gedeutet werden220. Den Laienkanonisten wird aber nicht ohne Grund vorgehalten, daß sie weder den Beweis dafür gesucht, geschweige denn gefunden hätten, „daß das kanonische Recht, so wie es vom Wesen der Kirche her gefordert wird, das Recht ist, von dem sie sprechen“221. Sie ersetzten lediglich den Begriff der societas perfecta durch den der primären Rechtsordnung222. Ihre logisch-juristische Vorgehensweise mag bei der Analyse kirchenrechtlicher Institute von gehöriger „wissenschaftlicher Strenge“ sein, für die Beantwortung der Grundlagenfrage mußte sie aber unzulänglich bleiben223. Die Schule von Navarra geht ebenfalls vom Ansatz einer primären Rechtsordnung aus und entwickelt ihn weiter224. Diese Kirchenrechtsschule betont, daß die kirchliche Rechtsordnung nicht nur eine Gesamtheit von Normen darstellt, sondern auch ein System von Rechtsbeziehungen ist225. Die Vertreter dieses Ansatzes verbinden das Kirchenrecht mit dem Topos von der Kirche als Volk Gottes226, ohne daß sie die theologischen Implikationen dieses Begriffs rezipieren, weil es ihnen nur darum ging, durch den Gemeinschaftscharakter die Legitimität der kirchlichen Rechtsordnung nachzuweisen227. Selbst theologisch orientiertere Autoren der Schule von Navarra bleiben dabei stehen, im Willen Jesu Christi „die Grundnorm der Schaffung von Recht in der Kirche und des Rechtscharakters jeder ihrer Normen“ zu sehen228. Der Graben zwischen dieser „Grundnorm“ und den konkreten Normen der kirchlichen Rechtsordnung wird durch diesen Ansatz aber nicht überbrückt, sondern bleibt in „garstiger Breite“ bestehen229. 3. Statt einer umfassenden Würdigung: einige eher konkrete Hinweise a) Die Rechtsordnung der katholischen Kirche als Mehrebenenrecht zwischen Himmel und Erde Es dürfte Diagnose und Programm sein, wenn der in Rom lehrende Kanonist Markus Graulich seine Mainzer Habilitationsschrift unter den Titel „Unterwegs zu einer Theologie des Kirchenrechts“ gestellt hat. Die vorstehende – notwendig unvollständige und letztlich nur oberflächliche – Darstellung unterschiedlichster Ansätze wird in den 219 Vgl. dazu M. Schulte, Recht, Staat und Gesellschaft – rechtsrealistisch betrachtet, in: A. Aarnio u.a. (Hrsg.), Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit: Festschrift für Werner Krawietz zum 60. Geburtstag, Berlin 1994, 317 (322 f.). 220 In diesem Sinn wohl Müller (Fn. 112), 315, 322 ff. 221 Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 65. Siehe auch Gerosa (Fn. 70), 34. 222 Vgl. Müller (Fn. 78), 362. 223 Dazu, daß die methodische Vorgehensweise den Laienkanonisten den Blick auf den ekklesiologischen Hintergrund verstellte, Rouco Varela/Corecco (Fn. 70), 70. Zu der „positivistischen“ Verengung bei dieser Methodik auch Müller (Fn. 78), 363 f. 224 Vgl. zu dieser Schule Graulich (Fn. 70), 309 ff.; Müller (Fn. 78), 364 ff. 225 Der Begriff der „Rechtsordnung“ wird von Vertretern dieser Schule durch den der „Ordnungsstruktur“ ersetzt. Dazu Müller (Fn. 78), 364 m.w.N. 226 Siehe die Darstellung bei Gerosa (Fn. 70), 35 ff., Graulich (Fn. 70), 309 ff. 227 Müller (Fn. 78), 365. 228 Zitiert nach Müller (Fn. 78), 367 bei Fn. 47. 229 Dezidiert Müller (Fn. 78), 367.

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Lehrbüchern zum CIC 1983 in eher kombinierender Weise herangezogen, so daß kein Ansatz wirklich rein und ausschließlich konzeptionell entfaltet wird. All die Ansätze zur Grundlegung des katholischen Kirchenrechts münden in die methodische Frage: Katholisches Kirchenrecht ist Theologie? Oder doch eine juristische Disziplin? Oder soll – in gut katholischer complexio oppositorum – eine kanonistische Methode aus zwei Elementen bestehen, die zu einer einheitlichen Methode zusammengeführt werden: „Die Kanonistik ist eine theologische Disziplin, die gemäß den Bedingungen ihrer theologischen Erkenntnisse mit juristischer Methode arbeitet“230. Damit wird die vielleicht etwas zu weitgehende Degradierung der juristischen Methode bloß zu einer Hilfswissenschaft durch Corecco relativiert und die Bipolarität der kirchlichen Rechtsordnung zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Glaubensgut und Rechtsform prinzipiell aufgehoben. Für weltliche Juristen wird die Kanonistik dabei fast immer von gängigen Denkmustern abweichen. Vorurteile gegenüber der kirchlichen Rechtsordnung werden immer wieder durch die kirchliche Rechtspraxis bestätigt. Als hochgradig „sachgeprägtes Ordnungsmodell“231 ist das Kirchenrecht mehr als jede andere Rechtsordnung von Voraussetzungen abhängig, die ihr übernatürlich vorgegeben werden232. Die kirchliche Rechtsordnung ist in ihren gestaltenden Grundentscheidungen nicht „zwischenmenschliches Verkehrsrecht“233, das beliebig abänderbar oder allen gesellschaftlichen Änderungen und Einstellungswandlungen anzupassen wäre. Nicht wenige Vorgaben sind als göttliches Recht weder „verhandelbar“ noch sind sie exogen zur kirchlichen Rechtsordnung. Es handelt sich – wenn man so will – um endogene, der kirchlichen Rechtsordnung immanente Vorgaben, der sie zu dienen hat, die sie nachvollziehen muß und in denen sie wurzelt234. Auch die höchste Autorität ist an diese Grundentscheidungen göttlichen Rechts235 gebunden. Ihr kommt aber kraft des Lehramts eine Interpretationskompetenz zu. Pouvoir constituant der katholischen Rechtsordnung ist nicht das Volk, vielmehr basiert diese Ordnung auf Vorgaben „von oben“: Gleichwohl soll sie Rechtsordnung und nicht nur Theologie sein236. Kirchenrecht ist eigenständiges Recht und bezieht seine legitime Existenz nicht etwa als Derivat aus dem staatlichen Religionsrecht237. Neben den Fundamentalbestandteilen kirchlicher Ordnung gibt es noch weitere Rechtsbestände, die kirchlich sind, aber nicht originär im ius divinum verankert werden, sondern zu dessen Konkretion dienen238. Die kirchliche Rechtsordnung 230 231 232 233 234

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So die Position von Aymans (Fn. 111), 370. Vgl. Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 1984, 230 f. Dazu etwa Müller (Fn. 78), 380 f. Krämer, Kirchenrecht I (Fn. 70), 23. Vgl. näher mit einer exemplarischen Liste der im CIC 1983 enthaltenen Regelungen göttlichen Rechts (ius divinum naturale oder ius divinum positivum) und auch zum Folgenden N. Lüdekke, Das Verständnis des kanonischen Rechts nach dem Codex Iuris Canonici von 1983, in: C. Grabenwarter/N. Lüdecke (Hrsg.), Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht: Ergebnisse eines interdisziplinären Seminars, 2002, 177 (181 ff. m.w.N.). Instruktive, eingehende Auflistung bei Lüdecke (Fn. 234), 189 ff. m.w.N. „Auch das Kirchenrecht ist objektive Rechtsordnung […]. Aber es gründet nicht im Gesellschaftsvertrag, sondern in der kirchlichen Verfassung, deren wesentliche Elemente durch die Offenbarung einer Determination von Seiten der Kirche bzw. des kirchlichen Gesetzgebers entzogen sind“. Graulich (Fn. 70), 356. So das Résumé bei Graulich (Fn. 70), 409. Vgl. Lüdecke (Fn. 234), 202.

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ist dabei nicht auf die gesamtkirchliche Kodifikation beschränkt. Daneben gibt es sowohl außerkodikarisches Gesetzesrecht239 und schließlich neben partikularen Rechtsbestimmungen noch die Gesetzgebung der einzelnen Diözesanbischöfe innerhalb ihres Bistums als teilkirchliches Recht240. Dies alles führt zu einer nicht immer gesehenen Mehrstufigkeit des kirchlichen Rechtssystems241. Gerade im kirchlichen Vermögens- oder Stiftungsrecht besteht nur ein gesamtkirchliches Rahmenrecht, das teilkirchenrechtlich den örtlichen Bedürfnissen anzupassen ist und hierbei die innerkirchliche Rechtsordnung mit staatlichen Rechtsvorgaben abzustimmen hat242. Im Vermögensrecht wird dann aber u.U. nicht immer hinreichend gesehen, daß die gesamtkirchliche Vorgabe des Vermögenszwecks in c. 1254 § 1 CIC 1983 einzuhalten ist. Eine übermäßige oder gar ausschließlich ökonomische Betrachtungsweise wird dem Zweck des kirchlichen Vermögensrechts nicht gerecht. In diesem Gefüge ist es für weltliche Juristen nicht einfach nachzuvollziehen, daß die kirchliche Rechtsordnung nicht „rechtsstaatlichen Verteilungsprinzipien“ unterliegt und vorrangig subjektive private Rechtspositionen zu sichern hat243, wenngleich die Umschreibung von Individualrechtspositionen möglich ist und auch vorkommt (cc. 208–223 CIC 1983), aber durch die Mitgliedschaftsstellung des einzelnen in der kirchlichen Communio bestimmt wird244. Ebenso ist die Gesetzgebung durch kirchliche Autoritäten (Papst/Diözesanbischöfe) eher monarchisch und damit einer Ordnungsvorstellung verhaftet, die als „vormodern“ empfunden wird. Wenn im Anschluß an den Fundamentaltheologen Söhngen jüngst eine stärkere Differenzierung der kirchlichen Rechtsordnung nach ihrem juristischen, kanonistischen und metakanonistischen Bereich eingefordert wird245, so ist dies in erster Linie ein strukturierendes Ordnungsmodell zur Erfassung und Analyse der kirchlichen 239 Dazu, daß der Terminus Lex kirchenrechtlich für die staatliche Rechtsordnung reserviert ist und das kirchliche Gesetz eher als Canon oder Decretum bezeichnet wird, siehe Graulich (Fn. 70), 357. Umfassend zum Themenkreis und weiteren Gesetzesbegriffen wie Motu proprio oder Constitutio Apostolica L. Wächter, Gesetz im kanonischen Recht: Eine rechtssprachliche und systematisch-normative Untersuchung zu Grundproblemen der Erfassung des Gesetzes im Katholischen Kirchenrecht, 1989. 240 Grundlegende Beiträge zu diesem Aspekt in P. Krämer u.a. (Hrsg.), Universales und partikulares Recht in der Kirche: Konkurrierende oder integrierende Faktoren, 1999. 241 Peter Krämer, Universales und partikulares Kirchenrecht: Zur Mehrstufigkeit im kirchlichen Rechtssystem, in: ders. (Fn. 240), 47 ff., siehe auch den Diskussionsbeitrag dazu von Helmuth Pree, ebda., 71 ff. 242 Für das Vermögensrecht siehe grundlegend M. Werneke, Ius universale – Ius particulare: Zum Verhältnis von Universal- und Partikularrecht in der Rechtsordnung der lateinischen Kirche unter besonderer Berücksichtigung des Vermögensrechts, 1998, 251 ff. m.w.N. und passim; ders., Das kirchliche Vermögensrecht – ein klassisches Beispiel für die partikularrechtliche Ausgestaltung universalkirchenrechtlicher Normen, in: Krämer u.a. (Fn. 240), 165 ff. Hinweise zur Regelung des katholischen Stiftungswesens bei A. Hense, Katholische Stiftungen: Überblick, Grundlegung, Geschichte, in: W. R. Walz (Hrsg.), Religiöse Stiftungen in Deutschland, 2007, 1 (insbes. 33 ff., 39 f.). 243 Vgl. Müller (Fn. 117), 460. 244 Näher Graulich (Fn. 70), 361 ff. 245 Graulich (Fn. 70), 93 ff., 355 ff., 409 f. Der juristische Bereich konzentriert sich auf das in formaler Hinsicht wirkliche, juristisch richtige und sachliche Recht der Kirche, während der davon zu unterscheidende, aber nicht zu trennende kanonistische Bereich die materiale Grundstruktur des Kirchenrechts (z.B. hinsichtlich des Communio-Prinzips) gemäß der göttlichen Stiftung umschreibt. Der metakanonistische Bereich transzendiert den juristischen und kanonistischen Bereich, wofür der salus animarum und das bonum commune ein Beispiel sind, weil sie über das Kirchenrecht letztlich hinausweisen.

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Rechtsordnung. Eine rechtstheologische Zielvorgabe wäre damit allein noch nicht vorgegeben. Für die Abschichtung der Argumentationsebenen und zur Rationalisierung der Argumentation müßte auf die angedeuteten Modelle zurückgegriffen werden, die die legitimatorische Grundierung der kirchlichen Rechtsordnung näher ausformulieren. Selbst wenn sich die dargestellten Modelle eventuell nicht völlig von dem Grundsatz ubi societas, ibi ius lösen können, ihn vielleicht stillschweigend voraussetzen oder subkutan an ihn anknüpfen, so haben sie doch meist – insbesondere die eher theologischen Ansätze – die Eindimensionalität des sozialphilosophischen Grundsatzes zur Legitimation des Kirchenrechts zu überwinden gesucht, indem sie die Mehrdimensionalität und Mehrperspektivität der kirchlichen Rechtsordnung offengelegt und strukturiert haben246. Hierbei ging es nicht nur darum, methodisch, disziplinär die Theologie zum integralen und konstitutiven Bestandteil des Kirchenrechts zu machen, sondern auch darum, der Rechtsordnung der katholischen Kirche Grund und Maß zu geben, damit sie nicht der Beliebigkeit ausgeliefert ist247. Ein „enttheologisiertes“ Kirchenrecht stünde in der Gefahr, der „komplexen Wirklichkeit“ Kirche nicht gerecht zu werden248. Wie schwierig der Balance-Akt zwischen übermäßiger Theologisierung des Kirchenrechts auf der einen Seite und Enttheologisierung auf der anderen Seite ist, wird an einem hermeneutischen Problem des Kirchenrechts deutlich, das die Bedeutung und Wirkungsreichweite des Zweiten Vatikanums betrifft. Welche steuernde Wirkung hat die Theologie des Kirchenrechts, deren Aufgabe die grundlegende Reflexion des Systems Kirchenrecht – insbesondere in seiner strukturellen Legitimation und seinen Unterschieden zur Umwelt (insbesondere des staatlichen Rechtskreises) – ist, genau auf die Kirchenrechtsdogmatik, deren Aufgabe es wiederum ist, die Herausforderungen der Rechtspraxis zu bewältigen, indem sie einerseits von der unendlichen Mannigfaltigkeit der Rechtspraxis abstrahiert und andererseits die praktischen Fragen vor der Folie der positivierten Rechtsgrundlagen und des kirchlichen Gewohnheitsrechts249 einer Konsistenzkontrolle und Problemverarbeitung unterzieht250. Über die Auslegung kirchenrechtlicher Normen (vgl. c. 17 CIC 1983) bestehen nicht unbeträchtliche Divergenzen, was die Kraft des Wortlauts und den Geist des Konzils anbelangt. Anders formuliert: Können die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils gegen den CIC eingewandt werden? Die Riege der 246 „Ohne positives Recht würde die Kirche spiritualistisch verflüchtigt, insofern sie als geschichtlichgesellschaftliche Größe keinen Bestand hätte; ohne vorpositives Recht hingegen würde die Kirche dualistisch in zwei Bereiche gespalten, nämlich in einen äußeren, positiv-rechtlichen Bereich und einen inneren, von jeglichem Recht losgelösten, geistlichen Bereich. Nach dem II. Vatikanischen Konzil ist aber weder eine spiritualistische Verflüchtigung noch eine dualistische Aufspaltung der Kirche zulässig“. So P. Krämer, Theologische Grundlegung des kirchlichen Rechts: Die rechtstheologische Auseinandersetzung zwischen Hans Barion und Joseph Klein im Licht des II. Vatikanischen Konzils, 1977, 113 f. 247 Vgl. Müller (Fn. 117), 447; Krämer, Warum und Wozu kirchliches Recht (Fn. 70), 17 f.; Demel (Fn. 117), 33. 248 So dezidiert Demel (Fn. 117), 34, mit dem zusätzlichen Hinweis, daß dies zur Verleugnung der Sakramentalität der Kirche führen würde. 249 Das Gewohnheitsrecht ist für das Katholische Kirchenrecht von nicht zu unterschätzender Bedeutung und besitzt einen weitaus größeren Stellenwert als im weltlichen Recht. 250 In Anlehnung an M. Schulte, Begriff und Funktion des Rechts der Gesellschaft: Eine Selbstund Fremdbeschreibung des Rechtssystems, in: M. Atienza u.a. (Hrsg.), Theorie des Rechts und der Gesellschaft: Festschrift für Werner Krawietz zum 70. Geburtstag, 2003, 767 (770 ff.).

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„korrekten Kanonisten“251 – als eine neu aufblühende Schule252 – würde dem vehement widersprechen253, während andere – offen oder unterschwellig – einem Vorrang des Zweiten Vatikanums das Wort reden würden und dessen Vorgaben als materiales Richtigkeitskriterium zum Zwecke der Auslegung und Korrektur254 heranziehen255. Der Bonner Kirchenrechtler Lüdecke sieht in dem CIC als Konzilstransformation eine Warnung vor dem „Triumphalismus in der Konzilswürdigung“256. Schließlich kann eine allzu ambitionierte Umsetzung rechtstheologischer Erkenntnisse z.B. in einem Kirchenrechtslehrbuch mitunter als irritierend, vielleicht sogar irreführend empfunden werden257. b) Kirchenrechtliche Erdungsprobleme aa) Ein Grundproblem: CIC 1983 zwischen societas perfecta-Tradition und Communio-Ekklesiologie Den CIC 1983 als lupenreine Anpassung der kirchlichen Rechtsordnung an die konziliar „nachgeholte Selbstmodernisierung des Katholizismus“ (F. W. Graf) aufzufassen, würde zu weit gehen258. Der CIC vereint zwei ekklesiologische Lehren, die – auf den ersten Blick – durchaus gegensätzlich sind. Die inhaltliche Konzeption des CIC 1983 scheint zweideutig zu sein259. Als „Rest“260 der societas-perfecta-Lehre im kirchlichen Gesetzbuch gilt all das, was die Souveränität und Autonomie des Papstes und der Kirche betrifft, sowie die hierarchische Struktur der Kirche als societas (perfecta) inaequalis umschreibt261. Es lassen sich insbesondere folgende Positionen benennen262: die Rechtspersonalität der katholischen Kirche (c. 113 § 1 CIC 1983), das kirchliche Gesandschaftsrecht (c. 362 CIC 1983), der Verkündigungsauftrag der 251 Diese Selbstbezeichnung wurde verwendet von Hans Barion. Diesem Konzept fühl(t)en sich verpflichtet etwa der 200 verstorbene ehemalige Limburger Domkapitular und Kirchenrechtler Werner Böckenförde oder auch der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke. 252 So die markante Kennzeichnung von T. Schüller, Diözesanbischöfe – Verwaltungsbeamte des Papstes?, in: Stimmen der Zeit 220 (2002), 488. 253 Vgl. N. Lüdecke, Die Grundnormen des katholischen Lehrrechts in den päpstlichen Gesetzbüchern und neueren Äußerungen in päpstlicher Autorität, 1997, 76 ff. m.w.N.; G. Bier, Die Rechtsstellung des Diözesanbischofs nach dem Coedex iuris Canonici 1983, 2001, 18 ff., insbes. 20 f. 254 Es muß sich dabei nicht nur um eine korrigierende Auslegung contra legem handeln, es kann auch um die Markierung eines Änderungsbedarfs für den Gesetzgeber gehen. 255 In diese Richtung wohl tendierend Demel (Fn. 117), 37 f. Siehe auch Walf (Fn. 107), 78 ff. Als dezidierte Gegenposition dazu wiederum N. Lüdecke, Der Codex Iuris Canonici von 1983: ‚Krönung’ des II. Vatikanischen Konzils?, in: H. Wolf/C. Arnold (Hrsg.), Die deutschsprachigen Länder und das II. Vatikanum, 2000, 209 ff. 256 Lüdecke (Fn. 255), 237. 257 Siehe die inhaltlich-konzeptionell kritischen Besprechungen von Libero Gerosa’s Das Recht der Kirche (Fn. 70) bei H. Heinemann, De Processibus Matriomonalibus 3 (1996), 381 ff.; H. J. F. Reinhardt, Theologische Revue 92 (1996), Sp. 472 ff. 258 Vgl. nur die Analyse von Riedel-Spangenberger (Fn. 60), 233 ff. m.w.N. 259 L. Müller, Communio-Ekklesiologie und Societas-perfecta-Lehre: Zwei Quellen des kirchlichen Verfassungsrechts?, in: Demel/ders. (Fn. 107), 265. 260 So Müller (Fn. 259), 265 (269). 261 Siehe Lüdecke (Fn. 234), 190 ff. 262 Vgl. neben Lüdecke, ebda., ausführlich dazu Müller (Fn. 259), 269 ff. Ferner Göbel (Fn. 100), 97 f. und passim.

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Kirche (c. 747 § 1 CIC 1983), das kirchliche Vermögensrecht (c. 1254 § 1 CIC 1983), der kirchliche Strafanspruch (c. 1311 CIC 1983), die kirchliche Gerichtskompetenz etwa in Straf- und Ehesachen (c. 1401, c. 1671 CIC 1983). Aus diesen Hinweisen wird deutlich, daß die Kirche für sich in Anspruch nimmt, eine autonome, vom Staat unabhängige Rechtsordnung und Rechtsorganisation zu generieren. Hierbei bilden sich Parallelstrukturen zum Staat aus. Staatliche Rechtsordnung und kirchliche stehen in Beziehung zueinander. Je nach Regelungsbereich in unterschiedlichem Umfang, ohne daß es in der Regel zu einer völligen Deckungsgleichheit kommt. Dies resultiert aus der gemeinsamen Geschichte, die letztlich zu einer Distanzierung und „Scheidung in der Wurzel“ geführt hat, ohne daß deshalb die thematischen Berührungen entfallen wären. Deutlich wird dies bspw. am Rechtsinstitut der Ehe263 ebenso wie an religionsverfassungsrechtlichen Zusammenhängen, bei denen Rechtsgewährungen des Staates nicht ohne Einfluß auf die innerkirchliche Rechtsordnung bleiben und auch die an sich unbeschränkte kirchliche Leitungsgewalt domestizieren, ohne das kirchliche Selbstbestimmungsrecht zu mißachten264. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob der Topos der „societas perfecta“ völlig inkom263 Deutlich wird dies an dem Rechtsinstitut der Ehe, das sowohl die staatliche und die kirchliche Rechtsordnung kennen. Hier bestand bis zum Gesetz zur Reform des Personenstandsrechts vom 19. Februar 2007 (BGBl. I, 122) mit dem aus der Kulturkampfzeit stammenden Verbot der kirchlichen Voraustrauung eine sehr einseitig wirkende Akzessorietät zwischen staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung zum Nachteil der kirchlichen. Dies wurde für verfassungswidrig gehalten. Näher dazu D. Ehlers, Die Rechtmäßigkeit des Verbots kirchlicher Voraustrauungen, in: Bohnert u.a. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche: Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, 811 ff. m.w.N. Siehe auch M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar Bd. I2 (2004), Art. 4 Rdn. 125. Durch die Novellierung des Personenstandsrechts werden die beiden Phänomene Zivilehe und sakramentale kirchliche Ehe völlig getrennt. Die kirchliche Eheschließung wird ab dem 1. Januar 2009 ohne bürgerlich-rechtliche Wirkung sein. 264 Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Dem kirchlichen Recht sind Vertrauens- oder Rechtssicherheitsgesichtspunkte vielleicht nicht fremd, sie besitzen in der kirchlichen Rechtsordnung aber eine im Vergleich zur staatlichen Rechtsordnung geringere Wertigkeit. Siehe zu diesem Umstand Graulich (Fn. 70), 367. Grundsätzlich können nach Kirchenrecht Akte einer Kirchenbehörde mit Rücksicht auf das kirchliche Wohl jederzeit von der zuständigen Autorität zurückgenommen oder abgeändert werden (vgl. c. 58 CIC 1983). Die Kirche besitzt kraft Verfassungsrechts die Möglichkeit (siehe auch § 135 Satz 1 BRRG), öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse (Beamtenverhältnisse) zu begründen (sog. Dienstherrenfähigkeit). Wenn nun etwa ein Beihilfebescheid gegenüber einem kirchlichen Beamten (Laien) zurückgenommen wird, führt dies nicht dazu, daß hier automatisch die Rücknahme- bzw. Widerrufsregelungen des VwVfG mit ihren Bestandsschutzkonkretionen zur Anwendung gelangen, weil das VwVfG bei „innerkirchlichen Angelegenheiten“ von öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften keine Anwendung findet (vgl. § 2 Abs. 1 VwVfG, näher R. Mainusch, Rechtsprobleme des kirchlichen Verwaltungsverfahrens: Bestandsaufnahme und Perspektiven, ZevKR 50 [2005], 16 ff. [insbes. 32 ff.]). Die generalklauselartige Weite der Exemtion stellt die kirchliche Behörde bei der Rücknahme eines kirchlichen Verwaltungsakts aber nicht völlig frei von Vorgaben. Der kirchlichen Beliebigkeit werden durchaus Grenzen gesetzt, selbst wenn die differenzierten Regelungen des VwVfG nicht angewendet werden können. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht dispensiert bei kircheneigenen Verfahren nicht von der Einhaltung grundlegender rechtsstaatlicher Erfordernisse (vgl. Mainusch, ebda., 37 f.). Staatliche Rechtsordnung diszipliniert unter Umständen die kirchliche Rechtsordnung und Verwaltungspraxis. Ohne auf die Einzelheiten des gewählten Beispiels weiter näher einzugehen, verdeutlicht dies aber, daß es – je nach kirchenrechtlicher oder theologischer Dignität der Regelungsmaterie – zu Einforderungen staatlicher Rechtsmaßstäbe auch gegenüber der kirchlichen Rechtsordnung kommen kann.

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mensurabel mit der Communio-Ekklesiologie ist. Sicherlich keine leicht zu beantwortende Frage. Gleichwohl lassen sich wissenschaftliche Frontstellungen dadurch aufbrechen, daß „Verhärtungen“ auf beiden Seiten vermieden werden. Der Nimbus der societas perfecta-Lehre läßt sich dadurch entzaubern, daß sie als Chiffre für die Eigenrechtsmacht der Kirche („angeborene Rechte“, cc. 741 § 1, 1254 § 1 CIC 1983) genommen wird und eine Bezugsebene zum Staat und zur staatlichen Rechtssphäre herstellt: sie ist eine Brücke zwischen staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung265. Die societas perfecta-Lehre ist aber nicht nur bei den externen Beziehungen zu Staaten oder supra- bzw. internationalen Organisationen von Bedeutung. Als Konzept an der Grenze zwischen Innen und Außen der Kirche kann sie auch in der interreligiösen oder ökumenischen Sphäre von Bedeutung sein266. Nach innen betrachtet läßt das, was als Grundbestand der kodikarischen Sicherung der Kirche als societas pefecta betrachtet wird, grundsätzlich auch mit der Communio-Ekklesiologie „versöhnen“267. Die Rechtsordnung der katholischen Kirche hat keine grundsätzlichen Bedenken, beide Konzepte als Ausdruck ihrer komplexen Realität nebeneinander bestehen zu lassen. Zwischen den einzelnen Regelungsgebieten existieren unterschiedliche Wertungshierarchien, was die theologischen Wertungsvorgaben anbelangt. Kirchliches Verfahrensrecht ist etwa stärker an den Aspekt der geistlichen Vollmacht gebunden als das kirchliche Vermögensrecht. Die Beteiligung von Laien z.B. in der kirchlichen Rechtsprechung oder bei anderen Leitungsaufgaben muß demzufolge differenziert und sachbereichsspezifisch beantwortet werden. Unmöglich ist sie aber nicht und insofern besteht eine grundsätzliche, sicherlich noch detailliert auszulotende Offenheit bzw. wechselseitige Verschränkung zwischen sozietalen und communionalen Elementen der kirchlichen Rechtsordnung268. Dies schließt nicht aus, daß gerade von den Vertretern, die eine eher theologisch orientierte Grundausrichtung bevorzugen und damit der Widerpart zu den „korrekten Kanonisten“ sind, ein gewisser Reformbedarf hinsichtlich des CIC 1983 konstatiert wird, der sich letztlich nur durch Normänderung realisieren läßt, weil eine korrigierende Auslegung die Wortlautgrenze übersteigen würde269. Auf dem Weg, eine Theologie des Kirchenrechts zu realisieren, sind noch viele Schritte zu tun. bb) Katholizismus in der Rechtsordnung der katholischen Kirche: pars pro toto die „katholischen Vereine“ Es ist ein Kennzeichen des Katholizismus, daß er sich nicht nur in kirchlich-institutionellen Formen zeigt, wenngleich er doch immer in Beziehung zu diesem steht. Wie diese Beziehung sich gestaltet, läßt sich paradigmatisch am kirchlichen Vereinigungsrecht ablesen. Aktuelles Musterbeispiel ist der Verein „Donum Vitae“, es könnten aber auch neuere geistliche Gemeinschaften270 hinzugezählt werden oder 265 266 267 268

Dazu und zum Folgenden grundlegend Listl, Aufgabe und Bedeutung (Fn. 100), 486 ff. Dazu Listl, Aufgabe und Bedeutung (Fn. 100), 489. In diesem Sinn wohl Müller (Fn. 259), 275. Vgl. Müller (Fn. 259), 290 ff. Als Grundsatzstudie siehe etwa P. Platen, Die Ausübung kirchlicher Leitungsgewalt durch Laien: rechtssystematische Überlegungen aus der Perspektive des ‚Handelns durch andere’, 2007. 269 Dazu zählen wohl z.B. Riedel-Spangenberger (Fn. 60), 236 ff.; Müller (Fn. 259), 292 f. m.w.N. 270 Aufschlußreich über die Vielfältigkeit dieses Segments: Die geistlichen Gemeinschaften der Katholischen Kirche: Kompendium, o.J. (2006).

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Vereine („Laieninitiativen“), die das Laienelement in der kirchlichen Ordnung als pfarrliche oder teilkirchliche Beteiligungs- und Mitwirkungsform zu unterstützen suchen. Soweit Laien mittels selbst gebildeter Gemeinschaftsformen ihrer religiösen Sendung nachkommen und auf diese Weise Charisma ausüben271, kommt hier in besonderer Weise ein Spannungsfeld zwischen Institution und kirchenrechtlich garantierter Vereinigungsfreiheit zum Tragen. Kirchliches Leben bewegt sich im Kraftfeld von Institution und Spontaneität272. Die Kirchlichkeit und Katholizität der Vereine betrifft aber nicht nur neuere Phänomene wie der Verein „Donum Vitae“, Vereine zur Unterstützung der Laienmitwirkung in der Kirche, sondern auch die überkommenen Strukturen kirchlicher Jugendarbeit mit ihren zahlreichen Verbänden und der Dachstruktur BDKJ273 oder ähnliches274. Letztlich geht es um die Frage, ob nur die Vereinigung katholisch ist, die kirchlich approbiert ist oder nicht. Der CIC 1983 unterscheidet grundsätzlich zwischen den sog. kanonischen Vereinen und den freien Zusammenschlüssen von Gläubigen, die nur eine bloße Vereinigung von Gläubigen sind (cc. 215, 216 CIC)275. Da es ihnen eventuell an der rechtlich-institutionellen Verknüpfung mit dem Muttergemeinwesen Kirche (= Diözese) mangelt, sind sie kein kanonischer Verein. Solche Vereine werden auch als „kirchennahe Vereinigung“ bezeichnet276. Der freie Zusammenschluß von Gläubigen untersteht zwar nicht der allgemeinen Aufsicht der kirchlichen Autorität, sondern verfolgt als „inceptum“ eine kanonische Zwecksetzung (Caritas, Frömmigkeit oder Förderung der christlichen Berufung). Bestünde diese Zwecksetzung nicht, würde die Initiative der Gläubigen aus dem Focus der kirchlichen Rechtsordnung herausfallen. Verfolgt etwa der Verein „Donum Vitae“ als Initiative von Gläubigen eine kanonische Zwecksetzung? Nicht wenige haben dies bejaht277. Einheitliche Meinungsbilder gibt es im wissenschaftlichen Schrifttum zu diesem Punkt aber nicht. So vertritt der Bonner Kirchenrechtler Lüdecke zur Interpretationshoheit über die kanonischen Zwecke dezidiert den Standpunkt, daß nicht die Laien kraft der Taufe und Firmung, sondern die kirchliche Autorität hierüber zu entscheiden hat278. Obgleich freie Zusammenschlüsse nicht kirchliche Korpora sind, so sind sie doch über die kirchenrechtlichen Bindungen der einzelnen Gläubigen nicht völlig von kirchlichen Vorgaben freigestellt279. Dies ist 271 Vgl. Krämer, Kirchenrecht I (Fn. 70), 144 f. 272 Instruktiv H. J. F. Reinhardt, Kirchliches Leben zwischen Institution und Spontaneität, in: W. Beinert u.a. (Hrsg.), Unterwegs zu einem Glauben: Festschrift für Lothar Ullrich zum 65. Geburtstag, 1997, 174 ff. 273 Eingehend dazu R. Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend und seine Mitgliedsverbände. Erster Teilband: Der BDKJ in historischer und kirchenrechtlicher Betrachtung, 1999. 274 Grundlegend zum kirchlichen Vereinsrecht H. Hallermann, Die Vereinigungen im Verfassungsgefüge der lateinischen Kirche, 1999. Siehe auch W. Schulz, Der neue Codex und die kirchlichen Vereine, 1986, 40 ff.; Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht, Bd. II (1997), 483 ff. 275 Näher dazu Hallermann (Fn. 274), 372 ff. 276 So Aymans/Mörsdorf (Fn. 274), 464. 277 Vgl. bspw. Muckel (Fn. 38), 226 f.; T. Schüller, Zwischen Freiheit und Bindung: Kirchliche bzw. kirchenunabhängige Vereinigungen als Orte (er)neu(t)er karitativer Aktivitäten, dargestellt am Beispiel Donum vitae e.V., in: R. Ahlers u.a. (Hrsg.), Die Kirche von morgen: Kirchlicher Strukturwandel aus kanonistischer Perspektive, 2003, 243 (247 ff.). 278 N. Lüdecke, Der schönste Pluralismus deckt keinen Ungehorsam, in: FAZ – Nr. 304 – vom 30. Dezember 1999, S. 42, auch abgedruckt: AfkKR 168 (1999), 113 (127 ff./131). 279 Der Würzburger Kirchenrechtler Hallermann umschreibt dies folgendermaßen: „So erstreckt sich die kanonische Rechtsbindung im strengen Sinn auf die einzelnen in dieser Vereinigung

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auch eine Konsequenz daraus, daß in die kirchliche Ordnung ein grund- bzw. menschenrechtliches Element von „Vereinigungsfreiheit“ integriert werden sollte280. Die Frage, ob ein freier Zusammenschluß mit dem kirchlichen Gemeinwohl zu vereinbaren ist (vgl. c. 223 § 1 CIC), mag im einzelnen strittig sein. Ob etwa die Gründung von „Donum Vitae“ kirchenrechtlich gemeinwohlgefährdend ist281, wird sich durchaus unterschiedlich beurteilen lassen. Entsprechendes gilt für die kirchenrechtliche Prüfung der Frage, ob in der Gründung von „Donum Vitae“ ein Verstoß gegen die Gehorsamspflicht (c. 212 § 1 CIC)282 oder eine Abkehr von der Gemeinschaft mit der Kirche (c. 209 § 1 CIC) vorliegt283. Kirchenrechtler haben bei der Diskussion um „Donum Vitae“ nicht ohne Grund darauf hingewiesen, daß das Kirchenrecht in diesen Fällen auch an seine Grenzen stößt, jedenfalls nicht leicht kanonistisch eindeutige Urteile zu fällen sind. Historisch gesehen ist die „Verkirchlichung“ des (Verbände-) Katholizismus jedenfalls eher ein Produkt der Nachkriegszeit284. Norbert Lüdecke hat deshalb nicht ohne Grund in der Diskussion die Frage aufgeworfen, wer über die „symbolische und reale Macht über das ‚Katholische’“ verfügt285. Sicher ist nur, daß die Verwendung des Zusatzes „katholisch“ im Namen eines freien Zusammenschlusses als besonderes Prädikat nicht gegen den Willen der Kirche erfolgen darf (vgl. cc. 216, 300 CIC 1983)286. An diesem Beispiel läßt sich das Spannungsgefüge zeigen, daß die kirchliche Rechtsordnung einerseits dem Streben nach Vereinigungsfreiheit des einzelnen Gläubigen grundrechtlich zu entsprechen sucht, andererseits aber ihre theologischreligiösen Vorgaben nicht verleugnen darf287. Wie schwer dies aber im einzelnen nicht nur kirchenrechtlich, sondern auch religiös-theologisch zu würdigen ist, zeigt die Auseinandersetzung um den Verein „Donum Vitae“.

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zusammengeschlossenen Mitglieder und nicht auf die Vereinigung als solche. Der freie Zusammenschluß unterliegt also in derselben Weise der kanonischen Rechtsbindung wie die einzelnen Gläubigen, ob sie ihre apostolische Tätigkeit nun als einzelne oder aber in gemeinschaftlichen Formen ausüben. Insbesondere ist auch von den Mitgliedern der freien Zusammenschlüsse die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren und sowohl das Gemeinwohl der Kirche als auch die Rechte Dritter zu beachten“. Ders. (Fn. 274), 379 f. Näher dazu Aymans/Mörsdorf (Fn. 274), 457 ff., insbes. 459 ff. zur kirchlichen Bedeutung. So Muckel (Fn. 38), 228 f. Besteht diese nur bei kirchlich verbindlichen Lehramtsäußerungen, wie steht es mit Gewissensentscheidungen? Dies sind Fragen, die sich in solchen Fällen stellen können. Siehe etwa die Dokumentation aus der Tagespresse im AfkKR 168 (1999), 113 ff. Auf die Debatte um den Begriff „Katholizismus“ in diesem Zusammenhang sei nur verwiesen. Es wurde in der zeitgeschichtlichen Forschung darüber gestritten, ob dazu nur kirchlich approbierte Phänomene zählen oder nicht. Lüdecke (Fn. 278) = AfkKR 133. Näher zu dem namensrechtlichen Problem Tillmanns (Fn. 22). Dazu hinsichtlich der Abtreibungsproblematik sehr prononciert M. Spieker, Kirche und Abtreibung in Deutschland. Ursachen und Verlauf eines Konflikts, 2000.

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110 D. DER BLICK VON INNEN RECHTSORDNUNG

NACH AUSSEN:

KATHOLIZISMUS

UND STAATLICHE

Der Einfluß des Katholizismus auf die staatliche Rechtsordnung wird unterschiedlich beurteilt. Empfinden die einen ihn als übermäßig groß, veranschlagen andere ihn als immer geringer werdend. Die jahrhundertealte „Duplizität und Polarität der Ordnung Staat und Kirche“288 läßt sich exegetisch z.B. an dem Zinsgroschen Wort Jesu (Mk 12, 17) exemplifizieren. In einer Entgegensetzung von Apg 5, 29289 und der Staatsbürgerpflicht, den Gesetzen zu gehorchen290, läßt sich die Ordnungsduplizität auf ihre Grenzen hin ausloten. Mit Blick auf die staatliche Rechtsordnung könnte nach transzendentalen Fenstern im positiven Recht gesucht werden291, die „Einfallstor“ für katholische Rechtsauffassungen oder Werte sein könnten. Es könnte die Frage aufgeworfen werden, ob der Staat überhaupt Diener einer – ihm u.U. vorausliegenden – Ordnung ist und welche Rolle hierbei der Religion bzw. den Kirchen allgemein und dem Katholizismus besonders zukommen kann292. Ferner könnte untersucht werden, welche Berührungspunkte und Entwicklungen es zwischen der deutschen Rechtsordnung und dem Katholizismus gegeben hat. Geschichte sind aber die Zeiten, in denen die katholische Fronleichnamsprozession in einem überwiegend von Protestanten bewohnten Gebiet als Störung der öffentlichen Ordnung angesehen wurde, die ein polizeiliches Einschreiten erforderte293. Nachfolgend soll die Themenstellung eher perspektivisch und nur kursorisch untersucht werden. In einem ersten Schritt sind theoretische Konzeptionen und historisch praktische Begründungen der Bestimmungsmacht der katholischen Kirche über die weltliche Rechtsordnung in Erinnerung zu rufen294, bevor in einem nächsten 288 So A. J. Merkl, Die Staatsbürgerpflichten nach katholischer Staatsauffassung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I/2, 1995, 277 (278 f.). 289 In der Apostelgeschichte heißt es: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“. 290 Dazu, daß die Erfüllung staatlicher Pflichten auch als kirchliche gilt, eingehend Merkl (Fn. 288), 282 ff. 291 Unter staats- wie völkerrechtlichen Auspizien dazu etwa M. Herdegen, Das Überpositive im positiven Recht: Von der Sehnsucht nach der heilen Wertewelt zum Kampf der Rechtskulturen, Staat im Wort: Festschrift für Josef Isensee, hrsg. von O. Depenheuer u.a., 2007, 135 ff. 292 Siehe – aber in anderer Nuancierung im Titel und in den Ausführungen – das Eröffnungsreferat bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 22. September von Kardinal Joseph Höffner, Der Staat: Diener der Ordnung (Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Nr. 13). 293 Vgl. zu dieser Fallkonstellation G. Wacke/B. Drews, Allgemeines Polizeirecht: Ordnungsrecht der Länder und des Bundes, 7. Aufl. Berlin u.a. 1961, 78 unter Hinweis auf ein Gutachten des Thüringer OVG vom 3. September 1947, abgedruckt: Jahrbuch der Entscheidungen des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts, 18. Bd. (1946/47), 243 ff. Ob der religiöse Friede als Bestandteil der öffentlichen Ordnung im Sinn der polizeilichen Generalklausel in einer religiös stark pluralisierten Welt neue Aktualität erfahren könnte, sei an dieser Stelle offengelassen, aber doch als Frage aufgeworfen. 294 Grundlegend untersucht diesen Themenkomplex eingehend R. Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht: Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1962–1965), 2005; ders., Katholizismus und Demokratie, Aus Politik und Zeitgeschichte 7/2005, 15 ff. Siehe auch E.-W. Böckenförde, Staat – Gesellschaft – Kirche, in: ders., Schriften zu Staat – Gesellschaft – Kirche, Bd. 3 (Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt), 1990, 113 ff.

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Schritt – ausgehend von der aktuellen theologischen Beurteilung und kirchenrechtlichen Lage seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil – das Themenfeld hinsichtlich der Inhalte, der Akteure und der Verweisungszusammenhänge zwischen staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung arrondiert wird. Schließlich sind exemplarische Inhalte und katholische Forderungen gegenüber der staatlichen Rechtsordnung kurz anzudeuten. I. Vorkodikarische Zeit: Kirchliche (Mit-) Herrschaft über die weltliche Ordnung Die societas perfecta-Lehre wurde im Rahmen des Ius Publicum Ecclesiasticum nicht nur als eine Kurzformel zur Legitimation der kirchlichen Autonomie gegenüber der weltlichen Rechtsordnung herangezogen, sondern sollte auch kirchliche Ingerenzen über die außerkirchliche Rechtsordnung legitimieren. Dies fand seinen Niederschlag etwa in der Lehre von der kirchlichen potestas indirecta in temporalibus295. Die Kirche unterscheidet sich zwar von der weltlichen Ordnung, weil ihr Zweck ein geistlicher ist, aber es kommt zu Kontaktflächen zwischen beiden Sphären, weil sie beide für sich vollkommene, virtuell allumfassende letzte Zwecke verfolgen. Geistlicher und weltlicher Bereich ließen sich nicht völlig gegenständlich voneinander abgrenzen. Und da mit der Zwecksetzung auch die Mittel gegeben waren, wirkte sich kirchliche potestas auch in der weltlichen Sphäre aus und war anfangs auch zumindest teilweise mit einer Überordnung der Kirche gegenüber dem Staat verbunden296. Diese wurde aber nicht als unmittelbar-direkte Kompetenz verstanden, sondern als Annex zur geistlichen Aufgabe der Kirche: „Der indirekte Charakter der potestas indirecta bezieht sich also nicht auf ihre Struktur und Eigenart (also nur indirekt, über Ermahnungen und Stellungnahmen wirkend), sondern nur auf ihre Begründung und Herleitung (und die daraus folgende Begrenzung). Sie ist echte potestas, ergreift zeitliche Dinge, ergreift sie auch unmittelbar, d.h. selbstverfügend und kann sich dabei auf alle Bereiche der weltlich-politischen iurisdictio erstrecken – Bellarmin nennt als Beispiel die Absetzung von Herrschern, das Geben von Gesetzen und das Fällen von Urteilen –, aber sie kommt nur zur Anwendung, ist nur legitimiert im Hinblick auf die Erreichung des der Kirche eigenen geistlichen Zwecks, sub specie salutatis animarum“297. Da die Kirche den höchsten, letzten Menschenzweck verkörperte, wollte sie den Vorrang auch in Fragen besitzen, die sich auf das irdische Gemeinwohl bezogen und der Sachlogik nach eigentlich vorrangig beim Staat lagen298. Es kennzeichnet dann etwa die Staatslehre Papst Leo XIII., daß er auch den modernen, freiheitlich verfaßten Staat als der Wahrheit verpflichtet ansah299. Dessen Ordnung müsse auf der Anerkennung höchster Wahrheiten beruhen, Wahrheit sei das Ordnungsprinzip des Gemeinwesens. Da gerade die katholische Kirche im Besitz dieser Wahrheit sei, müsse sie natürlich mit ihren Staatsvorstellungen das Gemeinwe295 296 297 298

Vgl. Böckenförde (Fn. 294), 121. Böckenförde, ebda. So Böckenförde (Fn. 294), 122. Vgl. auch Uertz (Fn. 294), 484. Bemerkenswert, daß vice versa auch kirchliche Angelegenheiten wegen ihrer Bedeutung für ein geordnetes irdisches Zusammenleben in die Zuständigkeit des Staates gezogen werden konnten. 299 Näher zu der leoninischen Staatslehre Uertz (Fn. 294), 236 ff. m.w.N.

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sen dominieren. Der Staat und seine Rechtsordnung wurden nicht in ihrer eigenen Weltlichkeit akzeptiert, sondern apriorisch in eine christlich, naturrechtlich fundierte und an göttliches Recht gebundene Weltordnung integriert. In der päpstlichen Vorstellung war der Staat vorab gebunden an ein kirchlich ausgelegtes natürliches und göttliches Gesetz, sollte also ein „katholischer (Glaubens-) Staat“ sein300. Eine Neuakzentuierung, Neujustierung katholischer Ordnungsvorstellungen ist mit Papst Leo XIII. verbunden. Dieser verwarf zwar die demokratische Staatsform nicht völlig301, ließ ihr gegenüber aber eine deutliche Reserve und die Präferenz für eine Monarchie als Staatsform erkennen. Daß sich das Verhältnis von Staat und Kirche, Katholizismus und politischer Ordnung, Staat und Gesellschaft unter dem Pontifikat Leos in einer Übergangszeit befand, wird etwa daran deutlich, daß trotz allen Unbehagens an Demokratien alle Katholiken jeder gesellschaftlichen Position zur aktiven politischen Beteiligung und Mitgestaltung im Sinne katholischer Gemeinwohlvorstellungen und katholischer Eigeninteressen aufgerufen wurden302. Leos Anliegen ist eine schiedlich-friedliche Verständigung zwischen Staat und Kirche. Die Unterscheidung von kirchlich-geistlicher und weltlicher Sphäre führte aber nicht dazu, vom kirchlichen Auftrag abzulassen, ein sittliches Wächteramt gegenüber dem Staat und seiner Rechtsordnung zu beanspruchen und auszuüben. Eine Verurteilung staatlicher Gesetze, die dem positiven oder natürlichen göttlichen Gesetz zuwiderlaufen, wurde beansprucht und wahrgenommen. Aber nicht in Form einer unmittelbaren Jurisdiktionsgewalt gegenüber dem Staat, sondern als Ausdruck kirchlicher Lehrautorität, die nicht in den staatlichen Hoheitsbereich eingreift, aber doch der Gewissensschärfung der Katholiken dient und darauf hinweist, daß der Staat seine Grenzen überschritten habe und ein verpflichtendes Gesetz aus kirchlicher Sicht nicht vorliege303. Aus der potestas indirecta wird eine Direktive an Staatslenker und Gläubige. In dieser leoninischen Position liegt zwar keine völlige Abkehr der protoneuzeitlichen Einheitsvorstellung von kirchlichem und weltlichem Bereich, aber doch eine nicht unwesentliche Abschwächung der herkömmlichen potestas indirecta zu einer potestas directiva. Gleichwohl steht für ihn das Recht der Wahrheit höher als die Freiheit304.

300 „Wie auf Erden zwei souveräne Gemeinschaften (societates maximae) bestehen, die staatliche, deren nächster Zweck darin besteht, dem menschlichen Geschlecht das zeitliche und irdische Wohl zu sichern, und die kirchliche, welche die Bestimmung hat, die Menschen zur wahren himmlischen Seligkeit … zu führen, so gibt es auch eine doppelte Gewalt. Beide unterstehen dem ewigen und natürlichen Gesetz und sollen selbständig befinden über alle Angelegenheiten, die ihrem Bereich und ihrer Gewalt unterstehen“. Leo XIII., Schreiben Nobilissima Gallorum vom 8. Febr. 1884, zit. nach Böckenförde (Fn. 294), 126. 301 Die demokratische Staatsform sollte dann mit den katholischen Prinzipien vereinbar sein, soweit sie die Volksherrschaft nicht zum absoluten Dogma erhebt und damit den Ursprung aller Gewalt in Gott leugnet. Vgl. Uertz (Fn. 294), 245 ff. 302 Vgl. Göbel (Fn. 100), 46. 303 Vgl. Göbel (Fn. 100), 47. 304 Näher Uertz (Fn. 294), 264 ff.

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II. Staat und Kirche nach dem CIC 1917 Der Codex von 1917 enthielt keine systematischen Grundaussagen über das Verhältnis von Staat und Kirche. Der Topos societas perfecta wurde im kirchlichen Gesetzbuch nicht explizit verwendet. Indirekt postulierte die Kirche aber diese Stellung, indem sie sich etwa selbst als moralische Person (c. 100 § 1 CIC 1917) auffaßte, der aufgrund ihrer „souveränen“ Stellung verschiedene „angeborener Rechte“ zustehen. Gerald Göbel weist in seiner grundlegenden Untersuchung nach, daß das kirchliche Gesetzbuch an verschiedenen Stellen erkennen ließ, daß der privilegierte Einfluß auf den Staat mittels potestas indirecta oder potestas directiva seitens der Katholischen Kirche weiter beansprucht wurde305. III. Das Zweite Vatikanum und das katholische Verhältnis zur staatlichen Rechtsordnung – revolutionäre Neujustierung? Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die Kirche, hat der Katholizismus in einer Weise sein Verhältnis zum Staat und zur staatlichen Rechtsordnung neujustiert, die durchaus als revolutionär bezeichnet werden kann306. Vorgespurt wurde diese Entwicklung durch Denker des Personalismus und die Abkehr von der neuscholastischen Staatslehre307. Mit der auf dem Konzil nicht unumstrittenen Erklärung Dignitatis humanae hat die katholische Kirche endgültig und unwiderruflich auf die Rechtsposition verzichtet, für die Verwirklichung ihres religiösen Sendungsauftrags und für ihre geistlichen Forderungen an ihre Gläubigen den Einsatz staatlicher Mittel in Anspruch zu nehmen308. Die wesensmäßige Verschiedenheit von Kirche und Staat postuliere eine Unterscheidung der Sphären und der Aufgabenwahrnehmung. Die Kirche dürfe nicht nur nicht mit dem Staat verwechselt werden. Sie weist auch jede Zuständigkeit für den rein politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich von sich: Das Konzil erklärt in Gaudium et spes309 vielmehr, daß der der Kirche von ihrem Herrn Jesus Christus übertragene eigene Sendungsauftrag und das damit verbundene Ziel der religiösen Ordnung angehören. „Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom“310. Dies kommt auch in der Konzilsauffassung von der Autonomie der Sachbereiche zum Ausdruck311. Dem Ideal einer christlichen Gesamtlebensordnung wird eine Absage erteilt, und die säkulare Rechtsordnung des Staates wird neu beurteilt. Das Recht der Wahrheit mutierte zu einer individuellen Freiheitsposition. 305 Göbel (Fn. 100), 48 ff., 192. 306 Zu den schon unter Pius XII. erfolgten Schritten siehe Uertz (Fn. 294), 364 ff. m.w.N. Uertz weist auch im einzelnen nach, wie bereits vorher von verschiedenen katholischen Denkern die spätere Entwicklung vorbedacht worden ist. Ebda., 323 ff. Zur Konzilserklärung Dignitatis humanae und ihrem Geistigen Vater J. C. Murray näher R. Sebott, Religionsfreiheit und Verhältnis von Kirche und Staat: Der Beitrag John Courtney Murrays zu einer modernen Frage, 1977. 307 Uertz (Fn. 294), 439 ff. 308 Listl, Aufgabe und Bedeutung (Fn. 100), 457 f. 309 Gaudium et spes Nr. 42 Abs. 2. 310 Gaudium et spes Nr. 76 Abs. 3. 311 Gaudium et spes Nr. 36.

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Die Kirche als sichtbare Vereinigung ist zwar wesentlich geistliche Gemeinschaft, nimmt aber doch für sich in Anspruch, „in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzutun, ihren Auftrag unter den Menschen ungehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung (iudicium morale) zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen“312. Der kirchliche Auftrag gegenüber der weltlichen Ordnung wird damit aber seiner potestas entkleidet und mutiert nunmehr – wie Böckenförde es formuliert – zu einer „facultas directiva“, die prononcierte Stellungnahmen der Kirche nicht ausschließt und auf die Inanspruchnahme kirchlicher Eigenständigkeit für ihre Sphäre nicht verzichtet. Die staatliche Ordnung, die Rechtsordnung habe kirchliche Besonderheiten, die sie existentiell betreffen, aus der staatlichen Entscheidungsmacht auszugliedern bzw. zumindest weitgehend für kircheneigenes Verständnis zu öffnen. Zu den kirchlichen Eigeninteressen gehört es dabei bspw., ein kirchliches Arbeitsrecht zu schaffen, mit dem die Besonderheiten des kirchlichen Dienstes näher erfaßt werden können. Die katholische Kirche will Sauerteig bei der Prägung der staatlichen Rechtsordnung sein, aber nur im Sinne einer Mitprägung, einer Option, nicht der Wiederherstellung eines katholischen Glaubensstaates: alten organischen Vorstellungen von einem Leib-Seele-Verhältnis als Funktion der Staat-Kirche-Bestimmung ist damit der Boden entzogen. Der Historiker Uertz charakterisiert die Entwicklung zutreffend damit, daß aus der katholischen Staatsdoktrin eine politische Ethik geworden ist313. Mit Dignitatis Humanae – als dem Schlußpunkt des Zweiten Vatikanischen Konzils – haben sich die Kirchen mit dem modernen freiheitlichen Verfassungsstaat versöhnt314. Letztlich wird den Kirchen sogar eine anwaltliche Verpflichtung auferlegt, sich auch für die Religionsfreiheit anderer Religionen einzusetzen315. IV. Der Auftrag der Kirche gegenüber der staatlichen Ordnung nach dem CIC von 1983 1. Inhaltliche Grundtendenzen Als positiv-inhaltliche Ausrichtung des Codex von 1983 ist der kirchliche Verkündigungsauftrag zu nennen, den die „absolut zentrale kanonische Norm“316 in c. 747 § 1 CIC 1983 normiert317. In dieser Bestimmung ist der bleibende Legitimationsgrund 312 Gaudium et spes Nr. 75. 313 Uertz (Fn. 294), 363. 314 A. Hollerbach, Artikel ‚Dignitatis humanae‘, in: LThK 3III (1995), Sp. 229. Klassisch E.-W. Bökkenförde, Einleitung, Erklärung über die Religionsfreiheit, 1968, 5 ff.; Walter Kasper, Wahrheit und Freiheit: ‚Die Erklärung über die Religionsfreiheit‘ des II. Vatikanischen Konzils, 1988; R. A. Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit Dignitatis humanae, in: P. Hünermann/B. J. Hilberath (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 4 (2005), 166 ff. 315 Dignitatis humanae Nr. 6. Siehe auch D. Bogner, Dolmetscher oder Lobbyisten? Religionsfreiheit ist kein Exklusivrecht der Kirchen, Herder-Korrespondenz 61 (2007), 44 ff. 316 Göbel (Fn. 100), 131. 317 Sie lautet: „Christus der Herr hat der Kirche das Glaubensgut anvertraut, damit sie unter Beistand des Heiligen Geistes die geoffenbarte Wahrheit heilig bewahrt, tiefer erforscht und treu

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für die kirchliche Existenz und das Wofür/Um-Willen kirchlicher Handlungsfreiheit ad extra zum Ausdruck gebracht. Die katholische Kirche hält damit der Welt gegenüber am katholischen Wahrheitsanspruch fest und sieht sich als Interpretin der sittlichen Ordnung318. Sie relativiert aber ihren Wahrheitsanspruch dem Staat gegenüber, indem sie für sich ein Hüter- und Wächteramt postuliert, das die staatliche Ordnung zwar nicht positiv zur Einhaltung katholischer Wert- und Ordnungsvorstellungen verpflichten kann, aber immer wieder deren Beachtung einfordert. Der Staat und die staatliche Rechtsordnung werden nicht als absolute, sondern nur relative Größen angesehen, weil sie nicht selbst Quelle von Wahrheit und Moral sein können319. Dies mündet nicht in eine Form katholischen Absolutismus, sondern in eine konkordante Zuordnung, die das je Eigene respektiert: „Beide [sc. Staat und Kirche] aber dienen, wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen Berufung des gleichen Menschen. Diesen Dienst können beide zum Wohl aller umso wirksamer leisten, je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen; dabei sind jeweils die Umstände von Ort und Zeit zu berücksichtigen“320. Aus katholischer Sicht bleibt zwischen dem Staat und seiner Rechtsordnung und dem Reich Gottes ein unaufgebbarer Unterschied. Der Staat kann nur etwas Vorletztes sein, während das Reich Gottes eine Verheißung Gottes an die Gläubigen ist, das auf Erden nicht Wirklichkeit werden kann und das keine ausschließlich menschliche Angelegenheit ist, wenngleich die Botschaft ein Anruf an den Gläubigen ist, hier und jetzt der Verheißung in seinem freiheitlichen Tun zu antworten. Die Kirche und ihre Mitglieder sind zur Zeugenschaft und aktiven Gestaltung berufen und verpflichtet321. „Die Kirche mischt sich ein und fällt auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet ein sittliches Urteil, wenn die Grundrechte der Person, das Gemeinwohl oder das Heil der Seelen es erfordern“322. Die Kirche, die Katholiken haben die Stärke des Rechts zu unterstützen, nicht das Recht des Stärkeren323. Aus katholischer Sicht gilt den ethischen Grundlagen einer Rechtsordnung deshalb immer besondere Aufmerksamkeit324.

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verkündigt und auslegt; daher ist es ihre Pflicht und ihr angeborenes Recht, auch unter Einsatz der ihr eigenen sozialen Kommunikationsmittel, unabhängig von jeder menschlichen Gewalt, allen Völkern das Evangelium zu verkündigen“. Vgl. c. 747 § 2 CIC, der Lumen Gentium Nr. 76 in die kirchliche Rechtsordnung überführt. In der kodikarischen Bestimmung heißt es: „Der Kirche kommt es zu, immer und überall die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern“. Dazu näher Göbel (Fn. 100), 133–136. Siehe nur J. Kardinal Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruch: Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, 2005, 55 f., 63 f. Gaudium et spes, Art. 76. Zur Bedeutung der Zeugen nach innen wie nach außen: Karl Lehmann/Rudolf Schnackenburg, Brauchen wir noch Zeugen? Die heutige Situation in der Kirche und die Antwort des Neuen Testaments, 1992. Katechismus der katholischen Kirche: Kompendium, 2005, Tz. 510. In Anlehnung an Ratzinger (Fn. 319), 29. Vgl. W. Kluxen, Christliche Werte in einer pluralistischen Welt, in: ders., Moral, Vernunft, Natur: Beiträge zur Ethik, hrsg. von W. Korff und P. Mikat, 1997, 202 (205). Siehe auch K. Demmer, Angewandte Theologie des Ethischen, 2003, 243 ff.

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Anker des kirchlichen, des katholischen Wirkens sind nicht nur die institutionellen Strukturen, sondern vor allem die handelnden Individuen, deren Gewissen und Handlungsmaximen die Kirche zu beeinflussen sucht. Insofern ist der Ansatz der facultas directiva ein moralisch-ethischer. So sehr das individuelle Gewissen und das Handeln des einzelnen Gläubigen dabei nach katholischer Auffassung einen hohen Rang besitzen, so wenig ist es unverbindlich und allein dem subjektiven Wollen überlassen325. Katholisch sind Ordnungsvorstellungen und Werte nur dann, wenn sie als Teil der katholischen Kirche erkennbar und ihre religiöse Verbindlichkeit aus dem biblischen Glaubensfundament und der Lehrtradition beziehen. Gleichwohl hat die Kirche und mit ihr das Lehramt „Spielregeln und Mechanismen demokratischer Meinungsbildung nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie aktiv zu respektieren“326, wenn es zwischen Kirche, Katholizismus und Staat zu einem gelingenden Dialog kommen soll. Die Kirche vertritt aber nicht nur ihre Eigeninteressen, sondern zeigt immer wieder altruistisches Engagement, indem sie sich einer sozialanwaltlichen Funktion zugunsten der Schwächeren und Benachteiligten verpflichtet weiß327. Theologisch fundiert ist dies in der Botschaft vom Reich Gottes, aus dem sittliche Implikationen für das Handeln des einzelnen Gläubigen und der Kirche folgen328. Kirche wie Gläubige sind zur aktiven Weltgestaltung aufgerufen329. Dies beschränkt sich nicht auf caritatives Wirken, sondern fordert ggfs. auch politisches Engagement. Die Kirche wird sich nicht als „Sozialkitt“ und gesellschaftlicher Integrationsfaktor vereinnahmen lassen dürfen, wenn sie sich um ihrer eigenen Identität und Glaubwürdigkeit willen daran gehindert sieht, selbst wenn die Herstellung eines gesellschaftlich-politischen Konsenses auf der Grundlage der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufruht. Als Repräsentantin eines übernatürlichen Sendungsauftrags soll die Kirche sich all den Entwicklungen entgegenstellen, die ihren christlich-katholischen Grundanschauungen zuwiderläuft. Die Autonomie der Sachbereiche ist von der Kirche zu respektieren, aber sie darf sie mit ihren Ordnungsvorstellungen kontrastieren und auf Veränderungen drängen. Die Kirche wie die Gläubigen sollen sich der besonderen Gemeinwohlverantwortung bewußt sein und entsprechend verhalten. 2. Wahrnehmungszuständigkeit für das katholische Gedankengut Die Wahrnehmungszuständigkeit zur Artikulation katholischer Positionen liegt nicht nur bei den institutionellen Strukturen (Bischofskonferenz, den einzelnen Diözesanbischöfen als Vorsteher der Teilkirche oder Pfarrern), sondern kommt auch den einzelnen Gläubigen zu. Gerade den Forschungen Alexander Hollerbachs ist die 325 Vgl. Ratzinger (Fn. 319), 102 ff. 326 So Demmer (Fn. 324), 282. 327 Zu diesem Aspekt siehe umfassend M. Heimbach-Steins, Einmischung und Anwaltschaft: Für eine diakonische und prophetische Kirche, 2001. 328 Grundlegende bibeltheologische Verortung bei H. Merklein, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip: Untersuchung zur Ethik Jesu, 3. Aufl., Würzburg 1984; ders., Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, eine Skizze, 2. Aufl., 1984. 329 H. Merklein, Die Reich Gottes-Verkündigung Jesu, in: P. Gordan (Hrsg.), Säkulare Welt und Reich Gottes, 1987, 51 (77 ff.).

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Betonung dieses Aspekts zu verdanken330. Insbesondere die „Einflußnahme“ auf die Rechtsordnung und deren politische Gestaltung ist nicht bei den amtskirchlichen Strukturen monopolisiert, sondern wird aktiv auch durch katholische Verbände oder Individualpersonen mitgestaltet. Die Akteure reichen vom Kommissariat der deutschen Bischöfe über den Deutschen Caritasverband und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken bis hin zu den vielen Einzelverbänden (z.B. KAB). Gerade die Verbände sind das Markenzeichen des deutschen Katholizismus. Der CIC 1983 formuliert aufgrund des ekklesiologischen Grundstatus des Christgläubigen einen allgemeinen, von sakramentaler Weihe und hierarchischer Einbindung unabhängigen Weltsendungsauftrag. In c. 225 § 2 CIC 1983 heißt es dazu: „Sie [sc. die Laien] haben auch die besondere Pflicht, und zwar jeder gemäß seiner eigenen Stellung, die Ordnung der zeitlichen Dinge im Geiste des Evangeliums zu gestalten und zur Vollendung zu bringen und so in besonderer Weise bei der Besorgung dieser Dinge und bei der Ausübung weltlicher Aufgaben Zeugnis für Christus abzulegen“. Dies setzt voraus, daß dem einzelnen Gläubigen in der Rechtsordnung entsprechende Rahmenbedingungen eingeräumt sind, die sein politisches – oder modern gesprochen: bürgergesellschaftliches – Engagement ermöglichen und garantieren. Hierbei sind die einzelnen Gläubigen aber grundsätzlich an die kirchlichen Vorgaben gebunden. C. 227 umschreibt diesen Komplex folgendermaßen: „Die Laien haben das Recht, daß ihnen in den Angelegenheiten des irdischen Gemeinwesens jene Freiheit zuerkannt wird, die allen Bürgern zukommt; beim Gebrauch dieser Freiheit haben sie jedoch dafür zu sorgen, daß ihre Tätigkeiten vom Geist des Evangeliums erfüllt sind, und sich nach der vom Lehramt der Kirche vorgelegten Lehre zu richten; dabei haben sie sich jedoch davor zu hüten, in Fragen, die der freien Meinungsbildung unterliegen, ihre eigene Ansicht als Lehre der Kirche auszugeben“. Anders als die Laien sind Kleriker bei der politischen Betätigung weitgehenden Beschränkungen unterworfen, weil das Kirchenrecht von einer Inkompatibilität von politischem Wahlamt und Priesteramt ausgeht331. Hintergrund der Restriktionen für die Kleriker ist, daß ihre Aufgabe und ihr Amt sie eher zu gesellschaftlichem Ausgleich verpflichtet und nicht zur prononciert politischer Aktivität. Das Kirchenrecht erteilt dem lange verbreiteten Konzept des „politischen Prälaten“ (oder „Zentrumsprälaten“) damit eine definitive Absage. Der Kreis derjenigen Personen, der für die katholische Kirche sprechen und handeln

330 Vgl. die verschiedenen Beiträge in Hollerbach (Fn. 1). Bemerkenswert ist der sozialpolitische Einfluß der beiden Theologen Oswald von Nell-Breuning und etwa auch des späteren Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Joseph Höffner. Zu ihm näher K. Gabriel/H.-J. Große Kracht (Hrsg.), Joseph Höffner (1906–1987) – Soziallehre und Sozialpolitik: „Der personale Faktor…“, 2006. Hinsichtlich der Grundlagen – weniger vielleicht wegen ihres politischen Einflusses – ließen sich andere Soziallehrer wie Johannes Messner u.a.m. anführen. 331 Eine Mitwirkung (in Form eines öffentlichen Amts) in Legislative, Exekutive oder Judikative, die eine Teilhabe an der Ausübung weltlicher Gewalt bedeutet, ist den Klerikern erlaubnislos verboten. Dazu, daß zuerst vorgesehene Erlaubnisvorbehalte letztlich gestrichen wurden, siehe Göbel (Fn. 100), 175 f. m.w.N. Das Kirchenrecht sieht in den Klerikern zwar keine politischen Neutren und verbietet auch nicht apriori eine (passive) Mitgliedschaft in politischen Parteien, Gewerkschaften oder vergleichbaren Institutionen. Eine aktive Mitgliedschaft ist den Klerikern nur zugestanden, wenn dies nach dem Urteil der kirchlichen Autorität erforderlich ist, um die Rechte der Kirche zu schützen oder das allgemeine Wohl zu fördern.

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kann, ist kirchenrechtlich beschränkt332. „Katholisch“ handeln können und sollen natürlich alle Katholiken. Sofern Einzelpersonen als Politiker, Wissenschaftler oder in welcher Funktion auch immer tätig werden, sind sie nach katholischer Vorstellung nicht völlig ungebunden, sondern gehalten, bei ihrem Handeln naturrechtliche Überlegungen, kirchenamtliche Vorgaben u.a.m. zu beachten (vgl. c. 752 CIC 1983)333. Wie dies zu geschehen hat und welche Rolle dabei ggfs. das Gewissen des Einzelnen gegenüber dem kirchlichen Lehramt spielt, ist in seiner Problematik an der Auseinandersetzung um die nichtkirchlichen Beratungsstellen Donum Vitae deutlich geworden. Für Böckenförde haben Abwägungen durchaus einen „theologischen Rückhalt“, selbst wenn dabei „eine Differenz zur Ordnung des natürlichen Sittengesetzes auftritt“334. Hier ist die Stelle, an der es immer wieder zu unterschiedlichen Beurteilungen zwischen den lehramtlichen Vorgaben und individuellen Gewissensentscheidungen kommen kann, eine Spannung zwischen Individuum und Institution, die es dann auszuhalten gilt. Für die wissenschaftlichen Zusammenhänge ist schließlich die Feststellung nicht unwesentlich, daß es eine an Dogma und Moraltheologie gebundene „katholische Rechtswissenschaft“ nicht geben kann, da es nicht Aufgabe der Rechtswissenschaft ist, die katholischen Rechtsvorstellungen zu vollstrecken335. Für die Wissenschaft vom Kanonischen Recht gilt etwas anderes. Daß von katholischen Wissenschaftlern als Person erwartet wird, daß sie sowohl an der Konkretion der kirchlichen Lehre mitarbeiten als auch die Äußerungen des Lehramts beachten, ist keine Attacke gegen die Autonomie der Wissenschaft oder die Wissenschaftsfreiheit des einzelnen Forschers. Im deutschen Katholizismus sind die sog. Katholischen Büros336 neben dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZDK)337 und den Katholikentagen338 sicherlich die bemerkenswertesten Akteure und Foren, in denen sich katholische Gemeinwohlverantwortung bündelt und dann auch gegenüber der staatlichen Rechtsordnung auswirken soll. Zwar sind die katholischen Büros eine Art amtskirchlicher Substruktur, sie dienen aber gleichzeitig auch der Präformation der unterschiedlichsten Ansätze im deutschen Katholizismus. Anders als etwa die Bischöfe, wenn sie 332 Zur Berechtigung, im Namen der Kirche im Rahmen der tria munera (Verkündigungs-, Heiligungsund Leitungsdienst) zu handeln – ggfs. auch für Laien –, näher Stephan Schwarz, Strukturen von Öffentlichkeit im Handeln der katholischen Kirche: Eine begriffliche, rechtshistorische und kirchenrechtliche Untersuchung, 227 ff., 265 ff. 333 Zum verpflichtenden Charakter von Enzykliken eingehende Überlegungen bei E.-W. Böckenförde, Über die Autorität päpstlicher Lehrenzykliken, TQu 186 (2006), 22 ff. 334 E.-W. Böckenförde, Überlegungen zu einer Theologie des modernen säkularen Rechts, in: RuhrUniversität-Bochum, Universitätsreden Nr. 9, 1999, 27 (44 f.). Weiter heißt es dort: „Das Ziel bleibt dabei, ein relatives Optimum hinsichtlich der Realisierung ethisch-sittlicher Gehalte zu erreichen, doch öffnet sich – theologisch legitimiert – ein Feld verantwortlicher Abwägung auf der Grundlage zureichender Wirklichkeitserkenntnis, wie sie durch die Tugend der Klugheit vermittelt wird“ (ebda., 45). 335 A. Hollerbach, Katholizismus und Jurisprudenz, in: ders. (Fn. 1), 23 (51). 336 Vgl. demnächst dazu F. Ganslmeier, Kirchliche Interessenvertretung im Bundesstaat – insbesondere Rechtsstellung und Arbeitsweise der ‚Katholischen Büros’. Lic. iur.can. Universität Münster (eine überarbeitete Fassung soll demnächst als Monographie erscheinen). Sehr instruktiv Liedhegener (Fn. 25), 276 ff., 313 ff. 337 Näher dazu Liedhegener (Fn. 25), 266 ff. 338 Liedhegener (Fn. 25), 270 ff.

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z.B. Wahlhirtenbriefe schreiben, obliegt den Katholischen Büros auf Bundes- und Landesebene die Aufgabe, nicht nur kirchliche Interessen bei der Gesetzgebung im Rahmen eines Lobbying zu vertreten, sondern zudem – und vorrangig – das gemeinwohlverpflichtete „Wächteramt“ in der alltäglichen rechtspolitischen Praxis wahrzunehmen339. V. Wechselbezüglichkeiten zwischen katholischer Kirche und Staat Kursorisch ist auf besondere Ordnungszusammenhänge zwischen Staat und katholischer Kirche hinzuweisen, bei denen die beiden Rechtsordnungen in einem besonderen Kontakt stehen. 1. Verweisungszusammenhänge zwischen staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung Das katholische Kirchenrecht verweist an verschiedenen Stellen auf die staatliche Rechtsordnung und rezipiert staatliche Regelungen340. Der ordnungsrechtliche Graben zwischen kirchlicher und staatlicher Rechtsordnung soll – je nach den teilkirchlichen Ordnungsbedürfnissen – nicht zu groß werden. Im kirchlichen Vermögensrecht wird dies etwa an einer Bestimmung wie c. 1274 § 5 deutlich, wonach kirchenzugehörige Einrichtungen, soweit möglich, so verfaßt sein sollen, daß sie auch nach staatlich zivilem Recht „Wirksamkeit entfalten“ können341. Hier ist es beachtenswert, daß katholischen Institutionen wie z.B. Vereinen – oder auch freien Zusammenschlüssen von Gläubigen – gleichsam eine rechtliche Doppelexistenz in der staatlichen und kirchlichen Rechtsordnung zukommt342. Die kirchenrechtliche Rezeption staatlicher Normen ist Regelungsgegenstand des c. 22 CIC. Staatliche Rechtsnormen können kanonisiert werden und mutieren auf diesem Wege zu (auch) – vollgültigen – kirchenrechtlichen Normen, weil weltliche Gesetze durch den kirchlichen Verweisungsvorgang dieselben Rechtswirkungen 339 Dazu und den Nuancierungen Liedhegener (Fn. 25), 316 f. m.w.N. Ferner K. Jüsten, ‚Nicht Liebediener des Staates’. Ein Gespräch mit Prälat Karl Jüsten, dem Leiter des Berliner Katholischen Büros, Herder-Korrespondenz 61 (2007), 123 ff. Ob das katholische Wächteramt mit dem eher evangelischen Konzept des Öffentlichkeitsauftrags konvergiert, sei an dieser Stelle unberücksichtigt. Allgemein K. Schlaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, HdbStKirchR 2II (1995), 131 ff. 340 Grundlegend dazu S. Haering, Rezeption weltlichen Rechts im kanonischen Recht: Studien zur kanonischen Rezeption, Anerkennung und Berücksichtigung weltlichen Rechts im kirchlichen Rechtsbereich aufgrund des Codex Iuris Canonici, 1998. 341 Zu dieser Bestimmung siehe Aymans/Mörsdorf (Fn. 76), 328. 342 Dazu S. Muckel, Kirchliche Vereine in der staatlichen Rechtsordnung, in: HdbStKirchR 2I (1994), 827 (839). Bemerkenswert als historische Reminiszenz ist der Umstand, daß der Körperschaftsstatus – bis zur kirchengeschichtlichen Wende des Zweiten Vatikanums und der ekklesiologischen Neujustierung – eigentlich mit den kirchenrechtlichen Organisationsvorstellungen nicht konvergierte. Kanonistisch lag eher ein rein anstaltliches Kirchenverständnis vor, das die Kirche und ihre Untergliederungen unabhängig von einem persönlichen Substrat dachte. Zu diesem Aspekt siehe nur H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, 1966, 105 f. m.w.N.

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zugesprochen bekommen wie Normen der kirchlichen Rechtsordnung. Systemisch verallgemeinern läßt sich dies aber nicht. Solche Rezeptionsvorgänge sind – trotz der nicht geringen Anzahl an Verweisungsvorschriften343 – auf drei Regelungsbereiche des Kirchenrechts beschränkt: kirchliches Vermögensrecht (hier insbesondere die Rechtsgeschäfte)344, bei gewissen Rechtsförmlichkeiten und schließlich bei familienrechtlichen Sorgeverhältnissen345. 2. Staatliche Beteiligung an innerkirchlichen Vorgängen Des weiteren bestehen – durch Staatskirchenverträge – konsentierte Mitwirkungsbefugnisse des Staates bei innerkirchlichen Vorgängen wie Bischofsernennung, insbesondere die Rechtsinstitute Treueid346 oder politische Klausel347 sind hier zu nennen. Bei den katholischen Staatskirchenverträgen der neueren Generation wird auf derartige staatliche Mitwirkungsbefugnisse aber nunmehr weitgehend verzichtet. VI. Problemorientierter Überblick: Katholische Prinzipien und staatliche Rechtsordnung 1. Glaube, Naturrecht und natürliches Sittengesetz Der Einfluß des Katholizismus auf die staatliche Rechtsordnung ist eingangs als Problempunkt avisiert worden. Wenn heute religiöse Einflüsse auf die Rechtsordnung konstatiert werden, so werden sie weniger als katholische denn als christliche Prägungen markiert. Damit stellt sich die Frage: Wo lassen sich specifica catholica hinsichtlich der staatlichen Rechtsordnung feststellen348? Für die innerkirchliche Rechtsordnung ist dies dargelegt worden, im Hinblick auf die staatliche Rechtsordnung ist es aber eine offene Frage.

343 Umfassende Darstellung bei Haering (Fn. 340), 41 ff. und passim. Siehe auch die Auflistung bei Göbel (Fn. 100), 184. 344 Bemerkenswert ist im ehemals preußischen Rechtskreis das Vermögensverwaltungsgesetz von 1925, dessen Vorläufer ein aus dem Kulturkampfjahr 1875 stammendes Gesetz war. Dieses Gesetz wird als Musterbeispiel der sog. Lex canonizata angesehen. Das staatliche Gesetz löst die kirchenvermögensrechtliche Entscheidungsbefugnis aus der Alleinzuständigkeit – vorbehaltlich kirchlicher Aufsichts- und Genehmigungsrechte – des Ortspfarrers und implementiert die Beteiligung von Laien bei derartigen Entscheidungen. Ein Verstoß etwa gegen c. 532 CIC 1983, nach der die Vertretung des (Orts-) Kirchenvermögens allein beim Pfarrer liegt. 345 Vgl. Göbel (Fn. 100), 188. 346 U. M. Dahl-Keller, Der Treueid der Bischöfe gegenüber dem Staat: Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtige staatskirchenrechtliche Bedeutung, 1994. 347 Dazu siehe nur W. Rüfner, Zur ‚Politischen Klausel‘ in Konkordaten und Kirchenverträgen, in: Recht in Kirche und Staat: Joseph Listl zum 75. Geburtstag, hrsg. von W. Rees, 2004, 783 ff. 348 Minima catholica der Wissenschaft finden sich aufgelistet bei Hollerbach (Fn. 335), 50 ff.

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Bei den theologischen Fachdisziplinen könnten vor allem die Moraltheologie349 und die Katholische Soziallehre350 Antworten auf die Frage nach spezifisch katholischen „Gestaltungsansprüchen“ geben. Hinweise ließen sich ggfs. auch in der Botschaft von der Königsherrschaft Gottes aufspüren. Bei all dem werden sich aber – bis auf einige Grundsatzthemen – keine kasuistischen Handlungsanweisungen finden lassen, die das Geforderte „rubrizistisch“ vorgeben351. Nicht wenige theologische Aussagen bewegen sich im Prinzipiellen und zeigen allenfalls die Grundtendenz an und erfahren durch die Zeitläufte Anpassungen. Der Sektor Umweltschutz und Schöpfungstheologie ist ein signifikantes Beispiel für diesen Umstand. Aber selbst das Naturrecht formuliert keine unwandelbare, in alle Einzelheiten festgelegte Ordnung. Für das Thema Katholizismus und Rechtsordnung nicht unerhebliche Fingerzeige gibt die lehrmäßige Note der Glaubenskongregation vom 24. November 2002352, die einige dem christlichen Gewissen eigene Prinzipien in Erinnerung rufen wollte, „die den sozialen und politischen Einsatz der Katholiken in den demokratischen Gesellschaften inspirieren sollen“353. Die lehrmäßige Note stellt dabei keinen umfassenden Forderungskatalog auf. Vielmehr appelliert sie konkret-individuell an die Tätigkeit politisch Handelnder. Die Note stellt heraus, daß es keine kirchliche Aufgabe ist, konkrete Lösungen für zeitliche Fragen zu entwickeln. „Es ist freilich das Recht und die Pflicht der Kirche, moralische Urteile über zeitliche Angelegenheiten zu fällen, wenn dies vom Glauben und vom Sittengesetz gefordert ist“354. Einerseits nimmt die Kirche ihren Ordnungsanspruch gegenüber der staatlichen Rechtsordnung zurück und will damit die „Autonomie des Sachbereichs“ Staat respektieren, andererseits bedeutet dies für die Kirche nicht, darauf zu verzichten, „die zeitliche Ordnung christlich zu beseelen“. Das, was den Staat wesentlich trägt, soll nach katholischem Verständnis mit christlich-naturrechtlichen Vorstellungen konvergieren. Eine zusammenfassende Darstellung dieser Aspekte anhand der kirchlichen Soziallehre bietet das 2006 in deutscher Sprache erschienene Kompendium der Soziallehre der Kirche355.

349 Wegen seiner abwägungsfreundlichen, flexiblen Konzeption bei der Beantwortung moralischer Fragen über lange Zeit stark rezipiert Böckle (Fn. 109). Siehe auch F. Böckle, Ja zum Menschen: Bausteine einer konkreten Moral, aus dem Nachlaß hrsg. von G. Höver, 1995. 350 Aus der Fülle der Literatur als Klassiker, J. Kardinal Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 8. Aufl. Kevelaer 1983; ferner R. Marx/H. Wulsdorf, Christliche Sozialethik: Konturen, Prinzipien, Handlungsfelder, Paderborn 2002; M. Heimbach-Steins (Hrsg.), Christliche Sozialethik: Ein Lehrbuch, Bd. I (2004), Bd. II (2005). Insbesondere aber die Summe der kirchlichen Sozialverkündigung: Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, 2006. 351 Die Zeiten kleinteiliger Vorgaben war nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil vorbei. Es nimmt insofern nicht wunder, daß folgendes Werk nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil keine Fortsetzung fand: H. Jone, Katholische Moraltheologie auf das Leben angewandt unter kurzer Andeutung ihrer Grundlagen und unter Berücksichtigung des CIC sowie des deutschen, österreichischen und schweizerischen Rechts, 17. Aufl. 1961/18. Aufl. 1964. 352 Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 158). 353 Lehrmäßige Note (Fn. 352), Tz. 1 a.E. 354 Lehrmäßige Note (Fn. 352), Tz. 3. 355 Siehe oben Fn. 350. Dazu A. Rauscher, Impulse und Wegweisung: Das Kompendium der Soziallehre der Kirche, Kirche und Gesellschaft Nr. 328, 2006.

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Das schwierige Themenfeld des göttlichen und natürlichen Sittengesetzes356, des katholischen Naturrechts357, des Verhältnisses von Recht und Sittlichkeit, Recht und Moral/Ethik zu betreten, bedeutet, sich in eine lange Entwicklungsgeschichte zu verstricken. So sehr die Naturrechtsfragen ein „Gravitationspunkt“ (A. Hollerbach) des katholischen Rechtsdenkens sind358, so wenig ist daraus zwingend ein „Naturrechtspositivismus“ eines Adolf Süsterhenn zu folgern. Die Berufung auf das natürliche Sittengesetz oder das Naturrecht entbindet nicht von vernünftiger Argumentation; vielmehr zeigen sich in dem sittlichen Naturgesetz Vernunft und Wahrheit359. Die katholische Position wird im Ergebnis weniger eindeutig sein, als ihr unterstellt wird, da auch das Naturrecht immer wieder der Vergegenwärtigung bedarf, die Wandlungen im Laufe der Zeit nicht ausschließt360. Bei der rechten Zuordnung von Moral und Recht, katholischen Rechtsdenkens und staatlicher Rechtsordnung wird es grundsätzlich das Ziel sein, den sittlichen Grund des Rechts zum Durchscheinen zu bringen. Nicht selten dürfte heute schon der Topos vom Naturrecht kirchlicherseits durch den der Menschenrechte ersetzt werden361. Hierbei werden die katholischen Richtmaße und Forderungen hinsichtlich der staatlichen Rechtsordnung unterschiedlich sein und eine „Hierarchie der Wahrheiten“ widerspiegeln. Daß dies nicht unbeeinflußt vom kirchlichen Lehramt geschieht, ist eine katholische Spezialität, die etwa bei den Fragen Schutz des ungeborenen Lebens, der Sterbehilfe, dem Problem von Menschenwürde und Gentechnologie auch zum Problem wird, da kirchliches Lehramt und politisch und religiös verantwortliches Handeln von Entscheidungsträgern durchaus auseinanderfallen können.

356 Ausführlich zur katholischen Position: Katechismus (Fn. 21), Tz. 1950 ff.; Kompendium (Fn. 350), Tz. 89 und passim. Siehe auch Böckle (Fn. 109), 235 ff. 357 Vgl. dazu nur A. Hollerbach, Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens, in: ders. (Fn. 1), 231 ff.; ders., Das Verhältnis der katholischen Naturrechtslehre des 19. Jahrhunderts zur Geschichte de Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, ebda., 258 ff.; ders., Was ist aus der deutschen Naturrechtsdiskussion geworden?, ebda., 178 ff. Zum Themenfeld siehe auch E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde: Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, 1996. 358 „Das Naturrecht ist – besonders in der katholischen Kirche – die Argumentationsfigur geblieben, mit der sie in den Gesprächen mit der säkularen Gesellschaft und mit anderen Glaubensgemeinschaften an die gemeinsame Vernunft appelliert und die Grundlagen für eine Verständigung über die ethischen Prinzipien des Rechts in einer säkularen pluralistischen Gesellschaft sucht. Aber dieses Instrument ist leider stumpf geworden […].“ Ratzinger (Fn. 319), 35. 359 „Die Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt, von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist“. Benedikt XVI., Enzyklika „Deus caritas est“ vom 25. Dezember 2005 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 171), Tz. 28. 360 In diesem Sinn auch Schockenhoff (Fn. 357), 313 ff. Siehe auch P. Mikat, Grundelemente katholischer Staatsauffassung, in: K. Forster (Hrsg.), Christentum und Liberalismus (Studien und Berichte der Katholischen Akademie in Bayern, Heft 13), 1960, 85 (102 ff.). 361 Vgl. Ratzinger (Fn. 319), 35 f.

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2. Wegweisung vor allem durch zwei Sozialprinzipien a) Das Prinzip Personalität Die lehramtliche Sozialverkündigung weist dem Personalitätsprinzip bei der Gestaltung der staatlichen Rechtsordnung wegweisende Bedeutung zu. Die menschliche Personalität ist letzter Maßstab der Gestaltung sozialer Strukturen: “Ursprung, Träger und Ziel aller sozialer Institutionen ist und muß sein die menschliche Person“362. Der Mensch als Person weiß dabei, daß er seine Herkunft dem schöpferischen Handeln Gottes verdankt und an der schöpferischen Kraft Gottes teilhat. Der Mensch ist befähigt zur Selbstreflexion, zur Selbstüberschreitung und zur Gestaltung seiner sozialen Mitwelt und natürlichen Umwelt363, kurzum zur Freiheit berufen364. Alles, was nach katholischem Verständnis Mensch ist, trägt besondere Menschen- und Personenwürde, weshalb die Frage nach Beginn und Ende des menschlichen Lebens von besonderer – „katholischer“ – Bedeutung ist. Gerade bei der Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG zeigen sich die Meinungsverschiedenheiten und die rechtstheologischen Probleme, wer über Leben und Würde des Menschen bestimmt365. Auf diese Qualifikation des Menschen als Person ist auch das Gemeinwohl hingeordnet. In dieser personenbezogenen Orientierung des Gemeinwohls liegt die Existenzberechtigung des Staates. Die Gesamtheit der Bedingungen des menschlichen Lebens366 soll es für den Einzelnen, die Familien und die gesellschaftlichen Gruppen ermöglichen, ihre eigene Vervollkommnung voller und ungehinderter zu erreichen367. Deshalb verpflichtet das Konzil die einzelnen Christen zum Einsatz für das personenbezogene Gemeinwohl und zur Hintanstellung von Sonderinteressen368. Es gibt zudem vor, daß die Ordnung der Dinge der Ordnung der Personen dienstbar gemacht werden muß und nicht umgekehrt369. b) Das Subsidiaritätsprinzip Das Subsidiaritätsprinzip ist der katholische „Exportschlager“ für die Rechts- und Sozialordnung370. Das Prinzip sucht die Wahrung eigener Kompetenz und Zustän362 Pastoralkonstitution Gaudium et spes Nr. 25 Abs. 1. 363 A. Baumgartner, Personalität, in: Heimbach-Steins Bd. I (Fn. 350), 265 (267). 364 „Man kann sagen, daß an der Wurzel all dieser Dokumente des Lehramts das Thema der Freiheit des Menschen steht. Die Freiheit wird dem Menschen vom Schöpfer gegeben als Gabe und Aufgabe zugleich. Der Mensch ist nämlich dazu berufen, mit seiner Freiheit die Wahrheit über das Gute anzunehmen und zu verwirklichen. Indem er einen wahren Wert in seinem persönlichen Leben und in der Familie, im wirtschaftlichen und politischen Leben, auf nationaler und internationaler Ebene wählt und in die Tat umsetzt, verwirklicht er seine eigene Freiheit in der Wahrheit“. Johannes Paul II., Erinnerung und Identität. Gespräche an der Schwelle zwischen zwei Jahrtausenden, 2005, 61 f. 365 Statt vieler siehe nur W. Höfling, Wer definiert des Menschen Leben und Würde, FS Isensee (Fn. 291), 525 ff. m.w.N. 366 Gaudium et spes Nr. 26. 367 Gaudium et spes Nr. 74. 368 Gaudium et spes Nr. 75. 369 Gaudium et spes Nr. 26. 370 Siehe J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2003; ders., Subsidiarität – das Prinzip und seine Prämissen, in: P. Blickle u.a. (Hrsg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, 2002, 129 ff. (RECHTSTHEORIE, Beiheft 20).

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digkeit zu sichern (Kompetenzanmaßungsverbot), verpflichtet aber die nächsthöhere Einheit/Instanz gleichzeitig zu Hilfestellungen, wenn die untere Einheit die ihr gestellte Aufgabe nicht erfüllen kann (Hilfestellungsgebot). Das Subsidiaritätsprinzip ist ein offenes Strukturprinzip, das sich variabel anwenden läßt. Es läßt sich auf das föderale Gefüge des Staates ebenso applizieren wie auf die vorrangige Erziehungskompetenz der Eltern. 3. Konkrete Problemfelder Die Schwierigkeiten des Verhältnisses von Katholizismus und Rechtsordnung zeigen sich in besonderer Weise gerade beim „Umgießen“ katholischer Vorstellungen in konkrete Maßnahmen oder Rechtsnormen des Staates. Ob dies erfolgreich oder weniger geschehen ist, wird eine kontrovers beurteilte Frage bleiben: je nach Standpunkt des Betrachters. Der Politologe Liedhegener hat die politische Einflußnahme des Katholizismus in Deutschland als „bedingt erfolgreich“ qualifiziert371. Aufschluß darüber können konkrete Themenfelder geben. a) Der Schutz des menschlichen Lebens Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens erfährt seitens der Kirche – „sei es gelegen oder ungelegen“ (4 Tim 4,2) – besondere Aufmerksamkeit. Hier nimmt die katholische Kirche in besonderer Weise ihr Wächteramt gegenüber der staatlichen Rechtsordnung wahr, indem sie immer wieder den Lebensschutz einfordert372. Gleichwohl werden auch die im einzelnen fast unlösbaren Schwierigkeiten erkannt, die sich gerade in diesem Bereich ergeben. Es ist ebenso bemerkenswert wie „typisch katholisch“, daß die Lehrmäßige Note von 2002 dem Mitglied einer gesetzgebenden Körperschaft keine klare, absolute Direktive gibt, die letztlich per se zum Scheitern verurteilt ist, weil es sich um eine unlösbare Maximalforderung handelt. Zwar weicht das Lehramt nicht von der Absolutheit des Lebensschutzes als Aufgabe und Aufgegebenes zurück, doch eröffnet sie dem Mitglied einer gesetzgebenden Körperschaft durchaus die Option, im Zweifel den Gesetzentwurf zu unterstützen, der am weitesten um „Schadensbegrenzung“ bemüht ist. Wie schwierig die Realisierung des Lebensschutzes ist, zeigen die Auseinandersetzungen um den § 218 StGB. Kirche, die Katholikentage, katholische Verbände und einzelne Gläubigen haben sich dieses Themas immer wieder in besonderer Weise angenommen373. Gerade dieser Bereich unterliegt auch nicht unerheblichen Wandlungen und Spannungen. Die dezidierte Rechtspolitik der alten Bundesrepublik wich nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit einem eher integrativen Ansatz, der zwischen harter strafrechtlicher Verfolgung und beliebiger Straffreiheit angesichts der unterschiedlichen Regelungen in der ehemaligen DDR und der 371 Liedhegener (Fn. 25), 435 ff. m.w.N. 372 Die Fragen sind sehr vielfältig; siehe etwa: Der Mensch: sein eigener Schöpfer. Wort der Deutschen Bischofskonferenz zu Fragen von Gentechnik und Biomedizin vom 7. März 2001 (Die deutschen Bischöfe Nr. 69). 373 Siehe Liedhegener (Fn. 25), 335 ff. m.w.N.; ferner Kösters/Liedhegener/Tischer (Fn. 47), unter Pkt. IV.

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Bundesrepublik Deutschland zu vermitteln suchte. Auf das Konzept „Beratung“ – gleichsam als Dritten Weg zwischen den Extrempositionen – haben der organisierte Laienkatholizismus gemeinsam mit dem deutschen Episkopat nicht unerheblichen Einfluß ausgeübt374. Damit wurde eine Lösung verfolgt, die zu einem Konflikt mit dem Papst, zur Nichterteilung des Beratungsscheins bei kirchlichen Beratungsstellen und der Gründung des Vereins „Donum Vitae“ als eine ausdrückliche Initiative des deutschen Laienkatholizismus führte. Die Mitwirkung des deutschen Katholizismus am rechtspolitischen Kompromiß verlagerte den Streit um den besten Weg des Lebensschutzes in die Kirche und mutierte zu einer Auseinandersetzung über kirchliche Lehrinhalte und Lehrautorität375. b) Einsatz für Ehe und Familie Der Schutz von Ehe und Familie durch die staatliche Rechtsordnung ist für die katholische Kirche ein besonderes Anliegen und Ausfluß des Personalitätsprinzips376. Die Familie ist eine gottgegebene „erste natürliche Gesellschaft“377, in die jeder Mensch hineingeboren wird und die Vorrang vor der Gesellschaft und dem Staat besitzt378. Die Familie liegt dem Staat voraus. Staat und Gesellschaft, die Rechtsordnung haben hinsichtlich der Familie das Subsidiaritätsprinzip zu achten: Staat und Gesellschaft sind für die Familie da, nicht umgekehrt379. Die katholische Kirche sorgt sich dabei immer auch um den rechtlichen Schutz der Ehe, der durch Anerkennung anderer Formen von Lebensgemeinschaften (Stichwort: Lebenspartnerschaftsgesetz) gefährdet werden könnte380. Es ist recht einfach aus heutiger Perspektive, das alte Familien- und Ehebild der katholischen Kirche zu kritisieren. Es war aber ein Ehe- und Familienverständnis, das nicht vom gesellschaftlichen Kontext abwich, sondern ihm entsprach381. Gleichwohl stießen katholische Neugestaltungsansprüche aber schon in den 1950er Jahren auf politische oder rechtliche Grenzen382: Die Frage der Zivilehe war für die Politik nicht verhandelbar und der auf Drängen der Bischöfe in das BGB eingefügte sog. Stichentscheid des Mannes wurde vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt383. Erfolgreicher und, weil sozialpolitisch motiviert, nachhaltiger waren andere kirchliche Initiativen in der Familienförderpolitik etwa bei der Frage des Familienlastenausgleichs384. 374 Liedhegener (Fn. 25), 379. 375 Dazu näher Kösters/Liedhegener/Tischer (Fn. 47), unter Pkt. IV a.E. 376 Pars pro toto das Dokument: Ehe und Familie – in guter Gesellschaft vom 17. Januar 1999 (Die deutschen Bischöfe, Nr. 61). 377 Vgl. Kompendium (Fn. 350), Tz. 211. 378 Kompendium (Fn. 350), Tz. 214. 379 Kompendium, ebda. 380 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen vom 3. Juni 2003 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 162). 381 Ausführlich L. Rölli-Alkemper, Familie im Wiederaufbau: Katholizismus und bürgerliches Familienideal in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1965, 2000. 382 Eingehend Kösters/Liedhegener/Tischer (Fn. 47), unter Pkt. IV. 383 BVerfGE 10, 59. Ausführlich zu den Umständen und den Einflußnahmen Rölli-Alkemper (Fn. 381), S. 537 ff. m.w.N. 384 Siehe nur Kösters/Liedhegener/Tischer (Fn. 47), unter Pkt. IV.

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c) Katholisches Schul- und Bildungswesen Das Schul- und Bildungswesen gehört zu den klassischen Materien des Kirchen- und Staatskirchenrechts, so daß sich gerade in diesem Bereich kirchlicher und staatlicher Bildungsauftrag kreuzen385. Allein zwanzig Bestimmungen des CIC 1983 (cc. 793 ff.) beschäftigen sich mit diesem Thema. Thematisch betrifft dies den katholischen Religionsunterricht (Art. 7 Abs. 3 GG) ebenso wie die Errichtung und Einrichtung katholischer Schulen als zusätzliches Schulangebot und die Sorge für eine plurale Schullandschaft. Die katholische Kirche postuliert gegenüber der staatlichen Ordnung für sich das Recht, Schulen jedweden Wissenszweigs, jedweder Art und Stufe zu gründen und zu leiten (vgl. c. 800 § 1 CIC 1983, siehe vorher auch schon c. 1375 CIC 1917). Nachdem die Konfessionalität der Bekenntnisschulen durch das Bundesverfassungsgericht relativiert worden war386, konnte die religiös fundierte Schulbildung nur durch die Gründung und die Existenz kircheneigener Schulen kompensiert werden. Die kirchlichen Schulen sind Vorreiter und Garant für einen Pluralismus im Bildungswesen387. d) Die kirchliche Wohlfahrtspflege: Caritas388 Das Feld der Freien Wohlfahrtspflege ist kein kirchlich-religiöses Monopol389. Dieser Sachbereich ist durch eine grundlegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere durch den Grundsatz der Subsidiarität geprägt, und die beiden großen Kirchen stellen einen großen Teil der Träger freier Wohlfahrtseinrichtungen390. Das kirchliche Petitum, bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen in besonderer Weise mitwirken zu können, führte zur dualen Ordnung im Bereich der sozialen Infrastrukturen, selbst wenn das „wohlfahrtspluralistische“ Ordnungskonzept nicht nur die Kirchen bzw. ihre Tochter- und Enkeleinrichtungen begünstigt. Darüber hinaus gibt es unzählige soziale Initiativen der Kirche, sie reichen von eher an eine Pfarrgemeinde angebundene Besuchsdienste bis hin zu großen Versorgungswerken Misereor oder Adveniat, mit denen der deutsche Katholizismus sich in besonderer Weise der Entwicklungshilfe widmet. Ein Problem ist es, daß die karitativen Einrichtungen den Anforderungen ihrer Kirche entsprechen müssen: Die durch die staatlichen Rechtsordnung eingeräumten Freiräume für ein religiöses Proprium, müssen real eingelöst und wirksam gelebt werden391. Die Kirchlichkeit solcher Einrichtungen angesichts der Ökonomisierung 385 Ausführlich dazu M. Baldus, Bildungs- und Erziehungsauftrag der Kirche und des Staates, in: Recht in Kirche und Staat: Joseph Listl zum 75. Geburtstag, hrsg. von W. Rees, 2004, 573 ff. 386 Vgl. BVerfGE 41, 29; E 41, 65; E 41, 88. 387 Umfassend die ältere Darstellung von F. Müller, Das Recht der Freien Schule nach dem Grundgesetz, 2. Aufl. 1982; zu aktuellen Fragen näher F. Hufen/J. P. Vogel (Hrsg.), Keine Zukunftsperspektiven für Schulen in freier Trägerschaft?, 2006. 388 Siehe A. E. Hierold, Grundfragen karitativer Diakonie (§ 97), HdbKathKR 21999, 1028 ff.; ders., Organisation der Karitas, ebda., 1032 ff. 389 Zu den Realien und Rechtsfragen dieses Sektors siehe nur K.-H. Boeßenecker, Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege: Eine Einführung in Organisationsstrukturen und Handlungsfelder der deutschen Wohlfahrtsverbände, 2005. Speziell zum sozial-caritativen Engagement der Katholischen in Deutschland näher Kösters/Liedhegener/Tischer (Fn. 47), unter Pkt. V. m.w.N. 390 Vgl. Liedhegener (Fn. 25), 398 f. 391 „Die Kirche muß den Kreis, den die Verfassung ihr offen hält, mit Wirksamkeit füllen, wenn sie

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dieses Dienstleistungssektors zu wahren, ist aber keine leichte Aufgabe392. Es zeigt sich, daß die Offerten der staatlichen Rechtsordnung durch eine Kirche auch ausgefüllt werden müssen, damit die Besonderheiten weiter legitimiert sind. Dies berührt dann etwa auch kirchliche Eigeninteressen wie das sog. kirchliche Arbeitsrecht und die damit verbundenen Autonomieansprüche393. Der Deutsche Caritasverband war ein maßgeblicher kirchlicher Akteur beim Aufund Ausbau des deutschen Sozialstaats. Während früher die Deutsche Bischofskonferenz die politischen Aktivitäten „für“ die Caritas wahrnahm, ist der Caritasverband seit gut zwanzig Jahren immer mehr zu einem relativ selbständigen Akteur des deutschen Katholizismus geworden394. Dies betrifft soziale Anwaltschaft für Benachteiligte und Arme ebenso wie Aufgaben der Caritas im Bereich des Lebenschutzes395, zumal in diesem Bereich nicht selten eigene Aktivitäten betroffen sind. e) Sozialpolitik allgemein Die sozialpolitischen Handlungs- und Themenfelder beziehen das ganze Spektrum der Gemeinwohlfragen ein. Sie reichen von katholischen Stellungnahmen bei Fragen der betrieblichen Mitbestimmung396 bis hin zur Einführung der Pflegeversicherung397. Immer wieder nimmt die Kirche auch Stellung zu sozialpolitischen Themen und damit auch zu Fragen, wie die Rechtsordnung gestaltet werden sollte. In diesem Themenfeld beobachtete aber jüngst Liedhegener einen Wandel, der insbesondere durch das 2003 publizierte Dokument „Das Soziale neu denken“ zum Ausdruck gelangt sei: „Unfreiwillig“ sei dieses Impulspapier vor allem ein Zeichen dafür gewor-

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ihn legitim beanspruchen und dauerhaft wahren will. Je stärker der religiöse Elan das Krankenhaus prägt, desto glaubwürdiger wird seine verfassungsrechtliche Grundlegung in der Religionsfreiheit. Die Kirche zieht keine Legitimation aus jener Megalomanie, der sie in den letzten Jahren nicht selten erlegen ist: einem quantitativen Wachstum der Organisationen ohne entsprechend wachsende religiöse Energie; einer zahlenmäßigen Ausweitung des Personals bei Schrumpfung der geistlichen Berufe; einem Aktionismus klerikalen Managertums. Die Schaffung eines Großklinikums in kirchlicher Trägerschaft wäre noch keine nachhaltig legitime Bekundung der Kirchenautonomie, wenn nach der Einweihung durch den Bischof nichts Kirchliches mehr zurückbliebe außer ein paar juristischen Zuständigkeiten, einem Kreuz in der Eingangshalle und dem Namen eines Heiligen in der Firma. Eine Alptraum-Vision: ein hypertrophischer Personalrumpf mit winzigem geistlichen Kopf – der Caritas-Dinosaurier, der sich rasch entwickelt aus einem lebensuntüchtigen Lebewesen in ein Fossil. Das Verfassungsrecht gewährleistet die Freiheit zur Caritas als Chance. Sie zu ergreifen, sie mit Leben und Sinn zu füllen, ist Sache eines jeden, der im Krankenhaus und für das Krankenhaus arbeitet. Je stärker die religiös begründete Wirksamkeit, desto geringer der Bedarf nach juristischer Absicherung.“ So die Mahnung von J. Isensee, Das katholische Krankenhaus und die Verfassung des sozialen Rechtsstaats, in: Kath. Krankenhausverband (Hrsg.), Eigene Wege im Katholischen Krankenhaus, 1982, 7 (22 f.). Zu diesen Herausforderungen siehe K. Gabriel, Caritas und Sozialstaat unter Veränderungsdruck: Analysen und Perspektiven, 2007. Unter dem speziellen Blickwinkel des AGG siehe dazu A. Hense, Kirche und Diskriminierungsverbot, in: J. Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, 181 ff. m.w.N. Zu dieser Entwicklung siehe nur Liedhegener (Fn. 25), 257 f. Vgl. K. Baumann, Caritas und Bewusstseinsbildung als Aufgabe des Lebensschutzes, ZfL 2007, 34 ff. Vgl. Liedhegener (Fn. 25), S. 399 ff. Hier insbesondere die Aktivitäten des Deutschen Caritasverbandes, vgl. Liedhegener (Fn. 25), 420.

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den, daß der sozialpolitische Konsens des bundesdeutschen Katholizismus zerfallen sei398. E. KURZER AUSBLICK Das Thema Katholizismus und Rechtsordnung konnte nur andeutend unter mehreren Perspektiven umkreist und keineswegs – en détail – erschöpfend behandelt werden. Es konnte nur die Fülle des Katholischen gezeigt werden. Es zeigte sich, daß das Thema sehr stark institutionell vorgeprägt und determiniert ist. Katholizismus ohne Kirche ist eigentlich kein Thema, obgleich zwischen den Phänomenen der Kirche und in der Kirche zu unterscheiden ist399. „Die Kirche realisiert sich konkret jeweils in verschiedenen Katholizismen“400. Die umfassende Fülle des Katholischen ist aber keine amorphe Erscheinung, sondern immer auch „bestimmte Gestalt“ oder – um mit dem Exegeten Heinrich Schlier zu sprechen – „entschiedene Entscheidung“401. Dies zeigt sich bei der innerkirchlichen Ordnungsmacht eigener Art genauso wie bei dem Versuch, die staatliche Rechtsordnung mitzugestalten, sei es als Institution oder als katholische Personen. Sofern sich der kirchliche Einfluß auf Einzelpersonen bezieht, intendiert er aus dem katholischen Glauben inspirierte Gewissensentscheidungen, sofern die Kirche eigene Interessen gegenüber dem Staat artikuliert oder sozialanwaltlich tätig wird, handelt sie im Prinzip wie jeder andere gesellschaftliche Akteur auch. Ist der Katholizismus im ersten Fall so etwas wie eine „nur inhaltlich differenzierte Moral“402, so kommt im zweiten Fall die kritische Funktion der Kirche als durch einen religiösen Sendungsauftrag legitimierten Akteur zum Tragen, ohne daß die Übernatürlichkeit des Auftrags heute zu einer Überordnung gegenüber dem Staat und seiner Rechtsordnung führte. Die für die Kirche neue Situation des Pluralismus der Gegenwart hält für die Kirche weitgehende und schwierige Herausforderungen bereit403: Wird der Graben zwischen der Glaubens- und Rechtserfahrung – im innerkirchlichen Bereich wie gegenüber der staatlichen Rechtsordnung – unter Umständen zu groß? Wie soll sie in dem Kraftfeld von Selbstbehauptung und Öffnung bestehen? Katholizismus ist in sich durch Gegensätzlichkeiten geprägt, Katholizismus und Rechtsordnung ein gegensätzliches Thema. Gleichwohl verharrt der Katholizismus nicht in Abgrenzungen: „Der Katholizismus entbindet uns und bindet uns gleichzeitig; er entbindet uns von jeder irdischen sozialen Form, und er bindet uns an jede irdische Gesellschaft. Gegen den Anarchismus ist er der gründlichste Konservative als Wahrer der Grundprinzipien, und gegen jeden Konformismus der gründlichste Revolutionär, da seine Ungeduld sich nie nur gegen eine bestimmte soziale Form richtet, sondern über alles hinausstrebt, was das Kennzeichen der Schwäche und irdischen Hinfälligkeit trägt. Der Katholizismus hindert uns darum auch, je zu Sklaven unserer eigenen Amtlichkeit zu werden, weil er das soziale Band ins Innere verlegt“404. 398 399 400 401 402 403

Liedhegener (Fn. 25), 429 f. Lehmann, (Fn. 32) 73. Lehmann, ebda. Lehmann (Fn. 32), 77. In Anlehnung an Merkl (Fn. 288), 278. Die Binnenpluralität des Katholizismus hat aktuell der Jenaer Politikwissenschaftler Liedhegener (Fn. 25) in umfassender Weise dargetan. 404 H. de Lubac, Katholizismus als Gemeinschaft, 1943, 326 Fn. 18.

FRIEDRICH WILHELM GRAF, MÜNCHEN PROTESTANTISMUS

UND

RECHTSORDNUNG

I. PROBLEMEXPOSITION „Eine normative Staatslehre gibt es im Protestantismus nicht.“ Mit diesem knappen Satz eröffnete der Kirchenhistoriker Manfred Jacobs 1971 eine Auswahl klassischer Texte über „Die evangelische Staatslehre“, die in den vom „Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes“ herausgegebenen „Quellen zur Konfessionskunde“ erschienen.1 Jacobs These ist zutreffend. Denn die aus den Reformationen des 16. Jahrhunderts hervorgegangenen Konfessionskirchen kennen weder irgendeine lehramtliche Autorität, die den Gläubigen ein bestimmtes Staatsverständnis bindend vorgeben könnte, noch lassen sich die vielen Deutungen des Politischen, die in der nun fünfhundertjährigen Geschichte des Protestantismus von Theologen, Juristen, politisch engagierten, frei denkenden Protestanten sowie von Kirchenführern und kirchlichen Gremien vertreten worden sind, in konfessionsspezifischen Ideensynthesen bündeln oder einem einheitlichen Leitbegriff subsumieren. Schon der gängige Kollektivsingular „der Protestantismus“ ist problemreich, droht er doch die extrem hohe religionskulturelle, theologische, liturgische und auch politische Vielfalt in den von der Reformation geprägten Kirchen, Gruppen und Erweckungsbewegungen abzublenden. Als dritte eigenständige Überlieferungsgestalt des Christlichen neben dem römischen Katholizismus und den orthodoxen Christentümern des Ostens stellt der Protestantismus konfessionsanalytisch gesehen eine in sich hoch differenzierte Konfessionsfamilie dar. Konfliktreiche Vielfalt prägte schon seine Anfänge in den reformatorischen Protestbewegungen des frühen 16. Jahrhunderts. Die entscheidend von Martin Luther und Philipp Melanchthon getragene Wittenberger Reformation, die oberdeutschen und schweizerischen reformatorischen Bewegungen mit ihrem Zentrum in Zürich und ihrer starken Beeinflussung durch Ulrich Zwingli, die Genfer Reformation Jean Calvins sowie die diversen Gruppen der „radikalen Reformation“ – mystische Spiritualisten wie Andreas Bodenstein von Karlstadt, Thomas Müntzer, Hans Denck und Sebastian Franck, „Täufer“ wie Balthasar Hubmaier, Hans Hut und Melchior Hoffmann sowie Mennoniten und diverse Antitrinitarier – stimmten zwar in der radikalen Fundamentalkritik an der als zutiefst korrupt erlittenen römischen Papstkirche überein, entwarfen im einzelnen aber durchaus divergierende Ideale der wahren Kirche und gelangten in entscheidenden theologischen Fragen, etwa in der Abendmahlslehre, zu keinem Konsens.2 Vergleichsweise früh schon organisierten sich die verschiedenen Reformationsbewegungen in höchst unterschiedlichen kirchlichen Strukturen. Durch Etablierung des 1

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Manfred Jacobs (Hrsg.), Die evangelische Staatslehre [= Quellen zur Konfessionskunde, hrsg. vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes, Reihe B: Protestantische Quellen, Heft 5], 1971, 7. Zur inneren Vielfalt der reformatorischen Protestbewegungen des 16. Jahrhunderts siehe den bestechend klaren Überblick bei: Gottfried Seebaß, Geschichte des Christentums III. Spätmittelalter – Reformation – Konfessionalisierung, 2006.

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landesherrlichen Kirchenregiments – der Landesherr als „Not“-Bischof3 – entstanden im deutschen Luthertum eng in die politischen Ordnungsstrukturen des Gemeinwesens verflochtene Landeskirchen, wohingegen in den reformierten Protestantismen die Einzelgemeinde ein stärkeres Gewicht gewann. Die „independentistischen“ und „täuferischen“ Gruppen, denen vor allem die Wittenberger Reformatoren keine theologische Legitimität zuerkannten, organisierten sich als Freiwilligkeitsgemeinden oder „Sekten“, und zum Teil äußerte sich der antirömische Protest gegen perverse Veräußerlichung des Glaubens und babylonische Verknechtung freier Christenmenschen auch in Gestalt hoch individualisierter Mystik. Ernst Troeltschs grundlegende religionsanalytische Unterscheidung dreier Sozialformen religiöser Vergesellschaftung, die Idealtypik von Kirche, Sekte und Mystik4, ist für jede Deutung des Protestantismus unerläßlich, weil die Mobilisierungsdynamik des reformatorischen Glaubensernstes in allen drei Sozialgestalten des Christlichen freigesetzt wurde. Der heftige Streit um die Bilder5 oder die Kontroversen um die Kirchenzucht6 lassen erkennen, daß die diversen Protestantismen schon vergleichsweise früh auch ganz unterschiedliche Frömmigkeitswelten formten. Im Kontext der neueren Konfessionalisierungsdebatte7 ist zwar immer wieder darauf hingewiesen worden, daß die Prozesse der Konfessionalisierung im lutherischen, reformierten und römisch-katholischen Deutschland weithin strukturanalog verliefen und aufgrund der jeweils sehr engen Einbindung des Kirchlichen in den neuen Territorialstaat die kulturellen wie speziell auch religions3 4

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Immer noch grundlegend: Karl Holl, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Band 1: Luther, 71948, 326–380. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften I), 1912. Troeltsch hat seine religionssoziologischen Distinktionen in kritischer Auseinandersetzung mit den von seinem Fachmenschenfreund Max Weber entworfenen Idealtypen von Kirche und Sekte entwickelt. Dazu siehe: Arie L. Molendijk, Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik, 1996. Dazu jetzt faszinierend: Joseph Leo Koerner, The Reformation of the Image, 2004. Siehe für die lutherischen Konfessionsbilder auch: Frank Büttner, „Argumentatio“ in Bildern der Reformationszeit. Ein Beitrag zur Bestimmung argumentativer Strukturen in der Bildkunst, Zeitschrift für Kunstgeschichte 57 (1994), 23–44; Volker Drehsen, Lebensbilder vom wahren Homo Pauper. Protestantische Rezeptionsästhetik zwischen bildender Kunst und biblischem Bilderverbot, in: Wilfried Härle (Hrsg.), Befreiende Wahrheit. Festschrift für Eilert Herms, 2000, 549–562; Wolfgang Brückner, Die lutherische Gattung evangelischer Bekenntnisbilder und ihre ikonographischen Ableitungen der Gnade vermittelnden Erlösungs- und Sakramentslehre, in: Frank Büttner/Gabriele Wimböck (Hrsg.), Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, 2004, 303–341. Als Gegenprobe für den römisch-katholischen Diskurs: Jens Baumgarten, Konfession, Bild und Macht. Visualisierung als katholisches Herrschafts- und Disziplinierungskonzept in Rom und im habsburgischen Schlesien (1560 – 1740), 2004. John Haddon Leith/Hans-Jürgen Goertz, Art.: Kirchenzucht, in: TRE XIX (1990), 173–191. Hans-Christoph Rublack (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, 1992; Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung, 1995; Thomas Kaufmann, Die Konfessionalisierung von Kirche und Gesellschaft. Sammelbericht über eine Forschungsdebatte (Teil 1), ThLZ 121 (1996), Nr. 11, 1008–1025, und (Teil 2) Nr. 12, 1112–1121; Harm Klueting, Reformierte Konfessionalisierung in West- und Ostmitteleuropa, in: Volker Leppin/Ulrich A. Wien (Hrsg.), Konfessionsbildung und Konfessionskultur in Siebenbürgen in der Frühen Neuzeit [= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 66], 2005, 25–56; Ernst Koch, Das Konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1563–1675) [= Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen II/8], 2000. Als Gesamtdarstellung ist zu empfehlen: Heinz Schilling, Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250–1750, 1999.

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kulturellen Differenzen zwischen lutherischen, reformierten und katholischen Territorien weniger stark ausgeprägt waren, als die ältere Forschung zum konfessionellen Zeitalter vermutete. Aber es lassen sich nicht nur auf der Ebene theologischer Lehre, sondern auch im religiösen Alltag, etwa in der Gottesdienstpraxis, zwischen Reformierten und Lutheranern so signifikante Unterschiede beobachten, daß Mentalitätsund Kirchenhistoriker von zwei distinkten protestantischen Konfessionskulturen sprechen.8 Protestantische Pluralität wurde noch gesteigert, als durch Pietismus und Aufklärung der „Altprotestantismus“ bzw. die „Altprotestantismen“ des konfessionellen Zeitalters in den modernen „Neuprotestantismus“ bzw. ein breites Spektrum modernitätsbestimmter „Neuprotestantismen“ transformiert wurde(n).9 Exemplarisch läßt sich dies zeigen an den zahlreichen, bisher kaum begriffs- und diskurshistorisch näher erforschten neuen Komposita des Protestantismusbegriffs. Speziell seit dem späten 18. und vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden im Streit der Konfessionen um kulturelle Deutungshoheit bzw. in den diversen Kulturkämpfen zwischen Protestanten und Katholiken, aber auch in den „innerprotestantischen Kulturkämpfen“ (Gangolf Hübinger) zwischen Konservativen und Liberalen, Traditionalisten und Reformeifrigen zahlreiche Neologismen geprägt, die die internen religiösen, sozialen und politischen Differenzierungen im „modernen Protestantismus“ erfassen sollten: „Jungprotestantismus“, „Kulturprotestantismus“, „Elitenprotestantismus“, „Adelsprotestantismus“, „Feine-Leute-Protestantismus“, „Mittelstandsprotestantismus“, „Kirchenprotestantismus“, „Moralprotestantismus“, „Bildungsprotestantismus“, „Nationalprotestantismus“, „Staatsprotestantismus“, „Sozialprotestantismus“ und „Weltprotestantismus“. Analog gilt dies für seit dem Vormärz nachweisbare Formeln wie „politischer Protestantismus“, „polizeilicher Protestantismus“, „literarischer Protestantismus“, „künstlerischer Protestantismus“, „ästhetischer Protestantismus“, „kultureller Protestantismus“, „katholisierender Protestantismus“, „halbkatholischer Protestantismus“, „liberaler Protestantismus“, „freier Protestantismus“, „kirchlicher Protestantismus“ und „positiver Protestantismus“. Diese neuen Komposita des Protestantismusbegriffs spiegeln die vielfältigen internen Differenzierungsprozesse, die für die Geschichte der modernen Protestantismen seit dem 18. Jahrhundert kennzeichnend sind. Insofern ist es durchaus sinnvoll, den

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Zum Konzept der Konfessionskultur siehe: Friedrich Wilhelm Graf, Art.: Konfessionskulturen, in: RGG4, Bd. 4, 2001, 1551–1552; speziell zum Altluthertum: Thomas Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur [= Beiträge zur historischen Theologie 104], 1998. Die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus läßt sich vereinzelt schon im frühen 19. Jahrhundert nachweisen. Systematisiert wurde sie im Rahmen seines konstruktivistischen Geschichtsverständnisses dann von Ernst Troeltsch. Siehe vor allem: Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906/1911), in: ders., Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), hrsg. v. Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler [= KGA Bd. 8], 2001, 183–316; ders., Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), hrsg. v. Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht [= KGA Bd. 7], 2004. Wichtige Hinweise zur Begriffsgeschichte finden sich bei Christian Albrecht, Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumspraxis. Klassische Protestantismustheorien in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis der Praktischen Theologie [= Beiträge zur historischen Theologie 114], 2000.

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überkommenen Kollektivsingular „der Protestantismus“ durch einen starken Plural „die Protestantismen“ abzulösen.10 So vielfältig wie die Protestantismen, so plural und mehr noch: heterogen stellen sich auch die Theorien politischer Ordnung und speziell des öffentlichen Rechts dar, die protestantische Gelehrte – vor allem Theologen und Juristen – sowie Politiker seit dem 16. Jahrhundert entwickelten. Politische Theorie und auch theologische Ethik des Politischen werden nun einmal in bestimmten politisch-sozialen Kontexten situationsbezogen entwickelt (oder genauer: durch Reformulierung und Umformung überkommener Begrifflichkeiten fortentwickelt), und dies bedeutet: Elemente protestantischer Theologie, Weltdeutung und Frömmigkeit haben je nach Ort, Zeit und Akteursinteresse mit divergenten politisch-ethischen Überlieferungsbeständen zu ganz unterschiedlichen Deutungen des „weltlichen Rechts“ verschmolzen werden können, wobei die jeweils das Recht Begründenden, Deutenden zumeist subjektiv davon überzeugt waren, die genuin protestantische Position einzunehmen. So läßt sich über „Protestantismus und Rechtsordnung“ angemessen nur reden, wenn die konstitutive Vielfalt protestantischer Rechtsdeutungen und Theorien des Politischen in den Blick genommen wird.11 Dies kann im Rahmen eines Vortrages aber nur eingeschränkt geschehen, und deshalb konzentriere ich mich in gebotener Selbstbeschränkung auf Entwicklungen im deutschen Luthertum. Dabei knüpfe ich implizit an eigene ältere Arbeiten zum theologischen Begriff des „Gesetzes“ (in der für die verschiedenen Protestantismen grundlegenden Unterscheidung von „Gesetz und Evangelium“) und zum ethischen wie kulturtheologischen Konzept der „Theonomie“ an; „Theonomie“ ist ein theologischer Neologismus des späten 18. Jahrhunderts, mit dem protestantische Theologen in die entscheidend von Kant bestimmten moralphilosophischen Debatten um „Autonomie“ und „Heteronomie“ eingriffen.12 Auch greife ich auf Deutungsvorschläge zum lutherischen Staatsbegriff zurück, die im langjährigen freundschaftlichen Austausch mit dem Hallenser Systematischen Theologen und Ethiker Klaus Tanner, einem Spezialisten für protestantische Naturrechtsüberlieferungen,13 entstanden sind. Nach vier kurzen Vorbemerkungen skizziere ich in vier Gedankenschritten die spezifische Ambiguität des lutherischen Verständnisses von Recht, politischer Ordnung und weltlichen Institutionen. Erste Vorbemerkung: Wer öffentlich Religion deutet und speziell das besondere Profil einer christlichen Konfession (oder im Falle des Protestantismus eben: einer 10 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart, 2006. 11 Vgl. zum Sachverhalt und seiner historischen Dimension grundlegend: Hans Liermann, Der Jurist und die Kirche: Ausgewählte kirchenrechtliche Aufsätze und Rechtsgutachten, hrsg. v. Martin Hekkel, Klaus Obermayer, Dietrich Pirson [= Jus Ecclesiasticum 17], 1973; Bernd Mathias Kremer, Der Westfälische Friede in der Deutung der Aufklärung: Zur Entwicklung des Verfassungsverständnisses im Hl. Röm. Reich Deutscher Nation vom Konfessionellen Zeitalter bis ins späte 18. Jahrhundert [= Jus Ecclesiasticum 37], 1989. 12 Friedrich Wilhelm Graf, Art.: Gesetz: IV. Neuzeit, in: TRE XIII, 1984, 90–126; ders., Theonomie. Fallstudien zum Integrationsanspruch neuzeitlicher Theologie, 1987. Siehe auch: ders., Die umstrittene Allgemeinheit der individuellen Menschenrechte, in: Werner Brändle/Gerhard Wegner (Hrsg.), Unverfügbare Gewißheit. Protestantische Wege zum Dialog der Religionen, 1997, 72–87; ders., Lob der Differenz. Die Bedeutung der Religion innerhalb der demokratischen Kultur, in: Christof Gestrich (Hrsg.), Die herausgeforderte Demokratie. Recht, Religion, Politik, 2003, 14–35. 13 Klaus Tanner, Der lange Schatten des Naturrechts. Eine fundamentalethische Untersuchung, 1993.

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Konfessionsfamilie) nachzuzeichnen versucht, steht unter einer spezifischen intellektuellen Rechenschaftspflicht: Er muss seinen individuellen konfessionellen Standort markieren. Auch in der Gegenwart scheint Konfession den intellektuellen Habitus, bestimmte implizite Leitannahmen und Sichtweisen, tiefer zu prägen als häufig bewusst ist. Als Beispiel sei zunächst auf die bioethischen bzw. biopolitischen Debatten in der Bundesrepublik verwiesen. Unbeschadet aller ökumenischen Konsensrhetorik, die führende Kirchenvertreter gern pflegen, weil man im politischen Betrieb gemeinsam stärkere Lobbymacht entfalten kann, argumentieren protestantisch-theologische Ethiker im deutschen bioethischen Diskurs signifikant anders als römisch-katholische Moraltheologen. Bis in die leitenden Begriffe hinein zeigt sich auch in den Kulturwissenschaften immer wieder eine starke Beharrungskraft konfessionsspezifischer cognitive maps. Offenkundig gibt es in Sachen Religion keinen neutralen Ort des Denkens. Jeder bzw. jede ist immer schon durch eine bestimmte religiöse Kultur oder ein weltanschauliches Milieu geprägt. Wer öffentlich über Religion redet, tut deshalb gut daran, sich reflexiv zu seiner individuellen religionskulturellen, konfessionellen Position zu verhalten. Ich spreche hier als ein protestantischer Systematischer Theologe und Ethiker, nehme also in meinem Blick auf die Rechtsdeutungen des deutschen Luthertums eine Binnenperspektive ein. Römisch-katholische Denkwelten sind mir zwar durchaus gut bekannt, aber eben nicht in der Weise vertraut, wie mir Protestantisches von Kind auf präreflexiv-selbstverständlich ist. Es sind vor allem Traditionen des liberalen Kulturprotestantismus, auf den Überlieferungsspuren von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher zu Ernst Troeltsch, die mich geprägt haben. Ein unfanatischer Denkglaube, die freiheitsdienliche Kantische Unterscheidung von Moralität und Legalität sowie ein entschiedenes Fortentwickeln liberaler Prinzipien gerade im konfliktreichen öffentlichen Religionsdiskurs sind für meine individuelle Sicht der protestantischen Überlieferungen kennzeichnend. Zur Signatur des Protestantischen gehört, gerade in der Moderne, legitime Pluralität. Zum Thema „Protestantismus und Rechtsordnung“ nehmen andere protestantisch-theologische Ethiker, etwa Wolfgang Huber, der einstige Heidelberger Systematische Theologe und jetzige Berliner Bischof und Vorsitzende des Rates der EKD, eine von meiner deutlich unterschiedene Position ein.14 Zweite Vorbemerkung: 1962 veröffentlichte der Verfassungsjurist Helmut Simon, ein stark von der Theologie Karl Barths und den Traditionen der Bekennenden Kirche geprägter Sozialdemokrat, einen kleinen Essay zur „Katholisierung des Rechtes? Zum Einfluß katholischen Rechtsdenkens auf die gegenwärtige deutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung“ – in den vom „Evangelischen Bund“ herausgegebenen „Bens14 Vgl. Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, 1996; dazu kritisch: Friedrich Wilhelm Graf, Planetarische Ethik protestantisch gesehen. Wolfgang Huber sucht Legalität und Moralität unter einen Hut zu bringen, FAZ, Nr. 23, 28. Januar 1997, 10. Eine kurze Zusammenfassung von Hubers Sicht findet sich in: Wolfgang Huber, Rechtfertigung und Recht. Über die christlichen Wurzeln der europäischen Rechtskultur, 2001. Aus der Heidelberger Schule HeinzEduard Tödts (des prägenden Lehrers Wolfgang Hubers) und Wolfgang Hubers: Hans-Richard Reuter, Rechtsethik in theologischer Perspektive. Studien zur Grundlegung und Konkretion, 1996. Huber zitiert in seinem Titel Karl Barth und einen einflussreichen lutherischen Barthianer: Karl Barth, Rechtfertigung und Recht, 1938; Ernst Wolf, Rechtfertigung und Recht, in: Kirche und Recht. Ein vom Rat der EKD veranlaßtes Gespräch, 1950, 5–26. Meine eigene Sicht ist angedeutet in: Friedrich Wilhelm Graf, Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, 1–32006.

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heimer Heften“.15 Mit Blick auf die „Renaissance des Naturrechts“, die vor allem römisch-katholische Rechtsgelehrte und Philosophen nach 1945 inszeniert hatten,16 wollte der Linksprotestant hier „den beträchtlichen Einfluß katholischen Rechtsdenkens auf Gesetzgebung und Rechtsprechung der Bundesrepublik“ nachweisen,17 zum Schutze der „moderne(n) pluralistische(n) Gesellschaft“, die nicht dulden dürfe, daß „die Kirche ihren Öffentlichkeitsauftrag in einen klerikalen Herrschaftstitel über die Welt verfälscht“.18 Auch im rechtstheologischen Diskurs der 1950er Jahre meldeten sich immer wieder protestantische Theologen zu Wort, die Gesetzgebung und Rechtsprechung allzu stark durch römisch-katholisches Naturrechtsdenken und überhaupt „katholische Werte“ beeinflußt sahen.19 Gern wurde betont, daß jede christliche Theologie mindestens implizit auch eine Theorie des Rechts beinhalte, und zugleich wurden elementare Gegensätze zwischen den Traditionen römisch-katholischen Rechtsdenkens einerseits und protestantischen Überlieferungen andererseits sichtbar gemacht. „Die verschiedenen theologischen Ansätze der großen geschichtlichen Konfessionen drücken sich in prägnanter Weise in der Rechtslehre aus“.20 Schon im 19. Jahrhundert war immer wieder auf spezifisch christliche Grundlagen zentraler moderner Rechtsbegriffe hingewiesen worden: Der zum Protestantismus konvertierte Rabbinersohn Georg Jellinek wollte etwa für die Menschen- und Bürgerrechte einen genuin protestantischen, reformierten Ursprung entdecken, im Gegensatz zur damals herrschenden Rückführung auf französische Aufklärungstraditionen und die Französische Revolution.21 Christliche Einflüsse auf das europäische bzw. westliche Rechtsdenken sind inzwischen zu einem wichtigen Thema rechtsgeschichtlicher Forschung geworden:22 Rechtshistoriker betonen die gewichtige Rolle des Kanonischen Rechtes in der Genese spezifisch moderner juristischer Rationalität und deuten die lateinische „Rechtskirche“ und hierarchisch zentralisierte „Heilsanstalt“ als ein „Modell

15 Helmut Simon, Katholisierung des Rechtes? Zum Einfluß katholischen Rechtsdenkens auf die gegenwärtige deutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung [= Bensheimer Hefte 16], 1962. Zu Simon siehe: Willy Brandt/Helmut Gollwitzer/Johann Friedrich Henschel (Hrsg.) unter Mitarbeit von Marion Eckertz-Höfer, Ein Richter, ein Bürger, ein Christ. Festschrift für Helmut Simon, 1987. 16 Dazu siehe: Werner Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962. 17 Simon (Fn. 15), 50. 18 Simon (Fn. 15), 51. 19 Ernst Wolf, Die rechtsstaatliche Ordnung als theologisches Problem, in: ders. (Hrsg.) in Verbindung mit Theo Immer und Karl Linke, Der Rechtsstaat. Angebot und Aufgabe. Eine Anfrage an Theologie und Christenheit heute [= Theologische Existenz heute 119], 1964, 28–63. 20 Hans Dombois, Zur Begegnung von Rechtswissenschaft und Theologie, Kerygma und Dogma 3 (1957), 61–74. 21 Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, 1895. Zum ideenpolitischen Hintergrund von Jellineks Konstruktion siehe: Friedrich Wilhelm Graf, Puritanische Sektenfreiheit versus lutherische Volkskirche. Zum Einfluß Georg Jellineks auf religionsdiagnostische Deutungsmuster Max Webers und Ernst Troeltschs, Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte/Journal for the History of Modern Theology 9 Heft 1 (2002), 42–69. 22 Brian Tierney, Religion, Law, and the Growth of the Constitutional Thought 1150–1650, 1982; Gerhard Dilcher/Ilse Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht, 1984; Harold J. Berman, Law and Revolution: The Formation of the Western Legal Tradition, 1983, dt.: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, 1991; Brian Tierney, The Idea of Natural Rights, 1997; Harold J. Berman, Law and Revolution, II. The Impact of the Protestant Reformations on the Western Legal Tradition, 2003.

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des modernen Staates“.23 Michael Stolleis hat für das frühneuzeitliche ius publicum gezeigt, wie stark es von protestantischen Interessen geprägt war. In „der Phase seiner Ausbildung als eigenständiges Rechtsgebiet“ sei es „weitgehend das Recht“ gewesen, „mit dem der explosive Stoff der ‚streitigen Religion‘ gebändigt werden soll“.24 „Von Anfang an ist die literarische Produktion aus Konfessionsgründen getrennt, und die Frage nach der Konfession des Verfassers war deshalb von größter Bedeutung. Sie beeinflußte sein Denken sozusagen in der Wurzel. Dies war selbstverständlich in einer Epoche, in der die konfessionelle Frage das Zentrum der Politik und der Reichsverfassung darstellte. Nahezu jedes Rechtsproblem war konfessionspolitisch infiziert.“ „Die allmähliche Entfaltung des öffentlichen Rechts und seine Durchsetzung als reguläres Universitätsfach scheint so sehr eine protestantische Domäne zu sein, daß man im 17. Jahrhundert ein ‚katholisches Jus publicum‘ einfach als nichtexistent ansehen konnte.“25

Gegen Ernst-Wolfgang Böckenfördes 1964 vertretene These von der „Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“26 haben verschiedene Frühneuzeithistoriker und unter den Rechtshistorikern und Juristen Michael Stolleis27 Widerspruch erhoben. Insbesondere hat Horst Dreier auf die äußerst starke Rolle der frühneuzeitlichen Konfessionalisierung in der Entstehung des modernen Staates hingewiesen.28 Dies zwingt nicht nur zur Frage, ob und wie die religiöse Sozialisation bzw. individuelle Frömmigkeit eines Rechtsgelehrten auch seine Sicht von Recht, Staat und Moral prägt (oder zumindest mit beeinflußt); etwa in der Weise, wie Hugo Sinzheimer „Jüdische Klassiker der Deutschen Rechtswissenschaft“ dargestellt hat oder – unter problemsensibler Einbeziehung auch der Konvertiten! – Rechtshistoriker ganz unterschiedlicher Herkunft deutlich gemacht haben, „in welch überproportionalem Umfang Juristen jüdischer Herkunft bis zu ihrer Verfolgung, Entrechtung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten zur Entwicklung unseres Rechts beigetragen haben“.29 Vielmehr kann man mit Horst Dreier auch mögliche „Nachwirkungen der Konfessionsbildung 23 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999. Vergleichbare Zusammenhänge hatten auch schon Max Weber und Ernst Troeltsch betont. 24 Michael Stolleis, Glaubensspaltung und öffentliches Recht in Deutschland, in: ders., Staat und Staatsraison in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, 1990, 268–297, 268. 25 Stolleis, ebd. 26 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967, 75–94; Wiederabdruck in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Erweiterte Ausgabe, 2006, 92–114. Böckenförde hat seine Sicht 2006 noch einmal nachdrücklich bestätigt: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert [= Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Themen 86], 2007. 27 Vgl. Michael Stolleis, Religion und Politik im Zeitalter des Barock. „Konfessionalisierung“ oder „Säkularisierung“ bei der Entstehung des frühmodernen Staates?, in: Dieter Breuer (Hrsg.) in Verbindung mit Barbara Becker-Cantarino, Heinz Schilling und Walter Sparn, Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, Teil 1, 1995, 23–42. Man beachte allerdings auch die Warnung: „Wer sich intensiv mit dem Phänomen der ‚Konfessionalisierung‘ beschäftigt, kann in Gefahr geraten, es in seiner Wirksamkeit im Verhältnis zu anderen Faktoren zu überschätzen“ (39). 28 Vgl. Horst Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, in: Georg Siebeck (Hrsg.), Artibus ingenuis: Beiträge zu Theologie, Philosophie, Jurisprudenz und Ökonomik, 2001, 133–169, erneut publiziert in: JZ 2002, 1–13. 29 Helmut Heinrichs/Harald Franzki/Klaus Schmalz/Michael Stolleis (Hrsg.), Vorwort, in: Deutsche Juristen jüdischerHerkunft, München 1993, IX–XIII, IX. Siehe auch: Hans-Peter Benöhr, Jüdische Rechtsgelehrte in der deutschen Rechtswissenschaft, in: Karl E. Grözinger (Hrsg.), Judentum im deutschen Sprachraum, 1991, 280–308.

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in der Staatsrechtslehre“ zum Thema machen und fragen: „[G]ibt es nicht eine bis in unsere Tage fortwirkende konfessionelle Prägung des Rechts- und damit auch des Staats- und Verfassungsverständnisses? Und gibt es nicht, spezieller und genauer gefragt, eine konfessionell geprägte Staatsrechtslehre, deren Interpretationen und Interpretamente gleichsam konfessionell eingefärbt oder aufgeladen sind? Gibt es also nicht nur ein katholisches oder protestantisches Verfassungs- und Staatsverständnis und auch nicht nur ihrem persönlichen Glaubensbekenntnis nach katholische oder protestantische Staatsrechtslehrer, sondern womöglich Elemente einer strukturell katholischen oder protestantischen Staatsrechtslehre?“30 In einem Symposium für Michael Stolleis zum Thema „Konfessionelle Denkmuster und Argumentationsstrategien in Recht und Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts“, veranstaltet im Jahr 2006 aus Anlaß des 65. Geburtstages des Frankfurter Rechtshistorikers, hat Dieter Grimm die Frage nach möglichen konfessionellen Prägungen der Staatsrechtslehre und Verfassungsauslegung für eher irrelevant und kaum erkenntnisfördernd erklärt. Der kulturwissenschaftlich sensibilisierte Theologe sieht dies insoweit anders, als in der Verfassungsauslegung Rechtsdenken unbeschadet der freiheitsdienlichen Unterscheidung von Legalität und Moralität immer auch auf moralische Gehalte bezogen bleibt, Ethos und Moral aber häufig eng mit bestimmten religiösen Überlieferungen verknüpft sind. Daß die Suche nach „mögliche(n) Tiefenwirkungen und subkutane(n) Einflußströme(n)“, nach „eventuell ganz verdeckte(n) und auch den Akteuren selbst gar nicht bewußte(n) Imprägnierungen oder Strukturierungen“31 in Verständnis und Auslegung der Verfassung Erkenntnischancen bietet, mag ein Hinweis auf die Kontroversen belegen, die deutsche Staats- und Verfassungsrechtler in den letzten Jahren über die Auslegung von Artikel 1 Absatz 1 GG ausgetragen haben.32 Sie spiegeln für mich als Theologen auch eine bleibende implizite Prägekraft konfessioneller Denkstile und Deutungsmuster. Ihrer Kirche mehr oder minder eng verbundene römisch-katholische Verfassungsrechtler haben in diesem Streit signifikant anders argumentiert als protestantisch geprägte Rechtsgelehrte. Ernst-Wolfgang Böckenfördes pathetischer Fundamentalkritik an der Neukommentierung der Men30 Dreier, Kanonistik (Fn. 28), 12. 31 Dreier, Kanonistik (Fn. 28), 13. 32 Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353–377; Kurt Bayertz, Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien, ARSP 81 (1995), 465–481; Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung – Zur Dogmatik des Art. 1 GG, 1997; Ulfrid Neumann, Die Tyrannei der Würde, ARSP 84 (1998), 153–166; Eric Hilgendorf, Die mißbrauchte Menschenwürde. Probleme des Menschenwürdetopos am Beispiel der bioethischen Diskussion, Jahrbuch für Recht und Ethik 7 (1999), 137–158; Ernst Benda, Verständigungsversuche über die Würde des Menschen, NJW 2001, 161–190; Horst Dreier, Konsens und Dissens bei der Interpretation der Menschenwürde, in: Christian Geyer (Hrsg.), Biopolitik. Die Positionen, 2001, 232–239; Franz Josef Wetz, Die Würde des Menschen – ein Phantom?, ARSP 87 (2001), 311–327. Man vergleiche zudem insbesondere die (Neu)Kommentierungen des Art. 1 Abs. 1 GG durch Matthias Herdegen, in: Theodor Maunz/Günter Dürig/Roman Herzog (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2003; Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar. Bd. I: Präambel, Art. 1–19. Bearb. v. Hartmut Bauer, Rolf Gröschner, Georg Hermes u.a., ²2004, 139–231; dazu kritisch: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar. Abschied von den Verfassungsvätern, FAZ, Nr. 204, 3. September 2003, 33–35, auch abgedruckt in: Glanzlichter der Wissenschaft, 2003, 25–31.

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schenwürdegarantie durch Matthias Herdegen (und auch Horst Dreier) liegt durchgängig Naturrechtsrhetorik zugrunde: Günter Dürig habe Artikel 1 Absatz 1 ausgelegt „als Übernahme eines grundlegenden, in der europäischen Geistesgeschichte hervorgetretenen ‚sittlichen Werts‘ in das positive Verfassungsrecht, das sich dadurch selbst auf ein vorpositives Fundament, eine Art naturrechtlichen Anker, wenn man so will, bezieht“. Demgegenüber bedeute die „wirkliche Neukommentierung“ Herdegens die „Abkehr von der Interpretation des Artikels 1 Absatz 1 GG als Übernahme eines vorpositiven sittlichen Werts (…) in das positive Recht, das dieses mit jenem in einer Verankerung, die nicht auflösbar ist, verknüpft“, also nichts Geringeres als eine „Relativierung der Unbedingtheit der Menschenwürde“. Die Bestimmung dieses „vorgelagerten geistig-ethischen Inhalt(s)“ bzw. der „metapositiven Verankerung“ bleibt allerdings bemerkenswert vage; Böckenförde spricht von einem „personalen Menschenbild und Ethos, von dem Dürig beseelt war“.33 Doch soll im religiös bzw. weltanschaulich neutralen Verfassungsstaat ein bestimmtes Ethos verbindlich gemacht werden? Dritte Vorbemerkung: Theologisches Nachdenken über Recht, Staat und politische Ordnung steht in einem sehr engen Zusammenhang mit der jeweiligen Ekklesiologie, der dogmatischen Lehre von Selbstverständnis, Aufgabe, Ordnung und sozialer Gestalt der Kirche als einer gottgewollten Heilsinstitution sui generis. Wenn Theologen von der Kirche reden, sprechen sie immer auch von den rechtlich zu ordnenden Beziehungen zwischen „geistlicher“ und „weltlicher“ Macht. Es müssen die je besonderen Funktionen von geistlicher und weltlicher „Obrigkeit“ unterschieden, Kompetenzen abgegrenzt und, jedenfalls unter den Bedingungen des modernen weltanschaulich neutralen Rechtsstaats, die im Menschenrecht auf Religionsfreiheit implizierte (relative) Autonomie der Religionsgemeinschaften einschließlich der Kirchen in ihren Grenzen bestimmt werden. Auch hier, in den theologischen Deutungen von „Wesen“ und „Ordnung“ der Kirche, läßt sich eine longue durée konfessioneller Sonderwege beobachten. Im römischen Katholizismus wird über die Kirche ganz anders gedacht als in den diversen Protestantismen. Die römische Kirche ist eine Rechtsinstitution, die sich als unmittelbar in göttlichem Recht (lex divina) gründend sieht und bis in die unmittelbare Gegenwart hinein eine normative ethische Weisungskompetenz gegenüber Staat und Gesellschaft beansprucht; dazu dienen insbesondere Reflexionsfiguren einer spezifisch römisch-katholischen Naturrechtslehre. Das ius divinum wird nach der Art seiner Proklamation differenziert in göttliches Naturrecht und göttliches Offenbarungsrecht. Dabei ist entscheidend: Dem ius humanum, dem von Menschen gesetzten positiven Recht, eignet keinerlei normative Eigenständigkeit, sondern es soll allein als Konkretion des ius divinum, gebildet durch conclusiones und determinationes, gestaltet werden. Das Naturrecht wird dabei konzipiert als ein der menschlichen Vernunft erschlossenes Ensemble von Normen, die ihre Begründung in der „Natur des Menschen“ und der „Natur der Dinge“ finden. Die römisch-katholische Kirche versteht das ihr durch Offenbarung erschlossene göttliche bzw. natürliche überpositive Recht als einzig entscheidendes 33 Alle Zitate: Böckenförde, Abschied (Fn. 32). Zu seiner Position siehe weiterhin: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Menschenwürde als normatives Prinzip. Die Grundrechte in der bioethischen Debatte, JZ 2003, 809–815. Für das Ethos Dürigs neben seinem Kommentar repräsentativ: Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117–157.

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Kriterium der Legitimität staatlichen, positiven Rechts, und deshalb ist es nur konsequent, daß das Lehramt in seinen Texten niemals von einer kirchlichen Akzeptanz des modernen parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaates überhaupt spricht, sondern prägnant von „wahrer Demokratie“, weil nach den sittlichen Maximen „der Kirche“ geordneter Demokratie.34 Für das ekklesiale Selbstverständnis der römischkatholischen Kirche ist zudem das Hierarchie-Prinzip konstitutiv: Sie definiert sich entscheidend über die geistlichen Ämter, d.h. das sakramentale Weiheamt des Priesters bzw. des Bischofs,35 und sie ist in dem prägnanten Sinne Papstkirche, daß sie für den Bischof von Rom einen Universalprimat über die gesamte Christenheit beansprucht. Der elementare geistliche Vorrang der geweihten Priester vor den sog. Laien ist für die römisch-katholische Kirche ebenso essentiell wie die – im bundesdeutschen Diskurs immer wieder von prominenten Feuilletonkatholiken betonte – Gehorsamspflicht der Laien gegenüber Bischof und Papst. Mit bemerkenswerter theologischer Stringenz wiederholt das Lehramt deshalb unermüdlich die für das Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche schlechterdings entscheidende tridentinische Botschaft, keine Teilkirche neben anderen zu sein. Zwar bezeichnet das römische Lehramt die „ehrwürdigen christlichen Kirchen des Ostens“, also die den Papstprimat nicht anerkennenden orthodoxen Kirchen, als Kirchen, betont aber zugleich, daß ihr sog. „Teilkirchsein“ „unter einem Mangel“, eben der Trennung von Rom, leide. Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein wird in Rom betont, daß die wahre Kirche Jesu allein in der römisch-katholischen Kirche „subsistit“, subsistiert,36 und den aus der Reformation hervorgegangenen christlichen Kirchen nur der mindere Status sog. „kirchlicher Gemeinschaften“ zuerkannt. Sie sind, laut der jüngsten einschlägigen Erklärung der römischen Glaubenskongregation, „nach katholischer Lehre nicht ‚Kirchen‘ im eigentlichen Sinn“;37 denn ihnen fehlt, in lehramtlicher Sicht, nun einmal das fürs wahre Kirchesein konstitutive Weiheamt. Zwar haben die diversen protestantischen Kirchen im einzelnen höchst unterschiedliche Ekklesiologien ausgebildet; das Spektrum reicht von lutherischen Kirchen 34 Siehe auch Eberhard Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, 1996. 35 Vgl. CIC/1983, Can. 336: „Collegium Episcoporum, cuius caput est Summus Pontifex cuiusque membra sunt Episcopi vi sacramentalis consecrationis et hierarchica communione cum Collegii capite et membris, et in quo corpus apostolicum continuo perseverat, una cum capite suo, et numquam sine hoc capite, subiectum quoque supremae et plenae potestatis in universam Ecclesiam exsistit.“ – „In dem Bischofskollegium, dessen Haupt der Papst ist und dessen Glieder kraft der sakramentalen Weihe und der hierarchischen Gemeinschaft mit dem Haupt und den Gliedern des Kollegiums die Bischöfe sind, dauert die apostolische Körperschaft immerzu fort; es ist zusammen mit seinem Haupt und niemals ohne dieses Haupt ebenfalls Träger höchster und voller Gewalt in Hinblick auf die Gesamtkirche.“ Zum Amtsverständnis der römisch-katholischen Kirche: Richard A. Strigl, Grundfragen der kirchlichen Ämterorganisation, 1960; Ralf Dreier, Das kirchliche Amt. Eine kirchenrechtstheoretische Studie, 1972, sowie diverse Artikel in: Axel von Campenhausen/Ilona Riedel-Spangenberger/Reinhold Sebott (Hrsg.), Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, Bd. 1, 2000. 36 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Dominus Iesus, 17.2, AAS 92 (2000), 758. Jüngst wieder in: Kongregation für die Glaubenslehre: Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche, 29. Juni 2007, [2]. 37 Kongregation für Glaubenslehre: Antworten, [5]. Dazu kommentiert prägnant: Jürgen Kaube, Eine andere Vernunft. Keine Kirche? Glaubenskongregation und Protestantismus, FAZ, Nr. 159, 12. Juli 2007, 35.

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mit rein funktional gedeuteten Bischofsämtern bis hin zu radikal kongregationalistischen, eine starke Autonomie der Einzelgemeinde betonenden reformierten Kirchen. Aber die aus den reformatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts hervorgegangenen protestantischen Kirchen stimmen in einer Fundamentalkritik der geistlich diskriminierenden Unterscheidung von Priestern und Laien überein und betonen, in radikalem Gegensatz zu Hierarchieprinzip und Weihemetaphysik, konsequent das Priestertum aller Gläubigen. Jeder Christ sei der Gnade bedürftig und abhängig vom Wirken des Geistes. Durch die Taufe seien alle Christen „zu Priestern geweiht“.38 Mit Blick auf die Organisation der Kirche bedeutet dies: „Denn dieses ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirche, daß da einträchtig nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und es ist nicht nötig zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirche, daß allenthalben gleichförmige Zeremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden, wie Paulus spricht Eph. 4: ,Ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen seid zu einerlei Hoffnung eures Berufs, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe.‘“

Lateinisch: „Et ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et administratione sacramentorum. Nec necesse est ubique esse similes traditiones humanas, seu ritus aut cerimonias ab hominibus institutas. Sicut inquit Paulus: Una fides, unum baptisma, unus Deus et pater omnium etc.“ 39

Die evangelischen Kirchen haben deshalb keinerlei Probleme damit, die faktische institutionelle Vielfalt der christlichen Kirchentümer als theologisch legitim anzuerkennen: Aufgrund der ekklesiologisch fundamentalen Unterscheidung von ecclesia invisibilis und ecclesia visibilis insistieren sie darauf, daß eine empirische Kirche niemals den Anspruch erheben darf, unmittelbar mit der „wahren“, eben unsichtbaren Kirche Jesu Christi übereinzustimmen; wer das eigene Kirchentum mit der „wahren Kirche Jesu Christi“ gleichschaltet, inszeniert in reformatorischer, protestantischer Perspektive gleichsam den ekklesiologischen Sündenfall. Denn die Kirche wird allein durch Wort und Sakrament konstituiert und lebt allein aus der Kraft des Geistes. Luther zieht es deshalb vor, statt von „der Kirche“ von „der Gemeinde“, „den Christen“ oder „der Christenheit“ zu reden. „Niemand spricht so: Ich glaube an den heiligen Geist, eine heilige römische Kirche, eine Gemeinschaft der Römer; damit es klar sei, daß die heilige Kirche nicht an Rom gebunden, sondern so weit die Welt ist, in einem Glauben versammelt, geistlich und nicht leiblich. Denn was man glaubt, ist weder leiblich noch sichtbar. Die äußerliche römische Kirche sehen wir alle; darum kann sie nicht die rechte Kirche sein, die geglaubt wird. Diese ist eine Gemeinde oder Versammlung der Heiligen im Glauben; aber niemand sieht, wer heilig oder gläubig sei.“40

Der vom römischen Lehramt erhobene ekklesiale Anspruch, daß nur dem als „Weltkirche“ organisierten römisch-katholischen Kirchentum die „Fülle der Gnade und Wahrheit“ anvertraut sei und sich deshalb die Heil vermittelnde Kraft aller anderen Kirchen (auch der orthodoxen!) und sog. „kirchlichen Gemeinschaften“ allein von 38 Martin Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen Standes Besserung, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 6, 404–469, 407. 39 CA VII.2–4 [= Von der Kirche/De ecclesia], BSELK, 61. 40 Martin Luther, Von dem Papsttum zu Rom, wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 6, 285–324, 300 f.

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dem Rom anvertrauten Gnadenschatz herleite, kann von den reformatorisch geprägten Kirchen bestenfalls als theologisch hypertrophe institutionelle Usurpation des Heiligen Geistes gedeutet werden. Trotz aller ökumenischen Konsensdiskurse haben diese ekklesiologischen Grunddifferenzen zwischen dem römischen Katholizismus und den evangelischen Kirchen bis in die Gegenwart hinein Bestand. Sie führen auch zu ganz unterschiedlichen Sichtweisen des Verhältnisses von Geistlichem und Weltlichem, Kirche und Staat sowie zu einander ausschließenden theologischen Deutungen des Weltlichen selbst. Formelhaft zugespitzt: Protestanten denken von der empirischen, sichtbaren Kirche geringer als Katholiken, aber von den weltlichen Institutionen wie insbesondere dem positiven staatlichen Recht deutlich höher als Kirchenlehrer und Rechtsgelehrte der römisch-katholischen Kirche. Vierte Vorbemerkung: Protestantische Theologie verstand sich einst als eine historische Kulturwissenschaft des Christentums. Analog zu anderen historisch-hermeneutischen und normativen Disziplinen, etwa der Rechtswissenschaft, inszenierte sie, besonders stark in Deutschland, auf ihre eigene Weise im 19. Jahrhundert die moderne Denkrevolution des Historismus41 mit. Christentumsgeschichte, historische Konfessionskunde, Dogmengeschichte und theologische Ideengeschichte spielten im disziplinären Diskurs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Aufgrund der von den antiliberalen und antibürgerlichen Krisentheologen der 1920er Jahre ausgerufenen „antihistoristischen Revolution“ büßte die protestantische Universitätstheologie in Deutschland erheblich an historischer Erinnerungskraft ein. So sind speziell die Ideengeschichten ihrer politischen Ethik-Diskurse weithin noch terrae incognitae; über die theologisch fundierten Ordnungsideen der lutherischen Rechtsgelehrten weiß man aufgrund der Forschungen von Kirchenrechtlern und Rechtshistorikern inzwischen sehr viel mehr als über die Rechtsethik der Theologen.42 Allerdings hat sich die Forschungssituation in den letzten beiden Jahrzehnten allmählich gewandelt. Für die lutherischen wie reformierten Altprotestantismen des 16. und 17. Jahrhunderts liegen nun einige ethikhistorische Studien vor, die auch dazu zwingen, alte Stereotypen von den obrigkeitsfixierten, staatsfrommen Lutheranern einerseits und den gemeindezentrierten, synodal verfahrenden und darin demokratiefördernden westeuropäischen Reformierten andererseits zu problematisieren.43 41 Dazu finden sich instruktive Belege bei: Otto Gerhard Oexle, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne, in: ders. (Hrsg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, 2007, 11–116. 42 Dies ist vor allem das Verdienst von Martin Heckel. Siehe: Martin Heckel, Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, 1968. 43 Als wichtige Fallstudien sind zu nennen: Jörg Baur, Lutherisches Christentum im konfessionellen Zeitalter – ein Vorschlag zur Orientierung und Verständigung, in: Dieter Breuer (Fn. 27), Teil 1, 1995, 43–62; Christoph Strohm, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus [= Arbeiten zur Kirchengeschichte 65], 1996; ders., Religion und Recht bei Hugo Donellus. Beobachtungen zur Eigenart religiöser Bezüge in der frühen calvinistischen Jurisprudenz, in: Irene Dingel/Volker Leppin/Christoph Strohm (Hrsg.), Reformation und Recht. Festgabe für Gottfried Seebaß zum 65. Geburtstag, 2002, 176–223; ders., Das Verhältnis von theologischen, politisch-philosophischen und juristischen Argumentationen in calvinistischen Abhandlungen zum Widerstandsrecht, in: Angela De Benedictis/Karl-Heinz Lingens (Hrsg.), Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.–18. Jh.)/Sapere, coscienza e scienza nel

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Gewiß, es läßt sich eine calvinistische Vorgeschichte von westlich-liberalen Ideen politischer Bürgerfreiheit konstruieren44 und zeigen, daß im calvinistischen Diskurs vergleichsweise früh schon von der „Heiligkeit der Rechte des Menschen“ die Rede war.45 Es läßt sich umgekehrt nachweisen, daß die meisten lutherischen Rechtsgelehrten und Theologen stark von paternalistischen Gemeinwohlkonzepten her dachten, in denen der Staat als Garant des bonum commune umfassende Sozialdienstleistungen für die Bürger erbringen sollte. Aber die politisch-ethischen Diskurse der deutschen lutherischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts waren komplexer, vielspältiger als die überkommenen Formeln vom politisch passivistischen Luthertum suggerieren. Luise Schorn-Schütte46 und Wolfgang Sommer47 haben die harte Fürstenkritik gerade der gnesiolutherischen48 und konkordistischen Prediger – auch Hofprediger – und Universitätstheologen dokumentiert und gezeigt, daß keineswegs nur calvinistische und jesuitische Theologen, sondern auch Lutheraner ein Recht auf gottgebotenen Widerstand lehrten; schon Melanchthon hatte in seinen Loci communes von 1559 einen Vorrang naturrechtlicher Normen, konkret: des Dekalogs, auch gegenüber der Obrigkeit vertreten. Auf den Kathedern lutherisch-theologischer Fakultäten wurde die Leibeigenschaft delegitimiert und für die Freiheit der Knechte gestritten. Trotz aller christlichen Sozialdisziplinierung und Betonung der Einheit der Religion im

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diritto di resistenza (XVI–XVIII sec.) [= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 165], 2003, 141–174; ders., Recht und Jurisprudenz im Reformierten Protestantismus 1550–1650, ZRG. Kanonistische Abteilung 92 (2006), 453–493; Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts [Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 29], 2006. Verwiesen sei nur auf eine klassische Aussage Calvins: „Ja, die Obrigkeiten müssen mit höchster Anstrengung danach streben, daß sie es nicht zulassen, daß die Freiheit, zu deren Beschützern sie eingesetzt sind, in irgendeinem Stück gemindert, geschweige denn verletzt wird; wenn sie dabei zu nachlässig sind oder zu wenig Sorgfalt walten lassen, dann sind sie treulos in ihrem Amte und Verräter an ihrem Vaterlande.“ Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion / Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, 61997, IV, 20, 8. Weitere Nachweise bei: Felix Ekardt, Woran scheitern bisher Generationengerechtigkeit und Umweltschutz? Unter besonderer Berücksichtigung kulturhistorischer Faktoren, in: ders. (Hrsg.), Generationengerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit. Philosophische, juristische, ökonomische, politologische und theologische Neuansätze, 2006, 27–55. Dazu Belege bei: Gerd Kleinheyer, Art. Grundrechte, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, Bd. 2, 1975, 1047–1082. Vgl. Luise Schorn-Schütte, Glaube und Obrigkeit bei Luther und im Luthertum, in: Manfred Walther (Hrsg.), Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes, 2004, 87–103; dies., Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie – Res Publica-Verständnis – konsensgestützte Herrschaft [= Beihefte zur HZ 39], 2004, 1–12; dies., Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die politica christiana als Legitimitätsgrundlage, ebda., 195–232; dies., Luther und die Politik, in: LJb 71 (2004), 103–114; zum weiter gefaßten Überblick: dies./Sven Tode (Hrsg.), Debatten über die Legitimation von Herrschaft. Politische Sprachen in der Frühen Neuzeit [= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 19], 2006. Wolfgang Sommer, Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit [= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 74], 1999. Zur Problematik dieser kirchenpolitischen Chiffre vgl. Andreas Waschbüsch, Alter Melanchthon. Muster theologischer Autoritätsstiftung bei Matthias Flacius Illyricus in seinen Magdeburger Publikationen der Jahre 1548/49, vorauss. 2007.

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Staat wurden aus der reformatorischen ,libertas christiana‘ auch ,libertas religionis‘ und ,libertas conscientiae‘ abgeleitet.49 Die neuere theologie- und kirchenhistorische Aufklärungsforschung hat zudem gezeigt, wie intensiv lutherische Neologen aus protestantischer Tradition Konzepte starker Freiheit des Individuums abzuleiten suchten.50 Sehr früh schon deuteten theologische Kantianer den Königsberger als einen „Philosophen des Protestantismus“, der Luthers Glaubensverständnis philosophisch transformiert habe.51 In den politischen Emanzipationsdebatten des frühen 19. Jahrhunderts spielten lutherische Spätrationalisten eine gewichtige Rolle.52 Insbesondere die in den letzten zwanzig Jahren deutlich verstärkte Aufmerksamkeit für die religiös-liberalen Traditionen im deutschen Protestantismus hat eine Modifikation überkommener Geschichtsbilder bewirkt. In den großen Kritischen Gesamtausgaben für die neuprotestantischen Klassiker Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und Ernst Troeltsch sind nun auch ihre zentralen politisch-ethischen Texte zugänglich gemacht worden.53 Hatten sich die deutschen protestantischen Kirchenhistoriker unter dem Eindruck des sog. „Kirchenkampfes“ in der NS-Diktatur lange auf den Nationalsozialismus konzentriert, so gewann seit den 1980er Jahren zunehmend die Weimarer Republik an gelehrtem Interesse, für deren Scheitern auch die Demokratieunfähigkeit protestantischer Eliten mitbestimmend war.54 So rechtsfern viele protestantische Theologen noch immer denken mögen – speziell die Frage nach dem Beitrag der verschiedenen Protestantismen zur sei es Förderung, sei es Blockierung moderner freiheitlich rechtsstaatlicher Ordnungen hat inzwischen einige Aufmerksamkeit gefunden. Für den neueren deutschen Protestan49 Zahlreiche Belege bei: Horst Dreitzel, Toleranz und Gewissensfreiheit im konfessionellen Zeitalter. Zur Diskussion im Reich zwischen Augsburger Religionsfrieden und Aufklärung, in: Dieter Breuer (Fn. 27), Teil 1, 1995, 115–128. 50 Albrecht Beutel, Aufklärung in Deutschland, 2006. Einen Überblick über die neuere theologie- und kirchenhistorische Aufklärungsforschung bietet: Kurt Nowak, Vernünftiges Christentum? Über die Erforschung der Aufklärung in der evangelischen Theologie Deutschlands seit 1945, 1999. 51 Alexandra Schlingensiepen-Pogge, Das Sozialethos der lutherischen Aufklärungstheologie am Vorabend der Industriellen Revolution [= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 39], 1969; weitere Belege in: Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Tanner, Philosophie des Protestantismus. Immanuel Kant, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Band 1, 1990, 86–112. 52 Christian Schulz, Spätaufklärung und Protestantismus. Heinrich Gottlieb Tzschirner (1778–1828). Studien zu Leben und Werk, 1999. 53 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat. Kritische Gesamtausgabe, 2. Abteilung: Vorlesungen, Bd. 8, hrsg. v. Walter Jaeschke, 1998; Ernst Troeltsch, Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), hrsg. v. Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit [= KGA Bd. 15], 2002; ders., Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland, hrsg. v. Gangolf Hübinger [= KGA Bd. 17], 2006. 54 Dazu grundlegend im einzelnen: Jochen Jacke, Kirche zwischen Monarchie und Republik. Der preußische Protestantismus nach dem Zusammenbruch von 1918 [= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte XII], 1976; Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, 1981 (²1988); zur Formel von der Demokratieunfähigkeit des Protestantismus siehe meine Rezension von Nowaks „Dissertation B“: Friedrich Wilhelm Graf, Konkretionen der Theologiegeschichte, Mitteilungen der Ernst-TroeltschGesellschaft 2 (1983), 125–133.

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tismus sei exemplarisch auf zwei gewichtige theologiehistorische Untersuchungen verwiesen: die Hallenser Dissertation von Thorsten Moos über die Staatsziel-Lehren protestantischer Ethiker im 19. Jahrhundert55 und insbesondere Klaus Tanners Arbeit über die ethische Delegitimierung der Weimarer parlamentarischen Demokratie durch führende protestantische Krisentheologen der Zeit, speziell auch ihr interdisziplinäres Gespräch mit prominenten protestantischen Staatsrechtslehrern.56 Auch für die späten 1940er und 1950er Jahre, speziell die Frühgeschichte der Bundesrepublik, und für die harten fundamentalpolitischen Kontroversen im deutsch-deutschen Protestantismus liegen inzwischen Fallstudien vor.57 Generell gilt freilich: Selbst für protestantische Theologen, denen im Fach Klassikerrang zuerkannt wird, sind die Konzepte politischer Ethik nur in vagen Umrissen erforscht, und auch die Frage, was denn das spezifisch Protestantische in den Ordnungsentwürfen protestantischer Staatsrechtslehrer wie Friedrich Julius Stahl, Robert von Mohl, Rudolph Sohm und Rudolf Smend sei, ist bisher weder prägnant gestellt noch gar begrifflich klar beantwortet worden.58 Von einem ideen- oder diskurshistorischen Reflexionsniveau, wie es etwa durch die Cambridge School eines John G. A. Pocock und Quentin Skinner repräsentiert wird,59 ist jedenfalls die theologiehistorische Forschung noch weit entfernt. Insofern ist es mehr als nur eine konventionelle captatio benevolentiae, wenn ich betone: Die folgende Skizze ist der Versuch, im Sinne einer „Problemgeschichte“60 einige Grundlinien der Entwicklung sichtbar zu machen.

55 Thorsten Moos, Staatszweck und Staatsaufgaben in den protestantischen Ethiken des 19. Jahrhunderts [= Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus 5], 2005. 56 Klaus Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung, 1989. 57 Hans Gerhard Fischer, Evangelische Kirche und Demokratie nach 1945. Ein Beitrag zum Problem der politischen Theologie [= Historische Studien 407], 1970; Michael J. Inacker, Zwischen Transzendenz, Totalitarismus und Demokratie. Die Entwicklung des kirchlichen Demokratieverständnisses von der Weimarer Republik bis zu den Anfängen der Bundesrepublik (1918–1959) [= Historisch-theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert 8], 1994; Christian Hanke, Die Deutschlandpolitik der EKD von 1945–1990. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Demokratie-, Gesellschafts- und Staatsverständnisses, 1999. 58 Für protestantische Prägungen in Sohms Rechtsdenken finden sich immerhin einige Andeutungen bei: David Norman Smith, Faith, Reason, and Charisma: Rudolf Sohm, Max Weber, and the Theology of Grace, Social Inquiry 68 (1998), 32–60. Speziell mit Blick auf sein Charisma-Konzept: Thomas Kroll, Max Webers Idealtypus der charismatischen Herrschaft und die zeitgenössische Charisma-Debatte, in: Edith Hanke/Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und Wirkung, 2001, 47–72. 59 Programmatisch: Quentin Skinner, Meaning and Understanding in the History of Ideas, History and Theory 8 (1969), 3–53; John G. A. Pocock, Politics, Language, and Time. Essays on Political Thought and History, 1989; zur Einordnung Eckhard Hellmuth/Christoph von Ehrenstein, Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker, Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 150–173. 60 Zum Konzept der „Problemgeschichte“: Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932, 2001. Der Begriff „Problemgeschichte“ spielt im Heidelberger GelehrtenMilieu um 1900, etwa bei Troeltsch und Weber, eine wichtige Rolle. Dazu siehe: Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung, in: Ernst Troeltsch. Rezensionen und Kritiken (1901–1914), hrsg. v. Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Dina Brandt [= KGA Bd. 2], 2007.

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144 II. IDENTITÄTS(DE)KONSTRUKTIONEN

„Das individualistische Konzept der Autonomie, ursprünglich basierend auf der Theorie der unvermittelten Gnade, im Innersten erfahrbar, macht das protestantische Persönlichkeitssystem in prekärer Weise labil. Nach der Zerschlagung der religiösen Institution sind die Protestanten immer auf der Suche nach Evidenz, nach Struktur, nach Überzeugt-sein-können. (…) Am Wege der unterinstitutionalisierten protestantischen Religiosität stehen dauernd die Verführungen durch ideologische Ersatzkirchen.“ 61

So stellte sich für Gerhard Schmidtchen in einem „Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“ 1981 protestantische Religiosität dar. Schmidtchen machte die protestantische Persönlichkeit deshalb für die damaligen Krisen des bundesdeutschen politischen Systems verantwortlich: Der Protestant sei nicht nur Mystiker, sondern darin zugleich auch potentieller Terrorist, und die protestantische Kultur der Innerlichkeit sei fortwährend von der Gefahr bedroht, in gewalttätigen Antiinstitutionalismus umzuschlagen. Die Pastorentochter Gudrun Ensslin, die passionsbereite Ulrike Meinhof oder der Helmut Gollwitzer-Schüler Rudi Dutschke gelten Schmidtchen als Repräsentanten eines „religiös inhaltsleer gewordenen Protestantismus“, der gleichsam ein „Erziehungsgefäß für politische Überzeugungstäter“ gebildet habe. Auch in der neuesten Forschung über die RAF und den deutschen Linksterrorismus sind immer wieder spezifisch protestantische Motive in den Denkwelten der Täter betont worden. Bestimmend für diesen Linksterrorismus ist die „unbedingte Hingabe an die eigene Überzeugung, verbunden mit einem eschatologisch gefärbten Dezisionismus: Jetzt ist der Augenblick! Jetzt müssen wir uns entscheiden und handeln! Dieser Zwang, sich mit Überzeugungen zu beweisen und diese in Taten zu überführen, verweist auf einen protestantischen Gewissensradikalismus, der mit Lust Traditionen bricht, Institutionen stürmt und Kompromisse grundsätzlich verachtet“.62 Der Theologe Jörg Herrmann führt diese Mentalität auf die Traditionen der Bekennenden Kirche im Dritten Reich und den „römisch“ wie amerikanisch geprägten „Adenauer-Staat“ fanatisch bekämpfenden protestantischen Linksnationalismus der 1950er Jahre zurück.63 Aber die Protestanten werden bekanntlich auch fürs Gegenteil terroristischer Gesinnungsunmittelbarkeit verantwortlich gemacht. Die Diskurse über das Verhältnis der verschiedenen Protestantismen zu politischer Ordnung, Staat oder Obrigkeit sind schon seit der Frühen Neuzeit von einem bis ins 20. Jahrhundert hinein tradierten Deutungsmuster geprägt: Den westeuropäischen, calvinistischen Protestantismen schreibt man eine Nähe zu Bürgerfreiheit, Republik, self government, Demokratie und Menschenrechtsdenken zu, wohingegen dem Luthertum (speziell in Deutschland, aber auch in Skandinavien) Obrigkeitsfixierung, Autoritätskult und Sozialpaternalismus attestiert werden. In dieser Perspektive bezeichnete Otto Hintze etwa den 61 Gerhard Schmidtchen, Art.: Religiosität, in: Martin Greiffenhagen/Sylvia Greiffenhagen/Rainer Prätorius (Hrsg.), Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Ein Lehr- und Nachschlagewerk [= Studienbücher zur Sozialwissenschaft 45], 1981, 428–434, 429 f. 62 Johann Hinrich Claussen, Protestantismus und Terror. Im Widerstand, FAZ, Nr. 107, 9. Mai 2007, N 3. 63 Jörg Herrmann, „Unsere Söhne und Töchter.“ Zum Verhältnis von Protestantismus und Linksterrorismus in den 1970er Jahren, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und die Herausforderung der Demokratie 1967–2002, Bd. 3, 2006.

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Weihnachten 1613 vollzogenen Übertritt der Hohenzollern in Brandenburg-Preußen zum Calvinismus als einen aufklärerischen Ausbruch aus der „dumpfen Enge des kleinstaatlichen Luthertums“64 und räumte jener reformierten Tradition alle Bedeutung für die aufklärerischen Elemente der preußischen Verfassungsentwicklung ein, wenn er konstatierte: „Die Gedanken von Kant und Fichte, von Humboldt und Schleiermacher haben an dem Werke [sc. der Preußischen Reformen] mitgearbeitet; in Stein erscheint eine moralisch-politische Kraft von ungeheurer Größe, ein protestantischer Charakter, dem Staatszucht und freie Entwicklung der Persönlichkeit gleichberechtigte Forderungen sind. Im Kampf mit dem schlechthin autokratischen Regiment der alten Zeit haben diese Bestrebungen sich durchgesetzt; in ihnen ist der beste Inhalt der geistig-sittlichen Bildung des evangelischen Deutschland wirksam geworden“.65

Als analoges Zeugnis sei ein bekannter Brief Max Webers an Adolf Harnack zitiert, in dem der vom „asketischen Protestantismus“ Faszinierte alle Übel der deutschen politischen Kultur auf den mangelnden „Asketismus“ des Luthertums zurückführt: „So turmhoch Luther über allen Anderen steht, – das Luthertum ist für mich, ich leugne es nicht, in seinen historischen Erscheinungsformen der schrecklichste der Schrecken und selbst in der Idealform, in welcher es sich in Ihren Hoffnungen für die Zukunftsentwicklung darstellt, ist es mir, für uns Deutsche, ein Gebilde, von dem ich nicht unbedingt sicher bin, wie viel Kraft zur Durchdringung des Lebens von ihm ausgehen könnte. Es ist eine innerlich schwierige und tragische Situation: Niemand von uns könnte selbst ‚Sekten‘-Mensch, Quäker, Baptist etc. sein, Jeder von uns muß die Überlegenheit des – im Grunde doch – Anstalts-Kirchentums, gemessen an nicht-ethischen und nicht-religiösen Werthen, auf den ersten Blick bemerken. Und die Zeit für ,Sekten‘ oder etwas ihnen Wesensgleiches ist, vor Allem, historisch vorbei. Aber daß unsre Nation die Schule des harten Asketismus niemals, in keiner Form, durchgemacht hat, ist, auf der andren Seite der Quell alles Desjenigen, was ich an ihr (wie an mir selbst) hassenswerth finde, und vollends bei religiöser Wertung steht eben – darüber hilft mir nichts hinweg – der DurchschnittsSektenmensch der Amerikaner ebenso hoch über dem landeskirchlichen ,Christen‘ bei uns, – wie, als religiöse Persönlichkeit, Luther über Calvin, Fox e tutti quanti steht.“66

Auf derselben Linie haben Diagnostiker der deutschen politischen Kultur wie Ernst Troeltsch67, Georg von Lukács und Helmuth Plessner das deutsche Luthertum für eine Untertanenmentalität verantwortlich gemacht, die die passive Hinnahme gegebener politischer Ordnungsstrukturen befördert und das Gegebene zum Heiligen verklärt, sakralisiert habe. Lutherischer Geist soll die politischen Institutionen mit dem Willen Gottes gleichgeschaltet und ihnen so zu jener starken religiösen Legitimation verholfen haben, die den Verbindlichkeitsanspruch der politischen Ordnung als nicht mehr diskutierbar erscheinen läßt. Die Freiheit des Individuums könne sich faktisch nur darin noch äußern, sich in das objektiv gegebene politische Institutionengefüge

64 Otto Hintze, Kalvinismus und Staatsräson in Brandenburg zu Beginn des 17. Jahrhunderts, HZ 144 (1931), 229–286, 230. 65 Otto Hintze, Der österreichische und der preußische Beamtenstaat im 17. und 18. Jahrhundert. Eine vergleichende Betrachtung (1901), in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. v. Fritz Hartung, Göttingen ³1970, 321–358, 355. 66 Max Weber an Adolf Harnack, 5. Februar 1906, Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung II: Briefe, Bd. 5: 1906–1908, hrsg. v. M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön, 1990, 32 f. 67 Vgl. Thomas Kaufmann, Luther zwischen den Wissenschaftskulturen. Ernst Troeltschs Lutherdeutung in der englischsprachigen Welt und in Deutschland, in: Hans Medick/Peer Schmidt (Hrsg.), Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, 2004, 455–481.

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einzuordnen und den Glauben an Gottes Schöpferwillen im Pathos von Beruf und Pflichterfüllung zu konkretisieren. Die gegensätzlichen Urteile über das Verhältnis von lutherischem Protestantismus und politischer Institutionenordnung reflektieren das Grundproblem aller Institutionentheorie: die Polarität von Individuum und Institution. Folgt man Helmut Schelsky, dann ist jede sozialwissenschaftlich informierte modernitätsspezifische Institutionentheorie primär mit dem Problem der „Entzweiung zwischen dem Allgemeinen, das in den Institutionen von alters her verkörpert ist, und der Subjektivität des modernen Menschen“68 konfrontiert. Die Geschichte des deutschen dominant lutherischen Protestantismus ist geprägt von immer neuer Suche nach einer Vermittlung zwischen den beiden Polen. Leitend ist ein Kulturverständnis, das sowohl der Autonomie der frommen Seele, dem Innerlichen, Individuellen, dem Gewissen als auch der überindividuellen Verbindlichkeit sozialer Ordnungsstrukturen wie Ehe, Familie, Beruf, Amt und Staat gerecht werden soll. Orientiert man sich nicht am Begriff, sondern am Sachverhalt ‚Institution‘, der in der protestantischen Theologie zumeist unter dem Leitbegriff der Ordnungen thematisiert worden ist, läßt sich die Geschichte protestantischer und speziell lutherischer Ethik unschwer als eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rechtfertigung von Institutionen vor dem forum internum des Gewissens rekonstruieren. Der Plural ist das Entscheidende: Die lutherische Theologie hat, anders als der römische Katholizismus, diese Grundfrage keineswegs nur im Rahmen einer Theorie der Institution Kirche zu beantworten versucht. Für den lutherischen Protestantismus ist es vielmehr kennzeichnend, daß er sich in der Frage nach der Legitimation von Institutionen auf die sog. weltlichen Institutionen konzentriert und von der Institutionalität der Kirche nur im Horizont einer allgemeinen Institutionenlehre gehandelt hat. Protestantische Theologen haben sich traditionell mit der Verwaltung des Kirchhofs nicht bescheiden wollen. Sie haben auch an den Bismarck-Türmen mitgebaut, an Verfassungstexten mitgeschrieben – man denke nur an Friedrich Naumann – und mehr noch beansprucht, die tragenden sozialmoralischen Fundamente für die Gehäuse der deutschen Nationalkultur legen zu können. Sie sahen sich als Experten für Letztbegründungsfragen der öffentlichen Ordnung und empfahlen sich als Hüter einer bindenden Sozialmoral. Deutungsmacht reklamierten sie insbesondere für interpretationsoffene Grundbegriffe der politisch-sozialen Sprache wie Freiheit, Staat, Obrigkeit, Stand (bzw. Stände), Ordnung, Gemeinwohl, Verantwortung oder Bürgerpflicht. Man muss es nicht gleich so pathetisch wie Helmuth Plessner formulieren, der den „Funktionswandel des Religiösen vom kirchlichen zum weltlichen Leben“ und „seine Vollendung im Dasein und im Begriff der Kultur eine lutherische Kategorie und ein deutsches Schicksal“69 genannt hat. Doch mit dem seit Goethe populären Begriff der „Weltfrömmigkeit“ benennt Plessner in der Tat eine Grundtendenz protestantischer Religiosität. Um die religiöse Legitimität, gesellschaftliche Funktion und politische Zielrichtung solchen „Kulturglaubens“ ist 68 Helmut Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie der Institution [= Interdisziplinäre Studien 1], 1970, 9–26, 24. Erneut veröffentlicht in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, 1980, 215–231, 229. 69 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes, 1959, 67.

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freilich schon in der Theologie des 19. Jahrhunderts heftig gestritten worden. Dieser gelehrte Streit läßt sich problemgeschichtlich als eine Auseinandersetzung um die metapolitischen, sozialmoralischen Fundamente des Gemeinwesens oder genereller: die Grundlagen der Kultur deuten.70 III. KRITISCHE POTENTIALE Zentrales Thema der Wittenberger reformatorischen Bewegung ist Kirchenkritik. Luther, Melanchthon und ihre Mitstreiter thematisieren einen massiven Legitimitätsschwund der alten Kirche, der durch diese selbst provoziert worden ist. Unter den Bedingungen der mittelalterlichen religiösen „Einheitskultur“ (Ernst Troeltsch) verstand sich die Kirche als die zentrale Institution des Gemeinwesens, die dessen Wert- und Normensystem verwaltete. Mit der Wittenberger Reformation beginnt ein Prozess der Auflösung dieses Sinnstiftungsmonopols der Kirche. Denn reformatorische Kritik macht nicht nur die Differenz zwischen der Idee der kirchlichen Institution und ihrer empirischen Realität ausdrücklich. Entscheidender ist die theologische Voraussetzung der Kritik klerikaler Herrschaftsansprüche: Mit dem sog. Rechtfertigungsglauben verlagert sich der Schwerpunkt von der Institution hin zum frommen Individuum. Ihm wird, in radikaler Kritik der überkommenen „Heilsanstalt“, Unmittelbarkeit zu Gott bzw. zu Gottes Wort zuerkannt. Zwar bleibt es Aufgabe der Kirche als religiöser Institution, dem Individuum Heilsgewissheit zu vermitteln. Aber die Struktur solcher Vermittlung wird signifikant verändert. Besonders deutlich zeigt dies die hervorragende Rolle, die in den reformatorischen Theologien der Begriff des Gewissens bzw. des inneren Menschen spielt. Das Gewissen gilt als Ort einer prinzipiellen Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott. Wesentliche Aufgabe der Institution Kirche ist es, solche Unmittelbarkeit, d.h. die Heilsgewissheit des Einzelnen bzw. eine religiös fundierte individuelle Identität, zu ermöglichen. Luther und in anderer Weise auch Calvin betonen die Heiligkeit und Würde jedes einzelnen Gläubigen, erkennen ihm das Recht zu, in Glaubensdingen nach eigener innerer Einsicht zu entscheiden, und steigern damit religiöse Reflexivität. Die am Vorrang des frommen Individuums vor der kirchlichen Institution orientierte Struktur läßt sich exemplarisch an einem normativen Bekenntnistext der reformatorischen Bewegung, der Confessio Augustana von 1530, und hier insbesondere der Zuordnung von Glaubensverständnis und Kirchenlehre ablesen. Was in theologischer Fachsprache als Rechtfertigungsglaube bezeichnet wird, meint de facto die Entsubstantialisierung des Institutionenverständnisses in Richtung auf eine Stärkung von Subjektivität und individueller Gewissheit. Schon der Aufbau der Confessio Augustana läßt erkennen: Die Lehre von der kirchlichen Institution ist nur eine Folge des Interesses an der Ermöglichung religiös fundierter individueller Identität. Erst nach der Darlegung der Artikel von Gott (I.), von der das Gottesverhältnis zerstörenden Erbsünde (II.) des Menschen, dem Sohn Gottes (III) als Mittler und der Rechtfertigung (IV.) aus Glauben, wird die Auffassung vom Predigtamt (V.) als strikt funktionsbezogenes Fundament jeder weiteren Institutionentheorie dargelegt. So 70

Zur Problemgeschichte des protestantischen Kulturdiskurses siehe: Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Tanner, Art.: Kultur: II. Theologiegeschichtlich, in: TRE XX, 1990, 187–209.

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heißt es in CA V: „Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakrament gegeben“ / „Ut hanc fidem consequamur, institutum est ministerium docendi evangelii et porrigenda sacramenta“.71 Diese Grundbestimmung ist in doppelter Weise folgenreich: an die Stelle eines objektivistischen Institutionenverständnisses, demzufolge sich die Beziehung zwischen Institution und Individuum, zwischen vorgegebenem Sinn und individueller Gewissheit zureichend aus der Perspektive der Institution und ihrer Selbstdefinition thematisieren läßt, tritt ein sehr viel komplexeres und weniger objektivierbares Modell einer wechselseitigen Zuordnung. Die Kirche wird nicht mehr substanzontologisch, über irgendeine essentia, oder amtsmetaphysisch, über den religiösen Vorrang der Geweihten, sondern strikt funktional, in ihrer Funktion für den individuellen Gläubigen bestimmt. Diese Aufwertung der subjektiven Seite von Sinnvermittlung bzw. die Entsubstantialisierung des Kirchenbegriffs beinhaltet darüber hinaus auch eine Neubestimmung der sog. weltlichen Institutionen. Erst die ekklesiologisch begründete Limitierung der religiösen (Herrschafts-)Ansprüche der Kirche eröffnet überhaupt Raum für eine Entdeckung der relativen Autonomie anderer Institutionen. Aber auch diese finden eine Grenze ihrer Verfügungsansprüche an der Innerlichkeit des Einzelnen: Wenn der Kirche kein direkter Zugriff auf das Gewissen des Einzelnen mehr zugestanden wird, dann erst recht nicht den weltlichen Obrigkeiten. Ohne direkte Überlieferungslinien von reformatorischer „Freiheit eines Christenmenschen“ zu moderner Autonomie ziehen und den immer auch stark spätmittelalterlich geprägten Luther72 so zum Ahnherrn der Moderne stilisieren zu wollen, läßt sich für die Wittenberger Theologien – und hier speziell für die von Luther wie Melanchthon vertretene Anthropologie – zeigen, daß im Medium theologischer Reflexion eine bisher so nicht bekannte prinzipielle Eigenständigkeit des frommen Einzelnen als christlich legitim konstituiert wurde.73 Luther, Melanchthon und die ihnen hier besonders strikt folgenden altlutherischen Dogmatiker haben dies in einer bald als klassisch protestantisch geltenden Grundunterscheidung ausgedrückt: der Distinktion von „Person“ und „Werk“. Kein Mensch geht in seinen Taten, Werken auf. Jeder ist noch sehr viel mehr und anderes als das, was er tut und in seinen Handlungen, Lebensvollzügen aus sich selbst gemacht hat. Die neue Relation von Kirche und weltlicher Obrigkeit wird entfaltet in der Regimentenlehre, der in unserem Jahrhundert zu zweifelhafter Berühmtheit gelangten sog. „Zwei-Reiche-Lehre“. „Zwei-Reiche-Lehre“ ist ein Begriff, der erst in den 1920er Jahren überhaupt geprägt wurde74 – als ein Leitbegriff für ein spezifisch lutherisches 71 72

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CA V.1,2 [= Vom Predigtamt/De ministerio ecclesiastico], BSELK, 58. Zum kontroversen Thema, inwieweit Luther als „noch“ mittelalterlicher Mensch oder aber mindestens ansatzweise als ein Vorläufer moderner Selbstdeutungen des freien Individuums zu deuten sei, sehr instruktiv: Dietrich Rössler, Luther und der moderne Mensch, in: ders., Überlieferung und Erfahrung. Gesammelte Aufsätze zur Praktischen Theologie, hrsg. v. Christian Albrecht und Martin Weeber, 2006. Als locus classicus, der auch die formale Differenzierung in präzisierender Frage und Antwort erkennen läßt: Martin Luther, Disputatio de homine (1536), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 39, I, 175–180. Hans-Walter Schütte, Zweireichelehre und Königsherrschaft Christi, in: Anselm Hertz/Wilhelm Korff/Trutz Rendtorff/Hermann Ringeling (Hrsg.), Handbuch der Christlichen Ethik, Bd. 1, 1978, 339–353; Kurt Nowak, Zweireichelehre. Anmerkungen zum Entstehungsprozeß einer umstrittenen Begriffsprägung und kontroversen Lehre, ZThK 78 (1981), 105–127; Friedrich Wilhelm

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Verständnis politischer Ethik im Gegensatz zu den reformierten (im deutschen Sprachraum damals vor allem von Karl Barth vertretenen) Vorstellungen einer „Königsherrschaft Jesu Christi“75. Die Vorstellung „zweier Reiche“ legt räumliche Assoziationen nahe und ist insoweit nur eingeschränkt dazu geeignet, der systematischen Pointe von Luthers Unterscheidung zweier Regimente, Regierweisen Gottes Geltung zu verschaffen: Ihr Grundmotiv war die gegenseitige Begrenzung von Herrschaftsansprüchen. Eine Vermischung der Gewalt, potestas, der Kirche und der politischen Herrschaft, wie sie unter den Bedingungen des landesherrlichen Kirchenregiments dann faktisch realisiert wurde, wurde in der theologischen Theorie nach zwei Seiten hin abgelehnt: Die Kirche darf sich nicht der weltlichen Gewalt bedienen zur Verbreitung der christlichen Botschaft. Diese kann also „non vi, sed verbo“,76 allein durch die Kraft des Wortes kommuniziert werden, die das Innere erreicht. Damit werden die politischen Institutionen zugleich aus kirchlicher Vormundschaft entlassen bzw. zu relativer Autonomie befreit. So entsteht ein für den Protestantismus fundamentales Folgeproblem: Wie läßt sich die relative Autonomie weltlicher Institutionen noch einmal theologisch begreifen? Reformatorischer Antwortversuch ist die Regimentenlehre, durch die den weltlichen Institutionen eine eigene theologische Dignität zuerkannt wird. „Von Polizei und weltlichem Regiment wird gelehret, daß alle Obrigkeit in der Welt und geordnete Regiment und Gesetze gute Ordnung, von Gott geschaffen und eingesetzt seind“ / „De rebus civilibus docent, quod legitimae ordinationes civiles sint bona opera Dei“.77 Die neue relative Selbständigkeit der weltlichen Institutionen bedeutet also eine Stärkung ihrer inneren Verbindlichkeit. Die Entklerikalisierung der Legitimation der weltlichen Institutionen führt dazu, daß das Verhältnis zu ihnen religiös aufgeladen wird. Entklerikalisierung ist keineswegs gleichbedeutend mit Säkularisierung. Denn: Wer in den Institutionen dient, dient nach der lutherischen (und in anderer Weise auch in den reformierten Protestantismen entwickelten) Lehre vom weltlichen Beruf des Christen Gott. Diese bekannte Lehre vom weltlichen Beruf des Christen besagt: Nicht irgendwelche besonderen religiösen Leistungen, Anstrengungen sind wahrer Gottesdienst, sondern die unspektakuläre treue Erfüllung all jener Aufgaben, die an dem Lebensort zu erfüllen sind, an den Gott uns gestellt haben. Eine Mutter

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Graf, Art.: Zweireichelehre, in: LThK 10, 32001, 1515–1519; Martin Seils, Art.: Zweireichelehre, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 12, 2004, 1532–1540. Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, 1946. Zu Barths kontrovers diskutierter christokratischer Ethik des Politischen siehe: Eberhard Jüngel, Zum Verhältnis von Kirche und Staat nach Karl Barth, ZThK, Beiheft 6, 1986, 76–135; Friedrich Wilhelm Graf, Königsherrschaft Christi in der Demokratie. Karl Barth und die deutsche Nachkriegspolitik, Evangelische Kommentare 23 (1990), 735–738. Diese Formel taucht bei Luther vielfach auf. Ein frühes Beispiel ist ein Satz aus der 2. Psalmenvorlesung von 1519/21 (Ps. 1, 22): „Non enim aedificatur [sc. ecclesia] armis corporalibus fabrorum, sed verbo vitae“ [D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 5, II, 547, 37 f.]. Bekenntnisrang erhält sie in CA XXVIII. 21 [= De potestate ecclesiastica], BSELK, 123 f.: „Cum igitur de iurisdictione episcoporum quaeritur, discerni debet imperium ab ecclesiastica iurisdictione. Proinde secundum evangelium seu, ut loquuntur, de iure divino haec iurisdictio competit episcopis ut episcopis, hoc est his, quibus est commissum ministerium verbi et sacramentorum, remittere peccata, reiicere doctrinam ab evangelio dissentientem et impios, quorum nota est impietas, excludere a communione ecclesiae, sine vi humana, sed verbo“. CA XVI. 1 [= De rebus civilibus], BSELK, 70.

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dient Gott nicht dadurch, daß sie um des eifrigen Kirchgangs willen ihre Kinder zu vernachlässigen droht, sondern durch liebevolles und verantwortungsbewußtes Sich-Kümmern um die von Gott selbst anvertrauten Kinder. Analog gilt für den Juristen: Sein Beruf wird Gottesdienst, wenn er sachlich, unbestechlich, pflichttreu und verantwortungsbereit dem Recht zur Durchsetzung verhilft. Das Weltliche gewinnt hier eine eigene religiöse Dignität. In dieser Weltfrömmigkeit liegen dann auch Ansätze zu jener sakralisierenden Verklärung politischer Institutionen,78 für die sich der – begriffs- und diskurshistorisch erst vage erkundete – Begriff der ,lutherischen Staatsfrömmigkeit‘ eingebürgert hat. Diese ‚Staatsfrömmigkeit‘ zeigt sich nicht zuletzt darin, daß schon Melanchthon der weltlichen Obrigkeit nicht nur die Aufgabe zuerkannte, für Frieden zu sorgen und dem Bösen durch Bestrafung der Bösen zu wehren, sondern er – sehr viel stärker als Luther –79 auch einen usus paedagogicus des Gesetzes bzw. Rechts betonte und der Obrigkeit die Pflicht zuwies, für das rechte religiöse wie moralische Verhalten der Bürger zu sorgen: Mithilfe des weltlichen Rechts soll die Obrigkeit disciplina ebenso wie pietas der Bürger fördern.80 Mit Blick auf den historischen Ursprung des lutherischen Protestantismus lassen sich für eine spezifisch protestantische Perspektive auf die Frage nach der Rechtsordnung drei Grundelemente systematisch abstrahieren: 1. Recht ist eine von Gott gestiftete gute Ordnung des Lebens, die das friedliche Zusammenleben der ihre je eigenen Interessen und Pläne verfolgenden Menschen ermöglichen soll. Weltliche Institutionen sind von Gott selbst eingesetzt und gewinnen ihre Legitimität daraus, daß sie ihrer Funktion entsprechen. In der Bestimmung dieser Funktion läßt sich früh schon, unter dem starken Einfluß Melanchthons auf Theologen wie auf Juristen, eine Tendenz zur Expansion der ,Staatsziel‘-Bestimmungen beobachten: Neben Sicherung des äußeren Friedens und der Bestrafung der Bösen soll die Obrigkeit seit Melanchthon die Bürger auch religiös wie sittlich erziehen – die theologische Gesetzeslehre dient hier gleichsam als Grundlage umfassender Sozialdisziplinierung. 2. Erst dort, wo es eine prinzipielle, nicht mehr aus institutionellen Bezügen definierte Selbständigkeit des Subjekts gibt, radikalisiert sich die Frage nach der Bedeutung der weltlichen Institutionen. Natürlich ist die religiöse Subjektivität der reformatorischen Theologie nicht gleichbedeutend mit der modernen Reflexionssubjektivität. Aber der Struktur nach ist mit der Reformation ein Grundproblem aller modernen Institutionentheorie formuliert.

78

Vgl. etwa zur „besungenen“ Obrigkeit: Christopher Boyd Brown, Singing the Gospel: Lutheran Hymns and the Success of the Reformation, 2005. 79 Karl Köhler, Luther und die Juristen. Zur Frage nach dem gegenseitigen Verhältniß des Rechtes und der Sittlichkeit, 1873; Johannes Heckel, Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, 1953 (³1973) . 80 Neben den einschlägigen Passagen in Troeltschs „Soziallehren“ (Fn. 4) siehe: Werner Elert, Zur Terminologie der Staatslehre Melanchthons und seiner Schüler, ZSTh 9 (1931/32), 522–534; Guido Kisch, Melanchthons Rechts- und Soziallehre, 1967; Harold J. Berman, Law and Revolution II (Fn. 22), 77–87.

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3. Der Aufwertung des Individuums korrespondiert die Tendenz hin zu einem funktionalen Verständnis von Rechtsinstitutionen. Sie können nicht mehr zureichend aus sich selbst definiert werden. Ihr Sinn bemißt sich nach ihrer Leistungskraft für ein Individuum, dem unabhängig von allen institutionellen Vermittlungsleistungen eine prinzipielle (religiöse) Autonomie zuerkannt ist. Ihre Leistungskraft bemißt sich deshalb danach, welchen Beitrag sie zur Stabilisierung bzw. innerweltlichen Konkretisierung der überweltlichen religiösen Transzendenz des Einzelnen leisten. IV. INNERLICHKEITSANARCHIE Der Problemdruck, der aus der Spannung dieser drei Elemente entsteht, läßt sich in einer Begrifflichkeit beschreiben, die von Karl Mannheim in seiner klassischen Analyse der Genese konservativen Denkens 1927 entwickelt worden ist. Der Rekurs auf Mannheim legt sich nahe, weil er jene diffusen, wenig aussagekräftigen Vorstellungen konservativer Mentalität problematisiert hat, die bis in die Gegenwart hinein weit verbreitet sind: So wie die Liberalen als Repräsentanten von Lockerheit und Laissez-faire, Individualismus und skeptischer Distanz zu Institutionen und der in ihnen geronnenen Sittlichkeit gelten, so werden die Konservativen gern zu autoritätsgläubigen, rückwärtsgewandten Anhängern eines Institutionenobjektivismus stilisiert, der das Eigenrecht des Individuellen nur als Abweichung und sündhaften Regelverstoß, als Aushöhlung kultureller Verbindlichkeit wahrzunehmen vermag. Mannheim hatte demgegenüber gezeigt, daß sich die Grundspannung von Individuum und Institution, Freiheit und Bindung nicht in das positionelle Gegeneinander von Liberalen hier und Konservativen dort auflösen läßt. Sie bezeichnet vielmehr die interne Grundspannung konservativen Denkens selbst. Natürlich sind auch für Mannheim die Konservativen jene, die für die Bewahrung oder behutsame Fortentwicklung gegebener sittlicher Strukturen eintreten und tendenziell eine Heiligkeit der Institutionen predigen. Aber sie sind zugleich Verfechter eines qualitativen Persönlichkeitsglaubens, den Mannheim in seiner Heidelberger Habilitationsschrift primär unter dem Leitbegriff der „Innerlichkeitsanarchie“81 thematisiert. Es greift zu kurz, wenn man die Differenz zwischen liberalem Emanzipationsglauben und konservativem Verbindlichkeitspathos in einer fixierten Oppositionsfigur von individueller Freiheit hier und objektivistischem Institutionalismus dort zu erfassen sucht. Die Differenz beider Positionen ist im wesentlichen in konkurrierenden Auslegungen des Begriffs menschlicher Freiheit zu finden. Den liberalen Freiheitsbegriff charakterisiert Mannheim als formale Freiheit, die wesentlich vom Gleichheitspostulat, der gleichen Freiheit aller her definiert ist. Konservative Freiheit ist demgegenüber qualitative Freiheit, die der konstitutiven Differenz der Individuen oder „Persönlichkeiten“ gerecht zu werden versucht. Konservativ gedeutete Freiheit ist entscheidend von ihren historischen Ursprüngen im romantischen Individualitätskult

81 Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hrsg. v. David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr [= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 478], 1984, 116.

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geprägt. Der Konservative steht dem anarchischen Radikalsubjektivisten deshalb sehr viel näher, als er wahrzuhaben und öffentlich zuzugeben bereit ist. Die konservative Beschwörung der unverbrüchlichen Geltung überindividueller Ordnungen ist nur das selbstverschriebene Abwehrmittel gegen die anarchischen Potentiale der eigenen Innerlichkeit. Emphatische Innerlichkeit und starker Institutionalismus stehen also in enger Wechselwirkung. Gerade weil die Konservativen um die destruktive Eigendynamik freigesetzter Innerlichkeit wissen, müssen sie die Verbindlichkeit von Ordnung so stark machen. In theologischer Sprache formuliert: Gerade weil der Lutheraner ebenso wie der gottesfürchtige Calvinist um das radikale Sündersein des Menschen weiß, ist er permanent auf der Suche nach überindividuellen Ordnungen, die den latenten „anarchischen Subjektivismus“82 einhegen und so überhaupt erst Sozialität in einer vom Sündenfall oder radikalem Bösen gekennzeichneten Welt ermöglichen. Die Geschichte der lutherischen Kirche und Theologie, ihrer Lehre von den Ordnungen und insbesondere ihres Staatsdenkens oszilliert zwischen frommer Innerlichkeit und der Beschwörung der Heiligkeit weltlicher Institutionen. Das Problem, das heute zumeist in der Perspektive einer Grundspannung zwischen individueller Autonomie einerseits und der harten Eigengesetzlichkeit von Institutionen andererseits diskutiert wird, ist in der lutherischen Theologie primär in Gestalt der Auslegung eines materialen Freiheitsbegriffs thematisiert worden. Die Unterscheidung von materialer und formaler Freiheit läßt sich elementar so beschreiben: Gegenüber einem Autonomieverständnis, in dem die reklamierte Selbständigkeit des Subjekts gleichbedeutend ist mit der Befreiung von allen Bindungen, haben die lutherischen Theologen immer betont, der Mensch finde wahre Freiheit gerade darin, daß er die Unmittelbarkeit eines egozentrischen Solipsismus transzendiere, sich an die Objektivität der Ordnungen entäußere und erst in solcher Hingabe an das weltlich Allgemeine zu wahrer sittlicher Persönlichkeit reife. Dieser materiale Freiheitsbegriff ist eine notwendige Folge der spezifisch lutherischen Einsicht in die konstitutive, also nicht nur akzidentielle Sündhaftigkeit der menschlichen Natur; gerade hier, in der Hamartiologie, i.e. in der Lehre von der Sünde des Menschen, vertreten Lutheraner und Reformierte einerseits und römische Katholiken andererseits fundamental unterschiedliche, einander ausschließende Positionen. Für die lutherische Theologie ist der „ganze“ Mensch radikal Sünder. Zu seiner wahren, gottgewollten Bestimmung vermag er deshalb nicht aus eigener Kraft zu gelangen. Gelungene Lebensführung gibt es vielmehr nur da, wo er sich im Zentrum seiner Person von außen konstituieren läßt: allein durch die präveniente Gnade eines Gottes, der eine Bindung konstituiert hat, die exklusiver Grund menschlicher Freiheit ist. Zentrales Thema aller protestantischtheologischen Theorie der Freiheit ist deshalb die Zuordnung von Freiheit und Bindung. In der Interpretation dieser Relation liegt auch der Schlüssel dafür, daß protestantische Mentalität sowohl für frommes Spontitum als auch für das Pathos von Pflichterfüllung und Staatsfrömmigkeit in Anspruch genommen werden kann. Denn kulturdiagnostisch entscheidend ist ja nicht die Erkenntnis, daß Theologen von einer Bindung des Menschen an Gott reden. Intellektuell spannend wird es vielmehr

82 Ebd.

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erst bei der Frage, wie sie das konstitutive Gebundensein des Menschen an Gott in Relation zu den vielfältigen Bindungen innerhalb der Welt ausgelegt haben. Prinzipiell stehen zwei Möglichkeiten offen: einerseits eine Deutung der Bindung des Menschen an Gott, die innerweltliche Bindungen so weit vergleichgültigt, daß sie diese aufzuheben droht. Und andererseits eine Verknüpfung von Gottesbindung und innerweltlichen Bindungen, die deren Verpflichtungsgehalt ins Absolute zu steigern droht und nicht mehr zu begrenzen vermag. Die erste Position, ein konsequenter frommer Skeptizismus im Hinblick auf den Anspruch äusserer Ordnungen, läßt sich historisch vor allem in den zahlreichen religösen Alternativbewegungen greifen, die für die Geschichte der diversen Protestantismen und speziell auch des deutschen Protestantismus signifikant sind. Insbesondere in Pietismus, Erweckungsbewegungen und Awakenings ist immer wieder versucht worden, aus der Kraft religiöser Herzensunmittelbarkeit und Innerlichkeit die reformerischen Impulse der Reformation zu erneuern und Kirche und Gemeinwesen den Bedingungen der ursprünglichen reformatorischen Institutionenkritik zu unterstellen. Für diese Reform- und Erneuerungsbewegungen ist eine religiöse Reflexionskultur signifikant, die mystische Introspektion, Individualitätsglaube, Gewissenskult und fromme Autobiographik gefördert und eine innere religiös-sittliche Rationalisierung der gesamten Lebensführung hervorgebracht hat: Wer sich als unmittelbar zu Gott erfährt und wahrnimmt, ist mitten in der Welt zugleich über die Welt hinaus und weiß sich deshalb in einer prinzipiellen Distanz zu den nur äusserlichen Ordnungen der Welt, zu überkommener bürgerlicher Sitte, gegebener Konvention und geltendem Recht. Die Pietisten und besonders Frommen sind gerade deshalb so irritierend sittenstreng und moralisierend, weil sie die nur äußere Verbindlichkeit der weltlichen Institutionen in innere Verpflichtung überführt haben. Diese radikale Internalisierung von Verbindlichkeit, wie sie aus dem Bewusstsein einer höheren Konkordanz mit dem Absoluten resultiert, eröffnet prinzipiell die Möglichkeit eines Terrors der frommen Seele: Indem der gottunmittelbare Fromme sich mit dem wahren Grund aller Moralität und Sittlichkeit eins weiß, weiß er sich zugleich all jenen (tendenziell: unendlich) überlegen, die die weltlichen Ordnungen nur aufgrund äusseren Zwangs oder aus egozentrischem Utilitarismus und pragmatischem Nützlichkeitskalkül anerkennen. In genau dem Maße, wie Unmittelbarkeit zu Gott sich in rein innengeleiteter Handlungsorientierung konkretisiert, tendiert sie zum Abbruch der kulturellen Bemühungen, Handlungsorientierung durch institutionell vermittelte Konsensbildungsprozesse bzw. durch die Objektivation gemeinsamer Verbindlichkeit in Institutionen zu gewinnen. Das Grundthema des protestantischen Freiheitsverständnisses, die Konkordanz von Freiheit und Bindung, hat sich aber auch genau gegenläufig akzentuieren lassen: im Sinne einer tendenziellen Identifikation der Gottesbindung mit der Bindungskraft von Ehe, Stand, Staat und Volk. Für diese primär von konservativen Kulturlutheranern vertretene Position83 ist vor allem die Behauptung einer transzendenten Stiftung

83 Zum theologie- und mentalitätshistorischen Konzept des konservativen Kulturluthertums siehe: Friedrich Wilhelm Graf, Konservatives Kulturluthertum. Ein theologiegeschichtlicher Prospekt, ZThK 85 (1988), 31–76.

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weltlicher Institutionen kennzeichnend. Grundordnungen des Lebens verdanken sich nicht dem Kontrakt der in ihnen lebenden Individuen bzw. einem pragmatischen Konsens. Sie werden vielmehr als Manifestationen des göttlichen Schöpferwillens begriffen, die ihren Sinn in sich selbst tragen und in dieser metaphysischen Autarkie unabhängig von der Zustimmung der Beteiligten unbedingt gelten. Hier wird mit faszinierender intellektueller Konsequenz von oben nach unten gedacht. Besonders prägnant zeigt dies der Begriff der „Schöpfungsordnungen“, der in den Ethiken theologischer Kulturlutheraner eine prominente Rolle spielt; leider fehlen begriffs- und diskurshistorische Studien zu Genese und Durchsetzung des Begriffs. Mit Blick auf die (Frühe) Neuzeit formulierte Otto Hintze 1931 lapidar: „Die neue Staatengesellschaft ist zweifellos als die säkularisierte Metamorphose der mittelalterlichen Glaubens- und Kirchengemeinschaft anzusehen.“84

Im gesellschaftlichen Umbruch vom altständischen konfessionell homogenen Gemeinwesen zur modernen ,offenen Gesellschaft‘ sind in analoger Weise auch die Theologien und Sozialtheorien des konservativen Kulturluthertums nicht etwa, wie pauschale Säkularisierungskonzepte und eindimensionale soziologische Theorien funktionaler Differenzierung suggerieren, einfach verschwunden, sondern unterlagen einem Wandel. Sie haben zwar gesamtgesellschaftlich an Plausibilität und kultureller Prägekraft verloren, auch wenn sie in bestimmten öffentlich-rechtlichen Diskursen, etwa dem Diskurs über die Legitimitätsgrundlagen monarchischer Herrschaft oder den Sozialstaatsdebatten bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein eine prägende Rolle spielten. Aber sie haben zugleich zur Stabilisierung eines bestimmten Sozialmilieus beigetragen und sind zu dessen Leitideologie geworden. Dies hat eine Umformung der lutherischen Ordnungstheologie mit sich gebracht: aus dem Traditionalismus von einst wurde ein Konservatismus, der in einem bestimmten Sinne höchst modern ist. Die Modernität dieses Konservatismus liegt darin, daß er im Medium eines alternativen Kulturkonzepts eine hohe Kompetenz zur Analyse der vielfältigen Krisen des Prozesses gesellschaftlicher Modernisierung, insbesondere seiner sozialen Folgekosten, entwickelt hat. Durch Reinterpretation christlicher Zentralsymbole entwickelten die konservativen Kulturlutheraner ein bemerkenswert feines Sensorium für die sozialen Verwerfungen in der neuen bürgerlichen Klassengesellschaft. In der ethischtheologischen Konstruktion idealer Ordnungen des Zusammenlebens suchten sie „das als prekär wahrgenommene Gefüge sozialer Institutionen durch den Rekurs auf allgemeine Sinn- und Wertvorstellungen symbolisch zu stabilisieren“.85 Hatten lutherische Theologen im Sinne der frühneuzeitlichen Dreiständelehre „das Soziale“ primär über die Trias von Kirche, Staat und Haus (Familie) bestimmt,86 so entwickelten sie nun handlungstheoretisch fundierte Kulturtheorien, im engen Austausch mit Juristen und Nationalökonomen. Zugleich suchten sie Einsichten der neuen gesellschaftsbezogenen Einzelwissenschaften in ihre theologischen Zeitdeutungen

84 Otto Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staats (1931), in: ders. (Fn. 65), 470–496, 479. 85 Moos, Staatszweck (Fn. 55), 13. 86 Vgl. Reinhard Schwarz, Ecclesia, oeconomia, politia. Sozialgeschichtliche und fundamentalethische Aspekte der protestantischen Drei-Stände-Theorie, in: Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Protestantismus und Neuzeit [= Troeltsch-Studien 3], 1984, 78–88.

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zu integrieren. Diese Zeitdiagnosen waren ausnahmslos auf einen kulturkritischen Grundton gestimmt.87 Prozesse gesellschaftlicher Differenzierung wurden als kultureller Niedergang und Dekomposition substantieller Verbindlichkeit, als Triumph eines atomistischen Individualismus und als hedonistische Aushöhlung aller sittlichen Basisinstitutionen der Gesellschaft wahrgenommen. In der Perspektive dieser konservativen Kulturkritik ist die Geschichte der modernen Kultur weithin nur ein dramatischer Deinstitutionalisierungsprozess. Die Theologie des lutherischen Konservatismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert läßt sich in soziologischer Begrifflichkeit deshalb als Suche nach neuen Integrations- und Legitimationspotentialen, als Versuch neuer kultureller Sinnstiftung charakterisieren. Wem soziale Differenzierung und kulturelle Pluralisierung gleichbedeutend sind mit Kulturkrise und Wertezerfall, der setzt sich selbst unter den Druck, ein solches Legitimationsfundament für Institutionen zu konstruieren, das vom modernistisch liberalen Zeitgeist nicht erschüttert werden kann, bzw. solchen Sinn zu stiften, der resistent ist gegen relativistische Skepsis und gegen die zweckrationale Vereinnahmung des Sinns von Institutionen. Die Radikalisierung der alten theologischen Stiftungsmetaphysik zum modernitätskritisch modernen Konservatismus läßt sich nicht als bloße Gegenposition zum Innerlichkeitsethos der religiösen Alternativbewegungen im Protestantismus begreifen. Vielmehr sind hier der metaphysische Objektivismus der Ordnungstheologen und die protestantische Internalisierung von Verbindlichkeit zu einer, freilich gefährlichen Position verschmolzen. Was als innerlich unbedingt verpflichtend gilt, soll auch außen wieder allgemein gelten. Gefährlich ist diese Position deshalb, weil sie zu einer Entdifferenzierung von Geltungsansprüchen führt bzw. äußere Ordnung und innere Verpflichtung unmittelbar gleichzuschalten versucht. Faktisch wird diese Position innerhalb religiös wie moralisch pluralistischer Gesellschaften nur noch von Minderheiten vertreten. Gerade dies erlaubt es ihren Repräsentanten aber, sich selbst noch einmal zu Agenten höherer Allgemeinheit zu stilisieren: Die Minorität versteht sich selbst als ethische Avantgarde der Gesellschaft, als Elite kultureller Sinnstiftung. Indem sie die Verbindlichkeit von Institutionen radikal internalisiert hat, wird sie zugleich zum exklusiven Träger des Fortbestands wahrer Kultur. V. KULTURTHEORETISCHE NABELSCHAU Im deutschen Protestantismus nach 1945 haben die Ordnungstheologien des konservativen Luthertums schnell als historisch diskreditiert gegolten. Jene kulturpolitische Luthertumskritik, die Max Weber und Ernst Troeltsch zu Jahrhundertbeginn formuliert und Autoren wie Plessner und von Lukács in ihren Analysen einer deutschen „Sonderwegs“mentalität fortgeführt hatten, ist nicht zuletzt unter dem prägenden Einfluß Karl Barths und prominenter lutherischer Barthianer wie Hans-Joachim

87

Zur Krisensemantik in den protestantisch-theologischen Ethiken des 19. Jahrhunderts siehe: Thorsten Moos, Macht, Moral und Moderne. Der Machtbegriff als gesellschaftstheoretische Kategorie in der protestantischen Ethik des 19. Jahrhunderts, in: André Brodocz/Christoph Mayer/Rene Pfeilschifter/Beatrix Weber (Hrsg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, 2005, 367–382.

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Iwand,88 Ernst Wolf,89 Helmut Gollwitzer,90 Hermann Diem91 und Karl Gerhard Steck92 auch in protestantischer Theologie und Kirche zum Gemeingut geworden. Die Probleme, die im Luthertum des 19. Jahrhunderts durch Ordnungstheologien zu bearbeiten bzw. zu lösen versucht worden sind, haben sich dadurch freilich noch nicht erledigt. Nichts zeigt dies so deutlich wie der Streit um das Verhältnis von Protestantismus und Demokratie im bundesdeutschen Nachkriegsprotestantismus und die in diesem Zusammenhang geführten theologischen Debatten um eine neue Institutionentheorie. Lutherische Zweireiche-Überlieferungen wurden nun zur Begründung und Stärkung von Rechtsstaat und parlamentarischer Demokratie in Anspruch genommen – freilich nicht ohne harte Kontroversen darüber, inwieweit sich moderne liberale Freiheitsideale, etwa das Menschenrechtsdenken, überhaupt mit lutherischer Bindungsmetaphysik vermitteln ließen.93 Wolfgang Trillhaas, auch er ein stark durch Barth geprägter Lutheraner, konnte noch 1956 feststellen, daß „bis zur Stunde die Demokratie (…) das eigentlich unbewältigte Thema“ der lutherischen Ethik darstelle.94 Einem religiös wie kulturpolitisch konservativen lutherischen Dogmatiker wie Edmund Schlink waren die Menschenrechte höchst suspekt. Seit dem Ende der 1940er Jahre wies er immer wieder auf den kategorialen Unterschied zwischen „säkularer Hoffnung“ und „christlicher Erwartung“, „irdischer Gerechtigkeit“ und „Gerechtigkeit vor Gott“ oder zwischen „irdischer Freiheit und dem Leben in dieser Welt“ und der „wahren Freiheit und dem ewigen Leben“ hin: Die „modernen Rechtsbegründungen mußten zusammenbrechen in der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich und anderen modernen Erscheinungen politischer Tyrannis. Hier hat sich gezeigt, daß sowohl der Positivismus als auch die Interessen-Jurisprudenz mit ihrem Verzicht auf eine übergeordnete Norm nicht imstande waren, dem willkürlichen und tyrannischen 88 Hans-Joachim Iwand, Seid untertan der Obrigkeit, Die Stimme der Gemeinde 3 (1951), Heft 11, 5–7. 89 Ernst Wolf, Zur Selbstkritik des Luthertums, in: Paul Schempp (Hrsg.), Evangelische Selbstprüfung. Beiträge und Berichte von der gemeinsamen Arbeitstagung der kirchlich-theologischen Sozietät Württemberg, 1947, 113–135, und Theologische Zeitschrift Basel 3, 1947, 123–149; erneut publiziert in: ders., Peregrinatio II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, 1965, 82–103. Hier sind zahlreiche Stellungnahmen deutscher lutherischer Theologen gegen die parlamentarische Demokratie dokumentiert, wobei durchweg Luthers Autorität bemüht wurde. Siehe weiterhin: Ernst Wolf, Die Freiheit und Würde des Menschen, in: Hermann Wandersleb (Hrsg.), Recht, Staat, Wirtschaft IV, 1953, 27–38; Werner Schmauch/Ernst Wolf (Hrsg.), Königsherrschaft Christi. Der Christ im Staat [= Theologische Existenz heute. Neue Folge 64], 1958; Ernst Wolf, Kirche und Öffentlichkeit, in: Christlicher Glaube und politische Entscheidung [= Vortragsreihe der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Akademiker München], 1957, 99–132; erw. Fassung unter dem Titel: Kirche, Staat, Gesellschaft, in: Peregrinatio II, a.a.O., 261–283. 90 Helmut Gollwitzer, Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik, 1962 (²1964). 91 Hermann Diem, Lutherische Volkskirche in Ost und West [= Theologische Existenz heute. Neue Folge 29], 1951; ders., Die politische Verantwortung der Christen heute [= Theologische Existenz heute. Neue Folge 35], 1952. 92 Karl Gerhard Steck, Fragen an das Luthertum [= Theologische Existenz heute. Neue Folge 13), 1948; ders., Kirche und Öffentlichkeit [= Theologische Existenz heute. Neue Folge 76], 1960. 93 Hans Dombois/Erwin Wilkens (Hrsg.), Macht und Recht. Beiträge zur Lutherischen Staatslehre der Gegenwart, 1956; Karl Kupisch, Demokratie und Protestantismus, in: Manfred Karnetzki (Hrsg.), Ein Ruf nach vorwärts. Eine Auslegung der Theologischen Erklärung von Barmen – 30 Jahre danach [= Theologische Existenz heute. Neue Folge 115], 1964, 69–86. 94 Wolfgang Trillhaas, Die lutherische Lehre von der weltlichen Gewalt und der moderne Staat, in: Dombois/Wilkens (Fn. 93), 22–33, 26.

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Mißbrauch des Rechts einen begründeten Widerstand entgegenzusetzen. Vielmehr wurden sie zu Bahnbrechern und Helfern der totalitären Gewalt. Darum ist es begreiflich, daß heute wieder neu nach dem Naturrecht gerufen wird. Denn man braucht so dringend wie das Brot eine allgemein einsichtige und gültige Norm für eine umfassende Neuordnung der Welt, eine Norm, die gültig ist für das Zusammenleben von Heiden, Christen und Antichristen.“ 95

Somit gelte es zunächst thetisch festzuhalten: „Der Mensch hat keinen Rechtsanspruch vor Gott, sondern Gott hat allein einen Rechtsanspruch auf den Menschen.“96

Auch die entscheidend von Barth inspirierten Versuche, staatliches Recht nicht mehr in Gottes „Schöpfungs-“ und „Erhaltungsordnungen“ zu fundieren, sondern rein christologisch, in der „Königsherrschaft Jesu Christi“, blieben sehr stark autoritären und entschieden antipluralistischen Denkmustern verhaftet – abgesehen davon, daß sie gesamtgesellschaftlich keinen relevanten Einfluß gewannen.97 Immer wieder betonten protestantische (ebenso wie römisch-katholische) Theologen mit Blick auf die in der nationalsozialistischen Diktatur erlittenen Traumata, daß nur starke göttliche Bindung das staatliche Recht vor Entwertung und dämonischer Perversion schützen könne. Es waren sehr weite und steinige Denkwege zu gehen, bis die große Mehrheit der lutherisch geprägten Theologen die parlamentarische Demokratie als eine dem neuzeitlichen Christentum affine politische Ordnung zu würdigen lernte. Eine offizielle kirchliche Anerkennung der parlamentarischen Demokratie erfolgte seitens der EKD überhaupt erst 1985.98 Die allmähliche Öffnung neulutherischer Ethik gegenüber der „westlichen“ parlamentarischen Demokratie hat freilich die Probleme nicht erledigt, die die Kulturlutheraner des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch Ordnungstheologien und Theorien des starken Kultur- und Sozialstaates99 zu lösen 95 Vgl. Edmund Schlink, The Theological Problem of Natural Law, in: Contributions to a Christian Social Ethic. Papers of the Ecumenical Institute 4, 1949, 54–66, dt.: Das theologische Problem des Naturrechts, in: Viva vox evangelii. Eine Festschrift für Landesbischof D. Hans Meiser zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. vom Lutherischen Kirchenamt in Hannover, 1951, 246–258. Zahlreiche Belege für die tiefe Distanz protestantischer Theologen gegenüber dem modernen Menschenrechtsindividualismus finden sich bei: Martin Heckel, Die Menschenrechte im Spiegel der reformatorischen Theologie [= Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Jg. 1987, 4], 1987, 1–88; Wiederabdruck in: ders., Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. 2 [= Jus Ecclesiasticum 38], 1989, 1122–1193. 96 Schlink (Fn. 95). 97 Reiner Anselm, Jüngstes Gericht und irdische Gerechtigkeit. Protestantische Ethik und die deutsche Strafrechtsreform, 1994; zur politisch-sozialen Relevanz der protestantisch-theologischen Rechtsdebatte nach 1945 erklärt Anselm: „(D)ie theologische Hauptrichtung, die christologische Rechtsbegründung, erlangte gesellschaftlich nur wenig Bedeutung. Diese faktische Bedeutungslosigkeit liegt wohl darin begründet, daß hier für die Rechtsbegründung ein eindeutiges Legitimationsgefälle von der Theologie hin zu der Rechtsetzung und Rechtsprechung formuliert wurde. (…) Der moralische Führungsanspruch der Kirche, den dieses Modell impliziert, war nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf gesellschaftliche Akzeptanz gestoßen“ (27). 98 Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, 1985 (41990); zur Genese und ihrer Kritik exemplarisch: Trutz Rendtorff, Demokratieunfähigkeit des Protestantismus? Über die Renaissance eines alten Problems, ZEE 27 (1983), 253–256; ders., Eine kirchliche Lektion in Sachen Demokratie, ZEE 29 (1985), 365–370; Wolfgang Huber (Hrsg.), Protestanten in der Demokratie. Positionen und Profile im Nachkriegsdeutschland, 1990. 99 Zahlreiche Belege bei: Hans Gerber, Die Idee des Staates in der neueren evangelisch-theologischen Ethik,

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versucht hatten. In der neueren theologie- und kirchenhistorischen Forschung gibt es einen relativ breiten Konsens darüber, daß führende lutherische Universitätstheologen und Kirchenvertreter in den zwanziger Jahren jene gesellschaftlichen Kräfte aktiv unterstützt haben, die den Institutionen der parlamentarischen Demokratie von Weimar Legitimität verweigerten. Vor dem Hintergrund ihres Kulturstaatsidealismus hatten die theologischen Repräsentanten des Neuluthertums bestritten, daß die Institutionen des liberal-demokratischen Verfassungsstaates, also insbesondere der Parlamentarismus und die Organisation politischer Interessen in Parteien, der tiefgreifenden Desintegrationskrise der deutschen Gesellschaft der zwanziger Jahre gerecht werden könnten.100 Im Gegensatz zu vielen prominenten Repräsentanten des liberalen Kulturprotestantismus, die sich aktiv in der Parteienpolitik engagierten und, zumeist als Mitglieder der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) Mandate in den Parlamenten übernahmen,101 vertraten konservative Neulutheraner oder auch „Junglutheraner“ eine Fundamentalkritik der als westlich, calvinistisch perhorreszierten parlamentarischen Demokratie, wobei sie sich teils in dezidiert antirepublikanischen Parteien und Bünden, etwa der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), engagierten. Diese Fundamentalkritik der gegebenen politischen Institutionen wurde wesentlich durch den Anspruch begründet, daß eine durch soziale Antagonismen, religiöse Inhomogenität und kulturellen Pluralismus geprägte Gesellschaft nur durch starke Institutionen, insbesondere die übergesellschaftliche Autorität des Staatlichen, integriert werden könne. Je mehr sie die Gesellschaft als pluralistisch fragmentiert und durch Individualismus atomisiert erlitten, desto stärker beschworen sie neue Integration durch einen starken christlich fundierten Wertestaat. Mit hohem moralischen Pathos klagen die lutherischen Ordnungstheologen der 1920er Jahre – etwa Paul Althaus und Werner Elert102 – deshalb eine neue Staatsgesinnung ein, in der, im Sinne einer innerlichen Vergemeinschaftung des Individuums, der Verbindlichkeitsanspruch äußerer Ordnung und innere Verpflichtung unmittelbar gleichgeschaltet worden sind. Dieser Geist „konservativer Revolution“ hat nicht, wie häufig behauptet wird, direkt zur „deutschen Revolution“ von 1933 geführt. Aber indem weite Teile des deutschen Protestantismus lutherische Tradition als gesellschaftlichen Ordnungsfaktor par excellence reformulierten, leisteten sie einen erheblichen Beitrag zur Delegitimierung der Weimarer politischen Verfassungsordnung. Dies läßt nicht nur verstehen, warum die Ordnungsmetaphysik der Lutheraner nach 1945 als geschichtlich diskreditiert galt. Es erklärt zugleich, warum im deutschen Protestantismus erst nach den Erfahrungen des nationalsozialistischen Einparteienstaates eine Institutionendebatte geführt wurde, in der man sich allmählich auf die gesellschaftlichen und rechtspolitischen Rahmen-

1930. 100 Dazu grundlegend: Tanner (Fn. 13). Siehe auch ders., Protestantische Demokratiekritik in der Weimarer Republik, in: Richard Ziegert (Hrsg.), Die Kirchen und die Weimarer Republik, 1994, 23–36. 101 Dies gilt u. a. für Ernst Troeltsch, Martin Rade, Rudolf Otto, Wilhelm Bousset, Karl Aner und Dietrich Graue. Als instruktive Fallstudie für Martin Rade und Otto Baumgarten (ein Cousin Max und Alfred Webers) siehe: Christoph Schwöbel, Gottes Stimme und die Demokratie. Theologische Unterstützung für das neue demokratische System, in: Ziegert (Fn. 100), 37–68. 102 Vgl. Notger Slenczka, Selbstkonstitution und Gotteserfahrung. W. Elerts Deutung der neuzeitlichen Subjektivität im Kontext der Erlanger Theologie, 1999.

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bedingungen einer liberal-parlamentarischen Demokratie konstruktiv einzulassen versucht hat. Fragt man auf dem Hintergrund der skizzierten Entwicklung des Ordnungsdenkens im deutschen Protestantismus nach einem möglichen Beitrag theologischer Reflexion zu aktuellen Debatten über Religion und Rechtsordnung, speziell: über die Integration muslimischer Minderheiten in die europäischen Einwanderungsgesellschaften, scheint die Konzentration auf jene Beziehung von äußerer Ordnung und innerer Verbindlichkeit sinnvoll, wie sie, historisch gesehen, vor allem im Begriff der Staatsgesinnung konkretisiert worden ist. Die Geschichte dieses in theologischen Ethiken seit dem frühen 19. Jahrhundert nachweisbaren Begriffs ist noch nicht geschrieben. Aber daß er in den Ethik-Entwürfen vieler Kulturlutheraner eine prominente Stellung gewinnt, ist evident. Der Begriff ist Ausdruck des Interesses an einer starken Legitimation politischer Ordnung, die die Folgen sozialer Differenzierung bzw. der Spannung zwischen individuellen Interessen und sozialer Verbindlichkeit in einer durchaus modernen Weise zu verarbeiten vermag: indem sie selbst noch einmal die Kraft des Individuellen für die Stabilisierung überindividueller Ordnung zu mobilisieren versucht. Gesellschaftliche Integration soll dadurch erzeugt werden, daß auch die Innerlichkeit des Subjekts sozialisiert bzw. individuelle Sinndeutung und die Sinngehalte der Institutionen in harmonische Übereinstimmung gebracht werden. Die historische Rekonstruktion der Suche nach solcher religiös vermittelten Harmonie von Innenwelt und Außenwelt ist freilich ein Lehrstück für die Gefährlichkeit einer Institutionentheorie, die über die äußere Verbindlichkeit sozialer Ordnung hinaus auch innere Gesinnungstreue einfordert. Denn ein solches Harmonieprogramm läßt sich nicht nur aus der Perspektive einer Theorie individueller Freiheit kritisieren, deren vorrangiges Interesse der Sicherung einer letzten Unverfügbarkeit des Individuums gilt. Vielmehr ist die Suche nach der höheren Konkordanz von Individuum und Institution, Gewissen und Staat, auch aus einer Perspektive zu problematisieren, die die Geltung von Rechtsinstitutionen zu stärken sucht. Denn der Versuch solcher Gleichschaltung bedeutet eine Überlegitimation des Institutionellen, die de facto kontraproduktiv, nämlich delegitimierend wirkt. Wenn die Rechtsinstitutionen nicht nur die Ordnung äußeren Zusammenlebens regeln, sondern darüber hinaus auch noch innere Gemeinschaft verbürgen und individuellen Lebenssinn stiften sollen, wird eine Erwartungshaltung bezüglich der Leistungskraft von Institutionen erzeugt, die im gesellschaftlichen Alltag immer nur enttäuscht werden kann. Hoher Erwartungsdruck schafft hohe Enttäuschungspotentiale. Die beschriebene Überlegitimierung des Institutionellen hat dann zur Folge, daß die Kraft des Individuums in die Entwürfe idealer Gegenwelten investiert wird. In Hinblick auf die Staatsgesinnung formuliert: Zur Krise der politischen Ordnung haben die Protestanten oft gerade deshalb beigetragen, weil sie von politischen Institutionen viel zu viel erwartet haben. Dies läßt dann auch verstehen, warum das gesellschaftliche Erscheinungsbild protestantischer Religiosität so schillernd ist. Staatsfrömmigkeit und Beschwörung der Heiligkeit der Institutionen einerseits und fromme Fundamentalopposition gegen die bleibende Widersprüchlichkeit der sozialen Welt andererseits sind nur zwei Ausdrucksgestalten derselben Mentalität: des Glaubens an eine Eindeutigkeit der Lebensformen und an eine umfassende soziale Harmonie. Der durch die Geschichte des deutschen Protestantismus geschärfte Blick auf das Thema Rechtsinstitutionen legt es, auch im Interesse einer Stärkung der äußeren

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Friedrich Wilhelm Graf

Verbindlichkeit von Institutionen, nahe, deren Geltungsanspruch strikt von aller inneren Verpflichtung des Individuums zu unterscheiden. Das bedeutet ein Plädoyer für die Begrenzung der Ansprüche von Rechtsinstitutionen: je klarer sie als weltliche, äußerliche Institutionen mit begrenztem Verbindlichkeitsanspruch erfaßt werden, desto höher ist die Chance, daß ihr sozialer Sinn plausibel erscheint. Theologisch formuliert: sie sind ein weltlich, äußerlich Ding. In solcher Wahrnehmung ihrer recht verstandenen Weltlichkeit äußert sich ein Differenzbewußtsein, das nur da entstehen kann, wo ein Jenseits der sozialen Welt vorgestellt wird – in den symbolischen Sprachen der Religion. Religiöser Glaube ist nun einmal eine kulturelle Potenz, die sich weder äußerlich domestizieren noch gar staatlich restlos kontrollieren läßt – das Unverfügbare hat seine eigene Macht.103 Für die aktuellen Integrationsdebatten, wie sie nun insbesondere mit Blick auf die gebotene Integration muslimischer Minderheiten in die europäischen Einwanderungsgesellschaften geführt werden, bedeutet dies: Zu fordern ist weder eine religiös begründete Anerkenntnis irgendwelcher „Werte“ (etwa der „westlichen“) noch eine innerliche Gesinnungstreue gegenüber den sog. „Werten“ des Grundgesetzes, sondern äußerlicher Respekt gegenüber dem geltenden Recht, also Rechtsgehorsam. An den Problemgeschichten der politischen Ethik im Protestantismus wie auch, in anderer Weise, im Katholizismus läßt sich erkennen, wie schwer sich religiöse Akteure über lange Zeiträume damit getan haben, den modernen freiheitlichen Verfassungsstaat theologisch begründet zu akzeptieren. Folgt man der von der Kongregation für die Glaubenslehre 2002 veröffentlichten „Lehrmäßige(n) Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben“,104 dann kommt allein den Inhabern des kirchlichen Amtes die Deutungskompetenz, Definitionshoheit über das legitim Römisch-Katholische zu, so daß „der einzelne katholische Christ in politischer Verantwortung vorrangig als verlängerter Arm der amtskirchlichen Position angesehen wird“.105 Alle die kritischen Einwände, die im aktuellen muslimischen Diskurs mehr oder minder islamistisch gestimmte Religionsintellektuelle gegen die Trennung von Staat und Kirchen, Politik und Religion vortragen, sind auch aus der neueren europäischen Christentumsgeschichte bestens bekannt und im 20. Jahrhundert in den Debatten um die Erneuerung „politischer Theologie“ immer wieder vertreten worden. Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein sind in den christlichen Kirchen Deutschlands Stimmen zu hören, die mit bemerkenswerter moralischer Wissensarroganz die Legitimität des religiös neutralen Verfassungsstaates bestreiten und um neuer Kohäsion willen das Gemeinwesen auf ein christliches Wertefundament gründen wollen. Auch in der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“106 103 Dazu siehe: Klaus Tanner, Die Macht des Unverfügbaren. Charisma als Gnadengabe in der Thematisierung von Institutionalisierungsprozessen im Christentum, in: Giancarlo Andenna/Mirko Breitenstein/Gert Melville (Hrsg.), Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter. Akten des 3. Internationalen Kongresses des Italienisch-deutschen Zentrums für Vergleichende Ordensgeschichte, 2005, 25–44. 104 Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben vom 24. November 2002, hrsg. von der Kongregation für die Glaubenslehre [= Veröffentlichungen des Apostolischen Stuhls 158], 2002. 105 Hermann Barth, Einheit in der Vielfalt und Vielfalt in der Einheit. Über das unterschiedliche Verständnis einer gemeinsamen Formel, ZThK 103 (2006), 443–460. 106 Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Ein Beitrag zur pluralistischen und prozessualen Verfassungsinterpretation, JZ 1975, 297–305.

Protestantismus und Rechtsordnung

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finden sich nicht wenige Rechtsgelehrte, die mit Blick auf die imago Dei-Überlieferungen der Hebräischen Bibel und des Neuen Testaments das Christentum zur normativen Grundlage der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes erklären; Remoralisierung des Rechts bzw. naturrechtliche Entdifferenzierung von Legalität und Legitimität haben derzeit Konjunktur.107 Paul Kirchhof hat das Christentum zur „wesentliche(n) – alternativenlose(n) Verfassungsstütze“ erklärt108, und Josef Isensee vertritt gar die ideenhistorisch schlicht unzutreffende und zudem der elementaren Begründungsoffenheit der Menschenrechte109 widerstreitende Behauptung, daß die Menschenwürde „ein unmittelbares Derivat des Christentums“ sei, „von jeher Lehre der Kirche“.110 Vielen orthodoxen Christentümern ist die Vorstellung der Trennung von Staat und Kirche, Politik und Religion fremd. Auch muß man in den gegenwärtigen religionspolitischen Debatten daran erinnern, daß die römisch-katholische Kirche, aber auch konservative Gruppierungen im Protestantismus sowohl dem in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Abtreibungsrecht als auch den staatlichen Gesetzen zum Schutze gleichgeschlechtlicher Partnerschaften Legitimität verweigern. Der freiheitliche Staat kann mit solchen partikularen inneren (religiösen wie ethischen) Vorbehalten gegen einzelne Gesetze leben, wenn denn die gerade unter den Bedingungen verstärkter Pluralisierung unerläßliche Pflicht zum strikten Rechtsgehorsam nicht prinzipiell in Frage gestellt wird. Das positive Recht ist in protestantischer Perspektive nun einmal ein „äußerliches, weltliches Ding“ – nicht mehr und nicht weniger. Solche „Weltlichkeit“ läßt sich übersetzen als Wissen um konstitutive Grenzen des Staates, ein dogmatisch in Sündenlehre und Eschatologie begründetes Fehlbarkeitswissen, das jede gegebene staatliche Ordnung zu kritisieren erlaubt. Sie bedeutet eine elementare Begrenzung der Ansprüche an die Leistungskraft des Rechts, das das friedliche Zusammenleben der vielen ganz unterschiedlich Glaubenden und Denkenden sichern, aber nicht Gesinnungen steuern soll. Wer dem Recht mehr zumutet, bedroht sowohl die ethische Freiheit des einzelnen Gesellschaftsbürgers als auch die politische Freiheit des Staatsbürgers. 107 Zum Thema spannend: Walter Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik, 1997. Neues Naturrechtsdenken wird gern unter dem Leitbegriff „Rechtsethik“ empfohlen. Dazu siehe die Nachweise bei: Dietmar von der Pfordten, Rechtsethik, 2001. Zur Begriffsgeschichte: Alexander Hollerbach, Art.: Rechtsethik, in: Staatslexikon IV, 71988, 692–694. Andreas Voßkuhle spricht von einer „Wiederentdeckung der Moral im Recht“: Andreas Voßkuhle, Ist das Öffentliche Wirtschaftsrecht moralisch?, in: Hartmut Bauer/Detlef Czybulka/Wolfgang Kahl/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat. Festschrift für Reiner Schmidt zum 60. Geburtstag, 2006, 609–626. 108 Paul Kirchhof, Die Wertgebundenheit des Rechts, ihr Fundament und die Rationalität der Rechtsfortbildung, in: Eilert Herms (Hrsg.), Menschenbild und Menschenwürde, 2001, 156–172, 162. 109 Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, 1–32004, 203– 225. 110 Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der Katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, ZRG KA (73) 1987, 296–336. Siehe auch ders., Die alten Grundrechte und die biotechnische Revolution. Verfassungsperspektiven nach der Entschlüsselung des Humangenoms, in: Joachim Bohnat (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, 243–266. Weitere Belege der gerade von römisch-katholischen Rechtsgelehrten betriebenen Christianisierung der Menschenwürde bei Dreier, Grundgesetz-Kommentar I (Fn. 32), 146 f., der selbst mit Nachdruck betont, daß sich die „gleiche Würde aller Menschen (…) nicht als Säkularisat christlicher Glaubenssätze“ deuten läßt.

(vakat)

NIKITAS ALIPRANTIS ORTHODOXER GLAUBE: KIRCHE I. DAS

THEOLOGISCHE

UND

SELBSTVERSTÄNDNIS

RECHTSORDNUNG DER ORTHODOXEN

KIRCHE

Das Selbstverständnis der orthodoxen Kirche in Bezug auf die Rechtsordnung beruht auf der Haltung, die Christus selbst für seine Jünger (die Kirche) gegenüber jeglichem „Cäsar“ begründet hat. Nach diesem Verständnis haben Gott und Cäsar, Kirche und Rechtsordnung zwei in ihren Wesenszügen ganz verschiedene, gar antinomische Existenzarten, unabhängig davon, daß Cäsar seine eigene Legitimation hat. Während der letztere sich durch die Herrschaft über Menschen auszeichnet, d.h. seine Macht in der Gewaltausübung besteht, gründet die Macht des dreieinigen Gottes in der selbstopfernden Liebe, in seiner Entleerung („Kenosis“) für den Menschen, im Auf-sich-Nehmen der menschlichen Lasten und Leiden durch Christus. Dadurch eben wird das Tragische der menschlichen Existenz überwunden und die befreiende Kommunion mit Gott als Möglichkeit hergestellt. Das antinomische Verhältnis von Gott und Cäsar hat Christus selbst vielfach dargetan. In der Wüste hat er zunächst für sich selbst als Versuchung „alle Reiche der Welt“ zurückgewiesen (Mt. 4,8). Auch seine Jünger, also die Kirche, hat er den Machthabern, die die Völker „unterjochen“ und „sich Gewalt über sie aneignen“, gegenübergestellt, indem er sagte: „Bei euch aber soll es so nicht sein“ (Mk. 10,42–43). Schließlich hat er vor Pilatus, nachdem er klargestellt hat, daß sein Königtum nicht von dieser Welt ist, in einem Satz sowohl das Zwangsmoment als Wesenszug der Rechtsordnung als auch dessen Negation seitens seiner Jünger (also der Kirche) ausgedrückt: „Wenn mein Reich von dieser Welt wäre, so hätten meine Diener gekämpft, daß ich den Juden nicht ausgeliefert worden wäre“ (Jo. 18,36). Christus hat also klar für sich und seine Kirche keinen Unabhängigkeitsanspruch gegenüber dem Staat erhoben, er hat sich dem „Cäsar“ gefügt. II. DIE KONSEQUENZEN

FÜR DAS

VERHÄLTNIS

VON

KIRCHE

UND

STAAT

Daraus ergeben sich für das orthodoxe Selbstverständnis der Kirche gewichtige Konsequenzen. Erstens: Die christliche Kirche kann, wenn sie treu zu sich selbst sein will, unter keinen Umständen als Cäsar auftreten. Infolgedessen hat sich die orthodoxe Kirche selbst nie, auch nicht akzessorisch, als politisches Gebilde aufgefasst und konstituiert. Zweitens: Weil die politische Dimension der Kirche verwehrt ist, muß sie sich zwangsläufig der jeweiligen Rechtsordnung zuordnen, ganz unabhängig von deren Haltung ihr gegenüber. Wenn der Staat sie nicht toleriert, wird sie Verfolgungen ausgesetzt sein, wie dies z.B. während der drei ersten Jahrhunderte geschehen ist oder unter dem kommunistischen Regime des vergangenen Jahrhunderts. Wenn der Staat die Kirche zwar anerkennt, aber sie zu sehr „umarmt“ im Sinne der willkürlichen und gar rücksichtslosen Einmischung in die kirchlichen Angelegenheiten, wird die Kirche

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Nikitas Aliprantis

– gemeint ist immer Klerus1 und Volk – sich dagegen wehren mit allen Mitteln, über die sie verfügt (ausgenommen selbstverständlich der Gewaltanwendung). Dies ist nicht selten in der byzantinischen Zeit geschehen, oft – wie vor allem während des Ikonoklasmus – mit schwersten Folgen für diejenigen, die Widerstand geleistet haben. Aus verschiedenen Epochen seien z.B. Athanasius der Große (4. Jh.), Maximus Confessor (7. Jh.), Johannes Damaskinos (8. Jh.), Theodoros Studites (9. Jh.) genannt. Es gab auch gegenteilige Beispiele von Unterwürfigkeit seitens Klerusmitgliedern den Kaisern gegenüber; es ist aber bezeichnend, daß der Wille der Gesamtkirche sich in Glaubenssachen schließlich durchgesetzt hat. Allerdings geschah all dies vor einem nicht zu ignorierenden gewichtigen Hintergrund, nämlich im Rahmen einer grundsätzlichen, meist guten Koexistenz von Priestertum und Königtum, die den Namen Synallelie oder Symphonie erhalten hat2. Es ist hier nicht möglich, auch nur zu versuchen, den damaligen Geist der Beziehungen zwischen Kirche und Staat zu beschreiben, zumal es sich dabei um eine strittige Frage handelt und einige Historiker noch immer die Bezeichnung „Cäsaropapismus“ diesbezüglich verwenden. Eines ist auf jeden Fall sicher: Die Kaiser waren Christen und betrachteten sich als Schützer der Kirche, die sich aus innerem Antrieb verantwortlich für deren Angelegenheiten fühlten, und manchmal auch bei Glaubensfragen. So haben einige es verstanden oder zumindest versucht, ihre Ansichten und ihren Willen durch Staatsgewalt durchzusetzen, was in jenen Zeiten und Staatsauffassungen „normal“ war3. Wichtig ist, daß der Kaiser nicht über dem Kanon stand4 und die Zusammenstöße, zu denen es oft kam, durch konkrete Personen aus konkreten Anlässen entstanden sind. „Abusus non tollit usum“. Wie Hans Georg Beck feststellt, „sind im theologischen und staatlichen Denken der Byzantiner Staat und Kirche keine getrennten oder auch nur trennbaren Institutionen, sondern Erscheinungsweisen ein und derselben Christenheit… . So ist die Idee einer Zweigewaltenlehre nicht denkbar“5. Insofern beruhte die bis vor kurzem im Westen herrschende Ansicht des byzantinischen Staatskirchentums auf der Übertragung westlicher geschichtlicher Gegebenheiten auf die byzantinische Realität, nämlich auf der Ideologie vom Antagonismus zwischen Papsttum und Kaisertum. Ein solcher institutioneller Antagonismus hat eben gerade nicht bestanden. Wie Beck weiterführt, ist „das Problem der Kaisermacht in der byzantinischen Kirche kein ,cäsaropapistisches’ Problem, weil ein solches immer die Konkurrenz zweier selbständiger Institutionen voraussetzt, von denen die eine die andere in ihrer Selbständigkeit nicht gelten lassen will“6. Beach1 2

3 4 5 6

Gesamtklerus, nicht nur Bischöfe; insbesondere aber keine Kardinäle, die es in der orthodoxen Kirche nicht gibt. Wie Professor Nikolaou hervorhebt, werden in der berühmten 6. Novelle des Kaisers Justinian erst das Priestertum und dann das Königtum als die größten Geschenke Gottes an die Menschen erwähnt, wobei die Reihenfolge sehr bemerkenswert und auffallend ist (Th. Nikolaou, Die orthodoxe Kirche im Spannungsfeld von Kultur, Nation und Religion, St. Ottilien 2005, 48). Andererseits ist es auch wichtig, daß nie hierokratische (besser: klerikokratische) Tendenzen innerhalb der orthodoxen Kirche herausgebildet wurden. Es seien z.B. Valens (4. Jh.), Konstantios (4. Jh.), Zenon (5. Jh.), Leon der Isaurier (8. Jh.) genannt. Mehr Beispiele bei Nikolaou (Fn. 2), 59. D. Schreiner, Kaiser, Kaisertum, II. Byzanz…, Bd. 5, 19995, 859 (zitiert von Nicolaou). H.G. Beck, Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich, München 1977, 36 (zitiert nach Nikolaou). H.G. Beck (Fn. 5), 36. Aus demselben Grund lässt sich die von Rudolph Sohm vertrete-

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Orthodoxer Glaube: Kirche und Rechtsordnung

tenswert ist in dieser Hinsicht auch die Tatsache, daß der kaiserliche Titel – römisches Überbleibsel – „Pontifex maximus“ schon im Jahre 382 aufgehoben wurde. Zusammenfassend lässt sich feststellen, daß das orthodoxe Kirchenverständnis das Bestehen des Staates bejaht, die Zuordnung der Kirche zur jeweiligen Rechtsordnung als unerlässlich ansieht – indem sie eine eigene politische Dimension mit Unabhängigkeitsansprüchen gegenüber dem Staat verneint als unvereinbar mit sich selbst, und den Gehorsam den staatlichen Gesetzen gegenüber anerkennt, „wenn das Gebot Gottes nicht behindert wird“ (vgl. Basilius der Große, der im Grunde die Aufforderung Christi wiederholt: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ [Mt. 22,21]). Mit anderen Worten, die orthodoxe Kirche lehnt, schon vom theologischen Standpunkt her, sowohl den sog. Papocäsarismus (richtiger gesagt: die „Klerikokratie“) wie auch das Staatskirchentum (den sog. Cäsaropapismus) ab7. III. DAS AUFGEZWUNGENE STAATSKIRCHENTUM ORTHODOXIE

IN DER NEUZEITLICHEN

Neuzeitlich ist allerdings in die orthodoxe Welt ein Staatskirchentum eingedrungen, das zum Teil noch besteht. Von einigen Varianten abgesehen werden hier zwei Hauptfälle von Staatskirchentum in der orthodoxen Welt hervorgehoben: der historische russische Fall und der noch heute geltende griechische Zustand. 1. Nach dem Sturz des byzantinischen Reiches hat sich das orthodoxe Rußland als dessen Nachfolger und der Zar als Fortsetzer des einzigen orthodoxen Königtums betrachtet. Allerdings mit einer wichtigen Nuance. In die Auffassung vom Souverän waren nämlich autoritäre ‚asiatische‘ Momente eingedrungen und, wie Sergius Bulgakov es ausdrückt, „hatte sie nicht mehr die Einfachkeit und die Kohärenz, die sie im Osten gehabt hatte“ 8. Diese Momente wurden sehr verstärkt, als Peter der Große das Patriarchat von Moskau abgeschafft und eine Synodalverwaltung eingeführt hatte, die zwei Jahrhunderte andauerte und wobei der Vertreter des Zaren, der Oberprokurator, die Kirche unter seine volle Kontrolle stellte. Diese Reform hatte das westliche landesherrliche Kirchenregiment als Vorbild, und die Stellung des Zaren wurde von der protestantischen Auffassung der herausragenden Stellung des Monarchen bzw. des Staatsoberhaupts in der Kirche beeinflußt9. Diese Züge des Staatskirchentums gingen allerdings nicht hin bis zur Aufstellung des Zaren als das Haupt der Kirche10

ne Ansicht kritisieren, wonach der Staat als Gegenleistung für seinen Schutz der Kirche seine Herrschaft über sie verlangt hat (R. Sohm, Kirchengeschichte im Grundriss, 13. Aufl., Leipzig 1902, 33). 7 Meiner Ansicht nach sind die Termini ‚Papocäsarismus‘ und ‚Cäsaropapismus‘ nicht nur vage Sammelbegriffe, sondern auch und vor allem befangen im westeuropäischen Antagonismus zwischen Papsttum und Kaisertum. Auch von ‚Theokratie’ oder ‚Hierokratie’ innerhalb der christlichen Religion zu sprechen, erscheint nicht geeignet, denn so wird der dreieinige Gott herabgesetzt. Deshalb wäre es richtiger, die Ideologie der Herrschaft der Kirche über den Staat als Klerikokratie zu bezeichnen. 8 Père Bulgakov, L’orthodoxie, L’Age d’Homme, Lausanne, 1980, 177. 9 St. Zankow, Das orthodoxe Christentum des Ostens, Berlin 1928, 128. 10 Zankow bezeichnet dies als „vulgären Irrtum“, ibidem.

Nikitas Aliprantis

166

oder bis zum Auffassen der Gesetze über kirchliche Angelegenheiten als jus ecclesiasticum11. 2. Das Staatskirchentum in Griechenland wurde nach der Befreiung des Landes von der ottomanischen Herrschaft durch die ‚bayerische‘ Verwaltung 1833 eingeführt. Der junge König Otto, der ein römisch-katholischer Christ war, wurde durch staatlichen Akt zum Oberhaupt der orthodoxen Kirche Griechenlands „hinsichtlich ihrer Leitung und Verwaltung“, eine staatskirchliche Funktion, die nichts gemein hatte mit der Stellung eines bloßen Ehrenoberhauptes einer autokephalen Kirche12. Dem König wurde die volle Macht zuerkannt, allein durch königliche Verordnungen über kirchliche Angelegenheiten zu entscheiden, die Verwaltung der Kirche wurde ein bloßer Staatszweig. Hier ist die zeitgenössische protestantische Inspiration und konkret das Vorbild des Gesetzes über das bayerische Konsistorium von 1818 auffällig, was die ganze Organisation der Kirche als ‚nationale Staatskirche‘ prägt. Ohne auf Einzelnes hier eingehen zu können13, darf nicht unerwähnt bleiben, daß trotz mancher späteren wichtigen Abschwächungen das Staatskirchentum bis heute geltendes Recht geblieben ist, was sich für das Selbstverständnis der Kirche negativ auswirkte. Dies hatte unter anderem zur Folge, daß sich inzwischen die Geister verschiedener höherer Vertreter des Klerus bewußtseinsmäßig und stellungsmäßig mit dem System abgefunden haben, wenn sie nicht gar davon profitieren und der staatlichen Gewalt, besonders der Diktatur, unterwürfig wurden. Andererseits ruft die anhaltende Situation in Griechenland ganz extreme Reaktionen hervor im Sinne der Forderung einer radikalen Trennung von Staat und Kirche nach französischem Vorbild. Eine solche Perspektive aber würde von der Geschichte der orthodoxen Kirche voll und ganz absehen, da sie ja nie in einem institutionellen Gegensatz zum Staat gestanden hat, nie den Staat hat beherrschen wollen und (nach dem 8. Jahrhundert) auch nie interne kirchliche Konflikte gekannt hat. Eine solche, wenn auch abgeschwächte Trennung von Staat und Kirche in Griechenland zu verfolgen, wäre eine Haltung, die der Kirchengeschichte keinesfalls gerecht würde und nur von einem ideologischen Standpunkt aus zu erklären wäre, der die Kirche in die Enge drängen will einzig mit dem Ziel, ihre Ausstrahlung auf das griechische Volk und damit den orthodoxen christlichen Glauben zu vermindern. IV. OPTIMALE AUSGESTALTUNG DER ORTHODOXIE

DES

VERHÄLTNISSES

VON

KIRCHE

UND

STAAT

IN

Es ist schon hervorgehoben worden, daß der orthodoxe Glaube und auch die orthodoxen Kirchen ihre innere geistige Einheit durch die Jahrhunderte (nach dem Ikonoklasmuskonflikt im 8.–9. Jahrhundert) beibehalten haben; somit haben sie die Rechtsordnungen nicht in die Rolle des Schiedsrichters gedrängt, was in Westeuropa geschehen ist und was dort als Folge in vielen Rechtsordnungen die Aufstellung 11 S. Boulgakov (Fn. 8), ibidem. 12 Nikolaou (Fn. 2), 137. 13 Nikolaou (Fn. 2), 135 ff., analysiert vorzüglich die Bestimmungen über die sog. Ständige

Synode – ein oligarchisches, jeder Legitimation entbehrendes Organ, das noch heute existiert –, ferner die Rolle des königlichen Prokurators und die Säkularisation des kirchlichen Vermögens.

Orthodoxer Glaube: Kirche und Rechtsordnung

167

der strengen Parität unter (zumindest) den christlichen Konfessionen gehabt hat. Außerdem hat die orthodoxe Kirche, aufgrund ihres theologischen Selbstverständnisses, den Staat als solchen immer anerkannt und war niemals bestrebt, den Staat von außen zu beherrschen oder gar selbst ein Staat zu sein, und all dies „deswegen, weil ihr Weg, die Welt zu verklären, ein pneumatischer ist und von innen geht“ 14. Dieses Selbstverständnis hatte, hat und wird in der Zukunft zur Folge haben, daß die orthodoxe(n) Kirche(n) in der Synallelie (Symphonie) die beste Ausgestaltung ihres Verhältnisses zur Rechtsordnung erblicken. Abgesehen von dem nicht üblichen Sprachgebrauch dieses Wortes bedeutet die Synallelie grundsätzlich folgendes: die friedliche Koexistenz und Zusammenarbeit von Staat und Kirche als zwei selbstständigen Gebilden. Dieses Prinzip ist keineswegs neu, es war schon in der ungeteilten Kirche des 4. Jahrhunderts grundlegend. Heutzutage kann es auf der Grundlage des demokratischen Staates seine Ausgestaltung finden, die in Bezug auf die orthodoxe(n) Kirche(n) m.E. zwei spezielle Züge haben sollte. Erstens kann vom orthodoxen Standpunkt her die Synallelie nicht als Gleichordnung von Staat und Kirche, sondern nur als Zuordnung der Kirche zum Staat verstanden werden. Dies schon deshalb, weil die orthodoxe Kirche keine staatliche Komponente hat und ihre Beziehungen zum Staat von Natur aus nicht die von gleichgeordneten Partnern sind. Dies schließt unter anderem aus, daß diese Beziehungen im Wege von Konkordaten geregelt werden. Sicherlich sind informelle Abmachungen zwischen Staat und kirchlicher Verwaltung das geeigneteste Mittel zur vorbereitenden Regelung der Beziehungen, aber oft wird schließlich die staatliche Regelung erforderlich sein. Außerdem darf nicht verkannt werden, daß die staatliche Gewalt bei gewissen Angelegenheiten der Kirche auch zugute kommen kann, wie etwa bei der Anerkennung staatlicher Feiertage oder bei der Vollstreckung von Entscheidungen kirchlicher Organe. Allerdings ist es keineswegs nötig, die verwaltende Kirche rechtlich als öffentlich-rechtliche Körperschaft auszugestalten. Die rechtliche Form einer juristischen Person des Privatrechts würde auch der orthodoxen Kirche gut passen. Für sie gilt, daß alles, was ihr als Stück öffentlicher Macht anerkannt wird, vom Staat frei gegeben worden ist, was bedeutet, daß der Staat es zurücknehmen kann, ohne daß die Kirche es als illegitime „Entziehung“ zu betrachten hätte15. Zweitens ist die Gewissens- und Religionsfreiheit selbstverständlich absolut grundlegend im demokratischen Rechtsstaat. Sie zwingt allerdings nicht zu einer formellen, undifferenzierten und geschichtslosen Auslegung, die allen Ländern in gleicher Weise aufzubürden wäre16. In Ländern, die durch weitgehende religiöse Einheit gekennzeichnet sind, in denen es keine nennenswerten Religionskonflikte gegeben hat und wo der religiöse Glaube in breitem Maße lebendig ist – wie es in den meisten Ländern mit orthodoxer Tradition der Fall ist – müssen die nationale wie internationale Rechtsordnung diesen Tatsachen Rechnung tragen; als Beispiel sei der Religionsunterricht genannt, bei dem diese geschichtliche und heutige Realität 14 Zankow (Fn. 9), 128. 15 N. Matsoukas, Theologische Betrachtung der Beziehungen von Kirche und Staat, in:

ekdossis theologikou syndesmou (Hrsg.) (Ausgaben des theologischen Verbands), Beziehungen Kirche-Staat, Thessaloniki 1988, 31 (35) (auf griechisch). 16 Dies sei in Richtung auch auf die Organe gesagt, die aufgrund internationaler Instrumente tätig sind, wie die Parlamentarische Versammlung des Europarates oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

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Nikitas Aliprantis

nicht ignoriert werden kann zugunsten einer abstrakten religionswissenschaftlichen Betrachtung, die übrigens nur Durcheinander in den Köpfen der Schüler bringen und synkretistische Konzeptionen aller Art fördern würde17. Der Religionsunterricht, der auf gemeinsamen geschichtlichen religiösen Erfahrungen fußt, darf keineswegs als Katechese mißdeutet werden: er macht nur mit dem religiösen historischen Bewußtsein vertraut; ob die Schüler diesem treu bleiben werden oder nicht, steht vollkommen in ihrer Freiheit. Es ist wichtig, daß das Sein nicht als Sollen mißverstanden wird, was leider zu oft vorkommt. Somit steht fest, daß sich, vorausgesetzt, daß die Gewissensfreiheit respektiert wird, eine absolute, farblose Parität aller Konfessionen und Religionen aus der Religionsfreiheit sicherlich nicht ergibt; schon deshalb, weil das Gesetzgebungskriterium ‚quod plerumque fit‘ manchmal legitim und unausweichlich bleibt, wie z.B. bei der Anerkennung der nationalen, bzw. örtlichen religiösen Feiertage.

17 Wenn in Frankreich, im Lande der vollkommenen Religionslücke im öffentlichen Schul-

wesen – ein weltweit isolierter Fall aufgrund eines auch isolierten Modells von Trennung von Staat und Kirche –, die Einführung eines vergleichenden Religionsunterrichts erwogen wird, möge dies als positiv angesehen werden zum Füllen des absoluten Vakuums. Der französische Fall bleibt eigentümlich und lässt sich deshalb nicht verallgemeinern.

ERIC HILGENDORF, WÜRZBURG RELIGION, GEWALT UND MENSCHENRECHTE – EINE PROBLEMSKIZZE AM BEISPIEL VON CHRISTENTUM

UND

ISLAM –

„Will der säkulare Staat wirklich säkular bleiben, muss er einerseits seine religiöse Neutralität wahren, gleichzeitig aber authentische Formen der Religion respektieren. Da er selbst weder das Recht noch die Kompetenz hat, die Authentizität einer Religion zu beurteilen, wird er sich dabei an das Kriterium der Verträglichkeit mit den Menschenrechten halten, an die er selbst gebunden ist.“ (Franz Kamphaus, Bischof von Limburg, FAZ vom 19. Oktober 2006, S. 8.)

I. DIE RENAISSANCE

DER

RELIGIONEN

UND DER RELIGIÖS MOTIVIERTEN

GEWALT

Lange Zeit galt es als ausgemacht, alle Religionen seien im Kern friedfertig und Verkünder moralisch überlegener Botschaften. Ein Mehr an religiöser Orientierung, so hieß es, führe zwangsläufig zu einer moralischen Verbesserung nicht nur des einzelnen Menschen, sondern auch der nationalen wie internationalen Politik. Der moderne demokratische Verfassungsstaat sei, entgegen seinem säkularen Selbstverständnis, zu seiner Fundierung und Legitimierung geradezu auf religiöse Überzeugungen angewiesen.1 Auffällig ist zunächst, dass in derartigen Argumenten die Frage nach der Wahrheit religiöser Weltdeutungen und Heilsversprechungen offenbar keine wesentliche Rolle mehr spielt. Religion wurde und wird von führenden christlichen Theologen und Vertretern von Religionsgemeinschaften auf ihre angebliche Funktion reduziert, Menschen zu befrieden und den demokratischen Verfassungsstaat durch Schaffung des nötigen „sozialen Kittes“ erst zu ermöglichen. Ohne Übertreibung wird man in diesem Zusammenhang von einer weit reichenden Selbst-Säkularisierung des europäischen Christentums, vor allem des Protestantismus, sprechen können. Massenmedien und Politik haben die These von der sozialen Befriedungsfunktion der Religion(en) unkritisch übernommen, so dass bis Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Vorstellung einer engen Verbindung zwischen Religion, Moral und Frieden fast als communis opinio gelten konnte. Mit der viel beschworenen Renaissance der Religionen hat sich herausgestellt, dass die Behauptung, Religion mache Menschen „besser“ und friedfertiger, nicht zutrifft. Durch die „Wiederkehr der Götter“2 ist die Welt nicht friedlicher, sondern unfriedlicher geworden. Religiös motivierte oder zumindest verbrämte Gewalt ist 1

2

In diesem Zusammenhang wird häufig Ernst-Wolfgang Böckenförde zitiert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, E.W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), neu abgedruckt in: E.W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1991, 92–114 (112). F. W. Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, 2004; vgl. auch M. Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, 2. Aufl. 2001. Die Rede von der „Wiederkehr der Götter“ geht möglicherweise zurück auf einen Vortrag mit dem Titel „The Return of the Sacred“, den Daniel Bell 1977 an der London School of Economics hielt. Der Text ist publiziert in der Essaysammlung: The Winding Passage, 1980, 324–354.

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Eric Hilgendorf

weltweit auf dem Vormarsch und mit den traditionellen Mitteln staatlicher Politik offenbar nicht mehr zu bändigen.3 Besondere Probleme wirft der Islam auf.4 Die Auseinandersetzungen des Westens mit der islamischen Welt, ausgefochten unter der Führung eines US-Präsidenten, der sein Christentum betont wie keiner seiner Vorgänger im 20. Jahrhundert,5 haben teilweise die Züge von Religionskriegen angenommen, so dass sich die Frage nach den Grenzen religiöser Toleranz neu stellt.6 Der moderne Terrorismus ist ganz überwiegend religiös geprägt, wobei der islamistisch motivierte Terror derzeit die größten Gefahren zu bergen scheint.7 Dort, wo Religionen direkt zusammenstoßen (etwa im Vorderen Orient), sind die Auseinandersetzungen besonders aggressiv und die Chancen, Frieden zu schaffen, minimal. Die Rückkehr religiöser Gewalt in die Arena der Weltpolitik hat noch einen zweiten lange Zeit unkritisch hingenommenen Glaubenssatz in Frage gestellt: die These vom engen Zusammenhang zwischen Religion und Menschenrechten.8 Dort, wo sich in jüngerer Zeit religiöse Kräfte durchsetzen und die Staatsgewalt übernehmen konnten (etwa im Iran ab 1979), werden die Menschenrechte gerade nicht befördert, sondern mit Füßen getreten.9 Die Forderungen radikal christlicher Gruppierungen in 3

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W. Röhrich, Die Macht der Religionen. Glaubenskonflikte in der Weltpolitik, 2004, 2. Aufl. 2006. Vgl. auch (aus religionswissenschaftlicher Perspektive) Die Grenzen der Gemeinschaft. Konflikt und Vermittlung in pluralistischen Gesellschaften, hrsg. von P. L. Berger, 1997. Aus der umfangreichen Literatur zum Thema „Gewalt und Religionen“: Krieg und Gewalt in den Weltreligionen. Fakten und Hintergründe, hrsg. von A. Th. Khoury, 2003; Religion – Christentum – Gewalt. Einblicke und Perspektiven, hrsg. von W. Ratzmann, 2004; Unfriedliche Religionen? Das politische Gewalt- und Konfliktpotential von Religionen, hrsg. von M. Hildebrandt und M. Brocker, 2005; Religion, Politik und Gewalt, hrsg. von F. Schweitzer, 2006; Religionen und Gewalt, hrsg. von R. Hempelmann und J. Kandel, 2006; aus der Sicht eines indischen Psychologen S. Kakar, Die Gewalt der Frommen. Zur Psychologie religiöser und ethnischer Konflikte, 1997. Die Flut der Schriften zum Thema „Islam und Menschenrechte“ ist nicht mehr zu überschauen. Vgl. z.B. A. H. Ali, Ich klage an. Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen, 2004; D. Diner, Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, 2005; A. Meddeb, Die Krankheit des Islam, 2002; Ch. Schirrmacher/U. Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia. Die Menschenrechte im Islam, 2004; H. Schröder, Das Gesetz Allahs. Menschenrechte, Geschlecht, Islam und Christentum, 2007; differenziert B. Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, 2000, 3. Aufl. 2002; ders., Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte, 2003; vgl. auch die Beiträge in: Aufklärung und Kritik. Sonderheft 13, Schwerpunkt Islamismus, 2007 (mit zahlreichen Nachweisen). Dabei ist allerdings zu beachten, dass religiöse Rhetorik in den USA schon immer an der Tagesordnung war. Näher zur US-amerikanischen „Zivilreligion“ H. G. Kippenberg, Einführung in die Religionswissenschaft, 2003, S. 94 – 103. Ein neuer Kampf der Religionen? Staat, Recht und religiöse Toleranz, hrsg. von M. Mahlmann/H. Rottleuthner, 2006. Vgl. auch A. Pelinka, Über den Einfluss des Religiösen. Anmerkungen zur Renaissance religiös motivierter Politik, in: Politik als Wissenschaft. Festschrift für Wilfried Röhrich zum 70. Geburtstag, hrsg. von M. Take, 2006, 565–570; B. Tibi, Die Rückkehr des Sakralen als politisierte Religion und die postbipolare Weltpolitik. Das Beispiel des Irak-Krieges und seiner Folgen, ebenda, 571–594. Vgl. P. Heine, Terror in Allahs Namen. Extremistische Kräfte im Islam, 2004; B. Hoffmann, Terrorismus, der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt, 1999, Neuausgabe 2006, 137 ff.; zu christlichen Terrorgruppen ebenda, 167 ff. So etwa E. Benda, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht, in: Handbuch des Verfassungsrechts, hrsg. von E. Benda, W. Maihofer und H.-J. Vogel, Bd. 1, 2. Aufl. 1995, § 6, Rn. 2; zu Recht kritisch H. Dreier, Kommentierung zu Artikel 1 GG, in: Grundgesetz Kommentar, hrsg. von H. Dreier, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Rn. 7 mit umfangreichen Nachweisen. Näher unter IV. und V. Zu den Hintergründen A. Pfahl-Traughber, Der fundamentalistische Charakter von Religionen

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den USA,10 in Polen oder in manchen Staaten Mittel- und Südamerikas nach einem absoluten Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und der Homosexualität sind mit den heute im Westen anerkannten Freiheitsrechten nicht vereinbar. Das Verhältnis von Religionen zu Menschenrechten ist offensichtlich nicht einfach.11 Heute steht deshalb in erster Linie nicht mehr die Suche nach möglichen religiösen Ursprüngen moderner Menschenrechtsverbürgungen12 auf der Agenda, sondern die zunehmend dringender werdende Frage nach den Chancen einer Zähmung der Religionen durch die Menschenrechte.13 Zur Klärung des Ausdrucks „Menschenrechte“ lässt sich eine formale und eine inhaltliche Perspektive unterscheiden. In formaler Hinsicht werden unter „Menschenrechten“ im Folgenden Rechte verstanden, die (1) universal sind, d.h. allen Menschen ungeachtet ihrer Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit oder eines ähnlichen Kriteriums zustehen, die (2) als angeboren verstanden werden, d.h. nicht durch einen Staat, eine Gesellschaft oder eine andere Instanz zuerkannt werden und (3) dem Menschen als Individuum, und nicht als Mitglied einer Gruppe, zukommen. Inhaltlich umfassen die Menschenrechte Freiheits- wie Gleichheitsrechte, deren nähere Bestimmung und Gewichtung im Verhältnis zueinander sich freilich wandelt.14 Die nachfolgenden Überlegungen beanspruchen nicht, das Thema auch nur annähernd erschöpfend abzuhandeln. Es geht vielmehr darum, für eine neue, stärker interdisziplinär orientierte Sicht auf die in Frage stehenden Probleme zu werben und die Fruchtbarkeit neuer Fragestellungen plausibel zu machen. Die Auseinandersetzung der deutschen Jurisprudenz mit Religion und Religiosität ist, höflich formuliert, unterkomplex; man könnte auch von einem religiösen Analphabetismus sprechen.15 Angesichts der neuen Bedeutung von Religion in Politik und Gesellschaft erscheint es

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und die Grenzen der Religionsfreiheit im säkularen Rechtsstaat. Eine demokratietheoretisch und ideologiekritisch ausgerichtete Erörterung anhand von Christentum und Islam, in: Wissenschaft, Religion und Recht. Hans Albert zum 85. Geburtstag am 8. Februar 2006, hrsg. von E. Hilgendorf, 2006, 177–199. The Christian Rights in American Politics. Marching to the Millennium, hrsg. von J. C. Green/M. J. Rozell, C. Wilcox, 2003. Es ist bemerkenswert, dass der “pfingstlerische” Protestantismus, aus dem sich diese radikalen Strömungen rekrutieren, weltweit auf dem Vormarsch zu sein scheint, etwa in Asien (v.a. Südkorea), in Südamerika und in vielen afrikanischen Staaten. Human Rights and religious Values: An Uneasy relationship, hrsg. von Abdallah Ahmad an-Na’im, 1995. Ein wichtiger Ausgangspunkt dieser Debatte ist die These Georg Jellineks von der Gewissensfreiheit als Ursprung aller übrigen Menschenrechte. Die Auseinandersetzung ist dokumentiert in: Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, hrsg. von R. Schnur, 1964 (Wege der Forschung, Bd. XI). Vgl. auch E. Hilgendorf, Religion, Recht und Staat. Zur Notwendigkeit einer Zähmung der Religionen durch das Recht, in: Wissenschaft, Religion und Recht (Fn. 9), 359–383. Zur historischen Entwicklung des Konzepts der Menschenrechte vgl. statt aller G. Oestreich, Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in: Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, hrsg. von K.A. Bettermann/F.L. Neumann/H.C. Nipperdey, 1. Band, 1. Halbband, 1966, 1–123; zur Differenzierung der Entwicklung in Großregionen W. Schmale, Menschenrechte in verschiedenen Rechtssystemen: Formale Differenzen und kulturelle Affinitäten, in: Die Bedeutung der Lehre vom Rechtskreis und der Rechtskultur, hrsg. von H. Scholler/S. Tellenbach, 2001, 17–31 (mit umfangreichen Nachweisen). Dass diejenigen Juristen, die sich mit religiösen Phänomenen beschäftigt haben bzw. beschäftigen, meist selbst Gläubige waren (bzw. sind), steht dem nicht entgegen, im Gegenteil: Es verschärft das Problem sogar noch.

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wichtig, dass sich die Rechtswissenschaft für religionswissenschaftliche Fragestellungen und Arbeitsergebnisse öffnet. Dies bedeutet u.a., dass sich die Rechtswissenschaft aus der Fixierung auf das Christentum als a priori positiv bewertetes Leitbild von „Religion“ lösen muss. Das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Menschenrechten soll deshalb im Folgenden nicht nur am Beispiel des Islam, sondern auch (und vor allem) durch Beispiele aus dem Christentum belegt werden. II. DIMENSIONEN

VON

RELIGION

UND

RELIGIOSITÄT

Es ist zunächst bemerkenswert, dass der Begriff „Religion“ im juristischen Schrifttum weitgehend undefiniert gelassen wird. Die traditionellen Interpretationsansätze der deutschen Rechtswissenschaft, die üblicherweise im Kontext des Art. 4 GG (Religions- und Gewissensfreiheit) entwickelt werden16, orientieren sich eng am Wortlaut der grundgesetzlichen Vorgaben und operieren mit historischen Herleitungen und begrifflichen Distinktionen, ohne zu einem allgemeinen Begriff von „Religion“ vorzustoßen. Ein Blick in die Nachbardisziplinen, insbesondere in die Religionswissenschaft, zeigt allerdings, dass auch dort erhebliche Uneinigkeit über den Begriff der „Religion“ herrscht. Die Zahl der Definitionsversuche geht in die Hunderte17, und keiner hat sich bislang allgemein durchsetzen können. Bereits die etymologische Herleitung von „Religion“ ist ungeklärt: Teilweise wird der Begriff mit dem lateinischen Verb „relegere“ in Verbindung gebracht und auf die Verehrung von Göttern bezogen. Andere führen den Begriff auf das lateinische „religare“ zurück und deuten „Religion“ als die Verbindung zu Gott oder zu den Göttern. Schließlich findet sich auch der Versuch, „Religion“ auf „reeligere“ zu gründen, womit der Akt der Wiedererwählung bezeichnet werden soll, durch den sich der abgefallene Mensch erneut für Gott entscheidet.18 Um den Gegenstandsbereich von Religion näher zu strukturieren, bietet sich zunächst ein beschreibender Ansatz an. Danach lassen sich sechs verschiedene Dimensionen von Religiosität unterscheiden19: Die intellektuelle, ideologische oder kognitive Dimension (1), die ethisch-soziale Dimension (2), die rituelle Dimension (3), die institutionelle Dimension (4), die ästhetische Dimension (5) und die psychische 16 Vgl. nur die Kommentierung von M. Morlok, Artikel 4, in: Grundgesetz Komentar, hrsg. von H. Dreier, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Rn. 41 ff. 17 So H. Knoblauch, Religionssoziologie, 1999, 8 unter Berufung auf Religion. Ein Jahrhundert theologischer, philosophischer, soziologischer und psychologischer Interpretationsansätze, hrsg. von Ch. Elias, 1975. Vgl. auch G. Kehrer, Einführung in die Religionssoziologie, 1988, 13 – 27; F. Stolz, Grundzüge der Religionswissenschaft, 3. Aufl. 2001, 11–34; eingehend F. Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, 1991. Aus jüngerer Zeit J. Figl, Religionswissenschaft – historische Aspekte, heutiges Fachverständnis und Religionsbegriff, in: Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, hrsg. von J. Figl, 2003, 17–86 (62 ff.) mit umfassenden Nachweisen. 18 Nach Knoblauch (Fn. 17), 9. 19 So der Strukturierungsvorschlag von Ch. Auffarth und H. Mohr, Artikel „Religion“, in: Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien, hrsg. von Ch. Auffarth/J. Bernard/H. Mohr, Sonderausgabe 2005, Bd. 3, 160–172 (164 f.) unter Berufung auf die Religionssoziologen Charles Y. Glock, Rodney Stark und Ninian Smart.

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Dimension (6). In dieser perspektivischen Trennung werden Erscheinungsformen und Erlebnisweisen von Religion idealtypisch systematisiert. Dabei geht es um folgende Phänomene: (1) Die intellektuelle, ideologische oder kognitive Dimension bezieht sich auf das jeweilige Glaubenssystem und seine Darstellung in den Geschichten über die Götter, die Weltentstehung und die Stellung der Menschen darin. Die klassische Form solcher Erzählungen ist der Mythos. In entwickelteren Religionen werden diese Geschichten durch die Theologie rational durchdrungen und systematisiert;20 eine andere Aufgabe der Theologie besteht in der Einbettung des religiösen Wissens21 in den kulturellen Kontext.22 Zur intellektuellen, ideologischen und kognitiven Dimension von Religiosität gehört auch die memorierte Kurzfassung des religiösen Wissens in Bekenntnisformeln, Liedern, Leitsätzen und Dogmen. (2) Die ethisch-soziale Dimension von Religiosität betrifft Werte, Normen und Verhaltensmuster, die in der jeweiligen Religion als geboten dargestellt werden. Sie werden in Handlungsregeln ausformuliert, aber auch durch legendarische Vorbilder vorgeführt und über die Erziehung bereits den Kindern eingeprägt. Schon hier wird deutlich, dass Religion häufig sehr eng mit Moral verbunden ist.23 Allerdings unterscheiden sich die von den Religionen aufgestellten Verhaltensgebote und -verbote erheblich, sowohl im Verhältnis von Religion zu Religion als auch in der geschichtlichen Entwicklung der einzelnen Religionen. Dies ändert nichts daran, dass die Verhaltensgebote der Religionen von ihren Gläubigen oft als streng verpflichtend erlebt werden.24 Dort, wo religiöse Moral und staatliches Recht auseinanderfallen25, drohen schwerwiegende Konflikte. 20 Dazu (am Beispiel der protestantischen Theologie) kritisch G. Kehrer, Hans Albert und die Religionskritik, in: Wissenschaft, Religion und Recht (Fn. 9), 25–33. 21 Nur beiläufig sei erwähnt, dass religiöses Wissen, wie jedes Wissen, mit der Realität in Widerspruch geraten und sich so als falsch herausstellen kann. Die verbreitete Entgegensetzung von Glauben (Religion) und Wissen (Wissenschaft) beruht somit auf einem Missverständnis: Auch religiöses Wissen muss sich an der Realität messen lassen. Näher dazu H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl. 1991, 124–128; vgl. auch N. Hoerster, Einleitung, in: Arbeitstexte für den Unterricht: Religionskritik, hrsg. von N. Hoerster, 1984, 5 ff. 22 Zu den Aufgaben und spezifischen Problemen der Theologie aus theologischer Sicht nach wie vor lesenswert Die Funktion der Theologie in Kirche und Gesellschaft, hrsg. von P. Neuenzeit, 1969; für eine grundlegende Kritik der Theologie als Wissenschaft vgl. Albert (Fn. 21), 144 ff., 146–155. 23 Die theonome Begründung von Moral gehört zu den klassischen Begründungstopoi der Moralphilosophie, vgl. den Überblick bei E. Hilgendorf, Recht und Moral, in: Aufklärung und Kritik, 2001, 72–90. 24 Dieser Umstand hat bei Skeptikern immer wieder Verwunderung und Spott hervorgerufen. So schreibt etwa Voltaire in seinem „Dictionaire Philosophique“: „Stellen wir uns einen gewaltigen Rundbau vor, ein Pantheon mit tausend Altären und mitten darin von allen bereits erloschenen oder noch bestehenden Sekten einen frommen Anhänger zu Füßen der Gottheit, die jeder auf seine Weise verehrt, in all den wunderlichen Formen, die die Phantasie hat ersinnen können. Jener rechts, auf der Matte, ist in tiefe Betrachtungen versunken und wartet mit entblößtem Nabel, dass himmlische Erleuchtung seine Seele durchdringe. Jener links ist ein Besessener; er schlägt mit der Stirn gegen die Erde, um ihren Segen zu erflehen. Dort tanzt ein Gaukler auf der Gruft dessen, den er anruft. Hier steht ein Büßer, reglos und stumm wie die Statue, vor der er sich demütigt. Einer stellt, was die Scham verbirgt, zur Schau, weil Gott sich seines Ebenbildes nicht

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(3) Mit dem Begriff „rituelle Dimension“ sind symbolische Handlungen gemeint, die der jeweiligen Religion ihr Gepräge geben. Dies betrifft den einfachen Ritus (z.B. das Gebet), aber auch differenzierte Formen von Ritual und Kult. Gerade an der rituellen Dimension von Religion ist abzulesen, wie weit die Binnendifferenzierung großer Religionen gehen kann. Im römischen Katholizismus etwa spielt die rituelle Dimension eine große Rolle, während sie in manchen Varianten des Protestantismus fast bis zur Unkenntlichkeit zurückgetreten ist. So hat der deutsche Protestantismus über weite Strecken den Charakter einer „Intellektuellenreligion“ angenommen. (4) Die institutionelle Dimension von Religiosität bezieht sich auf die formelle oder informelle Vergemeinschaftungsform der Gläubigen in Vereinen, Religionsgemeinschaften, Bruderschaften, Bünden, Orden oder Zirkeln. In diesen Zusammenhang gehören auch alle Fragen der inneren Organisation dieser Vergemeinschaftungsformen sowie ihre rechtliche Stellung einerseits gegenüber dem Individuum, andererseits gegenüber dem Staat.26 Eine weitere im Kontext der institutionellen Dimension von Religiosität auftretende Frage ist das Verhältnis zwischen den religiösen Funktionären (dem Klerus), den religiösen Spezialisten (Theologen, Priestern) und schließlich den Laien. (5) Zur ästhetischen Dimension von Religiosität gehört das Sinnlich-Wahrnehmbare der Religion, also „ihre Farben, Gerüche und Stoffe, ihre Räume und Landschaften“.27 Des Weiteren gehört zur ästhetischen Dimension das Zeichensystem der Religion (Halbmond, David-Stern, Kreuz), Kultbilder und vor allem auch künstlerische Schöpfungen wie Kultbauten (Kirchen), Musikwerke oder Hymnen. Viele großen Kunstwerke der Menschheit sind religiös inspiriert. (6) Zur psychischen Dimension von Religiosität schließlich gehören die Gefühle und Stimmungen, die durch die religiösen Rituale erzeugt werden, ferner mit schämt. Ein anderer verhüllt sogar sein Gesicht, als verabscheue der Schöpfer sein Werk. Einer wendet den Rücken nach Süden, weil von dort der Hauch des Bösen kommt. Ein anderer streckt die Arme gen Osten, wo Gott sein strahlendes Antlitz zeigt. Weinende junge Mädchen kasteien ihr noch unschuldiges Fleisch, um den Geist der Lüsternheit durch Mittel zu besänftigen, die ihn nur reizen können. Andere erflehen das Nahen der Gottheit auf ganz entgegengesetzte Weise. Ein junger Mann befestigt am Werkzeug seiner Männlichkeit, um es abzutöten, eiserne Ringe von entsprechendem Gewicht. Ein anderer erstickt die Versuchung im Keim durch eine greuliche Amputation und hängt, was er geopfert, am Altar auf. Dann verlassen alle den Tempel, um, erfüllt von dem Gott, der ihnen befiehlt, Schrecken und Trug auf Erden zu verbreiten.“ Voltaire, Dictionaire Philosophique, 1764, Artikel „Fanatismus“, hier zitiert nach: Von Platon bis Wittgenstein. Ein philosophisches Lesebuch, hrsg. von H. Schleichert, 1998, 168 f. 25 Zu einigen Diskrepanzen zwischen deutschem Recht und christlicher Moral Hilgendorf (Fn. 13), 375; vgl. auch G. Streminger, Religiosität – eine Gefahr für Moralität? Bemerkungen zu einem kaum beachteten Aspekt der Humeschen Religionsphilosophie, in: Aufklärung und Kritik 1994, 28–44. 26 Dies ist das Arbeitsgebiet des traditionellen Staatskirchenrechts bzw. (in heutiger Terminologie) des Religions- und Weltanschauungsrechts, vgl. G. Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht. Eine Einführung, 2007; B. Jeand’Heur/St. Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000. Zu den Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche vgl. den gleichnamigen Aufsatz von W. Brugger im Archiv des öffentlichen Rechts Bd. 132 (2007), 4–43. 27 Auffarth/Mohr (Fn. 19), 165.

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der Religion verbundene besondere Wünsche oder Hoffnungen, etwa auf ein Weiterleben nach dem Tod oder auf künftige Kompensationen für jetzt erlittenes Leid. Zur psychischen Dimension gehören ferner Identitätserfahrungen in der religiösen Gemeinschaft, schließlich aber auch extreme psychische Phänomene wie mystische Einheitserlebnisse (unio mystica) oder religiös erzeugte Halluzinationen.28 Diese Auflistung unterschiedlicher Facetten von Religiosität ist für ein tiefer gehendes Verständnis religiöser Phänomene außerordentlich nützlich, auch und gerade im juristischen Kontext. Die aufgezeigten Dimensionen lassen sich gerade in den großen Religionen, etwa dem Christentum oder dem Islam, unschwer wieder finden. Auf Seiten der Gläubigen scheinen diesen Dimensionen entsprechende religiöse Bedürfnisse zu korrespondieren, d.h. die Gläubigen besitzen bestimmte Wünsche oder Sehnsüchte, die auf religiöses Heilswissen, Werte, Normen und Verhaltensmuster, bestimmte Rituale usw. gerichtet sind. Es ist zu vermuten, dass jeder Mensch derartige religiöse Bedürfnisse besitzt, allerdings in mehr oder weniger starker Ausprägung.29 Die verschiedenartigen Dimensionen von Religion treten in den Religionsgemeinschaften in ganz unterschiedlicher Gewichtung auf und geben ihnen so ihr je eigenes Gepräge. Aber auch innerhalb der Religionsgemeinschaften existieren von Gruppe zu Gruppe, ja von Person zu Person unterschiedliche Präferenzen. Bemerkenswert ist, dass in obiger Aufzählung ein Aspekt fehlt, der in Europa gemeinhin mit Religionen verbunden wird, nämlich der Bezug auf ein oder mehrere transzendente, die Wirklichkeit überschreitende „übermenschliche“ Wesen oder Götter.30 Die Jurisprudenz kann sich mit dem Aufweis der verschiedenen Dimensionen von Religiosität allerdings nicht zufrieden geben. So wäre es etwa nicht überzeugend, den Schutz der Religionsfreiheit schon dann zuzusprechen, wenn die Voraussetzung einer, mehrerer (welcher?) oder aller Dimensionen von Religiosität erfüllt sind. Es ist offenkundig, dass viele der genannten Dimensionen auch in Kontexten auftauchen, die nach üblichem Verständnis mit Religion nichts zu tun haben, etwa bestimmte psychische Erlebnisse bei Massensportveranstaltungen oder Großkonzerten.31 Auf das Vorliegen sämtlicher genannter Gesichtspunkte abzustellen verbietet sich deshalb, weil gerade in kleineren Religionsgemeinschaften bestimmte Dimensionen schwächer ausgeprägt sein können oder möglicherweise ganz fehlen. In der Religionswissenschaft wird deshalb ausdrücklich davon gesprochen, Religion sei nur über einen Verband von „Familienähnlichkeiten“ zu erfassen.32 Solange eine allseits überzeugende Definition fehlt, steht die praktische Jurisprudenz vor der Aufgabe, ausgehend vom 28 Näher zur Religionspsychologie etwa H. Hemminger, Grundwissen Religionspsychologie. Ein Handbuch für Studium und Praxis, 2003; Einführung in die Religionspsychologie, hrsg. von Ch. Henning/S. Murken/E. Nestler, 2003. 29 So konnte Max Weber bekanntlich von sich behaupten, „religiös unmusikalisch“ zu sein, Brief vom 19. Februar 1909, zitiert nach Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, 1984, 339. 30 Eine dem entsprechende Tendenz zur Abkopplung von der jüdisch-christlichen Tradition lässt sich in der neueren juristischen Kommentarliteratur beobachten, vgl. nur Morlok (Fn. 16), Rn. 67, der jede inhaltliche Qualifizierung von Religion ablehnt. Zum (noch traditionell orientierten) Religionsbegriff im deutschen Strafrecht K. Dippel, in: StGB. Leipziger Kommentar, hrsg. von H. W. Laufhütte u.a., 11. Aufl. 1992 ff., § 166 Rn. 18 ff. 31 Dies entspricht der oben aufgeführten Dimension (6). 32 Vgl. Auffarth/Mohr (Fn. 19), 163.

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traditionellen Begriffsverständnis und der dazu ergangenen Rechtsprechung33, das Religionskonzept des Art. 4 GG unter Berücksichtigung der neuen Formen von Religiosität vorsichtig zu erweitern. Gerade die Auseinandersetzungen um den Status von „Scientology“34 verdeutlichen, wie schwierig und mühsam dieser Prozess ist. III. MONOTHEISMUS

UND

GEWALT –

DER

ANSATZ JAN ASSMANNS

In den letzten Jahren ist der Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt neu in den Blick geraten. Besonders der Monotheismus, wie er in den drei „abrahamischen [sic] Religionen“ Judentum, Christentum und Islam vertreten wird35, scheint für Gewalt anfällig zu sein, eine Tendenz, die das diesen drei Religionen gemeinsame „Heilige Buch“ (das Alte Testament) spiegelt. Der Ägyptologe Jan Assmann hat sich mit der Frage befasst, warum die biblischen Texte die Gründung, Durchsetzung und Verbreitung der monotheistischen Religion in so gewaltsamen, oft grausamen Bildern schildern: „Haftet der monotheistischen Idee der ausschließlichen Verehrung des einzigen Gottes anstelle einer Götterwelt oder der Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion, einem wahren Gott und den falschen Göttern etwas Gewaltsames an?“36 Assmann unterscheidet zwei Formen des Monotheismus. Die eine, die er „inklusiven Monotheismus“ nennt, lässt sich auf die Formel bringen: „Alle Götter sind Eins“. Man kann diese Form des Monotheismus auch als eine reife Form des Polytheismus ansehen. Die zweite Form des Monotheismus, der „exklusive Monotheismus“, folgt dem Leitsatz „keine anderen Götter außer Gott!“.37 Diese zweite Formel, so Assmann, begegne uns erstmals um 1350 v. Z. in den Texten des Echnaton von Amarna und dann im jüdischen, christlichen und islamischen Monotheismus. Schilderungen religiös motivierter Gewalttätigkeiten sind im Alten Testament allgegenwärtig. Während Moses auf dem Berg Sinai weilt, schafft Aaron den Israeliten ein Gottesbild, das Goldene Kalb, welches von den Israeliten verehrt wird. Moses beantwortet diesen Rückfall in eine fremde Religion nach seiner Rückkehr mit einer drastischen Strafaktion: „Moses trat an das Lagertor und sagte: Wer für den Herrn ist, her zu mir! Da sammelten sich alle Leviten um ihn. Er sagte zu ihnen: So spricht der Herr, der Gott Israels: Jeder lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten. Die Leviten taten, was Mose gesagt hatte. Vom Volk fielen an jenem Tag gegen 3.000 Mann“.38

33 Vgl. vor allem BVerwGE 89, 368, 369 ff.; 90, 112, 115; BVerfGE 90, 1, 4. 34 Vgl. nur BAG NJW 1996, 143 ff. 35 In der modernen Theologie wird die Möglichkeit einer „abrahamischen Ökumene“ diskutiert; dazu sehr lesenswert K.-J. Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, 3. Aufl. 2003. 36 J. Assmann, Monotheismus und die Sprache der Gewalt, 4. Aufl. 2007, 19. Ausführlich zur Gewaltproblematik in der Bibel F. Buggle, Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann. Eine Streitschrift, 2004, 53–118 (Altes Testament), 118–216 (Neues Testament). 37 Assmann (Fn. 36), 24. 38 Ex 32, 26–28.

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Bei der Interpretation dieser Textstelle weist Assmann besonders auf die Worte „seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten“ hin: „Die Gewalt wendet sich nicht nach außen, gegen Fremde beziehungsweise „Heiden“, sondern nach innen, und zerschneidet die allerengsten menschlichen Bindungen. Die Entscheidung, die der monotheistische Gott fordert, der Bund, den er anbietet, überbietet und bricht alle menschlichen Bindungen und Verpflichtungen“.39 Dieser Punkt wird durch Assmann durch eine Stelle aus dem Buch Deuteronomium (13, 7–12) weiter belegt: „Wenn dein Bruder … oder dein Freund, den du liebst wie dich selbst, dich heimlich verführen will und sagt: gehen wir und dienen wir anderen Göttern, … dann sollst du nicht nachgeben und nicht auf ihn hören. Du sollst in dir kein Mitleid mit ihm aufsteigen lassen … und die Sache nicht vertuschen. Sondern du sollst ihn anzeigen. Wenn er hingerichtet wird, sollst du als Erster deine Hand gegen ihn erheben, dann erst das ganze Volk. Du sollst ihn steinigen, und er soll sterben; denn er hat versucht, dich vom Herrn, deinem Gott, abzubringen, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Ganz Israel soll davon hören, damit sie sich fürchten und nicht noch einmal einen solchen Frevel in deiner Mitte begehen.“40

Assmann weist darauf hin, dass die hier angesprochenen Vorstellungen aus dem altassyrischen Königsrecht stammen, das von seinen Vasallen absolute Unterwerfung forderte.41 Im Buch Deuteronomium (20, 13–15) finden sich Beschreibungen des damaligen Kriegsrechts. Für den Fall des Sieges gilt folgende Vorschrift: „Wenn der Herr, dein Gott, sie in deine Gewalt gibt, sollst du alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen. Die Frauen aber, die Kinder und Greise, das Vieh und alles, was sich sonst in den Gassen befindet, alles, was sich darin plündern lässt, darfst du dir als Beute nehmen. Was du bei deinen Feinden geplündert hast, darfst du verzehren; denn der Herr, dein Gott, hat es dir geschenkt. So sollst du mit allen Städten verfahren, die sehr weit von dir entfernt liegen und nicht zu den Städten dieser Völker hier gehören.“

Dies entspricht, so Assmann, der damals üblichen Praxis.42 Umso bemerkenswerter ist, dass Gott den Israeliten für die Siedlungen in der näheren Umgebung, also in ihrem eigenen kulturellen Umfeld, eine andere, sehr viel weiter gehende Anweisung erteilt: „Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehr sollst du an den Hethitern und Amoritern, Kanaanitern und Persitern, Hivitern und Jebusitern den Bann vollstrecken, so wie es der Herr, dein Gott dir zur Pflicht gemacht hat, damit sie euch nicht lehren, alle Greuel nachzuahmen, die sie begingen, wenn sie ihren Göttern dienten, und ihr nicht gegen den Herrn, euren Gott sündigt.43

Für Assmann besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen diesem Gebot des Völkermords und dem Geist des exklusiven Monotheismus: „Genau wie bei der Geschichte vom Goldenen Kalb sehen wir auch in diesen Bestimmungen, dass sich die monotheistische Gewalt vor allem nach innen wendet und nicht nach außen. Hier, mit der Chiffre Kanaan, wendet sie sich gegen die eigene Vergangenheit“.44 Dies erläu39 40 41 42 43 44

Assmann (Fn. 36), 26. Assmann (Fn. 36), 26 f. Assmann (Fn. 36), 27 f. Assmann (Fn. 36), 39. Deuteronomium 20, 15–18. Assmann (Fn. 36), 40.

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tert Assmann an anderer Stelle näher: „Hinter dem ausgeprägten Anti-Kanaanismus des Deuteronomiums und der deuteronomistischen Tradition steht also das Pathos der Konversion, die Leidenschaft einer lebenswendenden Entscheidung, die Angst vor dem Rückfall und die Entschlossenheit, den Heiden in sich auszurotten.“45 Es gelte, so Assmann abschließend, „uns über die mosaischen Grundlagen unserer westlichen Welt Rechenschaft abzulegen“. Dem Monotheismus sei Gewalt nicht als eine „notwendige Konsequenz eingeschrieben“; die Unterscheidung zwischen wahr und falsch sei nicht per se gewalttätig. Die Sprache der Gewalt gehöre vielmehr „in die revolutionäre Rhetorik der Konversion, der radikalen Wende und Abkehr, des kulturellen Sprungs aus dem alten ins neue“. Dies bedeutet, dass die Gewaltschilderungen des Alten Testamentes nach Assmann aus ihrer Geschichte zu verstehen und zu deuten sind. Nimmt man sie wörtlich, so werden sie in den Händen von Fundamentalisten zu einer höchst gefährlichen Waffe: „Das semantische Dynamit, das in den heiligen Texten der monotheistischen Religionen steckt, zündet in den Händen nicht der Gläubigen, sondern der Fundamentalisten, denen es um politische Macht geht und die sich der religiösen Gewaltmotive bedienen, um die Massen hinter sich zu bringen. Die Sprache der Gewalt wird als eine Ressource im politischen Machtkampf missbraucht, um Feindbilder aufzubauen und Angst und Bedrohungsbewusstsein zu schüren. Daher kommt es darauf an, diese Motive zu historisieren, indem man sie auf ihre Ursprungssituation zurückführt. Es gilt ihre Genese aufzudecken, um sie in ihrer Geltung einzuschränken.“46 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, worin genau der Unterschied zwischen Gläubigen und Fanatikern bzw. Fundamentalisten47 besteht. Dass ein solcher Unterschied existiert, ist offenkundig – nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam ist der friedfertige, in die Gesellschaft integrierte und von seiner Umgebung anerkannte Gläubige keine Ausnahme, sondern die ganz überwiegende Regel. Was macht den Gläubigen zum Fanatiker? Es handelt sich wohl nicht um einen kategorialen, sondern eher um einen graduellen Unterschied: So wie Religiosität in unterschiedlicher Strenge gelebt werden kann, so scheint auch ein stufenweiser Übergang zwischen (noch sozial verträglicher) strenger Religiosität und (nicht mehr sozial verträglichem) Fanatismus zu bestehen.48

45 Assmann (Fn. 36), 53. 46 Assmann (Fn. 36), 57. 47 Der von Assmann verwendete Begriff „Fundamentalismus“ ist nicht unproblematisch, da er sich zunächst nur auf eine besonders radikale (d.h. zu den „Wurzeln“ zurückgehende) bibeltreue Variante des US-Protestantismus bezog, vgl. Th. Meyer, Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, 1989, 15 ff.; N. Birnbaum, Der protestantische Fundamentalismus in den USA, in: Fundamentalismus in der modernen Welt. Die Internationale der Unvernunft, hrsg. von Th. Meyer, 1989, 121–154. Der Begriff des „religiösen Fanatikers“ ist demgegenüber weiter und lässt sich ohne begriffliche Unschärfen auf Extremgläubige aller Religionen anwenden. Allerdings hat sich der Fundamentalismus-Begriff inzwischen schon so sehr eingebürgert, dass der Versuch, eine andere Terminologie durchzusetzen, wenig aussichtsreich erscheint. Vgl. auch K. Kienzler, Der religiöse Fundamentalismus: Christentum, Judentum, Islam, 4. Aufl. 2002, 7. 48 Eine interessante Folgefrage ist, welche (autobiographischen, gruppenspezifischen oder gesellschaftlichen) Umstände bewirken können, dass sozial verträgliche Religiosität in Fanatismus umschlägt. In dieser Frage dürfte der Schlüssel zur politischen Bewältigung der heutigen „Wiederkehr der Götter“ zu sehen sein.

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Religion, Gewalt und Menschenrechte

IV. ENTSTEHUNG

DER

MENSCHENRECHTE

AUS DEM

CHRISTENTUM?

In gewissem Gegensatz zur Affinität zwischen Religion und Gewalt steht die Behauptung, die modernen Menschenrechte hätten sich aus den Religionen, genauer: aus dem Christentum, entwickelt. Immer wieder ist vorgebracht worden, ohne das Christentum sei die Entwicklung und heutige Akzeptanz der Menschenrechte nicht denkbar.49 Dazu sind einige kritische Bemerkungen angebracht. In methodologischer Hinsicht ist zunächst festzuhalten, dass die historische Entwicklung großer Ideen der Geistesgeschichte sich einer einfachen Beschreibung und Herleitung entzieht. Die Rede von den „Wurzeln der Menschenrechte“ ist eine Metapher, die sich ohne weitere Präzisierung kaum überprüfen lässt. In einem schwachen Sinn wird man die These von den christlichen Wurzeln der Menschenrechte dahingehend interpretieren können, dass spezifisch christliche Faktoren50 die Entstehung der Menschenrechtsidee gefördert und ihre Entwicklung unterstützt haben. Derartige Faktoren könnten etwa die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der Glaube an die Gleichheit aller Menschen vor Gott, die Überzeugung vom unendlichen Wert jeder einzelnen Seele oder das Gebot der Nächstenliebe sein. In diesem Sinn besitzt die These eine gewisse Plausibilität51, wenngleich nicht zu leugnen ist, dass das Christentum in den Zeiten der Kirchenherrschaft die Idee der Menschenrechte gerade nicht aufgegriffen hat.52 Interpretiert man die These von den christlichen Wurzeln der Menschenrechte in einem starken Sinne, so läuft sie auf die Behauptung hinaus, die Idee der Menschenrechte sei im Christentum entstanden, durch das Christentum entwickelt und schließlich durchgesetzt worden. Verstanden in diesem Sinne, ist die These falsch. Es geht im Folgenden nicht darum, den eindrucksvollen Einsatz vieler heutiger Christen für die Menschenrechte in Zweifel zu ziehen. Die Rede von den Christen als dem „Salz der Erde“ hat in Vergangenheit und Gegenwart in einzelnen Persönlichkeiten immer wieder höchst eindrucksvolle Bestätigungen gefunden. Auch soll keineswegs bestritten werden, dass die christlichen Großkirchen heute jedenfalls in Europa die Idee der Menschenrechte akzeptiert haben und ihre Bewahrung und Durchsetzung aktiv unterstützen. Zu einem vollständigen Bild gelangt man aber erst, wenn man auch die andere Seite in den Blick nimmt, insbesondere die Unterdrückung der Menschenrechte in den Zeiten kirchlicher Dominanz und die erbitterte Abwehr der aufklärerischen Menschenrechtsideale bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Die Idee universell gültiger Rechte des Menschen taucht in historischer Perspektive bereits lange vor dem Christentum auf. Der Sophist Hippias erklärte Ende des 5. Jahrhundert v.Z., „dass wir alle nicht nach dem Nomos, sondern nach der Physis verwandt, zusammengehörig und Mitbürger sind. Denn das Gleiche ist mit dem Gleichen von Natur verwandt; aber der Nomos, dieser Tyrann der Menschen, er-

49 Vgl. die Nachweise oben Fn. 8. 50 Auch die Rede von „spezifisch christlichen Faktoren“ ist freilich überaus vage, vor allem wenn man bedenkt, dass seit dem Ende der Antike die gesamte europäische Kultur tief greifend vom Christentum geprägt war. 51 Details müssen hier der empirischen historischen Forschung überlassen bleiben. Es ist allerdings auffällig, dass einschlägige Arbeiten bislang kaum zu existieren scheinen. 52 Dazu näher unter V.

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zwingt vieles gegen die Natur“.53 Antiphon meinte: „Von Natur sind alle gleich, ob Barbaren oder Hellenen … Denn wir atmen alle durch Mund und Nase und essen alle mit den Händen“.54 In diesen Zitaten werden zwei Gesichtspunkte, die für die Menschenrechte wesentlich sind, angesprochen: die Idee der Gleichheit aller Menschen, und die Vorstellung, dass die natürliche Gleichheit dem gesetzten Recht, dem Nomos, vorgeordnet sei.55 Noch deutlicher wird der menschenrechtliche Gehalt in der Moralphilosophie der Stoa56, vor allem bei Cicero, der als einer der bedeutendsten Vertreter des antiken Humanismus angesehen werden kann.57 Als spezifisch christliche Wurzel der Menschenrechte wird oft die Idee der „Gottesebenbildlichkeit“ genannt, die sich im Buch Genesis der Bibel findet: „Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild schuf er ihn.“58 Hier wird der Mensch offenbar in eine gewisse Nähebeziehung zum christlichen Gott gerückt; gleichzeitig wird er deutlich über die anderen Lebewesen erhoben. Aus dieser Vorstellung von „Gottesähnlichkeit“ oder „Gottesebenbildlichkeit“ ergibt sich jedoch keineswegs eine Aussage über den realen Stellenwert des Menschen in der Gesellschaft und gegenüber der staatlichen, in früheren Zeiten regelmäßig religiös legitimierten staatlichen Macht: „Die Auffassung von der Ähnlichkeit mit Gott bezieht sich auf das Verhältnis des Menschen zu Gott, hat somit eine religiöse Dimension. Es geht hier erkennbar eben nicht um das Verhältnis der Menschen zueinander in der realen Welt. Genau diese Ebene müsste aber eine sich im Sinne des geistigen Ursprungs des modernen Menschenrechtsverständnisses verstehende Auffassung zumindest theoretisch berühren, wie dies bereits die Sophisten mit ihrem ethischen Gleichheitspostulat taten.“59 So bleibt der Menschenrechtsgehalt der Lehre von der Gottesebenbildlichkeit weit hinter dem anthropologisch fundierten Gleichheitsideal der Sophistik oder der Stoa zurück.

53 Zitiert nach H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962, 15. 54 Zitiert nach Welzel (Fn. 53), 15 f. 55 Welzel merkt allerdings zu Recht an, dass aus der „Natur des Menschen“ auch ganz andere Folgerungen möglich waren, etwa die einer natürlich vorgegebenen Ungleichheit und das Recht des Stärkeren (Trasymachos). „Die Proteusgestalt der menschlichen Natur nimmt unter der Hand eines jeden naturrechtlichen Denkers die Gestalt an, die er sich wünscht“ (aaO., S. 16). 56 Oestreich (Fn. 14), 11 ff.; A. Pfahl-Traughber, Haben die modernen Menschenrechte christliche Grundlagen und Ursprünge? Kritische Reflexionen zu einem immer wieder postulierten Zusammenhang, humanismus aktuell 3 (1999), 66–77 (68 f.); ausführlich H. Cancik, Gleichheit und Freiheit. Die antiken Grundlagen der Menschenrechte, in: Vor Gott sind alle gleich“. Soziale Gleichheit, soziale Ungleichheit und die Religionen, hrsg. von G. Kehrer, 1983, 190–211. 57 Vgl. etwa Cicero, De officiis, Buch 1. 105 ff (M.T. Cicero, De officiis – Vom pflichtgemäßen Handeln, übersetzt, kommentiert und hrsg. von H. Gunermann, 1976, 93 ff.); näher zu diesem Werk M. Fuhrmann, Cicero und die Römische Republik, 4. Aufl. 1997, 257–262. 58 Genesis 1, 26 f. 59 Pfahl-Traughber (Fn. 56), 70 f. Vgl. auch N. Brieskorn, Menschenrechte. Eine historisch-philosophische Grundlegung, 1997, 146, der die Unvereinbarkeit der Auffassung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen mit dem Menschenbild der europäischen (und insbesondere französischen) Aufklärung betont.

Religion, Gewalt und Menschenrechte

181

Stärker dem menschenrechtlichen Gleichheitsideal verpflichtet ist die christliche Lehre von der Gleichheit aller Menschen vor Gott: Im Brief des Paulus an die Galater heißt es dazu: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer’ ‚in Christus Jesus’“.60 Die hier betonte Gleichheit soll aber offensichtlich wieder nur für die religiöse Sphäre gelten, nicht für das reale gesellschaftliche und politische Leben.61 Es geht nicht um die Etablierung von moralischen oder gar rechtlichen Positionen gegen einen übermächtigen Staat, sondern um eine Gleichheit im Glauben, die man sogar als Mittel für die Legitimierung realer Ungleichheit einsetzen konnte.62 In der gesellschaftlichen und politischen Realität des Mittelalters spielte die Gleichheitsidee im menschenrechtlichen Sinn jedenfalls kaum eine Rolle: „Einmal war der christliche Gedanke der Gleichheit in der Ständegesellschaft allenfalls als pädagogisch-theologisches Korrektiv der faktischen Ungleichheit wirksam, er beeinflusste kaum die realen sozialen Verhältnisse … Zum anderen aber ruht der Gleichheitsgedanke des modernen Naturrechts, der in den Menschenrechten wirkt, nicht mehr auf der Gleichheit des Menschen vor Gott, sondern wesentlich auf seiner biologischen, kreatürlichen Artgleichheit.“63 Auch die Vorstellung eines unendlichen Wertes jeder menschlichen Seele bezieht sich nahezu ausschließlich auf die religiöse Sphäre und hat sich jedenfalls in der praktischen Haltung der christlichen Kirche(n) zu den Menschenrechten bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein nicht erkennbar ausgewirkt. Ein Grund hierfür könnte in der Lehre von der Erbsünde zu sehen sein, also der Annahme, der Anteil des Menschen am „Sündenfall“ habe zu einer angeborenen Sündhaftigkeit und Verderbtheit des Menschen geführt, ein Zustand, der nur durch die Gnade Gottes zu überwinden sei. Diese Lehre ist mit der Vorstellung, der Mensch verfüge über eine angeborene Würde und Menschenrechte, schwer zu vereinbaren.64 Stärker in die Praxis hineingewirkt hat das christliche Gebot der Nächstenliebe, wie es etwa in der Bergpredigt formuliert wurde. Christen gehörten zu den Vorkämpfern der Abschaffung der Sklaverei im 18. Jahrhundert, wobei es freilich nicht die etablierten Kirchen waren, die der Sklaverei Widerstand entgegensetzten, sondern kleine religiöse Gruppen wie die Methodisten und Quäker65, die oft genug in scharfem Gegensatz zu den etablierten großen Religionsgemeinschaften standen. Allgemein formuliert, scheint das christliche Gebot der Nächstenliebe ein erhebliches sozialrevolutionäres Potential zu besitzen, das zwar nicht von den etablierten Kir60 Galater 3, 28. 61 Pfahl-Traughber, (Fn. 56), 71; vgl. auch G. Kehrer, Menschenrechte und die Religionen, in: Perspektiven der Menschenrechte. Beiträge zum fünfzigsten Jubiläum der UN-Erklärung, hrsg. von B. v. Behr u.a., 1999, 69–76 (70 f.). 62 J. Kahl, Das Elend des Christentums, 1968, Neuausgabe 1993, 32. 63 H. Maier, Wie universal sind die Menschenrechte?, 1997, 82 f. 64 Der Philosoph Herbert Schnädelbach zählt die Lehre von der Erbsünde deshalb zu den „Geburtsfehlern“ des Christentums und bezeichnet sie als „menschenverachtend“, vgl. H. Schnädelbach, Der Fluch des Christentums – Die sieben Geburtsfehler einer altgewordenen Weltreligion. Eine kulturelle Bilanz nach zweitausend Jahren, in: Geburtsfehler? Vom Fluch und Segen des Christentums. Streitbare Beiträge, hrsg. von R. Leicht/A. Angenendt, 2001, 13–33 (14 ff.). 65 Ch. Delacampagne, Geschichte der Sklaverei, 2002, 212 ff.; A. Wirz, Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem, 1984, 186 ff.; zur christlichen Verteidigung der Sklaverei vgl. etwa Th. Stringfellow, A Brief Examination of Scripture Testimony on the Institution of Slavery, in: The Ideology of Slavery. Proslavery Thought in the Antebellum South, 1830–1860, hrsg. von D. G. Faust, 1981, 136–167.

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182

chen, wohl aber von kleineren christlichen Gruppen immer wieder eingesetzt wurde, um gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern. V.

DIE

IDEE

DER

MENSCHENRECHTE

ZUR

ZEIT

DER

KIRCHENHERRSCHAFT

Gegen die These von den christlichen Wurzeln der Menschenrechte spricht vor allem, dass die Kirche in den langen Zeiten ihren absoluten Macht über Europa nur sehr wenig tat, um die Menschenrechte zu befördern und durchzusetzen. Im Gegenteil – die großen Gräueltaten des Mittelalters und der frühen Neuzeit: Kreuzzüge66, Judendiskriminierung67, Ketzerverfolgung und Inquisition68 sowie die Hexenprozesse69 wurden gerade durch die Kirche und ihre weltlichen Verbündeten begangen. Die Verbrechen der Kirche wurden schon so oft beschrieben70, dass es müßig erscheint, darauf an dieser Stelle noch einmal ausführlich einzugehen. Zwei Beispiele mögen genügen: Die Erinnerung an die Kreuzzüge, die für den durchschnittlichen Europäer heute einer fernen Vergangenheit angehören, ist für viele Moslems noch durchaus lebendig und eine der Ursachen für die heutigen Konflikte zwischen dem Islam und dem Westen. Es erscheint deshalb nicht unangebracht, sich auch im Westen an die Schattenseiten der Kreuzzüge zu erinnern. Folgender Augenzeugenbericht über den Blutrausch der christlichen Kreuzfahrer bei der Eroberung Jerusalems im Jahr 1099 spricht für sich: „Bald … flohen alle Verteidiger von den Mauern durch die Stadt, und die Unsrigen folgten ihnen und trieben sie vor sich her, sie tötend und niedersäbelnd, bis zum Tempel Salomons, wo es ein solches Blutbad gab, dass die Unsrigen bis zu den Knöcheln im Blut wateten … . Nachdem die Unsrigen die Heiden endlich zu Boden geschlagen hatten, ergriffen sie im Tempel eine große Zahl Männer und Frauen und töteten oder ließen leben, wie es ihnen gut schien. Bald durcheilten die Kreuzfahrer die ganze Stadt und rafften Gold, Silber, Pferde und Maulesel an sich; sie plünderten die Häuser, die mit Reichtümern überfüllt waren. Dann, glücklich und vor Freude weinend, gingen die Unsrigen hin, um das Grab unseres Erlösers zu verehren.“71

Kaum vereinbar mit der These vom historischen Ursprung der Menschenrechte im Christentum ist auch der Antisemitismus, der die Geschichte des Christentums bis 66 Zusammenfassend P. Thorau, Die Kreuzzüge, 2004; St. Runciman, Geschichte der Kreuzzüge, 2006. 67 W. Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, 2002, 9 ff.; ausführlich G. Czermak, Christen gegen Juden, 1997; vgl. ferner die Beiträge in: Judenfeindschaft. Darstellung und Analysen, hrsg. von K. Thieme, 1963 (einschlägig sind besonders die Beiträge von Johann Maier und Karl Thieme). Aktuell H.-P. Raddatz, Allah und die Juden. Die islamische Renaissance des Antisemitismus, 2007. 68 Zusammenfassend G. Schwerhoff, Die Inquisition. Ketzerverfolgung in Mittelalter und Neuzeit, 2004; klassisch und an Faktenreichtum bis heute unübertroffen die Darstellung von H. Ch. Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter, 3 Bände, 1887 (engl.), dt. Ausgabe 1997. 69 Aus der Fülle der Arbeiten vgl. nur W. Behringer, Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung, 3. Aufl. 2002; B. Gloger/W. Zöllner, Teufelsglaube und Hexenwahn, 1983, Reprint 1999. Kulturgeschichtlich orientiert und mit reichem Bildmaterial versehen H.-J. Wolf, Hexenwahn und Exorzismus, 1980; ders., Hexenwahn. Hexen in Geschichte und Gegenwart, 1990. 70 Vgl. vor allem die auf 10 Bände angelegte Darstellung von Karlheinz Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, 1986 ff.; abschwächend A. Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, 2007. 71 R. Pernould, Die Kreuzzüge in Augenzeugenberichten, 1961, 100 f.

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Religion, Gewalt und Menschenrechte

in das Zeitalter der Aufklärung und darüber hinaus wie ein roter Faden durchzieht.72 Dies betrifft keineswegs nur den Katholizismus. So erhob Martin Luther in seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) folgende Forderungen: „Erstlich, dass man ihre Synagoga oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch ein Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. … Zum andern, dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre … Zum dritten, dass man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten … Zum vierten, dass man ihren Rabbinern bei Leib und Seele verbiete, hinfort zu lehren, … Zum fünften, dass man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe … Zum sechsten, dass man ihnen den Wucher verbiete und nehme ihnen alle Barschaft und Kleinode an Silber und Gold, und lege es beiseite zu verwahren … Zum siebten, dass man den jungen, starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, … Spaten … und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiße der Nasen …“.73

VI. DER WIDERSTAND DES OFFIZIELLEN CHRISTENTUMS DER MENSCHENRECHTE

GEGEN DIE

IDEE

Die christlichen Kirchen und führende Vertreter des Christentums haben aber nicht nur eklatant gegen Menschenrechte verstoßen, sondern sie haben der Idee der Menschenrechte bis weit in das 20. Jahrhundert hinein erbitterten Widerstand entgegengesetzt. Die Akzeptanz der Menschenrechte musste Schritt für Schritt gegen die christlichen Kirchen erkämpft werden. Erst als Demokratie und Menschenrechte in Europa längst durchgesetzt waren, hat auch das offizielle Christentum die neuen Ideen akzeptiert. Auch dieser Prozess ist bereits vielfach untersucht und dargestellt worden74, so dass ich mich wieder auf einige besonders herausragende Aspekte und Beispiele beschränken kann: Nachdem die Idee der Menschenrechte in ihrer modernen Fassung von der Aufklärungsphilosophie75 vorbereitet worden war, erfolgte ihr historischer Durchbruch in der Französischen Revolution von 1789. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des Droits de l‘Homme et du Citoyen) vom 26. August 1789 hat alle späteren Menschenrechtserklärungen geprägt. Da die katholische Kirche in Frankreich zu den mächtigsten Unterstützern der alten Ordnung gehört hatte,76 waren die Revolutionäre ganz überwiegend antiklerikal eingestellt. Bis heute gehört Frankreich zu den Ländern, in denen die Trennung von Religion und Staat besonders deutlich durchgeführt ist.77 Umgekehrt lehnte die römisch-katholische Kirche die 72 73 74

75 76 77

Vgl. oben Fn. 67. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 53. Band, 1920, 412–552 (523 ff.). Die Schreibweise wurde teilweise der heutigen angepasst. Vgl. nur (zusammenfassend) Maier (Fn. 63), 55–65. Der Philosoph Herbert Schnädelbach fasst sein Urteil über das Christentum wie folgt zusammen: „Nicht bloß die Untaten einzelner Christen, sondern das verfasste Christentum selbst als Ideologie, Tradition und Institution lastet als Fluch auf unserer Zivilisation, der bis zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts reicht, während der christliche „Segen“ stets von Individuen ausging, die das, was sie Gutes taten, allzu oft gegen den Widerstand der amtskirchlichen Autoritäten durchsetzen mussten“. Zitiert nach: Schnädelbach, Der Fluch des Christentums (Fn. 64), 13. Überblick bei W. Röd, Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Zweiter Band: 17.– 20. Jahrhundert, 1996, 80–136; W. Schneiders, Das Zeitalter der Aufklärung, 1997. F. Furet/ D. Richet, Die Französische Revolution, franz. 1965/1966, dt. Ausgabe 1968, 27 ff. Andere Beispiele sind die Türkei und die USA. Gerade das Beispiel der USA zeigt übrigens, dass

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Französische Revolution im späten 18. und 19. Jahrhundert auf das Entschiedenste ab, eine Haltung, die bis heute nachwirkt und die auch die Einstellung der katholischen Kirche zu den Menschenrechten geprägt hat. Über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg hat die Kirche den vorrückenden neuen Ideen Widerstand geleistet. So verurteilte Papst Gregor XVI. in der Enzyklika „Mirari vos arbitramus“ vom 15. August 1832 aufs schärfste die Ansicht, „man könne mit jedem beliebigen Glaubensbekenntnis das ewige Seelenheil erwerben, wenn man den Lebenswandel an der Norm des Rechten und sittlich Guten ausrichte … Und aus dieser höchst abscheulichen Quelle des Indifferentismus fließt jene widersinnige und irrige Auffassung bzw. vielmehr Wahn, einem jeden müsse die Freiheit des Gewissens zugesprochen und sichergestellt werden.“ Diesem „geradezu pesthaften Irrtum“ („quidem pestilentissimo errori“), so heißt es weiter, „bahnt freilich jene vollständige und ungezügelte Meinungsfreiheit den Weg, die zum Sturz des heiligen und bürgerlichen Gemeinwesens weit und breit grassiert …“.78

Im „Syllabus Errorum“ des Pius IX. vom 8. Dezember 1864, der eine Auflistung der aus römisch-katholischer Sicht besonders abzulehnenden neuen Lehren und Überzeugungen enthält, werden u.a. folgende Sätze zu den besonders verdammenswerten Irrtümern gezählt:79 § III.15 „Es steht jedem Menschen frei, diejenige Religion anzunehmen und zu bekennen, die man, vom Lichte der Vernunft geführt, für wahr erachtet“. § III.16 „Die Menschen können im Kult jedweder Religion den Weg zum ewigen Heil finden und das ewige Heil erlangen.“ – Klarer und entschiedener kann eine Absage an die Religionsfreiheit kaum ausfallen.

Ein letztes großes Zeugnis des Widerstands der katholischen Kirche gegen die Ideen der Moderne (aber schon nicht mehr direkt gegen die Menschenrechte) ist der 1910 von Papst Pius X. eingeführte Antimodernisteneid, den alle Priester und Bischöfe der Kirche bei Strafe der Exkommunikation zu schwören hatten.80 Darin wurde u.a. die Einheit der katholischen Glaubenslehre seit der Entstehung des Christentums festgeschrieben und der historisch-kritischen Erforschung des Christentums eine Absage erteilt. Der Eid wurde erst 1967 durch Papst Paul VI. abgeschafft.81 VII. EIN „MENSCHENRECHTS-CHECK“

FÜR

RELIGIONEN

Die im einleitenden Zitat vorgestellte Idee, Religionen auf ihre Verträglichkeit mit den Menschenrechten hin zu prüfen, lässt sich in folgende Leitfragen umsetzen82: die Religiosität der Gesellschaft nicht zurückgehen muss, wenn Staat und Kirche(n) rechtlich getrennt sind. 78 Zitiert nach H. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hrsg. von P. Hünermann, 37. Auflage 1991, Rn. 2730. 79 Zitiert nach Denzinger (Fn. 78), Rn. 2915 f. 80 Der Text ist abgedruckt in: H. Neubert, Antimodernisteneid, freie Forschung und theologische Fakultäten, 1911. 81 Dagegen hat der Vatikan bis heute nicht die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert, möglicherweise wegen des dort festgeschriebenen Grundsatzes der Religionsfreiheit. Weiterführend zum Thema „Katholizismus und Recht“ der Beitrag von A. Hense (in diesem Band S. 69 ff.). 82 Der Tübinger Religionssoziologe Günter Kehrer arbeitet im Auftrag der Giordano-Bruno-Stiftung

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(1) Akzeptieren die Religion und ihre Meinungsführer den Grundsatz der Religionsfreiheit, und zwar nicht nur theoretisch (in „offiziellen“ Verlautbarungen oder religiösen Texten) sondern auch praktisch, d.h. im konkreten Umgang mit Nicht- und Andersgläubigen? (2) Akzeptiert die Religion – über die Religionsfreiheit hinaus – auch andere Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) oder der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950) festgelegt sind (dazu gehört auch und gerade die Gleichberechtigung von Mann und Frau)? (3) Befürwortet die Religion Lehren oder Praktiken, die die Lebensbedingungen von Menschen nachweislich verschlechtern? (4) Welche Regeln gelten für die innerreligiöse Meinungsbildung? Ist die Religionsgemeinschaft autoritär oder demokratisch strukturiert? (5) Wie reagiert die Religionsgemeinschaft auf Häretiker und Religionskritiker? (6) Wie ist das Verhältnis der Religion zur modernen Wissenschaft? Mittels dieser Leitfragen lässt sich das Verhältnis der Religion zu den Menschenrechten und damit zugleich ihre Verträglichkeit mit dem modernen, den Menschenrechten verpflichteten Verfassungsstaat in einer ersten Annäherung bestimmen. Die erste Regel ist auch die wichtigste: die Akzeptanz der Religionsfreiheit ist ein Lackmustest für die Menschenrechtsverträglichkeit jeder Religion. Da alle Religionen den Anspruch auf Wahrheit erheben und es nach üblichem Verständnis nur eine Wahrheit geben kann, muss Religionsfreiheit in aller Regel gegen die jeweils herrschende Religion erkämpft und in juridischen Formen (etwa in der Staatsverfassung) festgelegt werden.83 Nur sehr wenige Religionen – etwa die antike römische Staatsreligion, der Buddhismus und zeitweise der Islam84 – haben in ihrem Herrschaftsbereich andere Religionen ohne erhebliche Diskriminierungen zugelassen. Gerade die europäisch-christliche Geschichte ist demgegenüber reich an Berichten über die groß angelegte Verfolgung und Vernichtung von „Ungläubigen“ im Rahmen der zahlreichen Ketzerverfolgungen und der Heiligen Inquisition.85 Die zweite Regel betrifft die Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte, wie sie in den großen Erklärungen nach dem zweiten Weltkrieg festgelegt wurden.86 Auch hier genügen nicht Lippenbekenntnisse, sondern nur eine ernsthafte, in der Praxis erkennbare Akzeptanz der Menschenrechte. Ein besonderes Problem vieler Religionen, gerade auch der drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, scheint die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu sein. Über die Gründe hierfür herrscht keine Einigkeit; Schlagworte wie das der „Frauen-

83

84 85 86

an einem ähnlichen Test, der allerdings nicht, wie der oben skizzierte Fragenkatalog, an der Religionspraxis ansetzen soll, sondern an den Heiligen Texten der Religionen. Für seine konstruktiven Hinweise bin ich Herrn Kollegen Kehrer sehr zu Dank verpflichtet. H. Zinser, Der Markt der Religionen, 1997, 15–32; vgl. auch G. Mensching, Toleranz und Wahrheit in der Religion, 1955 sowie die Beiträge in: Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, hrsg. von H. Lutz , 1977 (Wege der Forschung, Bd. 246). M. Ruthven, Der Islam. Eine kurze Einführung, 2000, 159. Vgl. die Nachweise oben Fn. 68 und 69. Zu nennen sind hier insbesondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) und die Europäische Menschenrechtskonvention (1950). Später traten der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, beide 1966 beschlossen und 1976 in Kraft getreten, hinzu.

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feindlichkeit“ beschreiben das Phänomen eher als dass sie es erklären. Eine gewisse Rolle spielt möglicherweise das Alter und der Konservativismus der drei genannten Religionen, die in einer Zeit und einer Region entstanden sind, in der Frauen schon aus biologischen Gründen Männern unterlegen waren. Nach der dritten Regel gilt es zu untersuchen, ob eine Religion durch ihre Lehren oder Praktiken die Lebensbedingungen von Menschen nachweislich verschlechtert. Es geht hier also um die konkreten Folgen von Religion und Religiosität im Leben der Gläubigen. Man mag hierin eine Anleihe bei Lessings Ringparabel sehen. Ein Beispiel für eine negative (d.h. mit unserem Verständnis von Menschenrechten nicht vereinbare) Wirkung von Religion ist das indische Kastenwesen, das wesentlich vom Hinduismus gestützt wird.87 Die potentiell menschenrechtswidrigen Wirkungen der Scharia, des muslimischen Religionsgesetzes, sind ebenfalls bekannt.88 Eine sehr problematische Auswirkung bestimmter christlicher Vorstellungen ist das Verbot der Verwendung von Kondomen, das in Mitteleuropa kaum mehr Ernst genommen wird, in Afrika aber von vielen befolgt wird und dort eine der Hauptursachen für die ungebremste Ausbreitung des AIDS-Virus darstellen dürfte.89 Regel vier bezieht sich auf die Meinungsbildung innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Man kann natürlich fragen, ob eine demokratische Binnenorganisation unverzichtbare Voraussetzung dafür ist, nach außen überzeugend für Menschenrechte90 eintreten zu können. Zwingend dürfte dies nicht sein. Jedenfalls das Plädoyer für Demokratie wird aber glaubwürdiger, wenn es von einer Institution stammt, die selbst Demokratie praktiziert. Eine Religion, deren innere Struktur modernen demokratischen Vorstellungen weitgehend entspricht, ist der europäische Protestantismus. Ob und inwieweit das Phänomen des „religiösen Führers“ zum Kernbereich religiösen Glaubens gehört (mit der Folge, dass jedenfalls über Kernfragen der Religion nicht mehr „abgestimmt“ werden kann), soll hier offen bleiben.91 Die Reaktion einer Religionsgemeinschaft auf explizite Ablehnung und Kritik wird von der fünften Regel thematisiert. Es geht dabei in erster Linie nicht um Religionsfreiheit im Sinne einer Freiheit der Religionswahl und Religionsausübung (Regel 1), sondern um den Umgang mit solchen Menschen, die eine bestimmte Religion oder sogar die Religionen insgesamt ablehnen. Es ist auffällig, dass explizit religionskritische Haltungen selbst in den „aufgeklärten“ Staaten des Westens erst seit der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert möglich wurden, stets mit der Gefahr von Diskriminierung und Verfolgung verbunden waren und auch heute noch relativ selten sind. Auf bestimmte Formen von Religionskritik reagieren selbst aufgeklärte Staaten mit den Mitteln des Strafrechts (vgl. § 166 StGB92). Dies erscheint 87 K. Meisig, Shivas Tanz. Der Hinduismus, 1996, Sonderausgabe 2003, 157–172. 88 Vgl. die Nachweise oben Fn. 4 sowie den Text von Ch. Schirrmacher (in diesem Band S. 339 ff.). 89 Dazu B. Grill, S. Hippler, Gott, Aids, Afrika. Eine Streitschrift, 2007; vgl. auch A. Reif, S. Nolen, Aids ist in Afrika nicht nur eine Krankheit, in: Universitas 62 (2007), 741 – 748 (744 ff.). 90 Demokratie stellt zwar selbst kein Menschenrecht dar, ist aber nach aller historischen Erfahrung eng mit einer staatlichen Orientierung an den Menschenrechten verbunden. 91 Einen Überblick über typische religiöse Führergestalten gibt H.-J. Schoeps, Religionen. Eine Einführung in das Wesen und die Geschichte der Weltreligionen, 1961, 47–56. 92 Schutzgut des § 166 StGB ist der „öffentliche Friede“, also „ein Zustand eines von der Rechtsordnung gewährleisteten, frei von Furcht voneinander verlaufenden Zusammenlebens der Bürger

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in vielen Fällen nachvollziehbar und oft auch zum Schutz des öffentlichen Friedens erforderlich, wenn man daran denkt, wie schnell die Verletzung religiöser Gefühle zu Gewaltausbrüchen der Gläubigen führen kann.93 Dennoch wird man von jeder Religion verlangen können, dass sie Kritik jedenfalls soweit akzeptiert, wie sie nicht in gezielt verletzender, diffamierender Form vorgebracht wird. Akzeptiert werden muss vor allem die wissenschaftliche, also objektive und „wertfreie“94, Auseinandersetzung mit Religion und Religiosität. Die sechste und letzte Leitfrage, anhand derer das Verhältnis einer Religion zu den Menschenrechten überprüft werden kann, bezieht sich auf die Haltung, die die Religion zur Wissenschaft einnimmt. Die Entstehung der modernen Wissenschaft ist auf das engste mit der Verbreitung von Humanismus und intellektueller Aufklärung verbunden95, die auch der Menschenrechtsidee zum Durchbruch verholfen haben. Es ist deshalb kein Zufall, dass sich Menschenrechtsidee und moderne Wissenschaft fast parallel zueinander entwickelt haben und mit ganz ähnlichen Widerständen zu kämpfen hatten. Intellektuelle Freiheit gehört als Denk- und Meinungsfreiheit zum Kernbereich der Menschenrechte; sie ist aber auch Grundvoraussetzung wissenschaftlicher Arbeit. Lange Zeit schien es, als habe sich die Wissenschaft jedenfalls in den Staaten des Westens von der Bevormundung durch die Religion befreien können. Umso bedenklicher muss es erscheinen, wenn heute unter Berufung auf religiöse Schöpfungsmythen wissenschaftlich hervorragend bewährte Theorien z.B. über die Entwicklung des Lebens auf der Erde wieder in Zweifel gezogen werden.96 Neben dem religiös motivierten Terror ist diese religiös gestützte Wissenschaftsfeindlichkeit die zweite große Herausforderung, vor welche die „Wiederkehr der Religionen“ die aufgeklärten Gesellschaften des Westens stellt. Vor allem in den USA, aber zunehmend auch in Europa scheint sich eine immer tiefer werdende Kluft zwischen den Anhängern wissenschaftlichen Denkens und Strenggläubigen, zwischen Naturalismus und Religion, zu bilden.97

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und des Vertrauens auf seine Fortdauer“; vgl. näher Dippel (Fn. 30), § 166 Rn. 51. Dazu kritisch T. Hörnle, Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten (in diesem Band S. 315 ff.). Man denke nur an die Reaktion weiter Teile der islamischen Welt auf die Publikation von Salman Rushdies, „Satanischen Versen“ (1988) oder der Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitschrift „Jyllands-Posten“ im September 2005. Näher zum Postulat der Wertfreiheit im hier gemeinten Sinn E. Hilgendorf, Das Problem der Wertfreiheit in der Jurisprudenz, in: Die Wertfreiheit in der Jurisprudenz, hrsg. von E. Hilgendorf und L. Kuhlen, 2000, 1–32 (27 f.). Vgl. nur. Ch. van Doren, Geschichte des Wissens, engl. 1991, dt. Ausgabe 2000, 173 ff.; 241 ff.; R. Tarnass, Idee und Leidenschaft. Die Wege des westlichen Denkens, engl. 1991, dt. Ausgabe 1999, 279 ff.; zur Parallelität von „humanities“ und „science“ schon J. Bronowski/B. Mazlish, The Western Intellectual Tradition. From Leonardo to Hegel, 1960. Die verbreitete Akzeptanz der Lehren des Kreationismus und des „Intelligent Design“ in den USA, aber auch in Europa offenbaren erhebliche Defizite in der Wissenschaftsvermittlung, vor allem Defizite in der Vermittlung der Bedeutung wissenschaftlicher Methode. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Lehre des „Intelligent design“ auf der Grundlage der modernen Naturwissenschaft U. Kutschera, Streitpunkt Evolution. Darwinismus und Intelligentes Design, 2004. Es überrascht deshalb nicht, dass die schärfste Religionskritik derzeit von Naturwissenschaftlern und naturwissenschaftlich orientierten Philosophen vorgebracht wird. Einflussreich vor allem: R. Dawkins, The God Delusion, 2006; D. C. Dennett, Breaking the Spell. Religion as a Natural Phenomenon, 2006, vgl. ferner S. Harris, The End of Faith. Religion, Terror and the Future of Reason, 2004; ders., Letter to a Christian Nation, 2006.

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In den Debatten über das Verhältnis von Religion und Menschenrechten stößt man häufig auf das Argument, bestimmte mit einer Religion verbundene menschenrechtswidrige Lehren oder Praktiken seien gar nicht Ausdruck der Religion selbst, sondern bloß zeit- und kulturbedingte Phänomene, die mit der „wahren“ Erscheinungsform der Religion, etwa dem „wahren“ Islam“ oder dem „wahren“ Christentum, nichts zu tun hätten. Oft findet man auch die Vorstellung, die jeweils „wahre“ Religion sei „instrumentalisiert“ worden, werde also zu ihr fremden Zwecken missbraucht. Derartige Argumente sind nur teilweise überzeugend. Es ist nicht zu bezweifeln, dass Religionen und religiöse Bedürfnisse in der Geschichte immer wieder dazu eingesetzt wurden, um Menschen gefügig zu machen und Widerstand zu brechen oder zu unterdrücken. Die großen politischen Religionen des 20. Jahrhunderts sind dafür nur ein Beispiel.98 Religion eignet sich besonders gut als Herrschaftsinstrument, weil sie „innen“ ansetzt, also die moralischen Überzeugungen des Menschen zu prägen oder zu verändern vermag, so dass Herrschaft nicht mehr auf äußeren Druck angewiesen ist. Es gibt für einen Herrscher kaum einen wünschenswerteren Zustand als den, dass die Beherrschten dem Willen des Herrschers freiwillig und aus innerer Überzeugung folgen. Eine andere Möglichkeit der Trennung „reiner“ Religion von ihrem „Missbrauch“ ist die Abschichtung von Glaubensgeboten, die in den jeweiligen heiligen Texten (z.B. dem Koran oder der Bibel) enthalten sind, von bloß lokalen oder regionalen Bräuchen. Als Beispiel hierfür wird oft die Praxis der Mädchenbeschneidung genannt, die kein Gebot des Islam darstelle, sondern bloß eine regionale (arabische oder afrikanische) Praxis.99 Eine solche Trennung von religiösem Gebot und einem Missbrauch der Religion bzw. einer kulturell bedingten Verzerrung ist jedoch meist nicht sinnvoll durchzuführen. Wenn etwa die Führer der jeweiligen Religionen selbst die in Frage stehenden Praktiken unterstützen oder gar im Namen der Religion fordern und damit bei ihren Anhängern Zustimmung finden, so handelt es sich um eine Praxis dieser Religion und nicht um einen Fall der „Instrumentalisierung“ oder des Missbrauchs. Es gibt hier keinen objektiven Standpunkt, von dem aus sich die Differenzierung zwischen der gelebten Religion einerseits und ihrer „wahren“ Fassung andererseits begründen ließe.100 Die Vorstellung, die Gläubigen würden in ihrer großen Mehrzahl (und unter Einschluss der jeweiligen Religionsführer) ihre eigene Religion „missverstehen“, beruht in aller Regel schlichtweg darauf, dass man der Religion unzulässigerweise die eigenen Wertvorstellungen unterschiebt und diese Interpretation als die „wahre“ Fassung der Religion ausgibt. Wer diesen Mechanismus einmal durchschaut hat, wird darauf nicht mehr hereinfallen.

98 Totalitarismus und politische Religionen, hrsg. von H. Maier/M. Schäfer, 3 Bände, 2004. 99 Ruthven (Fn. 84), 110. 100 Es wäre verfehlt, in diesem Zusammenhang auf die heiligen Texte der Religionen rekurrieren zu wollen, denn gerade diese Texte sind in der Regel hochgradig ambivalent und ausdeutungsfähig. Die Eignung heiliger Texte zur Legitimation ganz unterschiedlicher moralischer und rechtspolitischer Lehren betont auch Pfahl-Traughber (Fn. 9), 187.

Religion, Gewalt und Menschenrechte

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VIII. AUSBLICK Die obige Skizze versuchte u.a. deutlich zu machen, dass es in der Geschichte eine deutliche Affinität zwischen Religion und Gewalt gegeben hat, während der Zusammenhang zwischen Religion(en) und den Menschenrechten weit weniger eng ist, als oft behauptet wird. Dafür liefert nicht nur der heutige Islam viele Beispiele, sondern auch die Geschichte des Christentums. Religionen sind höchst ambivalente Gebilde, die sich, wie das Recht auch, mit ihrem gesellschaftlichen und politischen Umfeld wandeln. Deshalb kann eine Religion ganz unterschiedliche politische und moralische Positionen einnehmen. Das Christentum hat weder die Idee der Menschenrechte hervorgebracht noch ihre Durchsetzung merklich befördert; vermutlich wäre die Idee der Menschenrechte ohne die dominante Position der christlichen Kirche(n) bis in das 19. Jahrhundert hinein wesentlich schneller durchgesetzt worden.101 Die Ursprünge der Menschenrechtsidee liegen in der antiken Philosophie, insbesondere der Sophistik und der Stoa; in seiner heutigen Form entwickelt und durchgesetzt wurde das Konzept der Menschenrechte von Vertretern des Humanismus und der Aufklärung. Dem verfassten Christentum musste die Akzeptanz der Menschenrechte in einem mühsamen und opferreichen Prozess abgerungen werden. Damit war die Aufklärung in Europa so erfolgreich, dass sich hier die großen christlichen Kirchen inzwischen die Idee der Menschenrechte, die sie noch vor nicht allzu langer Zeit erbittert bekämpften, selbst auf die Fahnen geschrieben haben. Man hat in diesem Zusammenhang von einer „gezähmten Religion“ gesprochen und sie in einen Zusammenhang mit der „Zähmung“ der Staatsgewalt gestellt: „Beides, die Zähmung des Staates und der Religion – anders ausgedrückt, die der politischen und der religiösen Herrschaft –, gehört zusammen. Beides geschieht mit Hilfe rechtlicher Regelungen, die für Spielräume autonomen Handelns, ungehinderten Denkens und freier Kommunikation sorgen, für Möglichkeiten der Initiative, der schöpferischen Gestaltung und der Kritik. Es handelt sich also um ein Recht, das die Freiheit zu sichern sucht, und zwar dadurch, dass es die Einzelnen und die Gruppen, zu denen sie sich verbinden, gegen willkürliche Eingriffe anderer, auch der Organe der Gemeinschaft, schützt und es ihnen ermöglicht, ihre Probleme selbständig zu lösen: durch eigenes Nachdenken, durch eigene Leistungen, durch den freien Austausch von Gütern und Leistungen aller Art; und um ein Recht, das alle Regelungen, die zu treffen sind, der Mitbestimmung der Betroffenen unterwirft.“102

Der westeuropäische Katholizismus kann als Beispiel dafür dienen, wie eine Religion unter dem Druck intellektueller Aufklärung und der öffentlichen Meinung von einer strikten Gegnerin der Menschenrechtsidee zu ihrer entschiedenen Befürworterin wurde. Dieser Wandel war möglich, weil die religiöse Tradition des Christentums reich genug ist, um auch Anknüpfungspunkte für Rechtsvorstellungen zu bieten,

101 Treffend Dreier (Fn. 8), Art 1 I Rn. 8: Die „reale geschichtliche Entwicklung zeigt, daß für die Durchsetzung des Menschenwürde-Gedankens im staatlich-politischen Raum die (jeweils herrschenden) christlichen Lehren keineswegs eine exklusive, kaum eine relevante und oft eine retardierende Rolle spielten.“ 102 H. Albert, Europa und die Zähmung der Herrschaft. Der europäische Sonderweg zu einer offenen Gesellschaft, in: Freiheit und Ordnung. Zwei Abhandlungen zum Problem einer offenen Gesellschaft, hrsg. von H. Albert, 1986, 9–59 (31).

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die in der Tradition des Humanismus und der Aufklärung stehen. Angesichts des imponierenden kulturellen Fundus des Islam gibt es keinen überzeugenden Grund, weshalb ein derartiger Zähmungssprozess nicht auch bei ihm gelingen sollte.

ZWEITER TEIL: BEREICHSSPEZIFISCHE ANALYSEN

ULRICH HALTERN, HANNOVER1 NOTWENDIGKEIT

UND

UMRISSE

EINER

KULTURTHEORIE

DES

RECHTS

I. EINLEITUNG Das Thema „Kulturtheorie des Rechts“ weckt zunächst Misstrauen. Es klingt erstens nach einem neuen Modethema: Überall wird die Kultur entdeckt und als „Kulturwissenschaft“ in die universitären Lehrpläne eingeflochten. Nun erreicht sie auch das Recht. Doch Moden kommen und gehen. In fünf Jahren wird, was heute modisch ist, einen langen Zopf haben: Statt eines cultural turns wird man dann von einem performative, translational, spatial oder iconic turn im Recht reden. Zweitens schießen zur Zeit Aufsätze, Dissertationen und Sonderforschungsbereiche zur medialen Repräsentation des Rechts aus dem Boden: Wie und warum wird eine Gerichtsverhandlung inszeniert? Was sagt uns das Frontispiz von Hobbes’ Leviathan? Wie erscheint das Recht in der Populärkultur, etwa in CSI, Ally McBeal und Dirty Harry? Soll eine Kulturtheorie des Rechts diese Arbeiten bündeln und systematisieren? Drittens kennen wir inzwischen zur Genüge das Phänomen der sich immer weiter verbreitenden „Recht und XY“-Ansätze, wobei man für „XY“ seine Lieblingsdisziplin einsetzen kann: Ökonomie, Sozialwissenschaften, Ethik, Gesellschaft, Technologie, Governance usw. Ist „Recht und Kultur“ eine weitere Version dieser nicht immer glücklichen Verknüpfungen, die die Autonomie des Rechts in Bedrängnis bringen und die Wahrheit des Rechts an vielen Orten suchen, nur nicht im Recht selbst? Die von mir vorgestellte Kulturtheorie des Rechts ist nur eine von vielen kulturellen Deutungsmöglichkeiten des Rechts, denn es existieren viele Formen von kultureller Befragung des Rechts. Manche widmen sich den symbolischen Inszenierungen und der Ikonographie des Rechts; andere vergleichen Rechtskulturen; wiederum andere lesen Gedichte von Schiller oder Texte von Lacan, um klassische Einsichten von der Freiheit oder neue Einsichten vom „Fremden“ und „Anderen“ für das Recht fruchtbar zu machen. Eine starke Bewegung in der kulturellen Analyse des Rechts untersucht den Einfluss des Rechts auf das Alltagsleben, indem sie Umfragen macht bei den Personen, die wir als Unterprivilegierte oder Otto-Normalverbraucher bezeichnen, und zieht hieraus Rückschlüsse auf das gesellschaftsverwobene System der Disziplinierung. All diese Arbeiten sind Suchbewegungen nach einem kulturellen Horizont des Rechts; als solche besitzen sie ihre Berechtigung und liefern häufig interessante Ergebnisse. Es ist nicht meine Aufgabe, sie zusammenzufassen und zu systematisieren; ich will mich ihnen auch nicht anschließen. Ich möchte vielmehr eine ganz andere Form der Kulturtheorie des Rechts vorstellen, die weder medienwissenschaftlicher noch sozialwissenschaftlicher, literaturwissenschaftlicher oder anthropologischer Natur, sondern in erster Linie philosophischer Natur ist. Diese Herkunft der Kulturtheorie des Rechts, die Thema dieses Beitrags ist, siedelt das Unternehmen nicht an den Rändern der Rechtswissenschaft an, sondern in ihrem Zentrum. Ich hoffe noch zeigen zu können, wie ernst es mit dieser Aussage 1

Ich habe den Vortragsstil beibehalten und nur die wichtigsten Aussagen im Anmerkungsapparat nachgewiesen.

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ist: Wenn die Kulturtheorie des Rechts sichtbar macht, dass Recht eine Sache von Identität, manchmal von Leben und Tod ist, sind Marginalisierungen fehl am Platz. Die philosophische Natur des Unternehmens stimmt mich auch optimistisch, dass es die Moden der Zeit überdauern wird. II. ZUR NOTWENDIGKEIT

EINER

KULTURTHEORIE

DES

RECHTS

Die Kulturtheorie des Rechts reagiert auf Fragen, die die Rechtswissenschaft angehen, von dieser jedoch nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Insbesondere Fragen, die auf das Selbstverständnis der Rechtswissenschaft und ihres Gegenstands, des Rechts, gerichtet sind, werden in der gegenwärtigen Wissenschaft des Rechts marginalisiert. Es handelt sich dabei nicht um Randfragen, sondern um Zentralstellen für das Denken über Recht und Staat. Ein Beispiel ist das Denken von Fortschritt im Recht und durch das Recht, das heute einen wesentlichen Bestandteil unserer rechtlichen wie politischen Imagination ausmacht. 1. Recht als Leitmotiv von Fortschritt Im Zentrum der modernen westlichen Vorstellung politischer Ordnung steht der feste Glaube an eine politische Fortschrittserzählung. Diese zeichnet sich durch drei wesentliche Elemente aus. Erstens gab es einen Übergang von personalisierten zu demokratischen Formen der Machtausübung, beispielsweise vom Fürsten zur Republik. Zweitens gab es einen Übergang von der Folter zum Strafprozess und vom Theater des Schafotts zur Wissenschaft der Kriminologie: Das Recht schützt auch diejenigen, die gegen es verstoßen.2 Dadurch wird die Herrschaft des Volkes zugleich zur Herrschaft des Rechts. Drittens gab es einen Übergang vom Krieg zum Recht. Blinde, blutige Gewalt wird durch Völkerrecht, insbesondere rechtsförmige Streitschlichtungsorgane und -prozesse, ersetzt; wo Gewalt unvermeidbar ist, wird sie humanisiert, etwa durch die Unterscheidung von Kombattanten und Nicht-Kombattanten oder durch das Verbot bestimmter Waffen. Alle drei Übergänge appellieren an das Recht, das zum Leitmotiv der gesamten Fortschrittserzählung wird. Es gibt keinen blinden Fleck des Rechts, ebenso wenig wie es unverrechtlichte politische Prozesse gibt. Das Politische und das Rechtliche er2

Dies hat u.a. mit der sich ausweitenden Kategorie der Volkssouveränität zu tun. Der Verbrecher gehört nicht länger der Kategorie „Feind des Souveräns“ an, sondern wird als „gefallener Bürger“ neukonzipiert. Gänzlich andere Begründung bei Michel Foucault, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses (Orig. 1975), 1977, der dies als Schritt auf dem Weg zu einem allumfassenden Disziplinierungssystem ansieht. Foucault ist für die vorliegende Studie zwar im Hinblick auf die Denkrichtung und die Methode von kaum zu überschätzendem Wert, nicht aber für die Analyse des Denkens vom Souverän aus: Er stellt die verdeckten Machtmechanismen des Kontrollregimes in einen schroffen Gegensatz zum Recht des königlichen Souveräns, das er mit der Liquidierung der absoluten Monarchen als obsolet geworden ansieht (vgl. ebd., S. 267 f.). Das Recht der Souveränität und der Mechanismus der Disziplin zeichnen sich sogar durch ein regelrechtes Nicht-Verhältnis aus. Ich zweifele stark an der Richtigkeit dieser Positionierung; mit mir zweifelt etwa Ethel Matala de Mazza, Land unter: Über die Zonen des Politischen, in: Joseph Vogl (Hrsg.), Gesetz und Urteil: Beiträge zu einer Theorie des Politischen, 2003, 75 ff.

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scheinen uns untrennbar miteinander verknüpft. Wir preisen dies als wünschenswert und fortschrittlich, denn Recht realisiert das Vernünftige innerhalb des Politischen. Das Vernünftige steht im Politischen für den Übergang von einer durch individuelle Interessen Weniger getriebenen Politik zu einer Politik der Gerechtigkeit für alle: Gerechtigkeit erscheint als normative Spezifizierung des Vernünftigen im Politischen. Die Fortschrittserzählung ist insofern eine Erzählung vom Fortschritt durch die Vernunft. Man findet sie nicht nur im Politischen, sondern in allen denkbaren Bereichen. Die Natur wird gezähmt, die Wissenschaften von falschen Glaubenssätzen befreit, wirtschaftliche Produktion rationalisiert; seit Freud wird auch der Mensch einer Vernunfttherapie unterzogen. Das Politische ist nur eine von vielen Instanzen des Fortschritts in der Vernunft. 2. Vergleichbare Hoffnungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Die Erzählung, die Verrechtlichung zum Leitmotiv eines hoffnungsvollen Fortschrittsdiskurses gemacht hat, besitzt einen guten Klang – nicht nur unter Juristen, sondern auch und gerade unter Nicht-Juristen, die sich dem Recht, insbesondere dem übernationalen Recht, mit Optimismus und Verve zuwenden.3 Es bedarf keines langen historischen Gedächtnisses, um sich an andere Perioden großer rechtlicher Hoffnungen zu erinnern. Denkt man lediglich 100 Jahre zurück, schien sich das Recht, insbesondere das Völkerrecht, zum Kern einer friedlichen Streitbeilegung zwischen Völkern und rivalisierenden Mächten entwickelt zu haben; die Ereignisse des heraufziehenden 20. Jahrhunderts konnten von niemandem vorhergesagt werden. Ein Internationaler Schiedshof in Den Haag entstand; durch die Haager Abkommen von 1899 und 1907 wurde ein differenzierter Rechtskörper für das humanitäre Völkerrecht und die Gebräuche des Krieges etabliert; die Kontrolle bestimmter Waffen war als solche bereits 1868 in der St. Petersburger Erklärung anerkannt worden und wurde durch weitere Erklärungen von 1899 ergänzt. Die restliche Welt geriet in die Umlaufbahn Europas und damit auch unter europäische Führung. Der Welthandel stand in nie gekannter Blüte, die Kolonialisierung erstreckte das Christentum, europäische Werte und letztlich auch politische Unabhängigkeit auf den Rest der Welt. Verbindet man dies mit der Revolution von Kommunikations- und Transportmöglichkeiten sowie mit den europäischen innerstaatlichen Reformprojekten, die sich an den Prinzipien der Gleichheit und der demokratischen Verantwortlichkeit orientierten, kann nicht verwundern, dass der Glauben an den Erfolg der Aufklärungsvision von Fortschritt fest und gewiss war. Die Bestandteile dieses Glaubens waren dreifacher Natur: Glauben an die Wissenschaften (sowohl die Geistes- wie die Naturwissenschaften), Glauben an die demokratische Ordnung der Politik und Glauben an das Recht als Instrument zur Artikulation von Normen und nationaler wie internationaler sozialer 3

Dies gilt nicht nur für die Politikwissenschaften, die – vom Recht fasziniert – ihre Methoden nun auf das Recht anwenden (als gelungene Beispiele statt vieler Alec Stone Sweet, The Judicial Construction of Europe, 2004; Martin Shapiro/Alec Stone Sweet, On Law, Politics and Judicialization, 2002; Karen Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001), sondern auch und gerade für die politische Philosophie, die das Recht als letzten Strohhalm entdeckt hat (etwa Jürgen Habermas, Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?, in: ders., Der gespaltene Westen, 2004, 113 ff.).

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Koordination. Ein eindrückliches Beispiel für diesen Glauben ist der Beitrag von Elihu Root in den Eröffnungsseiten des American Journal of International Law aus dem Jahre 1907, in dem Recht und Demokratie über die Wissenschaft miteinander verbunden sind.4 Es handelt sich nicht um getrennte Glaubenssätze, sondern um eine Weltsicht, die in verschiedenen Bereichen Anwendung findet: Eine reife Politik ist eine solche, die die Einsichten der Politikwissenschaften aufnimmt und in der Form des Rechts widerspiegelt. Ein reifes Volk ist ein solches, das durch Bildung und Erziehung dahin gelangt, dass es sich unter der Aufsicht der Wissenschaft und des Rechts selbst regieren kann. 3. Scheitern im 20. Jahrhundert Schaut man heute auf diese Zeit zurück, sieht man leicht, wie wenig dieser Glauben mit der Realität zu tun hatte, die das kommende Jahrhundert für Millionen Menschen zu einer politischen, physischen und moralischen Katastrophe machen sollte. Wir wertschätzen den Staat und seine Errungenschaften; gleichwohl erkennen wir auch an, dass diese Errungenschaften u.a. von unerhörter Zerstörung begleitet waren. Dies gilt nicht nur für die Entwicklungsländer, sondern auch für die Industriestaaten, denen das 20. Jahrhundert zugleich Fortschritt auf der einen und Zerstörung und Kollaps auf der anderen Seite brachte. Zu den Errungenschaften des 20. Jahrhunderts gehört auch die Perfektionierung der Technik totaler Kriegsführung und des Völkermords sowohl in den industrialisierten als auch den nicht industrialisierten Staaten. Die Hoffnungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts unterschätzten und missverstanden die Kraft des Nationalismus; mehr noch, sie missverstanden die Bedeutung des Politischen im Leben der Menschen. Man setzte Hoffnungen auf die Vernunft des Rechts, obwohl das Jahrhundert durch die Leidenschaften des Politischen geprägt werden sollte. Recht verstand man als System von Rechten und Verträgen; Rechtsinstitutionen verstand man als Institutionen, die diesen Werten Ausdruck verleihen sollten. Es schien eine natürliche, ja zwingende Bewegung von der innerstaatlichen Ordnung des Rechts zur internationalen Rechtsordnung zu geben. Dies schien die Realität dessen zu sein, was Kant 100 Jahre zuvor theoretisch überlegt hatte: die schrittweise Erweiterung der Republik des Rechts von der inneren Ordnung liberaler Staaten zur internationalen Ordnung zwischen liberalen Staaten. Diese Hoffnungen setzten an die Stelle der Realität des Nationalstaates einen verfrühten Kosmopolitismus. Die Konflikte der Folgezeit, beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, haben die Schwäche des Rechts vor den Kräften gezeigt, die das Politische mobilisierten. Diese Kräfte besaßen etwas Elementares, nämlich das Vermögen der Nation, die Bürger zu Opfern aufzurufen. Ganze Bevölkerungen konnten von der Notwendigkeit des Tötens und Sterbens überzeugt werden. Ein ultimativer Sinn schien dahinter zu stehen. Trotz aller technischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts besaßen die Konflikte dieser Zeit eine archaische Komponente, die mitunter an die großen Religionskriege erinnert: einen elementaren, auf Glauben basierenden Zorn. Anders als die Religions4

Elihu Root, The Need of Popular Understanding of International Law, Amer. J. Int’l L. 1 (1907), 1 ff.

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kriege stellte aber das Politische selbst, nicht die Religion, den Glauben zur Verfügung, der sich dann in nationalen, ethnischen und ideologischen Konflikten Bahn brach. Dieser Archaismus – der sich u.a. in den in Ruanda und Bosnien verwendeten Waffen spiegelt – steht in krassem Gegensatz zum fortschrittlichen, aufgeklärten und modernen Recht. Als aufgeklärte, fortschrittliche und moderne Menschen stehen wir daher sprach-, konzept- und ratlos vor den archaischen Verwerfungen des Politischen, die das Recht hinwegzufegen scheinen.5 Doch ist nicht zu vergessen, dass die Moderne generell ihre eigene Antithese produziert. Im Zeichen einer abstrakten Öffentlichkeit und einer gestaltlosen Nivellierung des sozialen Bandes suchen Individuen im Verborgenen die Spuren echter Zusammengehörigkeit.6 So betrachtet ist das Prämoderne der Gemeinschaftlichkeit von Volk und Nation ebenso wie das Archaische der Konflikte gerade nicht prämodern, sondern ein Modernisierungseffekt. Die Berufung auf gemeinsame Wurzeln, geteilte Geschichte, kulturelle Einheit oder sonstige kontingente Materialität ist das Mitlaufende der modernen Sprache des Nationalstaates. Es ist heute mehr denn je verknüpft mit einer Rhetorik des Eingeweihten, Unsagbaren und Geheimnisses, das die Politik der Nation stets als doppelzüngig erscheinen lässt und zugleich als innere Bedingung der Moderne funktioniert.7 Mögen die genozidären Handlungen noch so archaisch wirken, sie sind immer durch das Bewusstsein von der deutschen „Endlösung“ aus der Mitte des 20. Jahrhunderts informiert. Diese hat die vorstellbaren Möglichkeiten des Politischen in Kambodscha, Irak, Indonesien und Ruanda ebenso erweitert wie in Europa selbst, als der Balkan in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts abermals Lager, ethnische Säuberungen und Morde erlebte. 4. Neuer Fortschritt durch Recht zu Beginn des 21. Jahrhunderts Im beginnenden 21. Jahrhundert hegen Juristen Hoffnungen, die denen der Juristen zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf verstörende Weise ähneln; es ist bezeichnend, dass Völkerrechtler und politische Philosophen nun Kants „Zum Ewigen Frieden“ wiederentdecken.8 Wiederum ist die Rede von einer globalen Rule of Law, gar von 5

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Vgl. z.B. Michael Ignatieff, Reisen in den neuen Nationalismus, 1999; Philip Gourevitch, Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden, 1999; Hans-Martin Blitz, Aus Liebe zum Vaterland, 2000. Joseph Vogl, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, 7 ff. (17). Daher vergleicht Slavoj Žižek, Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – vom Begehren des ethnischen „Dings“, in: Vogl (Fn. 6), 133 ff. (154), die innere Widersprüchlichkeit der Nation mit jener von Vampiren, die irrtümlicherweise als Überbleibsel aus der Vergangenheit angesehen werden, während ihr Platz erst durch das Hereinbrechen der Moderne konstituiert wird. Statt vieler: Jürgen Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen – Studien zur politischen Theorie, 1996, 192 ff.; Volker Bialas/Hans-Jürgen Häßler (Hrsg.), 200 Jahre Kants Entwurf „Zum Ewigen Frieden“ – Idee einer globalen Friedensordnung, 2001; Otfried Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant: Zum Ewigen Frieden, 2. Aufl. 2004; ders., Königliche Völker. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, 2001; Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum Ewigen Frieden“ – Eine Theorie der Politik, 1999; Reinhard Merkel/Roland Wittmann (Hrsg.), „Zum Ewigen Frieden“ – Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, 1996; Volker Marcus Hackel, Kants Friedensschrift und das Völkerrecht, 2000; Klaus Dicke/Klaus-Michael Kodalle (Hrsg.), Republik und Weltbürgerrecht: Kan-

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einer „Globalverfassung“; wieder werden internationale Spruchkörper errichtet und westliche politische und moralische Werte auf die restliche Welt erstreckt. Natürlich wird nicht länger das Christentum verbreitet, doch finden sich schon nach kurzem Suchen in den Menschenrechten eben diese christlichen Werte. Natürlich befinden wir uns im Post-Kolonialismus, doch wurde die koloniale Struktur nur durch eine neue Abhängigkeitsstruktur von uni- und multilateraler Entwicklungshilfe sowie durch die Kontrolle des Marktzugangs ersetzt. Der internationale Handel wächst wieder, und man setzt viele Hoffnungen auf die wachsende ökonomische Interdependenz sowie auf die Verrechtlichung der internationalen Handels- und sonstigen Beziehungen. Dieser Optimismus verdankt sich wesentlich dem Ende der ideologischen Konfrontation nach dem Kalten Krieg. Der Westen hat den Streit über die Natur der Vernunft in der Politik gewonnen, als die liberale, demokratische Sicht der Vernunft die marxistisch inspirierte Sicht der Vernunft besiegte. Doch wäre es ein Fehler zu glauben, dass sich die Konflikte des 20. Jahrhunderts aus einem Querstand von Visionen des Vernünftigen speisten. Gegen die Vernunft richtete sich der Zuschnitt des Politischen als Nationalismus mit den archaischen Tiefenstrukturen, von denen bereits die Rede war. Diese Tiefenstrukturen sind heute kaum weniger vorhanden als damals. Wir haben keine Veranlassung, der Fortschrittserzählung des Rechts Glauben zu schenken oder den Hoffnungsdiskurs der Verrechtlichung zu führen, wenn man an die Konflikte im früheren Jugoslawien, in Kaschmir, Kongo, Sudan oder Osttimor denkt. Tschetschenien, Irak und China/Taiwan sollten uns eigentlich eines Besseren belehren hinsichtlich des naiven Glaubens an das Recht. Gleichwohl verfallen wir allzu häufig in eine Art Rechts-Triumphalismus, für den es keine Rechtfertigung gibt. Das Völkerrecht ist hierfür das beste Beispiel. 5. Nomos und Narration im Völkerrecht Der Inhalt des modernen Völkerrechts erzählt die Geschichte vom Fortschritt; man könnte dies den Nomos des Völkerrechts nennen. Rechtsinhalte sind aber immer in begleitende Narrationen eingebettet, die den Rechtsinhalt beglaubigen und ihm Bedeutungen zumessen. Dies darf nicht unterschätzt werden: Rechtsinhalte sind auf Dauer nur in dem Maße stabil, wie sich die Glaubensinhalte der Bürger an ihnen ausrichten. Jeder Nomos muss durch eine Narration gestützt werden.9 Auch der

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tische Anregungen zur Theorie politischer Ordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, 1998; Sabine Jaberg, Kants Friedensschrift und die Idee kollektiver Sicherheit – Eine Rechtfertigung für den Kosovo-Krieg der NATO?, 2002; Nils Lange-Bertalot, Weltbürgerliches Völkerrecht – Kantianische Brücken zwischen konstitutioneller Souveränität und humanitärer Intervention, 2007; James Bohmann/Matthias LutzBachmann (Hrsg.), Perpetual Peace: Essays on Kant’s Cosmopolitanism, 1997. Robert M. Cover, The Supreme Court, 1982 Term – Foreword: Nomos and Narrative, Harvard L. Rev. 97 (1983), 4 ff. (4): “No set of legal institutions or prescriptions exists apart from the narratives that locate it and give it meaning. For every constitution there is an epic, for each Decalogue a scripture. Once understood in the context of the narratives that give it meaning, law becomes not merely a system of rules to be observed, but a world in which we live. In this normative world, law and narrative are inseparably related. Every prescription is insistent in its demand to be located in discourse – to be supplied with history and destiny, beginning and end, explanation and purpose. And every narrative is insistent in its demand for its prescriptive point,

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Nomos des Völkerrechts ist von einer Begleitnarration ummantelt. Doch geht diese Narration nicht konform mit dem Rechtsinhalt; Nomos und Narration widersprechen sich und laufen in ganz verschiedene Richtungen. Mit dem völkerrechtlichen Nomos verbindet sich ein Diskurs des Fortschritts. Die begleitende Narration aber spricht eine ganz entgegengesetzte Sprache. Im Nomos des Völkerrechts zeichnet sich eine historische Flugbahn ab, die vom soft law zum harten Recht und von der Souveränität des Königs, welche lediglich durch des Königs eigenes Gewissen begrenzt war, zur Politik der Menschenrechte führt. Diese Flugbahn kennzeichnet zugleich einen Vektor moralischen Fortschritts. Dieser beruht jedoch keineswegs darauf, dass Staaten heute williger zu humanitärer Intervention sind oder dass der Diskurs der internationalen Beziehungen moralisiert wurde. Internationale Beziehungen sind weiterhin einer „Realpolitik“ verschrieben, die man nicht nur in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten, sondern auch in derjenigen der neu auf den Plan tretenden Mächten wie China, Russland und Indien beobachten kann. Geändert hat sich freilich die Imagination einer neuen globalen Elite, die das Globale im Projekt der Moderne zu verorten trachtet. Kerngedanke ist der Versuch, soziale und politische Beziehungen durch die Anwendung von Vernunft prägen zu können. Das Recht spielt hierbei zugleich sowohl die Rolle des sichtbaren Zeichens als auch diejenige des Instruments. Mehr Recht bedeutet mehr Reform; mehr Reform bedeutet mehr Vernunft. Hier liegt also eine Verschiebung der Normativität von der Moral zum Recht. Dahinter steckt der Gedanke der Aufklärung, dass Menschen die Bedingungen ihres sozialen Miteinanders selbst schaffen können; der Weg ist derjenige der Vernunft. Daher ist das gegenwärtige institutionelle Design auch vorwiegend durch den Experten gekennzeichnet; dieser managt (ob individuell oder in institutionalisierter Form) die globalen Gemeinschaftsgüter ebenso wie die Voraussetzungen moderner Staatlichkeit, mögen diese finanzieller, handelsbezogener, kommunikativer, umwelt- oder gesundheitsbezogener Natur sein. Hier ist ein stark funktionaler Ansatz angelegt, der die Probleme der Welt multipel und funktional differenziert angeht. Sobald diese funktionale Herangehensweise einmal institutionalisiert war, begannen die entstandenen Institutionen sich vom Nationalstaat zu lösen und ihre eigene Praxis im Hinblick auf Werte, Ideale und Ziele zu schaffen. Zu nennen sind hier neben den Menschenrechten vor allem die internationale Handels-, Investitions- und Geldordnung sowie die Umweltregime. Die notwendige Folge war die berechtigte Frage, ob außerhalb dieser Verrechtlichung, Institutionalisierung und Autonomisierung des Vernünftigen ein Raum für die Souveränität der Staaten übrig blieb. Stellte sich die Welt nun nicht eher als Netzwerk miteinander verbundener Expertenregime dar, die auf lokaler, regionaler, nationaler, supra- und internationaler Ebene soziale Kooperation und Organisation hervorbrachten?10 Dann muss auch Funktion statt Souveränität Identität definieren. Einen Raum für Gewalt außerhalb des Rechts gibt es dann nicht mehr. Ein Blick auf die Realität der internationalen Beziehungen zeigt, dass diese anders aussieht. Während die völkerrechtliche Dogmatik in den letzten 100 Jahren immer its moral. History and literature cannot escape their location in a normative universe, nor can prescription, even when embodied in a legal text, escape its origin and its end in experience, in the narratives that are the trajectories plotted upon material reality by our imaginations.” 10 So zuletzt Gunther Teubner/Andreas Fischer-Lescano, Regimekollisionen: Zur Fragmentierung des globalen Rechts, 2006.

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differenzierter wurde, hat sich die Praxis der Staaten in vielen Bereichen genau in die Gegenrichtung entwickelt. Fordert das humanitäre Völkerrecht seit der Haager Landkriegsordnung eine Differenzierung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, führen die Staaten „totale Kriege“, rüsten mit Atomwaffen auf, die die gesamte Bevölkerung bedrohen, und drangsalieren die Zivilbevölkerung mit beispielloser Brutalität. Je ausgefeilter das rechtliche Instrumentarium zur Regulierung des Einsatzes militärischer Gewalt durch Staaten wird, desto gewalttätiger wird die Staatenpraxis. Das 20. Jahrhundert war sowohl das Jahrhundert der umfassenden Verrechtlichung internationaler Beziehungen als auch das Jahrhundert unvorstellbarer zwischenstaatlicher Gewalt. 6. Erklärung des Auseinandertretens von Nomos und Narration Es erscheint mir als zu einfach, diese gegensätzliche Entwicklung mit dem Hinweis auf die fehlende Durchsetzbarkeit völkerrechtlicher Normen zu erklären. Sicherlich wäre die Effektivität des Völkerrechts größer, wenn es einen starken Arm gäbe, der im Namen des Völkerrechts das Schwert führte. Doch bleibt der Hinweis auf die mangelnde Institutionalisierung an der Oberfläche des Problems. In dieser Erklärung erscheint die eine Seite – die staatliche Gewalt – immer als Pathologie, Aberration oder Holzweg. Diese Pathologie, so will es die Institutionenerklärung, konnte sich gegenüber dem zu schwachen Recht durchsetzen wie ein Virus gegenüber dem zu schwachen Immunsystem. Demgegenüber ist das Recht in dieser Erzählung das Instrument, das die Menschheit aus einem Zustand der Gewalt in einen Zustand der Ordnung und des Friedens überführen wird; daher muss alles getan werden, um erstens mehr Verrechtlichung zu erreichen (und den Naturzustand, in dem ein Staat dem anderen ein Wolf ist, einzudämmen) und um zweitens eine gesicherte Durchsetzung des Rechts zu garantieren. Je mehr Recht und je bessere Rechtsdurchsetzung, desto mehr Frieden und Fortschritt. In der Folge werden vielfältige Deutungs- und Reformangebote gemacht, die von der „internationalen Gemeinschaft“ über „internationales Verfassungsrecht“ bis hin zum „Weltinnenrecht“ und zur „Weltverfassung“ reichen. Doch lässt dies unberücksichtigt, dass in der jeweiligen Situation die Gewalt Sinn ergab. Dieser Sinn entsprach Bedeutungen, die für das Leben der Menschen handlungsanleitenden Charakter besaßen. Selbst wenn sich uns der Sinn nicht länger erschließt, war er einmal vorhanden. Die politischen Narrationen der Gewalt sind immer mit den Narrationen des Staates synchron. Gewalt erscheint stets als dringende Notwendigkeit für die gesamte Bevölkerung. Dabei geht es so gut wie nie um die möglicherweise schlimmen Zustände nach einer Niederlage. Es geht nicht darum, dass nach einer Niederlage die Zivilgesellschaft angeschlagen oder zerstört sein könnte oder dass die Menschen in schlechteren Umständen leben müssten. Es geht vielmehr um die Unmöglichkeit, eine Niederlage zu imaginieren. Jede militärische Niederlage bringt das Ende einer politischen Ordnung, eine „Re-Formation“ des Staates. Verfassungen überleben Kapitulationen nicht.11 Nicht die Zivilgesellschaft ist das Objekt, um das es geht, sondern der Staat. Wie sonst ist zu erklären, dass die Nuklearrüstung des Kalten Krieges in eine Abschreckungslogik mündete, die im Versagensfall die 11

Hannah Arendt, On Revolution (1963), 1990, 15.

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gesamte Bevölkerung getötet hätte? Der Staat selbst nimmt eine quasi-sakrale Natur an, die es zu schützen gilt. Eine Niederlage ist deshalb nicht hinnehmbar, weil sie den Tod des politischen Kollektivs – der imaginierten Körperschaft – bedeutet.12 Wir leben nach wie vor in einem symbolischen Universum, in dem wir es für legitim halten, individuelle Leben für das Leben des Kollektivs und individuelle Körper für den mystischen Körper des Staates zu opfern. Im Zentrum dieser Imagination steht der Staat selbst, nicht der Bürger an sich. Der Staat liebt nur sich selbst. Die Tatsache, dass Gewalt – auch Gewalt in einer nicht durch das Recht gedeckten Form – zu einem bestimmten Zeitpunkt sinnvoll und notwendig erscheint, deutet darauf hin, dass wir offenkundig unterschiedlichen normativen Strukturen verpflichtet sind. Einerseits wollen wir Gerechtigkeit und Vernunft in den internationalen Beziehungen; als Instrumentarium wählen wir das Recht. Andererseits fühlen wir uns auch anderen Werten als Gerechtigkeit und Vernunft verpflichtet, denn wir reagieren auf Opferansprüche, die in ihrer extremen Reichweite weder durchweg gerecht noch vernünftig sind, und empfinden sie als legitim. Die Gleichzeitigkeit von sich ausweitender Juridifizierung und sich ausweitender Gewalt lässt Rechtserzählung einerseits und politische Erzählung andererseits im 20. Jahrhundert auseinandertreten; die Last dieses Auseinandertretens kann von dem simplen Hinweis auf die mangelnde institutionelle Stärke des Rechts nicht getragen werden. Vielmehr lässt die Gewalt des letzten Jahrhunderts eine Metaphysik mit eigener politischer Philosophie vermuten, die ihrerseits handlungsanleitend ist. Wir nähern uns dem Problem, wenn wir mehrere normative Strukturen vermuten: Eine Struktur, die wir als Fortschritt im und durch das Völkerrecht kennen, und eine andere Struktur, die wir häufig als überwunden empfinden, die aber nach wie vor ein symbolisches Universum konstituiert, in dem wir uns befinden und das unsere Realität ebenso wie unseren Begriff von Legitimität formt. In diesem Universum existiert nach wie vor ein Raum der Gewalt, der sich durch Recht nicht einfangen lässt. 7. Konsequenzen für das Studium des Rechts Dieses Ergebnis verträgt sich weder mit dem vertrauten Bild, das wir vom Recht haben, noch verträgt es sich mit der Therapie, die Juristen – und zunehmend Politikwissenschaftler und politische Philosophen – bei der Diagnose von Problemen im Politischen verordnen. Erstens ist das Versprechen, dass ein Mehr an Recht zu einem Mehr an Zivilisierung des Eros von Staaten führt, nicht gedeckt. Mehr Recht, so glaubte man, bedeutet mehr Reform; mehr Reform bedeutet mehr Vernunft, auch in der Ordnung des Politischen. Dies ist nicht der Fall. Zweitens ist das Recht keine vollständige Imagination des Politischen. Trotz der Geschlossenheit des Rechtssystems erscheint das Recht nur aus der Perspektive des Rechts geschlossen. Es gibt Bereiche, die vom Recht nicht erreicht werden; das Recht

12 Dazu erhellend Peter Berghoff, Der Tod des politischen Kollektivs: Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse, 1997; Martin Papenheim, Erinnerung und Unsterblichkeit: Semantische Studien zum Totenkult in Frankreich, 1992.

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hat durchaus blinde Flecke. Dies hat weniger mit der Regelungsmacht des Rechts zu tun als vielmehr mit konkurrierenden normativen Verschreibungen des Selbst. Drittens spiegelt sich in diesen Folgerungen lediglich eine kulturelle, identitätsbezogene Ambivalenz gegenüber dem Recht wider, die tief in der abendländischen Tradition verwurzelt und allen zumindest intuitiv bekannt ist. Einerseits sehen wir den Rechtsstaat als hohes politisches Ideal an und halten ihn für eine beispiellose Errungenschaft. Andererseits erhoffen wir eine (politische) Gemeinschaft jenseits des Rechts, deren Maßstäbe anderswo (etwa in der Liebe) liegen. Recht ist zugleich Triumph und Tragödie. Der Triumph liegt in der Bezwingung eines chaotischen und destruktiven Naturzustandes; die Tragödie liegt in der Konzentration auf das Weltlich-Profane. Die Tragödie findet sich in der klassischen christlichen Tradition des Paulus, in der das Recht die Domäne des durch den Sündenfall gekennzeichneten Menschen ist. Danach ist gewiss, dass wir die Erfahrung unserer selbst als zutiefst fehler- und sündenbehaftet nicht im Recht oder durch das Recht überwinden können. Recht ist Fleisch, nicht Geist. Nur durch die Liebe kann etwas vom Göttlichen wiedergewonnen werden. Höchste Wahrheit und wirkliche Freiheit existieren nur jenseits des Rechts.13 Dieses religiöse Tragödien-Thema wurde in der modernen politischen Theorie in säkulare Begriffe umformuliert und zu einer Triumpherzählung. Als vorpolitische 13 Seit Paulus assoziiert das Christentum Recht mit dem Tod und Liebe mit der Neugeburt in und durch Christus. Vgl. insbesondere die Aussagen im Römerbrief und im Galaterbrief. „So seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz gestorben durch den Tod Christi, so dass ihr einem andern gehört, nämlich dem, der von den Toten auferweckt ist, damit wir Gottes Frucht bringen.“ (Römer 7, 4) „Denn die aus den Werken des Gesetzes leben, die sind unter dem Fluch.“ (Gal. 3, 10) „Denn das ganze Gesetz findet seine Erfüllung in dem einen Gebot: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‘“ (Gal. 5, 14) „Christus aber hat uns von dem Fluch des Gesetzes erlöst…“ (Gal. 3, 13). Dies ist nach wie vor Gegenstand moderner christlicher Theologie. So traut etwa Tillich dem Gesetz zwar so manches zu: „Das Gesetz ist vor allem göttliches Geschenk; es zeigt dem Menschen seine essentielle Natur, seine wahre Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst.“ (Paul Tillich, Systematische Theologie II, 1987, 90). Aber er warnt vor dem „legalistischen Weg der Selbst-Erlösung“ und meint: „Die Bedingungen der Existenz machen das fordernde Gesetz notwendig und seine Erfüllung unmöglich. Das gilt von jedem einzelnen Gebot sowie vom allumfassenden Gesetz – dem Gesetz der Liebe. … Wo immer der Legalismus als ein Weg zur Selbst-Erlösung versucht wurde, hat er zur Katastrophe geführt. … [D]ie Unfähigkeit des Legalismus, die Wiedervereinigung des Existierenden mit dem Wesenhaften zu erreichen, nimmt ihm die Möglichkeit, zum Heilsweg zu werden.“ (Ebd., 90 f.; ähnlich ders., Systematische Theologie III, 1987, 62 ff.). Auch die politische Theorie nimmt hiervon Kenntnis und zieht Konsequenzen, vgl. z.B. Massimo Cacciari, Gewalt und Harmonie: Geo-Philosophie Europas, 1995, 113: „Käme die Gerechtigkeit aus dem Gesetz, so wäre Christus umsonst gestorben und das Christentum hätte keine Daseinsberechtigung (Gal. 2, 21). Unmöglich kann das Gesetz Ursprung sein: Wenn wir es anerkennen, so ist das hauptsächlich auf Zweckmäßigkeitskriterien beruhende Übereinkunft und nichts anderes. Wir leben in dieser Welt, als ob wir dem Gesetz unterworfen wären, in Wirklichkeit aber sind wir als Kinder und Erben Gottes völlig frei. … Jedes Bild von Wurzel und Ursprung, jede Vorstellung von iustissima tellus muß in unserem Zeitalter, mit der unbesiegbaren Wahrheit, die im ‚éndon ánthropos‘, der Ikone der civitas Dei, wohnt, dialektisch werden.“ (Hervorhebungen im Orig.). Ausführlich Alain Badiou, Paulus: Die Begründung des Universalismus, 2002, v.a. 141 ff., 161 ff.; vgl. auch Slavoj Žižek, Die Puppe und der Zwerg: Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, 2003, 94 ff.; Daniel Boyarin, A Radical Jew: Paul and the Politics of Identity, 1994; Jacob Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, 2. Aufl. 1995.

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Quelle menschlicher Gemeinschaft wurde der Sündenfall durch den Naturzustand ersetzt. Aus Sicht politischer Theorie bestand das Problem nun nicht länger darin, Erlösung durch Gottes Gnade zu erlangen, sondern darin, ungehemmten Leidenschaften durch disziplinierende Vernunft einen Riegel vorzuschieben. Politische Gemeinschaften konnten von nun an auf religiöse Inspiration oder göttliche Führung verzichten; sie waren allein das Produkt menschlicher Vernunft. Maßstab war nicht länger die Gemeinschaft sich selbst verleugnender Heiliger, sondern das Ideal einer Gemeinschaft sich selbst verwirklichender Einzelner, die erfolgreich soziale Kooperation hervorbrachten. Das Instrument, mit Hilfe dessen der Schritt vom Naturzustand zur politischen Ordnung vollzogen wurde, war der Gesellschaftsvertrag – eine säkulare Errungenschaft, deren Vervollkommnung sich seit Hobbes die gesamte politische Theorie widmet. Das Recht begegnet der Unordnung mit Ordnung, den Leidenschaften und Begierden mit Vernunft. Es handelt sich aber nicht um ein religiöses Problem: Aus Sicht politischer Theorie mündet ungehemmte Begierde nicht in Sünde, sondern in Ungerechtigkeit. Der Triumph des Rechts ist also verknüpft mit der säkularen Tradition des Liberalismus und des Sozialvertrags. Beide Traditionen zugleich bestimmen nach wie vor unser ambivalentes Verhältnis zum Recht. Während wir den Rechtsstaat preisen und uns selbst als seine Hüter ansehen, geißeln wir gleichzeitig das Recht, da es lediglich unseren verkommenen moralischen Zustand reflektiert. Wir wollen uns als Rechtsgemeinschaft (und eben nicht mehr als kulturell oder ethnisch homogene Volksgemeinschaft) definieren und mißtrauen zugleich dem Recht, das diesseitig und ungerecht erscheint. Obwohl solche Ambivalenzen unsere Identität prägen, werden die kulturellen Dimensionen des Rechts in der Wissenschaft vom Recht selten thematisiert. Wer sich über sie informieren will, sucht bei Juristen zumeist vergebens. Reformvorschläge, wie sie in juristischen Beiträgen häufig gemacht werden, können die Ambivalenz des Rechts niemals lindern, denn diese ist in den Gründungsmythen des Rechts selbst angelegt. Es existiert auch kein besonderer Druck, sie aufzulösen: Man glaubt an die Herrschaft des Rechts und zweifelt doch an ihr. Aber es fehlt an einer Rechtswissenschaft, die der Analyse von Recht als Imaginationsform einen angemessenen Platz einräumt. III. VERORTUNG

UND

UMRISSE

EINER

KULTURTHEORIE

DES

RECHTS

1. Ausgangspunkt: Rechtswissenschaft als Wissenschaft Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist der disziplinäre Zuschnitt der Rechtswissenschaft als Wissenschaft. Dem Recht ist eine potentielle Lösung von praktischen Konflikten eigentümlich, so dass es stets eine anwendungsorientierte Perspektive gibt. Rechtswissenschaft wird dementsprechend häufig dann als qualitativ wertvoll wahrgenommen, wenn sie zwar einerseits Theoriebezug aufweist, andererseits aber auf die konkrete Problemebene der Praxis des Alltags und ihrer Beispiele heruntergebrochen wird. Dadurch nimmt die Theorie an der Praxis als Prolog, Voraussetzung, Kritik und Reflexion teil. Reformvorschläge werden als angemessenes Ziel rechtswissenschaftlicher Tätigkeit akzeptiert. Problematisch ist dabei, dass die Grenze zwischen demjenigen, der das Recht als Objekt studiert, und demjenigen, der das Recht prak-

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tiziert, in sich zusammenfällt. Rechtswissenschaft als Reflexionswissenschaft geht in der Rechtspraxis auf; das Studienobjekt Recht wird dadurch invisibilisiert, dass sich der Rechtswissenschaftler von vornherein als Einwohner der „Republik des Rechts“ versteht.14 Richter, Professoren und Anwälte bewegen sich in einem einzigen Universum; regelmäßig überschreiten Karrieren die Grenzen zwischen Wissenschaft und Praxis. Ein kritischer Raum, der Wissenschaft und Praxis trennt, wird immer kleiner. Alle wollen sagen, was Recht ist, indem sie sagen, was das Recht sein sollte. Dies gilt nicht nur für die tägliche rechtsdogmatische Arbeit, sondern auch und möglicherweise gerade für theoriegeleitete radikale kritische Projekte. Es gibt eine Vielzahl von Theorien, die sich bemühen, einen kritischen Raum zu schaffen. Man mag etwa an die Freirechtsschule oder neuere Theorien wie Dekonstruktion, Feminismus oder die ökonomische Analyse denken; in den USA sind Rechtsrealismus und die Nachfolgebewegungen Critical Legal Studies und law and economics prominente Beispiele. Keiner dieser Bewegungen ist es bislang dauerhaft gelungen, die Welt der traditionellen dogmatischen Rechtswissenschaft und ihrer impliziten Wissensbehauptungen aufzubrechen. Entweder verschwinden solche Überlegungen nach einer Weile, oder sie wandern über die Grenze, die Wissenschaft und Praxis trennt, und werden Teil der dogmatischen Sprache. Wir können dies als Zeitzeugen bei der sog. Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft beobachten. Der kritische Raum, der sich kurz auftat, schließt sich wieder. Dies ist kein Zufall. Die regelmäßige Bewegung von der Kritik zur Teilnahme ist das Produkt der Eigenschaften des Rechts. Rechtsregeln sind nicht die Regeln eines Spiels, das man spielen kann oder eben nicht. Recht erscheint als legitime Quelle von Autorität. Diese Legitimationsfunktion kann das Recht nur erfüllen, wenn es als objektiv, neutral und kohärent erscheint.15 Natürlich kann man diese Attribute angreifen und Stück für Stück widerlegen. Der Rechtsrealismus beispielsweise hat die Attribute der Objektivität, Neutralität und Kohärenz umfassend diskreditiert. Das Ergebnis ist für das Milieu der Rechtswissenschaftler kaum zu ertragen, denn der Rechtsdogmatiker sieht dann aus wie ein schmieriger Versicherungsvertreter, der sich zu Unrecht durch die Tür der Wissenschaft gedrängt hat. Nicht nur den Gegenbewegungen des Milieus aber ist es zu verdanken, dass trotz der Diskreditierung die Kraft der Rechtsattribute fast ungebrochen ist. Da sie eine Legitimationsfunktion erfüllen, kann man sie nicht einfach über Bord werfen. Dann nämlich stünde man mit leeren Händen da, es sei denn, man findet neue Kriterien für die Legitimation von Herrschaft durch Recht. Die Suche nach

14 Statt vieler Ronald Dworkin, Law’s Empire, 1986, 90: „Jurisprudence is the general part of adjudication, silent prologue to any decision at law.“ 15 Recht wird in der Kulturtheorie des Rechts zwar (auch) als Tradition und Erfahrung verstanden; jedoch handelt es sich um eine Tradition und eine Erfahrung, die fest in den Anschauungen der Aufklärung über den Ort der Vernunft im Gemeinwesen verwurzelt ist. Kein Richter kann legitimerweise Recht sprechen, wenn er zugleich von der Erde als Scheibe spricht, während alle anderen von der Erde als Kugel reden. Vernunft ist in modernen Gesellschaften zwar keine ausreichende, aber doch eine notwendige Voraussetzung von Legitimität. Dies hat auch zur Konsequenz, dass ein Recht, das sich der Vernunft verschreibt, und eine Vernunft, die einen stetig wachsenden Wissensfundus produziert, zu einer Rechtsordnung führen, die ununterbrochen für auf neue Wissensbestände rückführbare Reformen offen ist.

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ihnen findet in Gestalt der „Recht und XY“-Bewegungen statt, und sie war bisher wenig erfolgreich. Das größte Problem dieser Bewegungen besteht darin, dass sie Recht demaskieren und auf der Grundlage einer außerrechtlichen Werteerkenntnis rekonstruieren. Der Rechtsrealismus etwa betrachtet Recht als Mechanismus, mit dessen Hilfe Macht zwischen gesellschaftlichen Akteuren aufgeteilt wird. Der Schleier der Prätention des Rechts (Objektivität, Neutralität, Systematik) wird durchstoßen, um den „wahren“ Kern freizulegen: Rechtliche Entscheidungen lassen sich nur aufgrund der dahinterstehenden Interessen (politischer, ökonomischer, psychologischer Art) erklären. Die Wahrheit liegt in diesen Interessen, nicht in objektiver Vernunft begründet; Recht ist nicht autonom, sondern instrumentell. Die Wissenschaftlichkeit des Rechts wird vehement abgestritten, nur die Sozialwissenschaft erlaubt die wissenschaftliche Ordnung rechtlicher Phänomene. Eine Rationalität wird hier durch die andere ausgetauscht; das Recht wird durch ein „anderes“ Recht ersetzt, das für die außerrechtliche „Wahrheit“ offen ist. Es wird deutlich, dass dem Recht selbst kein autonomer Platz eingeräumt wird. Es erscheint lediglich als Schleier; seine Sprache und seine Praktiken werden als solche nebensächlich. Das Verhältnis zwischen Recht und politischer Handlung wird so konstruiert, dass für Recht als eigene, spezifische Imagination des Politischen kein Raum bleibt. Es ist zweifelhaft, ob damit das Universum des Rechts ausgemessen ist. Natürlich ist Rechtswissenschaft keine formale Wissenschaft, und die Rule of Law ist selbstverständlich nicht das, was sie zu sein vorgibt: objektiv, neutral und deduktiv. Dennoch ist die Welt des Rechts eine solche, die aus sich heraus – das heißt ohne den notwendigen Rückgriff auf außerrechtliche Erklärungsmuster – etwas zu bieten hat. Sie ist ein spezifisches Glaubenssystem, durch dessen Brille man sehen und den Rest der Welt verstehen kann. Das Recht strukturiert die Vorstellung, bevor es das Politische strukturiert. Hierin liegt die eigentliche Macht des Rechts.16 2. Ambition: Rekonstruktion der Konstitutivität des Rechts Damit steht die Ambition der Kulturtheorie des Rechts fest. Es geht um die Rückgewinnung und Bergung dessen, was das rechtliche Wissen außer Sichtweite gebracht hat. Dies ist eine zweifache Aufgabe. Einerseits ist in Rechnung zu stellen, dass das Recht eine konstitutive Rolle für Einzelne und Kollektive spielt und dass Macht und Interpretation Hand in Hand gehen. Andererseits darf man nicht das Interesse an Ansprüchen aufgeben, die das Recht im Hinblick auf Objektivität, Neutralität und Kohärenz erhebt. Einerseits ist also zu berücksichtigen, dass Recht nur im Zusammenhang mit anderen kulturellen Produkten als Teil eines Netzes sozialer Beziehungen begriffen werden kann. Man kann es nicht als Abstraktum beobachten, sondern als Ort sozialen Konflikts mit bestimmten institutionellen und rhetorischen Ressourcen. Hier stimme ich den Ansätzen der Kulturwissenschaften zu. Andererseits kann eine kulturell informierte Rechtswissenschaft auch nicht an der Einsicht vorbeigehen, dass die Autonomie des Rechts durch diejenigen, die am Rechtsdiskurs teilhaben (etwa Richter, Anwälte und Professoren), beständig reifiziert wird. Das Erkenntnisinteresse 16 Paul W. Kahn, The Cultural Study of Law: Reconstructing Legal Scholarship, 1999.

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richtet sich dann darauf, welche Vorstellungswelt hinter der Verwendung und Objektivierung von rechtlichen Konzepten wie der Volkssouveränität, der verfassungsgebenden Versammlung, der Normenhierarchie und des Willens des Gesetzgebers steht. Wie beeinflusst diese rechtliche Imagination die Vorstellung von Gemeinschaft und Selbst, wieso erscheint dieser Diskurs so „natürlich“? Wir fragen also nach der Beschaffenheit des Glaubens an die Welt des Rechts. Wie ist es den Gerichten gelungen, sich selbst als Stimme des Volkes erscheinen zu lassen? Was sehen wir eigentlich, wenn wir Gerichte sehen? 3. Aufgabe: Kritischer Raum zwischen Wissenschaft und Praxis Was ist Voraussetzung für eine Untersuchung mit dieser Ambition? Wir benötigen einen Raum, an dem sich das Studium des Rechts vom Zwang der Reform emanzipieren kann. Die Schaffung eines solchen Raumes ist die Aufgabe der Kulturtheorie des Rechts. Sie kann nur gelingen, wenn die Rechtswissenschaft Distanz zu den Inhalten ihrer eigenen Disziplin gewinnt. Diesen Gedanken kann man vergleichen mit dem Studium der Religion im 19. Jahrhundert. Religionswissenschaft war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts keine eigenständige Disziplin, sondern Teil religiöser Praxis. Ihr Ziel bestand in einer zunehmenden Verwirklichung christlichen Lebens in der Welt: Reform innerhalb, Konversion außerhalb christlicher Gemeinden. Religionswissenschaftler akzeptierten den christlichen Glauben und seine Werte als Fundament ihrer Arbeit. Religionswissenschaftliche Arbeiten vermochten religiöse Ideen zu erklären oder auszudifferenzieren; sie mochten auch die Richtigkeit des christlichen Glaubens nachzuweisen versuchen. Es existierte jedoch keinerlei kritische Distanz zu dem Glauben, der studiert werden sollte. Erst als es möglich wurde, den Glauben an das zu studierende Objekt zumindest zeitweilig einzustellen, konnte die Religionswissenschaft als „tatsächliche“ Wissenschaft entstehen.17 Es musste das Erkenntnisinteresse an Fragen aufgegeben werden, die auf die Wahrheit des christlichen Glaubens oder die korrekten Glaubensinhalte eines wahren Christen zielten. Stattdessen musste man sich Fragen wie derjenigen zuwenden, welchen Einfluss der christliche Glaube auf die Erfahrungswelt des Einzelnen besitzt. Eine Kulturtheorie des Rechts überträgt diesen Gedanken auf die Rechtswissenschaft. Ebenso wie der Religionswissenschaftler sich nicht Fragen nach dem korrekten Glauben an die Dreifaltigkeit stellen müssen soll, soll sich auch der Wissenschaftler in der Kulturtheorie des Rechts nicht Fragen aussetzen müssen, die ausschließlich systeminterne Bedeutung haben. Das Erkenntnisinteresse der Kulturtheorie des Rechts besteht nicht in der Gültigkeit solcher Glaubenssätze, sondern darin, welche Bedeutung diese Sätze für die Erlebniswelt der jeweiligen Glaubensgemeinschaft haben. Rechtswissenschaft und Rechtspraxis sind daher zumindest manchmal zu trennen. Rechtswissenschaftler, die diesen Weg beschreiten, verabschieden sich vom Projekt der nimmerendenden Reform. Die Entwicklung einer Forschungsdisziplin außerhalb der 17 Karl-Heinz Kohl, Geschichte der Religionswissenschaft, in: Herbert Cancik/Burkhard Gladigow/Matthias Laubscherer (Hrsg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe Bd. I, 1988, 217 ff.

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Rechtspraxis erfordert dann eine Neuorientierung der Forschungsvorhaben. Statt nur danach zu fragen, wie man das Recht verbessern könne, kann man Raum schaffen für den akademischen Versuch, den Platz des Rechts in der Kultur zu verstehen und die Macht zu beschreiben, die das Recht über die Imagination der Bürger besitzt. Die Kulturtheorie des Rechts fragt nach den konzeptionellen Bedingungen einer sozialen Praxis, welche wir die Herrschaft des Rechts oder Rule of Law nennen. Die Suche nach der Antwort setzt nicht die Praktizierung des Rechts voraus. 4. Ansatz: Recht als symbolische Form Inhaltlich muss sich die Kulturtheorie einen Ansatz suchen, der die doppelte Aufgabe – also den eigentümlichen Querstand von Kontingenz und Notwendigkeit – ernst nimmt. Als solche bietet sich eine Betrachtung an, die das Recht als symbolische Form begreift; intellektuelle Paten sind insbesondere Ernst Cassirer, daneben Clifford Geertz, Susanne Langer, Michel Foucault, Charles Taylor und Paul Kahn. Recht ist keineswegs ein Normenkörper, der von außen auf den Gesellschaftskörper einwirkt. Recht ist vielmehr eine bestimmte Art, die Welt zu beobachten und zu verstehen. Recht ist kein Ding, sondern eine Perspektive. Wer durch die Brille des Rechts schaut, blickt auf das Politische, und zwar aus einem ganz bestimmten Blickwinkel. Das Recht verleiht dem Beobachteten einen spezifischen, dem Recht eigenen Sinn. Bevor es dem Politischen eine Form gibt, gibt es unserer Imagination des Politischen eine Form. Damit ist Recht eine Imaginationsform. Seine Macht liegt nicht in objektivierbaren Fakten, sondern in seiner Möglichkeit, die auf die Bedeutung des Politischen bezogene Imagination zu stabilisieren. In Anlehnung an Cassirer ist Rechtswissenschaft insofern „nicht Erkenntnis äußerer Fakten oder Ereignisse; sie ist eine Form der Selbsterkenntnis“.18 Deutlicher wird dies in Analogie zur Sprache. Es gibt für uns keine Existenz jenseits von Sprache, ebenso wenig wie umgekehrt Sprache jenseits individueller Existenzen denkbar ist. Unser Verständnis von Sprache ist untrennbar verbunden mit dem Gebrauch von Sprache. Wir sind mit anderen Worten durch ein soziales Phänomen geprägt, welches wiederum von uns selbst abhängig ist, die wir ja gerade durch dieses Phänomen geformt werden. Man gibt sich selbst keine Sprache, sondern wird in sie hineingeboren; man gehört seiner Sprache mehr, als diese einem selbst gehört. Gleiches gilt für das Recht. Niemand lebt hinter einem Schleier des Nichtwissens als ausfüllungsbedürftiger Platzhalter, sondern man registriert sich selbst zunächst als Bürger – auch Rechtsbürger – eines bestimmten Gemeinwesens. Das Recht konstituiert die Erfahrung des Selbst und des Anderen. Es ist Teil des kulturellen Bedeutungs- und Symbolgewebes, in das der Mensch verstrickt ist. Damit ist Recht integraler Bestandteil dessen, was es regelt. Recht beeinflusst uns nicht von außen, sondern ist Teil unseres Selbstverständnisses. Wir beginnen uns zu sehen, wie das Recht uns sieht, indem wir an der Konstruktion von Bedeutungen teilnehmen, die 18 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen: Einführung in eine Philosophie der Kultur, 1996, 291. Cassirer bezog dies auf die Geschichtswissenschaft. Seine wenigen Ausführungen zum Recht lassen diese Aussage aber auch auf die Rechtswissenschaft anwendbar erscheinen: Ernst Cassirer, Axel Hagerström: Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart, GW Bd. 21, 2005, 81 ff.

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das Recht vornimmt. Wir internalisieren die Repräsentationen, die das Recht von uns formt, und können unsere Ziele und Einsichten nicht länger von ihnen trennen. Dementsprechend hat sich die Kulturtheorie des Rechts auf das Bedeutungssystem des Rechts zu konzentrieren, das sich in Symbolen materialisiert. Ihr zentraler Auftrag besteht darin, diesen symbolischen Formen nachzugehen und die Bedeutungen sichtbar zu machen, die Menschen einerseits an das Recht herantragen und die sie andererseits aus dem Umgang mit ihm gewinnen. Reizvoll am Ansatz symbolischer Formen ist insbesondere, dass er sowohl ein Gespür für die innere Vollständigkeit und Kohärenz einer symbolischen Form als auch für ihre vollständige Kontingenz besitzt. Einerseits ist jede symbolische Form – handele es sich nun um Sprache, Mythos, Kunst oder Religion – in sich vollständig; jede symbolische Form konstruiert ein ganzes Universum von Bedeutungen. Andererseits leben wir notwendig und gleichzeitig mit verschiedenen symbolischen Formen. Jeder kann dies im Alltagserleben nachvollziehen; es ist selbstverständlich, dass ein Faktum in einer symbolischen Form Bedeutung A, in einer anderen symbolischen Form Bedeutung B besitzt. Wir sind geübt darin, die Bedeutungen voneinander getrennt zu halten, indem wir unsere Erfahrungen entsprechend organisieren. Wir praktizieren unseren religiösen Glauben in der Kirche und leben unseren Ästhetizismus im Museum aus. Aber wir besitzen beständig ein Bewusstsein von der potentiell unbeschränkten Reichweite jeder dieser symbolischen Formen ebenso wie von den möglichen Konflikten zwischen ihnen. 5. Instrumente: Architektur und Genealogie Die Analyse der symbolischen Formen – also auch des Rechts – bedarf einer Methode. Dies gilt um so mehr, als gerade den Kulturwissenschaften nicht zu Unrecht methodische Unordnung vorgeworfen wird. Die Methoden, die die Kulturtheorie des Rechts zur Verfügung hat, sind die Architektur und die Genealogie.19 Die architektonische Analyse hat zwei Aufgaben. Die erste Aufgabe besteht in der Identifizierung von Struktur und Aufbau der symbolischen Form an sich. So kann man über das Recht z.B. sagen, dass es – wie eine Sprache – über eine bestimmte Grammatik verfügt. Im Recht sind das Subjekt (niemand), das Verb (repräsentieren), das Objekt (der Volkssouverän) und das Tempus (die Vergangenheit) definiert. Andere symbolische Formen besitzen eine andere Grammatik. Politische Handlung beispielsweise besitzt ein personalisiertes Subjekt, einen anderen Repräsentationsbegriff als Verb und insbesondere ein anderes Tempus (Präsens und Futurum). Die Worte des Politischen, betrachtet durch die Brille der symbolischen Form „politische Handlung“, formen also einen Satz mit einer ganz anderen Bedeutung als derjenigen, die im Recht entsteht. Die architektonische Analyse beschreibt demnach die Form und die Struktur der Erfahrung, die wir heute vom Recht besitzen, indem sie die dem Recht eigenen Konzeptionen beschreibt. Die zweite Aufgabe der architektonischen Analyse besteht darin, die fremden symbolischen Formen (etwa politische Handlung) zu identifizieren und zu beschreiben. Dies ist deshalb wichtig, weil erstens die rechtliche Grammatik hieran geschärft werden kann und weil zweitens das Recht 19

Kahn (Fn. 16), 40 ff., 91 ff.

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mit den anderen symbolischen Formen auf vielfältige Weise interagiert. Stehen die symbolischen Formen generell im Wettbewerb miteinander, kooptieren sie sich doch manchmal. Recht beispielsweise kann nur aus einem Akt politischer Handlung heraus entstehen. Ohne Recht hat diese Handlung kein Gedächtnis; ohne Handlung kann kein Recht entstehen. Solche Verknüpfungen spielen für die Kulturtheorie des Rechts eine zentrale Rolle. Im Spannungsfeld von Kontingenz und Kohärenz, das die Kulturtheorie im Recht ausmacht, übernimmt die architektonische Analyse den Part, die Kohärenz zu betonen. Neben der architektonischen Analyse steht der Kulturtheorie des Rechts die Genealogie zur Verfügung. Der genealogischen Untersuchung kommt die Aufgabe zu, die Natur des Glaubens an das Recht auf die Tradition westlicher Kultur zurückzuführen; sie lokalisiert sie innerhalb der Erfahrung des Staates. Das moderne Verständnis von Recht ist ein Produkt zweier fundamentaler kultureller Übergänge: des Übergangs vom religiösen zum säkularen Verständnis politischer Ordnung und des Übergangs vom Verständnis des Monarchen zum Verständnis des Volkes als Souverän. Viele der Begriffe und Konzeptionen, die zur Beschreibung der politischen Ordnung verwendet werden, wurden durch diese doppelte Entwicklung hindurchgereicht. Allerdings finden die Übergänge nicht als abrupte Wandlung, sondern als Anpassungsprozess statt. Dementsprechend tragen die Konzepte und Begriffe nach wie vor Bedeutungen in sich, die sie aus ihrer Vergangenheit mitschleppen – Trümmer und Überbleibsel vergangener Tage, die eine genealogische Untersuchung ausgräbt. Dies bedeutet, dass sich die Kulturtheorie des Rechts mit dem historischen Weg auseinanderzusetzen hat, den diese Glaubenssysteme genommen haben. Im Spannungsfeld von Kontingenz und Kohärenz betont die genealogische Analyse die Kontingenz. 6. Normativer Status Es ist notwendig, kurz zum normativen Status dieses Ansatzes Stellung zu nehmen. Eigentlich ist es selbstverständlich, dass derjenige, der über die Tiefenstruktur einer Imagination spricht, diese nicht notwendigerweise für erstrebenswert erachtet. Der Versuch, die Herkunft und die Konstellationen unserer Glaubenssysteme – auch des Rechts – zu verstehen, ist etwas anderes, als die Voraussetzungen philosophisch zu befragen, unter denen Herrschaft legitim ist. Letzteres ist ein Projekt politischer Rechtfertigung und damit Teil normativer politischer Theorie; ersteres hingegen nicht. Dabei geht es nicht darum, ein Super-Beobachter zu sein, der sich objektives oder neutrales Wissen anmaßt. Keinem Forschenden ist es möglich, Zugang zu einem wahren oder essentiellen Subjekt zu finden oder sich ganz von seiner kulturellen und sozialen Umgebung zu lösen. Man kann weder den Bedingungen seines Wissens noch seinen eigenen moralischen Urteilen ausweichen. Dies gilt verstärkt für eine Untersuchung des Rechts, die unsere tiefstverwurzelten Glaubensstrukturen auf den Plan ruft und in Frage stellt. Insofern scheint die Kulturtheorie des Rechts nur eine widerlegbare soziale Konstruktion durch eine andere zu ersetzen. In der Tat stellt eine kulturelle Herangehensweise an das Recht keinen Schritt auf dem fortschrittlichen Weg in Richtung Wahrheit dar, weder in empirischer noch in normativer Hinsicht. Dies wäre unmöglich; es ist auch gar nicht notwendig. Es ist ausreichend zu sehen, dass viele unterschiedliche Positionen existieren, von denen aus Erfahrungen und

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Bedeutungen beobachtbar und interpretierbar sind, und dass sich aus der Zusammenschau dieser Positionen ein immerhin erhöhtes Bewusstsein von der Besonderheit und Kontingenz jeder einzelnen Position ergeben kann. Nicht verhehlen will ich, dass ich es für wichtig halte, die Vorstellungen, die so viele Individuen besitzen und die ein Gewebe von Bedeutungen hervorgebracht haben, das wir heute Rule of Law nennen, mit Respekt zu behandeln. Dieser Respekt bedeutet nicht, Ungerechtigkeit, Unterdrückung oder Ungleichheit zu ignorieren. Es bedeutet aber, Individuen und die Imaginationen, die das Produkt ihrer Vorstellung sind, ernst zu nehmen. Nun könnte man weiterfragen, ob die Kulturtheorie des Rechts nicht eine große Freiheit aufgibt, wenn sie sich vom Projekt der Reform und damit vom normativen Impetus verabschiedet.20 Die Kulturtheorie macht uns zu Beobachtern des historischen Augenblicks, in dem wir uns befinden, und zu Kritikern unserer eigenen Glaubenssätze. Der historische Augenblick aber bleibt der unsrige; die Glaubenssätze bleiben die unsrigen. Wir finden keinen Punkt absoluter Wahrheit oder absoluter Gerechtigkeit. Dennoch ist es möglich, eine kritische Distanz zu unserem Selbst zu finden – man ist nicht so stark durch historische und kulturelle Umstände gebunden, dass eine solche Distanz zu unseren sozialen Praktiken und Glaubenssätzen unmöglich wäre. Jeder freie Diskurs geht von der Möglichkeit dieser Distanz und damit der Überraschung aus. Im „Urzustand“ bei Rawls findet sich eine Metapher für die Möglichkeit, seine soziale und historische Gebundenheit vollständig einzuklammern; dies gilt als Erfahrung transzendentaler Freiheit. Die Kulturtheorie des Rechts hingegen geht davon aus, dass man sich die Erfahrung von Freiheit aus der kulturellen Praxis heraus erarbeiten muss. Wir können der Pflicht, das Recht zu reformieren, nicht entkommen; wir sollten aber auch nicht glauben, dass hierin eine vollständige Beschreibung von Freiheit enthalten ist. Der kritische Raum, den die Kulturtheorie des Rechts zurückgewinnen will, ist ein Raum von Freiheit. IV. SOUVERÄNITÄT

ALS

BEISPIEL

Bis hierhin habe ich die Umrisse einer Kulturtheorie des Rechts skizziert. Nun möchte ich konkreter werden und anhand eines Beispiels zumindest andeuten, was diese Theorie im Sinn hat. Mein Beispiel ist das Denken über Staat, Verfassung und Recht vor dem Horizont von Souveränität; es werden Bezüge zur symbolischen Form der Religion deutlich werden.21 1. Säkularisierungsthese Die politische Theorie zieht aus den Glaubenskriegen im Zusammenhang mit der Reformation den Schluss, dass die konfessionellen Bürgerkriege die elementaren 20 Paul W. Kahn, Freedom, Autonomy, and the Cultural Study of Law, Yale Journal of Law and the Humanities 13 (2001), 141 ff. 21 Ich habe dieses Thema ausführlich und mit umfangreichen Nachweisen behandelt in Ulrich Haltern, Was bedeutet Souveränität?, 2007.

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Voraussetzungen des menschlichen Zusammenlebens aufhoben und Leib und Leben einer permanenten Bedrohung aussetzten. Hieraus ergab sich die Notwendigkeit eines radikalen Bruches mit dem überkommenen Herrschaftssystem. Da die alte Ordnung ein friedliches Zusammenleben nicht mehr garantieren konnte, bedurfte es einer neuen Ordnung. Diese konnte freilich nur irdischer Natur sein. Herrschaft und Religion wurden entkoppelt, das Politische emanzipierte sich als ausdifferenziertes soziales System, und imperium und ecclesia traten auseinander. Der Staat erschien nun als nicht religiös gebundener Ordnungsfaktor, während die Religion sich zunehmend ins Private zurückzog. Aus dieser vertrauten Säkularisierungsthese folgt ein begrenzter Staat, der Raum für die freie Ausübung der Religion lässt. Staatliche und bürgerliche Identität stehen sich diametral gegenüber.22 2. Das Heilige im Politischen Es gibt aber eine andere Perspektive – und Praxis –, die dieser Folgerung entgegengesetzt ist. Der Staat stellt Ansprüche an seine Bürger, die im Extremfall ultimativer Natur sind; zugleich stellt er ultimative Werte zur Verfügung. Der Bürger akzeptiert umgekehrt diese Ansprüche und Werte als legitim. Hierin spiegelt sich eine Entwicklung, die den Staat nicht als begrenzten, einen Freiraum gewährenden Staat hervorbringt, sondern im Gegenteil als einen absoluten Staat, der Opfer jeder Art verlangen kann. Erklärbar wird dies dadurch, dass man den Staat als eine Institution begreift, die starke Anleihen bei der Religion, insbesondere beim Christentum, macht. Es wäre erstaunlich, wenn die langwährende Verschraubung von Religion und politischer Herrschaft, die Teil einer einzigen Tradition bildeten, vollständig gelöst worden wäre. Die moderne Trennung von Staat und Kirche hat zumindest an einer konzeptionellen Einheit nichts geändert: Macht und Souveränität verbleiben als Kontinuum in der alten Tradition des Heiligen, und zwar auch nach dem Übergang der Person des Souveräns vom Monarchen auf das Volk: „Die Heiligkeit“, schreibt Agamben, „ist eine noch immer präsente Fluchtlinie in der gegenwärtigen Politik.“23 Das Heilige zeichnet sich, so die Vorstellung, dadurch aus, dass es Bedeutung stiftet in einer gefallenen Welt des Endlichen. Während alles andere zu Staub wird, ist das Heilige das Bleibende. Diese Eigenschaft, die nicht von dieser Welt ist, vermittelt Bedeutung nicht als Wahrheit, sondern als Präsenz und Erfahrung. Der vom Sündenfall errettende Sinn kann nicht durch Vernunft erlangt werden, denn man kann sich nicht durch Logik aus dem Zustand des Gefallenseins herausargumentieren. Die Vermittlung findet vielmehr durch die Gegenwart des Heiligen statt – eine Erfahrung des Schreckens und der Ehrfurcht, ein mysterium tremendum.24 Die Geschichte kennt Ähnliches im Politischen, nämlich die Bedeutungserfahrung im Kollektiv, vor der alles andere zu Staub wird. Der Staat kann existentielle Ansprüche an seine Bürger stellen, die von diesen als legitim empfunden werden. 22 Statt vieler nur Dieter Grimm, Der Staat in der kontinentaleuropäischen Tradition, in: ders., Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, 53 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1991, 92 ff. 23 Giorgio Agamben, Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, 2002, 124. 24 Rudolf Otto, Das Heilige, 1917.

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Unabhängig davon, wie groß oder wichtig die Sphäre des Privaten im Staat geworden ist, nimmt der Staat für sich die Autorität in Anspruch, die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu überschreiten und vom Individuum zu verlangen, alle verfügbaren Ressourcen, mögen diese nun physischer, materieller oder persönlicher Natur sein, den vitalen Interessen des Staates zur Verfügung zu stellen. Dies ist das Paradox des liberalen Staates, der insoweit auch ein absoluter Staat ist. 3. Migration des Religiösen Eine Erklärung findet sich in der massiven Migration religiösen Gedankenguts in die politische Ordnung. Der Souverän nimmt den Platz des mysterium tremendum ein. Letzte Werte verschieben sich in der Entstehungsgeschichte des Staates von der Kirche weg hin zum Staat. Es handelt sich also letztlich nicht nur um einen Prozess der Säkularisierung, sondern zugleich der Sakralisierung des Staates. Die Bedeutung des Staates ist im Souverän verkörpert. So wie die Kirche der Körper Christi ist, ist der Staat der Körper des Souveräns.25 Jahrhundertelang war der Souverän in einem Subjekt – ganz wörtlich – verkörpert, nämlich im Monarchen. Die Basis des Staates war im Körper des Königs zusammengezogen; der Monarch war der corpus mysticum des Staates (dies kann man bei Ernst Kantorowicz wunderbar nachlesen). Diese Verkörperung macht explizite Anleihen beim Christentum. Der Souverän übt nicht nur ein derivatives göttliches Recht zur Herrschaft aus; er ist vielmehr eine Erscheinung des Göttlichen. Er hat beispielsweise heilende Wunderkräfte und kann als Thaumaturg die Skrofeln durch 25 Dieser körperschaftliche Aspekt ist natürlich Kern der mittelalterlichen politischen Theologie. Die Vorstellung von der Kirche als dem corpus Christi geht auf Paulus (I Kor. 12, 12) zurück; der Begriff corpus mysticum ist ohne biblische Tradition, wurde aber schließlich als unum corpus mysticum cuius caput Christus von Papst Bonifaz VIII. in der Bulle Unam sanctam dogmatisiert. Zur Parallelisierung vgl. nur Lucas de Penna, Commentaria in Tres Libros Codicis (1582): „Item, sicut membra coniunguntur in humano corpore carnaliter, et homines spirituali corpori spiritualiter coniunguntur cui corpori Christus est caput …, sic moraliter et politice homines coniunguntur reipublicae quae corpus est, cuius caput est princeps.“ („Und genauso wie die Menschen geistig in dem geistigen Körper vereint sind, dessen Haupt Christus ist …, so sind die Menschen moralisch und politisch im Körper der respublica vereint, deren Haupt der Fürst ist.“) Diese offensichtliche Parallelität zwischen dem corpus reipublicae mysticum, dessen Haupt der Fürst ist, und dem corpus ecclesiae mysticum, dessen Haupt Christus ist, wird ab der Mitte des 13. Jahrhunderts ganz üblich. Ausführlich hierzu Ernst H. Kantorowicz, Mysterien des Staates: Eine absolutistische Vorstellung und ihre Ursprünge im Spätmittelalter, in: ders., Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums, 1998, 263 ff. Vgl. ausführlich natürlich dens., Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, 1992; weiter etwa Louis Marin, Das Portrait des Königs (Orig. 1981), 2005; Horst Bredekamp, Thomas Hobbes visuelle Strategien. Der Leviathan: Das Urbild des modernen Staates – Werkillustrationen und Portraits, 1999; ders./Pablo Schneider (Hrsg.), Visuelle Argumentationen. Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt, 2006; Burkhardt Wolf, Die Sorge des Souveräns: Eine Diskursgeschichte des Opfers, 2004; Wolfgang Brückner, Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies, 1966; Eric Voegelin, Die politischen Religionen (1938), 2. Aufl. 1996, v.a. 31 ff.; Sylvia Sasse/Stefanie Wenner (Hrsg.), Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung, 2002; Hans Belting/Dietmar Kamper/Martin Schulz (Hrsg.), Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, 2002; Hans Belting, Das echte Bild, 2005, S. 86 ff.; Anne von der Heiden (Hrsg.), per imaginem. Bildlichkeit und Souveränität, 2005; Bezüge zu Shakespeare bei Anselm Haverkamp, Das Ende politischer Theologie: Bracton, Richard und kein Ende, in: ders., Hamlet. Hypothek der Macht, 2. Aufl. 2004, 93 ff.

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seine Berührung heilen. Selbstverständlich überlebt der Monarch nicht die Aufklärung; er verliert im Wettbewerb mit Institutionen, die sich auf Volkssouveränität berufen. Wohl aber überlebt das Konzept der Souveränität, von dem aus wir noch immer den modernen Verfassungsstaat denken. An der Bedeutung des Staates kann teilhaben, wer Teil dieses Körpers ist. Wer Teil des in endlicher Form erscheinenden Unendlichen wird, kann trotz seiner eigenen Endlichkeit unendlich werden – ebenfalls eine mystische, wundersame und gefährliche Erfahrung. Das religiöse Konzept der Souveränität wandert zum Politischen; in beiden Sphären bezeichnet Souveränität die Teilhabe des Endlichen am Heiligen. Als symbolische Form vermittelt der Souverän die Möglichkeit, die eigene Endlichkeit zu transzendieren. Souveränität konnotiert sowohl die Überwindung des Todes (le roi ne meurt jamais, dignitas non moritur) als auch Allgegenwärtigkeit und Allmacht.26 Der Souverän befindet sich damit außerhalb unserer normalen Kategorien von Zeit und Raum. So wie Christus die Schnittstelle einer Konvergenz von Göttlichem und Historisch-Menschlichem ist, ist auch der Souverän die Gleichzeitigkeit von Unendlichem und Endlichem, von Omnipräsenz und Entzogenheit. In diesem Sinne ist Souveränität immer ein Wunder. 4. Selbstoffenbarung des Volkssouveräns Teil dieser Migration religiösen Gedankenguts in die politische Ordnung ist der Gedanke der Offenbarung. Er erscheint nun im wirkungsmächtigsten Mythus des Staates, dem Revolutionsmythos. Recht und Staat besitzen ihren Urgrund in einem Akt politischer Handlung. Apotheose politischer Handlung ist die Revolution. Der Revolution und dem Heiligen ist die Idee der Offenbarung gemeinsam. Revolution 26 Dies spiegelt sich in vielen, uns heute rätselhaft und befremdlich erscheinenden Ritualen. Bredekamp, Thomas Hobbes visuelle Strategien (Fn. 25), 97 ff., erzählt von „Doppeldeckergräbern“, die mit zwei unterschiedlichen Schichten, die wiederum verschiedenen Zeitsphären zugeordnet waren, operierten. Auf der oberen Ebene findet man vollgerüstete Landgrafen, die lebendig und wehrhaft erscheinen, auf der unteren Ebene nackte, in Zersetzung befindliche, ausgezehrte und zu Staub zerfallende Leichnamsbilder. Ein ähnliches Phänomen wie diese Trennung zwischen Leib und Würde des Amtes findet sich in den englischen Effigies und der Inthronisation von Scheinleibern im Moment des Todes (ausführlicher Bredekamp, ebd., 100 ff.; Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs [Fn. 25], 422 ff.). „Le Roi ne meurt jamais“ ist die in Frankreich seit dem 16. Jahrhundert bekannte Devise, die auf den juristischen Grundsatz „dignitas non moritur“ zurückgeht; sie ist eine Variante der alten Körperschaftslehre der mittelalterlichen Kanonisten und Zivilrechtler. Auch dazu Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs (Fn. 25), 411 f.; weiter Ethel Matala de Mazza, Die Unsumme der Teile. Körperschaft, Recht und Unberechenbarkeit, in: Uwe Hebekus/Ethel Matala de Mazza/Albrecht Koschorke (Hrsg.), Das Politische, 2003, 171 ff.; bereits dies., Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, 1999, v.a. S. 49 ff. Agamben (Fn. 23], 102) weist in diesem Zusammenhang auf eine interessante Arbeitsteilung zwischen Schmitt und Kantorowicz hin. Schmitt habe sich der einen, beunruhigenderen Hälfte der Bodinschen Souveränitätsdefinition (puissance absolue et perpétuelle) gewidmet, nämlich dem absoluten Charakter souveräner Macht. Kantorowicz habe den harmloseren Teil, nämlich den ewigen Charakter (dignitas non moritur, le Roi ne meurt jamais) behandelt. Hierdurch (natürlich neben weiteren Gesichtspunkten) erklärt sich, warum die Schmittsche politische Theologie im Vergleich zu derjenigen Kantorowicz‘ – der ja ebenfalls (nach eigener Aussage: vgl. Die zwei Körper des Königs [Fn. 25], 496) politische Theologie betreibt – anstößiger wirkt.

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und Offenbarung besitzen in vielen Sprachen eine semantische Nähe (revolution/revelation); darüber hinaus teilen sie eine gemeinsame zeitliche und legitimatorische Struktur. Man kann beide als Bruch in der zeitlichen Ordnung verstehen: als ein außergewöhnliches Ereignis, welches die Zukunft neu definiert, indem es die Bedeutungen der Vergangenheit umschreibt. Dies wissen wir spätestens seit der Wandlung des Saulus zum Paulus. Die zukünftige Ordnung wird sich auf dieses Ereignis beziehen müssen, denn es hält einen neuen Bedeutungsmaßstab vor. Die Erscheinung Christi etwa begründet die Geschichte neu. Sie stellt einen neuen Ursprung her und lässt die Vergangenheit unwichtig werden, freilich mit Ausnahme solcher Ereignisse, die auf den neuen Ursprung hindeuten. Gleiches gilt für die Erscheinung des souveränen Volkes im Moment der Revolution. Auch hier hat die politische Vergangenheit keinerlei Bedeutung mehr, mit Ausnahme der Elemente, die die Revolution vorbereiten. Revolution und Offenbarung berufen sich nicht auf die Vergangenheit, sondern ausschließlich auf Wahrheit. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt es etwa: „We hold these truths to be self-evident.“ Beide müssen in irgendeiner Weise gespeichert werden: Ohne ein Gedächtnis blieben beide eine Epiphanie, die aus dem Leben so plötzlich, wie sie eingetreten ist, wieder getilgt wäre. Die Offenbarung wird nun die Selbstoffenbarung des Volkssouveräns.27 In der Politik des Nationalstaates ist der Wille des Volkssouveräns die Quelle der Staatsformung. Genau an diesem Punkt sind Recht und Politik verklammert, oder genauer: kooptieren sich die symbolischen Formen „Recht“ und „politische Handlung“, die sonst miteinander in Wettbewerb stehen und sich gegenseitig zu invisibilisieren suchen, gegenseitig. Ohne politische Handlung kein Recht; ohne Recht kein Gedächtnis für politische Handlung. Hier schreibt sich die Bedeutung der politischen Handlung unmittelbar in das Recht ein, borgt dem Recht ihre Authentizität und lässt das Recht zu dem authentisch „unsrigen“ Recht werden. 5. Operationalisierung: Trennung von Quelle und Erscheinung In der Operationalisierung dieser Bedeutungswanderungen teilen Religion und Staat ein wichtiges, gleich funktionierendes Strukturmerkmal, nämlich die Trennung von Quelle und Erscheinung. In der Religion ist Gott die Quelle aller Erscheinungen. Er spricht die Welt in ihre Existenz und beginnt dann, sich zurückzuziehen. Zunächst ist er noch unmittelbar gegenwärtig; er spricht aus dem brennenden Dornbusch heraus oder zieht als sichtbare Feuersäule vor dem Volk Israel her. Diejenigen, zu denen Gott unmittelbar spricht, stehen abseits des Rechts. Sie sind nicht an religiöse Rituale und Zeremonien gebunden, denn ihr unvermittelter Kontakt zu der souveränen Quelle ist ein Präludium zu neuen Ritualen und Zeremonien. Moses sieht Gott; das Volk Israel sieht in der Folge nur die Gebote. Spricht die Quelle, schweigt das Gesetz. Es ist unmöglich, diesen Zustand auf Dauer zu stellen; es bedarf einer Entlastung von der Erfahrung der konstanten unvermittelten Präsenz der Quelle. Die Quelle zieht sich zurück; nur so kann das Gesetz zum Zuge kommen. Der jüdische Tanach und 27

Paul W. Kahn, Putting Liberalism in Its Place, 2005, 159 ff. Zu den Anleihen bei der religiösen Verknüpfung von Wille, Gnade und Offenbarung Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (Orig. 1949), 1985, 104 ff., 141 ff.

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das christliche Alte Testament beginnen mit einem Gott, der zu sich selbst spricht, als er die Weltschöpfung vollzieht; sie enden mit Gottes Rückzug aus der Welt. Die Verborgenheit Gottes ist eine Eigenschaft, die sich nicht auf die großen Religionen beschränkt. Nur wenn die Quelle verborgen ist, gibt es Raum für Glauben und Raum für Interpretation. Die Trennung zwischen Quelle und Erscheinung ist konstitutiv für jedes religiöse System; ohne sie würde es kollabieren. Die Präsenz Gottes schließt Interpretation aus: Spricht Gott zu Moses, verbleibt für Auslegung kein Raum. Die Trennung von unsichtbarer Quelle und sichtbarer Erscheinung erzeugt einen Graben; dieser muss, in der Formulierung Kierkegaards, durch einen Sprung des Glaubens überbrückt werden. Der Erscheinung messen wir eine besondere Bedeutung zu, weil wir durch sie hindurch auf die Quelle schauen. Ein gläubiger Mensch sieht Brot und Wein; doch haben diese nicht lediglich die Bedeutung von Lebensmitteln und Alkohol. Sie erscheinen vielmehr als Leib und Blut Christi. Dies nicht deshalb, weil die Phänomene Brot und Wein in der Kirche ihre Struktur änderten, sondern weil der gläubige Mensch durch sie hindurch auf Christus schaut und ihnen damit eine völlig andere Bedeutung zumisst. Man kann auch die Bibel als interessanten, gut formulierten literarischen Text lesen. Doch der gläubige Mensch schaut durch den Text hindurch, blickt auf Gott und misst der Bibel daher normative Bedeutung zu. Gleiches gilt für den Verfassungstext. Wir könnten das Grundgesetz als literarischen Text lesen, der freilich ungleich schlechter formuliert und weniger interessant als die Bibel wäre; dass die Verfassung normativ ist, kann sich nicht aus dem Text selbst heraus ergeben. Dennoch messen wir ihr eine normative Bedeutung als „Grundtext des Staates“ zu. Dass die Auslegung eines Rechtstextes in eine autoritative Regel mündet, ist eine Sache des Glaubens. Interpretation allein kann nicht ohne weiteres zu dem Ergebnis gelangen, dass die Verfassung eine Erscheinung des Volkes ist: Dies muss man durch Glauben akzeptieren. Interpretation selbst kann sich niemals über den Text hinausbewegen auf die Quelle der Autorität hin. So wie die Religion den Glauben an Gott als Quelle ihres Textes nicht aufgeben kann, kann auch das Recht den Glauben an den Souverän als Quelle des Rechts nicht aufgeben. Wie in der Religion ist auch im Recht der Glaube an den Souverän die Bedingung der Interpretation. Der Souverän wird für den Bürger nur durch Glaube autoritativ. Glaube drückt die Beziehung zwischen dem einzelnen Bürger und dem Souverän als Quelle der Erscheinung des Rechts aus. Durch Glaube überspringt der Bürger den Graben zwischen dem Selbst und dem Souverän.28 Wir können dem Glauben an den 28 Dieser „Sprung“ des Glaubens – der nicht zufällig an Kierkegaard erinnert – macht politische Identität aus; Normativität, Interpretation und Identität können nicht getrennt voneinander gelesen werden. In dieser engen Verknüpfung besteht auch der Grund dafür, dass Interpretation in der Literaturwissenschaft und Interpretation im Recht zwar eine Schnittmenge besitzen, mehr aber auch nicht. Die Schnittmenge ist im wesentlichen methodisch-technischer Natur; hier können Literatur- und Rechtswissenschaft miteinander reden und voneinander lernen. Darüber hinaus aber überwiegen die Unterschiede. Im Recht geht es bei der Interpretation um die Aktualisierung des Souveräns, um Glaube und um politische Identität, die sich auch unmittelbar auf den Körper einschreiben: Recht und Staat können eine Sache von Leben und Tod sein. “Legal interpretation”, schrieb Robert Cover, Violence and the Word, Yale Law Journal 95 (1986), 1601 ff. (1601), “takes place in a field of pain and death.” Rechtsinterpretation ist eine Praxis politischer Identität, bei der alles auf dem Spiel stehen kann. In der Literaturwissenschaft steht nichts auf dem Spiel. Im Recht ist die Auslegung eine durch Glaube fundierte Erneuerung politischer Kollektivität, durch die der Lesende Teil des politischen Körpers wird; in der Literatur ist der Lesende

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Souverän als Quelle des Rechts nicht abschwören, ohne die Autorität des Rechts zu unterminieren. Gerichte sichern so ihre Legitimität; sie sprechen Recht „im Namen des Volkes“.29 6. Das metaphysische Versprechen Auch der moderne Staat kennt also die Trennung zwischen Quelle und Erscheinung: Sie übersteht die Aufklärung, obwohl der Monarch selbst sie nicht übersteht. Die Könige haben ihre Macht zur Inkarnation des Heiligen verloren, doch folgt hieraus nicht, dass das moderne politische Leben in einer säkularisierten Welt stattfindet. Auch der Volkssouverän besitzt die Macht, eine eigene Welt zur Existenz zu bringen. Dies ist der Grund, auf dem eine Verfassung steht. Wir sind an eine Verfassung gebunden, weil wir Teil des Volkssouveräns sind. Die Verfassung spricht eine Sprache, die unsere Sprache ist. Will man den zeitübergreifenden Charakter der Verfassungsbindung begreifen – das Gebundensein der heute Lebenden durch in der Vergangenheit liegende Handlungen –, kommt man um das Konzept des mystischen Körpers des Souveräns und der katholischen „mystischen Einheit“ nicht herum. Konsenstheorien können hier ebenso wenig erschöpfend Auskunft geben wie Theorien zur Entscheidung durch Mehrheitsabstimmung. Der Volkssouverän ist nicht lediglich die zeitgenössische Mehrheit. Die Handlung des Volkssouveräns begründet die Welt des Nationalstaates durch die Re-Präsentation einer Quelle von Letztbedeutung, die sich in der Geschichte eines Nationalstaates entfaltet. Die Bedeutung von Souveränität ist nicht erschöpft durch die Erfüllung bestimmter prozeduraler Bedingungen. Sie wird immer wieder neu imaginiert und ausgearbeitet; die Revolution oder die Verfassunggebung stellt Bedeutungen zur Verfügung, an denen sich ein Staat kontinuierlich abarbeitet. Souveränität ist damit in Herkunft und Bedeutung unhintergehbar religiöser Natur. Der locus von Souveränität mag sich ändern – etwa vom Monarchen zum Volk wandern –, doch ändert sich dadurch nicht der transzendente Charakter von Souveränität. Die Souveränität Gottes wird zur Souveränität des Königs, die zur Souveränität des Volkes wird und schließlich zur Souveränität des Menschen. Es ist zu einem guten Teil dieses metaphysische Versprechen, das das Politische so anziehend und verführerisch macht und die den Ernst des Rechts – und seine konstitutive Bedeutung – erklärt. Jedes Mitglied des Gemeinwesens ist ein Teil des Körpers des Souveräns. Als Teil dieses mystischen Körpers nimmt das Individuum an der Verdoppelung Teil, die wir aus der mittelalterlichen politischen Theologie kennen und die die Kirche vorgemacht hat. Als sterbliches Individuum partizipiert man am

ein Solitär, auf dessen Glauben es nicht ankommt und von dem nichts abhängt. Zwar hat auch die Literaturwissenschaft erkannt, dass Bedeutung und Sinn nicht ausschließlich im Text selbst angelegt sind, sondern durch den Lesenden an den Text herangetragen werden (prominent etwa Stanley Fish, Is There a Text in This Class? The Authority of Interpretive Communities, 1980). Doch die postmoderne Fragmentierung und Sinnzersplitterung, die hieraus folgt, ist gerade das Gegenteil des katholischen Projekts einer rechtlichen Interpretation, die den Souverän schaut; zudem ist die Größe der Bedeutung des Textes eine fundamental andere als im Recht. 29 Paul W. Kahn, The Reign of Law: Marbury v. Madison and the Construction of America, 1997.

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unsterblichen und omnipräsenten Souverän.30 Als Bürger ist man eingebettet in die Geschichte seines Staates und akzeptiert sie als die eigene. Die Revolution ist „unser“ Freiheitskampf; der Holocaust ist „unsere“ Verantwortung; die Verfassung ist das Produkt „unseres“ Volkes; die Teilung des Staates ist eine Prüfung „unseres“ Einstehens für den und „unserer“ Standhaftigkeit als Volkssouverän. Der Bürger kennt seinen Platz in der Geschichte, da er die Geschichte durch die Brille der Volkssouveränität liest. Die Geschichte des Staates ist unsere Geschichte; das Territorium des Staates ist unser Raum; die Zukunft des Staates ist auch unsere Zukunft. In dieser Imaginationsform gibt es keine natürliche Bewegung in Richtung Universalität. Dies ist die schlechte Nachricht für alle Völker- und Europarechtler. 7. Souveränität, Recht, Gewalt Souveränität ist in unserer Imagination des Politischen (auch) die Gewalt, die dem Recht vorausgeht und durch das Recht nie vollständig eingefangen werden kann. Immer dann, wenn die Existenz des Staates in Frage steht – also entweder im Moment der Gründung oder der Verteidigung – übersteigt souveräne Gewalt die Regelungsmacht des Rechts. Zwar ist Recht eine vollständige Perspektive auf die Welt, denn im Hinblick auf jede Frage nach der Rechtmäßigkeit gibt es eine bejahende oder verneinende Antwort. Aber die Geschlossenheit des Rechtssystems ist eine Geschlossenheit aus der Perspektive des Rechts; sie erschöpft nicht alle Möglichkeiten politischer Imagination. Der Richter kann nicht die gesamte staatliche Ordnung in sich aufnehmen. Manchmal, in Ausnahmesituationen, werden die Grenzen des Rechts sichtbar. Diese Ausnahmesituationen ereignen sich häufig im Bereich des Völkerrechts, so dass die Normativität des Völkerrechts auch viel stärker leidet als die Normativität des nationalen Rechts. Dies ist keine Frage des institutionellen Designs zur effektiven Durchsetzung des Völkerrechts, sondern das Bemerkbarwerden der Grenzen des Rechts vor dem Hintergrund politischer Imagination. Auch das nationale Recht kennt diese Situation, die häufig ein spill-over aus dem zwischenstaatlichen in das staatliche Recht nach sich zieht. Im nationalen Rahmen spricht man dann von Exekutivermessen, Einschätzungsprärogativen, Notstandsrechten, unbeschränkten Vollmachten oder political question. Der Staat ignoriert auch sein eigenes Recht im gleichen Umfang wie das Völkerrecht, wenn es um seine Existenz geht. Die politische Praxis der USA nach dem 11. September 2001 ist ein gutes Beispiel; die Debatten um Sicherheit/Freiheit nach terroristischen Anschlägen sind ein Spiegel dieser Konstellation. Die Feststellung, dass es einen Raum von Souveränität jenseits des Rechts gibt, bedeutet nicht, dass wir wissen, wo die Grenze des Rechts verläuft. Im Gegenteil: Normalerweise ist ganz unklar, wie weit Recht in den Bereich politischer Gewalt hineinzureichen vermag. Guantánamo, Abu Ghraib und die Kompetenzen des USPräsidenten sind nur drei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit. Der Souverän tritt im modernen demokratischen Verfassungsstaat doppelt auf: als Stimme und als Körper, als Recht und als Gewalt. Die wissenschaftliche Diskussion konzentriert sich auf die Stimme und das Recht, fokussiert dabei auf den aus der Ethik 30 Vgl. Fn. 12 und 25 f.

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bekannten Gegensatz von deontologischen und konsequentialistischen Argumenten und verkennt so die Kräfte, die das Politische bewegen. Das Politische ist nicht das Moralische; unsere Zugehörigkeit zum Staat kann nicht durch die Sprache der Moral gerechtfertigt werden, sondern ist eine Frage der Erfahrung von Identität. Der eigentliche Gegensatz ist dann derjenige zwischen moralischem Universalismus und der Zugehörigkeit zu einer ganz bestimmten Gemeinschaft. Letztere besitzt eine lange Geschichte und die Vorstellung einer Zukunft; sie ist durch Mythen, Narrationen und symbolische Konstruktionen gekennzeichnet. Erinnerung, Erfahrung und Gedächtnis sind etwas kategorial Anderes als das Denken von Prinzipien aus. In der Souveränität ist eine Erinnerung angelegt, die sich im Glaubenssystem des Politischen genealogisch bis zum souveränen, verborgenen Gott zurückverfolgen lässt. Seit Augustinus kann man formulieren, dass an der eigentlichen Wurzel der Erinnerung die Seele auf Gott stößt.31 An all dies ist das Individuum gebunden; es ist die Last der Herkunft ebenso wie der Horizont der Hoffnung. 8. Nochmals: Normativer Status Dies zu beschreiben ist keine konservative Revolution im Geiste demokratie- und liberalismusfeindlicher Gegenrede. Die hier vorgenommene Untersuchung setzt nicht auf Einheit und Homogenität statt auf Differenz. Es bedeutete einen wiederum sehr deutschen Anschluss an hergebrachte Verfallstheorien, wollte man die verortete, verkörperlichte und insgesamt symbolische Textur von Souveränität als konservative Reaktion auf die zunehmende Technizität und Geschwindigkeit der Welt deuten. Zwar ist es kein Zufall, dass der Topos der Verortung und Verkörperlichung gerade in Zeiten der Virtualisierung eine Renaissance erlebt. Ebenso unmittelbar einsehbar ist, dass die Anknüpfung an die harte geophysikalische Realität des Raumes, an die biopolitische Dimension des Körpers oder an die Dimension der symbolischen Form eine Gegenrede zur Phantasmagorie des Universellen, Entpersönlichten, rein Funktionalen darstellt. Doch handelt es sich deshalb nicht um jenen ermüdend bekannten reaktionären Reflex des Antimodernen. Ich habe mich selbst gegen diesen Reflex gewandt und u.a. am Beispiel des Kommunitarismus die Auffassung vertreten, dass die Zuflucht in die Umhegtheit begrenzter (auch moralischer) Räume keine Lösung für die Diagnose zunehmender Binnenpluralisierung und eines desintegrativen, moralverzehrenden Fortschritts darstellt.32 Die Sorge eines Umschlagens von Entwicklung, Kultur und Zivilisation in triviale Variationen und Perversionen des Immergleichen resultiert in Rufen nach Sittlichkeit in einer Gemeinschaft moralisch integrierter Bürger, welche die vermeintlich bewahrenswerten Restbestände gesellschaftlicher Bindungskräfte nicht riskiert, sondern erweitert. Diese Verfallsgeschichte aber produziert in der mittlerweile utopielosen Moderne ihre Krisendiagnosen selbstbezüglich und nimmt sie dabei vorweg. Weder autonome moralische Selbstdisziplinierung, zivilisierte Selbststeuerung noch

31 Charles Taylor, Sources of the Self: The Making of the Modern Identity, 1989, 135. 32 Ulrich Haltern, Kommunitarismus und Grundgesetz: Überlegungen zu neueren Entwicklungen in der deutschen Verfassungstheorie, KritV 83 (2000), 153 ff. (170 ff.).

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die Bekämpfung von Schwundstufen praktischer Vernunft sind geeignet, den alten Schläuchen von Einheit und Homogenität ihre Porosität zu nehmen. Dies sagt freilich noch nichts aus über die Bedeutungen, die wir den beobachtbaren Phänomenen zuschreiben. Der Mensch lebt auch in einem symbolischen Universum, in dem er die Welt durch die Vermittlung von Mythen und Symbolen erfährt. Dies ist die Welt der Bedeutungen, die im Zentrum der Arbeiten von Ernst Cassirer, Clifford Geertz oder Ernst Kantorowicz, aber auch von Michel Foucault und Charles Taylor steht. Genealogische Analysen zeigen, wie sehr diese Bedeutungen quer stehen zu unserem modernen Verständnis unserer Welt und unserer selbst. Ich habe dies am Beispiel der zahlreichen Sinnwanderungen von der Religion zum Politischen und zum Recht zu zeigen versucht. Übrig bleiben tiefe Spuren – Trümmer und Überbleibsel – in der Struktur unseres Denkens und unserer politischen Begriffe. Diese verdichten sich zu einer Tiefenstruktur, die unter der liberalen Designeroberfläche des demokratischen Rechtsstaats schlummert und sich jederzeit aktualisieren kann. Diese Tiefenstruktur ist um religiöses und mythisches Denken herum organisiert. Im Zentrum steht der Glaube; um ihn herum ranken sich Mythen, Träume von Ewigkeit, Todesängste und Opferbereitschaft in oszillierenden Konstellationen.33 Dies ist keine normative Aussage, sondern eine beobachtende Diagnose. Ich bin kein Verfechter der These, dass ein Begriff des Politischen, der durch Glaube, Opfer und den schnellen Zugang zu den Ritualen von Wahrheit und Gewalt geprägt ist, wünschens- oder erstrebenswerter ist als ein anderer Begriff des Politischen, der zwischen Interesse und Vernunft angesiedelt ist und das Gespräch in den Mittelpunkt stellt; im Gegenteil. Jedoch sind meine eigenen Auffassungen in dieser Hinsicht ganz irrelevant, ebenso wie mein persönlicher religiöser Glaube irrelevant bei dem Unternehmen wäre, die Strukturen christlichen oder islamischen Glaubens zu untersuchen, oder wie mein Musikgeschmack irrelevant bei der Analyse einer Fuge wäre. Vor diesem Hintergrund sollte selbstverständlich sein, dass derjenige, der über die Tiefenstruktur einer Imagination spricht, diese nicht notwendigerweise für erstrebenswert erachtet. Wenn ich über die fortexistierende gewaltsame Seite des Politischen und der Souveränität spreche und dabei etwa eine Kategorie wie „Opfer“ thematisiere, bedeutet das nicht, dass ich eine opferbereite Politik wünsche. Wollte man mich normativ festlegen, würde ich entgegnen, dass ich ein friedfertiger Mensch bin. Gerade deshalb halte ich es für wichtig, über das nicht Friedfertige in unserem Begriff des Politischen zu reden, das nicht etwa eine Aberration, sondern ein integraler Bestandteil unserer abendländischen politischen Vorstellungswelt ist. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man das liberale Verständnis des Subjekts oder liberale Politik kritisiert. Taylor hat diesen Unterschied als Gegensatz von ontology vs. advocacy bezeichnet.34 In diesem Sinne handelt es sich bei meinen Untersuchungen um ein Unternehmen politisch-rechtlicher Ontologie.35 33 Die Verbindung zwischen der scheinbar prä-modernen Imagination und der modernen Institutionalisierung zeigt auch der Band Armin Adam/Martin Stingelin (Hrsg.), Übertragung und Gesetz. Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen, 1995. 34 Charles Taylor, Cross-Purposes: The Liberal-Communitarian Debate, in: Nancy Rosenblum (Hrsg.), Liberalism and the Moral Life, 1989, 159 ff. 35 Eine ähnlich gelagerte Unterscheidung trifft auch Michael Oakeshott in On Human Conduct, 1991, nämlich diejenige zwischen „theorist“ und „theoretician“. In der hier vorgestellten Kulturtheorie des Rechts neigt sich die Waage wohl zugunsten des theorist. Anders als dieser vermeint

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Die hier vorgebrachte Kritik an der politischen Theorie des Liberalismus soll daher nicht missverstanden werden. Die Aufklärung hat uns selbst und die Welt, in der wir leben, erzeugt. Es wäre unaufrichtig, dies und die enormen Errungenschaften abstreiten zu wollen. Aber auch hieraus folgt nicht, dass liberale politische Theorie ein vollständiges oder auch nur zufriedenstellendes analytisches Instrumentarium zur Entzifferung der Gegenwart zur Verfügung stellte. Vernachlässigt man Genealogie und Bedeutungen, besteht die Gefahr, dass man weitgehend verständnislos vor Verwerfungen des Politischen in der Welt steht.36 Politische Werte sind gerade keine moralischen Werte – womit freilich keine normative Aussage einhergeht. Was man für gut oder wünschenswert hält, ist eine ganz andere Frage. Das Politische bleibt an seinen Extrempunkten gefährlich, wie anhand täglicher Ereignisse studiert werden kann. Demgemäß bleiben zivilisatorische Errungenschaften wie der Liberalismus oder transnationale Integration prekär. Von diesem Bewusstsein wird die vorliegende Untersuchung angeleitet. Souveränität ist der geistige Ort, der die Vernunft des Liberalismus mit der mystischen Einheit der Kirche verbunden hat. Der Volkssouveränität ist es gelungen, heute die Form von demokratischer Rechtsstaatlichkeit anzunehmen; wir verdanken dies dem begrifflichen und konzeptionellen Inventar von Souveränität. Souveränität ist damit nicht nur ein durch die Aufklärung und ihren Vernunftglauben durchgereichter Begriff, sondern zudem ein Konzept, das Staat, Recht, Identität und das Politische zu einem funktionierenden Ganzen verbindet. Mehr noch: Dadurch, dass es die Vorstellungen mystischer Einheit aus der Theologie und der mittelalterlichen politischen Theologie im Verborgenen in die Neuzeit hinübergerettet hat, ist Souveränität dafür mitverantwortlich, dass Liberalismus derart erfolgreich operieren kann, dass wir keine anderen Worte für unsere politischen Erfahrungen finden können als diejenigen des Liberalismus selbst. Unsere Erfahrungen sind aber zwiespältig: Wir kennen sowohl den demokratischen Rechts- und Interventionsstaat als auch den militarisierten Staat; wir bewegen uns, wie jeder Völkerrechtler weiß, immer zwischen Recht und Krieg. Souveränität hat uns beides hinterlassen. Wie kann man dies begreifen? Wohl nur, indem man anerkennt, dass sich Souveränität weder in abstrakter Vernunft noch in (staatlichen) Interessen erschöpft. Unser Erkenntnisinteresse an Souveränität muss sich dann ebenso erweitern wie unser Vokabular; will man die Phänomene des Politischen im 20. Jahrhundert erklären – zu denen sowohl umfassende Verrechtlichung als auch massive Gewalt gehören –, kann man auf die Kategorien des Heiligen und der theoretician, die Annahme eines theoretischen Vokabulars im Hinblick auf einen Gegenstand ermögliche es, diesen Gegenstand auch besser auszuüben. Dies würde etwa bedeuten, dass derjenige, der über eine Moraltheorie verfügt, auch moralischer handeln könnte. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass dieser Anspruch der Theorie einen schlechten Ruf eingebracht hat. Frederick Dolan, Allegories of America: Narratives, Metaphysics, Politics, 1994, 10, vermutet sogar, dies sei der Grund, warum die Höhlenbewohner in Platos Höhlengleichnis den wiederkehrenden Theoretiker zu töten trachten: Statt interessante Berichte über seine exotischen Reisen abzustatten, die aus sich selbst heraus wertvoll wären, bestehe der theoretician darauf, dass er mehr über die Welt der Höhlenbewohner wisse als diese selbst und dass diese daher sein, des Theoretikers, Vokabular übernehmen müssten. Die Lösung sei, auf der Autonomie der Theorie zu beharren. Wenn der zurückkehrende Theoretiker seinen Anspruch auf Narration beschränken würde, käme er nicht nur mit dem Leben davon, sondern würde wahrscheinlich auch als Teil der Gemeinschaft aufgenommen. 36 Vgl. auch Peter J. Opitz, Nachwort, in: Eric Voegelin (Fn. 25), 69 ff.

Notwendigkeit und Umrisse einer Kulturtheorie des Rechts

221

des Opfers nicht verzichten. Ob dies auch für das 21. Jahrhundert gilt, bleibt abzuwarten. Die bisherigen Erfahrungen des neuen Jahrtausends lassen vermuten, dass weder das Bedürfnis nach dem Heiligen noch die Welt der Souveränität im Verschwinden begriffen sind. Dies zu artikulieren, wird auch Aufgabe der Rechtswissenschaft, und dort der Kulturtheorie des Rechts, sein.

(vakat)

CHRISTOPH MÖLLERS, GÖTTINGEN PLURALITÄT DER KULTUREN VERFASSUNGSRECHT?

ALS

HERAUSFORDERUNG

AN DAS

I. EINLEITUNG Wie verhält sich das Verfassungsrecht zur Pluralität der Kulturen? Diese Frage scheint sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts für demokratische Verfassungsstaaten in einiger Schärfe zu stellen, obwohl sie kein neues Problem anspricht. Doch wird gesellschaftliche Heterogenität heute dringlicher als noch vor einem Jahrzehnt als Problem empfunden. Fragen treten auf den Plan, die vor 1989 global in einem anderen Rahmen zwar nicht gelöst, aber unterdrückt werden konnten. Mehr und mehr werden diese Probleme – faute de mieux? – mit dem Begriff der Kultur oder der kulturellen Differenz belegt. Angenommen wird zudem, dass Verfassungen einen Beitrag zur Lösung dieses Problems leisten könnten. Alle diese Vermutungen sind ihrerseits äußerst voraussetzungsreich. Dem folgenden Beitrag wird es daher nur in einem zweiten Schritt darum gehen, die im Titel gestellte Frage direkt zu beantworten. Vielmehr ist zunächst genauer zu prüfen, inwieweit die Frage selbst in Frage zu stellen ist: Es sind die Voraussetzungen, die in ihr gemacht werden, einer kritischen Analyse zu unterziehen. Denn, so könnte man die erste These des Beitrags fassen, im Regelfall werden liberal-demokratische Verfassungsordnungen sich schwer damit tun, kulturelle Differenzen als solche zu benennen und zu verarbeiten. Stattdessen werden sie versuchen, kulturspezifische Konflikte so zu behandeln wie alle anderen auch, also die Unterscheidung zwischen kulturellen Differenzen und anderen Differenzen nicht selbst zu einem ausdrücklichen Gegenstand der Rechtsordnung zu machen. Dies, so die zweite These, gelingt aber nicht immer. Unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen widerstreben kollektive Identitäten den in der Verfassung vorgesehenen Legitimationsmechanismen. In diesen Fällen mag es angemessen sein, kulturspezifische Ausnahmen einzurichten. Die Beschreibung kultureller Differenzen als Problem der verfassungseigenen Legitimationsmechanismen gestattet es auch, kulturelle Konflikte in die überlieferten Vorgaben liberaler demokratischer Verfassungsordnungen einzubauen. Daher gibt es, so die dritte These, keine Notwendigkeit, dieses überlieferte Modell durch ein neues multikulturalistisches Verfassungsparadigma zu ersetzen. Der Beitrag wird diese Thesen in drei Schritten entwickeln: Im ersten Teil sind die Begriffe Kultur und kulturelle Differenz auf ihre Bedeutung hin zu untersuchen. Dabei wird am Ende dieses Teils – anders als in rechtswissenschaftlichen Beiträgen verbreitet – keine Definition der Begriffe stehen, sondern ein spezifisches Problem ihres Gebrauchs benannt werden (II.). Im folgenden Teil sind diese Einsichten mit den Aufgaben abzugleichen, die man der Rechtsordnung im Allgemeinen und dem Verfassungsrecht im Besonderen zuweist. Hier wird zu klären sein, wie sich das Verfassungsrecht mit seinen spezifischen Problemlösungs- und Entscheidungsstrukturen zum Konzept der kulturellen Differenz verhalten kann, ohne seine institutionellen Möglichkeiten aufzugeben (III.). Dies wird es schließlich im letzten Hauptteil er-

Christoph Möllers

224

lauben, einen kritischen Blick auf die verfassungstheoretischen Diskussionen um ein multi-kulturelles Verfassungsrecht und den Rechtspluralismus zu werfen und sich konkreteren verfassungsrechtlichen Arrangements zuzuwenden (IV.). Mit einer abschließenden Bilanz wird der Beitrag enden (V.). Eingangs sei festgestellt1: Der Text versteht sich als Beitrag zur normativen verfassungstheoretischen Diskussion eines angemessenen institutionellen Umgangs mit besonderen gesellschaftlichen Problemen, nicht aber als Beitrag zu einer kulturwissenschaftlichen Theorie des Rechts. Letztere kennzeichnet in der Regel ein radikal anormativer Beschreibungsansatz, der die Frage, wie Rechtsordnungen ausgestaltet werden sollen, vermeidet. Trotzdem ist die kulturwissenschaftliche Diskussion für den vorliegenden Beitrag nicht ohne Bedeutung. Sie wird immer mitzuführen zu sein, wenn sich die Frage stellt, welche Bedeutungen dem schwierigen Kulturbegriff sinnvollerweise für das Recht zugewiesen werden können. II. LEISTUNGEN

UND

GRENZEN

DES

KULTURBEGRIFFS

1. Unschärfen des Begriffs Die begrifflichen Unschärfen des Kulturbegriffs mögen sich an einer kleinen Vorüberlegung veranschaulichen lassen. Stellen wir uns einfach nur die Frage, woran wir denken, wenn wir von „kulturellen Differenzen“ oder der Pluralität von Kulturen sprechen. Augenscheinlich assoziiert man mit diesen Begriffen in Deutschland aktuelle Probleme wie den Bau von Moscheen in Wohngebieten, verschleierte Frauen in Schulen oder, wenn wir verfassungstheoretisch eingelesen sind, auch das Verfassungsrecht der Ureinwohner Kanadas. Aber es bleibt die Frage, was dagegen spricht, mit ihnen auch die Frage der Gleichstellung von Frauen und Männern, die europäische Integration oder das Verhältnis zwischen Rechts- und Sozialwissenschaften zu verbinden. Es ist jedenfalls zweifelhaft, ob sich die Frage, was wir mit dem Kulturbegriff assoziieren, in irgendeiner Weise aus einer konsentierten Semantik herleiten lässt. Viel eher sieht es danach aus, als könne uns der Begriff der Kultur jedenfalls keine systematische Auskunft darüber geben, warum wir in seinem Zusammenhang an bestimmte der genannten Probleme denken, an andere aber nicht. Die einzige schlüssige Antwort wäre dann der Hinweis auf eine kollektive Identität, in der man verschleierte Frauen nicht, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aber sehr wohl zur „eigenen Kultur“ zählt. Dass dieser Hinweis vielerlei Probleme mit sich bringt, ist klar: Kultur als Ausdruck für die Zugehörigkeit zu einer kollektiven Identität – dieser Gebrauch wirft Nachfragen nach der Definitionsmacht über Identitäten und ihrer Eindeutigkeit auf. Soweit kann festgehalten werden, dass der Hinweis auf kulturelle Differenzen im Unterschied zu anderen Differenzen eher auf Intuitionen oder Ausdrucksbedürfnisse zu verweisen scheint als auf ein geklärtes theoretisches oder semantisches Feld. Wir beziehen uns mit „kulturell“ auf „besonders Grundsätzliches“, auf einen Zusammenhang, der unsere oder eine unserer relevanten kollektiven Identitäten betrifft.

1

Eingehender unten, II., 3 (S. 228 f.).

Pluralität der Kulturen als Herausforderung an das Verfassungsrecht?

225

Aber diese Unterscheidung diskriminiert eben nur expressiv, nicht systematisch,2 denn auch die Unterscheidung zwischen Rechts- und Sozialwissenschaften oder zwischen Mann und Frau betrifft jedenfalls die Identität eines männlichen Juristen und betrifft damit ohne Zweifel eine kulturelle Differenz. Hierin deuten sich die im nächsten Abschnitt weiter zu verfolgenden Probleme des Konzepts bereits an. Bleiben wir dabei, dass es in der Diskussion um Pluralität von und Differenz zwischen Kulturen um kollektive Identitäten geht, deren Selbstbeschreibungen in einer Art und Weise differieren und kollidieren können, die die Rechtsordnung auf den Plan ruft. Damit ist jedoch nicht allzu viel gesagt, denn ähnlich wie beim Begriff der politischen Differenz können grundsätzlich alle Probleme Gegenstand einer solchen Begriffsbestimmung werden.3 Seine Intension schließt keine Extension aus. Solche Unschärfen zeigen sich schließlich auch an den Sachbereichen, die in der deutschen verfassungsrechtlichen Debatte der letzten Jahre mit dem Begriff „Kultur“ belegt wurden: In diesen Diskussionen ging es zum einen um gesellschaftliche Sinnproduktion mit ästhetischen Mitteln, teilweise, aber seltener der Wissenschaft, vor allem um die Frage nach Grund und Grenzen staatlicher Förderung dieser Praktiken.4 Zum anderen ging es um die Bedeutung von Religion im öffentlichen Raum. Sehr oft verwies die Rede von kultureller Differenz allein auf das Zusammentreffen von christlicher Religion mit anderen Glaubensrichtungen. Kultur diente hier also als eine recht abstrakte Bezeichnung für ein sehr konkretes Problem – und genau dieser Zusammenhang zwischen konkreten Problemen und ihrer grundsätzlichen Bezeichnung wird uns im Folgenden weiter beschäftigen.5 Nun erscheint es theoretisch durchaus möglich, beide Diskussionen miteinander in Zusammenhang zu bringen. Augenscheinlich können staatliche Leistungen ein Mittel darstellen, das Zusammenleben unterschiedlicher, sich widersprechender kollektiver, auch religiöser Identitäten in einer Rechtsordnung mitzugestalten. Genauso können sie dabei helfen, eine dieser Identitäten besser zum Ausdruck zu bringen, etwa durch die Förderung von Kunst. Beide lassen sich auch auf gemeinsame Rechtsprobleme zurückführen, etwa die Frage der Gleichheit oder die staatliche Verpflichtung zu Neutralität.6 Trotzdem werden diese Diskussionen nicht mit den gleichen Argumenten geführt. Dies mag daran liegen, dass es bei der einen vornehmlich darum geht, die Verteilung von Mitteln zu beurteilen, während sich die andere mit elementaren und konfliktreichen Fragen

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Zum Begriff „expressiv“ in diesem Zusammenhang: Charles Taylor, Sources of the Self, 1989, 368 ff. Insoweit, wenn auch nicht in der bellizistischen Konsequenz, bleibt die Analyse bei Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 2. Aufl. 1932, ebenso problematisch wie richtig. Sie ließe sich aber auch aus einem offenen Konzept von Demokratie begründen, das alle gesellschaftlichen Probleme für potentiell demokratisch regelbar hält. Dieter Grimm/Udo Steiner, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), 4, 46; Klaus-Peter Sommermann/Stefan Huster, Kultur im Verfassungsstaat, VVDStRL 65 (2006), 7, 51. Die Asymmetrien im Gebrauch des Begriffs zeigen sich auch darin, dass die aktuelle Debatte zur Ergänzung der Verfassung um ein Staatsziel Kultur so gut wie nie die religionspolitischen Konsequenzen dieser Entscheidung in Betracht zieht. Zum geistesgeschichtlichen Zusammenhang die Beiträge in Jacob Taubes, Vom Kult zur Kultur, 1996, 269 ff. Unten, III., 1 u. 2. Eine gemeinsame Behandlung dieser Probleme findet sich bei Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002.

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wechselseitiger Anerkennung beschäftigt.7 Zum anderen schließt der Begriff der Kultur es eben nicht aus, sich auch mit ganz anderen Thematiken zu beschäftigen. 2. Zwischen Kontingenz und Fundamentalismus: zur Ambivalenz des Kulturbegriffs Der erste Eindruck semantischer Beliebigkeit des Kulturbegriffs könnte sich durch einen genaueren Blick auf seine – in den letzten Jahrzehnten stark intensivierte8 – wissenschaftliche Diskussion legen. Freilich erscheint es an dieser Stelle ausgeschlossen, wenn nicht grundsätzlich unmöglich, eine systematisch befriedigende Aufarbeitung der Diskussion um Begriff und Geschichte des Konzepts zu leisten. Vielversprechender mag es sein, eine grundlegende Ambivalenz des Kulturbegriffs vorzustellen, die für die uns leitende verfassungstheoretische Fragestellung von Bedeutung sein wird. Diese Ambivalenz stellt sich wie folgt dar: Auf der einen Seite verbindet sich die Rede von Kultur historisch stets mit der Möglichkeit der Kontingenz, mit der Perspektive, dass gesellschaftliche Verhältnisse auch anders aussehen könnten, als sie gerade aussehen. Die Beobachtung historischer und räumlicher Variabilität ist eines der ältesten Themen der Kulturwissenschaften.9 Urväter einer kulturwissenschaftlichen Rechtstheorie wie Montesquieu oder auch Pascal haben das ausdrücklich formuliert. Das Recht ist in dem einen Land so, es kann aber in einem anderen Land anders sein, ohne dass es für diesen Unterschied eine rechtsimmanente Erklärung gäbe.10 Unterschiede entstehen vielmehr durch kontingente Faktoren wie die Größe eines Landes oder das Klima. Der Begriff „Rechtskultur“ deutet ein immenses Relativierungspotential an – und die gleiche Wirkung ergibt sich mit anderen Zusammensetzungen, etwa Religionskultur. Eine bestimmte gesellschaftliche Praxis als Ausdruck einer Kultur zu bezeichnen, bedeutet, diese zu relativieren, und ist damit Ausdruck einer distanzierten und distanzierenden Perspektive. Wenn Kultur auf die Möglichkeiten von Differenzen verweist, dann erkennt man Kultur eben auch nur an diesen Differenzen. Auf die Frage, „was Kultur ist“, woran man sie erkennen kann, kann man antworten: an den Differenzen zwischen ansonsten als strukturgleich erkannten Zusammenhängen, also beispielsweise an den Unterschieden verschiedener Praxen, an denen wir zugleich Gemeinsamkeiten erkennen, die es gestatten, sie alle als „Recht“ zu bezeichnen. Eine solche differenztheoretische Antwort auf die Frage nach dem Kulturbegriff erfreut sich in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussion einiger Beliebtheit.11 Aus ihr folgt, dass man Kulturen nicht aus sich selbst heraus, 7

Schon diese Unterscheidung ist ihrerseits umstritten: Nancy Fraser/Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, 2003. 8 Überblick bei Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns, 2006, 7 ff., 381 ff. 9 Ausgearbeitet und ideengeschichtlich dokumentiert findet sich diese These insbesondere bei Niklas Luhmann, Kultur als historischer Begriff, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 4, 1995, 31 und Dirk Baecker, Kultur, begrifflich, 1998. 10 Kanonisierte Feststellungen zur Kontextabhängigkeit des Rechts finden sich etwa bei: Blaise Pascal, Pensées (1670), III (61–309): „Comme la mode fait l‘agrément aussi fait-elle la justice“; Charles de Montesquieu, De l´Esprit des lois (1748), I/14. Siehe auch Johann Gottfried Herder, Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit, Erster Teil (1784), Neuntes Buch, III. 11 Als einen einflussreichen Autor siehe Homi K. Bhabha, The Location of Culture, 1994; zu Kritik an diesem Konzept: Bachmann-Medick (Fn. 8), 197 ff.

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als Ausdruck einer feststehenden kollektiven Identität verstehen kann, sondern nur aus der Begegnung mit Abweichungen, mit dem Fremden.12 Dies hat seinerseits zwei Konsequenzen. Zum Ersten unterstellt der Kulturbegriff von vornherein eine Pluralität von Kulturen. Ohne die Annahme von Pluralität wäre der Begriff gar nicht zu verstehen. Zum Zweiten impliziert er eine Variabilität der jeweils bezeichneten Kultur, die sich ja erst in der Begegnung mit einer anderen konstituieren kann. Kultur erweist sich in dieser Lesart als Form einer durchaus flüchtigen Selbstidentifikation, die erst durch die Begegnung mit Abweichungen möglich wird. Diese differenztheoretische Bestimmung von Kultur strahlt auf den ersten Blick etwas beruhigend Harmloses aus. Hier scheinen die Probleme, die man mit dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen assoziiert, fast schon hinwegdefiniert zu sein. Dieser Eindruck trügt – und damit kommen wir zur anderen Seite der Ambivalenz. Denn auf der anderen Seite scheinen die bezeichneten Differenzen etwas durchaus Fundamentales zu bezeichnen. Es ist eine der Eigentümlichkeiten des Kulturbegriffs, dass mit ihm die Erklärung eines Phänomens endet. Differenzen, die man anderweitig nicht erklären kann, werden dem Kulturbegriff zugewiesen. Kultur erscheint dergestalt in einem doppelten Sinne fundamental: Fundamental zum einen im Sinne einer herausgehobenen Bedeutung, fundamental zum anderen in dem Sinne, dass wir als Kultur etwas bezeichnen, das sich zwar wandeln kann, das wir aber gerade nicht intentional ändern können, auf das wir so wenig Zugriff haben wie auf das Fundament, auf dem wir stehen. Diese fundamentalisierende Wirkung des Kulturbegriffs lässt sich an Beispielen aus den Rechtswissenschaften einfach veranschaulichen: Die Verwendung von Begriffen wie „Auslegungskultur“13 oder „Verwaltungskultur“14 verweist stets auf eine Struktur jenseits der formal änderbaren Rechtsordnung, die auch anders sein könnte, ohne jedoch mit den Mitteln des Rechts geändert werden zu können. Wir haben Zugriff auf das geltende Recht, aber eben keinen Zugriff mehr darauf, wie mit diesem umgegangen wird. Kultur ist hier wie in anderen Zusammenhängen eine irreduzible Größe, die sich intentionaler Veränderung entzieht. Dies ist der Grund dafür, dass die Rede von kulturellen Identitäten stets in der Gefahr steht, Handlungsspielräume und die Potentiale individueller Freiheit zu verkürzen.15 Dieser Sicht folgt auch eine einflussreiche rechtstheoretische Sicht, die Recht a priori darauf reduziert, kulturelle Vorgaben ausdrücklich zu machen und durchzusetzen, die aber nicht die Möglichkeit vorsieht, dass Recht kulturelle Bestände auch verändern könnte. In der deutschen Tradition kommt Savignys Kritik an der Kodifikation in den Sinn, der ein Rechtsverständnis zugrunde liegt, in der das Recht Ausdruck einer wissenschaftlich ermittelbaren kulturell bedingten Notwendigkeit ist.16 12 Eine kurze elegante Herleitung dieses Zusammenhangs für verfassungstheoretische Fragen bei Robert C. Post, Law and Cultural Conflict, Chicago-Kent Law Review 78 (2003), 485 (490 ff.). 13 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik II, Europarecht, 2003, 179. 14 Mit Blick auf die heterogene mitgliedstaatliche Vollzugspraxis des europäischen Gemeinschaftsrechts eine gern verwendete Formel, z.B. Reinhard Priebe, Anmerkungen zur Verwaltungskultur der europäischen Kommission, Die Verwaltung 33 (2000), 379; Eberhard Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverfahren und Verwaltungskultur, NVwZ 2007, 40. 15 Dieser wichtige Gesichtspunkt bei Amartya Sen, Identity and Violence, 2006, 18 ff., 149 ff. Zur Konstruktion des Problems auf der Grundlage eines normativen Individualismus: Horst Hegmann, Die Verfassung der kulturell fragmentierten Gesellschaft, 2001, 154 ff., 206 ff. 16 Dazu unübertroffen Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 1984, 312 ff., 335 ff., 381 ff.

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Aber natürlich finden sich solche Konzeptionen von Recht auch in der angelsächsischen Diskussion.17 Diese kulturalistische Sicht hebt die Unterscheidung zwischen Normativität und Faktizität auf. Normen sind Ausdruck kultureller Fakten. Beide Gesichtspunkte zusammen bescheren uns die fundamentale Ambivalenz des Kulturbegriffs, der auf der einen Seite seine Bedeutung erst daraus bezieht, dass bestimmte als Kultur bezeichnete Zusammenhänge auch anders aussehen könnten; der auf der anderen Seite unterstellt, dass es keine Möglichkeit gibt, dieses bewusst zu ändern. Gerade dasjenige, was sich unserem individuellen oder kollektiven, formellen oder informellen Handlungshorizont zu entziehen scheint, bezeichnen wir als „Kultur“. 3. Kultur – Kulturwissenschaft – Normativität Die Beobachtung dieser Ambivalenz gestattet es nun auch, die wissenschaftstheoretische Bedeutung des Kulturbegriffs in den Blick zu nehmen und sie mit dem Erkenntnisinteresse des vorliegenden Beitrags ins Verhältnis zu setzen: Um den Begriff der Kultur hat sich seit den sechziger Jahren eine kaum mehr überschaubare wissenschaftliche Diskussion entwickelt,18 deren Leistungen durch die folgende Kritik an einer verfassungstheoretischen Kulturkonzeption nicht geschmälert werden sollen. Es ist deswegen wichtig zu sehen, auf welcher methodischen Ebene die hier anzustellenden verfassungstheoretischen Überlegungen anzusiedeln sind und wie sie sich zur kulturwissenschaftlichen Debatte verhalten. Sowohl der relativierende Gehalt des Kulturbegriffs als auch der Umstand, dass als „Kultur“ etwas verstanden wird, das sich unserem Zugriff entzieht, sprechen gegen eine normative Bedeutung jedenfalls einer wissenschaftlichen Konzeption von Kultur. Diese Eigenschaften ermöglichen es vielmehr, den Kulturbegriff als ein wissenschaftliches Beobachtungsinstrument zu nutzen. Insbesondere seine notorische Fähigkeit, eingeführte begriffliche Unterscheidungen – wie diejenigen zwischen Geist und Natur, zwischen Text und Kontext oder zwischen Subjekt und Objekt – ebenso zu unterlaufen wie überlieferte wissenschaftsdisziplinäre Arbeitsteilungen, verspricht Erkenntnisgewinn. Kulturwissenschaften argumentieren gezielt entdifferenzierend. Die Konstruktion eines normativen Verständnisses von Kultur – wie es noch mit der im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreiteten Konfrontation von deutscher Kultur und westlicher Zivilisation artikuliert wurde19 – kann mit Hilfe einer solchen Konzeption von Kultur nicht mehr gelingen. Dies zeigt auch die verzweigte Diskussion in den Kulturwissenschaften, die sich – weit entfernt von einer simplen Konzeption von Wertfreiheit – über ihre implizite Normativität immer wieder Rechenschaft ablegt, ohne intentional normativ argumentieren zu wollen.20 Gerade der Umgang mit einem emphatisch normativen Kulturbegriff, den

17 Post (Fn. 12), 485 f., weist in diesem Zusammenhang auf Patrick Devlin, The Enforcement of Morals, 1965, hin. 18 Nochmals Bachmann-Medick (Fn. 8), 7 ff. 19 Dazu: Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Erster Band, 2. Aufl. 1969, 1 ff.; Wolf Lepenies, Kultur und Politik, 2006. 20 Eine nun schon klassische Formulierung dieser Ambivalenzen der Distanzierung ist die ihrerseits

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man in der Politik weiterhin beobachten kann,21 wird von den Kulturwissenschaften beständig in Frage gestellt. Hier macht sich auch die ausdifferenzierende Wirkung der Verwissenschaftlichung eines Gegenstands bemerkbar: Die Kulturwissenschaften reden so ungern im Namen der Kultur wie die Rechtswissenschaften im Namen des Rechts oder der Gerechtigkeit. Darüber hinaus meiden die Kulturwissenschaften den Begriff auch vor dem Hintergrund schlechter historischer Erfahrungen in Kolonialismus und Totalitarismus.22 Aus diesen Gründen ist auch die kulturwissenschaftliche Begegnung mit Recht regelmäßig eine anormative Angelegenheit, die das Recht nicht reformieren, sondern nur verstehen und beschreiben will. Es ist dieser Weg, den auch die juristischen Kulturwissenschaften des Rechts beschritten haben, wenn sie sich grundsätzlich von jedem Projekt der Reform der Rechtsordnung distanzieren.23 Keine Vorstellung ist von den Kulturwissenschaften nachhaltiger erschüttert worden als der Glaube, man könne eine bestimmte Kultur definieren und gegen andere Kulturen verteidigen oder ausspielen. Nichts spricht dagegen, bestimmte Institutionen – von der Ehe bis zum Parlament – mit philosophischen oder politischen Gründen zu verteidigen. Klar ist gleichfalls, dass man diese Institutionen mit bestimmten „Kulturen“, also mit bestimmten tradierten institutionellen Praktiken, einfacher in Verbindung bringen kann als mit anderen. Offen bleibt aber, inwieweit dieser Konnex die genannten Institutionen rechtfertigen soll. Er bleibt ein Hinweis, kein normatives Argument. Vor allem aber ist die Vorstellung, es „gäbe“ eine definierte Kultur mit bestimmten Eigenschaften, in denen allein diese Institutionen notwendig enthalten wären, zu voraussetzungsreich, um wissenschaftlich überprüfbar sein zu können. Ein solcher Kulturbegriff liegt in Trümmern, sein Schicksal ähnelt vielleicht nicht zufällig dem ehemals wissenschaftlichen Begriff der Rasse. Schon aus diesem Grund erscheint es ebenso unergiebig wie bedenklich, bestimmte Eigenschaften unserer politischen oder gesellschaftlichen Ordnung mit dem Kulturbegriff kurzzuschließen.24 Die Brauchbarkeit des Kulturbegriffs für die Verfassungstheorie kann sich nicht einfach darin erweisen, bestimmte Gehalte einer Verfassung, die noch dazu in der Regel umstritten sind, kultursemantisch zu überhöhen, um sie zugleich verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch zum Einsatz zu bringen. Versteht sich die vorliegend aufgeworfene Frage nach dem angemessenen Umgang des Verfassungsrechts mit kulturellen Differenzen ausdrücklich normativ, so ist sie – dies zeigen die Kulturwissenschaften – nicht mit den Mitteln des Kulturbegriffs selbst zu lösen.

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viel kritisierte Figur des „teilnehmenden Beobachters“ von Bronislaw Malinowski. Dazu Clifford Geertz, Die künstlichen Wilden, 1990, 85. Um zwei Gegenproben zu nennen, die einen Kulturbegriff offensiv normativ verwenden: Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 1918; Samuel Huntington, The Clash of Civilizations?, Foreign Affairs 72 (1993), 22. Zu schlechten historischen Erfahrungen die Beiträge in: T. Hauschild (Hrsg.), Lebenslust und Fremdenfurcht. Ethnologie im Dritten Reich, 1995. Paul Kahn, The Cultural Study of Law, 1999. Unter Auslassung der gesamten kulturwissenschaftlichen Literatur geschieht dies bei Arndt Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2005.

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230 4. Ein Zwischenfazit

Die Begriffe Kultur und kulturelle Differenz laden zu einem intuitiven Gebrauch ein, in dem eine „eigene“ kollektive Identität einer „anderen“ gegenübergestellt wird. Will diese Gegenüberstellung mehr sein als Ausdruck eines Gefühls oder einer politischen Überzeugung, so gerät sie in Beschreibungsprobleme, die sich an einer fundamentalen Ambivalenz veranschaulichen ließe: Der Kulturbegriff dokumentiert einerseits, indem er auf Unterschiede verweist, dass Kulturen auch anders sein könnten als sie sind; andererseits entzieht er diese Unterschiede einem gestaltbaren Handlungshorizont. Kultur findet sich in nicht gestaltbaren Differenzen. Dieser Zusammenhang hat in der kulturwissenschaftlichen Diskussion dazu geführt, größte Zurückhaltung mit einem normativen Kulturverständnis zu empfehlen. Kulturen sind nicht einfach definierbare Identitäten, die man anderen Kulturen entgegenhalten kann. Es ist diese Einsicht in die Ambivalenz des Begriffs, die die Verfassungstheorie als erstes von den Kulturwissenschaften lernen kann. III. VERFASSUNGSRECHT

UND

KULTURBEGRIFF

1. Kultur in der Individualisierungsleistung der Rechtsordnung Verknüpfen wir diese Überlegungen mit Problemen von Recht und Verfassung, so gewinnt unser Unbehagen am Kulturbegriff deutliche Konturen. Sollen wir kulturelle Differenzen, wenn wir sie denn unterscheidbar definieren könnten, im Recht grundsätzlich anders behandeln als andere Differenzen? Oder besteht umgekehrt die Gefahr, dass das Aufeinandertreffen von zwei derart undeutlichen und grundsätzlichen Kategorien wie Kultur und Verfassung nur zu einer verschärften theoretischen wie praktischen Undifferenziertheit führt? Könnte die Benennung bestimmter Differenzen und Konflikte als „kulturell“ sich letztlich eher als problemerzeugend denn als problemlösend erweisen? Durch Gerichtsverfahren spitzen Rechtsordnungen Konflikte zu, um sie entscheiden zu können. Allerdings hält ihr institutionelles Reservoir auch Mechanismen bereit, die Konflikte umbenennen, vermeiden oder umgehen und sie damit von der Dichotomie zwischen rechtmäßig und rechtswidrig fernhalten.25 In beiden Fällen besteht eine wesentliche Aufgabe der Rechtsordnung darin, Konflikte zu differenzieren, zu individualisieren und dadurch zu entpolitisieren. Auch das gerichtliche Verfahren bezieht seine praktische Anerkennung und seine befriedende Funktion aus dem Umstand, dass es einen Konflikt zu einer spezifischen Angelegenheit der Parteien macht, diesen mit Argumenten versieht, deren Geltung sich auf einen bestimmten Sachverhalt beschränkt und dadurch jeder politisierenden Verallgemeinerung entzieht.26 Um diese Aufgabe erfüllen zu können, sollten individuelle Probleme mög25 Ralf Poscher, Verwaltungsakt und Verwaltungsrecht in der Vollstreckung, Verwaltungs-Archiv 89 (1998), 111. Ob dies mit N. Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 17 (1986), 171, als Perversion des Rechtssystems zu bezeichnen ist, wird man bezweifeln können. Diese Beurteilung scheint der Logik der eigenen binären Theorieanlage geschuldet, weniger irgendwelchen Folgen eines solchen Vorgehens. 26 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1975, 121 ff.

Pluralität der Kulturen als Herausforderung an das Verfassungsrecht?

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lichst weitgehend von politischen Allgemeinheiten entfernt bleiben. Das Anliegen eines Individuums, wie es typischerweise in einem Gerichtsverfahren artikuliert und damit zum Thema des Rechtssystems wird, sollte vom Rechtssystem nicht zu einem allgemeinen – kulturellen – Problem hinaufdefiniert werden. Anderenfalls würde die Leistung des Rechtssystems in Frage gestellt und die Entscheidung allgemeiner Fragen einer demokratisch legitimierten Lösung entzogen werden.27 An einem Beispiel: Der Umgang der Rechtsordnung mit religiös gebotener Kleidung in staatlichen Schulen ist trivialerweise eine Frage des geltenden Rechts. Sie als Frage eines kulturellen Konflikts zu reformulieren, mag eine politische Option darstellen, die aber als solche weder das praktische Rechtsproblem noch seine rechtswissenschaftliche Analyse weiterführen kann. Selbst wenn man – um in diesem Zusammenhang die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus aufzugreifen28 – bestimmte tradierte kulturelle Muster als Grundlage einer Rechtsordnung identifizieren mag; konkreter: selbst wenn man behauptete, das deutsche Verfassungsrecht entstamme einer christlichen kulturellen Grundlage,29 würde es sich kaum empfehlen, diesen Gesichtspunkt unmittelbar als juristisches Argument zu verwenden. Denn jedenfalls für westliche Verfassungsordnungen dürfte die Unterscheidbarkeit von kultureller Herkunft und rechtlicher Geltung nicht einfach in Frage gestellt werden,30 nicht zuletzt weil es sonst keine Möglichkeit gäbe, sich durch eine demokratische Entscheidung von dieser Überlieferung zu lösen. Insoweit kulturelle Praktiken durch die Rechtsordnung geschützt werden sollen und geschützt werden können – gerade letzteres wird ja mit guten Gründen von Theorien des Kommunitarismus bezweifelt31 –, müssen sie eben ins Rechtssystem als Regeln eingefügt werden, woraufhin augenblicklich Kultur von Legalität ununterscheidbar wird. Innerhalb des geltenden Rechts kann dann aus vielerlei Gründen nicht mehr zwischen kulturell imprägnierten und anderen Normen unterschieden werden, namentlich weil es – wie gezeigt – schwierig und stets umstritten sein dürfte, welche Normen zur kulturellen Überlieferung gehören und welche nicht; aber auch, weil dies die interne Konsistenz der Rechtsordnung in Frage stellen wird. Die Unterstellung kultureller Differenzen läuft insoweit der Praxis des Rechtssystems entgegen. Denn dessen Funktion hängt maßgeblich davon ab, gesellschaftliche Konflikte als begrenzte Probleme der daran beteiligten Parteien darzustellen und zu individualisieren – sie mithin gerade nicht als Zusammenstoß zweier oder mehrerer kollektiver Identitäten zu verallgemeinern, zu politisieren und zu verschärfen.

27 So das demokratietheoretische Argument bei Cass R. Sunstein, One Case at a Time, 1999, 24 ff. 28 A. Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 1993. 29 Udo Di Fabio, in: Essener Gespräche zu Kirche und Staat 2007, i.E. Dies ist mehr als zweifelhaft, siehe pars pro toto zu den christlichen Ursprüngen der Grundrechte: Horst Dreier, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Vorbemerkungen vor Art. 1 GG, Rn. 3 f. 30 Dies gilt trotz der hier gewählten neukantianischen, damit recht deutschen Formulierung für alle westlichen Demokratien. Entscheidend ist nicht der Geltungsbegriff. Zu bestreiten ist auch nicht, dass Traditionsbezüge in demokratischen Verfassungsordnungen eine juristische Rolle spielen können (Alexander Blankenagel, Tradition und Verfassung, 1987). Aber festzuhalten bleibt die schwache, hier hinreichende Feststellung, dass zwischen Tradition und Rechtsfolge ein argumentatives Glied eingefügt werden muss, damit nicht jedes traditionale Herkommen Teil der Rechtsordnung wird. 31 Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, 1995.

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2. Verfassung und Kultur zwischen Identität und Differenz Gelten diese Argumente auch für das Verfassungsrecht? Verfassungen verknüpfen das Rechtssystem mit einer politischen Legitimationsstruktur, man wird sie nicht einfach auf die Kleinarbeitung von individuellen Konflikten reduzieren können.32 Verfassungen fungieren vielmehr stets auch als politische Dokumente und in dieser Funktion können sie einen übergreifenden Anspruch auf Definition einer politischen Ordnung zum Ausdruck bringen, der dem totalisierenden Gehalt des Kulturbegriffs in gewisser Weise entspricht. Verfassungen sind für alle da, nicht nur für Juristen: „not a lawyers contract, but a layman´s document.“33 Demokratische Verfassungen fixieren zudem eine kollektive Identität, sie ziehen die Grenze zwischen den an der politischen Ordnung Teilnehmenden und den Ausgeschlossenen.34 Diese identitätsstiftende Wirkung von Verfassungen westlichen Typs ist nicht unproblematisch, denn demokratische Identitäten entstehen regelmäßig durch Gewalt.35 Verfassungen wie die amerikanische oder die französische entstanden durch Revolutionen, föderale Systeme wie die Deutschlands, der Schweiz oder wiederum der Vereinigten Staaten fanden erst im Anschluss an einen Krieg ihre stabile Struktur. Demokratische Identitäten als das politische Substrat von Verfassungsordnungen sind häufig das Ergebnis von physisch ausgetragenen Konflikten – eine Einsicht, die gerade von kulturwissenschaftlichen Verfassungstheorien einem liberalen Verfassungsverständnis entgegen gehalten wird: Der rein gesellschaftsvertraglichen normativen Verfassungstheorie entgehe die gewalttätig exkludierende Wirkung von Verfassungen.36 Inwieweit diese faktisch zutreffende Beobachtung auch verfassungstheoretische Folgen hat, ist an dieser Stelle nicht abstrakt zu klären. Akzeptiert man für den Augenblick die Kultur konstituierende Wirkung demokratischer Verfassungsordnungen, lässt man sich also darauf ein, dass demokratische Identität über eine formalrechtliche Zugehörigkeitskonstruktion hinausgeht, so muss doch ein genauerer Blick diese Vermutung, in der sich neue amerikanisch inspirierte Kulturwissenschaft des Rechts und altdeutsche Staatsrechtslehre treffen,37 sogleich vierfach relativieren: Zum Ersten führt die Zusammenführung von Verfassung und Kultur nicht nur zu einer Kulturation des Verfassungsbegriffs, sondern auch zu einer Legalisierung der Kulturkonzeption. Liest man Verfassung als Kultur, dann liest man auch Kultur als Verfassung – mit allen institutionellen Konsequenzen, die das hat. Denn während die Identifikation von Verfassungsinhalten mit einer bestimmten Kultur, etwa mit dem „Abendland“ oder mit dem „Westen“ zumeist dazu dient, die Verfassungsauslegung mit Mitteln, die methodisch problematisch sein können, in eine bestimmte Richtung zu drängen, müsste es doch eigentlich auch umgekehrt gehen: erst ein juristisch kor32 Ulrich K. Preuß, Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik, in: U. K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994, S. 7. 33 Franklin D. Roosevelt, Address on Constitution Day, Washington DC, 17. 9. 1937. 34 Zum Problem nur Iris Marion Young, Inclusion and Democracy, 2000, 52 ff. 35 Einen starken Zusammenhang zwischen demokratischer Regierungsform und gewalttätiger ethnischer Homogenisierung behauptet Michael Mann, The Dark Side of Democracy, 2004. 36 Ulrich Haltern, Was ist Souveränität, 2007, 84 ff. 37 Paul Kirchhof, Verfaßter Staat ohne verfaßte Gesellschaft?, in: Festgabe für Karin Graßhof, 1998, 3. Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland, in: A. Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, 1986, 11.

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rektes Verständnis der Verfassung vermag uns Auskunft darüber zu geben, was Inhalt der Verfassungskultur sein könnte – nur wozu braucht man dann noch den Begriff der Kultur? Kelsens Kritik am juristischen Staatsbegriff,38 in der er in einer weiterhin überzeugenden Argumentation nachweist, dass der Hinweis auf Staatlichkeit schnell Argumente in das Recht transponiert, die diesem eigentlich nicht zu entnehmen sind, lässt sich auf einen verfassungsrechtlichen Kulturbegriff ohne weiteres übertragen.39 Zum Zweiten ist, wie oben bereits erörtert, der Kulturbegriff nicht anders als dynamisch zu denken, so dass die materiellen kulturellen Gehalte, die man mit dem Verfassungsbegriff identifiziert, schwer greifbar und in jedem Fall veränderlich sind. Dies gilt aber noch einmal verstärkt für demokratische Verfassungen, die von vornherein auf Veränderung angelegt sind. Damit ist der Gehalt von Verfassungskulturen bewusst zu einem großen Teil offen gehalten. Kulturalistisch formuliert: Die Verfassungskultur demokratischer Verfassungen ist eine solche der kulturellen Weiterentwicklung. Sie ist – dem modernistischen Erbe des demokratischen Liberalismus entsprechend – nicht nur auf die Bewahrung kultureller Gehalte ausgerichtet. Zum Dritten scheint es trotz dieser allgemein gehaltenen Relativierungen durchaus unterschiedliche spezifische Intensitäten von Verfassungskultur zu geben. Denkt man in diesem Zusammenhang an die amerikanische Verfassung, so verbindet sich mit dieser – schon wegen ihres Alters – eine ganze Alltagskultur, eine regelrechte Verfassungsfolklore. Dies zeigt die Popularität historischer Akteure wie der Founding Fathers oder mancher Richter des U.S. Supreme Court ebenso wie die Verbreitung des Verfassungstextes und die nationale Bedeutung bestimmter Erinnerungsorte, namentlich in Philadelphia. Eine ausgeprägte Verfassungsfolklore kann dazu beitragen, ein bestimmtes Maß an gesellschaftlicher Zentrifugalität, etwa durch große soziale Unterschiede oder durch eine scharfe Unterscheidung zwischen Land- und Stadtleben, aufzufangen – und damit eine integrierende Funktion von Verfassungsrecht zu erleichtern.40 Zu vermuten steht: Je stärker eine Verfassungsordnung sich derart symbolisch verankern kann, desto eher kann sie sich es leisten, in der Sache offen und veränderbar zu sein. Freilich kann man dieser Beobachtung keine handlungsanweisende Wendung geben. Denn wenn die hier vertretene Beobachtung richtig ist, dass wir mit dem Kulturbegriff Dinge bezeichnen, die sich unserem unmittelbaren intentionalen Zugriff entziehen, dann wird man folkloristische Verfassungskulturen nicht einfach fabrizieren können, schon gar nicht mit Mitteln des Rechts. Diese Vermutung bestätigt sich bei einem Blick auf die europäische Integration. Hier sind alle Versuche, mit Hilfe politischer Symbolik eine neue Verfassungskultur zu kreieren, bis auf weiteres gescheitert.41 Auch wenn es Rückwirkungen zwischen Verfassungskultur und Verfassungsrecht gibt, so könnten sie nicht gezielt angesteuert werden. 38 Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 2. Aufl., 1928. 39 An dieser Stelle könnte ein methodisch interessanter Dialog zwischen einem Verständnis von Kultur als Text (Clifford Geertz, The Interpretation of Culture, 1973, 5) und einer kulturwissenschaftlichen Rechtstheorie beginnen, die sich ausdrücklich auf Texte beschränkt, ohne dies aber eigens methodisch zu rechtfertigen: Peter Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994. 40 Bei aller Vorsicht, die mit diesem Begriff verbunden ist, gerade weil auch Differenzen, als Gegenbegriff zu Integration, gesellschaftlich und verfassungsrechtlich erwünscht sind. 41 Ulrich Haltern, Pathos and Patina, European Law Journal 9 (2003), 14. Bemerkenswert ist, wie eng sich diese an die Vereinigten Staaten anlehnen, als ginge es darum, deren kulturellen Text immer wieder zu kopieren, von der Präambel bis zum Motto.

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Ob solche Folklore Teil der juristischen Argumentationstechnik werden, ist dagegen eine offene Frage. Dies widerstrebt einem deutschen Methodenverständnis. Aber der Blick in die Argumentation amerikanischer Gerichte, namentlich des U.S. Supreme Court, zeigt eine andere Sicht – einen Begründungsstil, der auch Anekdoten, Zitate und Hymnentexte als Argumentationsmaterial verwendet. Schließlich lässt sich zum Vierten das Verhältnis zwischen Gewalt und demokratischer Identität auch umgekehrt deuten, als in den juristischen Kulturwissenschaften verbreitet angenommen wird. Wie gezeigt weisen Teile der kulturwissenschaftlichen Rechtstheorie immer wieder auf den gewalttätigen Ursprung demokratischer Verfassungsordnungen hin und machen zugleich der liberalen Verfassungstheorie den Vorwurf, diese Gewalt systematisch auszublenden.42 Zugleich soll das Phänomen der Gewalt genau den von liberalen Theorien des Gesellschaftsvertrags nicht erklärbaren Rest indizieren, der dann mit dem Begriff der Kultur belegt werden kann. Hier stellt sich jedoch die – in den gern subjektlos argumentierenden Kulturwissenschaften häufig prekäre – Frage nach der Unterscheidung zwischen Erklärendem und Erklärtem. Selbst wenn man einen gewalttätigen verfassunggebenden Gründungsakt zugesteht und mit der Feststellung noch einen Schritt weitergeht, dass demokratische Verfassungsordnungen nicht nur durch Gewalt errichtet wurden, sondern diese Gewalt durch ihre Rechtsordnungen perpetuieren,43 bleibt doch offen, ob in diesem Zusammenhang Gewalt als Indiz für Kultur oder umgekehrt Kultur als Indiz für Gewalt gelesen werden kann. Denn eindeutig erkennbar ist das Phänomen physischer Gewalt, nicht zwingend aber ist es, dieses als Ausdruck von Kultur zu deuten und damit seiner Erklärung gerade zu entziehen.44 Demokratische Identitäten sind nicht so stark, dass sie auch gewalttätig werden, sondern erst im Phänomen der Gewalt werden demokratische Identitäten eindeutig erkennbar oder noch genauer: Erst Gewalt hat die Eindeutigkeit, die man der kulturellen Homogenität politischer Einheiten immer unterstellt, und eindeutig sind sie auch dann nur im Wege der bestimmten Negation des Gewaltakts. Gewalt als ein Indiz für kulturelle Differenzen zu verstehen, stellt keine Erklärung, sondern lediglich eine Umdeklarierung dieser Gewalt dar. 3. Störungen der Legitimationsstruktur als kulturspezifische Probleme des Verfassungsrechts Die kulturwissenschaftliche Einsicht, dass demokratische Verfassungsordnungen bestimmte Formen von gesellschaftlicher Identität erzwingen, ist also durch die Beobachtung zu ergänzen, dass demokratische Verfassungen in besonderer Weise auf die Veränderung ihrer eigenen Strukturen eingestellt sind. Hinzu kommt ein weiteres: Grundrechte, die für den Typ demokratischer Verfassungsordnungen kennzeichnend sind, dienen der Bewahrung binnengesellschaftlicher Differenzen, also auch dem 42 Etwa im Anschluss an Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 47 (1920/1921), 809. Siehe etwa Giorgio Agamben, Homo Sacer, 2002. Viel vorsichtiger dagegen Jacques Derrida, Force de loi, 1994, 67 ff. 43 Dazu IV., 1. 44 Dies zeigt sich etwa an einer Dämonisierung des Nationalsozialismus, die diesen rationaler Erklärbarkeit entzieht.

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Schutz kultureller Selbstverständnisse.45 Der Konflikt zwischen einer Mehrheitskultur und der demokratischen Mehrheitsidentität erfolgt also nicht unvermittelt. Liberaldemokratische Verfassungen definieren ihre eigene demokratische Identität als veränderbar, und sie haben für andere Kulturen spezifische Schutzmechanismen vorgesehen. In demokratischer Selbstbestimmung und im Grundrechtsschutz, in privater und öffentlicher Autonomie scheint die Frage nach der verfassungsrechtlichen Behandlung kultureller Differenz damit gut aufgehoben zu sein. Wo bleibt das Problem kultureller Differenzen im demokratischen Verfassungsrecht? Im verfassungsrechtlichen Normalfall bleibt das institutionelle Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Autonomie prekär. Dieses Problem hat in verschiedenen Rechtsordnungen verschiedene Namen und unterschiedliche rechtliche Anknüpfungspunkte – aber immer geht es darum, inwieweit grundrechtlicher Schutz von Differenzen sich demokratischen Mehrheitsentscheidungen entgegenstellen kann – oder institutionell gewendet: inwieweit es Gerichten gestattet ist, Entscheidungen des Gesetzgebers unter Berufung auf Grundrechte aufzuheben. Während dieses Problem als „counter-majoritarian difficulty“ in den Vereinigten Staaten seit langem verfassungstheoretisch eingehend diskutiert wird,46 arbeitet das deutsche Verfassungsrecht es auf einer rechtsdogmatischen Ebene ab.47 Aus dieser Sicht stellt sich die Frage kultureller Differenzen nicht anders als die übliche Frage der verfassungsrechtlichen Beziehung zwischen Mehrheiten und Minderheiten, zwischen demokratischem Legitimations- und individuellem Rechtssubjekt. Nach den oben angestellten Überlegungen zu den Ungewissheiten des Kulturbegriffs und der identitären Offenheit demokratischer Rechtsstaaten spricht in der Tat vieles dafür, diese Einordnung zumindest im Regelfall als Orientierungspunkt zu verwenden. Viele Fragen, die wir unter dem Stichwort kultureller Differenz verhandeln, sind juristisch geläufige grundrechtliche Probleme. Das Rechtssystem würde sich, wie gezeigt,48 funktional keinen Gefallen damit tun, für solche Fälle irgendeine Form von Sonderbehandlung vorzusehen, um sie dadurch weiter zu politisieren. Auch dies veranschaulicht ein Vergleich. Würde eine Rechtsordnung bestimmten Straftätern den Status als „politische Gefangene“ zuweisen, so wiche sie damit von der gleichmäßigen Anwendung des geltenden Rechts ab. Verfassungsrechtsdogmatisch hätte sich ein solches Vorgehen insbesondere vor den Vorgaben des Gleichheitssatzes zu rechtfertigen. Warum sollte für kulturelle Differenzen etwas anderes gelten? Sind damit alle Probleme gelöst? Nicht notwendig, wenn man anerkennt, dass sich bestimmte gesellschaftliche Differenzen von Rechts wegen nicht in dieser Weise befriedigend behandeln lassen. Zu vermuten ist, dass kulturspezifische Probleme des Verfassungsrechts dort auftauchen, wo die Balance zwischen demokratischer Mehrheitsentscheidung und individuellem Rechtsschutz wegen der Formation bestimmter kollektiver Identitäten dauerhaft gestört ist, so dass es besonderer kulturspezifischer 45 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1. Aufl. 1965. 46 Den Zusammenhang zwischen dieser Debatte und der Frage des Umgangs mit Kultur zieht auch Post (Fn. 12), 494 ff., 500. Überblicke zur jüngeren Entwicklung bei Barry Friedman, History of the Countermajoritarian Difficulty, Part Three: The Lesson of Lochner, New York U. L. Rev. (2003); Part Four: Law’s Politics, U. o. Pennsylvania L. Rev. 148 (2000), 971; Part Five: The Birth of an Academic Obsession, Yale L. J. 112 (2002). 47 Dazu nur Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 7. Aufl. 2007, 351 ff. 48 Oben, III., 1.

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Anpassungsleistungen des Verfassungsrechts bedarf. Diese abstrakt formulierte Vermutung lässt sich anhand zweier Konstellationen veranschaulichen, die in der kulturalistischen Verfassungstheorie eine große Bedeutung haben: Mit Blick auf die demokratische Selbstbestimmung scheinen Probleme kultureller Differenz in dem Moment auf dem Plan zu treten, in welchem Minderheiten zu klein sind, um eigene politische Mehrheiten zu erobern, zu „anders“, um sich in die allgemeine Mehrheitsbildung einzufügen, aber groß genug, um eine eigene als politisch relevant wahrgenommene kollektive Identität auszubilden.49 Grundsätzlich erkennen demokratische Verfassungsordnungen dieses Problem aus Gründen demokratischer und individueller Gleichheit nicht an. Mehr als eine Chance, sich mehrheitsfähig zu organisieren und mit anderen gleich behandelt zu werden, vergeben demokratische Verfassungsordnungen normalerweise nicht. Dennoch erscheint es denkbar, dass Minderheiten unter den Bedingungen einer bestimmten Gesellschaftsstruktur nicht in der Lage sind, Teil einer Mehrheit zu werden. Eine zweite Konstellation ergibt sich mit Blick auf die Wahrnehmung individueller Freiheit. So erscheint es denkbar, dass individuelle Rechte in einer Weise wahrgenommen werden, die bestimmte kollektive Identitäten, also die kulturelle Vielfalt bestimmter Gesellschaften gefährdet. Dieses Problem betrifft vordringlich, aber nicht ausschließlich die wirtschaftlichen Freiheiten. Es wird momentan im Völkerrecht diskutiert,50 in dem die globale Erstreckung des Marktes durch das Verbot von Handelsbarrieren die Existenz nationaler Kulturen gefährden kann, wenn bestimmte ökonomische Reproduktionsmechanismen dieser Kulturen wegen globaler Konkurrenz nicht mehr funktionieren. Im extremsten Fall kann internationales Wirtschaftsrecht es dem Staat sogar verbieten, bedrohte Kulturen zu fördern, weil dies eine Wettbewerbsverzerrung darstellt.51 Ähnliche Konstellationen sind auch innerhalb staatlicher Verfassungsordnungen mit Blick auf andere Grundrechte zu beobachten. Wenn es zur „Kultur“ des amerikanischen Südens gehörte, Rassen zu trennen,52 und zur „Kultur“ des deutschen Südostens, Kruzifixe in staatlichen Schulen anzubringen,53 dann wurden diese beiden – natürlich nicht einheitlich zu bewertenden – kulturellen Eigenheiten durch Grundrechte der Bundesebene hinwegnivelliert. Hier zeigt sich ein Mechanismus, der für Mehr-Ebenen-Rechtsordnungen typisch ist. Regeln der höheren Ebene garantieren abstrakt formulierte Freiheiten, die den institutionellen Zusammenhang der Glieder sichern sollen. Diese Garantien haben einen vereinheitlichenden Effekt, den man zugleich als emanzipierend und als kulturell nivellierend verstehen kann.54

49 In Anschluss an Kelsens an der Möglichkeit der Minderheit, Mehrheit zu werden, orientierter Demokratietheorie, dazu: Oliver Lepsius/Matthias Jestaedt, Einleitung, in: O. Lepsius/M. Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, 2006. 50 Grundsätzlich, insbesondere auch zur neuen UNESCO-Convention on Cultural Diversity: Georg Nolte, Vielfalt der Kulturen als Herausforderung an das Völkerrecht, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 42 (2007), i.E. 51 Zur Rechtslage im WTO-Recht: M. E. Footer/C. B. Graber, Trade Liberalization and Cultural Policy, Journal of International Economic Law 3 (2000), 115. 52 Brown v. Board of Education, 347 US 483 (1954). 53 BVerfGE 93, 1. 54 Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, 243 ff.

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Die erste Konstellation betrifft die Gefährdung oder Unterrepräsentation einer Minderheit durch die demokratische Mehrheit; die zweite Konstellation betrifft die Gefährdung regionaler oder nationaler Mehrheitskulturen durch ebenenübergreifende Freiheitsrechte. Beide Konstellationen lassen sich in der einheitlichen systematischen Sprache der liberaldemokratischen Verfassungstheorie und damit auch ohne Rückgriff auf die Kritik der kulturalistischen Verfassungstheorie formulieren: Kulturspezifische Probleme entstehen bei einer nicht nur vereinzelten, sondern andauernden Störung der Legitimationsmechanismen durch eine spezifische Verteilung kollektiver Identitäten. 4. Zwischenbilanz Während die Reformulierung von Rechtsfragen als kulturelle Konflikte die Problemlösungsleistungen des Rechtssystems grundsätzlich in Frage stellt, präsentiert sich dieser Zusammenhang für das Verfassungsrecht komplizierter. Demokratische Verfassungen konstituieren kollektive Identitäten und damit in einem bestimmten Sinn eine eigene Kultur. Freilich ist diese Kultur als demokratische Identität von vornherein auf Veränderung angelegt. Zudem schützen Grundrechte Minderheitenkulturen. Trotzdem erscheint es möglich, Konstellationen zu bezeichnen, in denen die Formalisierungsleistung des Verfassungsrechts an kollektiven Identitäten abgleitet und in denen es kollektiven Identitäten entweder nicht gelingt, an einer demokratischen Mehrheitsbildung teilzuhaben, oder in denen kulturelle Praktiken durch die gleichfalls rechtlich geschützte Freiheitswahrnehmung anderer Subjekte bedroht werden. IV. WAS

KANN

MULTIKULTURALITÄT

IM

VERFASSUNGSRECHT

BEDEUTEN?

Diese Zusammenhänge gestatten es, nun abschließend einen konkreteren Blick auf die Diskussion um ein multi-kulturelles Verfassungsrecht zu werfen. Dabei sollen zunächst sowohl der Anspruch einer multi-kulturalistischen Verfassungstheorie (1.) als auch derjenige des rechtstheoretischen Rechtspluralismus (2.), fundamental mit den überlieferten Paradigmen liberaldemokratischer Verfassungen zu brechen, einer kritischen Analyse unterzogen werden, bevor Institutionen eines moderaten Verfassungsexperimentalismus vorgestellt werden können (3.). 1. Anspruch und Problematik multi-kulturalistischer Verfassungstheorie Strukturelle Probleme der Mehrheitsbildung oder asymmetrischer individueller Freiheitswahrnehmung können diejenigen Probleme erzeugen, die als kulturelle Differenz im Verfassungsrecht debattiert werden. Aber zwingen derartige Probleme dazu, von der liberaldemokratischen Verfassungstheorie grundsätzlich abzusehen und nach einem neuen multi-kulturalistischen Verfassungsparadigma zu suchen? Anders gefragt: Geht die multikulturalistische Verfassungstheorie über ein klassisch liberales Modell wirklich kategorial hinaus?

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Dies wird in der kulturalistischen Verfassungstheorie immer wieder behauptet, der bekannteste und einflussreichste Text ist das Buch von James Tully, Strange Multiplicity, der deswegen im Folgenden pars pro toto für eine schnell weiter wachsende Diskussion betrachtet werden soll.55 Tullys Entwurf einer multi-kulturellen Verfassungstheorie bezieht seinen Ansatz wiederum aus der oben bereits diskutierten Tatsache,56 dass der klassische „liberale“ Verfassungsstaat57 ein immenses kulturelles Unterdrückungspotential unter Beweis gestellt habe58: Sein Hauptbeispiel ist der Umgang mit Ureinwohnern in Verfassungsordnungen, die aus Kolonialstaaten hervorgegangen sind, aber Tully macht ausdrücklich klar, dass er seine Aussagen auch auf den Umgang mit Geschlechterdifferenzen oder Migranten verallgemeinert wissen möchte.59 Wie oben ausgeführt, kann man den Hinweis auf die gewalttätigen Ursprünge des Verfassungsstaats im Ansatz teilen, ohne alle Implikationen zuzugestehen, die aus ihm gezogen werden.60 Denn unzweifelhaft eignet Ordnungen immer ein gewalttätiges Element, das sich nicht einfach aus einer Ordnung hinaustransplantieren lässt. Hieraus ergibt sich ein systematisches Argument gegen den Ausgangspunkt von Tullys Argumentation. Denn was seinen Überlegungen fehlt, ist die Entwicklung eigenständiger, über die gescholtene liberale Tradition hinausgehender Kriterien für die Beurteilung der Unterdrückungsphänomene, gegen die sich diese Theorie ausdrücklich richtet.61 Auch wenn es in liberaldemokratischen Verfassungsordnungen Unterdrückung gibt, auf der die Ordnung basiert, stellt sich die Frage, wie man diese erkennt und von legitimer Rechtsdurchsetzung unterscheidet, will man diese Unterscheidung nicht völlig verwerfen, was allenfalls theoretisch denkbar, nicht aber praktisch möglich erscheint.62 Die Kategorien von Freiheit und Selbstbestimmung, die der Einordnung zugrunde liegen, sind Kategorien der sogenannten „liberalen“ Tradition des Verfassungsrechts. Die Bewertung bestimmter Erfahrungen als Unterdrückung kann nur unter Rückgriff auf Kategorien formuliert werden, die ihrerseits mit Kulturalismus nicht zu begründen sind. Anschaulich wird dies anhand der Frage, inwieweit eine kulturalistische Verfassungstheorie „andere“ Kulturen, etwa Migranten oder Ureinwohner, die mit eigenen 55 James Tully, Strange Multiplicity, 1995. 56 Oben, II., 3. 57 Der Begriff „liberal“ dient in den Rechtskulturwissenschaften gerne als unspezifizierter Gegenbegriff zur eigenen Position. So verwendet, wäre auch Rousseau ein Liberaler. Vgl. als Grundsatzkritik, wenn auch mit durchgehend ungenauer Argumentation, Paul Kahn, Putting Liberalism into its Place, 2004. 58 Tully (Fn. 55), 7 ff., 58 ff. 59 Charakteristischerweise nimmt eine andere Differenz im angelsächsischen Diskurs nicht den gleichen Stellenwert ein – die soziale Differenz zwischen arm und reich, die erst einmal konsistent von anderen kulturellen Differenzen abzugrenzen wäre und sich nicht selten hinter diesen verbergen dürfte. 60 Der oben entwickelte Hinweis auf die institutionellen Angebote des liberalen Verfassungsstaats erscheint in dieser Diskussionslandschaft dagegen nicht selten als politisch konservativ – ein Urteil, das schon mit Blick auf die französisch-jakobinische Tradition strenger formeller Gleichheit erstaunt: denn diese Tradition ist weder konservativ noch liberal, sondern revolutionär und rousseauistisch. 61 Deutlich etwa in den nur impliziten Wertungen bei Tully (Fn. 55), 129 ff. 62 Denkbar erscheint es namentlich, die praktische Ununterscheidbarkeit zwischen Gewalt und Recht theoretisch zu formulieren – ohne damit einen allgemeinen Verdacht gegen Recht zu unterstellen, so lässt sich Derrida (Fn. 42) lesen.

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gesellschaftlichen Regeln, aus der Perspektive des Rechtspluralismus gar mit eigenem Recht operieren,63 unter besonderen Schutz stellen will. Wollte man die Begriffe Kulturalismus und Liberalismus scharf gegeneinander ausrichten, so müsste ein kulturalistisches und pluralistisches Rechts- und Verfassungsverständnis im Zweifelsfall die Selbstorganisation dieser Milieus gegenüber jeder Form von Zugriff durch die staatliche Rechtsordnung verteidigen. Aber diese Grundregel kann nicht funktionieren. Dies zeigt ein einfaches Beispiel: Diese Regel hätte nicht nur zur Folge, dass Ureinwohner sich auf ihren traditionellen Territorien selbst verwalten dürfen und ihre Lebensform gegenüber den Ansprüchen von Investoren durchzusetzen vermögen. Sie könnte auch zur Folge haben, dass die Unterdrückung von Frauen oder die Anwendung von Gewalt innerhalb eines bestimmten Milieus durch die staatliche Rechtsordnung aus Respekt vor kultureller Selbstbestimmung toleriert würde. Auf die Frage, inwieweit kulturelle Milieus von der staatlichen Rechtsordnung zu schützen sind, gibt es keine eindeutige Antwort, jedenfalls keine, die die Autonomie eines solchen Milieus einfach absolut setzen würde, egal wie es in ihm zugeht. Dass dies von Vertretern kulturalistischer Verfassungstheorie im Ergebnis auch nicht gewollt ist, wird aus ihren Texten deutlich.64 Aber die Inkonsequenz, eine postmoderne kulturelle Offenheit etwa des Familienrechts mit Auslandsanknüpfung zu fordern,65 sich aber zu wundern, wenn im Namen dieser Offenheit das Schlagen der Ehefrau keinen Scheidungsgrund mehr darstellt, bleibt erstaunlich.66 Tragisch erscheint dies insbesondere in Konstellationen, in denen verschiedene Minderheitenidentitäten aufeinander treffen und daher ihre jeweilige Selbstbestimmung zugunsten eines staatlichen Zugriffs aufgeben müssen. Aber auch diese Tragik enthebt nicht von der Einsicht, dass kulturalistische Verfassungstheorien zwar für spezifische verfassungstheoretische und verfassungsrechtliche Probleme zu sensibilisieren vermögen, deswegen aber noch kein Angebot bereithalten, um sie zu lösen. Hier müssen dann wieder die liberaldemokratischen Selbstbestimmungskategorien zum Einsatz kommen, die von der multi-kulturalistischen Verfassungstheorie zugleich explizit dementiert und implizit verwendet werden. Wie in der allgemeinen theoretischen Diskussion zwischen Liberalismus und Kommunitarismus erscheint es daher auch in ihrer verfassungstheoretischen Variante eher darum zu gehen, überkommene liberale Paradigmen zu ergänzen als sie zu ersetzen.67 In einer kleinen Debatte mit dem Anthropologen Clifford Geertz hat der Philosoph Richard Rorty das Problem auf den Punkt gebracht.68 In liberalen Ordnungen muss es sowohl connaisseurs of diversity als auch guardians of universality geben.69 Damit ist gemeint, dass eine allgemeine diskriminierungsfreie Regelanwendung in bestimmten Situationen durch kultur- und kontextspezifisches Wissen ergänzt werden muss, aber eben auch ergänzt werden kann. Räume einer kulturspezifischen 63 Sogleich, IV., 2. 64 Tully (Fn. 55), 176 ff. 65 Erik Jayme, Internationales Privatrecht und postmoderne Kultur, Zeitschrift für Rechtsvergleichung 38 (1997), 230. 66 LG Frankfurt a.M., Pressemeldungen vom 25. 3. 2007. 67 Michael Walzer, Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus, in: Honneth (Fn. 28), 157. 68 Richard Rorty, On ethnocentrism: A Reply to Clifford Geertz, in: Objectivity, Relativism, and Truth, 1991, 203. 69 Rorty (Fn. 68), 206.

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Anpassung sind in demokratischen Rechtsordnungen auf allen Ebenen vorgesehen: von der Anpassungsfähigkeit verfassungsrechtlicher Gleichheitsstandards und der daraus folgenden Gestaltungsmöglichkeit des Gesetzgebers bis zu individuellen Entscheidungsspielräumen von Behörden mit Milieukenntnis. Es ist eine ganz andere, verfassungstheoretisch nicht zu beantwortende Frage, ob der politische Wille besteht, solche kulturspezifischen Anpassungen vorzunehmen. Aber es ist in jedem Fall nicht zu erkennen, dass die Maßstäbe für eine solche Entscheidung über die liberalen Kategorien von individueller Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung hinausgehen könnten. 2. Rechtspluralismus? In enger Verbindung mit der verfassungstheoretischen Diskussion um ein multi-kulturalistisches Verfassungsrecht steht die rechtstheoretische Debatte um das Konzept des Rechtspluralismus. Kulturelle Vielfalt, so lautet das Argument, ist eines von vielen Beispielen dafür, dass Recht nicht pauschal auf eine einzige staatliche Rechtsquelle zurückgeführt werden kann, sondern durch eine Vielzahl von Rechtserzeugern entsteht.70 Die Diskussion um den Rechtspluralismus spielt damit auf einem abstrakteren Theorieniveau als die kulturwissenschaftlich inspirierte Verfassungstheorie und hat sich deswegen mit einer Vielzahl weiterer Phänomene auseinanderzusetzen, etwa mit der Rechtserzeugung durch private Unternehmen oder mit der theoretischen Einordnung des internationalen Rechts. Für die vorliegende Untersuchung werden einige Beobachtungen genügen, die diese Diskussion zur hier in Frage stehenden Problematik in ein Verhältnis bringen. Zunächst ist zuzugestehen, dass die vollständige Zentralisierung der Rechtserzeugung beim Staat keine begriffliche Selbstverständlichkeit darstellt, sondern im europäischen Fall erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen war.71 Manches spricht dafür, dass diese Entwicklung in die gegenteilige Richtung weiterverlaufen wird – und auch ein so konsequenter rechtstheoretischer Monist wie Kelsen hat ausdrücklich anerkannt, dass seine eigene Rechtstheorie nur unter den historischen Bedingungen einer weitgehenden Zentralisierung der Rechtserzeugung plausibel ist.72 Entsprechend erscheint es in der Tat als problematische Verkürzung, alles Recht, das nicht unmittelbar eigenhändig vom Staat gesetzt wird, auf einen staatlichen Anerkennungsakt zurückzuführen, um dadurch die „Einheitlichkeit“ der Rechtsordnung zu bewahren. Bei der rechtstheoretischen Beschreibung der Europäischen Union dürfte dieser Weg mittlerweile als gescheitert oder zumindest dem erreichten Stand der europäischen Integration nicht angemessen gelten.73 70

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Für ein darauf basierendes aktuelles empirisches Forschungsprogramm: Franz u. Keebet von Benda-Beckmann, The Dynamics of Change and Continuity in Plural Legal Orders, Journal of Legal Pluralism and Unofficial Law 53–54 (2006), 1. Zur theoretischen Vorgeschichte: Manfred Rehbinder, Rechtssoziologie, 5. Aufl. 2003, 53 ff. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999, 125 ff.; Christoph Möllers, Globalisierte Jurisprudenz, ARSP-Beiheft 79 (2001), 41. Gleiches gilt für den ohnehin weniger kategorial argumentierenden H. L. A. Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. 1994, 50 ff. Auch wenn man anerkennt, dass sich der Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts aus der Zustimmung der Mitgliedstaaten zu den europäischen Verträgen ergibt, kann dies doch nicht über

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Dies zugestanden, stellen sich jedoch zwei Fragen, die der Hinweis auf den Rechtspluralismus nicht löst: die erste lautet, woran eigentlich Rechtsquellen zu erkennen sein sollen, was sie auszeichnet, will man nicht jeden an der Formulierung von Rechtsfolgen Beteiligten, also beispielsweise jede Partei eines wirksamen Vertrages als Rechtsquelle verstehen.74 Die zweite Frage lautet, wie Konflikte zwischen verschiedenen Rechtsordnungen zu entscheiden sind. Beide Fragen haben mit dem hier behandelten Problem zu tun. Will man bestimmten kulturellen Praktiken, die mit eigenen Regeln operieren, den Status einer Rechtsordnung zubilligen, so steht diese Praktik der staatlichen Rechtsordnung erst einmal nicht nach: Das Rangverhältnis zwischen beiden Ordnungen ist offen. Freilich scheint die Abgrenzung zwischen Formen der Selbstregulierung, die sich innerhalb grundrechtlicher Garantien abspielen, und der Konstituierung einer eigenen Rechtsquelleneigenschaft von den Theorien des Rechtspluralismus nicht gelöst worden zu sein. Die faktisch richtige Beobachtung der Vielfalt der Formen und des Reichtums der Beteiligten an der Erzeugung von Recht ersetzt eben noch keine Theorie der Rechtsquellen.75 Die Staatszentriertheit der monistischen Rechtsquellentheorien hatte insoweit zumindest einen heuristischen Wert, der durch die kulturalistische Einsicht in die Buntheit der Rechtswelten nicht ohne weiteres ersetzt werden kann. Zudem erscheint es für die vorliegende Diskussion wichtig, die verfassungstheoretische Problemebene von der rechtstheoretischen abzuheben: Wie mit kultureller Vielfalt umzugehen ist, lässt sich rechtsquellentheoretisch nicht entscheiden. Die Behauptung, Kulturen verfügten über eine eigene Rechtsordnung, enthält keine Aussage über deren Legitimation oder Durchsetzungsfähigkeit. Denn relevant wird diese Anerkennung doch nur im Moment eines Konflikts zwischen verschiedenen Rechtsordnungen. Dass es für einen solchen aber keine aus dem Kulturbegriff folgende allgemeine Lösungsregel geben kann, wurde oben zu zeigen versucht. 3. Institutionen eines moderaten kulturalistischen Verfassungsexperimentalismus Kulturelle Differenzen changieren aus verfassungstheoretischer Perspektive zwischen demokratischen Mehrheits- und grundrechtlichen Minderheitsinstitutionen. Sie manifestieren sich in einem strukturellen Widerstand kollektiver Identitäten gegenüber den allgemeinen Selbstbestimmungsmechanismen. Wie weitgehend sich eine Verfassungsordnung darauf beschränkt, die eigenen Rechtfertigungsmechanismen ausschließlich an Demokratie und Individualrechte zu binden, oder wie offen sie

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die immense eigenständige Rechtserzeugungsleistung der Gemeinschaftsorgane hinwegtäuschen, die aus dieser Zustimmung eben nicht einfach nur folgt: Möllers (Fn. 54), 210 ff. Dies zeigt nicht zuletzt der Erfolg des Ebenenbegriffs, anders jedoch mit bedenkenswerten Argumenten: Matthias Jestaedt, Der europäische Verfassungsverbund. Verfassungstheoretischer Charme und rechtstheoretische Insuffizienz einer Unschärfenrelation, in: Gedächtnisschrift W. Blomeyer, 2004, 637. Zur Kritik an dieser Konsequenz: B. Z. Tamanaha, The Folly of the ˛Social Scientific‘ Concept of Legal Pluralism, Journal of Law & Society 20 (1993), 192. Siehe auch Klaus Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität: Globalisierung als rechtstheoretisches Problem, in: L. Wingert/K. Günther, Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, 2001, 539.

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gegenüber kulturspezifischen Sonderregeln ist, bleibt dabei erst einmal Frage des positiven Rechts. Verfassungsordnungen, die es mit der formellen demokratischen und individuellen Rechtsgleichheit besonders ernst nehmen, werden sich schwer damit tun, verfassungsrechtliche Institute bereitzustellen, die sich kulturellen Differenzen anpassen. Das Schulbeispiel hierfür bleibt der französische Republikanismus.76 Umgekehrt kann eine zu weitgehende Anpassung an kulturelle Identitäten die „normalen“ egalitären Prozeduren in Frage stellen. Denn die Anpassung formeller Gleichheitsmaßstäbe an bestimmte Kontexte berührt stets den gesamten Status der Gleichheitskonstruktion. Dies zeigt etwa die amerikanische verfassungsrechtliche Debatte um Affirmative Action.77 Noch am überzeugendsten sehen institutionelle Lösungen aus, wenn das Verfassungsrecht besondere Institute vorsieht. Ein traditionell ganz selbstverständliches Beispiel stellt der Föderalismus dar, dessen Legitimationsstrukturen von vornherein anders funktionieren als das unitarisch republikanische Modell und die man ursprünglich auch als ein Instrument verstehen konnte, kulturelle Vielfalt verfassungsrechtlich aufzuheben.78 Asymmetrische Formen des Föderalismus, in denen die beteiligten Glieder, auch wenn sie auf einer Ebene liegen, nicht mit identischen Rechten ausgestattet sind – wie in Spanien oder in Kanada –, gehen diesen Weg noch einen Schritt weiter. Ein anderes Beispiel, das allerdings auch als zu überwindende Regel aus vergangenen Zeiten verstanden werden kann, ist der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus des deutschen Religionsverfassungsrechts.79 Insoweit sich dieser Status auch nicht-majoritären Religionen öffnet, stellt er ein bemerkenswertes Rudiment aus der Vormoderne dar, das durch die Nachmoderne rezipiert wird. Die Bestrebungen auch im egalitär-republikanischen Frankreich, den muslimischen Religionsgemeinschaften eine repräsentative Organisationsstruktur zu geben, mit welcher der Staat in Kooperation treten kann, zeigen die Aktualität dieses Ansatzes.80 Der Körperschaftsstatus muss nicht als historisches Relikt gedeutet werden. Ob er dennoch so verwendet wird, hängt von anderen Fragen ab, namentlich davon, ob andere Religionen bereit sind, sich auf diese Struktur einzulassen, und ob die Zulassungskriterien dazu dienen, einen geschlossenen jüdisch-christlichen Klub einzurichten, der sich dann wiederum auf eine „gemeinsame Kultur“ berufen kann.81 Den hier entwickelten Problemen eines verfassungsrechtlichen Kulturbegriffs entgehen solche Institute allerdings auch dann nicht, wenn sie ausdrücklich in der Verfassung vorgesehen sind. Dies veranschaulichen einige Lieblingsbeispiele der kulturalistischen Verfassungstheorie: Wenn Kapitel 12 der südafrikanischen Verfassung „Traditional Leadership“ anerkennt82, wenn in Kanada Sections 25, 35 der Canadian Constitution 1982 die bestehenden Rechte der Ureinwohner schützen oder wenn 76

Für diesen stellen sich solche Sonderregeln letztlich als gleichheitswidrige Privilegien dar. Emmanuel-Joseph Sieyès, Abhandlung über die Privilegien, 1789. 77 Überblick bei Vicki J. Jackson/Mark Tushnet, Comparative Constitutional Law, 1999, 988 ff. 78 Anton R. Greber, Die vorpositiven Grundlagen des Bundesstaates, 2000. 79 Für ein modernes Verständnis: Michael Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften, 2003. 80 Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005; Christian Walter, Religionsverfassungsrecht, 2005. 81 Diese Tendenz in BVerwGE 105, 117, dagegen BVerfGE 103, 270. 82 Zum Problem: Wieland Lehnert, Afrikanisches Verfassungsrecht und Gewohnheitsrecht in Südafrika, Diss. Jur. Göttingen 2006.

Pluralität der Kulturen als Herausforderung an das Verfassungsrecht?

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die Spanische Verfassung es ermöglicht, bestimmten comunidades autónomas mehr Rechte einzuräumen als anderen, so muss man in solchen Regelungen keinen kategorialen Bruch mit dem Paradigma des demokratischen Verfassungsstaats sehen. Aber trotz der Festschreibung dieser kulturellen Ausnahmen im Verfassungstext bleiben dem Verfassungsrecht die oben vorgestellten Probleme erhalten. Sie werden nur aus der Ebene der Verfassungstheorie in diejenige des Verfassungsrechts transponiert: Die Frage, wie viele Abweichungen im Namen der Kultur zulässig sind, wie viel individuelle Freiheitsverluste der Staat zulässt, um die Selbstbestimmung einer Kultur zu ermöglichen, bleibt offen. Der Hinweis auf Kultur kann sie nicht beantworten. V. SCHLUSS Nach alldem erscheint es schwierig, allgemeine verfassungstheoretische Regeln für den Umgang mit kultureller Pluralität zu entwickeln. Einige Schlüsse lassen sich aus den vorliegenden Überlegungen aber doch ziehen: Zum Ersten sollten Rechtsordnungen so weit wie möglich der Versuchung widerstehen, rechtliche Konflikte auf kulturelle Identitäten zurückzuführen und damit einer Logik der Eskalation zu übergeben, die gerade dem rechtlichen Problemlösungsmodus entgegenläuft.83 Der Kulturbegriff wird schnell zu einer Superkategorie, die jede Differenzierungsleistung der Rechtsordnung rückgängig zu machen droht. Mit ihm lassen sich die institutionellen Errungenschaften demokratisch-liberaler Rechtsordnungen sowohl unangemessen aufladen als auch völlig auflösen. Schon die Beschreibung bestimmter, in Rechtsform auszuhandelnder Differenzen als kulturelle Konflikte überfordert die problemdifferenzierende Aufgabe des Rechts. Zum Zweiten erscheint es angeraten, ein liberal-egalitäres Verfassungsverständnis zwar als Ausgangspunkt beizubehalten, es aber nicht als unabweichbare Verfassungsnorm zu fundamentalisieren. Institutionell gesprochen, sollte es jedenfalls nicht auf prinzipielle verfassungstheoretische Bedenken stoßen, wenn sich demokratische Mehrheiten dazu bereit finden, spezifische Regelungen zum Schutz bestimmter Kulturen zu verwenden. Demokratischer Experimentalismus84 mit institutionellem Einfallsreichtum mag noch der konkreteste Ratschlag zur Lösung von Problemen sein, die selbst innerhalb sich institutionell ähnlicher westlicher Verfassungsordnungen sehr unterschiedlicher Lösungen bedürfen. Ein strenger Republikanismus, von dem noch nicht einmal der Gesetzgeber abweichen kann, erscheint dagegen als ein zu unflexibles institutionelles Arrangement. Damit ist denn auch die Empfehlung verbunden, solche Regelungen möglicht reversibel zu halten, denn die Einbeziehung kultureller Minderheiten in die allgemeinen Regeln muss das Fernziel solcher Regelungen bleiben.85 Zum Dritten erscheint es verfassungstheoretisch ungleich problematischer, den demokratischen Gesetzgeber dazu zu verpflichten, kulturelle Ausnahmen von seiner Rechtsordnung zuzulassen. Dies wirft sowohl die Frage nach der Durchsetzbarkeit 83 Oben, III., 1. 84 Dazu die Beiträge in: H. Brunkhorst (Hrsg.), Demokratischer Experimentalismus, 1998. 85 Das Verschwinden der Minderheitenproblematik ist das Ziel der Minderheitenpolitik: Karl Marx, Zur Judenfrage (1844), MEW, 1976, 347.

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von solchen Pflichten auf als auch die nach ihrer andauernden Legitimation. Wenn es Ziel bleibt, Minderheiten in den majoritären Politikprozess einzubeziehen, könnte diese Regelungstechnik gerade den gegenteiligen Effekt haben. Eine letzte Überlegung, zum Vierten, muss schließlich an die beschränkte Regelungskraft von Recht erinnern. Wurden oben die zu Fatalismus tendierenden Bedeutungsschichten des Kulturbegriffs kritisch analysiert, so bleibt umgekehrt zuzugestehen, dass die als kulturelle Differenzen bezeichneten Probleme zu den – gar nicht so seltenen – Fragen gehören, bei denen man sich über die begrenzte Leistungsfähigkeit von Recht klar sein muss. Grenzen des Rechts zeigen sich schon im Rechtsvergleich zwischen institutionell ähnlichen Ordnungen, beispielsweise denjenigen Deutschlands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten. Hier erscheinen die verfassungsrechtlichen Unterschiede geringer als die gesellschaftlichen. Nichts spricht dafür, dass es am Verfassungsrecht liegt, wenn die Integration von Einwanderern in der Koreatown von Chicago, Illinois, deutlich besser zu funktionieren scheint als im 93. Arrondissement nordöstlich von Paris. Das bedeutet, dass eine Anpassung der verfassungsrechtlichen Seite nur einen geringen Effekt auf die genannten Probleme haben kann. Diese Feststellung ist nicht als Einladung zur Untätigkeit zu verstehen, sondern nur als Einbeziehung einer allgemeinen Einsicht der Regulierungstheorie auch auf das Gebiet der Verfassungspolitik kultureller Differenzen.86 Dies dient zugleich als Warnung vor einem Umgang mit dem Begriff der Kultur, der – ähnlich wie der Staatsbegriff – auch als professionelle Selbstermächtigung von Juristen taugt, die mit Hilfe des Kulturbegriffs können wollen, was sie nicht können, und wissen wollen, was sie nicht wissen können.

86 D. Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990.

UWE VOLKMANN, MAINZ KULTURELLES SELBSTVERSTÄNDNIS

ALS

TABUZONE

FÜR DAS

RECHT?

Im Reiseteil einer großen Tageszeitung war unlängst zu lesen, daß das italienische Seebad Riccione mit einem Strandabschnitt wirbt, der eigens für muslimische Frauen eingerichtet worden ist1. Der Strand ist vom übrigen Strand blickdicht abgezäunt, um den Frauen unbeobachtetes Baden zu ermöglichen; Männer haben zu ihm keinen Zutritt. Auf die Kritik, daß es sich dabei um einen Fall von umgekehrtem Rassismus handele, reagierte die Verwaltung mit dem Hinweis, daß schließlich auch die Einrichtung eines FKK-Strandes nichts anderes sei als die Befriedigung eines besonderen Interesses, die, nebenbei bemerkt, mit den Moralvorstellungen am Ort auch nur schwer in Einklang zu bringen sei. Damit existieren nun am Strand von Riccione offenbar mehrere Zonen, die exklusiv für bestimmte Gruppen reserviert sind und von den Angehörigen anderer Gruppen nicht betreten werden. Man könnte sich dies ohne große Mühe noch weiter ausmalen und sich immer mehr Gruppen vorstellen, die aufgrund ihrer Badegewohnheiten einen eigenen Strand für sich reklamieren und, ihre Zahlungskräftigkeit unterstellt, dann auch erhalten, von, sagen wir, den Hindus bis hin zu Urlaubern aus der ehemaligen Sowjetunion. Würde man dann von oben auf das Ganze blicken, sähe man ein Nebeneinander verschiedener Strände, auf denen verschiedene Gruppen je für sich und auf die für sie ganz spezifische Weise Badefreuden nachgehen. Man würde sich dann vermutlich verschiedene Fragen stellen, etwa die, ob es für diese Stränden so etwas wie gemeinsame Regeln gibt oder überhaupt noch Orte, wo die verschiedenen Gruppen einander begegnen können. Vielleicht fragt man auch, ob dies nicht überhaupt ein angemessenes Bild für die moderne Gesellschaft, für ihre Gegenwart oder ihre Zukunft sei: ein Mosaik religiös, ethnisch oder kulturell definierter Zonen, deren einzelne Teile in keiner erkennbaren Beziehung mehr zueinander stehen und für alle anderen in einem ganz archaischen Sinne tabu sind. Welche Antwort wäre darauf zu geben? I. Den Zäunen, die am Strand von Riccione die verschiedenen kulturellen Gruppen voneinander abschirmen und ihrer Koexistenz den Rahmen geben, entspräche, auf die Gesellschaft als Ganzes bezogen, das Recht. Ob und inwieweit dieses Tabuzonen für solche Gruppen anerkennt oder gar schafft, mögen drei typische Fälle oder besser Fallgruppen aus der Praxis belegen2. Man könnte ihre Zahl nahezu beliebig vermehren; aber die nachfolgend genannten scheinen mir in besonderer Weise instruktiv3. Für die erste Fallgruppe steht exemplarisch der Gesundbeter-Fall, den das 1 2 3

FAZ vom 31. August 2006, S. R 1. Zu den verschiedenen Beziehungen, die daneben zwischen den Kategorien Recht und Tabu möglich sind, vgl. die Beiträge in O. Depenheuer (Hrsg.), Recht und Tabu, 2003. Informative Aufbereitung des Fallmaterials bei G. Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, 2000, 8 ff.

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BVerfG schon Anfang der siebziger Jahre zu entscheiden hatte. Ein Mann, Mitglied einer evangelikalen Brüdergemeinde, hatte seine kranke Frau sterben lassen, weil er wie sie meinte, ihr sei durch Beten besser geholfen als durch einen Arzt. Das BVerfG sah in der Bestrafung wegen unterlassener Hilfeleistung einen Verstoß gegen die Glaubensfreiheit und hob sie deshalb auf: Die „Pflicht aller öffentlichen Gewalt, die ernste Glaubensüberzeugung in weitesten Grenzen zu respektieren“, müsse bei einer Abwägung zwischen der „seelischen Bedrängnis“ des Täters und dem Sinn einer Bestrafung in einem Fall wie diesem zu einem „Zurückweichen des Strafrechts“ führen4. Mit ähnlicher Begründung sprach vor einigen Jahren das LG Mannheim einen pakistanischen Ahmadi frei, an dessen Tür eines Abends seine Nachbarin klingelte. Sie trug nur T-Shirt und Unterhose, roch nach Alkohol und blutete am Bein; von ihrem Lebensgefährten hatte sie gerade einen Messerstich in den Rücken erhalten. Von Abscheu ergriffen, schloß der Mann die Tür; die Frau verblutete und starb. Das LG Mannheim verneinte die Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung, weil die Hilfeleistung dem Mann nicht zumutbar gewesen sei: Der Anblick der Frau sei mit den für ihn geltenden sittlich-religiösen Vorstellungen nicht vereinbar gewesen5. Man kann darüber streiten, ob man das auf den Terroristen, der ein Flugzeug in ein Hochhaus steuert, weil im Paradies eine Schar schwarzäugiger Jungfrauen auf ihn wartet, wirklich übertragen sehen möchte, aber das war bislang noch nicht zu entscheiden. Jedenfalls hier, in diesen kleineren, unspektaktulären Fällen, tritt das Strafrecht, tritt der staatliche Strafanspruch zurück. Die zweite Fallgruppe bilden die bekannten Befreiungen vom koedukativen Sport- bzw. Schwimmunterricht. Am Anfang der mittlerweile eingespielten Praxis standen drei Entscheidungen des BVerwG aus dem Jahre 1993, alle übrigens am selben Tage ergangen. Zwei Fälle betrafen den Antrag muslimischer Schülerinnen, im dritten ging es um den einer christlichen Schülerin. Sie alle hatten die Befreiung mit der Begründung beantragt, ihr Glaube verbiete ihnen, zusammen mit Jungen Sport zu treiben. Die Musliminnen beriefen sich dafür auf den Koran, die Christin berief sich auf die Bibel. Die Schulbehörden hatten die Befreiung jeweils unter Hinweis auf die allgemeine Schulpflicht und die Notwendigkeit des Sportunterrichts zur Erreichung der Erziehungsziele abgelehnt. Das BVerwG leitete demgegenüber aus der Glaubensfreiheit einen Anspruch auf Befreiung ab, wenn ein entsprechendes Gebot aus den Inhalten des Glaubens plausibel dargelegt werden könne. In den Fällen der beiden Musliminnen sah man das als gegeben an, im Fall der Christin dagegen nicht6. Die Konsequenz ist, daß in Schulen multiethnischer Stadtteile ein großer Teil der Schülerinnen nicht mehr am Sportunterricht teilnimmt; auch Schulausflüge finden mancherorts gar nicht mehr statt7. Für die dritte Fallgruppe schließlich stehen die mittlerweile ebenfalls schon zahlreichen Parabolantennenfälle, die für unser Thema deshalb interessant sind, weil sie für den Umschlag von religi4 5 6

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BVerfGE 32, 98 (109). LG Mannheim NJW 1990, 2212 f. Leitentscheidung für die muslimischen Schülerinnen: BVerwGE 94, 82; für die christliche Schülerin BVerwG DVBl. 1994, 168. Auch für Musliminnen restriktiver nunmehr z.B. VG Hamburg NVwZ-RR 2006, 121 ff.: Keine Befreiung einer 9-jährigen Ahmadiyya vom Schwimmunterricht. Zahlenmaterial und Fallbeispiel bei C. Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten: Eine Herausforderung für das deutsche Schulwesen, AöR 123 (1998), 375 ff.

Kulturelles Selbstverständnis als Tabuzone für das Recht?

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öser zu kultureller Orientierung stehen: Ein türkischer Mieter hatte auf Anbringung einer Parabolantenne geklagt, um die Sender seiner Heimat empfangen zu können. Eine solche Anbringung gilt, wenn ein Kabelanschluß vorhanden ist, nicht mehr als vertragsgemäßer Gebrauch, so daß nach der mietrechtlichen Ausgangslage der Vermieter die Anbringung verweigern kann. So hatten auch die Zivilgerichte im Fall des türkischen Mieters entschieden. Das BVerfG sah darin einen Verstoß gegen die grundrechtlich ebenfalls geschützte Informationsfreiheit: Ausländer verfügten über ein gesteigertes Interesse, die Programme ihres Heimatlandes zu empfangen, das höher zu gewichten sei als die Eigentumsinteressen des Vermieters8. Im Ergebnis können Ausländer danach die Anbringung einer Parabolantenne verlangen, während deutsche Mieter nach wie vor auf einen Kabelanschluß verwiesen werden können9. II. Im einzelnen sind dies sehr unterschiedliche Entscheidungen von unterschiedlichen Schauplätzen und Rechtsgebieten. Aber sie weisen doch eine gemeinsame Struktur auf, ein Muster, das in allen von ihnen wiederkehrt und sowohl in der inneren wie in der äußeren Seite des Vorgangs hervortritt. Die äußere Seite zunächst ist gekennzeichnet durch ein Zurückweichen des staatlichen Rechts: Einer religiös oder allgemein kulturell begründeten Handlungsweise steht ein rechtliches Hindernis entgegen – eine strafrechtliche Vorschrift, die allgemeine Schulpflicht, das Recht eines Eigentümers –, und dieses Hindernis wird mit Blick auf den höheren Rang der betreffenden Handlungsweise beiseite geräumt10. Das staatliche Recht nimmt so seinen Geltungsanspruch zurück, es öffnet sich und ermöglicht über Ausnahmeregelungen, Befreiungstatbestände, verfassungskonforme Reduktion oder vergleichbare Mechanismen die Wahrnehmung kulturell begründeter Optionen. Zugleich gibt es damit Raum für die Ausübung der dadurch jeweils in Anspruch genommenen Freiheit. Deren Inhalt wiederum wird maßgeblich von den Vorstellungen ihres Trägers her bestimmt und von seinem Selbstverständnis geprägt, so wie es das BVerfG in der Lumpensammler-Entscheidung für die Glaubens- und Religionsfreiheit exemplarisch entschieden hat11. Auch der anzuwendende Maßstab paßt sich, wie sich nachfolgend etwa bei der Beurteilung der Eingriffsschwere zeigt, so seinem Gegenstand an und ist auf diese Weise individualisiert, ganz von der je und je unterschiedlichen Wichtigkeit abhängig, die das betreffende Verhalten für den einzelnen oder seine Gemeinschaft hat: Was – im Parabolantennenfall – für einen Deutschen als Beschränkung der Informationsfreiheit hinzunehmen ist, wird für jemanden aus einem anderen Kulturkreis zu einer unzumutbaren Belastung12. Wichtig ist allein, was der Handelnde 8 9

BVerfGE 90, 27 ff.; ebenso BVerfG NJW 1994, 2143 ff.; BGHZ 157, 322 ff. Vgl. LG Berlin DWW 1995, 116; der Fall ebenfalls bei Britz (Fn. 2), 22. Künftig könnte sich das Problem infolge der Verbreiterung des Angebots der verfügbaren Programme bei Breitbandkabelanschlüssen allerdings auch wieder entschärfen, vgl. OLG München MDR 2006, 627 ff. 10 Britz (Fn. 3), 50 ff., dort auch zu weiteren Fallgruppen und Differenzierungen. 11 Grundlegend – zu Art. 4 I, II GG – BVerfGE 24, 236 (247 f.), seitdem st. Rspr.; allgemein M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993. 12 Vgl. zu dieser Individualisierung des Prüfungsmaßstabs Morlok (Fn. 11), 426, mit dem Vorschlag einer entsprechenden „Binnendifferenzierung“ der Freiheitsrechte.

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selbst als für sich maßgeblich empfindet und als Inhalt seiner Freiheit definiert. Dies gibt zugleich den Blick auf die innere Seite des Vorgangs frei, die seinen eigentlichen Kern ausmacht und in allen geschilderten Fällen zutage tritt. Dieser besteht, von allen Zufälligkeiten der individuellen Fallgestaltung entkleidet, in einer fast ängstlichen Zurückhaltung, wenn nicht Scheu der Gerichte oder der sonst zuständigen Stellen, religiös oder allgemein kulturell motivierte Entscheidungen zu bewerten, überhaupt zu ihnen in irgendeiner Weise Stellung zu nehmen. Die Einstellungen, die den entsprechenden Verhaltensweisen zugrunde liegen, werden also nicht einfach als unangemessen oder falsch zurückgewiesen, als ein Beispiel religiöser Verblendung im Gesundbeterfall oder – in den Sportunterrichtsfällen – als Ausdruck eines patriarchalischen Geschlechterverhältnisses, nach dem der Körper der Frau und damit auch die Ansicht von ihm der Familie und dem Ehemann gehört. Schon gar nicht sagt man im Parabolantennenfall, es sei aus Gründen des Spracherwerbs oder für die Bildungschancen der Kinder wenig sinnvoll, wenn zu Hause den ganzen Tag das türkische Fernsehprogramm laufe. All diese Einstellungen und Motive werden vielmehr vom Recht als das hingenommen, was sie sind, und so, wie sie für den einzelnen sind: Zu ihnen verhält man sich nicht und schweigt deshalb davon. Werden sie einigermaßen plausibel dargelegt, dann gelten sie und sind vom Staat zu beachten. Auch das Recht zieht sich dementsprechend vor ihnen zurück und läßt so Raum für die Verwirklichung der jeweiligen Selbstverständnisse, in denen die zugrundeliegenden Motive und Einstellungen wie in einem neuen Schlüsselbegriff zusammengefaßt sind. Diese begründen dann eine verbotene Zone, die der Staat nicht mehr betreten darf. Das geht nie so weit, daß auch beliebiges Handeln zugelassen ist; dieses unterliegt nach wie vor äußeren Schranken. Es werden deshalb in Deutschland heute keine Witwen verbrannt, und auch die genitale Verstümmelung von Mädchen gilt – anders freilich als die der Jungen – als verbotene Körperverletzung13. Aber das Selbstverständnis als solches, die Gesinnung oder das Motiv hinter dem jeweiligen Verhalten, ist jeder Stellungnahme und damit auch jeder Korrektur entzogen. Es läßt sich deshalb in der Tat davon sprechen, daß dieses Selbstverständnis für das Recht in einem ganz archaischen Sinne tabu ist: Es ist seinem Blick nicht anders verborgen, als es die muslimischen Frauen am Strand von Riccione den Blicken der Männer sind. III. In dieser Scheu vor jeder Stellung- oder gar Parteinahme ist verfassungsrechtlich unschwer die Wirkung der Grundrechte zu erkennen, für deren Auslegung das Selbstverständnis des Freiheitsträgers heute an tragender Stelle zu berücksichtigen ist14. Mit seiner Anerkennung wächst dem Grundrechtsträger eine Definitionskompetenz über den Inhalt seiner Freiheit zu, wie sie etwa in Gestalt der itio in partes – der Befugnis der Reichsstände des Alten Reiches, über die die jeweiligen Konfessionen betreffenden Angelegenheiten getrennt abzustimmen – ein bekanntes historisches Vorbild hat15. In 13 Auch sie ist allerdings in manchen Ländern – z.B. in Frankreich – lange Zeit stillschweigend geduldet worden, vgl. M. Walzer, On Toleration, New Haven 1997, 62 f. 14 Morlok (Fn. 11), 375 ff. 15 Vgl. M. Heckel, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesver-

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ihrem tieferen Grund stellt sich diese Scheu allerdings als das Ergebnis einer umfassenderen Umwälzung dar, die für den modernen Staat konstitutiv geworden ist und heute die Wahrnehmung von ihm weithin bestimmt. Der beherrschende Zug dieser Umwälzung ist das Auseinandertreten von geistlich-sittlicher und weltlich-politischer Ordnung und, in ihrer Folge, die Entlassung des einzelnen aus einer präformierten Sittlichkeit, wie sie zunächst von der einen Kirche, der ecclesia christiana als Himmel und Erde umschließender Kraft, später von dem frühneuzeitlichen Wohlfahrtsstaat verstanden und vorgegeben war. Darin galt der einzelne Mensch als von Natur aus unvollkommenes, lenkungsbedürftiges Wesen, das seine Erfüllung in vorgeformter Gemeinschaft fand und dessen Bestimmung es war, von einer väterlichen Regierungsgewalt zu der ihm keimhaft eingeschriebenen Tugend hingeführt zu werden. Mit der fortschreitenden Säkularisation kam dieses Ordnungsmodell an sein Ende. In ihrer Folge bildet sich ein autonomer Bereich politischer Gestaltung aus, der alsbald als Staat wahrgenommen wird und aus dem heraus die für das Gemeinleben relevanten Entscheidungen getroffen werden. In dem Maße, in dem dies geschieht, wird auch der einzelne Mensch nach und nach aus bestehenden Bindungen – an Religion, Korporation, Sitte – freigesetzt, die geistige und religiöse Orientierung als Kernelemente der Lebensführung zu einer Sache eigener Anlage und Entscheidung16. Von der Seite des einzelnen Menschen stellt sich dieser Vorgang damit in seiner letzten Konsequenz als Freigabe von Individualität dar. Was er umgekehrt für den Staat bedeutet, tritt andeutungsweise in den Begriffen hervor, in die er bis heute gefaßt wird und die ihn von unterschiedlicher Seite beleuchten. Ihr bestimmendes Prinzip, der Gedanke, der in allen als prägend hervortritt und um den sie kreisen, ist die Entzweiung: Trennung von Staat und Kirche, Trennung von weltlicher und geistlicher Ordnung, Trennung von Recht und Moral, schließlich, schon später, Trennung von Staat und Gesellschaft. Das Wesen des Vorgangs läßt sich damit für unsere Zwecke am ehesten als Distanzierung und Rückzug fassen, als Rückzug des Staates von dem, was geistige Orientierung verhieß und worin sie sich bildete, so wie es je auf der einen Seite der genannten Begriffspaare in unterschiedlicher Akzentuierung versammelt ist. Der Staat erhält dadurch ein „Moment der Äußerlichkeit“, so wie sich der gesamte Vorgang in der letzten und tiefsten Konsequenz als sein Äußerlichwerden darstellt17. Mit einer bis heute nachwirkenden Kraft ist dieses Moment in der kategorischen Trennung von Recht und Moral bei Kant ausgearbeitet, nach der der Staat im Wege des Rechts nur das äußere Verhalten regelt, damit aber nicht anstreben soll, die inneren Einstellungen zu erreichen; er könnte es auch gar nicht, weil dies dem Wesen des Rechts als einer bloß äußeren Zwangsordnung zuwiderliefe18. Aber auch in vielen Staatslehren des 19. Jahrhunderts ist diese Äußerlichkeit als Kernelement moderner Staatlichkeit klar gesehen und beschrieben19. Das Ergebnis dieser Entwicklung tritt uns heute in

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fassungsgerichts, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, hrsgg. von P. Badura/H. Dreier, Bd. 2, 2001, S. 379 (402 f.): „Kardinalfrage des Staatskirchenrechts“. Als Beschreibung des Vorgangs immer noch unerreicht: E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1991, 92 ff.; ders., Der Wandel des Menschenbildes im Recht, 2001. Begriff: E.-W. Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, 1978, 24 f. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Erster Teil, Einleitung in Metaphysik der Sitten, III, TheorieWerkausgabe, Bd. VIII, hrsgg. von W. Weischedel, 1968, 323 ff.; für die heutige Sicht etwa E. Denninger, Menschenrechte und Grundgesetz, 1994, 51 f. Sehr anschaulich – trotz seines rückwärtsgewandten Ausgangspunkts – F. J. Stahl, Die Philosophie

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der Hinordnung des Staates auf eine religiöse und weltanschauliche – neuerdings und vielleicht besser: ethische20 – Neutralität vor Augen, die nun wie die eigentliche Chiffre für das Ganze erscheint, der Punkt, auf den alles von Anfang an zulief. Wenn, wie es meist geschieht, der Inhalt dieser Neutralität dahin umschrieben wird, sie verwehre es dem Staat, sich mit bestimmten Auffassungen – etwa dem Glauben oder der Lehre einer Religionsgemeinschaft – zu „identifizieren“ oder diese als solche „zu bewerten“21, so ist es in der Tat gerade das damit ausgesprochene Tabu der Bewertung, das man in den eingangs beschriebenen Fällen am Werke sehen kann. Aber es geht eben nicht nur um Neutralität im Sinne unparteilicher, die verschiedenen Interessen gleichmäßig berücksichtigender Streitentscheidung, sondern um eine weiter- und tiefergehende Distanz, um die Ablösung von staatlicher Ordnung und geistig-ethischen Sachverhalten, in der das Äußerlichwerden des Staates in seinem Wesen besteht. Die Distanz ist deshalb auch nicht notwendig im institutionellen oder organisatorischen Sinne zu verstehen, als eine Abwehr oder gar Verdrängung der verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften mit ihren Überzeugungen aus der staatlichen Sphäre, wie sie, bezogen auf die Religion, für den französischen Laizismus prägend ist. Aber es ist eine vollständige Ablösung von den je unterliegenden Inhalten. Soweit es um diese Inhalte, die geistigen Orientierungen und das Wertefundament der Gesellschaft geht, hat der Staat jedes Recht verloren22. Seine Regelungsmacht beschränkt sich auf das äußere Zusammenleben seiner Bürger, dem er den notwendigen Rahmen gewährleistet. Zu dem, was in ihrem Inneren vorgeht, geht er auf Abstand. IV. Allerdings sagen diese beiden Momente, die Freigabe von Individualität und, ihr korrespondierend, der Rückzug des Staates auf eine bloß äußere Ordnung, für sich allein noch nichts über den Grad, bis zu dem sie jeweils vorangetrieben werden. Ebensowenig läßt sich von ihnen her sagen, ob eine bestimmte Einstellung oder überhaupt eine Kultur für den Staat tatsächlich in einem vollständigen Sinne „tabu“ sein kann. Da auch der Text des Grundgesetzes zu dieser Frage nichts hergibt, muß die Antwort hinter ihm gesucht werden. Sie kann sich dann nur aus den Gründen ergeben, aus denen die staatliche Zurückhaltung in allen Angelegenheiten der individuellen Lebensführung eingeführt wurde und heute praktiziert wird. Gerade hier herrscht allerdings wenig Klarheit, und dies obwohl mit der zunehmenden Pluralisierung und

des Rechts, II/2, 5. Aufl. 1887, § 36: „Indem so der Staat die Erfüllung der Lebensaufgabe der Nation, nicht die Erfüllung der Lebensaufgabe des einzelnen Menschen ist, so beschränkt sich auch seine Herrschaft auf den Gemeinzustand; das innerste individuelle Leben aufzufordern und zu bestimmen ist ewig nur die Sache Gottes und nicht menschlicher Herrschaft … Deswegen darf die Beherrschung, welche die Gemeinschaft übt, nur äußerlicher, d.i. nur rechtlicher Art seyn … Der Staat ist daher bloß Anstalt zur äußeren Ordnung und Förderung des socialen Lebens“ usf. (Hervorhebungen im Original). 20 S. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, 12. 21 Neutralität als Identifikationsverbot ist bereits früh angesprochen in BVerfGE 30, 415 (421), das Bewertungsverbot in BVerfGE 12, 1 (4); beide Wendungen bilden seitdem in dieser oder jener Variation eine ständige Façon de parler, vgl. etwa BVerfGE 93, 1 (18 f.); 102, 370 (394). 22 Vgl. W. Kymlicka, Multikulturalismus und Demokratie, 1999, 20.

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Fragmentierung der Gesellschaft die Zahl der Anwendungsfälle steigt und steigt23. Tatsächlich konkurrieren seit jeher zwei ganz entgegengesetzte Begründungsstränge, die erst in letzten Jahren als solche thematisiert werden und von denen aus sich unterschiedliche Aussagen zu eventuellen Tabuzonen ergeben24. Die erste Begründung kann man vereinfachend die pragmatische nennen. Nach ihr hat jene Zurückhaltung einen untergeordnet-instrumentellen Charakter; sie rechtfertigt sich ganz und nur aus ihrer Bedeutung für andere, übergeordnete Zwecke: den Bestand und Erhalt des Staates, die soziale und politische Integration, das friedliche Zusammenleben der Bürger. Die Entscheidung für sie ist danach im wesentlichen bloß eine Frage der besseren Taktik im Umgang mit gesellschaftlicher Differenz, ein Akt der Staatsklugheit oder der politischen Zweckmäßigkeit. Als solche ist sie eine späte Frucht der konfessionellen Bürgerkriege, die Europa nach dem Zerfall der katholischen Glaubenseinheit bis in das 17. Jahrhundert hinein heimsuchten. Befriedet werden konnten diese nur dadurch, daß sich der Staat unter Ausbildung eines Zwangsapparates über die streitenden Parteien erhob und sich von ihnen emanzipierte. Allerdings ist die Ablösung des Staates von den zugrundeliegenden religiösen und weltanschaulichen Orientierungen weder die unmittelbare geschichtliche noch auch nur die logische Folge dieser Emanzipation. Sie erschöpft sich vielmehr vorerst in der Zurückdrängung der päpstlichen Suprematie und des aus ihr abgeleiteten politischen Herrschaftsanspruchs der Kirche. Noch weit über den Westfälischen Frieden hinaus stand dem Staat aber wie selbstverständlich das Recht zu, über den Glauben seiner Bürger zu bestimmen und auch die Formen seiner Ausübung festzulegen; wer dem nicht zu folgen bereit war, stellte sich und stand außerhalb der Gemeinschaft und der Sozialität. Das Offenlassen der Glaubensfrage und ihre Freigabe zur individuellen Entscheidung erfolgt erst nach und nach und erst in einer Phase, als die konfessionellen Gegensätze das öffentliche Leben nicht mehr bestimmen. Sie verdankt sich dann selber meist nur einem Akt des politischen Kalküls: Wenn der Herrscher jedem Bürger seinen Glauben läßt, können sich auch diejenigen mit ihm identifizieren, die einen anderen Glauben haben als er25. Die Entscheidung selbst bleibt aber stets der Staatsklugheit und den Erfordernissen des friedlichen Zusammenlebens untergeordnet und kann dort korrigiert werden, wo diese sie nicht erfordern. Tabuzonen im eigentlichen Sinne kann es dann ebensowenig geben wie ein striktes Bewertungsverbot in allen Fragen des guten Lebens. Statt dessen geht es eher um ein bloßes Dulden und Gewährenlassen, das aber jederzeit widerrufbar und seinerseits immer nur unter Vorbehalt gültig ist: dem Vorbehalt der Sozialverträglichkeit des geduldeten Verhaltens, dem Vorbehalt, daß keine andere Gruppe daran Anstoß nimmt etc. Sobald es demgegenüber um die praktische Anwendung oder auch Beschränkungen geht, sind alle Argumente zugelassen, die sich in einer Kosten-Nutzen-Rechnung gesellschaftlicher Harmonie darstellen lassen. In den Fällen der Befreiung vom Sportunterricht könnte in diesem Sinne etwa argumentiert werden, sie diene gerade der Integration in das Gesamtsystem Schule und trage damit dazu bei, den berüchtigten Koranschulen das Wasser 23 Huster (Fn. 20), 18 ff., 35 ff. 24 Vgl. – mit teils anderer Begrifflichkeit und/oder weiteren Unterscheidungen – N. Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte, 1998, 87 ff.; R. Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, 42 ff., jeweils bezogen auf Toleranz; Huster (Fn. 20), 47 ff. 25 Zu diesem Motiv Morlok (Fn. 11), 333; ders., Art. 4 Rn. 7, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 2004, insbesondere zu dem entsprechenden Muster in Preußen.

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abzugraben26. Aber vom anderen Extrem her wäre auch die vollständige Unterdrückung einer bestimmten Gruppe gerechtfertigt, wenn sich nur genügend andere laut genug über sie empörten. In seiner letzten Konsequenz kann dieser Pragmatismus ziemlich skrupellos sein, und einen Bereich letzter Dinge, zu dem er keinen Zutritt hat, kennt er schon gar nicht. V. Zu einem grundlegend anderen Ergebnis gelangt man, wenn man der zweiten Begründungslinie folgt. Man kann sie, wiederum etwas vereinfachend, die liberale Begründung nennen. Nach ihr ist staatliche Zurückhaltung gegenüber der individuellen Lebensführung keine Frage der besseren Taktik, sondern eine Sache des Prinzips. Sie ist dann auch nicht nur die Frucht einer bestimmten und letztlich zufälligen historischen Situation, sondern Ausdruck einer neuen Philosophie, einer rundum veränderten Sicht auf Mensch und Staat. Das Prinzip, von dem sie ausgeht, besteht, so unterschiedlich seine Formulierung im einzelnen ausfallen mag und wo auch immer es verankert wird, in der Anerkennung der individuellen Freiheit als einer Grundtatsache der menschlichen Existenz und, daraus abgeleitet, einem fundamentalen Recht aller Bürger, überhaupt aller Menschen, auf gleiche Beachtung und gleichen Respekt in ihrer jeweiligen Freiheit. Dieses Prinzip wird als Recht und Staat vorausliegend begriffen; er, der Staat, muß es als für sich verpflichtend anerkennen und hat seine Legitimität zuletzt überhaupt nur in dieser Anerkennung. Es wird damit nun seinerseits zum neuen und eigentlichen Grund des Staates, der ihn fortan trägt; nicht mehr wie vordem der göttlichen Schöpfungsplan oder die Macht des geschichtlich Gewordenen rechtfertigt ihn, sondern seine Errichtung als Menschenwerk, von Menschen in ihrer Freiheit gemacht und nur um der Bewahrung und Ordnung ihrer Freiheit willen da. Von seinem Zuschnitt her erscheint der Staat dann auch nicht mehr wie in aristotelischer Lehre und Tradition als Gemeinschaft in der Tugend oder durch einen Horizont geteilter Überzeugungen verbundener Mitglieder, sondern als bloßer Zweckverband, in dem die Bürger unterschiedliche Lebenspläne und Überzeugungen haben, so daß der Staat in seinem Handeln ihnen gegenüber von diesen Überzeugungen abstrahieren muß: eine „Heimstatt“ gleich freier Bürger27. Erst von dieser zweiten Deutung aus ist der Umschlag zur Neutralität wirklich vollzogen und läßt sich überhaupt mit einiger Berechtigung von ihr als einem eigenständigen, das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern bestimmenden Grundsatz sprechen: Solange sich der Staat darauf beschränkte, bei bestimmten Abweichungen von der vorherrschenden Lebensweise unterhalb einer gewissen Schwelle nicht einzugreifen, war er seinem inneren Wesen nach nicht neutral, sondern bestenfalls tolerant; das, was sich Neutralität nannte, war in Wahrheit und eher bloß ein beständiges Abwarten, Beobachten und Belauern28. Ebenso wird erst von dieser Deutung aus erklärbar, warum der Inhalt dieser Neutralität als Bewertungs- oder Identifikationsverbot gefaßt werden und von einem solchen 26 Vgl. Huster (Fn. 20), 428. 27 Begriff aus BVerfGE 93, 1 (16 f.); ähnlich, mit Schwerpunkt auf dem politischen Prozeß BVerfGE 44, 125 (142). 28 Zu dieser Differenz zwischen Neutralität und Toleranz M. Winkler, Toleranz als Verfassungsprinzip?, in: Frieden und Recht, hrsgg. von I. Erberich u.a., 1998, 60 ff.

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ernsthaft die Rede sein kann. Wenn die Bürger unter dem Ausgangspunkt der Freiheit die für ihre Lebensführung relevanten Überzeugungen frei bilden können und der Staat diese zu respektieren hat, ergibt sich daraus automatisch, daß der Staat keine dieser Überzeugungen bevorzugen darf und jeder das gleiche Recht auf Entfaltung geben muß. Es kann aber weitergehend eben auch bedeuten, daß dem Staat über sie schon kein Urteil zusteht. Es gibt dann zwangsläufig einen inneren Kern dieser Überzeugungen, der dem regulierenden Zugriff, überhaupt dem Einfluß des Staates entzogen ist, und je stärker dieser Kern betroffen ist, desto eher ist er für ihn tatsächlich „tabu“. Dies ist dann die gleichsam letzte und tiefste Wahrheit des einzelnen Menschen, zu der der Staat sich nicht verhalten darf. Daß unser Recht heute solche Tabuzonen in weitem Umfang kennt und akzeptiert, ist dann im wesentlichen eine Folge dieser veränderten Deutung. Tatsächlich kennzeichnet es die weitere Entwicklung, daß sich die liberale Begründung weithin durchsetzt. Das schließt nicht aus, daß hier und da auch die pragmatische Begründung noch weiter fortgeführt oder beide sich vermischen, wie es etwa geschieht, wenn – wie im Kruzifix-Urteil oder beim Kopftuch in der Schule – gefragt wird, durch welche der jeweils zur Diskussion stehenden Lösungen dem religiösen Frieden in der Gesellschaft oder auch nur einem störungsfreien Schulalltag am besten gedient sei29. Aber aufs Ganze gesehen tritt doch die liberale Begründung ganz in den Vordergrund, während die andere, die pragmatische Lesart allenfalls den Charakter einer Hilfserwägung bekommt, einer zusätzlichen Stütze, die aber für den Inhalt des Prinzips nicht mehr bestimmend ist. Über die Gründe dafür ist hier nicht zu reden; sie mögen in der Leuchtkraft des Arguments ebenso liegen wie darin, daß alle anderen bislang tragenden Orientierungen und Gewißheiten sich im Laufe der Zeit mehr und mehr verlieren. Wo alles unsicher wird, kann die Sicherheit zuletzt nur im einzelnen und seiner je individuellen Wahrheit gefunden werden. VI. Mit dieser Auswechslung der Begründung tritt das Äußerlichwerden des Staates in ein neues Stadium ein. In dem Maße, in dem es als solches erkannt und reflektiert wird, wird es nun auch eingefordert, werden die älteren Schichten, in denen Reste der früheren Glaubens- oder Gesinnungseinheit fortlebten, abgebaut. Das bloß Zweckund Rahmenhafte des Staates tritt auf diese Weise als seine eigentliche Substanz immer klarer in den Vordergrund. Man kann sogar davon sprechen, daß das Moment der Äußerlichkeit selbst in verschiedenen Sprüngen und Schüben zu immer höheren Stufen der Entfaltung getrieben wird; es ist offenbar nichts Statisches und Feststehendes, das, einmal formuliert und durchgesetzt, in sich ruht und abgeschlossen ist, sondern ein in vielfältiger Weise offenes, des Ausbaus nach verschiedenen Seiten hin fähiges und bedürftiges Moment. Stellvertretend für die Dynamik, die es entfaltet, mag die Entwicklung des Prinzips der Neutralität des Staates stehen, in dem man die Bewegungsgesetze des Ganzen wie in einem Brennglas versammelt sehen kann. Was in bezug auf sie in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu beobachten war, stellt sich in seinem Kern dar als eine beständige Steigerung und Erhöhung, ein Vorgang des Ausgreifens, in dessen Folge es immer weniger Bereiche und Verhaltensweisen 29 Vgl. BVerfGE 93, 1 (16 f.); 108, 282 (308 f.).

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gibt, denen gegenüber der Staat überhaupt noch in irgendeiner Weise Partei nehmen darf. Dieses Ausgreifen erfolgt in mehrere Richtungen und sowohl in die Fläche als auch in die Tiefe. In der Fläche stellt es sich dar als eine gegen unendlich laufende Vermehrung der Sachverhalte, im Verhältnis zu denen die Haltung der Neutralität eingenommen und die Distanz gegenüber den Angelegenheiten der individuellen Lebensführung praktiziert wird. Ihr ursprüngliches und lange Zeit auch einziges Anwendungsfeld war die Verschiedenheit der Religionen, ihre äußere Form die Trennung von Kirche und Staat. Das entsprach dem Gegensatz, der die europäische Welt bis in das 17. und teils auch noch in das 18. und 19. Jahrhundert hinein beherrschte. Tritt nun ein anderer gesellschaftlicher Gegensatz hinzu oder in den Vordergrund, muß es auch auf diesen angewandt werden. Die Erstreckung des Neutralitätsprinzips von „Religion“ auf „Weltanschauung“, bereits eine der ersten Weiterungen, findet hier ihre Erklärung. Unter den Bedingungen der ethischen Pluralisierung und den Veränderungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung in allen westlichen Staaten ist es dann nur konsequent, wenn das Prinzip auch auf die kulturelle und ethische Identität der Bürger Anwendung findet. Vom Ausgangspunkt eines grundlegenden Rechts aller Bürger auf gleiche Achtung und Respekt lautet das Argument dann in dieser oder jener Abwandlung stets, daß der Staat sich aus allem heraushalten müsse, was für die individuelle Identität und die Ausbildung eines eigenen Ichs wichtig ist, und dazu gehört an zentraler Stelle auch die jeweilige Kultur: Was der Mensch ist, ist er zu einem wesentlichen Teil durch sie, und dies selbst noch dort, wo er sich von ihr distanziert30. Man muß sich daher im Grunde nicht wundern, warum die Respektierung kultureller Selbstverständnisse dem Staat heute mehr und mehr aufgegeben wird, sondern im Gegenteil darüber, daß das nicht schon viel früher geschehen ist. Auch die Richtung, in die dieses Selbstverständnis tendiert, ist längst belanglos geworden, wie sich leicht daran ablesen läßt, daß heutzutage jede grundrechtliche Freiheit nach vorherrschender Auffassung immer auch das mit ihr unvereinbare Gegenteil einschließt. Die Glaubensfreiheit gilt deshalb für den Katholiken wie für den Anhänger eines Satanskults oder den Atheisten, die Vereinigungsfreiheit für den Geselligen wie für den Eremiten, der Schutz von Ehe und Familie für die, die heiraten, ebenso wie für die, die sich scheiden lassen wollen31: Alles dies wird unterschiedslos gewährleistet, ohne daß der Staat das eine oder andere als vorrangig bewerten darf. Mittlerweile ist das Bewertungsverbot auch auf die verschiedenen Tätigkeitsfelder des Staates ausgedehnt worden und kehrt in all seinen Rollen zurück: im Bereich der Kunst in dem Verbot eines staatlichen Kunstrichtertums, für die Rundfunkorganisation in dem Gebot zur gleichmäßigen Berücksichtigung aller gesellschaftlich relevanten Gruppen, im Bereich der politischen Willensbildung in der Forderung, daß sich die Regierung nicht mit der Partei identifizieren darf, aus der ihre Mitglieder kommen32. All dies ist Ausprägung des einen und umfassenden Grundsatzes, daß der Staat sich von allen geistigen Orientierungen innerhalb der Gesellschaft ablöst und ihnen gegenüber in 30 Siehe statt vieler nur J. Habermas, Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, in: C. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 1993, 154; Kymlicka (Fn. 22), 33 ff.; J. Raz, Multikulturalismus: Eine liberale Perspektive, Dtsch.Z.Philos. 43 (1995), 307 (312 ff.). 31 Insoweit zumindest überwiegende Auffassung in der Literatur, vgl. G. Robbers, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 4. Aufl. 2005, Art. 6 Rn. 57 m.w.N.; anders noch BVerfGE 56, 353 (384). 32 So grundlegend BVerfGE 44, 125 (138 ff.).

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ein Verhältnis der Distanz tritt. In diesem Sinne ist seine Neutralität umfassend und flächendeckend geworden. VII. Das Ausgreifen erfolgt aber ganz wesentlich auch in die Tiefe und stellt sich hier dar als ein nun auch inneres Erstarken von Neutralität, in deren Folge der Grundsatz eine höhere, von keinen Opportunitätserwägungen mehr zu erreichende Dignität erhält. Das sicht- und fühlbare Zeichen dieses Erstarkens ist das Ausmaß, in dem er mittlerweile subjektivrechtlich bewehrt ist und seine Einhaltung durchgesetzt werden kann. Vor allem die Ausstattung des einzelnen mit entsprechenden Rechten ist im Laufe der Zeit immer weiter ausgebaut worden und hat, auch wenn es selber gar nicht im Hinblick auf dieses Ziel oder überhaupt auf irgendein Ziel erfolgte, im praktischen Effekt dazu geführt, daß der Staat gegenüber allen Fragen ethischer oder kultureller Lebensführung noch weiter auf Distanz gerückt wird. Dabei haben verschiedene Mechanismen zusammengewirkt und sich gegenseitig verstärkt. Auf einer ersten und zeitlich vergleichsweise frühen Stufe wurde die Wahrnehmung der entsprechenden Rechte von allen herkömmlichen Kultur- und Moralvorbehalten entkleidet. Sinnfällig dafür steht die in aller Stille erfolgte Beerdigung der Kulturadäquanzklausel zu Art. 4 GG, nach der die Ausübung der Glaubensfreiheit auf solche Verhaltensweisen beschränkt werden sollte, die sich bei allen Kulturvölkern auf dem Boden gemeinsamer sittlicher Grundanschauungen herausgebildet haben33. Ein zweiter Mechanismus ist die Anreicherung der für die Entfaltung der jeweiligen kulturellen Identität relevanten Freiheiten. Dafür steht vor allem der Ausbau der Religionsfreiheit zu einem Recht auf glaubensgeleitetes Verhalten in allen Bereichen des Daseins, durch den diese zu einer privilegierten Sonderform der allgemeinen Handlungsfreiheit wird, während gleichzeitig über die Lehre von den nur verfassungsimmanenten Schranken die Hürden für etwaige Beschränkungen höhergelegt wurden. Parallel dazu nimmt offenbar auch die Zahl der einschlägigen Rechte selbst zu: Das Recht auf kulturelle Identität ist unlängst und im Grunde nur konsequent als eigenständiges Grundrecht formuliert34, das Recht auf die je eigene Sprache mittlerweile sogar in der Menschenwürde verankert worden35. Der dritte Mechanismus schließlich ist die vollständige Gleichstellung aller hier lebenden Ethnien und Kulturen im Sinne einer zunehmenden Beseitigung von Barrieren, die den Selbstverwirklichungsansprüchen der möglicherweise benachteiligten unter ihnen entgegenstehen. Für die Veränderungen, die sich hier in den letzten Jahren und Jahrzehnten vollzogen haben, steht beispielhaft die Aufwertung der Diskriminierungsverbote, die nach und nach von beabsichtigten auf unbeabsichtigte, von unmittelbaren auf mittelbare, von offenen auf verdeckte Diskriminierungen umgestellt wurden, während gleichzeitig das etwa in Art. 3 III GG ebenfalls enthaltene Verbot der Besserstellung aus einem der dort genannten 33 So die frühere Rspr. des BVerfG, vgl. BVerfGE 12, 1 (4); zur Kritik statt vieler J. Müller-Volbehr, Das Grundrecht der Religionsfreiheit und seine Schranken, DÖV 1997, 301 (305). 34 Britz (Fn. 3), 238 ff. 35 So – allerdings in unklarem Verhältnis zur gleichzeitig erhobenen Forderung nach der verfassungsrechtlichen Festschreibung von Deutsch als Staatssprache – W. Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, VVDStRL 65 (2006), 386 (395 ff.).

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Kriterien völlig aus dem Blick geraten ist. Auch rechtliche Regelungen, die an sich neutral formuliert oder begründet sind, können dann eine verbotene Diskriminierung enthalten, wenn die benachteiligenden Wirkungen faktisch nur bei einer bestimmten Gruppe eintreten. Die Folge ist der bereits eingangs beschriebene Umstand, daß das Recht insgesamt „differenzempfindlicher“ ausgestaltet werden und den Ansprüchen dieser Gruppen auf Wahrung ihrer Besonderheiten Rechnung tragen muß36. Man kann dann zwar formal weiter an der Behauptung festhalten, daß das demokratisch, also mehrheitlich beschlossene Recht notwendig die kulturelle Prägung oder die kulturellen Vorlieben der Mehrheit in irgendeinem Sinne widerspiegeln wird37. Aber das gilt nur bis zu dem Augenblick, wo der erste kommt und daran Anstoß nimmt. Die Folgen lassen sich derzeit anschaulich im Bereich des Feiertagswesens studieren, wo dem offiziellen und im wesentlichen von den christlichen Traditionen geprägten Regime durch verschiedene Befreiungs- und Rücksichtnahmeklauseln an den Schulen und Universitäten und demnächst voraussichtlich auch im Arbeitsleben mittlerweile verschiedene inoffizielle Feiertagsregime wie das jüdische oder islamische zur Seite getreten sind. Unter diesen Bedingungen wird es immer schwerer, noch weiter an der Vorstellung eines einheitlich für alle geltenden Rechts festzuhalten. Statt dessen wird das Recht in der Tendenz immer stärker „ungleiches Recht“38 und zerfällt in einzelne Inseln, auf denen je verschiedene kulturelle Gruppen nach eigenem Gesetz leben können. Welche Ausmaße dies noch annehmen kann, zeigt ein neueres Gesetz der kanadischen Provinz Ontario, das unter dem unauffälligen Titel „Streitschlichtungsgesetz“ muslimischen Schiedsgerichten die Möglichkeit eröffnete, Familienund Erbrechtsstreitigkeiten unter Muslimen auf der Basis der Scharia entscheiden zu lassen39. Auch wenn das zwischenzeitlich nach erheblichen öffentlichen Protesten wieder rückgängig gemacht wurde, wird darin doch deutlich, wie wenig Grenzen diese Praxis aus sich heraus kennt. Noch wird, um ein weiteres Beispiel zu nehmen, hierzulande etwa das prinzipielle Verbot des Cannabisrauchens auch gegenüber den Rastafaris durchgehalten, die das als Bestandteil ihrer Religion und ihrer Kultur für sich reklamieren40. Oder das Verbot der Polygamie gegenüber den Mormonen und manchen islamischen Kulturen. Aber mit welchem Recht eigentlich?41 VIII. Ist man an diesem Punkt angekommen, läßt sich vielleicht besser erkennen, worin die Erhöhung der Dignität von Neutralität, von der soeben die Rede war, näherhin besteht. Ursprünglich war die Neutralität eine Ableitung und eine Folge der liberalen, auf der Freiheit des einzelnen basierenden Staatsauffassung, die in dieser Auffassung 36 37 38 39

Huster (Fn. 20), 413. OVG Hamburg, NVwZ 1994, 592 (593). Huster (Fn. 20), 413. In diesem Sinne der Arbitration Act von 1991, derzeit noch abrufbar unter http://www.e-laws.gov. on.ca/DBLaws/Statutes/English/91a17_e.htm. 40 Vgl. BVerwGE 112, 314 ff. 41 Zur Kritik des Polygamietatbestandes (§ 172 StGB) unter diesem Gesichtspunkt s. den Beitrag von T. Hörnle, Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten (in diesem Band s. S. 315 ff.).

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und dem, was sie alles einschloß, ihren Anker und inneren Halt fand. Von einer solchen wird sie nun zu ihrem Inbegriff und zur zentralen Ordnungsidee des Gemeinwesens insgesamt. Mit dieser Erhöhung geht dann auf der Seite des Staates folgerichtig die Absage an jede Art eines geistig inspirierten Staatsbewußtseins und einer eigenen, sei es geistigen oder kulturellen Selbstdarstellung des Staates einher, soweit es auf die entsprechenden Selbstverständnisse der Bürger zurückwirken könnte. Eine solches Bewußtsein von sich selbst, mag man es nun altertümelnd Staatsbewußtsein, Staatsgesinnung, Staatsethik, Wertorientierung, kulturelle Identität oder sonstwie nennen, müßte notwendig einen prinzipiellen Loyalitätsanspruch ihm gegenüber einschließen, im Sinne eines ethischen oder sittlichen Anspruchs auf Zustimmung zu den ihn tragenden Werten und Prinzipien, der dann gegebenenfalls als Bekenntnis auch eingefordert werden könnte. Einen solchen Anspruch aber erhebt der gegenüber allen Anschauungen und Kulturen gleichmäßig neutrale und distanzierte Staat nicht mehr. In einer Deutlichkeit, die wenig zu wünschen übrig läßt, hat das BVerfG dies vor einiger Zeit im Verfahren zu dem von den Zeugen Jehovas beantragten Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts klargestellt. Das war von den Behörden und dem BVerwG bekanntlich mit der Begründung abgelehnt worden, die Zeugen Jehovas brächten nicht die nötige innere Verbundenheit mit diesem Staat und seinen Prinzipien auf42. Tatsächlich nehmen sie, was im Verfahren völlig unstreitig war, die demokratische Ordnung der Bundesrepublik allenfalls als eine Art Übergangserscheinung auf dem Weg zu einem künftigen Gottesstaat oder in den Weltuntergang hin und verbieten es ihren Mitgliedern deshalb, an Wahlen teilzunehmen. Für das BVerfG stand das der Verleihung des Körperschaftsstatus nicht entgegen: Dafür müsse eine Religionsgemeinschaft lediglich das geltende Recht beachten und im äußeren Handeln das – recht undeutliche – verfassungsrechtliche Minimum des Art. 79 III GG wahren, während eine darüber hinausgehende innere Loyalität zum Staat nicht verlangt werden könne43. Noch deutlicher hat das Gericht in einigen Entscheidungen zum Versammlungsrecht ausgesprochen, die Bürger seien rechtlich, also auch von der Verfassung selbst her, nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen: Vielmehr seien sie frei, auch grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen, solange sie nur Rechtsgüter anderer nicht gefährdeten44. Damit ist jede Behauptung eines eigenen Standpunktes in der Sache aufgegeben und der Vorgang des Äußerlichwerdens des Staates an seinem höchsten Punkt angelangt. Die Folgen sind weittragend. Von hier aus läßt es sich, um nur eines der wichtigsten Beispiele zu nennen, im Grunde nicht mehr rechtfertigen, Einwanderern für die beantragte Einbürgerung ein Bekenntnis zur Verfassung abzuverlangen, wie es der derzeitigen und gesetzlich abgesicherten Praxis noch entspricht45: Wenn die Verfassung selbst es den Bürgern freistellt, sie in Frage zu stellen, beweist sich die Treue zu ihr zuletzt auch dadurch, daß man genau dies tut. Der neutrale Staat ist so auch gegen sich selbst neutral geworden und hat das Prinzip auf seine eigene Substanz angewandt. 42 43 44 45

Vgl. BVerwGE 105, 117 ff. BVerfGE 102, 370 (389 ff.). So BVerfG NJW 2001, 2069 (2070). Einbürgerungsvoraussetzung nach § 10 I Nr. 1 StAG; zur derzeitigen Diskussion über mögliche Tests, Gesprächsleitfäden, Einbürgerungskurse etc.: F.-W. Dollinger/A. Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 ff.

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Soweit es um das geht, was die Bürger denken und woran sie sich orientieren, ist seine Neutralität absolut und von der Art, daß sie sich über nichts mehr aufregt und über nichts mehr empört46. Aus einem Staat, in dem jeder nach seiner geistigen Orientierung und seinem kulturellen Selbstverständnis leben kann, ist er jedenfalls zu einem Staat geworden, der gar selber gar keine geistige Orientierung und kein kulturelles Selbstverständnis mehr hat und es darum auch von niemandem fordern kann47. IX. Man kann auf diese Weise beobachten, wie das Moment der Äußerlichkeit des liberalen Staates und das Prinzip der Neutralität, in dem es heute gefaßt ist, gewissermaßen bestrebt sind, sich beständig zu steigern: Hat man sich erst einmal aus prinzipiellen Erwägungen für diese Äußerlichkeit und für Neutralität entschieden, gibt es immer noch Sachverhalte, zu denen man nicht wirklich neutral oder nicht neutral genug ist, und auch auf diese muß die neutrale und distanzierte Haltung dann ausgedehnt werden. Ihr ist damit der Umschlag in den Relativismus inhärent. Allerdings kann sich dies in einer eigentümlichen Dialektik zuletzt gegen die liberalen Werte wenden, aus denen das Prinzip einst begründet wurde. Am Fall einer zu weitgehenden Toleranz gegenüber intoleranten Gruppen ist das für das Gemeinwesen als Ganzes und unter Überschriften wie „Paradox der Freiheit“ oder „Paradox der Toleranz“ oft gezeigt worden48. Im vorliegenden Zusammenhang tritt es beispielhaft hervor in der zunehmenden Einforderung von Rechten, die in dieser oder jener Weise auf die Wahrung der kulturellen Identität oder die Pflege der eigenen Kultur zielen49. Je stärker solche Rechte im Rechtsleben wirksam werden sollten, desto mehr stellen sie die betreffende Kultur unter eine Art Artenschutz und wirken sich faktisch wie eine Überlebensgarantie auch für solche Gruppen aus, die mit ihrem rückwärtsgewandten Wertehorizont gegen den Veränderungs- und Reflexionsdruck der modernen westlichen Gesellschaft ansonsten keine Chance hätten. Das fügt sich in die Beobachtung, daß die beständige Konfrontation mit dem westlichen Lebensstil, wie sie zum Wesen einer multikulturellen Gesellschaft gehört, solche Gruppen ohnehin oft noch repressiver werden läßt, als sie es bislang schon waren50. Jede staatliche Überlebensgarantie raubt ihren Mitgliedern damit gerade die Freiheit des Ja- oder Neinsagens, die heute konstitutiv für die Aneignung jedes kulturellen Erbes sein müßte51. Daran ändert es auch nichts, wenn die entsprechenden Rechte selbst nicht, wie es verschiedentlich vorgeschlagen worden ist, als Rechte der kulturellen Gruppe52, sondern – dem hierzulande vorherrschenden individualrechtlichen Ansatz entsprechend – ausschließlich als Recht des einzelnen ausgestaltet werden, 46 Bobbio (Fn. 24), 99. 47 Versuch einer Rückgewinnung: A. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004. 48 Prägend K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 5. Aufl. 1977, Bd. 1, 359. 49 Dazu oben VI. 50 Vgl. A. Mintzel, Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika, 1997, 116 f.; W. Bukow/R. Llaryora, Mibürger aus der Fremde, 3. Aufl. 1998, 185 f.; Raz (Fn. 30), 322. 51 Eine Formulierung von Habermas (Fn. 30), 174. 52 Dafür prominent W. Kymlicka, Multicultural Citizenship, 1995, 80 ff.; ders. (Fn. 22), 33 ff.

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als ein Recht auf Wahrung „seiner“ kulturellen Identität53. Da diese Identität selber immer nur gruppenbezogen definiert werden kann, kommt auch dies im praktischen Ergebnis dem Schutz der Gruppe zugute und festigt sie. Individuell ist dann nur der Akt der Geltendmachung, während der Inhalt des Rechts auf dasselbe hinausläuft wie das an sich abgelehnte Gruppenrecht. Vielleicht am stärksten in diese Richtung wirkt aber schon jetzt das elterliche Erziehungsrecht, das als „natürliches Recht“ der Eltern nach ganz allgemeiner Auffassung auch die religiös-kulturelle Erziehung der Kinder einschließt54. Es betrifft damit genau den Ort, an dem eine Kultur am Leben erhalten und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird: in den Wiegenliedern der Mütter, in den Erzählungen, die den Kindern auf ihren Weg gegeben werden55. Aus dem Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder, das in ihrem fundamentalen Interesse gründet, die Welt, in der jene leben, mit ihnen zu teilen, wird unter diesen Umständen ein Recht zur Reproduktion ihrer je eigenen Kultur. Auch Eltern, die ihr Kind auf die Scherenschnitte fundamentalistischer Positionen reduzieren wollen, können dies grundsätzlich tun, ohne daß dagegen mit dem vielzitierten Wächteramt des Staates viel auszurichten wäre; dessen Wirkungen beschränken sich im Grunde auf eine Gefahrenabwehr in Fällen offenkundigen Mißbrauchs oder Versagens56. Je stärker aber der Anpassungsdruck von seiten der Eltern wird, desto weniger bleibt am Ende übrig von dem Recht der Kinder oder Heranwachsenden, eine bestimmte Kultur aus eigener Entscheidung anzunehmen oder sich notfalls auch gegen sie zu entscheiden. Diese Entscheidung ist vielmehr längst für sie getroffen. Überhaupt begünstigt ein desinteressiertes Laisser-faire und die weiträumige Einräumung von Tabuzonen häufig gerade die konservative Fraktion einer Kultur57. Ein Zuviel an Distanz und Neutralität schlägt dann um in eine verdeckte Parteinahme und hebt sich selbst als Prinzip auf. X. Der Irrtum, von dem all diese Hypertrophierungen ihren Ausgang nehmen, ist im Grunde leicht zu erkennen. Er liegt in der Verselbständigung des Momentes der Äußerlichkeit des Staates von den Prinzipien, aus denen es begründet war, und, damit verbunden, der Preisgabe oder zumindest Aufweichung des Vorrangs, den diese Prinzipien gegenüber den Ansprüchen einzelner Gruppen auf Respektierung ihrer kulturellen Besonderheiten haben. Dies sind im wesentlichen die liberalen Prinzipien von Freiheit und Gleicheit, wie sie heute den Kern unserer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung ausmachen, also Menschenwürde, Grundrechte, Säkularismus und Demokratie; es gehört dazu auch, nicht ganz überflüssig zu betonen, die Gleichheit der Geschlechter. Die Frage kann daher nicht sein, ob und wie sich diese Prinzipien unter dem Eindruck zunehmender kultureller Differenz verändern müssen, sondern 53 Britz (Fn. 3), 198 ff., 238 ff. 54 BVerfGE 93, 1 (17); zur durchaus kontroversen philosophischen Diskussion s. demgegenüber W. Galston, Liberal Purposes, 1992, 251 ff. 55 Vgl. Walzer (Fn. 13), 64 f., unter besonderer Hervorhebung der Rolle der Frauen. 56 Vgl. zu den Fällen der Sektenmitgliedschaft BayObLG, FamRZ 1976, 43 ff.; OLG Hamburg FamRZ 1985, 1284 f. (zu § 1671 BGB a.F.). 57 So am Beispiel einer generellen Exemtion von der Schulpflicht Huster (Fn. 20), 426.

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die Frage ist, wie von diesen Prinzipien aus mit kultureller Differenz umzugehen ist. Man kann auch sagen, das eine ist der Maßstab, das andere das Problem, das mit dem Maßstab bewältigt werden soll58. Der Maßstab selbst ist dann der Diskussion entzogen; er ist das, über das auch der liberale und gegenüber allen Kulturen neutrale, gleichmäßig distanzierte Staat nicht mit sich verhandeln lassen kann. Das sind, sollte man meinen, schlüssige Folgerungen. Sie werden allerdings oft nur mit einem schlechten Gewissen und halbherzig gezogen, weil die Prinzipien, um die es geht, ihrerseits aus einer bestimmten Kultur – der westlichen, der abendländischen, der aufgeklärten oder wie immer man sie auch nennen will – hervorgegangen sind und nun selber eins mit dieser Kultur geworden sind59. Ihre Verbindlichmachung enthält daher inzident immer auch das Urteil, daß diese Kultur und Tradition anderen Traditionen und Kulturen überlegen sei. Vor einem solchen Überlegenheitsurteil aber scheut man aus verschiedensten Gründen zurück. Statt dessen wird allenfalls gesagt, diese Prinzipien lägen auf einer anderen Ebene als die partikularen kulturellen Konzeptionen, weil sie unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Pluralismus lediglich einen gerechten Ausgleich zwischen diesen bezweckten. Oder man sagt, das eine sei eine Sache der – partikularen – Ethik, das andere die Sache einer – universalen – Moral60. Doch so richtig das ist, so wenig ändert es an dem Tatbestand. Dennoch wird weiterhin alles vermieden, was den Anschein erwecken könnte, als liege diesen Prinzipien selber ein bestimmtes Ideal des guten und richtigen Lebens – das Ideal eines in Selbstverantwortlichkeit und Mündigkeit glückenden Lebens – zugrunde, weil man ein solches angesichts des vorherrschenden Pluralismus für nicht begründbar hält61. Formeln, die dies zum Ausdruck bringen – wie die Rede von den Grundrechten oder der Verfassung insgesamt als „Wertordnung“ – oder auch nur anzudeuten scheinen, sind deshalb verpönt. Überhaupt fehlt die Bereitschaft, aus dem prinzipiell anerkannten Vorrang der grundlegenden Verfassungsprinzipien die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Diese beträfen zunächst die Erwartungen, die an Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen gerichtet werden und dann vom Recht – etwa dem Staatsangehörigkeitsrecht – auch eingefordert werden dürfen. Was man von diesen nur schwer erwarten kann, ist, daß sie sich in einen bayrischen Biergarten setzen oder textilfrei in der Ostsee baden. Was man, kulturelles Selbstverständnis hin oder her, sehr wohl erwarten kann, ist die Respektierung jener Prinzipien62. Umgekehrt könnte man aber auch nicht mehr weiter an der Vorstellung festhalten, dem liberalen Staat sei es aufgrund seiner prinzipiellen Distanz verwehrt, religiöse und in der Folge auch kulturelle Selbstverständnisse zu „bewerten“ oder zu ihnen überhaupt in irgendeiner Weise Stellung zu beziehen. Wenn die Rede von dem Vorrang der grundlegenden Verfassungsprinzipien irgendeinen Sinn haben soll, kann das nicht richtig sein. Im Gegenteil müssen die betreffenden Selbstverständnisse – und gerade auch diese – dort als falsch zurückgewiesen werden können, wo sie in einen Gegensatz zu diesen grundlegenden Prinzipien geraten. Wer „kulturelles Selbstverständnis“ sagt und, wie häufig, „patriarchalische 58 B. Schlink, Zwischen Säkularisation und Multikulturalität, in: Recht und Recht, Festschrift für G. Roellecke, hrsg. von R. Stober u.a., 1997, 301 (316). 59 Sehr prononciert und kämpferisch demgegenüber U. Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, 1 ff., 18 ff., 62 ff. 60 Statt vieler Forst (Fn 24), 600 ff. 61 Vgl. Forst (Fn. 24), 624 ff.; Huster (Fn. 20), 59 ff., 76 ff. 62 Habermas (Fn. 30), 183.

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Strukturen“ meint63, hat deshalb nicht nur keinen Anspruch auf staatlichen Respekt oder gar Schutz, sondern muß damit rechnen, daß sich auch der liberale Staat – so freiheitsschonend wie möglich, aber doch so entschieden wie nötig – daran macht, dieses Selbstverständnis aufzubrechen. XI. Man ist dann noch gar nicht bei den weiteren und schwierigeren Fragen des Themas angelangt. Dies wäre etwa die Frage, ob der Umgang mit den verschiedenen kulturellen oder ethischen Selbstverständnissen angesichts des Umstands, daß sich diese immer weiter voneinander entfernen, nicht wieder stärker von jenem Pragmatismus geprägt sein müßte, mit dem der Respekt vor ihnen einst begründet worden war64. Es wäre aber vor allem auch die andere und tiefere Frage, ob man in dem Bemühen, den Staat ganz zu etwas Äußerlichem werden zu lassen, nicht doch zu weit vorangeschritten ist und dadurch das den Staat innerlich Haltende und Verbindende, sein notwendiges Ferment, zu sehr aus den Augen verloren hat. Bei ihr geht es nicht mehr und nicht weniger als darum, wie der Staat, in dem wir leben wollen, zuletzt beschaffen sein soll und ob der Strand von Riccione dafür ein attraktives Vorbild ist. Darauf sind bekanntlich unterschiedliche Antworten möglich, die von stärker individualistischen bis hin zu stärker gemeinschaftlichen Vorstellungen reichen65. Im vorliegenden Zusammenhang reicht es, auf drei elementare Einsichten zu verweisen, von denen schwer zu sehen ist, wie man sie bestreiten sollte. Die erste Einsicht ist, daß der freiheitliche Staat, zu dessen freiheitlicher Verfaßtheit es unter dem „Faktum des Pluralismus“ keine vernünftige Alternative gibt, stärker als der autoritäre Staat darauf angewiesen ist, daß seine Regeln aus Einsicht befolgt werden und seine Institutionen von den Bürgern auch innerlich angenommen werden. Mit aller Vorsicht läßt sich weiter sagen, daß gerade ein Staat, in dem verschiedene kulturelle Gruppen koexistieren, um so stabiler ist, je stärker er auf eine gemeinsame Kultur zurückgreifen kann, in die die unterschiedlichen koexistierenden Gruppen eingebettet sind66. Umgekehrt und drittens gilt, daß es unter Gesichtspunkten der sozialen und politischen Kohäsion erfahrungsgemäß problematisch ist, wenn sich ein Staat in verschiedene Gruppen zergliedert, die völlig isoliert voneinander existieren67. Es muß dann neben einer Welt, in der der einzelne für sich und in seiner Gruppe sein kann, auch eine gemeinsame Welt im Sinne einer politischen, kulturellen und geistigen Struktur geben, zu der 63 So G. Roellecke, Rezension von G. Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, JZ 2001, 562. 64 Weitergehend für die Abkehr von einem strikten Gleichbehandlungsgebot nunmehr J. Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit, Der Staat 44 (2005), 343 (349 ff., 359 ff.); noch stärker, allerdings nicht frei von manchen Idealisierungen P. Kirchhof, Die Freiheit der Religionen und ihr unterschiedlicher Beitrag zu einem freien Gemeinwesen, Essener Gespräche zu Staat und Kirche 39 (2005), 105 ff. 65 Ich kann das Problem an dieser Stelle nicht eingehender behandeln, sondern muß auf meine Ausführungen an anderer Stelle verweisen; meine Ansicht dazu ist unter anderem dargelegt in: Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, 1998, 219 ff., 230 ff., 300 ff.; Das Problem der Gemeinschaft aus der Perspektive der heutigen Rechtsordnung, ZRPhil 1/2004, 8 ff.; Kultur im Verfassungsstaat, DVBl. 2005, 1061 ff. 66 Statt vieler Raz (Fn. 30), 324; Habermas (Fn. 30), 181f. 67 Huster (Fn. 20), 428.

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Uwe Volkmann

der Abstand nicht zu groß werden darf. Zwei Dinge gehören zu dieser Welt unverzichtbar hinzu. Das erste ist das Vorhandensein einer gemeinsamen Sprache als Voraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern und jede Verständigung über kulturelle Differenz. Unter den gegebenen Bedingungen kann diese Sprache nur die deutsche Sprache sein, auch wenn sich die Entscheidung für sie gar nicht neutral begründen läßt und die Notwendigkeit ihres Erlernens zwangsläufig einen Akt kultureller Assimilation bedeutet68. Es geht aber, zweitens, auch um etwas anderes, das man die Zumutung der Konfrontation oder besser des Sich-Öffnens nennen kann. Was damit gemeint ist, zeigt eine neue Kammerentscheidung des BVerfG, die nicht in der Sache, aber doch von der Begründung her angesichts der bisherigen Rechtsprechung bemerkenswert ist. Es ging um ein Elternpaar im Hessischen, das seine drei Töchter aus einem religiösen Fundamentalismus heraus beharrlich vom Besuch der öffentlichen Schulen abgehalten hatte; der dort gelehrte Werte- und Meinungspluralismus sei, hatten sie geltend gemacht, nicht vereinbar mit dem Wort der Bibel, so wie sie es verstünden. Das BVerfG bekräftigte demgegenüber die Bedeutung der allgemeinen Schulpflicht für die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und verantwortungsbewußt an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben: Soziale Kompetenz im Umgang mit Andersdenkenden und gelebte Toleranz könnten effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit den unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Gesellschaft nicht nur gelegentlich stattfänden, sondern Teil einer mit dem Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung seien. Darüber hinaus habe die Allgemeinheit ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten „Parallelgesellschaften“ entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren: Dies setze aber voraus, daß diese sich selbst nicht abgrenzten und dem Dialog mit Andersdenkenden nicht verschlössen69. Darin blinkt wieder ein Stück jenes vernünftigen Pragmatismus auf, ohne den eine Gesellschaft ihre Probleme auf Dauer nicht lösen kann. Und auch mit ihm kommt man so auf einigen Umwegen doch zu der Einsicht, daß der Strand von Riccione auf Dauer kein tragfähiges Gesellschaftsmodell ergibt.

68 Auch diese Erkenntnis kann aber nicht mehr als gesichert gelten, wie kürzlich die Diskussion über eine entsprechende Sprachregelung an einer Realschule in Berlin-Wedding gezeigt hat, vgl. den Beitrag von S. Mayer, Zwangsdeutsch? Typisch Deutsch!, in: Die Zeit vom 25.1.2006. 69 BVerfG, FamRZ 2006, 1094 ff. = BayVBl 2006, 633ff.

JOACHIM RÜCKERT, FRANKFURT AM MAIN CHRISTLICHE IMPRÄGNIERUNG

DES

BGB?

I. DAS THEMA* Das mir gestellte Thema steht im Rahmen des Gesamtthemas „Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts“. „Kultur“ ist nicht mehr überraschend und stellt hier kein thematisches Problem. „Kultur“ wurde prominent in der Wissenschaftsgeschichte der Historiker seit den späten 1980er Jahren. Es war damals ein vermittelndes Stichwort gegen die dominant erscheinende Sozialgeschichte oder Gesellschaftsgeschichte Bielefelder Prägung und für eine Wiedererweiterung der historischen Perspektiven.1 Nicht so einfach steht es mit „Imprägnierung“. Davon sprach man bisher wohl nur im Reinigungsbetrieb oder in den Kleiderprospekten. Offenbar bedeutet dies einen betont distanzierten Zugriff auf das Thema „christlich“. Christentum als Fleckenschutz? Leicht erscheint der Umgang mit dem Element „BGB“ im Thema. Es handelt sich um das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900. Aber was darf man hier voraussetzen? Juristen werden wissen, daß es sich um fünf Bücher handelt mit ungefähr 2.300 Paragraphen, daß es sich in Allgemeinen Teil, Schuldrecht, Sachenrecht, Familienrecht und Erbrecht gliedert, daß es um Willenserklärungen, Anfechtungen, Vertretungen, positive Forderungsverletzung, Culpa in contrahendo, Kaufmängel, viele Verträge, Delikte und Bereicherungen, Eigentümer-Besitzer-Verhältnisse, Sicherungsübereignung, Verlöbnis („etwas skurril“), Eherecht („etwas vage“), Zugewinngemeinschaft, Testament, Frauenviertel im Erbe, Berliner Testament und Ähnliches geht – das mag eine etwas merkwürdige Beschreibung sein. Aber sie entspricht vermutlich ziemlich stark unserem durchaus praktisch und staatsexamensorientiert verformten Wissen vom BGB. Wir denken ,lebensnah‘ von den Rechtsfolgen her. Welche Grundsätze und Prinzipien, gar welche Wertungen in christlicher Perspektive dem Zivilrecht zugrunde liegen, das gehört schon viel weniger zum allgemeinen Juristenwissen. Die Lehrbücher zum Privatrecht haben sich jedenfalls weitgehend aus den Prinzipienfragen zurückgezogen.2 Insoweit ist also durchaus etwas zu tun. Aber worum soll es bei „christlich“ gehen? Das ist jedenfalls viel weniger klar als das Element BGB. Es müßte um das Christliche damals gehen, also um Katholisch, Evangelisch, Reformiert, Lutherisch, Calvinistisch, aber etwa auch um Altkatholisch, die damals gerade Aufsehen erregende Sezession. So läßt sich das Thema hier jedoch nicht bewältigen. Es wäre aussichtslos, dem Christlichen in seiner genaueren Differenzierung im BGB nachzugehen. Teils antworten die Quellen darauf zu wenig, teils sind die Positionen nicht so leicht sehr klar. Ich wähle daher einen zunächst recht * 1

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Ich danke Sibylle Hofer und Peter Oestmann für wertvolle Gespräche und Hinweise. Guter Überblick bei L. Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, 2003, hier Kap. X und XIII, und soeben der Rückblick von W. Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, (2004), 2. Auflage 2006, Einleitung, 9–40. Dazu meine Zusammenstellung in: Das BGB und seine Prinzipien: Aufgabe, Lösung, Erfolg, in: M. Schmoeckel/J. Rückert/R. Zimmermann (Hrsg.), Historisch-Kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, 2003, vor § 1, hier Rn 110.

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allgemeinen Ansatz, der auf die Quellen blickt, und ihnen das entnimmt, was sie selbst als christlich berichten und erkennen lassen. Der entscheidende Zugriff muß also über die Quellen selbst erfolgen. Es geht um den Zeitraum von 1874 bis 1896, diese so lange Strecke der BGB-Beratung. Es handelt sich um viele tausend Seiten, vielleicht rund 20.000. Die Älteren unter uns haben noch gelernt „Motive, Protokolle, Mugdan“. Hinzugekommen sind aber seit den 1980er Jahren die besonders wichtigen „Vorlagen der Redaktoren“ zu den fünf Büchern3 und die große Edition der „Beratung“ der so wichtigen ersten Kommission und weiterer Inedita zum BGB durch Jakobs/Schubert4. II. DIE FORSCHUNG Der Zugriff auf die Quellen wird anders als so oft nicht erleichtert durch die Forschung. Wir haben zwar zu etlichen Detailpunkten insbesondere des Ehe- und Familienrechts inzwischen eindringliche, genauere Informationen. Insbesondere liegen endlich umfassendere Arbeiten über den Beitrag der katholischen Zentrumspartei zur BGBEntstehung vor.5 Aber zu den allgemeineren Perspektiven christlicher Einflüsse und Elemente im Bürgerlichen Recht des BGB, zu den grundsätzlichen und prinzipiellen Punkten, existieren meines Wissens weder ältere noch neuere Forschungen. Früher waren diese Aspekte offenbar mehr oder weniger selbstverständlich, später immer weniger von Interesse. Neuestens liegt z. B. eine zusammenfassende Darstellung vor zu „Christentum und Recht“, die sich in ihrem letzten Abschnitt auch der „Veränderung der Welt des positiven Rechts durch das Christentum“ widmet.6 Der Beitrag zeigt die Aktualität des Themas, bietet aber dem Zweck des Bandes entsprechend nur recht allgemeine Hinweise. Auch aus der Zeit selbst ließen sich keine weitertragenden Beiträge finden. Was man aus der großen „Bibliographie des Bürgerlichen Rechts“ von Maas ermitteln kann an Einzelschriften und Aufsätzen für den Zeitraum von 1888 bis 19047, bleibt bezeichnend konkret [s. Anhang]. Immer geht es um rechtspolitisch konkrete Stellungnahmen zu bestimmten Entscheidungsfragen der BGB-Entstehung. Allgemeinere Fragen von Christlich und durchgehende Probleme werden so gut wie nicht thematisiert. Auch ein Blick in das Wortverzeichnis zum BGB und die an sich guten Register der „Motive“ und der „Protokolle“ zeigt ebenso wie ein Blick in die 3

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W. Schubert (Hrsg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs – [15 Bde.], 1980–1986; die „Vorlagen“ werden auch „Teilentwürfe“ oder „Vorentwürfe“ genannt. Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen – [13 Bde.], 1978–1991. M. Wolters, Die Zentrumspartei und die Entstehung des BGB, 2001; M. Damnitz, Bürgerliches Recht zwischen Staat und Kirche. Mitwirkung der Zentrumspartei am Bürgerlichen Gesetzbuch. Quellen aus der Presse und dem Umfeld des Zentrums, 2001; i.w. überholt ist D. Brandt, Die politischen Parteien und die Vorlage des Bürgerlichen Gesetzbuches im Reichstag, Diss. iur. Heidelberg 1975. A. von Campenhausen, Christentum und Recht, in: P. Antes (Hrsg.), Christentum und Europäische Kultur. Eine Geschichte und ihre Gegenwart, Freiburg 2002, 96–115. Auch der Zivilrechtler Chr. Becker, Die zehn Gebote der Verfassung der Freiheit, 2004, streift das BGB nur (S. 68, 91). G. Maas, Bibliographie des Bürgerlichen Rechts … sachlich geordnet. 1888–1898, 1899, und ders., 1899–1904, jeweils in: Archiv für Bürgerliches Recht 18 (1900) – 26 (1905), jeweils um die 100 Seiten, siehe dazu den Anhang hier, S. 283 ff.

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frühen Lehrbücher zum BGB8 immer nur den Bezug auf bestimmte Paragraphen und Probleme ohne allgemeinere Stellungnahmen. Das „Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte“ (1971–1997) enthält keinen Artikel zu „christlich“ und nur einen sehr kurzen zu „kanonisches Recht“ als Quelle. Auch die Jubiläumsbände von 1996 und 2000 sprechen die Frage nicht an.9 Für eine Tagung der IVR-Sektion sucht man natürlich auch Hilfe bei der Rechtsphilosophie. Sieht man die gängigen Lehrbücher von Adomeit bis Zippelius durch, so erweist sich das Thema Christentum, Religion, Gewissen, Gott, Glaube aber als weitestgehend verschwunden. Das läßt sich bereits in den Registern nachvollziehen. Das Stichwort „Christentum“ findet man nur bei Hans Ryffel 196910, die Stichworte „Religion“ oder „Gewissen“ immerhin bei Kaufmann/Hassemer/Neumann.11 Beide nehmen aber nur historisch dazu Stellung. In Rüthers’ Rechtstheorie findet sich ein Paragraph „Religion und Recht“. Es geht jedoch um „Das theologische Naturrecht“ und nicht um die christliche Imprägnierung unserer positiven Rechtsordnung12. Bei Zippelius findet man unter „Gewissen“ Ausführungen zum Rechtsgefühl – also zu seiner säkularisierten Version.13 Bei Seelmann wird im Zusammenhang der Menschenwürde historisch verwiesen auf die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit der Menschen.14 Auch Hasso Hofmann bietet historische Ausführungen zum christlichen Naturrecht.15 Zu einer christlichen Imprägnierung unseres Rechts oder Zivilrechts findet man auch in diesen Rechtsphilosophien nichts. Fündig wird man erst bei den älteren Autoren, also etwa bei Radbruch, Coing und Ryffel, aber wieder nicht bei Larenz16 oder Engisch17. Radbruch widmet 1932 dem Thema Religion einen methodischen Blick. Er grenzt es systematisch ab als wert8 9

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Wortverzeichnis hg. vom Bundesministerium der Justiz, 1976; etwa die umfänglichen Lehrbücher von Ludwig Enneccerus oder Friedrich Endemann. Siehe etwa H. Schlosser (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch 1896– 1996. Ringvorlesung … der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg, 1997 (nur S. 18 kurz zum Eherecht); 100 Jahre BGB – 100 Jahre Staudinger, 1999 (hier mit F. Sturm, Th. Mayer-Maly, O. Werner, M. Martinek, W. Wiegand, D. Coester-Waltjen, H.-W. Strätz, D. Medicus, R. Bork), R. Stürner, Der hundertste Geburtstag des BGB …, JZ 51 (2000), 741–752; 100 Jahre BGB, hg. von Universität Potsdam. Juristische Fakultät, 2001 (mit R. Schröder); Das Bürgerliche Recht – von der Vielfalt zur Einheit –. Vortragsreihe anlässlich einer Sonderausstellung des Landgerichts Flensburg zum 100. Geburtstag des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2000 (mit H. Hattenhauer und W. Schubert), 100 Jahre Bürgerliches Gesetzbuch – 50 Jahre Bundesgerichtshof … , Jurist. Studiengesellschaft Karlsruhe (mit H. Lange, nur 46 kurz zum „christlich-konservativen“ Familienrecht), 2001; unergiebig auch M. John, Politics and the law in the late ninteenth century Germany: the origins of the civil code, 1989. H. Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen, 1969, hier S. 197, neben Religion fünfmal. A. Kaufmann/W. Hassemer/U. Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004: Religion dreimal, Gewissen zweimal. B. Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl 2005, § 11; ebenso 3. Aufl. 2007; daneben die Stichworte Gewissen (zweimal) und Glaube (neunmal). R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, §§ 18 I, auch 22 I („persönliches Rechtsempfinden“ zuletzt); daneben 4 weitere, historische Fundstellen; ebenso 5. Aufl. 2007. K. Seelmann, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 2004, § 12 Rn.17. H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 2000, kein Register, aber s. die Gliederung, § 18: Christliches Naturrecht; ebenso 3. Aufl. 2006 (mit Register, aber ohne christlich u.ä.). Siehe sein: Richtiges Recht. Grundzüge einer Rechtsethik, 1979. K. Engisch, Auf der Suche nach Gerechtigkeit. Hauptthemen der Rechtsphilosophie, 1971, ohne Reg., s.

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überwindende Haltung von den wertbetrachtenden und bewertenden methodischen Haltungen in der Rechtsphilosophie und er berichtet von der trennenden Betonung zweier Welten.18 In dem Nachwortentwurf von 1947, der uns durch die neuen Ausgaben der Rechtsphilosophie nun gedruckt vorliegt19, verläßt Radbruch das bloß methodische Feld und widmet sich der Frage inhaltlich. Das Christentum ist ihm nun wichtig als Bollwerk gegen den Nationalsozialismus und er zitiert ausführlich aus der katholischen Enzyklika von 1937, die den Nationalsozialismus dezidiert verworfen hatte. Er kommt nun zu dem Schluß, wichtig sei „die religiöse Wurzel allen Rechts“20. Auch Hans Ryffel spricht von einem aufgegebenen Absoluten, das zwar nicht vorgegeben sei, das aber doch zu beachten und zu suchen sei, denn es müsse das positive Recht stützen, sonst verliere dieses „allen Boden“.21 In diesem Sinne spricht auch Helmut Coing in seiner „Schlußbemerkung“ von der Religion als einer notwendigen Stütze des Rechts22. Damit formulieren diese drei Autoren Anliegen, die nicht nur ihnen nach der Krise des Nationalsozialismus wichtig geworden waren. Sie sprechen von Voraussetzungen des Rechts, nehmen also den bekannten Böckenförde-Satz von 1967, „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“,23 vorweg. Diese Autoren ziehen aber auch die Folgerung, welche Voraussetzungen für den Bestand des Rechtlichen wesentlich seien, nämlich die religiösen. Für die Untersuchung des BGB gibt die Forschung also zwar hilfreiche Fingerzeige, aber keine Ergebnisse. III. DER ENTSTEHUNGSKONTEXT Man kann sich also sozusagen ganz ohne Forschungsanleitung den kaum berührten Quellen zuwenden. Dazu gehört zunächst der Kontext der BGB-Entstehung. Er ist gerade zum Christentum einigermaßen dramatisch. Denn das BGB hatte in Sachen Christentum keinen guten Start. 1. Kulturkampf Erst in der Schlußphase seiner Entstehung war der sogenannte Kulturkampf beigelegt worden, wie ihn Rudolf Virchow polemisch genannt hatte.24 1871 war er in Preußen

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aber VI.4.(4) historisch zur „göttlichen Schöpfungsordnung“; betont religiös-neutral in III: Recht und Sittlichkeit. G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), Studienausgabe, 2. Aufl. 2003, § 1: Wirklichkeit und Wert. Radbruch, ebda., Anhang 1, 193–208. Am Ende des Abschnitts, 206. Ryffel (Fn. 10), 329. H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Auflage 1993, 300 (vorletzte Seite). E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, 92 ff., 112. Prägnant dazu H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, 1995, 892–902; mehr im allgemeinen und politischen Kontext, Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, 2. Aufl. 1993, 364–382; daneben informativ E.-R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4,

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in Gang gesetzt worden, ein Höhepunkt lag um 1877. Erst 1887 wurde er in formellen Erklärungen zwischen Rom und Berlin beigelegt. Preußen, aber auch Bayern und Baden, waren die Hauptakteure in einer heute unglaublich anmutenden, wahrhaft kämpferischen Auseinandersetzung mit dem katholischen Christentum und seinen realen Ausprägungen und Institutionen. In nicht weniger als 22 Kulturkampfgesetzen wurde der Kampf juristisch organisiert und fixiert. Es begann 1871 mit dem sogenannten Kanzelparagraphen, also in § 130a des soeben erst neuen StGB25, der bis 1953 Bestandteil unserer Rechtsordnung blieb; übrigens folgte er auf § 130, die „Anreizung zum Klassenkampf “. Im März 1872 kam das preußische Schulaufsichtsgesetz, das dem Staat erstmals alle Kompetenzen zuwies, im Juli wurde der Jesuitenorden verboten (bis 1917). Im Mai 1873 ergingen die sogenannten preußischen Maigesetze zum Priesterstudium, zur Disziplinargewalt, zum Verbot von Kirchenstrafen und zur Milderung von Kirchenaustrittsfolgen. Im März ’74 folgte in Preußen die obligatorische Zivilehe, die damals auch Zwangszivilehe genannt wurde, mit der Einführung des Standesamtes und der amtlichen Heiratsregister, im Mai ’74 wurden verfassungswidrig Ortsverweise gegen Priester ermöglicht und Ausbürgerungen. Auch wurde ein Unschuldsbeweis bei Verstößen gegen staatliches Recht gefordert und der Bischofseid auf den Staat. Es kam zu nachhaltigen Strafverfolgungen gegenüber Kritik und Nichtbefolgung, so daß 1874/75 50 % der preußischen Bischöfe in Strafhaft saßen und viele mit erheblichen Geldstrafen bedroht waren.26 Auch das Vereins- und Pressewesen wurde scharf überwacht. 1875 kam es schließlich zum Reichspersonenstandsgesetz mit der Zwangszivilehe, zur Entziehung von Vermögensverwaltungen usw. Erst 1878 ergab sich eine neue Lage, gegenüber dem Zentrum, mit dem neuen Papst Leo XIII., der diplomatischer als Pius XI. vorging und mit der neuen Konstellation im Reich, die Bismarck zum Einlenken brachte, nämlich dem Erstarken der Sozialdemokratie als weiterem Gegner. Das Zentrum hatte zudem seit 1878 durchgehend den stärksten Stimmen- und Mandatsanteil im Reichstag erkämpft.27 Der Kulturkampf hatte sich also paradox als politische Stärkung des Zentrums ausgewirkt. Jedenfalls war er unglaublich scharf, und übrigens wesentlich schärfer als gegen die SPD seit 1878 bis 1890 (Sozialistengesetz), durchgeführt worden. Viele Maßnahmen sind eigentlich 1969, 2. Auflage 1982, 645–831; neuestens P. Landau, Verfassungskonflikte im Streit um die staatliche Kirchenhoheit 1871–1880, in: Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt. Symposium für D. Willoweit, 2006, 175–195. 25 Der sog. Kanzelparagraph: „Ein Geistlicher oder anderer Religionsdiener, welcher in Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung seines Berufes öffentlich vor einer Menschenmenge, oder welcher in einer Kirche oder an einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte vor Mehreren, Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstande einer Verkündigung oder Erörterung macht, wird mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft“; Abs. 2 analog für Schriftstücke; eingefügt am 10.12.1871 und Abs. 2 am 26.2.1876; Strafmaß ähnlich § 130 oder Majestätsbeleidigung (§ 97) oder Gotteslästerung (§ 166) oder fahrlässige Körperverletzung (§ 230); weites Gefährdungsdelikt! 26 Siehe Wehler (Fn. 24), 896; Nipperdey II (Fn. 24), 375: „In den ersten vier Monaten des Jahres 1875 wurden 241 Kleriker, 136 Redakteure, 210 andere Katholiken zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt, 74 Wohnungen durchsucht, 55 Veranstaltungen aufgelöst, 20 Zeitungen konfisziert, 103 Personen interniert oder ausgewiesen. 1877 waren von 12 Diözesen 8 vakant, 6 wegen Absetzung, 2 wegen Todes, 1000 Pfarreien, etwa ein Viertel der Gemeinden waren 1880 ohne Pfarrer.“ 27 Siehe G. Hohorst/J. Kocka/G.-A. Ritter (Hrsg.), Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, 1975, 173.

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nur vergleichbar mit dem Vorgehen der NS-Diktatur gegen Gewerkschaften und Kommunistische Partei und später auch gegenüber den Kirchen. Man muß diesen Hintergrund benennen, um würdigen zu können, aus welcher Erschütterung heraus die katholische Seite und damit die Zentrumspartei in der entscheidenden Legislaturperiode von 1893–96 doch am neuen Zivilgesetzbuch mitwirkte. Man konzentrierte sich nun bewußt auf ganz konkrete, lösbare Fragen und versuchte, sie nicht leicht ins Allgemeine zu erweitern. Das erschwert freilich die heutige Suche nach Christlichem im BGB. 2. Reichstag Andererseits bedeutete die politische Kräfteverteilung im Reichstag, daß auf das Zentrum nicht verzichtet werden konnte und ebensowenig auf die christlichen Kräfte bei den Konservativen und Nationalliberalen. Denn diese drei Parteigruppen waren mit je ca. ein Viertel der Mandate, wenn man die verschiedenen konservativen und liberalen Mandate ein wenig zusammenfaßt, an der BGB-Beratung beteiligt.28 Man konnte also das BGB nur zusammen zum Erfolg führen und man wird davon ausgehen können, daß überwiegend das Christentum für diese Abgeordneten eine deutliche Rolle spielte. Atheisten und Freidenker waren eine minimale Gruppe, die sich im Reichstag nicht bemerkbar machte und im Reich es bis auf ca. 6.500 Personen gebracht haben soll.29 Dieser parlamentarische Kontext zeigt also, daß mit dem christlichen Element zu rechnen war. Hinzu kommt, daß das Zentrum die aktivste Mitarbeit im Reichstag leistete. 251 von 658 Kommissions-Anträgen kamen von seiner Seite, 180 von der SPD, aber nur 40 von den Nationalliberalen und zusammen ca. 73 von den Konservativen.30 3. Beteiligte Fragt man sich schließlich, wie es mit der Religion bei den maßgebenden Persönlichkeiten stand, so erfährt man immerhin bei Staudinger-Coing, daß die „herrschenden Wertungen“ durchaus christlich gewesen seien, daß aber freilich alles Genauere unklar und unerforscht sei.31 Immerhin soll also das Christliche stark verankert gewesen sein. Leider verfügen wir nur zu Gottlieb Planck über eine umfassende, wirkliche Biographie eines maßgebenden BGB-Zeugen. Es handelt sich um einen Glücksfall, daß der persönlich noch Planck nahestehende Ferdinand Frensdorff am Ende seiner Biographie uns auch zur religiösen Seite etwas überliefert hat. Erst aus diesem bemerkenswerten Bericht läßt sich ein wenig erschließen von der Atmosphäre in Sachen Religion, die einen entscheidenden Hintergrund gebildet haben muß. Dies hat um so 28 Ebda. 29 H. Aubin/W. Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, 67 f.; allg. auch Wehler (Fn. 24), 1179 ff. 30 Zusammengestellt von Wolters (Fn. 5), 401. 31 Siehe Staudinger-Coing, Kommentar zum BGB, Bd. 1, 12. Aufl. 1978, Einleitung I 3; allgemeinhistorisch zu den Reichstagsabgeordneten gibt es offenbar keine Untersuchung zu „christlich“.

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größere Bedeutung, als Gottlieb Planck zu den führenden Nationalliberalen gehörte und als durchgehend maßgebliches Mitglied aller BGB-Kommissionen und zuletzt als Generalreferent im Reichstag eine gewiß entscheidende Rolle beim BGB gespielt hat. Der Bericht von Frensdorff lautet32: „Der sittliche Grundzug seines Wesens hatte seine Wurzel in seiner religiösen Überzeugung, seinem festen Standpunkt im Christentum, im evangelischen Bekenntnis. Er dachte und handelte religiös, sowenig er auch die Religion im Munde führte. An der Bahre seines Großvaters sagte der Universitätsprediger Dr. Ruperti: ‚In der wissenschaftlichen Theologie gab es nur eine Disziplin, in der er nie unterrichtet hat, das ist die christliche Sittenlehre, die hat er bloß im Herzen getragen und bloß ausgeübt.‘ Das Wort darf auch dem Enkel nachgesagt werden. Er war ein fleißiger Besucher des öffentlichen Gottesdienstes. War er verhindert, so ließ er sich eine der Predigten aus dem akademischen Gottesdienst von Hermann Schultz vorlesen, den er besonders gern hörte. Seinen frühzeitigen Tod beklagte Planck auch deshalb, weil er gehofft hatte, Schultz würde ihm die Leichenrede halten. In seinem täglichen Leben hatte die Bibel ihren Platz. Seit seiner Verheiratung hat er daran festgehalten, das Tagewerk mit Vorlesung eines Kapitels aus der Bibel, anfangs auch des Alten, später nur des Neuen Testaments, zu beginnen. Neben der lutherischen Übersetzung wurde die Weizsäckers dabei zu Rate gezogen. Die neuere theologische Literatur verfolgte er fleißig. Die Schriften von Uhlhorn, Kampf des Christentums mit dem Heidentum und die christliche Liebestätigkeit; Kahnis, der innere Gang des deutschen Protestantismus; v. d. Goltz, die christlichen Grundwahrheiten; die der modernen Theologen wie Harnack, Otto, Bousset bildeten den Gegenstand der Lektüre an den Sonntagnachmittagen, die er gern, um sich von der Juristerei der Wochentage zu erholen, benutzte. Was er in dieser Weise in sich aufgenommen, machte er nicht zum Gegenstand der Unterhaltung, sondern der eigenen inneren Vertiefung. Dies lange und schöne Leben, das neben Mühe und Arbeit und schwerem Leid große und glückliche Tage gesehen hatte, endete ein kurzes ruhiges Sterben. Mit klarem Bewußtsein ging er dem Tode entgegen. Die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele hatte sein ganzes Leben erfüllt. An sich selbst arbeiten um sich für das Jenseits reif zu machen, darin lag für ihn die Hauptaufgabe jedes Menschen. Legten sich andere das geistige Fortleben philosophisch zurecht, so ruhte es bei ihm auf religiöser Grundlage. Der Hoffnung auf Wiedersehen im Jenseits gab er an Bennigsens Grabe in ergreifenden Worten Ausdruck. Im festen Glauben an seinen Heiland und Erlöser ging er in die Ewigkeit.“

Mit einer solchen Intensität der Christlichkeit hätte man nicht so leicht gerechnet und so belehrt die Quelle eindringlich über die hohe Bedeutung des christlichen Elements bei einem so maßgebenden Akteur der BGB-Entstehung. Man wird davon ausgehen dürfen, daß für die meisten Mitwirkenden von Windscheid und Roth bis Pape, von den Redaktoren Gebhard, v. Kübel, Johow und Schmitt bis zu Bosse und Nieberding vom Reichsjustizamt und bis zu so vielen anderen, dieses Element keine nur marginale Rolle gespielt haben wird.33 Der eine oder andere Pastorensohn machte sich jedenfalls bemerkbar – wie sich zeigen wird. Aber wie läßt sich nun diese Rolle genauer ermitteln?

32 F. Frensdorff, Gottlieb Planck, deutscher Jurist und Politiker, 1914, hier 431 f. 33 Vgl. zum „BGB-Personal“ W. Schubert, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB. Einführung, Biographisches, Materialien, 1978; weitere Biographien zum BGB-Umkreis bei Damnitz (Fn. 5), 913–946, mit Angabe der Bekenntnisse, aber sonst sehr knapp und ohne Familiäres zur Herkunft.

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IV. VIER ZUGRIFFE Dazu möchte ich das BGB auf vier Ebenen überprüfen: 1. nach direkten Aussagen im Text BGB, 2. nach indirekten Aussagen, 3. nach antichristlichen Elementen und 4. nach materiell-christlichen Elementen. 1. Direkt-christliche Elemente im Text des BGB (1) Der Text des BGB bietet durchaus christliche Überraschungen. Eine davon heißt „Sonntags nie“ – nach § 193 bewirken Sonntage oder Feiertage nie einen Fristablauf. So stand es 1900 im Text und so blieb es bis heute. Im Teilentwurf und in der ersten Kommission hatte man 1882 noch ein Bedürfnis einer allgemeinen Vorschrift insoweit verneint und nur eine „Im Zweifel-Regelung“ für das Schuldrecht erwogen.34 In der Vorkommission des Reichsjustizamtes erwog man für die Leistungsbewirkungen eine dispositive Vorschrift, die Sonn- und Feiertage ausnahm.35 Dies war unter dem Einfluß der Kritiken geschehen, doch wollte man im Anschluß an das Handelsgesetzbuch36 nicht allgemein auf Handlungen abstellen, sondern nur auf Leistungen. Auf Antrag von Spahn, dem Zentrumsvorsitzenden, und dem Hessen Dittmar – ein Pfarrersohn37 – wurde eine erweiterte Vorschrift ohne Abweichungsmöglichkeit eingefügt.38 Im zweiten Entwurf stand aber immer noch ein § 228 im Schuldrecht, der die Regelung dispositiv hielt und auf Leistungsvorgänge beschränkte.39 Erst auf Antrag des aktivsten Zentrumsabgeordneten, nämlich des Richters Adolf Gröber, in der ersten Lesung im Reichstag, wurde dann dem späteren § 193 der schlichte heutige Schlußteil angefügt. Diese „Sonntagsheiligung“ (Hermann) war also ein klar vom Zentrum veranlaßtes christliches Element.40 Die zweite Kommission bezog sich dabei auch auf eine „berechtigte Zeitströmung, welche auf größere Heilighaltung der Sonn- und Festtage sowie auf Gewährung der Sonntagsruhe für die arbeitenden Klassen gerichtet sei“.41 Gröber setzte sich durch, obgleich der Redaktor des Allgemeinen Teils, Gebhard, den Anträgen entgegengetreten war und eingewandt hatte, sie würden den rechtsgeschäftlichen Verkehr in kaum erträglicher Weise stören. Auch könnten gegebenenfalls Sonntags- und Feiertagsarbeiten willkürlich verweigert werden. In der Reichstagskommission hatten auch die evangelischen Abgeordneten von Buchka und Enneccerus, ersterer als deutschkonservativer Jurist, letzterer als bekannter Marburger Professor und Nationalliberaler, die Intentionen Gröbers unterstützt.42 Es handelt 34 35 36 37 38 39 40

H. H. Jakobs u. W. Schubert, Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Bd. I 2, 1985, 679 ff. Jakobs/Schubert (Fn. 34), 984. ADHGB 1861, Art. 329. Siehe Schubert (Fn. 33), 97. Jakobs/Schubert (Fn. 34), 988 f. Jakobs/Schubert (Fn. 34), 991. H.-G. Hermann, Historisch-Kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, 2003, §§ 186–193 Rn. 13 und 15; zum ganzen näher Wolters (Fn. 5), 75 f., 140–142, 404. 41 Protokolle der Kommission für die zweite Lesung …, Bd. 1, 1897, 191, siehe Wolters (Fn. 5), 76. 42 Wolters (Fn. 5), 142.

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sich also um ein gemeinsames christliches Element, mit dem man die Gewohnheiten der christlichen Bevölkerung achten und soweit wie möglich auch schützen wollte.43 (2) Eine weitere Überraschung bietet das Dienstvertragsrecht. § 618 Abs. 2 lautet seit 1900 bis heute: „Ist der Verpflichtete in die häusliche Gemeinschaft aufgenommen, so hat der Dienstberechtigte in Ansehung des Wohn- und Schlafraums, der Verpflegung sowie der Arbeits- und Erholungszeit diejenigen Einrichtungen und Anordnungen zu treffen, welche mit Rücksicht auf die Gesundheit, die Sittlichkeit und die Religion des Verpflichteten erforderlich sind.“ Auch diese Vorschrift hatte der Zentrumsmann Gröber in der Reichstagskommission in Gang gebracht. Der Antrag kam nur knapp mit 10 gegen 7 Stimmen bei 18 Anwesenden durch.44 Der katholische BGB-Kommentator und besondere Zeuge Pater Lehmkuhl vermerkt dazu: „Die §§ 618 und 619 enthalten sehr wertvolle Bestimmungen für Dienstboten und für die Ermöglichung der Erfüllung religiöser Pflichten.“45 Hinzu kommt wesentlich, daß nach Artikel 95 des Einführungsgesetzes diese Paragraphen auch das Landesgesinderecht überlagerten. Als Rechtsfolge einer einschlägigen Pflichtverletzung konnte der Dienstbote kündigen, bei Aufrechterhaltung der Gehaltsforderung bis zum Ablauf der ersten regelmäßigen Kündigungsfrist. (3) Wenig bekannt scheint auch zu sein, daß das Zentrum entscheidend war für das Wucherverbot des § 138 Absatz 2 BGB.46 Wiederum war es Gröber, der in der Reichstagskommission zunächst noch für den Abschnitt Unerlaubte Handlungen eine Schadensersatzpflicht des Wucherers in unzweifelhafter Weise auszusprechen beantragte. Da sich ergab, daß eine solche Ersatzpflicht schon aus der Strafbarkeit des Wuchers in Verbindung mit deliktischem Schutzgesetz bestand (§ 823 II), zog Gröber diesen Antrag zurück. Es kam jedoch zur Nichtigkeitserklärung von Wuchergeschäften nach § 138 Absatz 2.47 Die Reichstagskommission unter Anführung von Gröber hatte den § 138 Absatz 2 eigens eingefügt, um „eine so wichtige, ins Zivilrecht tief eingreifende Vorschrift im BGB nicht unerwähnt zu lassen“.48 Bedeutsam ist die Erweiterung auf den gesamten Sachwucher ohne Rücksicht auf die Gewerbs- oder Gewohnheitsmäßigkeit. Im Reichstagsplenum gab es dagegen noch erheblichen Wi-

43 Wolters (Fn. 5), 404. 44 Wolters (Fn. 5), 208. 45 August Lehmkuhl, Das Bürgerliche Gesetzbuch des Deutschen Reiches nebst Einführungsgesetz. Unter Bezugnahme auf das natürliche und göttliche Recht, insbesondere für den Gebrauch des Seelsorgers und Beichtvaters erläutert, Freiburg i. Br. 1899, XVI und 712 S., hier zu §§ 618 ff.; zur beratenden Einschaltung Lehmkuhls in die Zentrumsposition 1896 Damnitz (Fn. 5), 145 f., 203, auch 930 zur Person. 46 Vergl. Wolters (Fn. 5), 404, 359 f. 47 Vergl. Wolters (Fn. 5), 404, allgemein zum Kontext H.-P. Haferkamp, HKK I (wie Fn. 40), § 138 Rn. 12; außerdem H. Schmidt, Die Lehre von der Sittenwidrigkeit der Rechtsgeschäfte in historischer Sicht, 1973, 135 ff., mit der Klärung dreier Perioden bei der Wuchergesetzgebung, einer ersten nur mit Zinsmaxima bei Darlehensverträgen bis 1860, einer zweiten mit völliger Freigabe der Zinsvereinbarungen bis ca. 1877 und einer dritten zur direkten Eindämmung des Wuchers, im Deutschen Reich mit dem Wuchergesetz von 1880. 48 Schmidt (Fn. 47), 140.

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derstand unter dem Gesichtspunkt der Rechtsunsicherheit und zu starker Eingriffe in die Vertragsfreiheit. Gröber, Enneccerus und Andere setzten sich jedoch durch.49 (4) Ebenfalls weniger bekannt dürfte schließlich sein, daß auch das allgemeine Schikaneverbot in § 226 auf christliches Engagement zurückgeht. Zwar hatten schon Otto Bähr, Gustav Hartmann, Otto Gierke und dann auch Planck und Regelsberger sich für eine Regelung in dieser Richtung eingesetzt.50 Noch das Reichsjustizamt und die zweite Kommission waren jedoch trotz großen Einsatzes Gierkes wie etwa auch des einflussreichen Ökonomen Gustav Schmoller ablehnend. Im Reichstag forderte dann wieder Gröber ein allgemeines Schikaneverbot in bezug auf alle Rechte. Er konnte sich damit am Ende gegen die Befürchtung schikanöser Prozesse durchsetzen.51 Die Anträge wurden ungewöhnlich lange diskutiert und der Erfolg mußte gegen die Kommissare des Reichsjustizamts Struckmann, von Jakubezky und gegen Gebhard erkämpft werden. Dagegen sprach der einflußreiche Nationalliberale und evangelische Enneccerus, wiederum Pastorensohn, im wesentlichen für den Antrag, voll unterstützt von seinem evangelischen Parteikollegen von Cuny; angenommen wurde der Antrag dann doch mit großer Mehrheit.52 (5) Zu den bekannteren Erinnerungsstücken in Sachen Christlich und BGB gehören gewiß die Überschrift „Bürgerliche Ehe“ vor § 1297 und der § 1588. Seinerzeit legte man daneben sehr viel Wert auf die Formulierung des § 1318 alter Fassung. Das Ehe- und Familienrecht gehörte zu den am heftigsten umstrittenen Teilen des neuen bürgerlichen Rechts. Hier waren gewissermaßen die Flurschäden der Kulturkampfpolitik und -gesetzgebung ins Reine zu bringen. Am Ende erwies sich, daß die obligatorische Zivilehe bzw. die Zwangszivilehe, wie sie damals vielfach genannt wurde, nicht mehr zu vermeiden war. Infolgedessen setzte man alles daran, wenigstens die Regeln so zu fassen, daß bei katholischen wie evangelischen Bevölkerungskreisen kein Zweifel darüber entstehen konnte, „daß die Ehe dieses Gesetzbuches die kirchliche Ehe weder ist noch ersetzen wird“, so der Zentrumsabgeordnete Lieber in den letzten Debatten vom 8. Juni 1896.53 In diesem Sinne wurde der erste Abschnitt des Familienrechts vor § 1297 nicht mehr mit „Ehe“, sondern mit „Bürgerliche Ehe“ überschrieben. In § 1318 in der Fassung von 1900 wurde zur Eheschließung betont, daß der Standesbeamte nur „ausspreche“, daß die Eheleute „kraft dieses Gesetzes nunmehr rechtmäßig verbundene Eheleute seien“, womit die bloß zivilrechtliche Wirkung kraft BGB betont sein sollte. Schließlich fügte man etwas ungleichgewichtig, aber eben deswegen signifikant, einen „Achten Titel“ mit dem einzigen § 1588 ein, der betonte: „Die kirchlichen Verpflichtungen in Ansehung der Ehe werden durch die Vorschriften dieses Abschnitts nicht berührt“. Die Überschrift vor § 1297 und der 49 Schmidt (Fn. 47), 140 f. 50 Siehe Haferkamp (wie Fn. 47), §§ 226 bis 231, Rn. 13 f.; für Gierke auch schon S. Hofer, Freiheit ohne Grenzen? Privatrechtstheoretische Diskussionen im 19. Jahrhundert, 2001, 145 mit Fn. 105. 51 Haferkamp (Fn. 47), §§ 226 bis 231, Rn. 15; Wolters (Fn. 5), 404. 52 Siehe Jakobs/Schubert (Fn. 34), 1172 f. 53 Siehe Wolters (Fn. 5), 387 f.; siehe auch die lebhafte zeitgenössische Würdigung der neuen Einteilung in die zwei Abschnitte „Bürgerliche Ehe“ (§§ 1287 ff.) und „kirchliche Verpflichtungen“ (§ 1588) als von „hohem moralischen Wert“ bei dem wichtigen kath. Autor K. A. Geiger, Civilehe und Civileherecht in Deutschland 1872–1896, in: Archiv f. kath. Kirchenrecht, 37 (1897), 499–528, 681–717, hier 702 f.

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§ 1588 bestehen bis heute. In § 1312 BGB neuer Fassung, der § 1318 nun ersetzt, wurde freilich mit Wiedereinfügung des Eheschließungsrechts in das BGB im Jahre 1998 dieser Sieg der christlichen Akteure weitergegeben – wohl kaum sehr bewußt. Im Ehegesetz vom 6.7.1938 hieß es dagegen, der Standesbeamte solle „im Namen des Reichs aussprechen, dass sie nunmehr rechtmäßig verbundene Eheleute seien“ (§ 18). In der entsprechenden Fassung des Ehegesetzes von 1938 als Gesetz Nr. 16 des Kontrollrats von 1946 heißt es in § 14 dann bemerkenswerterweise, daß die Eheschließung „im Namen des Rechts“ ausgesprochen werde – so auch die Reformen der 70er Jahre bis 1998. Selten übrigens spiegelt der Wandel einer einzigen kleinen Formulierung von „Reich“ zu „Recht“ so viel Zeitgeschichte wieder.54 Die Anstrengungen von 1896 betonten jedenfalls die klare Trennung von christlich-sonntäglichen und staatlich-säkularen Eherechtsregeln. Auch wenn man sich bemüht hatte, sie möglichst konfliktfrei zu halten, gab es im Kleinen eine Fülle von Rang- und Vorrangsproblemen bei denkbaren Konflikten. Die Christlichen hatten zwar die „konfessionslose Haltung“ des Entwurfs am Ende akzeptiert, aber im Kleinen gab es noch so manche Gehässigkeit. Immerhin gelang es im Rahmen des Einführungsgesetzes zum BGB, die Strafvorschrift des § 67 Personenstandsgesetz von 1875 zu mildern. Danach hatte sich ein Priester strafbar gemacht, der eine Ehe kirchlich schloß, ohne daß die Verlobten zuvor standesamtlich geheiratet hatten. Die Vorschrift wurde zwar nicht abgeschafft, doch blieb Straffreiheit für den Fall, in dem der eine Verlobte an einer lebensgefährlichen, keinen Aufschub duldenden Erkrankung litt. Das Zentrum bemühte sich in dieser Weise generell, die Regelungen des BGB und des Kirchenrechts nicht in Widersprüche laufen zu lassen, die für die Gläubigen mit schweren Gewissenskonflikten verbunden gewesen wären.55 2. Indirekt christliche Elemente Als zweite Ebene meiner Durchsicht des BGB-Textes hatte ich indirekte Elemente von Christentum angekündigt. Damit meine ich vor allem die vielen Verweise auf Sittlichkeit und Billigkeit, die das BGB enthält. Das beginnt mit § 138 I, der Nichtigkeit bei Sittenverstoß, führt weiter zu den §§ 157 und 242, die die Auslegung und Erfüllung von Rechtsgeschäften nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte gehandhabt haben wollen, dann zur Herabsetzung einer Vertragsstrafe nach § 343 im Sinne einer billigen Angemessenheit, zu § 826 mit seiner Schadensersatzhaftung für sittenwidrige Schädigungen und zu § 829 mit seiner Billigkeitshaftung. Daneben stehen sozial helfende Bestimmungen wie § 400 mit seinem Abtretungsverbot bei pfändungsfreien Forderungen, § 571 (1900) mit der bekannten Lösung „Kaufrecht bricht nicht Miete“, die schon erwähnten §§ 617 und 618 beim Dienstvertrag, die Kündigungsvorschrift des § 626 und anderes mehr. Immer geht es dabei um eine Rücksicht auf Sittlichkeit oder Billigkeit oder einen bestimmten so54 Siehe dazu W. Leiser, „Im Namen des Volkes“. Eine Formel und ihre Geschichte, in: Vjh. für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968), 501–515; M. Stolleis, Im Namen des Gesetzes, in: H. Dreier (Hrsg.), Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit, 2005, 33–66. 55 Dazu Wolters (Fn. 5), 410, und 386 f. für die Strafbarkeitsfrage.

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zialen Schutz. Für alle diese Fälle wird man das hier gemeinte Sittliche und Soziale im wesentlichen übersetzen können als Christlich-sittlich und Christlich-sozial. Wenn es zur Zeit der BGB-Verabschiedung um Sittlich oder Billig oder Sozial ging, darf man davon ausgehen, daß dabei das christliche Element dominant war. Stimmen wie die Gierkes gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie die des Generalzeugen Gottlieb Planck, der in seinem Kommentar festhielt: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die großen Prinzipien des modernen Rechts, insbesondere die Prinzipien der persönlichen Freiheit, der Gewissensfreiheit, der Koalitionsfreiheit, der Gewerbefreiheit, der Freiheit in Ausübung des Wahlrechts etc. verstößt“, sei „immer auch sittenwidrig“.56 Hier wird die Gewissensfreiheit und damit vor allem die sittliche Praxis des damaligen Christentums zu einem Eckstein der Sittlichkeit und Sittenwidrigkeit erklärt. Ebenso wie die erwähnte Vermutung Coings57 sprechen auch die Ausführungen der Allgemeinhistoriker, etwa bei Wehler und Thomas Nipperdey, für eine durchaus noch starke Dominanz christlicher Vorstellungen in der BGB-Entstehungszeit. Man geht sogar davon aus, daß sie sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts und insbesondere auch durch den Kulturkampf verstärkt hatten.58 Trotz Tendenzen einer Entkirchlichung, etwa im Rückgang der Kirchenbesuche und der kirchlichen Trauungen und Beerdigungen, gab es auch Zunahmeerscheinungen nach 1880.59 Die aktive Kirchlichkeit war immer noch beachtlich mit rund 40 % auf dem Lande und rund 20 % in den Städten für den Kirchgang.60 So wenig allgemein maßgeblich und verläßlich diese verstreuten Daten sein mögen, angesichts des hohen Durchschnittsalters der hauptsächlich am BGB Beteiligten von über 60 Jahren61 und des Honoratioren- oder sonst hervorgehobenen Status dieser Personen wird man nicht ganz fehlgehen, wenn ein Zeugnis wie das zu Gottlieb Plancks tiefer Religiosität und Religionspraxis als durchaus wesentliches Zeugnis für viele eingeschätzt wird.62 Soweit ich sehe, haben wir leider keine parallelen Zeugnisse dieser Art zu anderen am BGB maßgeblich Beteiligten. Aber die Gegenprobe der Dimensionen von Atheisten und Freidenkern ergibt – wie erwähnt – für vor 1914 nur die minimale Zahl von 6.500 organisierten Freidenkern.63 Man wird also davon ausgehen dürfen, daß die Verweise des Gesetzbuches auf Sitte, Sittlichkeit, Billigkeit und Soziales in hohem Maße christlich geprägt waren. Freilich war dies eine zeitbedingte Variable, die auch anders gefüllt werden konnte und später auch umgedacht wurde.

56 So in seinem Kommentar zum BGB, Band 4, 1. Aufl. 1901, zu § 138. 57 Oben Fn. 31, vgl. immer noch Th. Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl. 1901, der für 1871–1900 deutliche „Gewinne der Orthodoxie“ belegt, d.h. der christlichkatholischen wie protestantischen. 58 Vgl. zum ganzen Wehler (Fn. 24), 377 ff., 892 ff.; Nipperdey II (Fn. 24), 380 f. 59 Siehe Wehler (Fn. 24), 1178 f. 60 Wehler (Fn. 24), 1179. 61 Vgl. die Einzeldaten bei Schubert (Fn. 33) jeweils. 62 Siehe oben bei Fn. 32. 63 Aubin/Zorn (Fn. 29), 667 f.; vgl. aber Nipperdey (Fn 24) I, 1990, 507 ff: Die Unkirchlichen, mit breiterer Einschätzung.

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3. Antichristliche Elemente Christliche Imprägnierung läßt sich auch von ihren Grenzen her beleuchten und klären. Denn das BGB enthält durchaus antichristliche Elemente. Sie verbergen sich etwa in den massiven Erwerbsbeschränkungen für Schenkungen an Orden und geistliche Personen und für das Erbrecht geistlicher Personen im EGBGB. Es handelt sich um landesrechtliche Vorbehalte, die das BGB aufrechterhielt.64 Der Streit drehte sich hier um Art. 87 EGBGB. Immerhin geht es aber nur um ökonomische Fragen. Auch im BGB selbst finden sich etwas versteckt derartige Bestimmungen, so wenn die Vormundschaft durch eine geistliche Person („Religionsdiener“) zu genehmigen war gemäß § 1784, eine Vorschrift, die erst 1922 durch das Jugendwohlfahrtsgesetz milder gefaßt wurde65 und so aber noch in Kraft ist im Jahre 2006. 4. Zwischenergebnis Die Ergebnisse dieser Durchsicht lassen sich mit Wolters auf drei bis vier wesentliche Aspekte bringen66: (1) Im Vordergrund steht das Ehe- und Familienrecht. Das zeigt auch die besondere Quantität der literarischen Stellungnahmen.67 Dabei geht es um Fragen wie die Zwangszivilehe, die Nichtscheidung, die Glaubenswahl der Kinder, die Wiederverheiratung bei Todeserklärung, die Eheanfechtungsgründe, die Verlöbnistragweite und Ähnliches. (2) Ein zweiter Bereich ist das bisher nicht berührte Vereinsrecht. Hier geht es um den Status des religiösen Eigenlebens im Staate. Verboten war bekanntlich der Jesuitenorden, verboten gewesen war so Vieles an institutionellem Zusammenhalt durch die Kulturkampfgesetze. Hier herrscht eine besondere Empfindlichkeit bezüglich Orden, Klöstern und Vereinen. In diesem Sinne gehörten die heftigen Debatten um das Vereinsrecht ebenfalls zu einem stark christlich-relevanten Bereich. Hier kam es vor allem darauf an, die Regulierung durch den Staat in Grenzen zu halten, wenn es schon nicht gelang, sie ganz abzuschütteln. § 61 des BGB alter Fassung68, der die wichtige Errungenschaft des Status als juristische Person für alle politischen, sozialpolitischen und religiösen Vereine massiv beschränkte durch die Möglichkeit eines Einspruchs der Verwaltungsbehörde gegen die konstituierende Eintragung, war ein heftig befehdeter und umstrittener Paragraph. Er richtete sich nicht nur gegen die Ge64 Vergl. sehr knapp und prägnant dazu F. Endemann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. 1, 8. Aufl. 1903, 111; näher und aus der Zeit K. A. Geiger, Die Stellung der Klöster und Ordenspersonen im bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, in: Archiv für kath. Kirchenrecht 80 (1900), 493–522, hier 509 ff. 65 Durch einen zweiten Absatz: „Diese Erlaubnis darf nur versagt werden, wenn ein wichtiger dienstlicher Grund vorliegt.“; vgl. zu den Orden Geiger (Fn. 64). 66 Wolters (Fn. 5), 58 f. 67 Siehe dazu die Liste im Anhang, hier S. 283 ff. 68 § 61 a. F. lautet: (1) Wird die Anmeldung zugelassen, so hat das Amtsgericht sie der zuständigen Verwaltungsbehörde mitzutheilen. (2) Die Verwaltungsbehörde kann gegen die Eintragung Einspruch erheben, wenn der Verein nach dem öffentlichen Vereinsrecht unerlaubt ist oder verboten werden kann oder wenn er einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck verfolgt.

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werkschaften, sondern auch gegen das eigenständige religiöse Leben. Der katholische Kommentator Lehmkuhl geht sogar so weit, der Bestimmung ihre Rechtlichkeit zu bestreiten: „Das religiöse Recht kann, wie schon gesagt, diese Bestimmung betreffs der katholischen Kirche nicht anerkennen und muß unter Umständen es als Gewissenspflicht betonen, die Folgerungen dieses Paragraphen zu vernachlässigen. A zum Beispiel schuldet einem kirchlichen Verein 1000 Mark. Die staatliche Behörde hebt aus Kulturkampfgelüsten den Verein auf; A bleibt trotzdem im Gewissen gehalten dem Vereine oder nach dessen Anweisung die 1000 Mark zu zahlen“.69 Obgleich Lehmkuhl den Widerstand in den Gewissensbereich verweist, betont er ihn und macht damit die Empfindlichkeit in diesem Punkt deutlich. Die nähere Darstellung dieser Auseinandersetzung bei Wolters soll hier nicht eingeführt werden, sie belehrt aber darüber, in wie hohem Maße eine Erleichterung der freien Vereinsbildung auch zu den christlichen Forderungen und Prägungen gehörte.70 Das erstaunt nicht, da das christliche Vereinswesen schon seit 1848 sehr lebendig und wesentlich geworden war.71 Der Streit darum zog sich bis in die letzten Reichstagssitzungen am 8. Juni 1896 und der Kompromiß dazu gehört neben dem zum Eherecht zu den entscheidenden Bedingungen der Verabschiedung des BGB.72 Beim Vereinsrecht gab man etwas nach, im Eherecht sah man wichtige Fortschritte. Besonders in der Betonung des erwähnten Trennungsgrundsatzes in den §§ 1588, 1318 und der Überschrift vor § 1297.73 (3) Ein weiteres Element war das des sozialen Schutzes. Schutz war hier gemeint im Sinne von Fürsorge, weniger im Sinne emanzipierender Hilfe.74 In diesem Sinne hatte man den Wucherparagraphen § 138 Absatz 2, das Schikaneverbot § 226, die Fürsorge im Arbeitsverhältnis §§ 617 ff., die deliktische Billigkeitshaftung in § 829 und anderes mehr engagiert vertreten. (4) Ein weiterer, bisher meist weniger berührter Aspekt betrifft die allgemeine Sorge, Geschädigte besser zu stellen. Das gilt dem verbesserten Schadensersatz wegen Anfechtung nach § 118, dem Prinzip der Naturalrestitution nach § 249, der Haftung aus § 825, den Folgen des Verlöbnisses, der Haftung aus § 833 und der aus § 839 für Amtshaftung. Überall setzte das Zentrum strengere, also den Geschädigten günstigere, Haftungen durch.75 5. Materiell-Christliches Damit ist die vierte angekündigte Ebene erreicht. Sie tritt nicht so evident im Text des BGB hervor. Gemeint sind materiell-christliche Prägungen in Bestimmungen, denen man diese Prägung nicht mehr unmittelbar ansieht. Ausgehen möchte ich von einer 69 Lehmkuhl (Fn. 45), zu § 61. 70 Vgl. Wolters (Fn. 5), 132 f., 159–177, 383 ff. 71 Stichwort „Piusvereine“, s. schon Ziegler (Fn. 57), 443; Wehler (Fn. 24), 392; Nipperdey (Fn. 24), I 1990, 439 f.; aus der Zeit sehr informativ Geiger 1900 (Fn. 64). 72 Siehe Wolters (Fn. 5), 383 ff., 423 f. 73 Siehe oben nach Fn. 52. 74 Siehe J. Rückert, „Frei und sozial“ als Rechtsprinzip, 2006, 46 f., zu dieser generell wesentlichen Unterscheidung. 75 Genauer dazu Wolters (Fn. 5), 404 ff.

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zusammenfassenden Formulierung des Staats- und Kirchenrechtlers Paul Schön von 1901: „Das staatliche Eherecht steht formell nirgends mehr im Zusammenhang mit der Kirche. Sie [die Reichsgesetzgebung] hat sich dabei aber materiell durchaus auf christlichem Boden gehalten; das Eherecht unseres Reiches trägt durchaus den Stempel einer christlichen Ordnung“.76 Schön benennt damit sehr präzise einen bedeutenden Gesichtspunkt. Die Äußerung von Schön läßt sich verallgemeinern über das Eherecht hinaus. In vielen Bestimmungen des BGB handelt es sich nämlich um säkularisierte Lösungen christlicher Herkunft. Sie sind also in der Sache christlich, wenn sie auch formell nicht mehr bedingt sind durch Christentum, sondern durch einen insoweit christlichen Staat und seine Gesetzgebung. Freilich sind durchdachte Zeugnisse über das Verhältnis von Religion und Recht äußerst selten. Man muß zurückgreifen bis zu dem großen Theoretiker Savigny, der 1840 dazu eine sehr prägnante Grundsatzäußerung niedergeschrieben hatte. In seinem „System des heutigen Römischen Rechts“ im ersten Band schreibt er in § 15 über „Die Rechtsquellen in ihrem Zusammenhang. Natur und Herkunft ihres Inhalts.“ Er bekräftigt dort, daß er nur von positivem Recht rede, wie er es in § 7 definiert hatte. „Positives Recht“ nenne man das „Allgemeine Recht“ in Beziehung auf seine Beschaffenheit, „nach welcher es in jedem gegebenem Zustand, in welchem es gesucht werden kann, als ein gegebenes schon wirkliches Daseyn hat.“ (S. 14)77 Es handelt sich also um immer schon Wirkliches, aber auch gegebenes Recht, d.h. nicht einfach gesetztes. In § 15 erläutert er nun den Zusammenhang des Positiven dahin, daß ihm in Gesetz und Wissenschaft zwei Organe gegeben seien, deren jedes zugleich sein eigenes Leben für sich führe (S. 50). Den Inhalt des positiven Volksrechts erläutert er dann näher, und dabei kommt es nun auch auf das Christentum an. Im Volksrecht finde man nämlich ein „zwiefaches Element: ein individuelles, jedem Volk besonders angehörendes, und ein allgemeines, gegründet auf das Gemeinsame der menschlichen Natur.“ Und er fährt fort, „Beide finden ihre wissenschaftliche Anerkennung und Befriedigung in der Rechtsgeschichte und in der Rechtsphilosophie“ (S. 52). Savigny hält also ein individuelles und ein allgemeines, also zwei Rechtselemente fest, und will damit zwei einseitige Behandlungen des Rechts vermeiden; gemeint ist sowohl eine Behandlung, die „den Inhalt des Rechts als einen zufälligen und gleichgültigen auffaßt, und sich mit der Wahrnehmung der Tatsachen als solcher begnügt“, wie auch die Behandlung „als ein über allem positiven Recht schwebendes Normalrecht, welches eigentlich alle Völker wohl tun würden, sogleich anstatt ihres positiven Rechts aufzunehmen“ (S. 52). Dieses individuelle und allgemeine Element vereinigt er nun dadurch, daß er eine allgemeine Aufgabe annimmt, „welche auf ihre besondere Weise zu lösen, die geschichtliche Aufgabe der einzelnen Völker ist.“ (S. 53). In die allgemeine Aufgabe aber fügt er entscheidend das Christentum ein, und zwar wie folgt: „Jene allgemeine Aufgabe alles Rechts nun läßt sich einfach auf die sittliche Bestimmung der menschlichen Natur zurück führen, so wie sich dieselbe in der christlichen Lebensansicht darstellt; denn das Christentum ist nicht nur von uns als Regel des Lebens anzuerkennen, sondern es hat auch in der That die Welt umgewandelt, so daß alle unsre Gedanken, so fremd, ja feindlich sie ja demselben scheinen mögen, dennoch von ihm beherrscht und durchdrungen sind. Durch diese Anerkennung eines allgemeinen Zieles wird keineswegs das Recht in ein weiteres Gebiet aufgelöst 76 77

P. Schön, Beziehungen zwischen Staat und Kirche auf dem Gebiet des Eherechts, in: Festgabe der Göttinger Juristenfakultät für F. Regelsberger …, 1901, 183–225, hier 225. Die Seitenzahlen aus Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, i.f. so im Text.

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Joachim Rückert und seines selbständigen Daseyns beraubt: es erscheint vielmehr als ein ganz eigenthümliches Element in der Reihe der Bedingungen jener allgemeinen Aufgabe, in seinem Gebiet herrscht es unumschränkt, und es erhält nur seine höhere Wahrheit durch jene Verknüpfung mit dem Ganzen.“ (S. 53f.)

Savigny nimmt also eine „sittliche Bestimmung der menschlichen Natur“ an, zu der das Recht ebenfalls eine Aufgabe erfüllt. Diese sittliche Bestimmung führt er konkret zurück auf die „christliche Lebensansicht“. Deren Relevanz wird nicht philosophisch oder spekulativ oder religiös begründet, sondern historisch: Das Christentum habe eben die Welt „umgewandelt“ und beherrsche „alle unsere Gedanken“. Insofern gehöre es als konkrete „Regel des Lebens“ zur sittlichen Bestimmung der menschlichen Natur, der das Recht zu dienen habe. Savigny bekräftigt das von Seiten des Rechtsbegriffs in § 52, wo es heißt: „Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht, indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem einzelnen Willen inwohnenden, Kraft, sichert.“ (S. 332). Er fügt hinzu „Das Bedürfnis und das Daseyn des Rechts ist eine Folge der Unvollkommenheit unsres Zustandes, aber nicht einer zufälligen, historischen Unvollkommenheit, sondern einer solchen, die mit der gegenwärtigen Stufe unseres Daseyns unzertrennlich verbunden ist.“ (S. 332). Das Recht dient also der Sittlichkeit mittelbar, indem es die freie Entfaltung der einzelnen Willen in diese Richtung sichert. Aber seine Aufgabe ist historisch bestimmt, und zwar unvermeidlich, durch die Geschichte gewordene Anerkennung des Christentums als Regel des Lebens. Auf diese Weise hat Savigny die „christliche Lebensansicht“, wohlgemerkt nicht einfach die christliche Religion, mit der Aufgabe des positiven Rechts um 1840 fest verknüpft. Es ergeben sich daraus noch keine unmittelbaren Folgerungen, aber ein Blick in seine juristischen Grundbegriffe konkretisiert den Zusammenhang. Wenn es im Band 2 des Systems um die Personen als Träger der Rechtsverhältnisse geht, heißt es gleich zu Beginn zum Thema natürliche Rechtsfähigkeit: „Alles Recht ist vorhanden um der sittlichen, jedem einzelnen Menschen inwohnenden Freyheit willen … Darum muß der ursprüngliche Begriff der Person oder des Rechtssubjekts zusammen fallen mit dem Begriff des Menschen, und diese ursprüngliche Identität beider Begriffe läßt sich in folgender Formel ausdrücken: Jeder einzelne Mensch, und nur der einzelne Mensch ist rechtsfähig.“ (S. 2). Dem Zusammenhang von Recht, Sittlichkeit und Freiheit entspricht also nur eine allgemeine Rechtsfähigkeit – an dieser Stelle wird zwar das Christentum nicht eigens neu erwähnt, aber wie gezeigt war zuvor schon klargestellt worden, daß hier Savigny die „allgemeine“ christliche Aufgabe des Rechts, zu der für ihn auch der Begriff der Rechtsfähigkeit gehörte, nur konkret ausführte. Das wird auch deutlich an seinen kritischen Ausführungen zur Sklaverei im Abschnitt zum Familienrecht bei den Römern in Band 1. Dort heißt es, in Beziehung auf die Sklaverei sei „sehr merkwürdig die Entwicklung der Rechtsansicht, welche infolge des Christentums eingetreten ist. Kein Philosoph des Altertums hielt das Daseyn eines Staates ohne Sklaven für möglich. In allen christlich-europäischen Staaten dagegen gilt die Sklaverey für unmöglich; und in den christlichen Staaten außer Europa gehört der Kampf um die Fortdauer oder Vernichtung derselben unter die wichtigsten Aufgaben, welche dem künftigen Zeitalter vorbehalten sind.“ (S. 364). Offenbar blickt er dabei nach Südamerika und Nordamerika und hält die christliche Aufgabe auch des Rechts dort für unerfüllt.

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Relevant ist die sittliche Aufgabe für ihn bekanntlich auch im Familienrecht. Dieses besteht für ihn aus drei Elementen, einem natürlichen, einem sittlichen und einem positiv-rechtlichen (I 345 f.). Das natürliche Element ist die natürliche Verwandtschaft, das positiv-rechtliche die dabei entspringenden, jedoch begrenzten juristischen Pflichten, und das sittliche zeigt sich in der daneben bestehenden sittlichen Pflichten und Gesetzen, die ihm „zur Teilnahme an dem höheren Element des menschlichen Wesens“ wesentlich sind (I 347). Das „höhere Element“ reflektiert wieder die „allgemeine“, auch christliche Aufgabe. Das Vermögensrecht dagegen bezieht solche natürlichen und sittlichen Aspekte nicht ein und ist deswegen rein rechtlich regelbar (I 370 f.). Savigny verknüpft also die in Europa historisch gegebene „christliche Lebensansicht“ und „Regel des Lebens“ dezidiert mit dem positiven Recht, wenn auch in schwebend vermittelnder Weise als allgemeines und besonderes Element. Es handelt sich um eine für ihn typische Art logischer Verknüpfung, die zu den damals verbreiteten Denkfiguren des objektiven Idealismus gehört.78 Hier kommt es darauf an, daß er ein Modell der Verknüpfung von positivem Recht und christlicher Lebensansicht bietet, das die Einbeziehung des Christlichen zwar unvermeidlich macht und es auch dem positiven Recht hierarchisch überordnet, aber nicht auf einfach rechtsbrechende, streng hierarchische Weise, sondern auf eine elastische, prinzipielle, aus der Bindung des Konkreten an etwas Allgemeines. Aus einer allgemeinen Zielbestimmung heraus („Aufgabe“) wird auch das Konkretere („Positive“) gesteuert. Das genügte hier und führte durchaus zu den erwähnten Folgerungen für juristische Grundbegriffe. Indem Savigny christliche Lebensansicht, Rechtsbegriff und juristische Grundbegriffe auf diese Art und Weise elastisch, aber doch zielgerichtet, einig im höheren Ziel, verknüpft, formulierte er eine Konzeption für das, was hier materielle Christlichkeit des BGB genannt wird. Dazu gehören etwa die Selbstverständlichkeit der christlichen Einehe und der Ehe als grundsätzliche Dauerehe. Ebenso zählt dazu der prinzipielle Freiraum, der für die christliche Religion durch Recht zu wahren ist, damit sich die sittlich-christlichen Persönlichkeiten frei entfalten können. Darin steckt schließlich ein autonom-individualistischer Ansatz für die Konstruktion von Recht und Rechten. Der Wille wird wesentlich als ernsthafter und ungetäuschter, auch für die Haftung. Juristische Privatautonomie erscheint als Prinzip. Auch dies hat viel mit Christentum zu tun. Dieser Ansatz ist an einigen Beispielen aus dem BGB zu zeigen. Zu den kritischen Beispielen gehört das Eherecht. Im Eheschließungsrecht wahrt das BGB trotz obligatorischer Zivilehe diesen individuellen Ansatz, da die Eheleute selbst konstitutiv die Ehe begründen, d.h. „vor einem Standesbeamten persönlich und bei gleichzeitiger Anwesenheit erklären, die Ehe miteinander eingehen zu wollen“ (§ 1317 Absatz 1 BGB 1900). Anders sieht es bei der Eheauflösung aus. Nach christlicher Ansicht, insbesondere katholischer, ist die Ehe auf Lebensdauer geschlossen. Nach Zivilrecht werden jedoch Ehenichtigkeiten, Anfechtbarkeiten und Scheidungen zugelassen, die unter Umständen zur Auflösung von an sich beständigen Ehen führen. Dennoch ergibt sich daraus keine wirklich wesentliche materielle Abweichung. Denn auch für die staatliche Ehe gilt danach die Dauer als „Lebensgemeinschaft“ (§ 1353 Absatz 1 BGB 1900) bzw. nach wie vor als „auf Lebenszeit geschlossen“ (§ 1353

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Siehe J. Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 1984, 240 f.

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Absatz 1 S. 1 BGB 1976) als Grundsatz und die Lösung der Ehe als stark begrenzte Ausnahme. Weniger klar scheint es zu liegen für die Vereinbarungen zwischen Ehegatten und die persönlichen Ehewirkungen nach §§ 1353 ff. wie die Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft, das Verhältnis der Eheleute, die Stellung der Frau in der Ehe und den gegenseitigen Unterhalt. Üblicherweise wird davon ausgegangen, das BGB habe in seiner ursprünglichen Fassung die Ehe als eine vom Willen der Ehegatten unabhängige, zwingende sittliche Ordnung gesehen.79 Man beruft sich dabei auf einen Satz der Motive des Redaktors Planck: „Der christlichen Gesamtanschauung des deutschen Volkes entsprechend geht der Entwurf davon aus, daß im Eherechte, auch so viel es die Auflösung der Ehe vor dem Tode eines der Gatten betrifft, nicht das Prinzip der individuellen Freiheit herrschen darf, sondern die Ehe als eine vom Willen der Gatten unabhängige sittliche und rechtliche Ordnung anzusehen ist.“.80 Der Satz stammt aus der Begründung des Vorentwurfes durch Gottlieb Planck selbst.81 Sybille Hofer hat nun gegen die Literatur den wichtigen Hinweis gegeben, daß Planck hier in einem bestimmten Zusammenhang spricht. Es geht ihm nur um die Zulässigkeit von Eheauflösung, und er meint mit „nicht“ das römische Recht, nach dem ein Partner alleine die Eheauflösung betreiben konnte. Diese Ansicht kennzeichnete er mit dem Stichwort „Prinzip der individuellen Freiheit“ und ihr stellte er die christliche Auffassung von den unabhängigen sittlichen und rechtlichen Pflichten der Ehegatten gegenüber. Der Satz ist nicht als allgemeingültig für das BGB-Ehebild gemeint, wie ein Blick auf die gesetzgeberischen Vorstellungen über die Ehewirkungen bestätigt. Man ging auch hier vom Grundsatz der Vertragsfreiheit aus. Dies zeigten immer schon unstreitig die Regelung über den Güterstand nach § 1408 (= § 1432 BGB 1900), die auf den Grundsatz der Vertragsfreiheit gestützt wurde.82 Auch für die persönlichen Ehewirkungen hatte Plancks Teilentwurf einen § 133 vorgesehen, der lautete: „Die Ehegatten können die durch das Gesetz bestimmten Wirkungen der Ehe auf ihr Verhältnis zueinander durch Ehevertrag insoweit ausschließen, ändern oder näher bestimmen, als dies mit dem Wesen der Ehe vereinbar ist.“83 Die Erste Kommission hat daran nichts geändert. Das „Wesen der Ehe“ als Grenze enthielt für Planck die nötige Begrenzung dieser grundsätzlichen Vertragsfreiheit.84 So konnten etwa vertraglich nicht modifiziert werden die Wohnsitzpflicht der Frau oder die Verpflichtung zum Hauswesen, wohl dagegen die Regelungen über Rechtsgeschäfte und Vertretung der Ehegatten und gegenseitige Unterhaltspflicht. Darin liegen ohne Zweifel erhebliche Einschrän79

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Das folgende nach S. Hofer, Privatautonomie als Prinzip für Vereinbarungen zwischen Ehegatten, in: S. Hofer/D. Schwab/D. Henrich (Hrsg.), From Status to Contract? – Die Bedeutung des Vertrages im europäischen Familienrecht. Beiträge zum europäischen Familienrecht, Band 9, 2005, 1–16. Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Bd. 4, 1888, S. 562; Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, hg. v. B. Mugdan, Bd. 4, 1899, 301. Entwurf eines Familienrechts für das deutsche Reich, Berlin 1880, in: W. Schubert (Hrsg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches, Band 4/2, 1983, 41; s. Hofer (Fn. 79), 4. Motive IV (Fn. 80), 305, Mugdan IV (Fn. 80), 67, Protokolle der [2.] Kommission für die zweite Lesung des Entwurfes eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Bd. 4, 1897, 5307 (= Mugdan IV 796), Planck, Vorentwurf (Fn. 81), 449. Vorentwurf Planck, 33; bei Hofer (Fn. 79), 5. Dazu Hofer (Fn. 79), 6 f.

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kungen, aber dennoch ging man dabei von der Vertragsfreiheit als Grundsatz aus. Dadurch sollten nicht zuletzt die Bürger die Möglichkeit gewinnen, die gewohnten Regelungen soweit wie möglich durch Vereinbarungen weiterzuverwenden, soweit sie vom neuen BGB abwichen. Zudem war damit das Eherecht in die prinzipielle Konzeption des BGB eingebunden. In der Tat läßt sich zeigen, daß das tragende Prinzip der Kodifikation das Prinzip gleicher individueller Freiheit sein sollte.85 Auch in den weiteren Kommissionsarbeiten blieb dieser Standpunkt erhalten.86 Es handelt sich also im Grundsatz um ein individuelles Eherecht mit einigen Beschränkungen, wie es auch nach christlicher Ansicht gestaltet war. Die stabilisierenden Elemente zugunsten von Ehe, die das BGB festhielt, die sozialgeschichtlich einleuchtend erklärt werden als Sicherung gegen staatsauflösende, individuelle Mobilisierung87, verdanken dies also keineswegs einfach nur diesen sozialgeschichtlichen Fakten, sondern auch dem überlieferten und anerkannten christlichen Element. Für die allgemeine Rechtsfähigkeit des § 1 BGB sprechen die Motive sogar aus, daß man damit ein Gebot der Vernunft und der Ethik erfülle und eine „von dem Rechtsbewußtsein der Gegenwart geforderte und als selbstverständlich betrachtete Anerkennung“ ausspreche.88 Das Rechtsbewußtsein der Gegenwart um 1890 war aber christlich geprägt und deswegen handelt es sich um ein wesentlich materiellchristliches Element im BGB. Auch die allgemeine Anerkennung der Autonomie der Person im Privatrecht wurde in den Materialien ausgesprochen und gehört zu den tragenden Prinzipien des BGB.89 Gewiß kommt es zu Einschränkungen. Aber nie zu vergessen ist die prinzipielle Anlage des BGB nach Prinzipien und deren Positivierungen, wie sie sich aus zahlreichen Beweisstücken gesetzestechnischer und gesetzesinhaltlicher Art ergibt.90 Mit der Behauptung solcher Autonomie für jeden Menschen, also ohne Rücksicht auf seinen Geburtsstand, sonstigen Stand oder gar Rasse und dergleichen, war das BGB auch im christlichen Sinne hinausgegangen über die bloß personalen Freiheiten des römischen Rechts, die dort immer beschränkt gewesen waren auf den Hausherrn mit seiner patria potestas. Es ist irreführend, diese wesentliche Differenz zwischen dem Erbe des römischen Rechts und dem Erbe des Christentums zu verwischen.91 Vielleicht meint man damit immer schon christianisiertes römisches Recht, aber dann ist eben gerade das christliche Element hinzugekommen. Über diese grundlegenden materiell-christlichen Entscheidungen und Normen des BGB hinaus nimmt etwa der Zentrumsführer Peter Spahn in seinem Artikel „Zivilgesetzgebung“ im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft von 1909 auch das gesetzliche Erbrecht als christlich in Anspruch, indem er meint, es entspreche dem

85 HKK/Rückert (Fn. 2), vor § 1, Rn. 31 ff.; auch ders., Das Bürgerliche Gesetzbuch – ein Gesetzbuch ohne Chance?, JZ 2003, 749, hier 754 ff. 86 Hofer (Fn. 79), 8 f. 87 Siehe H. Dörner, Industrialisierung und Familienrecht, 1974, 118. 88 Motive (Fn. 80), 125, näher dazu HKK/Rückert (Fn. 2), vor § 1, Rn. 39. 89 HKK/Rückert (Fn. 2), vor § 1, Rn. 44 bei Fn. 117. 90 Dazu jetzt HKK/Rückert (Fn. 2), vor § 1, Rn. 16 ff., 39 ff. 91 R. Zimmermann, The Law of Obligations, Roman Foundations of the Civilian Tradition, Cape Town 1990 (Oxford 1996), und dazu meine Rezension: Privatrechtsgeschichte und Traditionsbildung, in: Rechtshistorisches Journal 11 (1992), 122–144, hier 140 ff.

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Grundsatz „Gott setzt den rechten Erben“.92 Auch Otto von Gierke argumentiert in seiner BGB-Kritik von 1889 in diese Richtung und will im gesetzlichen Erbrecht die Gemeinschaft gestärkt sehen.93 Hier darf man skeptisch sein, ob es sich um ein materiell-christliches Element handelt. Wichtiger erscheint demgegenüber der gelungene Versuch, das Erbrecht des Fiskus stark zu beschränken.94 Zu den materiell-christlichen Elementen gehören auch eine Reihe von um 1900 teils schon selbstverständlichen, teils neu durchgesetzten Rechtssätzen des Privatrechts, die das christlich-kanonische Recht längst ausgebildet hatte.95 Der dem BGB selbstverständliche Grundsatz pacta sunt servanda, also: Verträge sind zu halten, ging als allgemeines Prinzip weit über das römische Recht hinaus, also über die Bindung an verschiedene Vertragstypen bzw. die förmliche Stipulation. Er erscheint im nachgratianischen Kirchenrecht bei Huguccio, 1188 bei Bernhard von Pavia, als Rechtsprinzip bei Johannes Teutonicus mit eigener actio, also Klagemöglichkeit, dazu und seit 1500 allgemein in vielen Quellen. Landau zählt ihn zum Weltrechtskulturerbe kanonistischer Herkunft.96 Auch der Mut zum Gedanken einer überzeitlichen Rechtspersönlichkeit, also der juristischen Person, wurde im Kirchenrecht gefaßt, während im staatlichen positiven Recht bis zum BGB stets das Mißtrauen mit Konzessionssystemen und ähnlichen Beschränkungen überwog. Es war eine Leistung der mittelalterlichen Kanonistik, eine Lehre von der persona ficta zu entwickeln, in der die verschiedenen universitates, collegia usw. zu einem Personenverband zusammengedacht wurden. Im 19. Jahrhundert wird dann der Gedanke der persona ficta von der allgemeinen Rechtsfähigkeit der natürlichen Menschen her übertragen auf die Möglichkeit einer künstlichen Rechtsfähigkeit für alle Rechtsgüter.97 Auch diese verallgemeinernden Impulse vom Rechtsbegriff der Person her oder des Menschen her hatte das römische Recht noch nicht angeboten. Kanonistisch war auch der Gedanke der Versprechensnichtigkeit bei Sittenverstoß, sei es bei Bedingungen, sei es generell98, und ebenso der Gedanke der vollen Naturalrestitution99, ebenso auch der Gedanke der Stellvertretung100 und der Amts-

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Spahn, in Staatslexikon, 3. u. 4. Aufl. 1912, 1275–1297, hier 1295. O. Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, Leipzig, 1889, 29. Wolters (Fn. 5), 410. Dafür insbesondere P. Landau, Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien, in: H. Scholler (Hrsg.), Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien, 1986, 23–47, und ders., pacta sunt servanda – zu den kanonistischen Grundlagen der Privatautonomie, in: Festschrift für K. W. Nörr, 2003, 457–474, sowie ders., Der Einfluß des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur in: R. Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, 1991, 39–47. Landau 2003 (Fn. 95), 474. Siehe die Hinweise bei H. Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 1, 1985, 261 f., Bd. 2, 1989, 336 ff.; umfassender und genauester Überblick bei I. Birocchi, Persona giuridica nel diritto medievale e moderno in: Digesto, 4. Aufl., Bd. 13, 1996, 407–420. Landau 1986 (Fn. 95), 39. Landau 1986 (Fn. 95), 38; vgl. oben bei Fn. 75. Landau 1986 (Fn. 95), 40.

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haftung101. Ohne Zweifel gibt es in einigen dieser Doktrinen Weiterführungen und Präzisierungen durch Natur- und Vernunftrecht. Aber der Kern war doch christlich und blieb christlich geprägt. IV. ERGEBNIS Der Auftakt war herb – kulturkämpferisch, die Lösungen daher eher pragmatisch, ja fast verdeckt (dazu oben III.). Aber in Wahrheit findet sich viel Imprägnierung. Direktes ohnehin (oben IV. 1), wichtiges Indirektes aber ebenso (IV. 2). Einige seltene antichristliche Elemente bestätigen die Hauptlinie (IV. 3). Auf einer materiell-christlichen Ebene wird man erneut in Grundlegendem fündig, konzeptionell zurück bis zu Savigny und zur Kanonistik (IV. 5). Das christliche Element begründete die kulturelle Identität unseres Zivilrechts mit einer Intensität und Selbstverständlichkeit, die unserem Verständnis nahezu entfallen ist. Im Kontrast zu sozialistischen, völkischrassistischen oder anders religiösen Zivilrechten102 wird diese Selbstverständlichkeit freilich auch heute sofort deutlich. ANHANG Chronologische Liste einschlägiger Quellen und Literatur seit 1886* 1. Quellen zur Titelerschließung (mit den Siglen) Bibliographie zur Juristischen Zeitgeschichte, Gesamtausdruck, Stand 07.09.98 = Bib Bibliographie zur Juristischen Zeitgeschichte: Pickliste Familienrecht, Stand 25.02.2006 = PicFam Juris online = Juris Maas, Georg, Bibliographie des bürgerlichen Rechts, in: Archiv für Bürgerliches Recht, Bd. 16 (1899) S. 1–388 = Maas 1898. Maas, Georg, Bibliographie des bürgerlichen Rechts, in: Archiv für Bürgerliches Recht, Bd. 19 (1901) S. 345–426 = Maas 1900. Maas, Georg, Bibliographie des bürgerlichen Rechts, in: Archiv für Bürgerliches Recht, Bd. 20 (1902) S. 315–393 = Maas 1901. Maas, Georg, Bibliographie des bürgerlichen Rechts, in: Archiv für Bürgerliches Recht, Bd. 22 (1903) S. 199–280 = Maas 1902. Maas, Georg, Bibliographie des bürgerlichen Rechts, in: Archiv für Bürgerliches Recht, Bd. 24 (1904) S. 87–178 = Maas 1903. * Ich danke sehr Beate Ritzke für die Hilfe bei dieser Zusammenstellung. 101 Landau 1986 (Fn. 95), 42. 102 Dazu einiges weitausgreifend bei W. Simons, Religion und Recht, 1936 [Vorträge des ehem. Präsidenten des RG in Schweden 1935], etwa 68 ff. zu Russland und Fascismo; übergreifend wichtig auch D. Schwab, Wertewandel im Familienrecht (= Jur. Studiengesellschaft Hannover, Schriftenr. Heft 22) 1993.

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Maas, Georg, Bibliographie des bürgerlichen Rechts, in: Archiv für Bürgerliches Recht, Bd. 26 (1905) S. 222–314 = Maas 1904. Maas, Georg, Bibliographie des Bürgerlichen Rechts, Nachtrag, in: Archiv für Bürgerliches Recht, Bd. 18 (1900) S. 193–258 = Maas 1899. Wolters, Michael, Die Zentrumspartei und die Entstehung des BGB. Univ.-Diss. Frankfurt am Main, Baden-Baden 2001, 452 S. = Wolters. Damnitz, Martin, Bürgerliches Recht zwischen Staat und Kirche. Mitwirkung der Zentrumspartei am Bürgerlichen Gesetzbuch. Quellen aus der Presse und dem Umfeld des Zentrums, 2001 = Damnitz. 2. Literatur 1886 Majunke, Paul, Geschichte des „Culturkampfes“ in Preußen-Deutschland, Paderborn 1886. (Wolters) 1888 Neumann, Hugo, Literatur zum Entwurfe eines BGB für das dt. Reich, in: Gruchots Beiträge, 32.–35. Jg. (1888–1891). (Maas 1898) 1888 Berolzheimer, Sigmund, Buch IV. Familienrecht. Abschn. 1. Ehe, in: Gutachten aus dem Anwaltsstande über die erste Lesung eines BGB. Herausgegeben im Auftrage des Deutschen Anwalt-Vereins von Adams, Wilke …, Berlin 1888–1890, VII und 1550 S. (Maas 1898) 1888 Fuld, Ludwig, Die elterliche Gewalt und das BGB, in: Gutachten aus dem Anwaltsstande über die erste Lesung eines BGB. Herausgegeben im Auftrage des Deutschen Anwalt-Vereins von Adams, Wilke …, Berlin 1888–1890, VII und 1550 S. (Maas 1898) 1888 Linkelmann II, Carl, Die Unterhaltungspflicht des unehelichen Vaters, in: Gutachten aus dem Anwaltsstande über die erste Lesung eines BGB. Herausgegeben im Auftrage des Deutschen Anwalt-Vereins von Adams, Wilke …, Berlin 1888–1890, VII und 1550 S. (Maas 1898) 1888 Register zu den Gutachten, in: Gutachten aus dem Anwaltsstande über die erste Lesung eines BGB. Herausgegeben im Auftrage des Deutschen Anwalt-Vereins von Adams, Wilke …, Berlin 1888–1890, VII und 1550 S. (Maas 1898) 1888 Alexander-Katz, Paul, Erläuternde Anmerkungen zu den Vorschriften des Entwurfs eines BGB f. d. dt. Reich. Bearbeitet und mit einer Einleitung versehen, Band 2: Familienrecht, Berlin 1888, VI und 195 S. (Maas 1898) 1888 Ehe, Ehescheidung und Zölibat, Leipzig 1888, 39 S. (Maas 1898) 1888 Geigel, Ferdinand, Der Entwurf eines BGB für das Deutsche Reich, in: Archiv für Kath. Kirchenrecht, Bd. 60, 1888, S. 126–128. (Maas 1898) 1888 Guttmann, Max, Der Entwurf eines deutschen BGB. Bericht, erstattet im Auftrage des Vorstandes des Deutschen Anwaltvereins. Eintheilung und Hauptgrundsätze, in: Jur. Wochenschrift, Jg. 17 (1888), S. 89–91. (Maas 1898) 1888 Hammerstein, Ludwig, Das Eherecht im „Entwurf eines BGB f. d. Dt. Reich“, in: Stimmen aus Maria Laach, Bd. 34 (1888), S. 493–505. (Maas 1898)

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1888 Jacobi, Leonard, Entstehung und Inhalt des Entwurfs eines BGB f. d. Dt. Reich. Einleitender Vortrag gehalten in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 12. Mai 1888, Berlin 1888, III und 52 S. (Maas 1898) 1888 Leinz, A., Die Ehevorschrift des Concils von Trient. Ausdehnung und heutige Geltung. Eine canonistische Studie, Freiburg i.B. 1888, XII und 180 S. (Maas 1898) 1889 Brünneck, Wilhelm von, Die Folgen der Verweigerung der versprochenen kirchlichen Trauung nach Eingehung der Zivilehe im Geltungsbereich des preußischen Allgemeinen Landrechts, in: Gruchots Beitr. 33. Jg. (1889), S. 769–802. (Maas 1898) 1889 Gerland, Otto, Zum BGB, in: Grenzboten, 48. Jg. (1889), S. 584–588. (Maas 1898) 1889 Guttmann, Max, Der Entwurf eines deutschen BGB. Bericht, erstattet im Auftrage des Vorstandes des Deutschen Anwaltvereins. Familienrecht, in: Jur. Wochenschrift, Jg. 18 (1889), S. 446–452; 492–499. (Maas 1898) Besprechung des Entwurfes eines BGB f. d. Dt. Reich in der Jahressitzung des Vereins der deutschen Irrenärzte. Referat von Richard von Krafft-Ebing über das Eherecht des Entwurfs, in: ZS. für Psychiatrie, Bd. 45 (1889), S. 548–549. (Maas 1898) 1889 Hinrichs, F., Über richterliche Kognitionen in Vormundschaftssachen, namentlich betreffs der religiösen Erziehung der Kinder, in: AcP, Bd. 75, 1889, S. 100–139 = Zum Entwurf eines dt. BGB, Bd. 3, S. 100–139. (Maas 1898) 1889 Jacobi, Leonard, Empfiehlt es sich, die Ehescheidungsgründe in der vom Entwurfe des BGB beabsichtigten Weise zu beschränken? Gutachten. – Referat und Debatte, in: Vhdl. d. 20. Dtsch. Jur.-Tages, 1889, Bd. 2: S. 110–234; Bd. 4: S. 339–410; 448–453. (Maas 1898) 1889 Klöppel, Paul, Das Familien- und Erbrecht des Entwurfs des BGB, in: Gruchots Beiträge, 33. Jg. (1889), S. 64–93; 338–363. (Maas 1898) 1889 Münsterberg, Emil, Familienrecht, in: Die Bestimmungen des Entwurfs eines BGB f. d. Dt. Reich in Bezug auf Armenpflege und Wohltätigkeit, Leipzig 1889, S. 57–74. (Maas 1898) 1889 Rathmann, W., Die Ehescheidung nach dem Entwurf eines BGB f. d. Dt. Reich, Heilbronn 1889, 48 S. (Maas 1898) 1889 Rathmann, W., Die Ehescheidung nach dem Entwurf eines BGB für das dt. Reich, in: Zeitfragen des christlichen Volkslebens, Heft 100, Bd. 14, Heilbronn 1889, 48 S. (Maas 1898) 1889 Scheurl, Adolf von, Noch einige Bemerkungen über das Eherecht im Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, in: AcP, Bd. 74 (1889) S. 387–398. (Wolters) 1889 Schultz, Ferdinand, Rede in der 3. geschlossenen Generalversammlung der Katholiken Deutschlands über den Entwurf einen BGB für das deutsche Reich im Allgemeinen und Bericht über die Stellung des Entwurfs … zum Christentum,

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in: Juristische Rundschau für das katholische Deutschland Bd. 3, 1889, S. 42–57. (Maas 1898) Ubbelohde, August, Kritische Beiträge zum Civilgesetzentwurf. I. Über die gesetzliche Unterhaltspflicht der Geschwister, in: AcP, Bd. 75 (1889) S. 36–43. (Maas 1898) Cless, O., Staat und Familie im Lichte des künftigen deutschen BGB. Gemeinverständlich dargestellt und vorgetragen in den kaufmännischen Vereinen zu Stuttgart und Reutlingen, Stuttgart 1890, 38 S. (Maas 1898) Pfizer, Gustav, Ehe, Staat und Kirche, in: Deutsche Zeit- und Streitfragen, N.F. Heft 72 = 5. Jg., S. 303–340; Hamburg 1890, 40 S. (Maas 1898) Porsch, Felix, Die Rechtsfähigkeit der Ordensleute nach preuss. Landrechte, bei feierlichen und bei einfachen Ordensgelübden, ein Rechtsfall unter system. Zusammenstellung aller über diese Frage ergangenen Entscheidungen, in: Archiv f. kath. Kirchenrecht, Bd. 63, 1890, S. 465–511. (Maas 1898) Porsch, Felix, Zur Kritik des Entwurfs eines BGB f. d. Dt. Reich. I. Vorbemerkung, in: I. Ergänzungsheft der Jur. Rundschau f. d. kath. Deutschland (1890), S. 1–7. (Maas 1898) Salis, Freiherr von, Die Todeserklärung in ihrer Wirkung auf die Ehe mit besonderem Bezug auf das kanonische Recht dargestellt. – Zusätzliche Bemerkungen von Felix Porsch, (Ergänzungsheft d. Jur. Rundschau f. d. kath. Deutschland (1890), S. 81–87; 88–90) Frankfurt am Main 1890. (Maas 1898) Schubert, Hans von, Die evangelische Trauung, ihre geschichtliche Entwicklung und gegenwärtige Bedeutung, Berlin 1890, XIV und 158 S. (Maas 1898) Schultz, Ferdinand, Referat über das IV. und V. Buch des Entwurfs eines BGB f. d. Dt. Reich, das Familien- und Erbrecht betreffend. A. Das Familienrecht, Münster 1890. (Maas 1898) Spahn, Peter, Das Eherecht. (Zur Kritik des Entwurfs eines BGB f. d. Dt. Reich. I.), Frankfurt am Main 1890, 61 S. (Maas 1898) Spahn, Peter, Zur Kritik des Entwurfs eines BGB f. d. Dt. Reich. II. Das Eherecht, in: I. Ergänzungsheft der Jur. Rundschau f. d. kath. Deutschland (1890), S. 8–61. (Maas 1898) Stolterfoth, Paul, Beiträge zur Beurteilung des Entwurfs eines BGB f. d. Dt. Reich. VII. Soziale und wirtschaftliche Forderungen, Leipzig 1890, S. 48–53. (Maas 1898) Stolterfoth, Paul, Beiträge zur Beurteilung des Entwurfs eines BGB f. d. Dt. Reich. X. Einzelne Fragen, Leipzig 1890, S. 66–90. (Maas 1898) Uhrig, von, Zur Kritik des Entwurfs eines BGB f. d. Dt. Reich. III. Das Ehehindernis des Ehebruchs, in: I. Ergänzungsheft der Jur. Rundschau f. d. kath. Deutschland (1890), S. 62–68. (Maas 1898) Uhrig, von, Zur Kritik des Entwurfs eines BGB f. d. Dt. Reich. IV. Ehescheidungsklagen,

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in: I. Ergänzungsheft der Jur. Rundschau f. d. kath. Deutschland (1890), S. 69–80. (Maas 1898) Verhandlungen des Königl. Landes-Ökonomie-Kollegiums über: Familienrecht, in: Landwirtschaftl. Jahrb., Bd. 18 Erg.-Bd. II (1890), S. 114–117; 232–234; 238; 337–349; 841–868. (Maas 1898) Zusammenstellung der gutachterlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines BGB gefertigt im Reichs-Justizamt. Als Manuskript gedruckt, Band 1: Äußerungen zum Allgemeinen Teil, Berlin 1890, IX und 259 S. (Maas 1898) Zusammenstellung der gutachterlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines BGB gefertigt im Reichs-Justizamt. Als Manuskript gedruckt, Band 2: Äußerungen zum Recht der Schuldverhältnisse, Berlin 1890, IX und 451 S. (Maas 1898) Zusammenstellung der gutachterlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines BGB gefertigt im Reichs-Justizamt. Als Manuskript gedruckt, Band 3: Äußerungen zum Sachenrecht, Berlin 1890, VIII und 423 S. (Maas 1898) Zusammenstellung der gutachterlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines BGB gefertigt im Reichs-Justizamt. Als Manuskript gedruckt, Band 4: Äußerungen zum Familienrecht, Berlin 1890, X und 510 S. (Maas 1898) Zusammenstellung der gutachterlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines BGB gefertigt im Reichs-Justizamt. Als Manuskript gedruckt, Band 5: Äußerungen zum Erbrecht, Berlin 1890, VI und 224 S. (Maas 1898) Bähr, Otto, Gegenentwurf zu dem Entwurf eines BGB f. d. Dt. Reich, Kassel 1891/92, XIV und 426 S. (Maas 1898) Ames, Howard, The Motives for, and a new System of Divorce founded on a comparative Study of the History and Development of Roman, Canonical, French and German Divorce Legislation. Inaug. Diss. Göttingen, 1891, 5 und XXVII S. (Maas 1899) Anonymus, Die Ehe nach dem Entwurf des BGB f. d. dt. Volk. Bearbeitet für einen Vortrag, in: II. Ergänzungsheft der Jur. Rundschau f. d. kath. Deutschland (1891), S. 111–116. (Maas 1898) Die Ehe nach dem Entwurf des BGB f. d. dt. Volk. Bearbeitet für einen Vortrag, (Ergänzungsheft der Jur. Rundschau f. d. kath. Deutschland, S. 111–116), Frankfurt am Main 1891. (Maas 1898) Fleiner, Fritz, Obligatorische Civilehe und katholische Kirche. Ein kirchenrechtliche Abhandlung. Gekrönte Preisschrift, Leipzig 1891, 59 S. (Maas 1898) Fuld, Ludwig, Das Bürgerliche Gesetzbuch und die Sozialpolitik, in: Gruchots Beiträge, Bd. 35 (1891), S. 635–657. (Wolters) Scherer, Martin, Besprechung des Entwurfs unseres BGB mit Gegenvorschlägen, Mannheim 1891, 94 S. (Maas 1898) Schultz, Ferdinand, Zu § 1259 No. 1 des Entwurfs zum BGB, in: II. Ergänzungsheft der Jur. Rundschau f. d. kath. Deutschland (1891), S. 93–110. (Maas 1898) Spahn, Peter, Die Verwaltung des Vermögens der Kirche, der Pfarreien, Klöster und kirchlichen Stiftungen nach dem Entwurfe des BGB (Zur Kritik eines

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BGB für das dt. Reich, II. Ergänzungsheft der Juristischen Rundschau f. d. kath. Deutschland, S. 1–91), Frankfurt 1891. (Maas 1898) Zusammenstellung der Äußerungen der Bundesregierungen zu dem Entwurf eines BGB gefertigt im Reichsjustizamt. 2 Bände. Als Manuskript gedruckt, Berlin 1891, XXII und 227 S.; XXXI und 170 S. (Maas 1898) Zusammenstellung der gutachterlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines BGB gefertigt im Reichs-Justizamt. Als Manuskript gedruckt, Band 6: Nachträge nebst Verzeichnis der in der Zusammenstellung Band 1–6 berücksichtigten gutachterlichen Äußerungen und einem Anhang, enth. die während des Druckes bekannt gewordenen Äußerungen, Berlin 1891, IV und 720 S. (Maas 1898) Bierlack, Josef/Saedt, Fr., Ehescheidung, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Band 2, 1892, Sp. 464–470. (Maas 1898) Bollert, Gerhart, Welche Rechte begründet bei bestehender obligatorischer Civilehe für den einen Ehegatten die Weigerung des anderen, die kirchlicherseits vorgeschriebene Eheform zu erfüllen? Nach gemeinem, preußischem und französischem Recht. Inaug.-Diss. Berlin, Frankfurt a. O. 1892, 60 S. (Maas 1898) Bosse, Heinrich, Reden über die Arbeiten der Commission für die zweite Lesung des Entwurfs eines BGB, in: Jur. Litt.-Bl., 4. Jg. (1892), S. 41–46. (Maas 1898) Die Vermögens-Verwaltung der evangelischen Kirchengemeinden im Consistorialbezirk Kassel. Ein Handbuch für die Presbyterien, nebst Formularen, insbesondere zu Kauf- und Pacht-Verträgen, Beschluß-, Verkaufs- und Verpachtungs-Protokollen, Bau-Akkorden, Schuldverschreibungen, desgleichen Verjährungs- und Stempel-Tabellen, auch ist eine statistische und eine Zuständigkeitsübersicht beigefügt. Nach amtlichen Quellen bearbeitet. Mit alphabetischem Inhaltsverzeichnis, Kassel 1892, VIII, 391 S. (Maas 1898) Fleiner, Fritz, Die tridentinische Ehevorschrift. Habilitationsschrift, Leipzig 1892, IV und 93 S. (Maas 1898) Kreutzwald, Peter, Ehe. – Ehegesetzgebung, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Band 2, 1892, Sp. 424–437; 437–442. (Maas 1898) Kreutzwald, Peter, Eheschließung, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Band 2, 1892, Sp. 470–473. (Maas 1898) Mayer, Emil, Die christliche Moral in ihrem Verhältnis zum [staatlichen] Recht, in: Jahresbericht über das Kgl. Friedrich Wilhelms-Gymnasium … zu Berlin, Ostern 1892, S. 1–31. (Maas 1898) Saedt, F., Ehehindernisse, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Band 2, 1892, Sp. 442–454. (Maas 1898) Andreae, Karl, Über den Einfluß des Irrtums auf die Gültigkeit der Ehe nach katholischem und protestantischem Kirchenrecht. Inaug.-Diss. Göttingen 1893, VIII und 59 S. (Maas 1898)

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1893 Berichte über die Arbeiten der Kommission für die zweite Lesung des Entwurf des BGB – Familienrecht, in: Reichsanzeiger (1893), Nrn. 277; 282; 289; 295; 301; 306. (Maas 1898) 1893 Geiger, Karl, Die religiöse Kindererziehung in ungemischten Ehen nach bayerischem Recht. Rechtsgrundsätze des kgl. bay. Verwaltungsgerichtshofes und die Anschauungen in der Literatur, in: Archiv für kath. Kirchenrecht, Bd. 70, 1893, S. 69–73. (Maas 1898) 1893 Justus (= Julius Lubszynski), Die Ehe im deutschen zukunftsrecht, in: Gegenw., Bd. 43 (1893), S. 337–340. (Maas 1898) 1893 Schroeder, Eduard August, Das Recht in der geschlechtlichen Ordnung. Kritisch, systematisch und kodifiziert, Berlin 1893, X und 390 S. (Maas 1898) 1894 Ein Reichsgesetzbuch über das Privatrecht. In sieben Büchern entworfen von ***, in: Außerordentliche Beilage zum Archiv für Bürgerliches Recht, Berlin 1894–96, VIII und 504 S. (Maas 1898) 1895 Bericht über: Sohm, Rudolph, Über den Entwurf eines BGB f. d. Dt. Reich in zweiter Lesung. Vortrag, Berlin 1896, III und 31 S. (= Sonderabdruck aus Gruchots Beiträge, 39. Jg. (1895) S. 737–766), in: 37. Jahr.-Ber. Jur. Ges. Berlin 1895/1896, S. 18–33. (Maas 1898) 1895 Das Eherecht vor der Commission zur zweiten Lesung eines BGB f. d. Dt. Reich, in: Allg. Jur.-Ztg., 18. Jg. (1895), S. 282–283. (Maas 1898) 1895 Die Zweite Lesung des Entwurfes eines BGB f.d. Dt. Reich, in: Conrads Jahrbücher, Bd. 63 (1895), S. 56–71; 232–243; 375–406; 550–569; 681–713. (Maas 1898) 1895 Joder, Julius, Die rechtliche Stellung der nicht anerkannten religiösen Genossenschaften in Elsaß-Lothringen. Bei Gelegenheit der im Reichslande aufgeworfenen Redemptoristenfrage aus verschiedenen Rechtsgutachten zusammengestellt. Separatabdruck aus „Ecclesiasticum Argentinense.“ Nebst einem Anhang, Straßburg 1895, 48 S. (Maas 1898) 1895 Kuhlenbeck, Ludwig, Juristische Personen des öffentlichen Rechts, insbesondere Fiskus und Gemeinde, auch Kirchengemeinde, in: Kuhlenbeck, Rechtsprechung des Reichsgerichts, X, S. 127–132; Jur. Wochenschrift, 24. Jg., 1895, S. 497–499. (Maas 1898) 1895 Bebel, August, Das BGB und die Sozialdemokratie, in: Neue Zeit, 14. Jg., Bd. 2 (1895–96), S. 554–560; 577–585. (Maas 1898) 1896 Hachenburg, Max, Die Verschiedenheit der Menschen und ihre Rechtsfolgen, in: ders., Das BGB für das Deutsche Reich. Vorträge, gehalten in den Jahren 1896/97, Mannheim 1898, S. 87–198. (Maas 1898), darin: Die Religion und ihre Bedeutung im Eherecht (S. 102–105) und: Das Geschlecht und die Rechtsstellung des Weibes. Das gesetzliche eheliche Güterrecht (S. 106–149) (Maas 1898) 1896 Bericht über den Inhalt der einzelnen Bücher des BGB mit Beleuchtung der im Reichstage behandelten Streitfragen, in: Das Bürgerliche Gesetzbuch. Dargestellt im Auftrage der national-liberalen Partei. (Die Reichstags-Session 1895/96. 9. Legislaturperiode, 4. Session. Erster

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Abschnitt. 3. Dezember 1895 bis 2. Juli 1896. Drittes Heft. IX.) Berlin 1896, S. 320–364. (Maas 1898) Der Entwurf des BGB f. d. Dt. Reich, in: ZS für Bergrecht, 37. Jg. (1896), S. 175–202. (Maas 1898) Die „bürgerliche Ehe“ des neuen BGB und das katholische Centrum, in: Arch. f. kath. Kirchenr., Bd. 76 (1896), S. 112–119. (Maas 1898) Endemann, Friedrich/Gareis, Paul, Einführung in das Studium des BGB f. d. Dt. Reich. Ein kurzgefaßtes Lehrbuch. 2. Teil: Sachenrecht, Familienrecht, Erbrecht, bearbeitet von Carl Gareis, 1. u. 2. unveränderte Auflage, Berlin 1896, IX und 235 S. (Maas 1898) Fuld, Ludwig, Die Ehescheidung wegen Geisteskrankheit, in: Soz. Prax., 5. Jg. (1896), Sp. 1018–1019. (Maas 1898) Geiger, Karl, Die Glaubenswahl minderjähriger Personen in Bayern. Vom Anfange dieses Jahrhunderts bis zur Gegenwart, in: Archiv f. kath. Kirchenrecht, Bd. 75, 1896, S. 358–412. (Maas 1898) Gierke, Otto, Das Recht der Einzelpersönlichkeit. Besprechung Reichsgerichtlicher Entscheidungen. … b. Rechtsfähigkeit der Religiosen …, in: Jherings Jbb. Bd. 35, 1896, S. 137–169. (Maas 1898) Hoensbroech, Paul v., Der Entwurf des BGB und römisch-ultramontanes Eherecht. 2. Auflage, Berlin 1896, 37 S. (Maas 1898) Jacobi, Leonard, Das persönliche Eherecht des BGB f. d. Dt. Reich, in: Das Recht des BGB in Einzeldarstellungen, Berlin 1896, 96 S. (Maas 1898) Lehmkuhl, August, Das neue BGB des deutschen Reiches und seine bürgerliche Eheschließung, in: Stimmen aus Maria Laach, Bd. 51 (1896), S. 125–140. (Maas 1898) Nieberding, August/Plank, Julius Wilhelm von/Sohm, Rudolph, Zur Einführung des BGB in den Reichstag. Reden … am 3., 4. und 5. Februar 1896, Berlin 1896, 52 S. (Maas 1898) Ruhland, Gustav/Kroidl, N., V. Das Vermögen ein anvertrautes Gut, in: dies., Zur Kritik des Entwurfs eines BGB. Vorträge und Aufsätze herausgegeben vom Bund der Landwirthe, Berlin 1896, S. 31–36. (Maas 1898) Schuppe, Wilhelm, Das Recht und die Ehe, Berlin 1896, 16 S. (Maas 1898) Sohm, Rudolph, Über den Entwurf eines BGB f. d. Dt. Reich in zweiter Lesung. Vortrag, Berlin 1896, III und 31 S. (= Sonderabdruck aus Gruchots Beiträge, 39. Jg. 1895, S. 737–766). (Maas 1898) Otto, Hermann, Die Verschiedenheiten des neuen deutschen vom geltenden sächsischen bürgerlichen Rechte, III. Familien- und Erbrecht. Bearbeitet von Bernhard Nitsche, Dresden 1897–98. (Maas 1898) Geiger, Karl, Civilehe und Civileherecht in Deutschland 1872–1896, in: Arch. f. kath. Kirchenr., Bd. 77 (1897), S. 499–528; 681–717. (Maas 1898) Geiger, Karl, Die legislative Entwicklung des deutschen Civileherechts vom ersten Entwurf bis zur gesetzlichen Formulierung, in: Archiv f. kath. Kirchenrecht, Bd. 77 (1897) S. 283–339. (Maas 1898) Hirsch, Robert, Die Rechtsverhältnisse der unehelichen Kinder nach dem BGB. Erläutert,

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in: Monographien über das BGB, Band 1, Stuttgart 1897, VII und 98 S. (Maas 1898) Walter, Hugo, Das Recht der Ehescheidung nach dem BGB f. d. Dt. Reich vom 18. August 1896, nebst einem geschichtlichen Rückblick. Inaug.-Diss. Erlangen, München 1897, 89 S. (Maas 1898) Berolzheimer, Sigmund, Buch IV, Familienrecht. Abschnitt 1, Ehe, in: Gutachten aus dem Anwaltsstande, S. 195–317; 1339–1341. (Maas 1898) Buzzati, J. (= Giulio Cesare), Du mariage civil célébré par les ressortissants d’un État resté fièle à la forme religieuse, in: Kosmodike, 1. Jg. (1898), S. 151–156; 173–174. (Maas 1898) Das Bürgerliche Gesetzbuch f. d. Dt. Reich. Separat-Abdruck von zwölf Artikeln der „Berliner Börsen-Zeitung“, in welchen die für das praktische Leben besonders wichtigen Materien des großen Gesetzgebungs-Werkes allgemeinverständlich und ausführlich erörtert werden, VIII. Mann und Frau, Berlin 1898, 43 S. (Maas 1898) Eck, Ernst, Vorträge über das Recht des BGB. 1. Lieferung, 1. u. 2. Ausgabe, Berlin 1898. (Maas 1898) Enneccerus, Ludwig/Lehmann Heinrich, Das bürgerliche Recht. Eine Einführung in das Recht des BGB, Band 2: Sachenrecht, Familienrecht, Erbrecht von H. O. Lehmann, 1. Lieferung, Marburg 1898. (Maas 1898) Gerigk, Hubert, Irrtum und Betrug als Ehehindernisse nach kirchlichem und staatlichem Rechte. Gekrönte Preisschrift, Breslau 1898, X und 108 S. (Maas 1898) Ergänzt durch: Gerigk, Hubert, Der Irrtum beim Ehevertrag nach dem Naturrecht. Kathol.-theol. Inaug. Diss, Breslau 1903, 46 S. (Maas 1903) Hachenburg, Max (s. bei 1896) Heucke, A., Die Bedeutung der kirchlichen Trauung, in: Zeitschr. f. Kirchenr., Bd. 9, S. 404–414. (Maas 1899) Geigel, Ferdinand, Reichs- und reichsländisches Kirchen- und Stiftungsrecht. Band 1: Gemeinsamer Teil für Katholiken, Protestanten und Israeliten. 1. Lieferung, Straßburg 1898; Band 2: Reichsländisches und Französisches Kirchenrecht für 1. Protestanten, 2. Israeliten verglichen namentlich mit Belgien, Luxemburg und Holland. Straßburg 1899, XI, 144 S. (Maas 1898) Kahl, Wilhelm, BGB und Kirchenrecht, in: 42. Jahr.-Ber. Jur.-Gesellschaft Berlin, 1900/1901, S. 34–37. (Maas 1901) Geiger, Karl August, Die Stellung der Klöster und Ordenspersonen im BGB f. d. Dtsch. Reich, in: Archiv f. kath. Kirchenrecht, Bd. 80 (1900), S. 493–521. (Maas 1900) Gossner, C., Das neue BGB in seiner Bedeutung für die Preußischen evangelischen Landeskirchen. Zur Einführung kirchlicher Kreise in das neue Recht, Berlin 1900, 28 S. (Maas 1899) Hollweck, Joseph, Das Civileherecht des BGB. Dargestellt im Lichte des canonischen Eherechts, Mainz 1900, VI und 264 S. (Maas 1900) Hollweck, Joseph, Das Testament des Geistlichen nach kirchlichem und bürgerlichem Rechte, Mainz 1900, VIII und 123 S. (Maas 1900) Kahl, Wilhelm, Die Errichtung von Handelsgesellschaften durch Religiose, 1900, 37 S. (= Sonderabdruck aus: Festgabe für Heinrich Dernburg zum

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fünfzigjährigen Doktorjubiläum … Überreicht von der Juristenfakultät der Universität Berlin, S. 191–227). (Maas 1900) Kässberg, Emil, Eingehung, Nichtigkeitserklärung und Auflösung der Ehe nach dem Recht des neuen BGB. In Anlehnung an einen auf der Hohensteiner Kirchenkonferenz über die „Beziehungen des deutschen BGB zur Kirche“ gehaltenen Vortrag, Leipzig 1900, 36 S. (Maas 1899) Kirchenheim, A. von, Der Ultramontanismus und die deutsche Reichsgesetzgebung, insbesondere das bürgerliche Gesetzbuch. Vortrag bei der 13. Generalversammlung des evangelischen Bunde, Halberstadt 1900. (Wolters) Köpke, Gerhard, Findet in denjenigen Teilen des deutschen Reichsgebietes, in welchen gemeines katholisches Eherecht gilt, nach heute eine Eheauflösung statt kraft des sog. privilegium Paulinum oder per professionem religiosam und per dispensationem Summi Pontificis? Inaug.-Diss. Greifswald 1900, 56 S. (Maas 1900) Kuby, Ferdinand, Familienrecht. Rechtliche Stellung der ehelichen Kinder insbesondere die elterliche Gewalt. Ein Führer für Eltern, als Inhaber der elterlichen Gewalt nach dem BGB und dessen Nebengesetzen, 2. Auflage, Kaiserslautern 1900, 48 S. (Maas 1900) Lehmkuhl, August, Das BGB des Deutschen Reichs nebst Einführungsgesetz. Unter Bezugnahme auf das natürliche und göttliche Recht, insbesondere für den Gebrauch des Seelsorgers und Beichtvaters erläutert, Freiburg i. Br. 1900, XVI, 712 S. (Maas 1899) Lehmkuhl, August, Das BGB des Deutschen Reichs nebst Einführungsgesetz. Unter Bezugnahme auf das natürliche und göttliche Recht, insbesondere für den Gebrauch des Seelsorgers und Beichtvaters erläutert, 4. und 5. Auflage, Freiburg i. Br. 1900, XX, 737 S. (Maas 1900) Lüttgert, G., Die Verzeihung im Ehescheidungsrecht des BGB, in: Dtsch. Zschr. f. Kirchenr., Bd. 32 (1900), S. 89–105; 220–245. (Maas 1901) Meurer, Christian, Bayerisches Kirchenstiftungsrecht (= Meurer, Bayerisches Kirchenstiftungsrecht, Bd. 1), Stuttgart 1900, VIII, 376 S. (Maas 1899) Pfordten, Theodor von der, Die religiöse Kindererziehung und das BGB, in: Bl. f. administr. Prax. Bd. 50 (1900), S. 177–191. (Maas 1900) Stammler, Rudolf/Duncker, Soziale Gedanken im BGB. Aus den Verhandlungen der Hauptverhandlung der freien kirchlich-sozialen Konferenz zu Erfurt am 18.–20. April 1900. Referate. Mit Diskussion, Berlin 1900, III und 35 S. (= Hefte der freien kirchlich-sozialen Konferenz. 10. und 13. Heft). (Maas 1900) Stutz, Ulrich, Was bedeutet der Übergang zum Eherecht des BGB für die evangelische Kirche, insbesondere Badens? Referat, Freiburg 1900, 36 S. (Maas 1899) Alexander, Hermann, Die religiöse Kindererziehung in der Pfalz und das BGB, in: Bl. f. administr. Prax., Bd. 51 (1901), S. 171–176. (Maas 1901) Englmann, Johann Anton, Katholisches Eherecht. Nach dem hinterlassenen Manuskript, mit besonderer Berücksichtigung des in Deutschland geltenden

Christliche Imprägnierung des BGB?

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Civil-Eherechts, sowie Diözesan-Vorschriften der Diözese Regensburg bearbeitet von Ludwig Stingl, Regensburg 1901, XV und 449 S. (Maas 1900) Middendorf, Verbindung bürgerlicher und katholisch-kirchlicher Eheschließung, in: DJZ, 6. Jg. (1901), S. 255. (Maas 1901) Schön, Paul, Beziehungen zwischen Staat und Kirche auf dem Gebiet des Eherechts, Leipzig 1901. (Sonderabdruck aus: Festgabe der Göttinger JuristenFakultät für Ferdinand Regelsberger … S. 183–225). (Maas 1901) Braun, Theodor, Welche Handhabe bietet das BGB der deutschen evangelischen Landeskirche zum Schutz der evangelischen Interessen in den gemischten Ehen? Referat, Stuttgart 1902, 23 S. (Maas 1902) Geigel, Ferdiand, Religiöse Erziehung der Kinder, in: Puchelts Zschr., Bd 23 (1902), S. 51–57; Arch. f. öffentl. R., Bd. 17 (1902), S. 505 –509. (Maas 1902) Albrecht, Friedrich, Verbrechen und Strafen als Ehescheidungsgrund nach evangelischem Kirchenrecht, Stuttgart 1903, VI und 200 S. (= Kirchenrechtliche Abhandlungen Heft 4) (Maas 1903) Geiger Karl August, Die religiöse Erziehung der Kinder im deutschen Rechte. Eine Darstellung des über die Konfession der Kinder geltenden Rechtes in Deutschland, Österreich-Ungarn, Schweiz und Luxemburg, Paderborn 1903, XVI und 301 S. (Maas 1904) Holldack, Felix, Die kanonischrechtlichen Einflüsse im Eherecht des BGB, Diss. Leipzig 1903, 70 S. (Maas 1903) Schulte, Johann Friedrich von, Bürgerliches Recht und kirchliche Verpflichtung, in: DJZ, 8. Jg. (1903), S. 242–244. (Maas 1903) Böhtlingk, Arthur, Das „katholische“ Eherecht, Frankfurt am Main 1904, 12 S. (Maas 1904) Bonin, Kurt von, Kann infolge der Verweigerung der kirchlichen Trauung eine Ehe geschieden oder angefochten werden?, in: Dtsch. Zschr. f. Kirchenr. Bd. 13 (1904), S. 365 ff. (Maas 1904) Vogt, Joseph, Handbuch des katholischen Eherechts, 2. Auflage, Köln 1904, VII und 219 S. (Maas 1904) Kißling, Johannes, Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche. Im Auftrage des Zentralkomitees für die Generalversammlung der Katholiken Deutschlands, 3 Bände, Freiburg 1911–1916. (Wolters) Wittenstein, Michael, Die kirchliche Lehre von den Ehehindernissen und ihr Einfluß auf die Eheverbote des Ehegesetzes von 1946, Diss. Frankfurt am Main 1952, 94 S. (Bib) Conrad, Hermann, Die Einführung der Zivilehe in Preußen und im Reich, in: Nipperdey, Hans Carl (Hg.), Das Deutsche Privatrecht in der Mitte des 20. Jahrhunderts, Festschrift für Heinrich Lehmann zum 80. Geburtstag, Band 1, Berlin 1956, S. 113–130. (Wolters) Halisch, Winfried, Die sozialen Vorstellungen der Verfasser des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Diss.-Jur. Würzburg 1959. (Wolters)

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Joachim Rückert

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THOMAS GUTMANN, MÜNSTER CHRISTLICHE IMPRÄGNIERUNG

DES

ZUM STAND DER SÄKULARISIERUNG RECHTSSTAAT

DER

STRAFGESETZBUCHS? NORMENBEGRÜNDUNG

IM LIBERALEN

Die Frage nach der „Christlichen Imprägnierung des StGB“ scheint auf eine rechtshistorische Antwort zu zielen. Um die christlichen Ursprünge des pönalen Rechts wird es in dem vorliegenden Beitrag jedoch nur anfangs gehen. Vielmehr soll die in den ersten beiden Abschnitten (I. und II.) knapp skizzierte historische Entwicklungslinie als Hintergrund dafür dienen, am Beispiel des Strafrechts nach dem gegenwärtigen Stand der Säkularisierung des Rechts und den heutigen Bedingungen der Normenbegründung im liberalen Rechtsstaat zu fragen (III. und IV.). Das Thema des Beitrags sind die Grenzen, die dem christlichen Bewusstsein heute im Rahmen der strafrechtlichen Normgebung gesetzt sind. I.

STRAFRECHTSWISSENSCHAFT

ALS SÄKULARISIERTE

THEOLOGIE

Die Ursprünge der Verbrechenslehre in der christlichen Theologie des Mittelalters sind evident. Die zentralen Konzepte der westlichen Strafrechtswissenschaft sind säkularisierte Theologie.1 Die Betonung dieses Satzes liegt auf dem Wort „säkularisiert“, und die folgenden Ausführungen werden der Frage nachgehen, was genau unter diesem Prozess der Verweltlichung zu verstehen ist. Die immanente Affinität des Christentums zum Recht gründet in der christlichen (genauer: jüdischen und christlichen) Vorstellung eines Gottes, der nicht nur – wie jüngst nochmals Friedrich Wilhelm Graf2 herausgearbeitet hat – Gesetzgeber ist, sondern zudem auch strafender (wenngleich, so wäre zu hoffen, gerechter) Richter. Seit dem 11. Jahrhundert rückt der Gedanke des Jüngsten Gerichts ins Zentrum des christlichen Glaubens und wird das Purgatorium als zeitliche Strafe für die „persönlichen“ Sünden der einzelnen Christenseele verstanden.3 Damit geht eine Juridifizierung der theologischen Konzepte (etwa der Sünde, der Reue, der Buße) selbst einher. Die vom mittelalterlichen kanonischen Strafrecht, d.h. von den Kanonisten des späten 11. und 12. Jahrhunderts im Anschluss an Abaelard entwickelte Unterscheidung zwischen peccatum und crimen, zwischen „bloßer“ Sünde (oder gar Todsünde) einerseits und einem sich in äußeren Handlungen manifestierenden kirchlichen „Straf “-Vergehen andererseits, führt zur Ausdifferenzierung eines Systems kanonischer Strafrechtspflege, in dem die „kriminellen Sünden“ (peccata criminalia) als tätige Verletzungen eines Kirchengesetzes dem kirchlichen Richter (und nicht mehr nur dem priesterlichen Bußsakrament) überantwortet werden.4 Zugleich fördert die Entwicklung der 1 2 3 4

H. J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a. Main 1991, 272 f. F. W. Graf, Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, 3. Aufl. München 2006. Berman (Fn. 1), 278. Berman (Fn. 1), 308. Zur philosophischen Begründung des Schuldprinzips, auf dem das „aufge-

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Thomas Gutmann

Kirche zur hierarchisch strukturierten Papstkirche seit der Gregorianischen Reform die Durchsetzung strafrechtlicher Normen und liefert die frühe Rezeption des römischen Rechts in Italien im Verbund mit der sich entwickelnden Scholastik die methodischen Mittel zur Bewältigung des neuen Rechtsstoffes.5 Diese Entwicklung fungiert als Motor der kanonistischen Schuldlehre. In dieser richtet sich der juridifizierende Blick auf den Zusammenhang von Wille und Handlung und damit auf den Bewusstseinszustand und die Gesinnung des Täters bei der Begehung der Tat. Die subjektiven Aspekte strafrechtlicher Verantwortlichkeit treten in das Zentrum des Interesses. Das Konzept des Vorsatzes wird nach kognitiven und volitiven Elementen ausdifferenziert, es werden der direkte vom indirekten Vorsatz und beide von der Fahrlässigkeit geschieden. Dies alles musste auf einer Lehre vom Willen und von der grundsätzlichen Willensfreiheit des Einzelnen als Voraussetzung aller Zurechnung fußen.6 Die kanonistische Schuld- und Verbrechenslehre bleibt in einem spannungsreichen Prozess auf den Begriff der Sünde bezogen.7 In diesem Rahmen entwickelt die Kanonistik – wie Stephan Kuttners unüberholte Darstellung aus dem Jahr 19358 zeigt – jedoch bereits im 12. Jahrhundert systematische, teils deliktsbezogene, überwiegend jedoch „allgemeine“ Überlegungen zu den Begriffen der Tat und des Verbrechens sowie zum Wesen, zu den Voraussetzungen, zur Schwere9 und zur Erkennbarkeit individueller Schuld. Diese werden flankiert durch komplexe Konzepte der imputabilitas, d.h. der Zurechenbarkeit von Handlungs- und Unterlassungsverantwortlichkeit, und eine (im Detail hochkontrovers diskutierte) Irrtumslehre, die konzeptionell wie normativ verschiedene Formen des Tatbestandsirrtums (ignorantia facti) vom Rechtsirrtum (ignorantia iuris) unterschied und sich in Debatten über Struktur und Kasuistik des error in persona erging. Daneben entstehen Lehren von den Rechtfertigungsgründen – etwa Notwehr- und Notstandsdoktrinen und systematisierende Theorien der Normen- und Pflichtenkollision − sowie Konzepte der Zurechnungs- und Schuldfähigkeit bzw. der Strafmündigkeit (bis hin zu einer feingliedrigen Diskussion über die culpa praecedens bei Affekt- und Trunkenheitstaten). Zugleich werden – auch hier immer wieder unter Rückgriff auf die Begrifflichkeit des römischen Rechts – eine komplexe Theorie der Handlungskausalität entwickelt, causae proximae von causae remotae unterschieden, hypothetische und überholende Kausalverläufe analysiert, der strafbare Versuch von der bloßen Tatbereitschaft und den nur vorbereitenden Handlungen

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klärte Strafrecht“ aufruhen wird, im Zuge der „Renaissance des 12. Jahrhunderts“ bei Abaelard siehe nunmehr L. Schulz, Der Einfluss des Christentums auf die Konzeption von Schuld und Unschuld im Strafrecht, in: Th. Gutmann/H.-G. Hermann/J. Rückert/M. Schmoeckel/H. Siems (Hrsg.), Von den Leges Barbarorum zum ius barbarum des Nationalsozialismus. Festschrift für Hermann Nehlsen zum 70. Geburtstag, Köln/Weimar 2007, im Druck. L. Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts, Köln u.a. 2006, 671. S. Kuttner, Kanonistische Schuldlehre. Von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX., Città del Vaticano 1935, 39 ff. Berman (Fn. 1), 315; Kuttner (Fn. 6), 3 ff., 22. Kuttner (Fn. 6). Der Umstand, dass das Buch des Exilanten nach 1945 kaum rezipiert wurde, wirft ein eigenes Licht auf die deutsche Strafrechtswissenschaft der Zeit. Zur Strafzumessungstheorie am Beispiel der Summen Bernhard von Pavias (vor 1150 bis 1213) siehe nun Kéry (Fn. 5), 386 ff.

Christliche Imprägnierung des Strafgesetzbuchs?

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abgegrenzt sowie schließlich auch Formen der Täterschaft und der Teilnahme10 ausdifferenziert. Die mit der Theologie verschwisterte Strafrechtswissenschaft ist im 12. Jahrhundert also weit gediehen. Sie bewältigt eine enorme theoretische Komplexität und erschafft dabei nichts weniger als den nahezu komplett bestückten Baukasten eines allgemeinen Teils der Strafrechtslehre,11 der um die Vorstellung der handlungs- und zurechnungsfähigen Person kreist. Gegenüber dieser theoretischen „Explosion“ des 12. Jahrhunderts erscheinen selbst die Weiterentwicklungen, die die allgemeine Strafrechtsdogmatik im 19. und 20. Jahrhundert erfahren hat, vergleichsweise marginal. Die zentralen Konzepte der westlichen Strafrechtswissenschaft sind säkularisierte Theologie, und der Umstand, dass der Leser handelsüblicher Darstellungen deutscher Strafrechtsgeschichte hiervon wenig erfährt, sollte nicht nur den Historiker, sondern auch den Strafrechtstheoretiker verwundern. Die Vernunftrechtstheorie12 hat das vom kanonischen Strafrecht errichtete Theoriegebäude nicht abgerissen. Sie hat es, wenngleich mit den spezifischen Mitteln der neuen Philosophie, nur renoviert − man denke etwa an die Zurechnungstheorien bei Pufendorf13 oder Wolff14, in denen es weiterhin das dogmatische Material der kanonistischen Schuldlehre ist, das reanalysiert und allenfalls teilweise neu angeordnet und begrifflich weiter abstrahiert wird. Die Vernunftrechtstheorie hat das Theoriegebäude des kanonischen Strafrechts jedoch in einem komplexen (und keineswegs geradlinigen) Prozess, den man spätestens mit Pufendorf beginnen lassen muss, auf das neue Fundament einer Rechtswissenschaft gestellt, die Transzendenz nicht länger als Begründungsressource benötigte. Hierbei wurde die Strafrechtstheorie von der Sündentheologie gelöst und die Vorstellung der grundsätzlich willensfreien, handlungs- und zurechnungsfähigen Person auf einen Begriff diesseitiger Handlungsverantwortlichkeit umgegründet. Die Strafrechtstheorie wurde, mit einem Wort, in ihren Fundamenten säkularisiert. Man missversteht diesen Prozess, wenn man, wozu Harold Berman neigt, hier eine Verlustrechnung

10 Vgl. Kéry (Fn. 5), 398 ff. 11 Die Liste der strafrechtsdogmatischen Figuren der Kanonistik, die sich als letztlich nicht anschlussfähig erwiesen haben, dürfte nicht allzu lang sein. Zu nennen wäre wohl die in der Herleitung schwankende kanonistische Theorie vom „versari in re illicita“ zur fahrlässigkeitsunabhängigen Haftung für die zufälligen Erfolge einer verbotenen Handlung (vgl. Kuttner [Fn. 6], 185 ff.), aber auch die harte kanonistische Coactiolehre Huguccios und Innozenz’ III., derzufolge der von vis compulsiva Genötigte trotz seiner Not immer in zurechenbarer Weise selbst handele, die coactio conditionalis (jedenfalls bei Todsünden) mithin niemals entschuldige und allenfalls unter Umständen einen Strafmilderungsgrund darstelle (vgl. Th. Gutmann, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, München 2001, 36 f.). 12 Zur Zwischenphase der gemeinrechtlichen Strafrechtsdogmatik zwischen Carolina und Pufendorf siehe immer noch F. Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft des Gemeinen Strafrechts, Berlin 1930 (Nachdruck Aalen 1973). 13 S. v. Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo, Lund 1672; deutsch: Acht Bücher vom Natur- und Völckerrecht, Frankfurt a. Main 1711 (Nachdruck Hildesheim 1998), 1. Buch, Kap. V; ders., De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo [1673], dt. Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hrsg. und übersetzt v. K. Luig, Frankfurt a. Main 1994, 1. Buch, Kap. I, §§ 17 ff. 14 Vgl. Ch. Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, Halle 1754 (Nachdruck Hildesheim 1980; Gesammelte Werke, Abt. I, Bd. 19), Erster Teil, §§ 1 ff.

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aufmacht und in den (Straf-)Rechtssystemen der westlichen Länder nur „säkulare Relikt[e] religiöser Haltungen und Vorstellungen“15 sieht, die ohne ihre „spirituellen Grundlagen“16 defizient und vor allem nur noch eingeschränkt intelligibel seien. Bermans Rede von den „theologischen Voraussetzungen“ (presuppositions) der westlichen Rechtswissenschaft17 ebnet eine wesentliche Unterscheidung ein, nämlich die von Genesis und Geltung. Die historische Herkunft der meisten Theoriebausteine der Strafrechtswissenschaft aus dem Kontext der christlichen Theologie des Mittelalters steht außer Frage. Ihr Begründungskontext, d.h. ihr normatives Fundament hat sich jedoch radikal geändert. Die Trennung der Rechtstheorie von der Theologie, die (spätestens) im 17. Jahrhundert einsetzt, ist als Moment der Ausdifferenzierung von Recht und Religion ein epochaler Prozess, der mit Recht auf seine eigene Legitimität (Blumenberg18) pocht. Es handelt sich auch beim Prozess der Säkularisierung der Strafrechtstheorie nicht um die Umsetzung authentischer theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung, sondern um einen Prozess der Abtragung ererbter Problemlagen bei gleichzeitigem Anschluss an den erreichten Stand der Theoriebildung unter den veränderten Begründungsbedingungen der sich entwickelnden Moderne. Werden Genesis und Geltung auseinandergehalten, d.h. die begriffsgeschichtliche Herkunft strafrechtlicher Konzepte von den Geltungsansprüchen getrennt, mit denen sie auftreten, wird ein wesentliches Moment des Säkularisierungsprozesses deutlich: Auf der Begründungsebene hat sich die westliche Rechtswissenschaft von ihren theologischen „Voraussetzungen“19 gerade gelöst. Selbst wenn und soweit Carl Schmitt mit seiner Behauptung recht hätte, dass alle prägnanten Begriffe der modernen Staats(und Rechts-)lehre säkularisierte theologische Begriffe seien,20 könnte dies für die gegenwärtige Arbeit am Begriff kalt lassen. Die theoretischen Fragen der Strafrechtsphilosophie und der Strafrechtsdogmatik entscheiden sich heute auf einem Feld, das von der Theologie nicht mehr berührt wird. Der Rückgriff auf jene theologumena, mit denen die Theorie einst verbunden war, kann keinen Erkenntnisgewinn mehr bieten; die theologischen Wurzeln der westlichen Rechtswissenschaft bergen für diese keine Begründungsressourcen mehr.21 Rückblickend lässt sich die kanonistische Schuldlehre als Moment der eigenständigen Evolution und Ausdifferenzierung des Rechtssystems22 und der juristischen, insbesondere strafrechtlichen Semantik unter dem vorläufigen Dach der Religion begreifen. Die Juridifizierung der theologischen Konzepte von Schuld und Verantwortlichkeit und deren begrifflich-dogmatische Systematisierung durch die Kanonistik haben einen Prozess der Selbstreferentialität befördert, der es dem Recht schließlich ermöglicht hat, seinen Bezug auf Theologie als externe Referenz zu kappen. Mit dem kanonischen Recht begann das Rechtssystem m.a.W. sich operativ zu schließen und 15 Berman (Fn. 1), 273. 16 Berman (Fn. 1), 326. 17 Berman (Fn. 1), 273, bzw. im Original (Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition, Cambridge and London 1983) 165. 18 H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt a. Main 1996. 19 Siehe Fn. 17. 20 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 2. Aufl. München/ Leipzig 1934, 49. 21 Vgl. auch H. Hofmann, Recht, Politik und Religion, JZ 2003, 377–385 (383). 22 Vgl. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. Main 1993, 239 ff.

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seine Autonomie zu finden;23 zugleich wurde die Rechtsdogmatik ein stabilisierender Faktor des Rechtssystems, der auf die Evolution des Rechts selbst zurückzuwirken begann.24 Wegen des juridischen Charakters der kanonistischen Verbrechenslehre ist es deshalb kein Wunder, dass ihre theoretischen Bausteine und Werkzeuge ganz überwiegend weiter Anschluss finden (oder genauer: die späteren rechtsdogmatischen Anschlussmöglichkeiten definieren) konnten.25 Dies gilt selbst für die gleichsam „letzten Dinge“ des Strafrechts, die Fragen nach dem Grund der Strafe. Es waren, wie Harold Berman nochmals herausgearbeitet hat, Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin, die die grundlegende Rechtfertigung des Strafrechts in der Idee einer „Wiederherstellung des Rechts“, also in einer generellen Vergeltungstheorie der Gerechtigkeit verorteten. Die Idee, das Recht selbst verlange die Sanktion26, nahm hier ihren Ausgangspunkt, wenngleich noch verankert in der Vorstellung der Gerechtigkeit Gottes und eines normativen, göttlichen ordo. Diese Idee hat sich als modernitätskompatibel erwiesen. So hat Wolfgang Naucke in seinem Vergleich der Begründungen des Strafrechts von Luther bis Kant festgehalten, dass – auf einer hinreichenden Abstraktionshöhe betrachtet – die Säkularisation der christlichen Begründung des Strafrechts das Ergebnis, nämlich die Verankerung der Begründung des Strafrechts in der Idee rechtlicher Ordnung, beibehalte und „nur“ das Begründungssystem austausche. „Säkularisation der Strafrechtsbegründung“ sei „Reaktion auf geänderte Begründungserwartungen bei gleichbleibenden Ergebniserwartungen“.27 Diese These Nauckes von der „Erhaltung der christlichen Strafrechtsbegründung in einem anderen Gewande“ verdeckt freilich die Pointe, dass es ja gerade diese geänderten Begründungserwartungen sind, die zu interessieren haben. Geändert hat sich, was als einlösbarer Geltungsgrund noch vorgebracht werden kann, und geändert hat sich die Begründungsdynamik, die aus diesem argumentativen Verweisungszusammenhang entsteht. So ist auch die Strafzweckdiskussion eine weltliche geworden. Erst mit der Auflösung der Einheit von Theologie und Strafrechtslehre entsteht breiter Raum für Folgenorientierung und Zweckrationalität, m.a.W. also für Theorien der Prävention und eine Orientierung der Strafe am Zweck der salus publica.28 Aber auch dort, wo 23 Vgl. Luhmann (Fn. 22), 62. Zum Versuch einer Kritik aus der Perspektive der kirchlichen Rechtsgeschichte vgl. A. Thier, Systemtheorie und kirchliche Rechtsgeschichte, in: R. Helmholz/P. Mikat/J. Müller/M. Stolleis (Hrsg.), Grundlagen des Rechts. Festschrift für Peter Landau zum 65. Geburtstag, Paderborn/München/Wien/Zürich 2000, 1065–1102 (1099 ff.). 24 Vgl. Luhmann (Fn. 22), 265. 25 Vgl. auch P. Landau, Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien, in: H. Scholler (Hrsg.), Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien, Baden-Baden 1996, 23–47. 26 Damit hängt die Konzeption der „eigentlichen“ Strafe als Schuldstrafe bei Thomas zusammen, vgl. H. Maihold, Strafe für fremde Schuld? Die Systematisierung des Strafbegriffs in der Spanischen Spätscholastik und Naturrechtslehre, Köln u.a. 2005, 154 ff. 27 W. Naucke, Christliche, aufklärerische und wissenschaftstheoretische Begründung des Strafrechts (Luther–Beccaria−Kant), in: G. Dilcher/I. Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht. Beiträge zum Problem der Säkularisierung, Frankfurt a. Main 1984, 213–221 (216). 28 Vgl. etwa Ch. Thomasius, Institutiones iurisprudentiae divinae, Frankfurt und Leipzig 1688, III, cap. 7, § 101; Ch. Wolff, Jus naturae methoda scientifica pertractatum, Frankfurt und Leipzig 1740 (Nachdruck Hildesheim 1972, hrsg. v. M. Thomann; Gesammelte Werke, Abt. II, Bd. 17 ff.), VII, cap. 3, § 638; S. v. Pufendorf, Über die Pflicht (Fn. 13), 2. Buch, Kap. XIII. Dieser Befund ist allerdings

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die bei Anselm und Thomas fundierte absolute Straftheorie sich nochmals zu behaupten versucht, wird sie − wie etwa in Kants Feier des ius talionis29 und seiner Begründung des Strafgesetzes als eines kategorischen Imperativs oder in Hegels Begriff der vergeltenden Strafe als „Wiederherstellung des Rechts“30 − in der Philosophie vernünftiger Subjektivität und damit im Diesseits verankert. Deshalb ist auch Klaus Lüderssen31 zu widersprechen, der die christliche Tradition immer noch dort am Werk sieht, wo das Schuldprinzip (wie etwa vom Bundesverfassungsgericht32) weiterhin im Zusammenhang von Vergeltung oder Sühne begriffen werde. Selbst dieser Zusammenhang ist spätestens in den absoluten Straftheorien des deutschen Idealismus aus seiner theologischen Herkunft entlassen worden. Die strafbegrenzende Funktion des Schuldprinzips schließlich lässt sich – ebenfalls spätestens seit Kant – in einem Begriff von Menschenwürde bzw. einem Anspruch des Einzelnen auf Achtung seiner Rechtspersonalität verankern, der in dieser Form ohnehin keine christliche Tradition darstellt. Im Ergebnis stehen die Hebammendienste der Theologie für die westliche Strafrechtswissenschaft außer Frage. Das Kind läuft freilich lange schon auf eigenen Beinen. Dass die Verbrechenslehre des StGB heute noch des theologischen Beistandes bedürfte, wird niemand ernstlich behaupten wollen. Sie transportiert auch keine unaufgelösten theologischen Gehalte mehr. II. DIE SÄKULARISIERUNG

DER

STRAFRECHTSGÜTER

SEIT

1871

Das am 15. Mai 1871 verkündete Reichsstrafgesetzbuch hat in seinem „Besonderen Teil“, den Straftatbeständen, noch für eine lange Zeit eine Reihe von Delikten enthalten, die zum Kernbestand christlich motivierter Strafrechtspflege gehörten – den Ehebruch etwa, die einfache Homosexualität unter Erwachsenen, die Bigamie und die Gotteslästerung. Andere, wie der Wucher oder der Meineid, waren von Anfang an auf diesseitig motivierte Schutzgüter umgestellt worden. Aber auch die genannten vormals kriminellen Sünden haben nur noch in verkleideter Form, nämlich als Verstöße gegen die tradierte christliche Moral bzw. den Schutz religiöser Gefühle, Eingang in das Strafgesetzbuch gefunden, oder haben doch wenigstens einen entsprechenden Formwandel vollzogen.

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32

zu relativieren. Zur Prävention als Strafzweck bereits bei Abaelard siehe Kuttner (Fn. 6), 25, 117 und passim, zur Abschreckungstheorie Huguccios Kéry (Fn. 5), 676. Eine systematische Herausarbeitung von Schuld und Prävention als zwei nebeneinander bestehender Möglichkeiten der Begründung von Strafe in der spanischen Spätscholastik und zur Rolle des Gemeinwohlbegriffs in der Strafbegründungsdiskussion dieser Zeit bietet nun Maihold (Fn. 26), insbes. 177 ff., 192 ff., 229 ff., 234 f., 357 f. I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten. Erster Teil (1797), hrsg. v. B. Ludwig, Hamburg 1986, Das Staatsrecht, E, 154. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 99. K. Lüderssen, Vergeltung und Sühne vor dem Forum der christlichen Ethik − kein Platz mehr für absolute Strafzwecke?, in: G. Dilcher/I. Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht. Beiträge zum Problem der Säkularisierung, Frankfurt a. Main 1984, 222–231 (223). BVerfGE 39, 1 (57 − „Vergeltung“).

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So lag der Strafdrohung des § 166 StGB a.F. zunächst die Vorstellung zugrunde, Gott selbst könne durch lästerliche Handlungen verletzt werden.33 Schon lange vor seiner Änderung durch das 1. Strafrechtsreformgesetz von 1969, das die Norm mit erheblicher Verspätung in Richtung eines mit Art. 4 GG kompatiblen, pluralistischen Rechtsverständnisses transformierte, war das geschützte Rechtsgut der Vorschrift ganz überwiegend nur noch im religiösen Empfinden Betroffener lokalisiert und damit theologisch neutralisiert worden.34 Die Frage, ob man den strafrechtlichen Schutz von Religion und Weltanschauung für entbehrlich oder ob man das weltliche Rechtsgut des öffentlichen Friedens beim Streit um die letzten und die vorletzten Dinge doch für einen noch oder wieder überzeugenden Schutzgegenstand hält,35 ist heute eine rechtspolitische Frage, in der jedenfalls keine theologischen Gehalte mehr verhandelt werden. Letzteres galt auch schon vor den Novellierungen der 1960er und 70er Jahre für die ehemals sündentheologisch bedeutsamen Sexualdelikte. Schon in ihrer damaligen Qualifikation als „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ liegt der Befund ihrer Herabstufung zu Delikten gegen moralische Traditionsbestände, die christlich mitgeprägt, aber nicht mehr unmittelbar theologisch gehaltvoll sind. Hierbei ist zwar nicht zu übersehen, dass der Begriff des „Sittengesetzes“ im 19. und noch im 20. Jahrhundert semantisch in aller Regel nicht etwa in einem kantischen Bedeutungsgehalt, sondern im dezidiert antiliberalen und antisäkularen Sinn einer metaphysischen Fundierung des Staates in einem gottgegebenen ordo verwendet wurde.36 Der Verweis auf das Sittengesetz transportiert jedoch schon am Ende des 19. Jahrhunderts kein religiöses Recht mehr, sondern legal moralism, d.h. die strafrechtliche Sanktion von Verstößen gegen die (angeblich) vorfindliche Sozialmoral gesellschaftlicher Mehrheiten.37 Idealtypisch hierfür ist die erst 1969 abgeschaffte Strafbarkeit der Homosexualität zwischen consenting adults, § 175 StGB a.F., deren Strafgrund – greift doch der Täter gerade nicht in die Rechte anderer ein – in einem Verstoß gegen die „öffentliche Moralität“ (so das Reichsgericht im Jahre 188038) bzw. das „Sittengesetz“ (so der BGH im Jahr 1951) liegen sollte. Konsequent wurde der Anspruch, den Strafgrund des § 175 StGB a.F. rational zu begründen, teilweise ganz explizit aufgegeben.39 Deutlicher allerdings hat der Große Senat für Strafsachen des BGH in seiner Entscheidung zum Strafgrund der Kuppelei aus dem Jahr 1954 festgehalten, es ergebe 33 W. Hassemer, Religionsdelikte in der säkularisierten Rechtsordnung, in: G. Dilcher/I. Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht. Beiträge zum Problem der Säkularisierung, Frankfurt a. Main 1984, 232–251 (234). 34 O. Schwarz, Strafgesetzbuch, München, 15. Aufl. 1952, § 166 sub 1); Schönke-Schröder, StGB, 11. Aufl. 1963, § 166 Rn. 2; H. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 9. Aufl., Berlin 1965, § 65 I, 404 f. Welzel vertritt mit Verweis auf RGZ 64, 121 in typischer Weise noch die Einengung des Schutzes auf „die Gottesvorstellung der in Deutschland anerkannten Religionsgemeinschaften, besonders de[n] christliche[n] Gottesbegriff, also die Trinität“; vgl. Schönke-Schröder, a.a.O., § 166 Rn. 4 (Monotheismus). 35 Vgl. jüngst T. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, Frankfurt a. Main 2005, 340 ff. 36 Graf (Fn. 2), 67. 37 Zum Begriff: J. Feinberg, Harmless Wrongdoing. The Moral Limits of the Criminal Law, Vol. IV, New York/Oxford 1988, 3 ff. 38 RGSt 2, 238. 39 Schönke-Schröder (Fn. 34), § 175 Rn. 2.

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sich aus dem „Sittengesetz“, „daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich nur in der Ehe vollziehen soll und daß der Verstoß dagegen ein elementares Gebot geschlechtlicher Zucht verletzt.“40 Dass der Bundesgerichtshof im Überschwang der allzu unvermittelten Naturrechtsrenaissance nach 1945 bisweilen dazu neigte, „eine klerikale Spezialmoral zur alle Bürger bindenden Sittensubstanz des Gemeinwesens zu erklären“41, ist hinreichend bekannt. Derlei Durchgriffe der neuthomistischen Tradition auf das Recht sind jedoch allenfalls vormoderne Endmoränen, aus denen man lernen kann, dass nicht nur Gottes Mühlen langsam mahlen, sondern auch die der kulturellen Modernisierung. Dasselbe gilt für das Bundesverfassungsgericht, dessen Erster Senat noch im Mai 195742 glaubte, hinsichtlich der Legitimation des Straftatbestandes der einfachen Homosexualität durch den Begriff des „Sittengesetzes“ in Art. 2 Abs. 1 GG auf „die beiden großen christlichen Konfessionen“ verweisen zu müssen, „aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen“. Wesentlich ist allerdings, dass der Begriff des Sittengesetzes hier bereits eine empirische Deutung erfährt. Gefragt wird nicht mehr nach dem normativen ordo des Kosmos, sondern nach den vorfindlichen „sittlichen Anschauungen des Volkes“ in Fragen der Sexualität, für die man die Sittenlehren der christlichen Kirchen noch als statistische Zurechnungseinheiten fungieren lässt. Der Konnex ist also schon auf die Schiene historischer Kontingenz gesetzt. Deutlich wird jedenfalls, dass derlei rechtsmoralistische Begründungen nur mehr Schrumpf- und Rückzugsformen ehemals christlich inspirierter Strafrechtspflege darstellen. Die Beseitigung der Delikte der Kuppelei, der einfachen Homosexualität und des Ehebruchs aus dem StGB im Rahmen der Novellen der 60er Jahre ist deshalb vorrangig als Aspekt der Ausdifferenzierung von Recht und Moral und weniger von Recht und Religion zu verstehen.43 Dass dieser Prozess schon Jahrzehnte früher eingesetzt hat, zeigen die seit 1880 zunehmenden Versuche in Rechtsprechung und Literatur, den einschlägigen Delikten alternative und zumindest religionsferne (wenngleich nicht immer überzeugende) Schutzgüter zuzuweisen. Diese reichen vom Schutz der staatlichen Eheordnung bei der Bigamie44 (§ 171 StGB) und dem Ehebruch45 (§ 172 a.F. StGB) über den Schutz der Institution Familie oder der Erbgesundheit46 im Falle des Inzests (§ 173 StGB)47 bis hin zur „Volksgesundheit“ bei der einfachen

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BGHSt 6, 54. Graf (Fn. 2), 67. BVerfG NJW 1957, 865. Zur präkären Allianz der Religion mit der Moral vgl. N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a. Main 2002, 95 ff., 175 ff. 44 Schönke-Schröder (Fn. 34), § 171 Rn. 1 (daneben: Schutz der „Sittlichkeit“). 45 Schönke-Schröder (Fn. 34), § 172 Rn. 1 (Schutz des Instituts der Ehe als Grundlage der Familienordnung; die Strafwürdigkeit des Ehebruchs gehöre zu den „kriminalpolitisch umstrittensten Fragen“). 46 Vgl. die Begründung zum 4. StrRÄG vom 23.11.1973, BGBl. I, 1725, und BGH NJW 1952, 671 (672 – „Gefahren der Inzucht“). 47 Welzel (Fn. 34), § 64 III, S. 394 f. zu § 173 StGB: Sicherung des inneren Friedens der Familie und der sexuellen Entwicklung der Kinder; Schwarz/Dreher, Strafgesetzbuch, München, 18. Aufl. 1968, § 173 sub 1: Straftat gegen die Familie, mit Verweis auf E 57, 140; BGHSt 3, 342; BGH NJW 1952, 671.

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Homosexualität (§ 175 a.F. StGB).48 Im Falle von Doppelehe und Inzest wurden diese Schutzgutsinterpretationen bis heute tradiert; ihre Überzeugungskraft und die Notwendigkeit ihres Schutzes gerade mit den Mitteln des Strafrechts werden allerdings mit guten Gründen bestritten.49 Im Ergebnis sind heute auch im Besonderen Teil des Strafrechts keine wesentlichen Spuren einer christlichen Imprägnierung mehr zu finden. Auf zwei mögliche Ausnahmen – den Komplex Sterbehilfe und das − allerdings überwiegend im Nebenstrafrecht angesiedelte − intrikate Problem des Embryonenschutzes – ist zurückzukommen. An dieser Stelle kann jedoch bereits die These festgehalten werden, dass es gerade die Schwere des Eingriffs der strafrechtlichen Sanktion ist, der das Strafrecht – stärker als etwa das Familienrecht – einem Legitimationsdruck und damit zugleich einem Zwang zur Säkularisierung seiner Geltungsansprüche ausgesetzt hat. Der Befund eines materiellen Strafrechts, das seine christlichen Wurzeln weitestgehend abgestreift hat, kann deshalb nicht überraschen. III. SÄKULARISIERUNG ALS LERNPROZESS: NORMENBEGRÜNDUNG ÖFFENTLICHER VERNUNFTGEBRAUCH

UND

Die Frage nach den Grenzen, die christlichen Identitäten heute im Rahmen der strafrechtlichen Normgebung gesetzt sind, kann zwei Antworten erfahren. Zum einen kann man, etwa mit Niklas Luhmann, auf die Faktizität einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft verweisen, die den unmittelbaren Anschluss religiöser Kommunikation an das Rechtssystem sehr unwahrscheinlich macht.50 Dies dürfte eine zutreffende Beobachtung sein. Auf die Robustheit der operativen Geschlossenheit des Rechtssystems gegenüber religiösen Gehalten sollte man sich aber nicht zu selbstverständlich verlassen. Die religionssoziologischen Befunde scheinen vielmehr darauf zu deuten, dass mit der Erosion traditioneller religiöser Milieus, mit der wachsenden Pluralisierung der (und innerhalb der) Religionen sowie mit dem zunehmenden Prozess der Individualisierung religiösen Entscheidens keine Zurückdrängung der Religion in die Privatsphäre einhergehen muss. Es scheinen sich eher Tendenzen ihrer Deprivatisierung, d.h. eines Wiedererstarkens der (ohnehin in die Ordnung der Verfassung eingebundenen51) Religion im öffentlichen Raum zu mehren.52 Mit einer verstärkten Präsenz der Religion auch in der Rechtspolitik scheint nach alledem künftig durchaus zu rechnen zu sein. 48 Vgl. Schönke-Schröder (Fn. 34), § 175 Rn. 2 m.w.N., u.a. OLG Düsseldorf MDR 1948, 60, OLG Frankfurt a. Main NJW 1949, 233 und BGH LM § 175 StGB Nr. 1; Kohlrausch/Lange, StGB, Berlin, 42. Aufl. 1959, § 175 sub I. 49 Vgl. zusammenfassend und m.w.N. Hörnle (Fn. 35), 449 ff. 50 Luhmann (Fn. 22); ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. Main 1997; ders. (Fn. 43), 187 ff., 278 ff.; daneben G. Roellecke, Die Entkopplung von Recht und Religion, JZ 2004, 105–110 (109 f.); ders., Leben zwischen Religion und Recht, JZ 2005, 421–424 (423). 51 Siehe etwa Ch. Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, Tübingen 2006. 52 J. Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994; P. L. Berger/J. Sacks et al. (eds.), The Desecularization of the World: Resurgent Religion and World Politics, Washington 1999; Luhmann, Religion (Fn. 50), 317 ff.; K. Gabriel, Säkularisierung und öffentliche Religion. Religionssoziologische Anmerkungen mit Blick auf den europäischen Kontext, Jahrbuch für Christliche Sozialwis-

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Das leitet über zu der Frage, welchen normativen Barrieren sich der religiöse Diskurs gegenübersieht, wenn er zu einem rechtlichen werden will. Mit Blick auf die Funktionslogik des liberalen Rechtsstaats sind sie offensichtlich: Normenbegründung im liberalen Rechtsstaat ist an Bedingungen der public justification53 gebunden. Der weltanschaulich neutrale Staat, der seine Bürger mit gleicher Rücksicht und gleichem Respekt zu behandeln hat,54 muss sich auf Gründe beschränken, die im Prinzip jedermann diskursiv einsichtig gemacht werden können. Vor dem Hintergrund des „Faktums des vernünftigen Pluralismus“55 und eines auf der kognitiven Ebene offensichtlich nicht zu schlichtenden Neben-, Mit- und Gegeneinanders unterschiedlicher Weltbilder und religiöser Lehren können Rechtsnormen mit allgemeinem (innerstaatlichem) Geltungsanspruch nicht auf partikuläre Vorstellungen des Guten gegründet werden.56 Hierdurch sind Begründungen, die in letzter Konsequenz auf die Kraft der Autorität und glaubensmäßige bzw. dogmatische Setzungen rekurrieren,57 als Begründungsressourcen, zumal für Eingriffsnormen, gesperrt. Die Zulassung religiöser Rechtfertigungen im Prozess der Gesetzgebung wäre schlicht illegitim. Das Prinzip der public justification fungiert zugleich als Legitimationsgrenze des Mehrheitsprinzips: Selbst religiös motivierten Majoritäten wäre es versagt, die normsetzende Staatsgewalt zum Agenten ihrer nur religiös zu begründenden Rechtspolitik zu machen. Das legitimitätserzeugende „Prinzip der weltanschaulich neutralen Ausübung politischer Herrschaft“ fordert, dass „alle mit staatlicher Gewalt durchsetzbaren politischen Entscheidungen in einer Sprache formuliert sein müssen und gerechtfertigt werden können, die allen Bürgern gleichermaßen zugänglich ist. Die Mehrheitsherrschaft verwandelt sich in Repression, wenn eine religiös argumentierende Mehrheit im Verfahren der politischen Meinungs- und Willensbildung der unterlegenen säkularen oder andersgläubigen Minderheit den Nachvollzug der ihr geschuldeten Rechtfertigungen verweigert.“58 Soweit die vielleicht zentrale These aus John Rawls’ Political Liberalism59, hier in einer Paraphrase von Jürgen Habermas wiedergegeben, die an dieser Stelle exemplarisch in Anspruch genommen werden soll.

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senschaften 44 (2003), 13–36; ders., Religionen im öffentlichen Raum. Perspektiven für Europa, Theologisch-Praktische Quartalschrift 152 (2004), 394–407. Ambivalent Hofmann (Fn. 21). Vgl. J. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt a. Main 2003, § 9; ders., Der Bereich des Politischen und der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, Frankfurt a. Main 1992, 333–363; S. Huster, Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung, Tübingen 2002, 85 ff.; F. D’Agostino, Art. Public Justification, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2007 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL = . R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt a. Main 1984, 298 ff.; ders., Liberalism, in: ders., A Matter of Principle, Cambridge 1985, 181–204 (191). Rawls, Gerechtigkeit (Fn. 53), 63 ff., vgl. Huster (Fn. 53), 5 ff., 86 ff. Vgl. Huster (Fn. 53), 85 ff., 633 ff.; Rawls (Fn. 53), 63 ff., J. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Vierte, erweiterte Auflage. Frankfurt a. Main 2002, 61, 70 ff. Vgl. E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. Main 1993, 23, 65 ff. J. Habermas, Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den „öffentlichen Vernunftgebrauch“ religiöser und säkulärer Bürger, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. Main 2005, 119–154 (140). J. Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt a. Main 1998. Rawls (Fn. 59), 14.

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Auf dieser ethischen Neutralität des Staates im Prozess der Normenbegründung beruht seine spezifische und nicht substituierbare Fähigkeit, „eine Gesellschaft freier und gleicher Bürger, die durch inkompatible religiöse, philosophische und moralische Lehren getrennt“ sind, in einer konstitutionellen Ordnung stabil zu halten.60 Böckenfördes vielzitiertes Diktum, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne,61 trifft deshalb allererst zu, wenn man es vom Kopf auf die Füße stellt: Zunächst sind es die partikulären religiösen und kulturellen Identitäten, die unter den Gegebenheiten eines auf Dauer gestellten Pluralismus von Voraussetzungen leben, die sie selbst nicht – jedenfalls nicht ohne den freiheitlichen, säkularisierten Staat – garantieren können. Soviel jedenfalls ist richtig am Gründungsmythos der Geburt des säkularen Rechtsstaats aus der Asche der religiösen Bürgerkriege. Diese Funktionslogik der public justification mutet dem religiösen Bewusstsein einiges zu. Von ihm werden die Prinzipien des öffentlichen Vernunftgebrauchs62 insbesondere dann als Problem erlebt, wenn gesellschaftliche Entwicklungen im Lichte der eigenen Überzeugung als gefährlich oder nicht hinnehmbar bewertet werden, die Gründe hierfür sich unter den genannten Bedingungen aber weder allgemein vermitteln noch in das Medium eines für alle zwingenden Rechts umsetzen lassen. Im Bereich der Biopolitik beispielsweise häufen sich diese Fälle; der anhaltende Streit um die Grenzen des erlaubten Schwangerschaftsabbruchs erscheint heute nur als historischer Auftakt der weiter reichenden Auseinandersetzungen über Humangenetik, Klonierung, Stammzellforschung und Eugenik. Angesichts dieser Situation bieten sich dem Vertreter einer „starken“, aber partikularen, etwa religiösen Theorie des bonum commune drei Optionen. Die erste liegt darin, die je eigenen „höheren Wahrheiten“, ungeachtet der Schranken ihrer diskursiven Vermittelbarkeit und möglichen Konsensfähigkeit, einfach weiterhin direkt als Forderungen an die staatliche Gesetzgebung heranzutragen. Dies ist an der Tagesordnung und im politischen Diskursumfeld der Bundesrepublik, in dem das Bewusstsein der weltanschaulichen Neutralität des Staates und der Gebote des öffentlichen Vernunftgebrauchs nicht durchgehend präsent ist, nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dieser Befund trifft verstärkt auf andere europäische Staaten zu, zu denken wäre etwa an Irland oder Polen oder auch an das unter Juristen in Italien kursierende Bonmot, demzufolge das italienische Humangenetik- und Fortpflanzungsgesetz immerhin handwerklich gelungen sei, sei es doch im Vatikan gemacht. Als theoretisches Hilfsmittel für solche Versuche der Aushebelung des Prinzips der public justification bietet sich der kommunitaristische Ansatz an, bestimmte religiöse Traditionsgehalte schlicht zur „kulturellen Identität“ (oder „Lebensform“) des politischen Gemeinwesens zu erklären, die sich als tradierter kognitiver und normativer Hintergrund des Selbstverständnisses der Bürger gleichsam selbsttätig in Rechtsnormen umsetzen

61 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a. Main 1976, 42 ff. (60). Vgl. hierzu auch J. Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats?, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. Main 2005, 106–118, und G. Roellecke (Fn. 50). 62 J. Rawls, The Idea of Public Reason Revisited (1997), in: ders., Collected Papers, ed. S. Freeman, Cambridge 1999, 573–615 (593 f.); ders., Bereich (Fn. 53), 348.

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lasse63 − ein Unternehmen, das allerdings nicht erst an seiner normativen Implausibilität, sondern bereits an seiner theoretischen Inkonsistenz scheitert.64 Als zweiter Weg bietet sich an, zu versuchen, die eigenen, weltanschaulich gebundenen Argumente in eben dem säkularen Vokabular zu reformulieren, das den mit universalistischem Anspruch auftretenden Grundannahmen der Rechtsordnungen liberaler westlicher Gesellschaften zugrunde liegt. Institutionalisierte diskursive Verfahren65 – wie etwa der Nationale Ethikrat – vermögen es offenbar, ihre Teilnehmer weitgehend auf diesen Weg zu verpflichten. Allerdings gehen so nicht selten die spezifischen Gehalte „höherer“ Wahrheiten in der Übersetzung verloren. Dies gilt zumal für theologische Annahmen, deren Inhalte, ihres Gottesbezugs und damit desjenigen argumentativen Mehrwerts entkleidet, der sich nicht auch ohne Bezug auf die jeweilige Glaubenswahrheit als rationales Argument formulieren lässt, sich nicht selten als zu fragil erweisen, um ihre pluralistische Analyse schadlos zu überstehen. Eine reflexive Reaktion hierauf stellt es deshalb drittens dar, wenn einige Vertreter einer spezifisch christlichen Ethik ihre Adressaten nur mehr in der Gemeinschaft der in ihrem Sinn wahrhaft Gläubigen suchen wollen, um durch einen solchen sectarian retreat den Verlust an Spiritualität zu vermeiden, der in der Säkularisierung theologischer Gehalte liegt.66 Insgesamt hält das Konzept der public justification für Versuche einer christlichen Überformung des Rechts also ein erhebliches Frustrationspotential bereit. Dieser Befund führt zu der Frage, wieviel der liberale Rechtsstaat dem religiösen Bewusstsein für die Teilnahme am politischen Prozess abverlangen darf. John Rawls hat hierzu bekanntlich zwei Forderungen aufgestellt. Die erste ergibt sich aus der Funktionslogik des liberalen Rechtsstaats (und eigentlich bereits aus dem Konzept der neuzeitlichen Staatsbegründung seit Hobbes): Das in Bezug genommene religiöse Weltbild muss insoweit ein „vernünftiges“ sein, als es in der Lage ist, sich selbst als Teil einer bleibend pluralistisch verfassten Gesellschaft zu begreifen.67 Gemeint ist der Ausschluss fundamentalistischer Positionen aus dem Bereich des legitimen politischen Diskurses. Dass sich Rawls hierbei vollständig einer Schmittschen Rhetorik von Freund und Feind enthält, sollte über die Radikalität dieser Exklusion nicht hinwegtäuschen. Der Rawlssche Liberalismus führt einen weiten Begriff des religiösen Fundamentalismus mit sich. Unter der Überschrift der „Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs“ formuliert Rawls sodann eine zweite Anforderung an das religiöse Bewusstsein für die Teilnahme am politischen Prozess. Seine Position hat sich diesbezüglich noch in den neunziger Jahren verschoben. Sprach Rawls zunächst von der zentralen Stellung einer „Pflicht zur Bürgerlichkeit“68, von der Pflicht also, sich im politischen Prozess 63 Zu einem jüngeren Versuch vgl. A. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Iden-

tität, Tübingen 2004. 64 Vgl. zur Kritik etwa Th. Gutmann, Keeping ‘em down on the farm after they’ve seen

Paree. Aporien des kommunitaristischen Rechtsbegriffs, ARSP 83 (1997), S. 37–66. 65 Zum Begriff: W. van den Daele, Von moralischer Kommunikation zu Kommunikation über Moral. Reflexive Distanz in diskursiven Verfahren, Zeitschrift für Soziologie 30 (2001), 4–22. 66 Als Beispiel: H. T. Engelhardt, Towards a Christian Bioethics, Christian Bioethics 1 (1995), 1–10 (5). 67 Rawls (Fn. 60), 135. 68 Rawls (Fn. 60), 54.

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ungeachtet der eigenen religiösen Motivation allein auf eine „öffentliche Grundlage der Rechtfertigung“69 zu begeben, so hat er diese Forderung später modifiziert: In der politischen Öffentlichkeit dürften wir solange Gründe aus unseren umfassenden Lehren oder religiösen Weltbildern anführen, als wir in der Lage seien, diese Gründe in gebührender Zeit in einer Sprache zu reformulieren und zu rechtfertigen, die allen Bürgern gleichermaßen zugänglich ist. Rawls nennt dies sein „proviso“, seinen „Vorbehalt“. Diese Verschiebung motiviert sich bei Rawls nicht zuletzt aus der Reflexion der historischen Erfahrung, dass zumal in den USA Modernisierungsschübe im Bereich der Menschen- und Bürgerrechte nicht selten zunächst in religiöser Sprache eingefordert wurden, wie etwa in der Bewegung zur Sklavenbefreiung oder durch Martin Luther King. Auch die letztgenannte „weite Sichtweise des öffentlichen Vernunftgebrauchs“70 fordert dem religiösen Bewusstsein im liberalen Staat indessen einiges an Lern- und Anpassungsleistungen ab, nicht zuletzt die Fähigkeit und Bereitschaft seines Trägers, die eigene moralische oder religiöse Identität von seiner „öffentlichen Identität“ als Teilnehmer am Prozess der gemeinsamen Normsetzung zu scheiden, das je eigene Weltbild in öffentlich Vermittelbares zu übersetzen und dabei nötigenfalls mit zwei Zungen zu sprechen. Jürgen Habermas hat sich den Kritikern dieser Vorstellung insoweit angeschlossen, als auch er einwendet, dass sich religiös verankerte Überzeugungen nicht einfach auf eine andere kognitive Grundlage stellen ließen.71 Der liberale Staat, der mit der Gewährleistung der Religionsfreiheit religiöse Existenzformen ausdrücklich schütze, könne nicht gleichzeitig von allen Gläubigen erwarten, dass sie ihre politischen Stellungnahmen auch unabhängig von ihren auf Existenzvollzug angelegten religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen begründen sollen.72 Er dürfe m.a.W. die gebotene institutionelle Trennung von Religion und Politik bzw. Religion und Recht nicht in eine unzumutbare mentale und psychologische Bürde für seine Bürger verwandeln.73 Habermas ist zumal in einem Gemeinwesen wie der Bundesrepublik recht zu geben, das mit der Glaubensfreiheit auch die äußere Freiheit schützt, seine religiösen Überzeugungen und Entscheidungen öffentlich zu bekennen und zu verbreiten.74 Habermas’ Lösung zielt stattdessen auf eine Trennung zweier Bereiche der politischen Öffentlichkeit. Er setzt auf das Funktionieren eines „institutionellen Übersetzungsvorbehalts“, auf institutionelle Schwellen, welche zwischen einer „wilden“, informellen politischen Öffentlichkeit, in der sich religiöse Forderungen ungehindert artikulieren können, und den Normbegründungs- und Anwendungsdiskursen in Parlamenten, Gerichten und Verwaltungen als „Filter“ fungieren, die „aus dem Stimmengewirr der öffentlichen Kommunikationskreisläufe nur die säkularen Beiträge durchlassen.“75 Die Funktionsfähigkeit solcher Filter ist wenigstens teilweise der empirischen Überprüfung zugänglich. Man könnte eine solche etwa anhand der eigenartigen Hybridkonstruktion der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages vornehmen, und man würde 69 70 71 72 73 74 75

Rawls (Fn. 60), 15. Rawls (Fn. 60), 50 f. Habermas (Fn. 58), 133. Habermas (Fn. 58), 133. Habermas (Fn. 58), 135. BVerfGE 32, 98 (106); 69, 1 (33). Habermas (Fn. 58), 137.

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hierbei zu dem Ergebnis kommen, dass sich in den Berichten der Kommission zwar manches schlechte Argument finden lässt, sich eine spezifisch theologische Ethik aber nur selten ungefiltert Gehör verschaffen kann.76 Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass sich die skizzierte, an Rawls und Habermas exemplifizierte Auseinandersetzung allein darum dreht, wie und an welcher Stelle sich der Prozess der Normengenese am besten gegen religiösen input abschottet. Über die normativen Gründe, die gegen die Legitimität einer christlichen Wiederverzauberung des Rechts sprechen, besteht (nicht nur) zwischen der Rawlsschen und der Habermasschen Spielart des kantischen Republikanismus Konsens. IV. SÄKULARISIERUNGSRESISTENZEN? Es sollte nicht der Eindruck entstehen, im Prozess der Umstellung strafrechtlicher Begründungsmuster auf die Rationalitätserfordernisse des säkularen Rechtsstaats habe sich schon alles zum happy end gefügt. Dem ist nicht so, und einige der gegenwärtig zu beobachtbaren Friktionen sollen zumindest in knapper Form angesprochen werden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf zwei Beispiele aus dem Gebiet des Lebensschutzes und der Biopolitik, weil sich Fragen der Normbegründung an ihnen plastisch studieren lassen. 1. Sterbehilfe und theologische Spätwirkungen Der vorliegende Text hat die These vertreten, dass es gerade die Schwere und symbolische Valenz des Eingriffs durch die strafrechtliche Sanktion ist, der das Strafrecht einem besonderen Legitimationsdruck und damit zugleich einem Zwang zur Säkularisierung seiner Geltungsansprüche ausgesetzt hat. Es lassen sich jedoch durchaus Komplexe benennen, die sich, aus unterschiedlichen Gründen, diesem Rechtfertigungszwang entzogen haben und lange im Halbdunkel bleiben konnten. Der Komplex der Sterbehilfe scheint hierzu zu gehören. Individualrechtsgüter, die durch subjektive Rechte garantiert sind, sind im Allgemeinen durch die Dispositionsfreiheit ihres Trägers gekennzeichnet. Die wohl immer noch überwiegende Meinung, dass das Rechtsgut Leben hierbei eine Ausnahme bilden soll, scheint sich in unausgewiesener Form immer noch aus dem tradierten christlichen Konzept der Heiligkeit und damit individuellen Unverfügbarkeit des Lebens zu speisen, das nicht Eigentum des Einzelnen sein könne, sondern allein Gottes Gebot und Fügung unterliege.77 Eine solche Vermutung lässt sich nur indirekt belegen, nämlich mit Blick auf die mangelnde Überzeugungskraft der Schutzzwecke, die der Norm des § 216 StGB heute unterlegt werden. Diese reichen, wie der Blick in die Kommentarliteratur lehrt, bekanntlich von dem – normativ wie empirisch gleichermaßen haltlosen – Argument der „schiefen Bahn“, der Respekt vor der individuellen Entscheidung über das eigene Leben müsste zur Erosion des Tötungsverbots 76 77

Zu einem Beispiel vgl. Th. Gutmann, Für ein neues Transplantationsgesetz. Eine Bestandsaufnahme des Novellierungsbedarfs im Recht der Transplantationsmedizin, Berlin/New York 2006, Kap. 1.4. Vgl. H. Kuhse, The Sanctity-of-Life Doctrine in Medicine: A Critique, Oxford 1987.

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tout court führen, bis hin zu dem oft begegnenden Topos, das Verbot der Tötung auf Verlangen diene dem „Übereilungsschutz“ (als ob man sterbewilligen und hierbei der Hilfe bedürftigen Schwerstkranken nur eine notarielle Beratung zumuten wollte). Je weniger derlei zu überzeugen vermag, umso mehr gibt dieser Befund Anlass, nichtsäkularisierte theologische Restbestände im Konzept des Lebensschutzes zu vermuten. Hinweise auf ins Stocken geratene Rationalisierungsprozesse lassen sich bisweilen in der Diskursgeschichte finden. Gemeint sind jene Fälle, in denen sich vormals religiös motivierte Normen schon in der Zeit vom 17. bis zum 19. Jahrhundert nicht recht überzeugend auf postreligiöse Begründungen haben umstellen lassen. Bei der Frage der individuellen Disposition über das eigene Leben scheint auch dies der Fall gewesen zu sein. Das lässt sich am Beispiel Kants und Hegels belegen. Beide rekurrieren bekanntlich auf den Gedanken, dass der Einzelne in rechtlicher Sicht nicht über seine zentralen, die Person konstituierenden und insoweit unveräußerlichen Rechtsgüter (z.B. sein Leben und seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung) verfügen könne, weil er sich sonst als Rechtsperson widersprüchlich verhalten würde. In der Rechtslehre thematisiert Kant unter der Überschrift der honestas juridica als Rechtspflicht das Verbot der Selbstentrechtung und Selbstverdinglichung, d.h. der Aufgabe der eigenen Willens- und Handlungsfähigkeit oder des Anspruchs, freie und hierin mit anderen gleiche Rechtsperson zu sein, als subjektive Bedingung der äußeren Freiheitsordnung.78 In der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten leitet er schließlich unter der Überschrift der „Selbstentleibung“ her, dass der Einzelne sich sowohl in moralischer als auch in rechtlicher79 Hinsicht nicht „der Persönlichkeit [...] entäußern“ und „nicht das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten“ dürfe.80 Der zentrale Gedanke dieses Arguments liegt darin, dass das Subjekt, das seine Entpersönlichung rechtlich bestätigt haben wolle, etwas geltend mache, was es zugleich dementiere: das Innehabenkönnen von Rechten. Die Selbstnegation der freien Rechtsperson könne nicht verlangen, rechtliche Anerkennung zu finden. Es handelt sich, nach einem Hinweis Kurt Seelmanns, um ein Argument des venire contra factum proprium. Im gleichen Sinn sind die Ausführungen Hegels in der „Rechtsphilosophie“ zu verstehen, denen zufolge das Recht zu leben unveräußerlich sei, da das Leben ein 78

Vgl. Kant (Fn. 29), Einteilung der Rechtslehre, A, 45: „Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas juridica) besteht darin: im Verhältnis zu Anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ‚Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck’“. Die Interpretation folgt W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, erw. Ausg. Frankfurt a. Main 1993, 218 f. Hegel (Fn. 30), § 36, thematisiert ebendiesen Zusammenhang zwischen der Rechtsordnung und den Anforderungen an die rechtliche Personalität: „Die Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit und macht den Begriff und die selbst abstrakte Grundlage des abstrakten und daher formellen Rechts aus. Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“ 79 Vgl. K. Seelmann, Paternalismus und Solidarität bei der Forschung am Menschen, in: K. Amelung u.a. (Hrsg.), Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie. Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber zum 70. Geburtstag am 10. Mai 2003, Heidelberg 2003, 853–867 (858 f.). 80 I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Werkausgabe, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, Frankfurt am Main 1968, 555; vgl. auch J. G. Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften, Jena 1795, insbes. §§ 150, 154.

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Gut darstelle, das „meine eigenste Person und das allgemeine Wesen meines Selbstbewusstseins ausmacht“, so dass ich „nicht Herr über mein Leben bin, denn die umfassende Totalität der Tätigkeit, das Leben, ist gegen die Persönlichkeit, die selbst diese unmittelbar ist, kein Äußerliches. Spricht man also von einem Recht, das die Person über ihr Leben habe, so ist dies ein Widerspruch, denn es hieße, die Person habe ein Recht über sich. Dieses hat sie aber nicht, denn sie steht nicht über sich und kann sich nicht richten.“81 Auch diese Begründung rekurriert auf die Konsistenz des Rechtsbegriffs, die die unmittelbare Selbstaufhebung jener Persönlichkeit, die das abstrakte Recht voraussetzen muss, nicht zulassen kann. Dieses im Ansatz zwingend scheinende Argument kann in dem Kontext, in dem es von beiden Autoren demonstriert wurde, bei der Frage der Selbsttötung bzw. – avant la lettre – der Tötung auf Verlangen, indessen wenig überzeugen. Auf der Grundlage des kantischen Rechtsbegriffes lässt sich auch das Lebensrecht als Freiheitsrecht und das Rechtsgut „Leben“ als eines begreifen, das zwar gegen Eingriffe des Staates oder Dritter zu schützen ist, zugleich aber der (hinreichend freiwilligen) Disposition seines Trägers unterliegt. Auf dem Boden dieser Prämisse ist es keineswegs widersprüchlich, dass eine Person ihr Lebensrecht nur solange verteidigt wissen bzw. in Anspruch nehmen will, bis sie sich zu sterben entschließt. Die Konsistenz des Rechtsbegriffs würde dann weit eher fordern, dass der frei gewählte Tod als unmittelbare Selbstaufhebung jener Persönlichkeit, die das abstrakte Recht voraussetzt, durch das abstrakte Recht gerade selbst ermöglicht werden muss. Auch wenn man dieser Prämisse nicht folgen will, sondern der Person eine grundsätzliche Pflicht zur Erhaltung ihres biologischen Substrats unterstellt, sind dem Einwand widersprüchlichen Verhaltens des Todeswilligen angesichts der naturgegebenen Endlichkeit und Fragilität des personalen menschlichen Lebens offenbar Grenzen gesetzt. Denn „Subjekt der Sittlichkeit“ bzw. „Persönlichkeit“ zu sein, ist bei Kant und Hegel eine anspruchsvolle Kategorie. Hier wäre zunächst der nüchterne (und an dieser Stelle nicht weiter zu bewertende) Befund ernst zu nehmen, dass nach Kant und den meisten Spielarten des Kantianismus senile Alte, Alzheimerpatienten, schwer geistig behinderte, demente oder gar dauerhaft komatöse Menschen nicht im Vollsinn unter den Personenbegriff subsumiert werden können. Deshalb kann mit Kant einem ernsthaften Todeswunsch einer Person jedenfalls für den Fall oder an der Schwelle eines solchen Zustands nicht entgegengehalten werden, man dürfe „nicht das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten“, wenn dieses Subjekt ohnehin untergeht. Kants Argument erscheint also widersprüchlich. Darüber hinaus wäre zu fragen, ob der Begriff der Rechtsperson in einer immanenten Kritik nicht ohnehin so verstanden werden müsste, dass das Interesse der Person daran, „ihren” Tod sterben zu können und so weit als möglich die Kontrolle über ihre letzte Lebensphase zu bewahren – sich m.a.W. also als Subjekt zu ihrer Körperlichkeit zu verhalten –, als Manifestation der Rechtspersönlichkeit und nicht als deren Negation zu verstehen wäre. In jedem Fall wird man den Kantschen und Hegelschen Versuchen einer Säkularisierung der Lehre von der Heiligkeit des Lebens mit Skepsis begegnen können. Soweit die hier angestellten Überlegungen zu überzeugen vermögen, können sie als Beleg dafür dienen, dass im Arsenal der Strafrechtsphilosophie mit säkularisations81 Hegel (Fn. 30), § 66 mit Anm. Vgl. daneben Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20, hrsg. von D. Henrich, Frankfurt a. Main 1983, 71 ff.

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resistenten Komplexen zu rechnen ist. Bestimmte Argumentationsfiguren scheinen sich nur schwer oder um den Preis von Verwerfungen auf postreligiöse Begründungen umstellen zu lassen. Aber auch zur strafrechtlichen Begründung minimaler Handlungsspielräume des Arztes am Lebensende des Patienten wurde lange – und wird teilweise immer noch – auf theologische Figuren rekurriert. Zu erinnern ist an die traditionell herrschende Ansicht zum Problem der sogenannten indirekten Sterbehilfe, d.h. der Lebensverkürzung infolge starker Medikamentengabe am Ende des Lebens. Ihre Straflosigkeit wurde (und wird) in der Regel damit begründet, dass hier der Tod des Patienten vom Arzt nicht beabsichtigt, sondern nur vorhergesehen und in Kauf genommen werde. Das Argument rekurriert als „schlecht säkularisierte Variante einer jahrhundertealten katholischen Doktrin, der ‚Theorie der Doppelwirkung’“82 auf die entsprechende Unterscheidung in der thomistischen Ethik, ist mit der deutschen Vorsatzdogmatik aber offensichtlich völlig unvereinbar. Solche Befunde eigentümlicher Toleranz gegenüber evidenten Inkonsistenzen in der Begründung können als Hinweisschilder auf Säkularisierungsdefizite der Strafrechtsdogmatik dienen. 2. Humangenetik und theologische Phantomschmerzen Richtet man den Blick auf die bereits begonnene Zukunft, so lässt sich beobachten, dass die Entwicklungen in der Humangenetik begonnen haben, den eingespielten Diskurs über strafrechtliche Schutzgüter gehörig unter Stress zu setzen. Schon die Begründungen des Embryonenschutz- und des Stammzellgesetzes hatten die verfügbaren Begründungsressourcen an die Grenze ihrer Dehnbarkeit gebracht. Manches spricht dafür, dass über die Frage, ob die Konzepte „Menschenwürde“ und „Grundrechtssubjektivität“ auf Embryonen im Vierzellstadium sinnvoll angewendet werden können, ein so vernünftiger Dissens besteht, dass eine Entscheidung hierüber, zumal mit den Mitteln des Strafrechts, dem ethisch neutralen Staat verwehrt ist.83 Eine neue Dimension tritt hinzu, wenn es um das genetische Substrat des humanum selbst geht. Hier sind gerade in der deutschen Rechtswissenschaft intensive theologische Phantomschmerzen aufgetreten. So mehren sich z.B. Versuche, aus dem Würdebegriff unmittelbare Rechtspflichten des Einzelnen gegenüber der menschlichen Spezies abzuleiten84 – ein Argument, das Sinn ergibt, wenn man offen auf eine 82 R. Merkel, Teilnahme am Suizid, Tötung auf Verlangen, Euthanasie. Fragen an die Strafrechtsdogmatik, in: R. Hegselmann/R. Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Euthanasie, Frankfurt a. Main 1992, 71–127 (95). 83 Th. Gutmann, Ethik und Recht der Präimplantationsdiagnostik, in: A. Gethmann-Siefert/S. Huster (Hrsg.), Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, Bad Neuenahr–Ahrweiler 2005, 131–185 (141); vgl. Habermas (Fn. 56), 70. 84 Vgl. etwa J. Isensee, Die alten Grundrechte und die biotechnische Revolution. Verfassungsperspektiven nach der Entschlüsselung des Humangenoms, in: J. Bohnert u. a. (Hrsg.), Verfassung–Philosophie–Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, Berlin 2001, 243–266 (253): Der „Rekurs auf die Würde des Menschen als Abstraktum ohne Bezug auf eine individuelle Person [...] ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Die Würde des Menschen zeigt sich hier nicht unter dem Aspekt der Freiheit, sondern als Pflicht des Menschen, die Würde seines Geschlechts nicht zu mißachten, als Verbot der Selbstentwürdigung des Menschen. [...] Das gesetzliche Gebot, das Erbgut nicht anzutasten und die Kontingenz genetischer Kombinationen hinzunehmen, ist

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göttliche Schöpfungsordnung rekurriert, das außerhalb eines solchen Zusammenhangs aber eigentümlich ortlos erscheint.85 Eine besonders problematische Form nimmt das Argument in dem Versuch an, zugeschriebene Kollektivinteressen der menschlichen Spezies an der Unverfügbarkeit humaner Erbanlagen unter den kategorischen und abwägungsresistenten Schutz des verfassungsrechtlichen Würdesatzes zu stellen. So soll nach Dieter Grimm erwogen werden, angesichts der humangenetischen Herausforderungen den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG „vom einzelnen Menschen auf die Gattung Mensch“ zu erweitern86. Grimm geht hierbei noch über den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, hinaus, der 1985 vor der „individualistischen Verkürzung der Menschenwürde“ gewarnt und gefordert hatte, die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde nicht auf den konkreten einzelnen Menschen zu beschränken, sondern ihr die rechtliche „Aufgabe einer Sicherung der Zukunft der Menschheit“ und der Verhinderung einer Entwicklung zuzuweisen, „die irreparable Manipulationen am Bild des Menschen vornehmen würde“.87 Auch Josef Isensee postuliert nunmehr, die vom Grundgesetz geschützte Würde beziehe sich „auch auf die Menschheit überhaupt, das ‚Menschengeschlecht’“.88 Als Beiträge zur Verfassungsinterpretation – und zudem zur Begründung von Strafnormen – zeichnen sich diese Argumente durch einen eigentümlichen ad-hoc-Charakter aus. Sie unternehmen nicht einmal den Versuch, ihre weitreichende Umdefinition89 des Menschen-

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89

Ausdruck der Achtung, welche die Menschen einander und sich selbst schulden; als sich unverfügbare, einmalige, zu gegenseitiger rechtlicher Anerkennung verpflichtete Geschöpfe. Die Würde des Menschen gebietet prinzipiell die Unantastbarkeit des menschlichen Erbguts.“ Vgl. hierzu Th. Gutmann, ’Gattungsethik’ als Grenze der Verfügung des Menschen über sich selbst?, in: W. van den Daele (Hrsg.), Biopolitik, Wiesbaden 2005, 235–264. D. Grimm, Das Grundgesetz nach 40 Jahren, NJW 1989, 1305–1312 (1310). E. Benda, Erprobungen der Menschenwürde am Beispiel der Humangenetik, Aus Politik und Zeitgeschichte B 3/1985, 18–36 (22, 31 mit Fn. 121). J. Isensee (Fn. 84), 253; vgl. ders., Der grundrechtliche Status des Embryos. Menschenwürde und Recht auf Leben als Determinanten der Gentechnik, in: O. Höffe/L. Honnefelder/J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Gentechnik und Menschenwürde. An den Grenzen von Ethik und Recht, Köln 2002, 37–77 (69): „Aus der Gewähr der Würde des Menschen ergeben sich Direktiven für die künstliche Befruchtung, so die prinzipiellen Verbote, Embryonen zu erzeugen, die [sic] nicht durch den Zweck gerechtfertigt wird, die Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt; menschliche Keimbahnen künstlich zu verändern; Menschen zu klonen; Chimären und Hybriden zu bilden. Hier wird nicht die Würde eines einzelnen Menschen beleidigt, sondern die der Menschheit überhaupt.“ Zu weiteren Nachweisen siehe Dreier−Dreier, Grundgesetz, Band 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 Rn. 116. Das Argument kann sich weder auf den Wortlaut noch auf die Entstehungsgeschichte der Norm berufen, vgl. Dreier (Fn. 88, Rn. 116). Auch die bisherige Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gibt hierfür nichts her. Zwar spricht der 1. Senat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1992 (die sich mit der Indizierung eines Films aus dem „Zombie“-Genre zu befassen hatte) davon, Menschenwürde sei „nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen“ (BVerfGE 87, 209, 228). Das Gericht redete hiermit allerdings nicht einem Kollektivsubjekt von Menschenwürde das Wort, sondern stellte nur klar, dass jedes (jedenfalls jedes geborene) Mitglied der Spezies Menschenwürde im Rechtssinn besitzt, ohne dafür bestimmte weitere Spezifika oder Fähigkeiten aufweisen zu müssen: „Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann“ (ebd.). Vgl. Sachs−Höfling, GG, 2003, Art. 1 Rn. 4, und Maunz et al.−Herdegen, GG, 2003, Art. 1 Abs. 1 GG: Rn. 48.

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würdebegriffs auf seine Vereinbarkeit mit der herkömmlichen verfassungsrechtlichen Funktion des Art. 1 Abs. 1 GG zu überprüfen. Dies täte jedoch not, denn die Gefahr eines solchen Ansatzes liegt nicht nur darin, dass mit ihm anstelle von Menschen Ideologien geschützt werden,90 sondern in seiner destruktiven Rückwirkung auf die primäre Schutzrichtung des Menschenwürdekonzepts. Art. 1 Abs. 1 GG dient im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes in erster Linie dazu, Achtung und Schutz des Individuums gegenüber staatlicher Gewalt und anderen Mitgliedern der Gesellschaft zu vermitteln und dem Einzelnen „in seinem Eigenwert, seiner Eigenständigkeit“ einen nicht antastbaren Freiheitsbereich gegenüber Kollektivinteressen zu garantieren.91 Mit der Erweiterung des Schutzbereichs des Art. 1 Abs. 1 GG „vom einzelnen Menschen auf die Gattung Mensch“ würde der bislang absolut geschützten, strukturell der Verrechnung mit anderen Gütern entzogenen individuellen Menschenwürde ein Kollektivgut gegenübergestellt, das nach seiner Konstruktion dazu geeignet wäre, sich sogar gegen den fundamentalen Achtungsanspruch Einzelner durchzusetzen. Dies müsste die Funktion des Würdeschutzes als tragendes Konstitutionsprinzip der Verfassung zerstören. Soweit man dieser Analyse folgen will, mag auch sie dazu dienen, die Logik des Verdachts zu erhärten, dass eine defiziente rechtliche Argumentation in sensiblen Kontexten der Strafbegründung auf Säkularisierungsdefizite − oder Entsäkularisierungstendenzen − hinweisen kann. Allerdings muss die Kritik an solchen Tendenzen zur Aufnahme metaphysischer Darlehen in der Strafgesetzgebung einräumen, dass ein metaphysisch ausgenüchterter Schutzgüterdiskurs hier noch wenig anzubieten hat. Was gegenwärtig im Bereich der strafrechtlichen Regulierung von Humangenetik und -klonierung als mögliches Schutzgut angeboten wird – die Orientierungskompetenz und die Möglichkeit der kommunikativen Wahrung der Selbstidentität der Bürger, der Schutz des Normengeflechts des Gemeinwesens, die Integrität kultureller Deutungs- und Erfahrungsmuster – ist noch zu wenig konkret, zu ausfüllungsbedürftig und zu fragil, um überzeugen zu können. Was gebraucht wird, ist eine Theorie symbolischer kollektiver Rechtsgüter des säkularen Rechtstaats. Solange diese, trotz Fortschritten in jüngster Zeit,92 in den Anfängen steckenbleibt, wird ihr Platz von Restbeständen theologischer Normenbegründung und deren Wiedergängern bevölkert bleiben. Am Ende bleibt festzuhalten: Der Gedanke, dass sich materielle Normen des Strafrechts an vernünftig begründbaren diesseitigen Schutzzwecken auszurichten haben, steht im Zentrum dessen, was die Säkularisierung des Strafrechts ausmacht. Wenn wir auf diesem Gebiet unsere Probleme nicht zu lösen vermögen, so können wir hierfür die christlichen Ursprünge der westlichen Rechtswissenschaft jedenfalls nicht mehr verantwortlich machen.

90 Vgl. hierzu insbesondere die Analysen U. Neumanns: Die Tyrannei der Würde. Argumentationstheoretische Erwägungen zum Menschenwürdeprinzip, ARSP 84 (1998), 153–166, und ders., Die Menschenwürde als Menschenbürde – oder wie man ein Recht gegen den Berechtigten wendet, in: M. Kettner (Hrsg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt a. Main 2004, 42–62. 91 BVerfGE 30, 1; Herdegen (Fn. 89), Rn. 1; M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, Tübingen 1993, 9, 70 ff., 282 ff.; P. Badura, Generalprävention und die Würde des Menschen, JZ 1964, 337–344 (339 ff.). 92 Vgl. M. Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, Tübingen 2006.

(vakat)

TATJANA HÖRNLE, BOCHUM STRAFRECHTLICHE VERBOTSNORMEN IDENTITÄTEN I. DIE BEGRIFFE „KULTUR“

UND

ZUM

SCHUTZ

VON KULTURELLEN

„KULTURELLE IDENTITÄT“

1. Kultur Rechtswissenschaftler, die sich mit dem Thema „Kultur und Recht“ beschäftigen, pflegen sich meist nicht allzu lange mit dem Begriff der Kultur aufzuhalten, sondern begnügen sich entweder mit der Feststellung, dass sich dessen Bedeutung nicht trennscharf angeben lasse, oder führen einzelne Facetten an, die sie mit dem Begriff verbinden.1 Dem Versuch einer Definition steht die Schwierigkeit entgegen, dass die Bezugnahme auf „Kultur“ sehr unterschiedliche Bedeutungen hat und sich im Laufe der letzten Jahrhunderte deutliche Verschiebungen ausmachen lassen. Die Kulturtheorien der Gegenwart und die sich damit beschäftigenden Kulturwissenschaften bearbeiten ein sehr weites Feld.2 Zur Bestimmung der Relevanz für mein Thema sind im Wege einer groben Strukturierung einige grundlegende Bedeutungsunterschiede zu thematisieren. In Anlehnung an die Analyse Terry Eagletons3 sind drei Konzepte von „Kultur“ zu unterscheiden: a) Die Kultur Ursprünglich wurde mit dem Wort auf einen Gegensatz zur, aber auch ein Wechselspiel mit der Natur verwiesen.4 Im 18. Jahrhundert war die Verwendung als Synonym für Zivilisation im Sinne geistigen und materiellen Fortschritts noch verbreitet, in der Folge hat sich der Begriffsgebrauch jedoch zu einem Antonym verschoben. Der Rekurs auf Kultur erfolgte zu mehrfachen Abgrenzungen, vor allem im Verhältnis zum französischen Begriff der „civilisation“.5 Zivilisiertheit bedeute, so Immanuel Kant, lediglich „gesellschaftliche Artigkeit“ und „äußere Anständigkeit“, während zur Kultur

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S. z.B. P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, 10 ff.; ders., Verfassung als Kultur, JöR 49 (2001), 125, 135 ff.; K. Stern, Kulturelle Werte im deutschen Verfassungsrecht, in: Festschrift für M. Heckel, 1999, 857, 858 ff.; G. Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, 2000, 63; U. Haltern, Europarecht und das Politische, 15; S. Huster, Kultur im Verfassungsstaat, VVDStRL 65 (2006), 53. Einen Überblick gibt der Sammelband Kultur. Theorien der Gegenwart, hrsg. von S. Moebius/D. Quadflieg, 2006. T. Eagleton, Was ist Kultur?, 2001. Eagleton (Fn. 3), 7 ff. Zurückgewiesen werde mit dem Begriff Kultur sowohl ein organischer Determinismus als auch die Autonomie des Geistes, aaO, 11. S. zu diesem Verständnis von Kultur etwa F. Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, 2. Bd., 1924, Stichwort Kultur a.E. S. dazu N. Elias, Der Prozeß der Zivilisation, 1993, 1. Bd., 2 ff.; H. Plessner, Die verspätete Nation, 1974 (Erstveröffentlichung 1935/1959), 73; T. Fliege, Culture? What Culture? Rechtstheorie 29 (1998), 293, 294 f.; K. Veddeler, Rechtstheorie versus Kulturtheorie? Plädoyer für eine aufgeklärte Kulturtheorie des Rechts, Rechtstheorie 29 (1998), 453, 457.

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nicht nur Kunst und Wissenschaft, sondern auch die Idee der Moralität gehörten.6 Andere Abgrenzungen zwischen Kultur und Zivilisation reduzieren Zivilisation auf die „Errungenschaften der Technik und des damit verbundenen Komforts“, während Kultur weit umfassender „Ausdruck und Erfolg des Selbstgestaltungswillens eines Volkes“ sei.7 Der Begriff Kultur wurde im 19. Jahrhundert in den Dienst einer romantischen Kritik am Industriekapitalismus gestellt, die sich bis zur entschiedenen Ablehnung einer als entfremdend empfundenen Moderne steigern sollte.8 Auch im 20. Jahrhundert war ein universalistisch-idealistisches Verständnis von Kultur und Kulturphilosophie9 verbreitet. Zwar wurde nicht grundsätzlich in Frage gestellt, dass die Inhalte von „Kultur“ abhängig vom Standpunkt in Zeit und Raum sind, jedoch wurde der Aspekt der Differenz nicht betont.10 b) Kulturen Im Gegensatz zum ersten Konzept wird kein universalistisches Bild gezeichnet, sondern auf partikulare Lebensformen einer bestimmten Gruppe verwiesen. Zu finden ist eine derartige Herangehensweise im 18. Jahrhundert etwa bei Herder.11 Stärker verbreitet hat sich die Betonung der Relativität dessen, was „Kultur“ bedeutet, unter anderem durch ethnologische Studien vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.12 Das Konzept „der Kulturen“ hat dann seinen Siegeszug in dem Kontext angetreten, der regelmäßig als „Postmoderne“ bezeichnet wird. In der Logik einer Weltsicht, die Differenz betont,13 liegt es, Kultur zu pluralisieren und zu partikularisieren. c) Kultur als Kunst Das dritte mögliche Verständnis von „Kultur“ beruht nicht auf dem Kriterium „Gruppenzugehörigkeit“, sondern ist nach inhaltlichen Kriterien stark eingeengt, nämlich beschränkt auf imaginative Tätigkeiten, das, was man die „schönen“, „bil6 7

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I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Siebter Satz a.E., in: W. Weischedel (Hrsg.), Werke, Bd. XI, 1977, 44. H. Schmidt (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, 21. Aufl. 1978, Stichwort „Kultur“. Ferner O. Spengler, Untergang des Abendlandes, 6. Aufl. 1920, 43 ff., der „Zivilisation“ als ein End- und Verfallsstadium von „Kultur“ einordnete. Eagleton (Fn. 3), 17 ff. S. zur Entstehung des Faches „Kulturphilosophie“ am Beginn des 20. Jahrhunderts W. Perpeet, „Kultur, Kulturphilosophie“, in: J. Ritter/K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, 1976. S. etwa G. Radbruch, Logos, 1911/1912, Bd. II, 200 ff.; K.W. Clauberg/W. Dubislav, Systematisches Wörterbuch der Philosophie, 1923, Stichwort „Kultur“; ferner verfassungsrechtliche Bezugnahmen auf Ideen wie „Kulturstaat“ und „Kulturnation“, s. P. Häberle und K. Stern (Fn. 1), krit. Britz (Fn. 1), 235. Zu den universalistischen Elementen in einer „kollektiven Identität der Deutschen“ B. Giesen, National Identity and Citizenship. The Cases of Germany and France, in: K. Eder/B. Giesen, European Citizenship between National Legacies and Postnational Projects, 2001, 36, 50 ff. J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, II. Teil, 8. Buch, V, 1784–1791, in: M. Bollacher (Hrsg.), Werke, Bd. 6, 1989, 334 f. zum Lob der Differenz. K. E. Müller, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Menschenbilder früher Gesellschaften, 1983, 53 ff., E. Mai, Der Erdteil Afrika, 1953, 96 ff.; H. Thurnwald, Menschen der Südsee. Charaktere und Schicksale, 1937; S. Passarge, Südafrika. Eine Landes-, Volks- und Wirtschaftskunde, Leipzig 1908. G. Deleuze, Differenz und Wiederholung, 1992; J. F. Lyotard, Der Widerstreit, 1989.

Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten

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denden“ und „darstellenden“ Künste nennt. Diese Gleichsetzung von Kultur mit künstlerischen Aktivitäten führt zu einer Ausblendung weiterer Lebensbereiche (etwa religiöse und weltanschauliche Praktiken, alltägliche Lebensführung, wirtschaftliche Betätigung).14 2. Kulturelle Identität Wendet man sich dem zusammengesetzten Begriff „kulturelle Identität“ zu, so könnte dieser grundsätzlich mit jeder der drei Herangehensweisen an „Kultur“ gebildet werden. Eine Beziehung zwischen Identität und einem nicht partikularistisch akzentuierten Kulturverständnis ist möglich, wenn man Kultur mit Kultiviertheit gleichsetzt, also die Bedeutung in einem universalistischen Sinne für die Entfaltung des Einzelnen thematisiert.15 Auch mit dem dritten, engen Verständnis von Kultur könnte „kulturelle Identität“ gekoppelt werden, wenn man die Identität des Künstlers thematisieren möchte. Soll allerdings erörtert werden, welche Rolle „kulturelle Identität“ für strafrechtliche Verbotsnormen spielt, wird schnell deutlich, dass diese Frage zumeist in dem an zweiter Stelle genannten Kontext anzusiedeln ist. Weder die Identität des Künstlers noch die Entwicklung des Einzelnen zu einer kultivierten Persönlichkeit ist Angelegenheit des Strafrechts. Nur wenn man „Kultur“ partikularistisch betrachtet, ist es sinnvoll, über „kulturelle Identitäten“ im Plural zu sprechen und zu untersuchen, inwieweit solche Identitäten mit den Mitteln des Strafrechts geschützt werden dürfen oder sogar geschützt werden sollen.16 Die Nützlichkeit und Zulässigkeit eines Verweises auf „kulturelle Identitäten“ (als Variable zur Erklärung von Verhalten oder Zuständen oder als Kategorie in sozialund politikwissenschaftlichen Debatten) ist umstritten. Kritiker wenden ein, dass dies die Existenz von geschlossenen und statischen Kulturen impliziere, was empirisch nicht haltbar und in den Sozialwissenschaften eine überholte Vorstellung sei.17 Der Einwand einer Vereinfachung wesentlich komplexerer Sachverhalte wird etwa (zu Recht) Samuel P. Huntingtons Buch „Kampf der Kulturen“ und dessen Beschreibung großer Kulturkreise18 entgegengehalten.19 Lutz Niethammer spricht in Bezug auf den verwandten Begriff der „kollektiven Identität“ von einem „Plastikbegriff “ und 14 Eagleton (Fn. 3), 26 ff. 15 So etwa G. Simmel, Der Begriff und die Komödie der Kultur, Logos 1911/1912, Bd. II, 1 ff. 16 Gänzlich unbeachtlich ist allerdings das dritte Bild von Kultur als Kunst nicht – schließlich steht in vielen aktuell umstrittenen Konstellationen „Kultur gegen Kultur“, nämlich Kunst (etwa: eine gezeichnete Karikatur) gegen Achtungsansprüche, die auf eine partikulare Lebenskultur gestützt werden. 17 So H. Bausinger, Kulturelle Identität – Schlagwort und Wirklichkeit, in: K. Barwig/D. Mieth (Hrsg.), Migration und Menschenwürde. Fakten, Analysen und ethische Kriterien, 1987, 83, 86 f., 89 ff.; Fliege (Fn. 5), 296 ff. S. ferner S. Hall, Introduction: Who needs Identity?, in: S. Hall/P. du Gay (Hrsg.), Cultural Identity, 1996, 2 ff. zu Identität „in process“. 18 S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 2002, 210 ff. 19 S. Fliege (Fn. 5), 296 ff.; F. W. Graf, Religiöse Letzthorizonte. Risiko oder Chance für kulturelle Identitäten, Rechtstheorie 29 (1998), 311, 312, 324 ff.; A. Schemann, Konvergenztheorem oder Kulturkreisparadigma? Zur Kritik an Huntingtons Theorie kultureller Differenzierung, Rechtstheorie 29 (1998), 565, 566 ff.; B. Ostendorf, S. P. Huntington: From Creed to Culture, in: Moebius/ Quadflieg (Fn. 2), 115 ff.

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geißelt das Um-Sich-Greifen des „Identitätsjargons“.20 „Kollektive Identität“ sei seit dem Aufkommen dieser Kategorie im frühen 20. Jahrhundert zu einem Substitut für Traditionen geworden und maskiere „postreligiöse Phantomschmerzen“.21 Ähnliche Zusammenhänge könnte man herstellen, um die Beliebtheit von „kultureller Identität“ zu erklären. Derartige Warnungen vor einem unreflektierten Verweis auf „kulturelle Identitäten“ sind zu beherzigen. Für deskriptive Analysen bedeutet dies, Sensibilität für Überschneidungen und Überlappungen zu entwickeln und dafür, dass die Zugehörigkeit zu einer Gruppe weniger eindeutig ist, als es einer naiven Herangehensweise erscheinen mag. Die Forderung, Identitätsbegriffe nicht mehr zu verwenden,22 schießt allerdings über das Ziel hinaus. Unter Zugrundelegung eines hinreichend differenzierten Umgangs mit komplexen Zusammenhängen ist nicht grundsätzlich in Frage zu stellen, dass es Gruppen gibt, für die die Konstitution kultureller Identität beschrieben werden kann.23 Kulturelle Identität setzt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe voraus, die in Differenzierung zu anderen Menschen spezifische Bedeutungsmuster, d.h. Vorgaben für die Erfassung und Interpretation der Welt, und Handlungsanleitungen, d.h. Gebräuche, Werte und Normen anerkennt.24 Kulturen geben dem Einzelnen „Rahmenbedingungen und Werkzeuge für die Ausbildung von Identitäten“.25 Damit sich die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe auf die Identität eines Einzelnen auswirkt, bedarf es einer subjektiven Tatsache, nämlich der tatsächlichen Ausrichtung an und Identifizierung mit Bedeutungsmustern und Verhaltensvorgaben. „Kulturelle Identität“ ist nicht eine objektiv zuordenbare Eigenschaft, sondern setzt voraus, dass nach der subjektiven Selbstkonstruktion eines Menschen kulturelle Identität zu einem Selbstkonzept geworden ist,26 wobei zu beachten ist, dass es sich nur um einen Teilbereich dessen handelt, das insgesamt die Identität eines Einzelnen ausmacht.27 20 L. Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, 2000, 28, 33 ff. S. auch schon G. Schmidt, Identität. Gebrauch und Geschichte eines modernen Begriffs, Muttersprache 86 (1976), 333 ff. 21 Niethammer (Fn. 20), 417 ff., 427 ff., 446 f. 22 So Niethammer (Fn. 20), 625 ff. 23 Bausinger (Fn. 17), 99; ferner Giesen (Fn. 10), 41 ff. zu unterschiedlichen Typen kollektiver Identität, wobei er darauf verweist, dass es auch kollektive Identität mit starken universalistischen Zügen gibt. 24 Einen sehr weiten Kulturbegriff vertritt etwa E.-J. Lampe, Rechtsgut, kultureller Wert und individuelles Bedürfnis, in: Festschrift für H. Welzel, 1974, 151, 153: „Gesamtheit der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und i.e.S. kulturellen Ordnung einer Gesellschaft“. Enger S.P. Huntington, Vorwort, in: ders./L. E. Harrison (Hrsg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschritt prägen, 2000, 7, 9: „Gesamtheit aller Werte, Einstellungen, Glaubensüberzeugungen, Orientierungen und Grundvoraussetzungen, die Menschen in einer Gesellschaft prägen“. Knapper W. Weidenfeld, Die Identität der Deutschen – Fragen, Positionen, Perspektiven, in: ders. (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, 1983, 13, 19: „Summe unseres Orientierungswissens“. 25 I. Katznelson, Über Identität, Rasse und Sozialpolitik in den Vereinigten Staaten, in: K. Michalski (Hrsg.), Identität im Wandel. Castelgandolfo-Gespräche 1995, 1995, 79. Zur Vorstellung von Kultur als „Werkzeugkasten“ A. Swidler, Culture in Action: Symbols and Strategies, American Sociological Review 51 (1986), 273 ff.; H. Bausinger (Fn. 17), 85. 26 S. zum Unterschied von Zugehörigkeit und Identität G. Britz (Fn. 1), 93 ff.; ferner S. P. Huntington (Fn. 24), 54; zur Bedeutung von Identität in der Moderne Ch. Taylor, Ursprünge des neuzeitlichen Selbst, in: Identität im Wandel (Fn. 25), 11 ff. 27 B. Orth/A. Broszkiewicz/A. Schütte, Skalen zur sozialen Identität, Eigengruppen-Favorisierung

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Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten

Für meine Untersuchung hat es sich als sinnvoll erwiesen, zwischen „kultureller Identität“ in einem weiteren Sinn und „kultureller Identität“ im engeren Sinn zu differenzieren. Im engeren Sinn identitätsstiftend wirken nicht alle Bedeutungsmuster und Handlungsanleitungen, die subjektiv als richtig anerkannt und befolgt werden. Vielmehr sind aus dem weiteren Kreis der „kulturellen Identitäten“ diejenigen auszusondern, die für den Kern der Persönlichkeit eines Individuums zentrale Bedeutung haben, die von ihm als wesensbestimmend erlebt werden. Zu erwarten sind derartige intensive Identifikationsprozesse vor allem im Hinblick auf Religionen. Die Besonderheit einer religiös begründeten Identität liegt darin, dass das jeweilige Glaubenssystem als verbindlich erlebt wird und es wegen erwarteter Konsequenzen, die die irdische Existenz transzendieren, eine existentielle Abhängigkeit begründen kann.28 Charakteristisch für eine echte religiöse Bindung ist, dass eine ironische oder auch nur halbironische Distanzierung vom Glaubenssystem nicht möglich ist. Deshalb gewinnt es für die Betroffenen auch eine andere Bedeutung, wenn Dritte religiöse Werte, Normen und Gebräuche in Frage stellen, als dies etwa bei groben Späßen über kulturelle Gepflogenheiten von Schwaben der Fall wäre. Ob derartige Überlegungen letztlich eine überzeugende Begründung für Strafrechtsnormen ergeben, bleibt zu erörtern. An dieser Stelle ist nur darauf hinzuweisen, dass für analytische Zwecke Intensitäten der Identifikation unterschieden werden können. II. KULTUR

ALS

THEMA

IN DER STRAFRECHTSWISSENSCHAFTLICHEN

DISKUSSION

Die Bezugnahme auf „Kultur“ gehörte nicht durchgängig zum Repertoire rechtsphilosophischer und strafrechtswissenschaftlicher Analysen. Es lassen sich vielmehr Epochen ausmachen, in denen dieser Begriff mehr en vogue war als in anderen. Anzuführen sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts Autoren, die von der südwestdeutschen Version des Neukantianismus beeinflusst wurden.29 Die Kombination von „Kultur“ und „Wert“ ist charakteristisch für Autoren, die dem Neukantianismus zuzurechnen sind, etwa wenn Gustav Radbruch Kultur als „der vorbildliche Wertgehalt eines idealen Kultursubjekts“ umschreibt.30 Max Ernst Mayer hat mit seiner Schrift „Rechtsnormen als Kulturnormen“ dem Begriff der Kultur prominente Bedeutung in der Strafrechtswissenschaft verschafft. Sein Verständnis von Kultur reicht schon näher an eine und Ego-Stereotypisierung, Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische Psychologie 17 (1996), 262. 28 Weltanschauungen werden zwar in Art. 4 Abs. 1 GG und in § 166 StGB Religionen gleichgestellt, wobei diese aber in Ermangelung des Glaubens an eine unentrinnbare jenseitige Macht zumeist eine weniger intensive Verbindlichkeit begründen. 29 Heinrich Rickert definierte Kultur als „das wertbehaftete Sein“ in Abgrenzung zur Natur als „wertindifferentes Sein“, H. Rickert, Allgemeine Grundlegung der Philosophie, 1921, 149. Ebenso bereits ders. in: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6. und 7. Aufl. 1926 (1. Aufl. 1899), 17 ff. 30 G. Radbruch, Über den Begriff der Kultur, Logos 1911/1912, 201 f. Zur Prägung Radbruchs durch den Neukantianismus A. Kaufmann, in: ders./W. Hassemer/U. Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, 90 f.; H.-P. Schneider, G. Radbruch, in: Streitbare Juristen, hrsg. von Kritische Justiz, 1988, 295, 296, 300. Zu nennen ist ferner als Autor, der in Anlehnung an Rickert im rechtswissenschaftlichen Kontext die Begriffe „Kultur“ und „Kulturwissenschaft“ verwendet, E. Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, 1928, 73 ff.

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partikularistische Vorstellung heran: Er spricht von der „kulturellen Tradition, die in jedem Volk von Generation zu Generation getragen“ werde und thematisiert an einer Stelle die Zersplitterung der Gemeinschaft in viele Gemeinschaften31 – allerdings ohne in den folgenden Passagen zu untersuchen, welche Probleme für seine These einer Bindung von Rechts- an Kulturnormen daraus erwachsen könnten. Gelegentlich findet sich das Wort „Kultur“ auch in Veröffentlichungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Beschreibung des „Rechts als Kulturerscheinung“ durch Helmut Coing32 stellte (für einen Wissenschaftler mit ausgeprägten rechtshistorischen Interessen nicht verwunderlich) stärker als die zuvor Genannten auf Unterschiede zwischen Rechtsordnungen ab. Die Vorstellung einer das Strafrecht legitimierenden „kulturellen Werteordnung“ wurde etwa von Thomas Würtenberger betont.33 In den Schriften Würtenbergers klingt die Überlegung an, dass das Strafrecht zur Verhinderung von kulturnormwidrigem Verhalten eingesetzt werden sollte – also eine nicht nur deskriptive, sondern Strafe normativ rechtfertigende Bezugnahme auf „Kultur“.34 Insgesamt war der Rekurs auf Kultur aber in der deutschen Diskussion um die Schutzzwecke von Strafnormen nicht besonders nachhaltig. Spätestens seit den siebziger Jahren ist er kaum mehr zu finden.35 Der Einfluss wertphilosophischer Strömungen ist verebbt. Stattdessen hat sich das nüchterne, zweckrationale Konzept durchgesetzt, das mit der Bezeichnung „Rechtsgüterschutz“ zum Allgemeingut geworden ist. Zu diesem heute praktisch durchgängig anerkannten Konzept sei auf Ausführungen Claus Roxins als repräsentativem Vertreter zeitgenössischer Vorstellungen verwiesen. Roxin setzt bei dem Postulat an, dass die Aufgabe des Strafrechts im Schutz von Rechtsgütern liege,36 und definiert einen liberalen Rechtsgutsbegriff, der in erster Linie die Bedeutung von Rechtsgütern für die Freiheitsentfaltung von Individuen betont: Rechtsgüter seien „die Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind“.37 Trotz mancher kritischer Stimmen zur Tauglichkeit des Rechtsgutsbegriffs als kriminalpolitische Argumentationsfigur38 dominiert dieser nach wie 31 M. E. Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 1903, 18 f. Zu Mayer S. Ziemann, M. E. Mayer (1875–1923). Materialien zu einer Biographie, Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 4 (2002/2003), 395. 32 H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1969, 127 ff. 33 T. Würtenberger, Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, 1959, 17, 36. S. auch E. Mezger, Strafrecht, 3. Aufl. 1949, 202 f.; K. Peters, Grundfragen der Strafrechtsreform, 1959, 44. 34 Würtenberger (Fn. 33), 85 f., unter Berufung auf Schelsky zu „kulturnormwidrigem Sexualverhalten“ (Homosexualität). In den Beratungen zur Strafrechtsreform wurde von einzelnen Diskutanten ebenfalls vertreten, dass es Aufgabe des Strafrechts sei, „eindeutig zum Ausdruck zu bringen, dass die abendländische Kultur weiter Bestand habe“, s. Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 1. Bd., 1956, 40. 35 S. zu einer Ausnahme Lampe (Fn. 24), 151 ff. 36 C. Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 1. 37 Roxin (Fn. 36), § 2 Rn. 7 f. 38 S. K. Amelung, Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: R. Hefendehl/A. von Hirsch/W. Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, 155; G. Stratenwerth/L. Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Aufl. 2004, § 2 Rn. 5 ff.; T. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, 11 ff.

Strafrechtliche Verbotsnormen zum Schutz von kulturellen Identitäten

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vor im Schrifttum. Der Grund hierfür dürfte sein, dass er mit dem in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts vorherrschenden Zeitgeist harmoniert. Wer auf Rechtsgüterschutz verweist, will ein modernes Bild des Strafrechts zeichnen. Dazu gehört, dass die Ideenfamilie, zu der „Kultur“ und „Werte“ gehören, aus dem strafrechtswissenschaftlichen Diskurs verschwunden ist. Aus der Sicht der Strafrechtswissenschaftler könnte es deshalb auf den ersten Blick verwundern, dass aus dem Verfassungsrecht vermeldet wird, dass der Kulturbegriff wieder Konjunktur habe.39 Auf den zweiten Blick ist dies weniger erstaunlich. Zum einen ist zu konstatieren, dass ein liberal-individualistisches, an den Interessen von Individuen orientiertes Rechtsgutsverständnis sich nie völlig durchzusetzen vermochte. Es sind im StGB auch nach den Reformen der sechziger und siebziger Jahre einzelne Verbotsnormen erhalten geblieben, die unter der Überschrift „Schutz kultureller Identitäten“ besser zu erklären sind als mit dem beschriebenen Rechtsgutskonzept. Solche „blinden Flecken“ im Auge der zeitgenössischen Strafrechtslehre zu benennen, wird einen Teil der folgenden Ausführungen ausmachen. Zum anderen ist eine Hinwendung zum Thema „kulturelle Identität“ zu erwarten, wenn man das Aufblühen der Diskurse über Identität als Zeitgeistphänomen interpretiert.40 Die Diagnose lautet, dass Identität umso mehr Bedeutung gewinnt, je weniger Identität selbstverständlich ist, weil Menschen in ihrer Umgebung immer weniger Orientierungssicherheit finden.41 Identität ist in einer Formulierung Zygmunt Baumans „the name given to the escape sought from uncertainty“.42 Dies gilt nicht nur für Immigranten als Wanderer zwischen Kulturen, sondern auch für Mehrheitskulturen. Die Begriffe „Identität“ und „kulturelle Identität“ werden vermutlich auch in rechtlichen Abhandlungen vermehrt auftauchen und sich nicht nur im Verfassungsrecht,43 sondern auch in Forderungen nach strafrechtlichen Verboten niederschlagen. Entwicklungen in diese Richtung zeigen sich, wenn die bayerische Staatsregierung einen erneuten Vorstoß für eine Verschärfung des § 166 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen) unternimmt.44 § 166 StGB ist einerseits eine Norm mit langer Tradition, andererseits fügt sich die Argumentation, dass es kulturelle Identitäten zu schützen gelte, in den zeitgenössischen Kontext ein. Im Hinblick darauf, dass ähnliche Begründungen wahrscheinlich noch öfter zu lesen sein werden, lohnt sich die Beschäftigung mit der Frage, wie überzeugend derartige Legitimationsversuche sind.

39 S. kürzlich Huster (Fn. 1), 53. Im verfassungsrechtlichen Schrifttum verweisen auf Kultur Häberle (Fn. 1); Britz (Fn. 1); A. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004; Haltern (Fn. 1), 10 ff.; U. Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005. 40 In älteren Nachschlagewerken wird Identität ausschließlich im Kontext logischer Aussagen thematisiert („die Aussage: Es ist wahr, das x identisch=gleich x ist, heißt Gesetz der Identität“, s. K. W. Clauberg/W. Dubislav, Fn. 10). 41 Weidenfeld (Fn. 24), 19 ff.; Bausinger (Fn. 17), 84. 42 Z. Bauman, From Pilgrim to Tourist – or a Short History of Identity, in: Stuart Hall/Paul du Gay (Fn. 17), 18, 19. 43 G. Britz (Fn. 1), 209 ff. 44 S. zu entsprechenden Plänen im Sommer 2006 z.B. Spiegel online vom 19.6.2006: „Stoiber fordert höhere Strafen für Gotteslästerung“.

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322 III. ERKLÄRUNGSKRAFT

DES

MODELLS „SCHUTZ

KULTURELLER

IDENTITÄTEN“

1. Strafnormen zur Abwehr kulturell unerwünschten Verhaltens Strafrechtsnormen schränken Handlungsfreiheit ein. Versucht man, diese Beschränkungen zu rechtfertigen, wäre für die meisten dieser Normen der Verweis auf kulturelle Gegebenheiten möglich: Dass man Menschen nicht körperlich verletzen oder bestehlen darf, könnte man mit einer „Kultur des gewaltlosen Umgangs“ oder einer „Kultur des Privateigentums“ erklären. Unkomplizierter ist jedoch darzutun, dass jedermann bestimmter physischer und materieller Voraussetzungen bedarf und deshalb Strafnormen (wie auch Grundrechtsnormen) unmittelbar den Interessen geschützter Individuen dienen. Auch für die meisten Normen, die kollektive Belange schützen, lässt sich ein Bezug zu klar umschreibbaren Interessen von Individuen herstellen, als Beispiele seien der Schutz einer stabilen Währung oder der Schutz einer korruptionsfreien Verwaltung genannt.45 Analysiert man die Schutzzwecke, ist aber zu überlegen, ob einzelne Strafnormen zu erklären und möglicherweise sogar zu rechtfertigen sind, die nicht der freien Entfaltung des Einzelnen, der Verwirklichung seiner Grundrechte und dem Funktionieren eines entsprechenden staatlichen Systems dienen. Es gibt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, derartige Verbote, die kulturell unerwünschtes Verhalten unterbinden sollen. „Kulturell unerwünscht“ wird dabei auf die Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft bezogen. a) Verbot der Doppelehe (§ 172 StGB) Das Verbot der Doppelehe kann nicht schlüssig mit dem Schutz von Individualinteressen erklärt werden. Unter Umständen ist dies zwar so, nämlich dann, wenn der erste Ehepartner mit der Zweitehe nicht einverstanden ist oder nicht informiert wurde – dann bedeutet die zweite Heirat, die die Zahl der unterhaltsrechtlich Begünstigten vergrößert, eine Verschlechterung seiner eigenen Lage.46 Ähnliches gilt für den Partner der zweiten Ehe, der nicht wusste, dass bereits eine Ehe besteht.47 Der Straftatbestand ist jedoch nicht auf derartige Sachverhalte ausgerichtet, ansonsten müsste das Merkmal „ohne Wissen oder ohne Wollen des ersten Ehegatten oder ohne Wissen des zweiten Partners“ eingefügt werden. § 172 StGB schützt die Institution der Einehe.48 Das Verbot zielt auch auf Konstellationen, in denen drei (oder mehr) Personen ein-

45 Dazu R. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002. 46 Vgl. auch M. Frommel, in: U. Kindhäuser/U. Neumann/H.-U. Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2005, § 172 Rn. 2: Sicherung der wechselseitigen Rechtsansprüche der Ehegatten. 47 Es ist zwar für alle Beteiligten möglich, einen Antrag auf Aufhebung der Zweitehe zu stellen (§ 1316 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Wenn der erste Partner bzw. die erste Partnerin erst nach einiger Zeit davon Kenntnis erlangt, muss die nach § 1318 BGB erfolgende Rückabwicklung aber auf die Interessen aller Betroffenen, nämlich auch der in einer zweiten Ehe geborenen Kinder und des zweiten Ehepartners Rücksicht nehmen. Die Position des ersten Ehegatten ist deshalb durch das Recht, die Aufhebung der Zweitehe zu verlangen, nicht immer vollständig geschützt. 48 Dazu D. Coester-Waltjen, in: I. Münch/Ph. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2000, Art. 6 Rn. 8.

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verständlich eheliche Verhältnisse begründen möchten, meist wohl in der Variante ein Ehemann – mehrere Ehefrauen.49 Eine Kollision mit individuellen Interessen ist schwierig zu begründen, wenn volljährige Personen erklären, solche Arrangements zu wollen, die vereinzelt auch in modernen Gesellschaften praktiziert und im islamischen Kulturkreis toleriert werden.50 Zu überlegen ist zwar, ob § 172 StGB mit dem „wohlverstandenen Eigeninteresse“ der schwächeren Ehepartner gerechtfertigt werden könnte. Man kann davon ausgehen, dass in Verhältnissen, in denen Mehrehen tatsächlich existieren, zwischen Männern und Frauen im Hinblick auf soziale und ökonomische Spielräume ein deutlicher Unterschied besteht. Die Möglichkeit, von zwei oder mehr Frauen das Einverständnis mit einer Mehrfachehe zu erhalten, wird zumeist nur der Mann haben, der eine Machtstellung ausnutzen kann. Trotzdem wäre es problematisch, darauf zur Rechtfertigung des strafrechtlichen Verbots abzustellen. Der Aspekt „freie Entfaltung des Einzelnen“ muss so bewertet werden, wie dies beim Schutz der Selbstbestimmung im Übrigen gehandhabt wird. Unsere Rechtsordnung basiert auf einem vergleichsweise formalen, d.h. an realen sozialen Verhältnissen desinteressierten Konzept der Autonomie. Die Bewertung, dass keine autonome Entscheidung vorliegt, wird bei Interaktionen Volljähriger nicht von sozialen und ökonomischen Unterschieden zwischen den Beteiligten abhängig gemacht, sondern nur vom Vorliegen handfester Hindernisse wie unmittelbare Nötigung, Geistesschwäche u.ä. Es wäre deshalb inkonsequent, das pauschale Verbot der Doppelehe in § 172 StGB mit dem Schutz der sozial unterlegenen Ehepartner zu begründen. Es ist auch nicht möglich, die Strafnorm mit dem Schutz eines kollektiven Rechtsguts zu erklären. Dafür müsste begründet werden, dass letztlich die freie Entfaltung von Personen tangiert werde, wenn das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems in Gefahr gerate.51 Vergleicht man aber die Folgen, die nach einem Wegfall des Verbots der Mehrehe zu erwarten wären, mit den Konsequenzen einer Abschaffung von Verboten zum Schutz klassischer kollektiver Rechtsgüter, so wird der Unterschied deutlich. Stellt man sich z.B. ein Wirtschaftssystem ohne Tatbestände zur Verhinderung von Geldfälschung oder von Korruption vor, so sind negative Auswirkungen für die Lebensführung des Einzelnen mit hoher Plausibilität auszumalen. Anders wäre es, wenn der Gesetzgeber das strafrechtliche und familienrechtliche Verbot der Mehrehe eliminieren würde. Es ist kaum zu begründen, dass dadurch diejenigen tangiert würden, die für sich selbst die Einehe bevorzugen. Auch wer missbilligt, dass der Nachbar aus dem 1. Stock dort mit zwei Ehefrauen wohnt, kann kaum behaupten, durch derartiges Verhalten persönliche Nachteile zu haben. Anders als die Zulassung von Korruption oder Geldfälschung würde die Zulassung von Mehrehen nicht zu greifbaren schädlichen Folgen für jedermann führen. Zieht man sich dagegen auf den Schutz kultureller Werte und Normen zurück, so ist die Strafnorm in § 172 StGB einfach zu erklären. Man könnte zum einen das ge49 S. zum sehr viel selteneren Vorkommen von Vielmännerei H. Günther, Formen und Urgeschichte der Ehe, 3. Aufl. 1951, 125 ff. 50 S. zu fundamentalistischen mormonischen Gemeinschaften I. Altman/J. Ginat, Polygamous Families in Contemporary Society, 1996; ferner H. Reintjens-Anwari, Seid einander ein Gewand: Die Ehe im Islam nach dem Koran, Una Sancta 50 (1995), 128 ff.; Iman Umm-Yussuf, Die Ehe im Islam, Schriftenreihe des islamischen Zentrums München, 1998, 33 f. 51 S. zu der Rechtsgutsdefinition Roxins oben Text bei Fn. 37.

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legentlich angeführte „abendländische Verständnis“ der Ehe nennen, demzufolge Ehe notwendigerweise mit der Verbindung eines Mannes und einer Frau gleichzusetzen sei.52 Zum anderen ist auf den kulturellen Wert „Gleichberechtigung der Geschlechter“ zu verweisen. Mit dem Ziel „Gleichberechtigung“ geraten Mehrehen aus faktischen Gründen in Konflikt. Die in jeder Beziehung unvermeidbaren Probleme vergrößern sich zwangsläufig, wenn sich nicht nur zwei Personen, sondern drei oder mehr Lebens- und Sexualpartner um Interessenausgleich bemühen müssten. Wegen der im Lebensalltag zu erwartenden Schwierigkeiten einer permanenten Verständigung Gleichberechtigter ist es deshalb sehr wahrscheinlich, dass solche Konstellationen zur Dominanz eines Ehegatten und Unterordnung der anderen (meist wohl: der weiblichen) Partner führen. Es gibt gute Gründe dafür, dass ein an der Gleichheit der Geschlechter orientiertes Gesellschaftssystem die Einehe zum Ehemodell machen sollte, um diesen Werten widersprechende Machtstrukturen einzuschränken. Fraglich ist, ob man in diesem Zusammenhang nicht nur von kulturellen Werten und Normen sprechen kann, sondern auch vom Schutz kultureller Identität. Sozialwissenschaftliche Analysen beziehen sich oft auf die Formung von Identität und deren Funktion bei Minderheiten, vor allem bei eingewanderten Gruppen. Aus dieser Perspektive wird behauptet, dass für die Angehörigen der dominanten Kultur nicht die Notwendigkeit bestehe, eine eigene kulturelle Identität zu bilden.53 Diese Einengung der Betrachtung auf die Verteidigung des Selbstkonzepts sozioökonomisch fragiler oder sonst sich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzender Gruppen greift jedoch zu kurz. Auch wer sich im Rahmen des dominanten kulturellen Kontexts verortet, identifiziert mit der Abgrenzung gegen andere Vorstellungen eine eigene Identität. Dies gilt nicht nur für „abendländisch-christliche“ Vorstellungen, sondern auch für „Gleichberechtigung der Geschlechter“ als kulturellem Wert. § 172 StGB kann deshalb als Norm zum Schutz kultureller Identität eingeordnet werden. b) Störung von Bestattungsfeiern und Störung der Totenruhe (§§ 167a, 168 StGB) Auch die Norm, die es unter Strafe stellt, eine Bestattungsfeier zu stören (§ 167a StGB), ist nicht schlüssig mit dem Schutz von Individualinteressen zu rechtfertigen. Man könnte zwar anführen, dass Personen ein Interesse am ungestörten Fortgang wichtiger Zeremonien haben und demgemäß die Gefühle der Teilnehmer an einer Bestattungsfeier geschützt würden.54 Damit wäre jedoch nicht zu erklären, warum gerade Bestattungsfeiern besonders hervorgehoben werden, nicht aber Hochzeiten, 52 Diese Begründung findet sich teilweise in der verfassungsrechtlichen Lehre, s. P. Mikat/D. Pirson, in: Bonner Kommentar zum GG, 2006, Art. 6 Rn. 12; H. Hofmann, in: B. Schmidt-Bleibtreu/F. Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 10. Aufl. 2004, Art. 6 Rn. 5; Uhle (Fn. 39), 263, 312; s. ferner die Stellungnahme des Bundesministers für Justiz, in: BVerfGE 10, 59, 63. Das Bundesverfassungsgericht spricht schlichter davon, dass Art. 6 Abs. 1 GG „an vorgefundene, überkommene Lebensformen anknüpfe“, s. BVerfGE 10, 59, 63; 31, 58, 69; 62, 323, 330. Toleranter G. Robbers, in: H. von Mangoldt/F. Klein/Ch. Starck, GG-Kommentar, Bd. 1, 5. Auflage 2005, Art. 6 Abs. 1 Rn. 42, der trotz der Unvereinbarkeit mit der „abendländischen Rechtstradition“ auch ausländische Mehrehen dem Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG unterstellen möchte. A.A. Britz (Fn. 1), 130 f.; K.-H. Friauf, NJW 1986, 2595, 2601; offengelassen in BVerwGE 71, 228, 231. 53 Britz (Fn. 1), 103. 54 So rechtfertigen § 167a StGB etwa H. Tröndle/T. Fischer, in: Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Aufl. 2007, § 167a Rn. 1.

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Preisverleihungen und ähnliche feierlich begangene Anlässe von hoher persönlicher Bedeutung. Zutreffend ist dagegen die Deutung, dass das „Brauchtum des Totenkults“ geschützt werde.55 Das strafrechtliche Verbot zeichnet kulturelle Praktiken und eine kulturelle Norm nach, die es gebietet, eine würdige, pietätvolle Bestattung für den Leichnam eines Menschen durchzuführen. Bei der Störung der Totenruhe stellt sich die Lage ähnlich dar, wobei allerdings Strafverbote durchaus mit dem Schutz von Individualinteressen begründet werden könnten. Anzuerkennen ist ein Interesse Lebender, nicht nur für ihre materielle Habe Verfügungen für den Todesfall treffen zu können, die nach ihrem Ableben verbindlich bleiben, sondern auch das spätere Schicksal ihres Körpers zu bestimmen.56 Um ein solches Selbstbestimmungsinteresse gegen die Anliegen anderer zu schützen, die einen Leichnam für eigene Zwecke oder Zwecke der Allgemeinheit (etwa bei Obduktionen) nützen wollen, wäre eine strafrechtliche Norm denkbar. § 168 StGB in seiner geltenden Form ist allerdings auf einen solchen Schutz der Selbstbestimmung nicht zugeschnitten.57 Deutlich wird die kulturelle Prägung des strafrechtlichen Verbots insbesondere an den Tatbestandsmerkmalen „Verübung beschimpfenden Unfugs am Körper eines verstorbenen Menschen“58 und „Verübung beschimpfenden Unfugs an Aufbahrungs-, Beisetzungs- und Totengedenkstätten“. Wie bei der Störung von Bestattungsfeiern geht es um kulturell tief verankerte Gebote zum Umgang mit Toten. Obwohl dies unschwer zu erkennen ist, wird das Thema „Kultur“ in diesem Kontext wenig thematisiert. Das gebräuchliche Schlagwort, das auch zum Beispiel der Bundesgerichtshof im Fall des so genannten „Rothenburger Kannibalen“ verwandt hat, ist: „Schutz des Pietätsgefühls der Allgemeinheit“.59 Ein solches „Pietätsgefühl der Allgemeinheit“ basiert auf geteilten, kulturell übermittelten Vorstellungen über den notwendigen Respekt, der einem menschlichen Leichnam geschuldet sei. Ohne derartige Kulturnormen würden negative Gefühle in der Bevölkerung nicht entstehen. 2. Strafnormen zum Schutz kultureller Identität i.e.S. Die vorstehenden Erklärungen nahmen auf kulturelle Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft Bezug. Davon zu unterscheiden sind Verbote, die vorwiegend dem Schutz von Angehörigkeiten kultureller Minderheiten dienen, und zwar dem Schutz davor, in ihrer kulturellen Identität angegriffen zu werden. Diese werden als „Strafnormen zum Schutz von kultureller Identität i.e.S.“ untersucht.

55 H. Rüping, Der Schutz der Pietät, GA 1977, 299, 302. 56 Zu postmortalen Rechten Hörnle (Fn. 38), 157 ff. 57 Der Tatbestand setzt einerseits nicht voraus, dass der Verstorbene eine verbindliche Anordnung zum Umgang mit seinem Körper getroffen hat. Geschützt wird nicht sein Wille. Andererseits wird die Strafbarkeit auf den Entzug der Leiche aus dem Gewahrsam eines Berechtigten beschränkt, so dass mangels anderweitigen Gewahrsams z.B. die Obduktion gegen den erklärten Willen des Verstorbenen nicht unter Strafe steht, wenn der Gewahrsam an der Leiche beim Träger des Krankenhauses lag, in dem die Obduktion durchgeführt wird. S. zur inadäquaten Tatbestandsfassung von § 168 StGB Hörnle (Fn. 38), 370 ff. 58 Oder einer toten Leibesfrucht oder der Asche eines Verstorbenen, s. § 168 StGB. 59 So BGHSt. 50, 80, 89 ff.

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a) Beschimpfung von Bekenntnissen (§ 166 StGB) Über den Straftatbestand, der die Überschrift „Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen“ trägt, wird wenig unter der Überschrift „kulturelle Konflikte“ debattiert. Im strafrechtlichen Schrifttum hat sich stattdessen der Verweis auf den „öffentlichen Frieden“ etabliert.60 Die Beliebtheit dieses Arguments liegt wahrscheinlich darin begründet, dass sich der „öffentliche Friede“ nahtlos in die Reihe anerkannter kollektiver Rechtsgüter einzufügen scheint. So wie zum Schutz kollektiv geteilter Interessen etwa das Währungswesen gegen Geldfälscher geschützt werden muss, so, könnte man fortführen, müsse auch der „öffentliche Friede“ vor Störern geschützt werden. Dieser Rückzug auf Interessen, die wir alle teilen, dürfte ein wesentlicher Grund sein, warum die Rechtfertigung mit „Schutz des öffentlichen Friedens“ weit verbreitet Anerkennung findet. Danach ist es nicht erforderlich, die Diskussion über eine postmoderne, d.h. in Differenzen zersplitterte Gesellschaft im Strafrecht aufzunehmen. Kritisches Nachfragen zeigt allerdings, dass es sich beim „öffentlichen Frieden“ um ein konturenloses und vages Konzept handelt.61 Eine entscheidende, aber ungeklärte Frage wäre, wann eine Störung vorliegt: erst dann, wenn sich eine Gruppe aus der Bevölkerung wegen einer vorangegangenen Bekenntnisbeschimpfung aggressiv verhält, Sachen zerstört oder sogar Personen attackiert? Oder ist der Friede schon gestört, wenn das „tolerante Zusammenleben“ gestört ist, auch wenn dies nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führt? Beide Ansätze werfen gravierende Probleme auf. Wenn es um den Schutz vor Gewalttaten geht, ist die entscheidende Frage, warum sich ausgerechnet diejenigen auf eine strafrechtliche Schutznorm berufen können sollen, die selbst in aggressiver Weise reagieren. Gliedert man die Konstellation auf in verbal Beschimpfende, empört und gewalttätig Reagierende und eine passiv bleibende Allgemeinheit (die aber oft ebenfalls durch Gewalt geschädigt wird), so werden nach der Figur „Schutz des öffentlichen Friedens durch § 166 StGB“ die ursprünglichen Beschimpfer bestraft. Dabei wird vernachlässigt, dass die eigentliche Störung nicht von ihnen bewirkt wurde, sondern von denjenigen, die mit Aggressionen reagieren. Die Allgemeinheit vor Gefahren zu bewahren, die von einem wütenden Mob ausgehen, kann keine Rechtfertigung für § 166 StGB sein. Andere Tatbestände mit den Überschriften „schwerer Hausfriedensbruch“ und „Landfriedensbruch“ (§§ 124, 125 StGB) haben diese Funktion. Es mag zwar faktisch effektiver sein, die Formierung gewalttätiger Gruppierungen schon im Vorfeld zu verhindern, indem es verboten wird, einen „Stein des Anstoßes“ zu liefern, der bei Angehörigen einer Minderheit Wut erzeugt. Davon zu trennen ist aber die Frage der Zurechnung: Nach dem Eigenverantwortungsprinzip62 sind Gefahren und Schäden grundsätzlich demjenigen zuzurechnen, der diese durch eigene Handlungen unmittelbar verursacht. Die 60 Tröndle/Fischer (Fn. 54), § 166 Rn. 2; F. Herzog, in: Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2005, § 166 Rn. 1; K. Kühl, Strafgesetzbuch Kommentar, 26. Aufl. 2007, § 166 Rn. 1; E. Hilgendorf, Religion, Recht und Staat. Zur Notwendigkeit einer Zähmung der Religionen durch das Recht, in: E. Hilgendorf (Hrsg.), Wissenschaft, Religion und Recht. Hans Albert zum 85. Geburtstag, 2006, 359, 366. 61 T. Fischer, Die Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören, NStZ 1988, 159, 162; F. Streng, Das Unrecht der Volksverhetzung, Festschrift für K. Lackner, 1987, 501, 509 f.; W. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, 2000, 269 ff.; Hefendehl (Fn. 45), 37, 286 ff.; Hörnle (Fn. 38), 90 ff. 62 Dazu Wohlers (Fn. 61), 328 ff.

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Zurechnung an andere Personen ist als Ausnahme begründungsbedürftig. Zwar ist es bei einer zielgerichteten Provokation gewalttätiger Unruhen zu legitimieren, Gefahren und Folgeschäden dem Provokateur zuzurechnen. Derartige Konstellationen werden aber schon vom Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 1 StGB) erfasst. Jenseits der aufhetzenden Aktivitäten, die unter § 130 Abs. 1 und 2 StGB fallen, ist es nicht zu rechtfertigen, diejenigen zu bestrafen, die nicht selbst zu Gewalttätigkeiten ansetzen. Es bliebe die zweite Variante, nämlich dass es um den „Schutz eines toleranten Zusammenlebens“ jenseits von gewalttätigen Reaktionen der Beschimpften gehe. Auch insoweit könnte ein allgemeines Interesse bestehen: Das Leben in einer friedlichen und harmonischen Umgebung ist für alle angenehmer, auch für diejenigen, die nicht selbst Angehörige eines beschimpften Bekenntnisses sind. Aber es bleiben offene Fragen. Wie viel Frieden und Harmonie darf in einer Gesellschaft erwartet werden, wenn das Paradigma einer einheitlichen Kultur dem Paradigma der Differenz von Kulturen gewichen ist? Das Stichwort „tolerantes Zusammenleben“ ergibt kein handhabbares Rechtsgut, wenn man die Perspektive der Allgemeinheit zugrunde legt. Insbesondere bliebe offen, warum Polemik in gesellschaftlichen und politischen Fragen zulässig ist, im Bereich des Religiösen aber untersagt wird. Zu überzeugenderen Thesen kann man nur gelangen, wenn man die Sichtweise der Allgemeinheit verlässt und damit die Argumentationsfigur des „öffentlichen Friedens“. „Kulturelle Identitäten“ könnte das Stichwort sein, das es erlaubt, auf die individuelle Sicht der sich von einer Religionsbeschimpfung betroffen Fühlenden abzustellen. Hier ist die Unterscheidung zwischen kultureller Identität im weiteren Sinn und kultureller Identität im engeren Sinn wieder aufzunehmen. Handlungen nach § 166 StGB könnten deshalb von besonderer Bedeutung sein, weil sie kulturelle Identität im engeren Sinn angreifen. Versetzt man sich in die Lebenswelt eines genuin religiösen Menschen, so ist nachvollziehbar, dass eine Bekenntnisbeschimpfung als Angriff auf den Kernbereich der Persönlichkeit erlebt werden kann. Damit soll nicht gesagt werden, dass religiös begründete Unruhen stets in diese Kategorie fallen – der gruppenpsychologisch und gruppensoziologisch zu untersuchenden Frage, wie und warum sich Hassgefühle um Feindbilder kristallisieren, kann hier nicht nachgegangen werden. Man wird aber unterstellen können, dass es neben nur religiös verbrämten, in Wahrheit aus anderen Quellen gespeisten aggressiven Reaktionen tatsächlich Konstellationen gibt, in denen eine Bekenntnisbeschimpfung von Angehörigen des Bekenntnisses als schwerwiegender Angriff auf ihre kulturelle Identität eingestuft wird.63 b) Störung der Religionsausübung (§ 167 StGB) Ähnliche Erwägungen gelten für den Tatbestand, der die Religionsausübung schützt, § 167 StGB. Insoweit geht es nicht um den Schutz vor verbalen Angriffen, sondern um den Schutz von äußeren Bedingungen, die für religiöse Betätigung (Vornahme eines Gottesdienstes oder einer gottesdienstlichen Handlung) erforderlich sind. Auch

63 S. zu dieser Argumentation M. Worms, Die Bekenntnisbeschimpfung im Sinne des § 166 StGB und die Lehre vom Rechtsgut, 1984, 142; ähnlich argumentieren Britz (Fn. 1), 266 ff. und M. Pawlik, in: Festschrift für W. Küper, 2007, 411, 421 ff.

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diese Strafnorm ist am überzeugendsten als Norm zum Schutz der religiösen Identität der Religionsanhänger zu erklären. 3. Zwischenergebnis Es ist festzuhalten, dass der Rekurs auf „kulturelle Identitäten“ bei der Analyse des geltenden deutschen Strafrechts für einige Tatbestände interessante Perspektiven eröffnet, etwa wenn es darum geht, das Verbot der Doppelehe (§ 172 StGB) und das Verbot der Störung von Bestattungsfeiern und der Totenruhe (§§ 167a und 168 StGB) zu erklären. Diese dienen der Abwehr kulturell unerwünschten Verhaltens. Die Analyse war nicht abschließend, es gibt weitere Strafnormen, für die dieser Erklärungsansatz herangezogen werden kann, etwa für das Verbot medialer Gewaltdarstellungen in § 131 StGB und das Verbot von Tierpornographie in § 184a StGB. Außerdem könnte der Topos „Schutz kultureller Identitäten“ eingeführt werden, wenn es gilt, Strafverbote wie die in § 166 und § 167 StGB zu legitimieren. Wenn kulturelle Identität i.e.S. im Vordergrund steht, wird der Tatbestand unter die Überschrift „Schutz von Individualinteressen“ gestellt, d.h. es geht um den Schutz derjenigen, die sich sehr stark mit einer Religion identifizieren. Ob derartige Argumente überzeugen, wird im folgenden Teil zu untersuchen sein. IV. SOLLEN

KULTURELLE

IDENTITÄTEN

DURCH STRAFRECHTLICHE

VERBOTSNORMEN

GESCHÜTZT WERDEN?

1. Abwehr kulturell unerwünschten Verhaltens a) Zu untersuchen ist, ob strafrechtliche Verbotsnormen damit gerechtfertigt werden können, dass diese kulturell unerwünschtes Verhalten unterbinden und damit Identität in einem weiteren Sinn bekräftigen sollen. Auf der deskriptiven Ebene ist es, wie ausgeführt, möglich, das Konzept „kulturelle Identität“ auch auf diejenigen anzuwenden, die sich der Mehrheitskultur verbunden fühlen. Aus einer normativen Perspektive folgt daraus jedoch nicht, dass eine so umschriebene Identität mit Verbotsnormen im Allgemeinen und strafrechtlichen Verboten im Besonderen geschützt werden darf. Der Verweis auf „kulturelle Identität“ macht, wenn man ihn für die Angehörigen der Mehrheitskultur verwendet, insbesondere nicht deutlich, dass es sich um ein altbekanntes Thema handelt. Hinter einer solchen Identität stehen kulturelle Normen, und diese sind nichts anderes als mehrheitlich anerkannte Moralvorstellungen.64 Die Diskussion mündet in eine vertraute Debatte, nämlich die nach dem Verhältnis von Sitte und Moral einerseits (verstanden als die in der Mehrheitskultur tatsächlich bestehenden Verhaltensanforderungen)65, Recht andererseits.66 Diese Debatte soll hier nur knapp nachgezeichnet werden, da der Begriff „kulturelle Identität“ lediglich

64 K. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, 158. 65 S. D. von der Pfordten, Rechtsethik, 2001, 55. 66 Vgl. Veddeler (Fn. 5), 458 f.

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als modischere Neuformulierung fungieren würde, wobei hinter einer solchermaßen renovierten Fassade bekannte Argumente stehen. Können Moralanschauungen und Sitten Rechtfertigung für eine Verbotsnorm sein? Für bloße Sitten (Gepflogenheiten, die nicht durch moralische Normen abgestützt werden) fällt die Antwort leicht. Aus kulturell überlieferten Gebräuchen, die nicht als verbindliche Verhaltensanforderungen begründet werden, kann kein normativer Anspruch abgeleitet werden. Anders könnte es sich mit moralischen Normen verhalten, da diese mit dem Anspruch verbunden sind, dass es jenseits reiner Gewohnheit Gründe für die Normbeachtung gibt. Ob der Verstoß gegen moralische Normen ausreicht, um eine Rechtsnorm und daraus sich ergebende Eingriffe in die Handlungsfreiheit zu legitimieren, ist bekanntlich hoch umstritten. Das geltende Recht enthält entsprechende Anknüpfungspunkte (etwa in den „öffentliche Ordnung“-Klauseln im Polizeirecht oder § 118 OWiG – Belästigung der Allgemeinheit –) und die Gerichte erheben auf dieser Basis keine Einwände gegen moralisch legitimierte Verbote.67 Dass dies auch dann ohne weiteres überzeugt, wenn man sich vom positiven Recht löst, ist allerdings in Frage zu stellen. Man müsste nämlich vorbringen können, dass Rechtsnormen und kulturell begründete Normen in zweifacher Richtung voneinander abhängig seien: einerseits dürften erstere zu letzteren nicht in Widerspruch stehen, andererseits müssten Kulturnormen auch durch rechtliche Verbote verteidigt werden. Von diesen beiden Aussagen kann jedoch nur die erste relativ einfach verteidigt werden: Eine Verbotsnorm, die in offensichtlichem Widerspruch zu anerkannten moralischen Normen stehen würde, würde die Normbefolgungsbereitschaft nicht nur für diese Rechtsvorschrift, sondern auch in weiterem Umfang schwächen. Umgekehrt ist nicht zu begründen, dass sich die Legitimität einer Rechtsnorm aus der Existenz einer konventionellen moralischen Norm ergibt. In der Strafrechtswissenschaft ist es ein heute universal anerkanntes Paradigma, dass strafrechtliche Verbote nicht zur Verhinderung bloßer Moralwidrigkeiten eingesetzt werden dürfen.68 Eine in der Mehrheitskultur festzustellende Verbreitung vermag noch keine genuine ethische Begründung zu liefern.69 Zu erwägen ist allerdings, ob moralische Normen anders zu beurteilen sind, die eine Stütze in Grundrechten finden. Insoweit könnte auf eine besondere normative Verankerung verwiesen werden, die sich daraus ergibt, dass ein Kernbestand an Verhaltensanforderungen in zentralen Grundrechtsnormen abgesichert wird. Diese Aussage beruht auf der Prämisse, dass die Festlegung von Grundrechten in der Verfassung nicht nur in der Hierarchie von Rechtsnormen bedeutsam ist, sondern die damit geschaffene Werteordnung auch für die ethische Beurteilung konventioneller moralischer Normen herangezogen werden kann. Eine solche Rückwirkung rechtlicher Bestimmungen auf ethische Rechtfertigungen mag auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen. Zum einen könnte nachgefragt werden, warum überhaupt ein Umweg über moralische Normen gemacht werden sollte, wenn eine Verbotsnorm schon mit Grundrechten, also den Rechten von Individuen, gerechtfertigt werden könnte. Aber 67

S. VGH Mannheim, NJW 2003, 234 f.; OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2000, 309. Krit. zu den „öffentliche Ordnung“-Klauseln im Polizeirecht R. Störmer, Renaissance der öffentlichen Ordnung, DV 1997, 233 ff.; B. Pieroth/B. Schlink/M. Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 3. Aufl. 2004, Rn. 50; V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 15. Aufl. 2001, Rn. 123. 68 Statt vieler Roxin (Fn. 36), § 2 Rn. 17 ff. 69 von der Pfordten (Fn. 65), 82, 87.

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in den einschlägigen Konstellationen ist die Ausgangslage vielfach so, dass keine konkreten Individuen benannt werden könnten, deren individuelle Grundrechte durch das fragliche Verhalten verletzt würden. Vielmehr könnte man nur argumentieren, dass das zu verbietende Verhalten mit objektiven Wertvorstellungen kollidiert, die Grundrechten zu entnehmen sind. Zum anderen bleibt die Frage, warum eine Rechtfertigung ausgerechnet in verfassungsrechtlichen Vorgaben gefunden werden könnte. Von einem rechtspositivistischen Ansatz ausgehend, leuchtet es zwar unmittelbar ein, dass eine im Grundgesetz zu findende objektive Wertordnung auch dann Verbotsnormen zu tragen vermag, wenn es keine individuell in Grundrechten verletzten Personen gibt. Schwieriger ist diese Vorgehensweise gegenüber denjenigen zu begründen, die davon ausgehen, dass selbstständige rechtsethische Begründungen auch im Verhältnis zu den höchstrangigen Rechtsnormen erforderlich sind. Für bestimmte zentrale Grundrechte kann eine solche rechtsethische Begründung jedoch verkürzt werden, wobei mit „zentralen Grundrechten“ diejenigen gemeint sind, die die Geltung folgender Vorstellungen durchsetzen: Menschenwürde, Autonomie/ Handlungsfreiheit, körperliche Integrität, Gleichbehandlung, insbesondere Gleichstellung der Geschlechter. Die grundsätzliche Debatte, ob und wie insoweit universale Geltungsansprüche begründet werden können,70 kann hier nicht aufgenommen werden. Statt dessen darf gegenüber der hiesigen Leserschaft unterstellt werden, dass eine Kollision bestimmter Verhaltensweisen mit den soeben genannten Werten nicht nur aus verfassungsrechtlich-positivistischer Sicht, sondern auch aus rechtsethischer Sicht genügt, um eine Verbotsnorm zu legitimieren. b) Für die oben erwähnten Beispielsfälle bedeutet dies: Rechtliche Bestimmungen, die Mehrehen ausschließen, sind zur Abwehr kulturell unerwünschten Verhaltens legitim – dies ist aber nicht mit dem Argument „abendländische Tradition“ zu begründen, weil traditionsgebundene Verhaltensvorgaben als solche keine hinreichende Rechtfertigung ergeben. Es ist vielmehr darzutun, dass es ohne das Verbot zu Kollisionen mit dem Art. 3 Abs. 2 GG zu entnehmenden Prinzip der Gleichberechtigung kommen würde. Individuelle Grundrechte auf Gleichbehandlung sind zwar, wie oben dargelegt, nicht betroffen, aber es besteht die Gefahr, dass sich soziale Verhältnisse ausbilden, die dem Wert der Gleichberechtigung als objektivem Verfassungswert zuwider laufen. Theoretisch wäre es zwar vorstellbar, dass sich Mehrehen etablieren, in denen die internen Machtbeziehungen nicht systematisch Frauen benachteiligen. Aus den angesprochenen faktischen Gründen wäre aber in der Realität bei einer Zulassung von Mehrehen eine Zementierung und Förderung von sozialen Verhältnissen wahrscheinlich, in denen Frauen nicht als gleichberechtigte Partner auftreten. Das

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S. zu dieser Debatte P. Koller, Menschen- und Bürgerrechte in ethischer Perspektive, in: S. Byrd/ J. Hruschka/J. C. Joerden (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik, 1995, 49, 53 ff.; H. Bielefeldt, Menschenrechte – universaler Normkonsens oder eurozentrischer Kulturimperialismus?, in: M. Brocker/H. Heinrich (Hrsg.), Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, 1997, 256 ff.; A. Etzioni, The End of Cross-Cultural Relativism, Alternatives 22 (1997), 177 ff.; O. Höffe, Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, 1999, 49 ff.; U. K. Preuß, Der politische Charakter der Menschenrechte, EuGRZ 2004, 611 ff.; Di Fabio (Fn. 39), 238 ff.; W. Becker, Über das „Paradox der Menschenrechte“ und wie es sich vermeiden ließe, in: Wissenschaft, Religion und Recht (Fn. 60), 263 ff.

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Verbot von Mehrehen ist deshalb wegen eines ansonsten zu erwartenden Verstoßes gegen grundrechtlich verankerte kulturelle Normen zu rechtfertigen.71 Für Straftatbestände, die ungestörte Bestattungen und den Schutz der Totenruhe gewährleisten sollen, gilt es ebenfalls, Grenzen zu ziehen zwischen nur konventionell moralwidrigem Verhalten und solchen Verstößen, die außerdem in zentralen Grundrechten verkörperten Normen zuwider laufen. Für letzteres kommt es darauf an, ob das beschriebene Verhalten mit dem Gebot, die Menschenwürde zu achten (Art. 1 Abs. 1 GG), kollidiert. Ob ein bestimmter Umgang mit der Leiche entweder ein postmortales Recht des Toten, seine überlebende Menschenwürde, oder jedenfalls den Grundsatz der Achtung von Menschenwürde als Teil der objektiven Werteordnung missachtet, ist nicht einfach zu bestimmen. Die Frage zu klären, unter welchen Umständen menschenwürdewidriges Verhalten zu bejahen ist, würde eine eigene Abhandlung erfordern.72 Es muss deshalb an dieser Stelle genügen, darauf hinzuweisen, dass die Missachtung des Toten eine gravierende sein muss und nicht alles, was umgangssprachlich als „unwürdig“ bezeichnet wird, mit der Menschenwürde kollidiert – vieles gehört nur in den Bereich des konventionell moralwidrigen Verhaltens. Wer sich z.B. bei Beerdigungen (§ 167a StGB) oder an Totengedenkstätten (§ 168 Abs. 2 StGB) ungebührlich benimmt, verstößt damit gegen kulturell vorgeschriebene Normen, ohne dass dies den in Art. 1 Abs. 1 GG verkörperten, deutlich engeren Vorgaben widerspricht. Bei der Rechtfertigung strafrechtlicher Verbote im Umgang mit Toten ist allerdings noch eine Besonderheit zu erwähnen: Die entsprechenden moralischen Normen sind interkulturell verbreitet. Insoweit führt der Verweis auf eine „Abwehr kulturell unerwünschten Verhaltens“ nicht zum Schutz einer Mehrheitskultur, von der sich die Vorstellungen einer Minderheit abheben. Überlegungen zu kultureller Identität heben typischerweise den Aspekt „Abgrenzung und Ausgrenzung anderer“ hervor: von der Fragmentierung des Kulturbegriffs in postmodernen Gesellschaften73 bis zu dem Redewendung gewordenen Verweis auf den „Kampf der Kulturen“.74 Nicht zutreffend wäre allerdings die Annahme, dass das Thema „kulturelle Identität“ zwangsläufig zum Plural „Identitäten“ und damit zu einer Quelle von Konflikten führen muss.75 Wie am Beispiel der Störung der Totenruhe zu zeigen ist, gibt es kulturelle Normen, die sehr weitgehend anerkannt sind. Die Entsorgung menschlicher Leichname in Müllverbrennungsanlagen würde in keinem Kulturkreis gebilligt. Das gerne zitierte „Pietätsgefühl der Allgemeinheit“ fällt einheitlicher aus als Vorstellungen zur Gestaltung von Ehen. Wegen des größeren Bereichs kulturellen Konsens könnte erwogen werden, entsprechende Strafrechtsnormen auch insoweit für legitim zu erachten, als sie nur konventionelle Anschauungen schützen. Aber diese Überlegung trägt letztlich nicht. 71

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Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass zivilrechtliche Verbote auch strafrechtlich abgesichert werden müssen. Wegen der besonderen Bedeutung strafrechtlicher Urteile sind die Anforderungen an die Begründung höher. Im Ergebnis hängt die Rechtfertigung eines strafrechtlichen Verbots von Mehrehen u.a. davon ab, wie effektiv mit anderen Mitteln (etwa der Eheaufhebung von Amts wegen) derartige Formen des Zusammenlebens verhindert werden können. S. dazu Hörnle (Fn. 38), 370 ff. S. zu kultureller Identität als Abgrenzung Uhle (Fn. 39), 8. S. den Titel des Buches von Huntington (Fn. 18). Davon geht Huntington (Fn. 18), 200 ff. aus. Krit. U. Druwe, Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Eine kritische Analyse aus politiktheoretischer Sicht, Rechtstheorie 29 (1998), 269, 281 f.

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Strafrechtliche Verbote müssen nicht in erster Linie im Verhältnis Mehrheitskultur – Minderheiten gerechtfertigt werden, sondern gegenüber dem Einzelnen, der sich nicht an die Norm gehalten hat. In diesem Verhältnis Individuum – Staat kommt es auf die allgemeinen Überlegungen dazu an, ob der Verweis auf konventionelle Moralnormen als Rechtfertigung das Verbot trägt, was – wie oben dargelegt – nicht der Fall ist. 2. Schutz kultureller Identität i.e.S. Eine andere Beurteilung könnte möglicherweise für Strafnormen angebracht sein, die dem Schutz kultureller Identität im engeren Sinn dienen. Wer dies befürwortet, müsste etwa folgendermaßen argumentieren: Während der Schutz kultureller Identität in einem weiten Sinn auf den Schutz konventioneller Moralanschauungen ziele, stehe bei kultureller Identität im engeren Sinn stärker die Persönlichkeit des Einzelnen im Vordergrund. Eine derart begründete Strafnorm würde persönliche Präferenzen mit strafrechtlichen Mitteln schützen. Hierin liegt ein entscheidender Unterschied zu der oben herangezogenen objektiven Werteordnung, die aus zentralen Grundrechten abgeleitet werden kann. Was Menschenwürde bedeutet oder Gleichbehandlung der Geschlechter, ist unabhängig von individuellen Einschätzungen Betroffener zu bestimmen. Wenn es um das religiöse Selbstverständnis geht, kann dagegen nicht mit objektiven Maßstäben gearbeitet werden. Es kann hier dahinstehen, ob eine generelle Neutralitätspflicht für den Staat begründet werden kann, derzufolge sich die Rechtsordnung jeglicher Stellungnahme zu individuellen Vorstellungen vom guten Leben enthalten müsste. Die Praktikabilität dieser klassisch liberalen Vorstellung76 wird mit dem Argument in Frage gestellt, dass es unvermeidbar sei, in rechtlichen Regelungen gehaltvolle Konzepte vom „guten Leben“ zugrunde zu legen.77 Selbst wenn man letzteres für bestimmte Rechtsbereiche (etwa das Recht des Jugendschutzes) für plausibel hält, folgt daraus keineswegs, dass diese Erwägung auch für das Strafrecht gelten müsse. Legt man die Prämisse zugrunde, dass Strafrecht wegen der Schärfe seiner Rechtsfolgen fragmentarischen Charakter haben sollte, kommt eine strafrechtliche Rundum-Absicherung sämtlicher Interessen nicht in Betracht. Menschliche Interessen verdienen dann strafrechtlichen Schutz, wenn sie typischerweise Grundvoraussetzung für die Gestaltung eines (wie auch immer im Einzelnen gestalteten) selbst bestimmten Lebens sind.78 Zweifelhafter ist dies bei Partikularinteressen, die erst entstehen, nachdem die Entscheidung für eine bestimmte Form des „guten Lebens“ gefallen ist. Schon an dieser Stelle sind Zweifel angebracht, ob die Wahl einer bestimmten kulturellen Identität i.e.S. Strafrechtsschutz verdient.

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J. Raz, The Morality of Freedom, 1986, 110 ff.; R. Dworkin, Liberalism, in: J. Hampshire (Hrsg.), Public and Private Morality, 1978, 113, 127; S. Huster, Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung, 2002; F. Dietrich, Von der weltanschaulichen zur kulturellen Neutralität des Staates, ARSP 2004, 1 ff. Britz (Fn. 1), 233. J. Feinberg, Harm to Others, 1984, 37 ff.

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Eingehender zu begründen bliebe außerdem, warum verbale Angriffe zu unterbinden sind. In der Literatur findet man gelegentlich dunkel-spekulative Aussagen des Inhalts, dass das Infragestellen von Identität nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der kollektiven Ebene zu „Schäden“ oder zu „pathologischen Gefährdungen“ führe.79 Derartige Aussagen sind irreführend – welche Schädigungen entstehen, wird von den Befürwortern eines Identitätsschutzes nicht näher analysiert. Auch wenn man die durchaus plausible These heranzieht, dass Identität Anerkennung voraussetzt,80 kann daraus nicht gefolgert werden, dass die explizite Verweigerung von Anerkennung, die in einem Beschimpfen religiöser Vorstellungen liegt, mit einem Schaden gleichzusetzen ist. Die Verwendung des Begriffes „kulturelle Identität“ begründet vielmehr die Gefahr, dass eine für die Rechtfertigung von Verbotsnormen wesentliche Unterscheidung verwischt wird: die Unterscheidung zwischen Handlungen, die mit der Handlungsfreiheit anderer kollidieren, und Handlungen, die lediglich die Gefühle anderer verletzen. Solche Verwischungen finden sich in der Diskussion zu § 166 StGB. Vor allem in der verfassungsrechtlichen Lehre wird nicht hinreichend differenziert, wenn die Auswirkungen von Art. 4 Abs. 2 GG erörtert werden. Gebräuchlich ist es, verbale Schmähungen der Art, wie sie in § 166 StGB beschrieben werden, als Störung der Religionsausübung einzustufen und zu folgern, dass das strafrechtliche Verbot sich aus einer Schutzverpflichtung des Staates zur Ermöglichung ungestörter Religionsausübung ergebe.81 Dies überzeugt nicht. Es gibt zwar vielfältige Möglichkeiten, die Freiheit der Religionsausübung einzuschränken. Die Freiheit, religiös vorgeschriebene Handlungen vorzunehmen, kann durch Maßnahmen beschränkt werden, die solche Handlungen unmöglich machen oder wesentlich erschweren. Diese Maßnahmen können physischer Natur sein, etwa wenn ein Gottesdienst durch die Erzeugung von Lärm unterbrochen oder eine Moschee kraft behördlicher Anordnung geschlossen wird. Grundsätzlich sind auch psychisch wirkende Behinderungen (etwa in Form einer massiven Einschüchterung durch Bedrohungen) vorstellbar, die es faktisch unmöglich machen, von der religiösen Handlungsfreiheit Gebrauch zu machen. Durch die Beschimpfung von Bekenntnissen wird jedoch weder die Freiheit beschränkt, einen Glauben zu haben und sich zu ihm zu bekennen, noch die Freiheit, religiöse Handlungen vorzunehmen. Die Möglichkeit der Religionsausübung wird durch eine Bekenntnisbeschimpfung genauso wenig tangiert wie die Freiheit theaterinteressierter Personen, eine Theateraufführung zu besuchen, dadurch eingeschränkt wird, dass ein Kritiker nach der Premierenvorstellung schmähende Bemerkungen gegen den Autor des Stückes veröffentlicht hat. Schmähungen kränken Betroffene – aber dies muss von Freiheitseingriffen und von Schäden unterschieden werden. Ein Unterschied zwischen der schmähenden Theaterkritik und einer Bekenntnisbeschimpfung liegt allerdings in der Intensität der verletzten Gefühle. Das Gefühl, persönlich schwer getroffen zu sein, hängt vom Ausmaß der Identifikation mit religiösen Vorstellungen ab. Häufig ist ein solcher intensiver Konnex bei den Angehörigen von Kultursystemen zu finden, die als Minderheiten in einer anders beschaffenen Um79

Weidenfeld (Fn. 24), 19; Ch. Taylor, in: A. Gutmann (Hrsg.), Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 26, 60. 80 Ch. Taylor, Das Unbehagen in der Moderne, 1995, 52 ff. 81 M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rn. 149; Ch. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 52), Art. 4 Rn. 20; J. Kokott, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 4. Aufl. 2007, Art. 4 Rn. 73.

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gebung leben. Empirische Untersuchungen, insbesondere zu Migration, verweisen darauf, dass der Grad der subjektiven Identifizierung stark davon abhängt, inwieweit Angehörige von Minderheiten in einer als fremd empfundenen Umgebung das Bedürfnis entwickeln, ein gefährdetes Selbstkonzept durch eine ausgeprägte kulturelle Identität zu stützen.82 Die entscheidende Frage ist letztlich, ob es zu legitimieren ist, Gefühle mit den Mitteln des Strafrechts zu schützen. Die Antwort darauf fällt in der deutschen Strafrechtswissenschaft eindeutig aus: Der Lehrsatz, dass Strafrecht nicht dem Schutz von Gefühlen dienen dürfe, ist unangefochten.83 Der Verweis auf diese gängige Meinung ersetzt allerdings nicht eine Begründung, und vielleicht könnte die besondere Bedeutung von kultureller Identität i.e.S. ein Grund sein, das Thema „Gefühlsschutz durch Strafnormen“ neu zu betrachten. Gegen eine solche Aufwertung von Gefühlsschutz wegen einer dahinter stehenden „kulturellen Identität“ sind jedoch Bedenken vorzubringen. Erstens ist ein solcher Schutzzweck problematisch, weil das Auftreten oder Nicht-Auftreten starker Gefühle entscheidend von subjektiven Faktoren abhängt. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu anderen Tatbeständen, die man ebenfalls als Gefühlsschutztatbestände einordnen könnte, nämlich den Beleidigungsdelikten. Ob eine Äußerung eine Beleidigung ist, ist objektiv zu bestimmen. Es geht nicht darum, ob sich der Betroffene beleidigt fühlt, sondern darum, ob objektiv ein Achtungsanspruch verletzt wurde. Anders ist die Verbindung zwischen Äußerung und gekränktem Individuum bei Beschimpfungen nach § 166 StGB. Beschimpft wird nicht ein Individuum, sondern ein Bekenntnis oder eine Religionsgesellschaft. Der Konnex, den manche Mitglieder der verbal attackierten Religionsgesellschaft herstellen, ist ein höchstpersönlicher. Manche Mitglieder werden sich schwer gekränkt fühlen, andere dagegen nicht. Zweitens wäre es, selbst wenn man sich von dem Argument „besonders intensive Gefühlsverletzung“ gewinnen ließe, nicht damit getan, dieses Argument zu entwickeln. Vielmehr ist auch zu berücksichtigen, dass die Gewährung von Strafrechtsschutz zum Schutze religiöser Identitäten mit Werten und Zielen in Konflikt gerät, die für ein den Werten der Aufklärung verpflichtetes Gemeinwesen konstitutiv sind. Dies ist an einem Beispiel zu verdeutlichen: Man denke sich eine Sekte, die sich selbst als „christlich“ definiert, und für die das charismatische Wirken eines Sektenführers ausschlaggebend ist, der mit abenteuerlichen Behauptungen über ihm exklusiv erteilte göttliche Offenbarungen und Weisungen sich die Gefolgschaft anderer Menschen verschafft hat, die der Sekte ihr Vermögen überschreiben und auch sonst treu ergeben sind. Es sind sowohl im 19. Jahrhundert als auch im 20. Jahrhundert genügend detaillierte Beispiele für derartiges Wirken zu finden. Ist nun die Beschimpfung von Bekenntnisinhalten wie in § 166 StGB unter Strafe gestellt, dann begeht diese Handlung, wer den Sektenführer als Schwindler und Betrüger bezeichnet. Ist es Inhalt des von den Gläubigen definierten Bekenntnisses, dass der Sektenführer göttliche Anweisungen umgesetzt habe, dann ist die Unterstellung, es mit einem Betrüger zu tun zu haben, notwendigerweise eine Bekenntnisbeschimpfung.84 Bekenntnisbeschimpfung 82 Ü. Polat, Soziale und kulturelle Identität türkischer Migranten der zweiten Generation in Deutschland, 1998, 147 ff. 83 Roxin (Fn. 36), § 2 Rn. 26 ff. 84 „Beschimpfen“ wird nach allg. Ansicht definiert als eine besonders verletzende Kundgabe von Missachtung, die etwa darin liegen kann, dass schimpfliches Verhalten oder schimpfliche Zustände nachgesagt werden, vgl. T. Hörnle, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2005, § 166 Rn. 16.

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muss nicht mit rohen Ausdrücken erfolgen, sondern kann auch aus Tatsachenäußerungen über wichtige Figuren des Bekenntnisses bestehen, die im Kontext von Beleidigungsdelikten als üble Nachrede einzuordnen wären.85 Ein Spannungsverhältnis zwischen der Perspektive von Gläubigen und einer kritischen Perspektive ist unvermeidbar. Je gravierender das Fehlverhalten einer Zentralfigur im religiösen Kult ausfiel, je mehr Gründe für Kritik angeführt werden können, umso massiver ist aus Sicht der Gläubigen die Beschimpfung. Eine Trennung zwischen sachlicher Kritik einerseits, Beschimpfen andererseits ist deshalb nicht möglich. Die Besonderheit der Bekenntnisbeschimpfung liegt in der transzendenten, dem Prüfungsmaßstab „Vernunft“ entrückten Natur religiöser Bekenntnisse. Was zum Bekenntnis gehört und was keinesfalls in Frage gestellt werden darf, erschließt sich nur aus dem Glauben der Religionsanhänger. Stellt man auf die Gefühle der Gläubigen ab, ist ein Ausgleich mit dem Recht auf Meinungsfreiheit nicht möglich. Das Einfordern von Bekenntnisschutz hat nicht nur zum Ziel, dem Stil nach rohe Worte zu verhindern, sondern auch das Ziel, gegen inhaltliche Herausforderungen durch eine allzu kritische Vernunft zu immunisieren.86 Welche Rolle sollte in diesem Konflikt der Gesetzgeber spielen? Darf er es den Nicht-Gläubigen nicht nur zumuten, sondern sie sogar mit den Mitteln des Strafrechts dazu zwingen, auf solche kritischen Stellungnahmen zu verzichten, die aus der Perspektive der Gläubigen fundamentale Glaubensinhalte in Frage stellen? Habermas will säkularisierten Bürgern bestimmte Formen der Zurückhaltung auferlegen, indem er sie auffordert, religiösen Weltbildern nicht grundsätzlich Wahrheitspotential abzusprechen.87 Seine Thesen beziehen sich nicht auf Strafverbote, könnten aber zu den Überlegungen um Gefühlsschutztatbestände herangezogen werden. Noch deutlicher formuliert Habermas an anderer Stelle, dass sich „postmetaphysisches Denken“ des Urteils über religiöse Wahrheiten zu enthalten habe und sich gegen eine „szientistisch beschränkte Konzeption der Vernunft“ wenden müsse.88 Es sei eine „rationalistische Anmaßung“, selber zu entscheiden, was in den religiösen Lehren vernünftig und was unvernünftig sei.89 Habermas begründet seine Forderung nach Zurückhaltung mit religiösen Überlieferungen der „abendländischen Metaphysik“, die „semantische Potentiale“ mit sich führen, die eine inspirierende Kraft für die ganze Gesellschaft entfalten.90 Hier wird schon nicht ganz deutlich, warum uns „komplex vernetzte Erbschaftsverhältnisse“91 zwingen sollten, Vernunftgebrauch als „rationalistische Anmaßung“ einzuordnen. Näher liegt es, Rücksichtnahme auf die Gefühle anderer schlicht 85 Im geltenden Recht gibt es die Klausel, dass das Ganze geeignet sein muss, den öffentlichen Frieden zu stören, was ein Staatsanwalt wahrscheinlich bei Kritik an einem obskuren Sektenführer verneinen würde. Ließe man allerdings, wie gelegentlich gefordert, diese Klausel fallen, wäre die Konsequenz, dass ausschließlich die Gefühle der Gläubigen ausschlaggebend wären. 86 Soweit ein Kritiker dem Sektenführer Vorwürfe machen und sich daraufhin dem Vorwurf der üblen Nachrede (§ 186 StGB) ausgesetzt sehen würde, könnte er sich mit Verweis auf die „erweisliche Wahrheit der Tatsache“ oder mit Verweis auf berechtigte Interessen (§ 193 StGB) verteidigen. Sobald der Vorwurf jedoch Bekenntnisbeschimpfung lautet, ist es nicht mehr möglich, sich auf die Vernünftigkeit der Äußerung zu berufen. 87 J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, 2005, 322. 88 Habermas (Fn. 87), 147. 89 Habermas (Fn. 87), 149. 90 Habermas (Fn. 87), 149. 91 Habermas (Fn. 87), 148.

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als Gebot des höflichen Umgangs mit anderen Menschen einzufordern – Höflichkeit ist etwas anderes als die von Habermas eingeforderte Lernbereitschaft. Außerdem ist Habermas’ Argumentation, die sich auf die großen Traditionen der Weltreligionen bezieht, deren ideengeschichtlicher Einfluss natürlich beträchtlich war und ist, nicht auf alle Formen der Religiosität zu übertragen. Für die im Bereich des § 166 StGB zu erörternden Fälle bringt ein Verweis auf ein erhofftes „postmetaphysisches Denken“ wenig. Je länger der Prozess zurückreicht, in dem sich eine Religion an europäische Traditionen des vernunftorientierten Denkens angepasst hat, umso weniger Grund gibt es für kritische Analysen, die aus Sicht der Gläubigen eine Beschimpfung sein können. Umgekehrt entstehen heftige Gefühlsverletzungen der Gläubigen umso eher, je weniger Glaubenslehren in ein Umfeld passen, das eine geistige Haltung fordert, die kritisches Hinterfragen ermutigt und absolute Schranken für die Inhalte geistiger Auseinandersetzung entmutigt. Im letzteren Fall kann aber nicht gefordert werden, auf kritische Stellungnahmen zu den Einzelheiten einer bestimmten religiösen Überlieferung zu verzichten. Die Haltung, die mit dem Stichwort „kritischer Rationalismus“ umschrieben wird,92 ist eine wesentliche Errungenschaft des Prozesses, der Aufklärung genannt wird. Sie sollte nicht aufgegeben werden. V. SCHLUSSBEMERKUNG Es empfiehlt sich nur beschränkt, im strafrechtlichen Kontext über „kulturelle Identität“ zu sprechen. Dies nicht deshalb, weil der Begriff Kultur zu unscharfe Konturen hätte. Als Instrument zu deskriptiven Zwecken kann die Bezugnahme auf kulturelle Faktoren und kulturelle Identitäten durchaus von Nutzen sein. Dies gilt nicht nur für ökonomische und sozialwissenschaftliche Analysen (vorausgesetzt, dass man mit der notwendigen Behutsamkeit und mit Bewusstsein für unhaltbare Stereotypisierung vorgeht),93 sondern auch für strafrechtliche Analysen. Manche Tatbestände, die mit dem modernen Dogma „Strafrecht nur zum Rechtsgüterschutz“ schwerlich zu vereinbaren sind, werden verständlicher, wenn man erkennt, dass diese die Abwehr kulturell unerwünschten Verhaltens und den Schutz von kulturellen Identitäten i.e.S. bezwecken. Abzuraten ist jedoch davon, diese Argumentation auch zur normativen Rechtfertigung von strafrechtlichen Verboten heranzuziehen. Ein solcher Rekurs auf „kulturelle Identität“ ist schon deshalb problematisch, weil der Begriff sich aus zwei Elementen zusammensetzt, die beide den Nachteil aufweisen, sprachlich zwischen deskriptiver und normativer Funktion zu oszillieren. In dem Begriff „Kultur“ schwingt mit, dass es sich um ein positives und deshalb grundsätzlich in Abgrenzung zu Negativem schützenswertes Gut handle (etwa, wenn man „Unkultur“ als Gegensatzbegriff zu „Kultur“ bildet94). Dieselben Schwierigkeiten entstehen für den Begriff „Identität“. Auch hier drängen sich positive Konnotationen auf, die unter anderem von der 92 Zum kritischen Rationalismus H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, 1968. 93 S. etwa die Beiträge in dem Sammelband: Streit um Werte (Fn. 24); dort insbesondere N. Glazer, Zur Entflechtung von Kultur, 293 ff. zur Notwendigkeit einer differenzierten Herangehensweise. 94 So etwa F.-C. Schroeder in der Diskussion auf der Strafrechtslehrertagung 2005, ZStW 117 (2005), 865, 880.

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Wortverwendung in der Individualpsychologie herrühren: Identität ist positiv besetzt, Identitätskrisen sind dagegen Zustände, die überwunden werden sollten.95 Derartige normative Aufladungen von deskriptiven Begriffen führen zu Unklarheiten und Gefahren, nämlich dazu, dass nach dem Befund, „kulturelle Identität“ werde geschützt, die entscheidende Frage, ob dies auch so sein soll, womöglich gar nicht mehr gestellt wird. Sollte sich das Thema „kulturelle Identität“ auch im strafrechtlichen Diskurs etablieren, würde dies bedeuten, dass bekannte Fragestellungen (nämlich: soll Strafrecht konventionelle Moral und/oder Gefühle schützen?) hinter einem modischen Überwurf wieder auftauchen. Strafrechtlicher Schutz für moralische Vorstellungen ist dabei nur insoweit legitim, als diese durch zentrale Grundrechtsnormen unterfüttert werden. Die besseren Gründe sprechen ferner dafür, es zu unterlassen, religiös begründete Gefühle mit den Mitteln des Strafrechts gegen abfällige Stellungnahmen zu sichern.

95 Niethammer (Fn. 20), 37, 54; zum Konzept des Psychoanalytikers E. Erikson: Niethammer, aaO, 267 ff.

(vakat)

CHRISTINE SCHIRRMACHER, BONN RECHTSVORSTELLUNGEN

IM

ISLAM

GRENZEN UND REICHWEITE DES RECHTSSYSTEMS „SCHARIA“ DARGESTELLT AM BEISPIEL DES STRAFRECHTS SOWIE DES EHEFAMILIENRECHTS I. WARUM

MIT DER

SCHARIA

UND

BESCHÄFTIGEN?

1. Einführung Wenn heute bei juristischen Fachtagungen Rechtsvorstellungen im Islam zum Thema werden – eine Erörterung der Wurzeln, der Inhalte und der Bedeutung der Scharia in der Gegenwart – dann mit gutem Grund: Ist doch der Islam als religiös-kulturelle, theologische wie gesellschaftsbildende Ordnung unumkehrbarer Bestandteil der europäischen Gesellschaften geworden. Auch für den europäischen Kontext ist im Zeitalter von Zuwanderung und Globalisierung die Auseinandersetzung mit Rechtsvorstellungen im Islam – z. B. die Frage der islamisch begründeten Definitionen von Menschen-, Frauen- und Minderheitenrechten – so aktuell wie nie zuvor. Wer sich mit gegenwärtigen und – für europäische Verhältnisse – relativ neuen Fragestellungen von religiös-gesellschaftlicher wie politischer Tragweite (wie z. B. der „Kopftuchfrage“ oder dem „Schächtungsurteil“) auseinandersetzt, wird weniger der Gefahr einer verkürzenden und ausschließlich den europäischen Blickwinkel einbeziehenden Betrachtungsweise erliegen, wenn er mehrere Ebenen zur Beurteilung heutiger Fragestellungen mit berücksichtigt: * Die historische Ebene der Entstehungszeit des Islam, da der historische Rückbezug auf die vorbildhaften Handlungen Muhammads in der heutigen Theologie und Rechtswissenschaft ungebrochen hohen Stellenwert genießt. * Die theologische Ebene, auf der die Frage nach der Positionierung von Koran und Überlieferungstexten zu einzelnen Rechtsfragen und deren Interpretationsvarianten gestellt wird. * Die kulturelle Ebene zur Unterscheidung von Theologie und Kultur bzw. Tradition, da nicht alles, was aus westlicher Perspektive „islamisch“ zu sein scheint, tatsächlich seine Grundlage in der Religion bzw. den autoritativen überlieferten Texten findet. * Die Ebene von Recht und Gesetz. Ausgehend von Muhammads überlieferter Rechtsprechung in der frühislamischen Gemeinde und unter Berücksichtigung von Koran und Überlieferung sowie deren Auslegung durch namhafte Juristen und Theologen werden Schlüsse auf die heutige tatsächliche oder zu erstrebende Gesetzgebung gezogen. Während Muhammad zu Beginn seines Auftretens ab 610 n. Chr. in seiner Heimatstadt Mekka die Verkündigung eines monotheistischen Glaubens in den Mittelpunkt stellte und den Islam als Religion der Ur- und Endzeit präsentierte, wurde er nach seiner Übersiedlung nach Medina im Jahr 622 n. Chr. – in mancherlei Hinsicht der eigentlichen Geburtsstunde des Islam – auch Gesetzgeber und Heerfüh-

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rer1. Aus diesem Grund begegnen uns vor allem im medinensischen Islam religiöse wie rechtliche Aspekte, die Gottesverehrung betreffende wie gesellschaftliche Regelungen, die miteinander verzahnt sind. Das wird z. B. auch dann deutlich, wenn die Art und Weise der Religionsausübung – vor allem die für jedermann verpflichtende Befolgung der Fünf Säulen des Islam – keine eigentliche Privatangelegenheit, also in das Belieben des Einzelnen gestellt ist, sondern ebenso wie erb- und familienrechtliche Angelegenheiten Bestandteil der Scharia ist, also zur islamischen Rechtsordnung gehört, gleich wie etwa das Strafrecht. Gleichzeitig ist nur allzu offensichtlich, dass zwischen den islamischen Kernländern nur teilweise Übereinstimmung in der Behandlung konkreter Rechtsfragen besteht, obwohl sich doch alle arabischen Staaten ausdrücklich auf die Scharia als Rechtsgrundlage berufen, ja einige Staaten wie Sudan, Jemen oder Libyen ausschließlich auf die Scharia als einzige Gesetzesgrundlage. 2. Inhaltsübersicht Auf eine Begriffsbestimmung und Erläuterung des Inhalts der „Scharia“ folgt ein kurzer Blick auf die Geschichte ihrer Entstehung und einige wesentliche Inhalte der Scharia, vor allem ihrer zentralen Bestandteile des Straf, Ehe- und Familienrechts, woraus sich die praxisorientierte Frage nach der bloßen Proklamation oder tatsächlichen Anwendung der Scharia ergibt. Hierbei wird auch die innerislamische Diskussion über die Gültigkeit und Anwendbarkeit von Scharianormen auf die heutigen Gegebenheiten berücksichtigt. Dabei kommt auch die teilweise fundamentale (islamische) Kritik an einer hauptsächlich durch das konservativ-islamische Spektrum vorgebrachten Interpretation der unmittelbaren Übertragung und Anwendung von Scharianormen auf heutige Gegebenheiten zur Sprache. II. DIE SCHARIA 1. Bedeutung und Tragweite des Begriffs der „Scharia“ Der Begriff „Scharia“ wird häufig übertragen als „islamisches Recht“ oder „islamisches Gesetz“; was allerdings teilweise unzutreffend ist, denn dies legt nahe, dass es um einen durch ein rechtsgebendes Gremium erlassenen Korpus eindeutig definierter Gesetze geht. Das ist allerdings so nicht der Fall. Die Scharia umfasst sämtliche rechtlichen Regelungen für alle Lebensbereiche. Sie meint also die Gesamtheit der Gebote Gottes, so wie sie im Koran und der islamischen Überlieferung niedergelegt und von maßgeblichen Theologen interpretiert wurden. Was nun z. B. der Koran jedoch genau rechtlich regeln will – proklamiert er die Vielehe oder lehnt er sie gerade ab? – darüber herrscht im Einzelfall unter Theologen durchaus Dissens. Das bedeutet, dass es die Scharia als verfaßtes Gesetz gar nicht geben kann. 1

Dieser weithin anerkannten Auffassung steht als Minderheitenposition die Meinung gegenüber, dass Muhammad nie die Gründung eines Staates beabsichtigt habe: Vgl. Bernard G. Weiss, The Spirit of Islamic Law, 1998, 3.

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Die Scharia regelt gleichermaßen die vertikalen wie horizontalen Beziehungen jedes Menschen: sie gibt Anweisungen für das ethische Verhalten wie für die Beziehungen zu Familie und Gesellschaft (z. B. im Wirtschafts-, Erb-, Stiftungs-, Ehe- und Strafrecht), aber sie reglementiert auch die Glaubensausübung und religiösen Handlungen (vor allem die Praktizierung der „Fünf Säulen“: Bekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen und Wallfahrt). Der Ablauf des täglichen rituellen Gebets ist also ebensowenig in das Belieben des einzelnen gestellt wie die schariarechtlich notwendigen Klauseln eines Ehevertrags, die erfüllt sein müssen, um die Ehe zu einer rechtlich „gültigen“ Ehe zu machen. Maurits Berger bezeichnet die Scharia zutreffend als „ein Regelwerk für alles, was sich im Leben eines Menschen ereignen kann, für all sein Verhalten und seine gesamte Lebensweise. Sie beschäftigt sich gleichermaßen mit dem richtigen Verhalten im Badezimmer ebenso wie auf dem Schlachtfeld, auf dem Markt wie in der Moschee.“2

An der Theorie der Autorität der Scharia hat sich weithin wenig geändert (obwohl es selbstverständlich kritische muslimische Stimmen gibt). Dennoch sind die Scharianormen, wie sie sich als ein Grundkorpus an Bestimmungen schon in den ersten Jahrhunderten des Islam herausbildeten, in islamisch geprägten Ländern in unterschiedlichem Maß in die Gesetzgebung aufgenommen worden. Aber auch dort, wo dies nur teilweise der Fall war, besitzt die Scharia durch ihre gesellschaftliche Normgebung für alles Verhalten und ihren Anspruch, das eigentlich gültige, weil göttliche Gesetz zu sein, teilweise erheblichen Einfluss. Mag man sich auch an die staatlichen Gesetze (wie z. B. die in der Türkei vorgeschriebene Einehe) meistens halten, ist doch die Scharia in ihrem allumfassenden Anspruch niemals grundlegend relativiert oder in Frage gestellt worden und gilt auch heute vielen Menschen als der eigentliche Bezugsrahmen für Leben und Glauben. Eine Folge davon ist z. B., dass es – besonders im ländlichen Bereich der Türkei – sehr wohl zu den nach der Scharia gestatteten Mehrehen kommt, weil dies mit der ‚gefühlten‘ Berechtigung zur Höherordnung der Scharia über jedes weltliche Gesetz korrespondiert. Ein anderes Anzeichen für diese Einflussnahme sind z. B. die im vergleichsweise säkular ausgerichteten Syrien überall existierenden sogenannten „Scharia-Gruppen“, die einem Schülerkreis ergänzend zu den ‚eigentlichen‘ rechtswissenschaftlichen Studien an der Universität die Anwendung der Scharia durch persönlichen Unterricht bei einer religiösen Führerpersönlichkeit vermitteln. Diese Anwendung kommt dann auch als eigentlicher Bezugsrahmen für das eigene Leben und Rechtsdenken soweit wie möglich im eigenen Umfeld zum Tragen und schafft ein Bewußtsein, das einem Rezipienten einer solchen informellen Ausbildung die Scharianormen als ‚eigentlichen‘ Bezugsrahmen erscheinen lassen dürften. Gleichzeitig besitzen die Leiter dieser Scharia-Gruppen, die Schaikhs, auch öffentlichen Lehreinfluss durch Medien, an Universitäten oder als Moscheeprediger und Muftis (Rechtsgutachter), so dass neben einem recht gemäßigten ‚Staatsislam‘ zugleich ein konservativ-orthodoxer Islam verbreitet wird, der zwar nicht von allerhöchster politischer Stelle spricht (wie etwa im Iran), aber doch quer durch viele Bereiche der Gesellschaft beachtlichen Einfluß ausübt. Durch diese und andere Kanäle der Vermittlung spielt die Beschäftigung mit und die Anwendung der Scharia eine viel größere Rolle im gesellschaftlichen Leben, 2

Maurits S. Berger, The Shari’a and Legal Pluralism, The Example of Syria, in: Baudouin Dupret/ Maurits Berger/Laila al-Zwaini (Hrsg.), Legal Pluralism in the Arab World, Arab and Islamic Laws Series, Vol. 18, 1999, 114.

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als dies bei einem Vergleich der syrischen Gesetzgebung mit Scharianormen zunächst vermutet werden würde.3 Daher wäre eine Geringschätzung der praktischen Bedeutung der Scharia irrig, auch wenn sie in zahlreichen Ländern in vielen Bereichen gar nicht oder nur teilweise gesetzlich zur Anwendung kommt. Im Alltag sind ihre Normen durch Moscheepredigten, durch die bei Heiraten, Trauerfeierlichkeiten, Festivitäten u. ä. zitierten Überlieferungstexte, durch Traditionen und das dadurch geprägte Rechtsempfinden in vielen Bereichen präsent: „viele arabische Länder … (sind) in einem schwer nachvollziehbaren Ausmaße vom tradierten Schariatsrecht durchdrungen …, so daß sich für die ihm unterworfenen Muslime alle Handlungen und Lebensäußerungen in erster Linie als in sich abgestufte Formen der Erlaubt-oder Verworfenheit bei und vor Gott darstellen. Es ist das religiöse Recht der Scharia, das die kollektiven und individuellen Überzeugungen und Verhaltenserwartungen in einem für den analytischen Zugriff des westlichen Wissenschaftlers nur schwer rekonstruierbaren Maße steuert und nicht etwa ein abgekoppelt davon faßbarer Bereich von Normen des Rechts und der Moral oder einer bloß ‚vernünftigen‘ Ethik, wie dies für die mehr oder weniger positivistischen Rechtsordnungen im kontinentaleuropäischen Bereich mit ihrer Trennung von Religion und Recht, Politik und Moral charakteristisch ist.“4

2. Die Scharia als „Weg zur Tränke“ und Gottesrecht – Die Theorie Im Koran kommt der Begriff „Scharia“ nur ein einziges Mal vor (Sure 45,18), wird dort aber nicht zur Bezeichnung eines Rechtssystems verwendet, sondern bedeutet „Ritus“ oder „Weg“. Der Begriff meint ursprünglich „Weg zur Tränke“, denn „das Heil, zu dessen Erwerb Gott die Gelegenheit bietet, gleicht einer Tränke in der Wüste.“5 Die Begrifflichkeit des „Weges“ weist auf ein zentrales koranisches Motiv hin: Der Mensch, der zwar nicht grundsätzlich böse oder sündig, aber doch schwach und beeinflussbar ist, muss von Gott den rechten Weg geleitet werden. Diese Formulierung der „Rechtleitung“ taucht wieder und wieder im gesamten Korantext auf und wird bereits in Sure 1,6 mit der Wendung benutzt: „Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen du [durch die göttliche Rechtleitung] Gnade erwiesen hast“ (1,7). Diese Rechtleitung geschieht durch die Rechtsordnungen Gottes. Wer sie nicht beachtet, wird zu „denen gehören, die deinem Zorn verfallen sind und irrgehen“ (1,7). Der Begriff „Islam“ meint ja „Unterwerfung“, „Hingabe“: Wer also die Gebote Gottes hält, unterwirft sich ihm und wird von ihm rechtgeleitet. Im Koran selbst besitzt der Begriff „Scharia“ also noch nicht die Bedeutung eines Rechtssystems. Erst im Verlauf einer längeren Entwicklung, die ungefähr mit dem 8. Jahrhundert n. Chr. beginnt und mit dem 10. Jahrhundert ihr vorläufiges Ende findet, wird der Begriff der Scharia zu einem Synonym für „Gottesrecht“. Weil es sich um Gottes Recht handelt, wird die Scharia als vollkommene Ordnung betrachtet, die jeder Gesellschaft Frieden und Gerechtigkeit bringt, denn Gott ist ein Gott der Gerechtigkeit und eine homogene Gesellschaft, die unter seiner 3 4 5

S. die Schilderung aus eigener Anschauung in Damaskus bei Berger (Fn. 2), 115 ff. Birgit Krawietz, Die Hurma. Schariarechtlicher Schutz vor Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit nach arabischen Fatwas des 20. Jahrhunderts, 1991, 77 (Hervorhebung im Original). Tilman Nagel, Das islamische Recht, Eine Einführung, 2001, 4.

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vollkommenen Rechtsordnung lebt, ist ein Synonym für eine friedliche Gesellschaft. Weil die Scharia von Gott selbst gegeben ist, ist sie prinzipiell nicht reformierbar oder hinterfragbar. Eine Kritik der Scharia bedeutete, menschliche Erwägungen über das Gesetz Gottes zu stellen. Dies ist auch deshalb unvernünftig und falsch, weil am Ende aller Zeiten der Islam die einzig existente Religion sein und die Scharia über alle Menschen aufgerichtet werden wird. – So zumindest der offizielle Anspruch konservativer Theologie, der wenig liberale Gegenentwürfe gegenüber stehen. Da die Scharia Normen für alle Lebensbereiche enthält, gibt es neben ihr im eigentlichen Sinn keinen säkularen, von der Religion abgetrennten Bereich. Es geht nach dem Selbstverständnis der Scharia, nachdem Gott sein ewiges Gesetz einmal den Menschen offenbart hat, nicht darum, seinen Anspruch zu relativieren, sondern nur darum, die angemessene Anwendung zu finden, um das Leben im Diesseits zur Vorbereitung auf das Paradies im Jenseits gottgefällig zu gestalten. Auch dies ist wiederum nicht als Überzeugung einiger orthodoxer Außenseiter zu betrachten, sondern muss als weithin anerkannte Position innerhalb der Theologie angesehen werden, auch wenn die Lebenspraxis vieler Menschen anders aussehen mag. Die Scharia gilt also als weltliches wie sakrales Recht, ein in seinem Ursprung göttliches Recht, das in seinem Anspruch aber nicht nur den religiösen, sondern auch den weltlichen Bereich reglementiert. Eine Bejahung der Religion und gleichzeitige fundamentale Kritik an der Scharia ist zum einen aus Gründen der weithin fehlenden Religions- und Meinungsfreiheit in islamischen Ländern problematisch. Aber auch aufgrund des Anspruchs der Scharia ergeben sich hier Schwierigkeiten, denn „sich zu dieser Religion bekennen, ohne das Gesetz in seiner Gänze zu bejahen und als unbezweifelbaren und stets gültigen Maßstab für jegliches Tun und Lassen zu befolgen, ist unmöglich; denn das Gesetz ist ein wesentlicher Teil der islamischen Heilsbotschaft.“6

3. Quellen der Scharia: Koran, Überlieferung, Theologie Trotz dieses Generalanspruchs der Scharia, alle Lebensbereiche eines Menschen reglementieren zu wollen, darf nicht angenommen werden, es handele sich bei der Scharia um ein kodifiziertes Gesetzbuch, vergleichbar etwa mit dem „Bürgerlichen Gesetzbuch“. Es ist vielmehr ein Regelwerk, das auf mehreren Quellen basiert, die ihrerseits bereits interpretierbar sind: Die Scharia basiert auf drei Quellen, dem Koran, der Überlieferung sowie deren weitgehend als normativ anerkannten Auslegungen durch frühislamische Juristen und Theologen, insbesondere bis zum 10. Jahrhundert n. Chr. Bis zu diesem Zeitpunkt bildeten sich im sunnitischen Bereich vier verschiedene „Rechtsschulen“ – Rechtstraditionen – heraus (die hanbalitische, hanafitische, malikitische und schafiitische Schule) sowie mindestens eine schiitische7 Schule. Allerdings bewegen sich die Abweichungen voneinander – zumindest im sunnitischen Bereich – in einem sehr beschränkten Rahmen, so dass die Lehrunterschiede zwischen den Rechtsschulen nicht wirklich fundamental sind.

6 7

Nagel (Fn. 5), 3. Zur Entwicklung des zwölferschiitischen Rechts s. Harald Löschner, Die Dogmatischen Grundlagen des Shi‘itischen Rechts, Erlanger Juristische Abhandlungen Bd. 9, 1971.

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Als erste Quelle der Scharia gilt der Koran; seine rechtlichen Regelungen sind Bestandteil der Scharia. Der Koran ist aber nicht als eigentliches Rechtskompendium aufzufassen, denn nur rund 10% seines Textes befassen sich überhaupt mit rechtlichen Fragestellungen. Zudem werden viele Themen nur bruchstückhaft, keines der Themen aber systematisch und erschöpfend abgehandelt. Es handelt sich also vor allem um Fallbeispiele. Zu einigen Rechtsfragen, wie z. B. dem Vermögensrecht, macht der Koran nur vergleichsweise wenige Angaben, zu anderen Rechtsbereichen, wie dem Ehe- und Familienrecht, nimmt er häufiger und konkreter Stellung. Ein allein auf den koranischen Bestimmungen basierendes Familienrecht könnte jedoch aufgrund der kargen Ausführungen nicht formuliert werden. Die zweite Quelle der Scharia ist die islamische Überlieferung, der „hadith“ (arab. Überlieferung, Tradition, Bericht) „eine Art von Kommentar und Ergänzung des Koran“8. Darunter sind vor allem Berichte von und über Muhammad, seine Familie und seine Prophetengefährten zu verstehen. Neben Berichten über Geschehnisse aus Muhammads Zeiten enthält die Überlieferung zahlreiche Detailanweisungen zur Religionsausübung und behandelt eine Reihe von Rechtsfragen; dieser Umstand ist mit Sicherheit Folge des Auftretens konkreter Rechtsfälle, die an Muhammad und nach seinem Tod an seine Nachfolger herangetragen wurden. Während muslimische Gläubige in Bezug auf den nichtrechtlichen Bereich der Überlieferung lediglich aufgefordert sind, Muhammads „Gewohnheit“ (arab. „sunna“) soweit wie möglich nachzuahmen, ist die Befolgung der rechtlichen Bestimmungen der Überlieferung unbedingte Pflicht. Wenn daher die Überlieferung berichtet, Muhammad habe einen Bart getragen, dann gilt dies als „sunna“ (nachzuahmende Gewohnheit) für Männer, um Muhammads Vorbild nachzueifern, denn der Gläubige zeigt damit seine „Liebe zum Propheten“ 9 . Wer es jedoch nicht tut, macht sich keiner Straftat und keiner Sünde schuldig, es geht nicht um ein Gesetz. Anders liegen die Dinge in Rechtsfragen: Wo die Überlieferung zu Rechtsfragen konkret Stellung bezieht, ist sie von ebenso großer Autorität wie der Korantext selbst, ja soll sogar diesem vorgezogen werden, sofern sie anderslautende Aussagen macht. So vertrat z. B. der sicher bedeutendste muslimische Jurist der islamischen Frühzeit, der „Vater der islamischen Rechtswissenschaft“10, ash-Shafi’i (767–820 n. Chr.), dass der Koran durch die Überlieferung ausgelegt werde (nicht umgekehrt!).11 Ash-Shafi’i betrachtete die Rechtsurteile Muhammads – die ja vor allem in der Überlieferung niedergelegt waren – als göttlich inspiriert und daher für alle Zeit bindend für die islamische Gemeinschaft.12 Da zudem einzelne Berichte der Überlieferung im Alltag häufiger tradiert werden und als Kulturgut vielfach besser bekannt sein dürften als der in seiner spezifischen Sprache nicht leicht verständliche Korantext, besitzt die Überlieferung in der Praxis erheblichen Einfluss auf das allgemeine Rechtsbewusstsein. Ergänzend muss erwähnt werden, dass es sich bei „der Überlieferung“ nicht um einen einzelnen Text handelt, sondern – im sunnitischen Bereich – um sechs als autoritativ 8

Isam Kamel Salem, Islam und Völkerrecht. Das Völkerrecht in der islamischen Weltanschauung, 2006, 33. 9 Ahmad Hasan, The Principles of Islamic Jurisprudence, Vol. 1. 1983, 85. 10 So Noel Coulson, A History of Islamic Law, 1994, 61. 11 Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law, 1996, 47. 12 So Coulson (Fn. 10), 56.

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anerkannte, umfangreiche Sammlungen unterschiedlicher Autoren mit mehreren zehntausend Einzeltexten zu zahlreichen Themen, die wiederum untereinander Unterschiede, ja sogar Widersprüche in rechtlichen Aussagen erkennen lassen. In der Überlieferung finden sich zahlreiche Ausführungsbestimmungen zu den koranischen, manchmal knappen Anweisungen wie etwa zum Ehe- und Familienrecht (so z. B., dass der Rechtsvertreter gemeinsamer Kinder immer der Vater sein muss). Weil die Überlieferung etwa recht unmissverständlich und mehrfach berichtet, dass Muhammad Abtrünnige vom Islam zum Tod verurteilte (der Koran selbst enthält keinen derartigen Bericht), ist die Forderung der Scharia nach der Todesstrafe für Abgefallene unter Theologen aller vier sunnitischen sowie der schiitischen Rechtsschule weitestgehend unstrittig – wobei in der Praxis Apostasiefälle nur höchst selten vor Gericht verhandelt werden. Das ändert aber nichts an der prinzipiellen rechtlichen Gültigkeit und Akzeptanz dieser Schariabestimmung. Wer den rechtlichen Regelungen der Überlieferung nicht Folge leistet, begeht sowohl eine Sünde als auch eine Straftat (z. B., indem er zwei Schwestern heiratet und damit eine nach der Scharia verbotene Form der Eheschließung vollzieht). Auch wenn der Korantext festlegt, dass erst die gleichlautenden Zeugenaussagen zweier Frauen die Aussage eines Mannes aufwiegt (Sure 2,282), dann mögen das viele Muslime als ungerecht und nicht zeitbedingt beurteilen, aber trotzdem fand dieses Prinzip in den Gesetzeskodifikationen einiger islamischer Länder (wie z. B. im Strafgesetzbuch des Iran) seinen Niederschlag. Obwohl deshalb noch lange nicht „die Scharia“ in einem solchen Land zu Anwendung kommt, ist unübersehbar, dass die in den religiösen Quellentexten verankerten Bestimmungen für die heutige Gesetzgebung einzelner Länder nicht ohne Bedeutung sind. Wenn also der Koran nach überwiegender Auffassung die Polygamie ebenso gestattet (Sure 4,3) wie die („maßvolle“) Züchtigung der Ehefrau (4,34), dann sind dies prinzipiell nicht kulturbedingte und heute zu revidierende Auffassungen des 7. Jahrhunderts n. Chr., sondern sollten nach Auffassung längst nicht aller, aber doch heute einer insgesamt deutlich zunehmenden Anzahl von Muslimen als göttliche Gebote ihren Niederschlag in der heutigen Gesetzgebung muslimischer Länder finden, denn, so lautet eine in der jüngeren Vergangenheit häufig vorgebrachte Forderung, nicht die Scharia müsse modernisiert, sondern die Moderne an der Scharia ausgerichtet werden.13 – Selbstverständlich kämpfen Frauen- wie Menschenrechtsorganisationen vehement gegen solcherart ‚zeitlose‘, historisch unreflektierte Generalanwendungen des Korantextes; bei einer insgesamt fehlenden historisch-kritischen Aufarbeitung der islamischen Geschichte wie der Theologie gleitet der Ruf nach einer modernen Interpretation allerdings schnell in den Bereich des Vorwurfs der „Ketzerei“ oder des „Unglaubens“ ab und diskreditiert die Reformer in den Augen vieler. Koran und Überlieferung werden jedoch erst durch die Auslegungen muslimischer Theologen konkret faßbar und anwendbar. Dieser Auslegung ist allerdings hinsichtlich der Meinungsvielfalt nicht einfach Tor und Tür geöffnet. In erster Linie

13 So auch der Dozent für Strafrecht und Strafverfahren an der Fakultät für Scharia und Recht der Universität der VAE, Butti Sultan Butti Ali Al-Muhairi, “Islamisation and Modernisation within the UAE Penal Law: Shari’a in the Modern Era”, Arab Law Quarterly, Vol. 11, Jan 1996-Dec 1996, 34.

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gelten hier die Rechtskompendien maßgeblicher Theologen und Juristen aus frühislamischer Zeit als wegweisend bis in die Moderne. Bei Muhammads Tod im Jahr 632 n. Chr. lagen nach übereinstimmender muslimischer Sichtweise weder der Korantext noch die Überlieferungstexte vollständig vor, sondern allenfalls Bruchstücke. Die „Gewohnheit“ (arab. sunna) des Propheten, die später in die Überlieferungstexte (hadithe) einfloss, muss allerdings in den ersten Jahrzehnten nach Muhammads Tod ein wichtiger Faktor für die praktische Organisation der muslimischen Gemeinschaft gewesen sein; vermutlich wurden die meisten Texte des Korans und der Berichte über Muhammad zunächst mündlich tradiert. Und auch die Mehrzahl der Korantexte soll von den Gewährsmännern der Gemeinde Muhammads mündlich bewahrt und rezitiert worden sein. Rechtstexte mit „islamischen“ rechtlichen Regelungen existierten also zur Frühzeit des Islam nicht in schriftlicher Form, sondern waren durch mündliche Tradierung allenfalls Teil des Gewohnheitsrechts geworden. Aus dem Koran entnehmen wir, dass das altarabische Gewohnheitsrecht z. T. von Muhammad abgeschafft wurde (so verwirft Muhammad die offensichtlich aus vorislamischer Zeit stammende Praxis, neugeborene Mädchen aus Angst vor Verarmung zu vergraben; Sure 17,31), teilweise modifizierte Muhammad frühere Bestimmungen (so wurden z. B. die Polygamie oder das Recht auf Blutrache begrenzt, aber nicht völlig abgeschafft; Sure 4,3; 2,178–179). 4. Die Scharia in der Praxis Da sich schon in den ersten Jahrzehnten nach Muhammads Tod der Islam bis nach Spanien und Zentralasien ausdehnte, mussten nicht nur eine funktionierende Verwaltung, sondern auch ein islamisches Rechtssystem möglichst rasch etabliert werden. In den ersten Jahrzehnten nach Muhammads Tod war dies jedoch mit Sicherheit nicht der Fall. Es ist daher weithin Konsens, davon auszugehen, dass bis zum Ende des 8. Jahrhunderts eine islamische Rechtslehre nur rudimentär existierte und in der islamischen Frühzeit daher „nicht von einem einheitlichen sunnitischen Recht“ gesprochen werden kann.14 Erst bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts war es zu einem Regelwerk mit methodisch definierter Rechtsfindung gekommen.15 Durch die rasch voranschreitenden, weitläufigen Eroberungen der ersten Jahrzehnte nach Muhammads Tod 632 entstand schon sehr bald die Notwendigkeit, in den neueroberten islamischen Gebieten ein Rechtssystem zu etablieren und viele konkrete Fragen des Ehe- und Familienrechts zu lösen. In den ersten Jahrzehnten standen dafür lediglich Korantexte und das Gewohnheitsrecht zur Verfügung. Aus der spärlichen Quellenlage, die es uns unmöglich macht, eine lückenlose Geschichte der islamischen Rechtsentwicklung zu zeichnen, ist zu schließen, dass aus den Kreisen der ersten Schriftgelehrten (arab. ’ulama’) der ersten Jahrzehnte juristische Diskussionszirkel um Gelehrte (arab. fuqaha’) hervorgingen, „Gruppen von religiös orientierten Männern, die einige Gerichtsurteile von Gouverneuren und Richtern kritisierten“.16 14 Adel El-Baradie, Gottes-Recht und Menschen-Recht, 1983, 75. 15 So auch Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories. An Introduction to Sunni Usul Al-Fiqh, 1997, 3 16 W. Montgomery Watt/Alford T. Welch, Der Islam I. Mohammed und die Frühzeit, Islamisches Recht, Religiöses Leben, Die Religionen der Menschheit, Bd. 25,1, 1980, 240.

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Dies geschah vor allem in Medina und Kufa17, sodann auch in Mekka, Damaskus und Basra. Dort wurde die Erörterung praktischer Rechtsfragen praktiziert, so dass sich die islamische Rechtswissenschaft (arab. fiqh) zu etablieren begann. Daraus entwickelten sich die „Rechtsschulen“ (Auslegungstraditionen), von denen sich im sunnitischen Islam bis zum 10. Jahrhundert n. Chr. vier Schulen (der Hanafiten, Hanbaliten, Schafiiten, Malikiten) dauerhaft durchsetzen konnten. Diese Rechtsschulen erkannten den Koran und die Überlieferung als grundlegende Rechtsquellen an, seit ash-Shafi’i (gest. 820 n. Chr.) aber auch die Übereinstimmung der Gelehrten in einer bestimmten Frage (arab. ijma’) sowie den Analogieschluss (arab. qiyas) als Quellen der Rechtsfindung. Die Scharia wurzelt also in der Regelung bestimmter Rechtsfragen einer arabischen Stammesgesellschaft des 7. und 8. Jahrhunderts, die kein verfasstes Staatswesen und kein formales Rechtswesen kannte. Ingesamt ist unser Wissen über die Rechtsvorstellungen und -praktiken dieser vorislamischen Stammesgesellschaft eher gering zu nennen. Was wir wissen, ist, dass die Niederschrift und Entwicklung des islamischen Rechts durch den Korantext (der wohl in einem Zeitraum vom 6. bis 7. Jahrhundert vollständig verschriftlicht wurde), die Überlieferung (frühe Schriftfassungen existierten frühestens ab dem 8./9. Jahrhundert) und deren Auslegung (ab dem 7. bis zum 10. Jahrhundert) bis zum Ende des 10. Jahrhunderts zu einem gewissen Stillstand kamen. Nach dem 10. Jahrhundert ist eine Fortentwicklung des islamischen Rechts durch selbständige Rechtsfindung (arab. ijtihad) zwar häufig gefordert, jedoch nie allgemeingültig und die Grundlagen des Rechts betreffend durchgesetzt worden; in gewissem Rahmen jedoch zu allen Zeiten unter Vorgabe der Auslegung vollzogen worden. Das bedeutet, dass das islamische Recht in seinen Grundzügen bis zum 7. bis 10. Jahrhundert n. Chr. zurückreicht. Einerseits ist also das islamische Recht aus heutiger Sicht ein archaisches Recht, dessen Wurzeln vorislamisch sind.18 Gleichzeitig ist das Schariarecht nicht wirklich zu einem monolithischen Block erstarrt, weil es in der Praxis jeweils ausgelegt und angewandt, also stets aufs Neue interpretiert werden musste. Konkret bedeutet das, dass die von Land zu Land recht unterschiedlichen Auffassungen zu Verschleierung, Frauenrechten oder Bildungsmöglichkeiten für Frauen zu einem gewissen Grad Ergebnis unterschiedlicher Auslegungen althergebrachter Schariabedingungen sind. Diese Auslegungen verbinden sich häufig mit dem Wunsch und Einsatz von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen in dem Versuch, die moralischen Normen der Scharia mit den Anforderungen der Moderne und erweiterten Frauen- und Menschenrechten zu versöhnen, da es eine offizielle Schariakritik nicht gibt. – Ausnahme ist auch hier wieder die Türkei. Schon 1926 richtete Kemal Atatürk im Zuge der Gründung der Türkischen Republik das Familienrecht am Schweizerischen Zivilgesetzbuch aus und schaffte die Scharia als Gesetzesgrundlage ab. – In der Notwendigkeit ihrer stets neuen Interpretation und Neufassung in Ge17 Kufa und Medina können als Zentren der frühislamischen Rechtsentwicklung betrachtet werden, zumal drei der vier sunnitischen Rechtsschulen dort entstanden (die hanafitische Schule in Kufa, die malikitische und schafiitische in Medina); zudem spielte Kufa für die schiitische Rechtsentwicklung eine bedeutende Rolle: Weiss (Fn. 1), 9. 18 So auch O. Spies/E. Pritsch, Klassisches Islamisches Recht. 1. Wesen des Islamischen Rechts, in: Handbuch der Orientalistik. Abt. 1. Erg.bd. 3. Orientalisches Recht, 1964, 223.

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setze liegen andererseits Chancen zur Entwicklung und Erweiterung von Menschenund Frauenrechten, wenn z. B. die Scheidungsmöglichkeiten in manchen islamisch geprägten Ländern mit Verweis auf eine gerechtere Auslegung der Scharia erweitert oder die Möglichkeiten zur Mehrehe für Männer mit derselben Begründung eingeschränkt wurden. Gleichzeitig kennt der sunnitische Islam kein oberstes Lehramt, durch das festgelegt würde, welche Auslegung sich noch innerhalb des Rahmens der Scharia bewegt und welche nicht mehr in Übereinstimmung mit ihr steht. Daher werden trotz des niemals offiziell hinterfragten Anspruchs der Scharia, das ewiggültige Gottesgesetz zu sein, durch die Auslegung und durchaus unterschiedliche Interpretation in der Praxis de facto zahlreiche Abstriche an ihrer Gültigkeit bzw. althergebrachten Interpretation gemacht. Aufgrund der unterschiedlichen Auslegungen kann es keine einheitliche, für alle islamisch geprägten Staaten übereinstimmende Scharia-Gesetzgebung geben. Gleichzeitig ist die Scharia ein solch heeres, unhinterfragbares Ideal, aber die gesicherten Kenntnisse über die konkreten Lebensumstände zu Zeiten Muhammads aufgrund der dürftigen Quellenlage so stark begrenzt, dass die Frage, wie eine vollständige Implementierung der Scharia vor sich gehen könnte, unter muslimischen Gelehrten kaum einheitlich und praxisrelevant beantwortet werden kann. Die Scharia ist als Rechtssystem also gleichermaßen konkret wie interpretierbar, sie kann sich als ebenso erstarrt wie flexibel erweisen. Konkret kann sie in dem Sinne aufgefasst werden, als dass insbesondere rechtliche Regelungen zum Ehe- und Familienrecht schon im Koran und der Überlieferung in gewissem Sinn richtungsweisend definiert und von maßgeblichen Theologen und Juristen der Frühzeit des Islam einschlägig interpretiert wurden. Intepretierbar bleibt die Scharia jedoch gleichzeitig dadurch, dass sie nur durch Auslegung und Anwendung konkret umzusetzen ist und daher Spielraum für eine gewisse Bandbreite an Auffassungen bietet, solange diese mit der Scharia selbst begründet werden können. Da die Interpretation der rechtlichen Anweisungen aus Koran und Scharia und ihre Umsetzung in konkrete gesetzliche Bestimmungen z. T. erheblich differieren, existiert keine einheitliche, in Rechtstexte gegossene „Scharia“. Es existiert ein gewisser Grundkorpus an Rechtsvorstellungen, die aus den Texten des Korans und der Überlieferung abgeleitet werden, sowie eine Reihe unterschiedlicher Auslegungen mehrerer Rechtsschulen und die daraus in den einzelnen Ländern gezogenen, sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen für die konkrete Gesetzgebung vor Ort. 5. Die Besonderheiten der Scharia Die Scharia wird also durch mehrere Besonderheiten charakterisiert: Das Besondere an der Scharia ist einmal die Tatsache, dass sie „von unten“, aus den praktischen Erfordernissen erwachsen ist und nicht „von oben“ als vollständiges Rechtskompendium erlassen wurde, sondern „auf eine von den weltlichen Machthabern völlig unabhängige Weise ausgearbeitet“19 wurde. Die zweite Besonderheit bezieht sich auf das Ideal der Scharia, also die Vorstellung eines göttlich-unhinterfragbaren Gesetzes, das zu Zeiten Muhammads einmal 19 Salem (Fn. 8), 27.

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„vollständig“ gegolten habe und das den Menschen erneut Frieden und eine Führungsrolle in der Welt schenken könnte, wenn es denn vollständig umgesetzt und angewandt würde. Trotz dieses Festhaltens an diesem Ideal besteht kein Zweifel daran, dass zur Frühzeit des Islam keine lückenlose, alle Rechtsbereiche umfassende „Scharia“ existierte. Die Scharia entwickelte sich in ihren Anfängen aus der konkreten Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen zu Lebzeiten Muhammads, der in seinen letzten Lebensjahren in Medina 622–632 n. Chr. nicht nur religiöser Führer seiner Gemeinde war, sondern auch Militärführer, Gesetzgeber und Richter. Fortgeführt wurde dieses zunächst rudimentäre Rechtssystem in der islamischen Überlieferung und in den normativen Auslegungen islamischer Juristen erläutert und angewandt. Und schließlich muss auch hervorgehoben werden, dass die Scharia als solche für den Laien nicht direkt zugänglich ist. Ihre Kenntnis bleibt dem Gelehrten vorbehalten, da sie in ihren Einzelausführungen zu vielen Fragen nur in den Werken frühislamischer Juristen aufzufinden ist. Der Laie benötigt den Experten des Arabischen, der Theologie und der Rechtswissenschaft, der zu einer konkreten Sachfrage die nach den Regeln der eigenen Rechtsschule interpretierten Schariainhalte übermitteln kann. 6. Die Scharia – in der Praxis anwendbar? Die Scharia ist also kein kodifiziertes Recht, sie ist zu keiner Zeit und an keinem Ort je vollständig zur Anwendung gekommen. Sie ist immer ein idealtypisches Gesetz geblieben, ja, es stellt sich die Frage, ob sie in einer Gesellschaft – und umso mehr gilt dies für das 21. Jahrhundert – überhaupt in ihrer Gesamtheit umsetzbar wäre, insbesondere angesichts ihrer Interpretierbarkeit und unseres lückenhaften Wissens über die frühislamischen Verhältnisse. Trotz der fehlenden Kodifikation der Scharia und einer gewissen Bandbreite an Auslegungen ist die Scharia jedoch auf der anderen Seite keine verschwommene Größe, ein nicht fassbarer Korpus unklarer Vorschriften, in dessen Rahmen jedes Ergebnis hinein interpretiert werden könnte. Gerade im Ehe-, Familien- und auch im Strafrecht enthalten Koran und Überlieferung vergleichsweise detaillierte Anweisungen, die die Auslegungsmöglichkeiten eingrenzen. Die Theologie der islamischen Frühzeit hat diese Ausführungen in umfangreichen Kommentaren systematisiert, so dass die traditionelle Theologie in wesentlichen Rechtsfragen – gerade des Ehe- und Familienrechts – diesen Auslegungen als richtungsweisende Vorgaben folgen kann. Bis ins 19. Jahrhundert existierten in islamischen Ländern keine Gesetzeskodifikationen. Das osmanische Familiengesetzbuch vom 25.10. 1917 war das erste auf der Scharia gründende Gesetzbuch zum Familienrecht der islamischen Welt.20 Die meisten übrigen islamisch geprägten Länder schufen erst im Laufe des 20. Jahrhunderts Gesetzeskodifikationen.21

20 Hans-Georg Ebert, Wider die Schließung des „Tores des igtihad“, Zur Reform der šari’a am Beispiel des Familien- und Erbrechts, Orient 43 (2002), 368. 21 Einen Überblick über die Ehe- und Familiengesetzgebung einiger arabischer Länder Nordafrikas und des Mittleren Ostens vermittelt Dawoud Sudqi El Alami, The Marriage Contract in Islamic Law in the Shari’ah and Personal Status Laws of Egypt and Morocco, 1992.

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Das heutige Recht islamisch geprägter Länder ist eine Mischung koranischer Bestimmungen (und diese wiederum eine Mischung des auf den Islam intensiv einwirkenden altarabischen Gewohnheitsrechts22 und vermuteter früherer Rechtselemente wie des persisch-sassanidischen, jüdischen oder römischen Rechts23), Bestimmungen der Überlieferungen, Auslegungen namhafter Juristen und Theologen, aber auch europäischer Rechtselemente, die vor allem im Zuge der Kolonialzeit ihren Niederschlag in arabischen Ländern fanden. Daher ist auch dort, wo heute einzelne Staaten – wie Sudan (1983), Iran (1979/1982–3), Pakistan (1979) oder Teile Nigerias (ab 2000), Jemen und Libyen (jeweils 1994) sowie 2002 die Provinz Aceh (Indonesien) – eine ‚Rückkehr zur Scharia‘ und ihre vollständige Anwendung verkündeten, diese nicht wirklich vollzogen worden. Gemeint ist meist eine verschärfte Ausrichtung am koranischen Ehe- und Familienrecht mit Einzelfällen von Auspeitschung, Steinigung oder sogar Gliederamputation (vor allem in Nordnigeria). III. INHALTE

DER

SCHARIA

1. Ehe und Familienrecht Das Ehe- und Familienrecht gilt als Kern der Scharia.24 Mit wenigen Ausnahmen ist die Scharia heute in allen islamischen Ländern, aber auch in Teilen von Afrika und Südostasien eine wesentliche oder sogar die einzige Grundlage des Personenstandsrechts und damit der Rechtsprechung in Zivilprozessen. Eine rein säkulare, von religiösen Normen völlig abgekoppelte Rechtsprechung in Ehe- und Familienangelegenheiten existiert also in islamisch geprägten Ländern nicht (mit Ausnahme der Türkei). Daher bilden die Schariabestimmungen zum Ehe- und Familienrecht auch für das heutige Familienrecht den rechtlichen Hintergrund, oder anders gesagt, das heutige Familienrecht islamischer Länder ist ohne Kenntnis der Schariabestimmungen nicht verständlich und vorstellbar.25 Aufgrund der Tatsache, dass eine offzielle Schariakritik nicht existiert, werden im Hinblick auf die Scharia im wesentlichen Auslegungsfragen diskutiert. Während auf der einen Seite etliche Länder in den vergangenen Jahrzehnten Gesetzesmodifikationen vorgenommen und die Rechte von Frauen erweitert haben, mehren sich auf der anderen Seite im Zuge der in vielen Ländern deutlich voranschreitenden Islami22 So auch Salem (Fn. 8), 17. 23 Vgl. die Diskussion bei Ulrike Mitter, Das frühislamische Patronat. Eine Untersuchung zur Rolle von fremden Elementen bei der Entwicklung des islamischen Rechts, 1999, 16–18. 24 Einen Überblick über die Rechtsvorschriften des islamischen Eherechts bietet z. B. Jamal J. Nasir, The Islamic Law of Personal Status, 1986; einen Vergleich zwischen den einzelnen sunntischen Rechtsschulen und schiitischen Auffassungen Syed Ameer Ali, Mahommedan Law, 2 Vols, 1986, einen Überblick über die Einzelbestimmungen des islamischen Strafrechts Abdul Qader ’Oud Shaheed, Criminal Law of Islam, 2 vols., 1991. 25 Dazu gehören z. B. auch die weithin unhinterfragten rechtlichen Wirkungen legaler Eheschließungen. „Legal“ sind sie dann, wenn sie den entsprechenden Scharianormen nicht widersprechen. Die Wirkungen der legalen Eheschließungen vgl. etwa bei M. A. Qureishi, Muslim Law of Marriage, Divorce and Maintainance, 1992, 87–88, 93–94.

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sierung konservative Stimmen, die eine völlige Rückkehr zur Scharia im Ehe- und Familienrecht und eine gänzliche Abkehr der vermeintlichen bisherigen Ausrichtung an westlichen Rechtsvorstellungen fordern; teilweise kommt diese Forderung auch von Seiten konservativer Frauen(verbände). Gleichzeitig werden die mit Rücksicht auf die Schariabestimmungen eingeleiteten Reformen so lange nur begrenzt wirksam bleiben, wie der sakrosankte Charakter der Scharia nicht hinterfragt wird. Obwohl also das strenge Ehe- und Familienrecht des Korans und der Überlieferung nirgends vollständig zur Anwendung kommt, ist aufgrund der grundsätzlichen Beurteilung der Scharia als einzigem System auf Erden, das Mann und Frau Freiheit, Gerechtigkeit und Würde schenkt, auch in denjenigen Staaten eine teilweise Ausrichtung an der Scharia Realität, die an der strengen Auslegung der entsprechenden Koran- und Überlieferungstexte sowie deren Auslegung durch maßgebliche Theologen Abstriche machen. 2. Fortschritte im islamischen Familienrecht Obwohl das Ehe- und Familienrecht den Bewegungs- und Entscheidungsspielraum für Frauen z. T. sehr eng definiert, gestaltet sich ihre Situation in den einzelnen Ländern durchaus unterschiedlich. Einige Länder haben die Position der Frau vor allem im Scheidungs- und Kindschaftssorgerecht in den letzten Jahren verbessert und das Mindestheiratsalter hinaufgesetzt. Andere Länder – insbesondere auf der Arabischen Halbinsel – verfügen noch über kein kodifiziertes Familiengesetzbuch, so dass für Frauen eine gerichtliche Klage in Ehe- und Familienangelegenheiten fast aussichtslos sein dürfte. Bei der Begründung für die Beschränkung der Frauenrechte in islamischen Ländern geht es jedoch nicht nur um das Thema Religion. Auch tief verwurzelte kulturelle Traditionen, eng verflochten mit religiösen Werten, machen es Frauen in vielen Fällen schwer, unter verschiedenen Lebensperspektiven für ihren beruflichen wie privaten Alltag selbstbestimmt wählen zu können. So machen nicht selten dort, wo der Islam theoretisch Freiräume gewährt, die gesellschaftliche Realität und die Bewahrung der Traditionen deren Einforderung unmöglich: Zwar empfiehlt z. B. die islamische Überlieferung Männern wie Frauen den Erwerb von Wissen und Bildung, aber die allgemein anerkannten nahöstlichen Vorstellungen von ehrbarem Verhalten für Frauen verwehren in der Praxis oft den höheren Schul- oder Universitätsbesuch, sofern z. B. mit dem Unterricht lange Wege oder der intensive Kontakt zu nichtverwandten männlichen Lehrern, Dozenten oder Mitstudenten verbunden ist, der als unehrenhaft beurteilt werden kann. Das kulturell-religiös begründete Prinzip der Geschlechtersegregation und die unbedingte Notwendigkeit zur Wahrung des guten Rufes für die junge Frau wiegen nach Auffassung vieler Familien im Konfliktfall weitaus schwerer als der Nutzen des Bildungserwerbs. Zudem wird das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen in aller Regel Familien- und Gesellschaftsinteressen nachgeordnet. Dennoch haben sich die Bildungs- und Berufschancen für Frauen in islamisch geprägten Ländern in den letzten Jahrzehnten verbessert, allerdings vor allem im städtischen Bereich. Während nach westlicher Auffassung die Unterdrückung der Frau im Islam vor allen Dingen an Äußerlichkeiten wie dem Kopftuch festgemacht wird, finden die

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wirklichen Benachteiligungen an ganz anderer Stelle statt: Während das Kopftuch nach überwiegender Meinung weder einen Universitätsbesuch noch eine Berufstätigkeit verbietet und gerade junge Musliminnen mit Kopftuch nicht selten sehr gebildete und selbstbewusste Advokatinnen ihres Glaubens sind, finden die eigentlichen Benachteiligungen muslimischer Frauen im rechtlichen Bereich statt. Nicht übersehen werden darf, dass in den letzten Jahrzehnten etliche islamisch geprägte Länder gesetzliche Veränderungen im Familienrecht vorgenommen haben, die eine Besserstellung der Frau bewirken. So geht die Tendenz vielerorts zu einer Heraufsetzung des Mindestheiratsalters (anstelle der früher weitverbreiteten Verheiratung der Tochter mit Eintritt der Pubertät) sowie zu der vermehrten staatlichen Registrierung der Eheschließung (anstelle des herkömmlichen, nicht öffentlichen Vertragsschlusses zwischen zwei Familien). Die Tendenz geht auch zu einer Beschränkung der Polygamie durch das Erfordernis einer richterlichen Genehmigung einer Zweitehe, gekoppelt an die Aufdeckung der bestehenden Vermögensverhältnisse (anstelle der zuvor dem einzelnen überlassenen zweiten oder dritten Eheschließung) und zur Auflage eines Versöhnungsversuches vor der Gewährung der gerichtlichen Scheidung (anstelle des traditionellen Scheidungsverfahrens, des formlosen dreimaligen Aussprechens der Scheidungsformel „Ich verstoße dich“ durch den Ehemann). Auch die Erweiterung der gerichtlich anerkannten Scheidungsgründe bei Klageerhebung durch die Frau (anstelle der nach traditioneller Auffassung für die Frau kaum möglichen Scheidung) ist in zahlreichen Ländern auszumachen sowie eine prinzipielle Verbesserung der Kindschaftssorgeregelung, die die Mutter nach einer Scheidung nicht mehr grundsätzlich von der Erziehung und dem Kontakt zu ihren Kindern ausschließt (anstelle der alleinigen Wahrnehmung der Erziehung durch den Vater ab dem Alter von sieben Jahren für Jungen bzw. neun Jahren für Mädchen). In anderen islamisch geprägten Staaten ist jedoch eine umgekehrte Entwicklung zu beobachten: In der Rückbesinnung auf den Islam und seine Rechtsprinzipien wird eine „Reinigung“ der Gesetzgebung von europäischen Rechtselementen aus der Kolonialvergangenheit sowie die vermeintlich „vollständige Einführung der Scharia“ proklamiert. In den letzten Jahren sind in Ländern wie Nigeria, dem Iran oder dem Sudan Schauprozesse – insbesondere wegen Ehebruchs – als öffentliche Demonstration der Wiedereinführung der Scharia geführt worden. Selbstverständlich spielen hier nicht nur religiöse, sondern auch vielschichtige gesellschaftliche wie politische Gründe eine Rolle. Nicht immer ging es offensichtlich darum, einen schariakonformen Prozess zu führen – der z. B. den männlichen Teil hätte ebenso schuldig sprechen müssen wie den weiblichen – sondern eher darum, an einer Angehörigen einer rechtlosen Minderheit oder unterprivilegierten Schicht vor der Weltöffentlichkeit ein Exempel zu statuieren. Zwar ist in der Theorie der Korpus an Schariabestimmungen zum Thema Ehe und Familie für alle islamischen Länder relativ einheitlich – abzüglich differierender Auffassungen der einzelnen Rechtsschulen –, in der Praxis werden diese Schariabestimmungen jedoch von Land zu Land sehr unterschiedlich gehandhabt und haben daher auf die rechtlich-gesellschaftliche Situation muslimischer Frauen sehr unterschiedliche Auswirkungen. Dazu kommen die vor Ort gelebten kulturellen Normen, die teilweise im Islam wurzeln, teilweise als vorislamische kulturelle Werte in islamischer Zeit aufgegriffen wurden und nun eng mit ihm verwoben sind.

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Auch der Grad der Frömmigkeit einzelner Familien ist von großer Bedeutung sowie die Frage, ob eine Frau und ihre Angehörigen im ländlichen oder städtischen Bereich leben. Ein städtisches, günstigstenfalls wohlhabendes, Bildung und Fortschritt gegenüber aufgeschlossenes Familienumfeld bietet einer Frau ganz andere Entfaltungs- und Bewegungsmöglichkeiten als ein ländliches, traditionelles, ökonomisch wenig entwickeltes Umfeld, das einer Frau häufig keine Wahlmöglichkeiten in Bezug auf ihre Heirat oder Berufstätigkeit lässt. 3. Die Gehorsamsfrage der Frau Stets hat die muslimische Apologetik die Gleichberechtigung der Frau im Islam hervorgehoben. Die Gleichberechtigung der Frau gehe – so die muslimische Apologetik – aus dem koranischen Schöpfungsbericht ebenso hervor (Sure 39,6; 49,13) wie aus der Verpflichtung von Mann und Frau zur Erfüllung der Gebote des Islam (vor allem der „Fünf Säulen“), in der die Frau dem Mann in nichts nachstände. Ja, Männer und Frauen seien „aus einem einzigen Wesen“ erschaffen worden (Sure 4,1), einander zu „Beschützern“ oder „Freunden“ (Sure 9,72), und beiden werde gleichermaßen das Paradies verheißen, wenn sie „Gott demütig ergeben“ seien (Sure 33,35) und „glauben und das rechte tun“ (Sure 16,97). Muhammad habe, so die muslimische Apologetik, die Lage der Frau verbessert und ihr wahre Würde und Ansehen verliehen. Ungeachtet des Schöpfungsberichtes, der Mann und Frau zunächst unbestritten auf eine Stufe stellt, begründet der Koran an anderer Stelle – und umso mehr die islamische Überlieferung – eine eindeutige Überordnung des Mannes über die Frau und ihre rechtliche Benachteiligung. Als Koranvers von großer rechtlicher wie gesellschaftlicher Tragweite ist hier z. B. Sure 4,34 zu nennen: „Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie vor diesen ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben. Und die rechtschaffenen Frauen sind demütig ergeben (oder: gehorsam)…“. Und ähnlich Sure 2,228: „Die Männer stehen eine Stufe über ihnen.“ Muslimische Theologen kommentieren diese Verse leider häufig traditionell: „Männer und Frauen haben als Menschen nicht denselben Wert“26. Der berühmte Koranausleger Ibn Kathir erläutert Sure 4,34 mit den Worten: “Männer sind Frauen überlegen, und ein Mann ist besser als eine Frau.“ 27 Insbesondere aus Sure 4,34 werden zwei Grundkomponenten des islamischen Eherechts abgeleitet, die als Garanten von Gerechtigkeit und Stabilität im Familienleben betrachtet werden: Die Überordnung des Mannes über die Frau, begründet damit, dass Gott den Mann über die Frau gestellt hat (Sure 2,228), sowie damit, dass der Mann „Ausgaben“ für die Frau hat (4,34). Diese „Ausgaben“ beziehen sich nach weitgehend übereinstimmender Auffassung auf die Pflicht des Mannes zum Unterhalt seiner Frau, während sie ihm „demütig ergeben“ oder „gehorsam“ zu sein hat (4,34). Dieser Gehorsam wird in erster Linie auf den Bereich der Sexualität bezogen, denn der Mann erwirbt mit Abschluss des Ehevertrages und Aufnahme der Unterhaltszah-

26 P. Newton/M. Rafiqul Haqq, The Place of Women in Pure Islam, 19943, 2. 27 Ibn Kathir, zitiert nach ebd.

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lungen das Recht auf Sexualität (vgl. Sure 2,223; 2,187): „a contract of marriage is at once a legal, religious, economic and symbolic transaction.“28 Die beiden Säulen des islamischen Eherechts lauten also „Unterhalt“ und „(sexueller) Gehorsam“. Mit der Eheschließung erwirbt die Ehefrau nach einhelliger Auffassung der muslimischen Theologie das Recht auf Unterhalt, das sich auf den täglichen Lebensunterhalt (Nahrung, Kleidung, eine angemessene Wohnung) bezieht, nach Meinung der malikitischen Rechtsschule auch auf die medizinische Versorgung der Ehefrau im Krankheitsfall. Wenn also der Ehemann seine Unterhaltspflicht versäumt, erhält seine Frau sozusagen als Folge das Recht zum Ungehorsam29: Ist sie ungehorsam (indem sie z. B. gegen seinen Willen das Haus verlässt30 und berufstätig ist), kann der Ehemann seine Unterhaltszahlungen einstellen. Es geht also bei der Gehorsamsfrage nicht so sehr um eine kulturelle Frage oder die Art und Weise, wie diese oder jene Ehe geführt wird, sondern um eine rechtlich bindende Verpflichtung, die die Frau mit der Eheschließung eingeht.31 Diese Grundlage des islamischen Eherechts von Überordnung und Unterordnung zieht eine Reihe von Folgerungen nach sich, die sich auf das gesamte islamische Ehe-, Scheidungs- und Kindschaftssorgerecht auswirken. 4. Beispiele für die rechtliche Bevorzugung des Mannes * Die Überlegenheit des Mannes, die auch die Überlieferung wieder und wieder herausstellt, wird in einigen Koranversen zum Zeugenrecht näher ausgeführt. Nach Sure 2,282 kann die Zeugenaussage eines Mannes nur von zwei Frauen aufgewogen werden, denn „eine Frau allein kann sich irren“ (2,282). Viele muslimische Theologen bescheinigen Frauen von ihrer ‚natürlichen Anlage her‘ emotional eine größere Labilität, Irrationalität und beschränkte Einsicht in intellektuelle Angelegenheiten. „Frauen stehen unter der Herrschaft ihrer Gefühle, wohingegen Männer ihrem Verstand folgen“32. Eine Unterdrückung der Frau sei dies nicht – so die muslimische Apologetik; der Islam fordere lediglich nicht mehr von der Frau, als sie aufgrund ihrer biologischen Gegebenheiten zu leisten imstande sei. „Die geistige Überlegenheit des Mannes über die Frau … ist einfach von der Natur so vorgegeben.“33 * Unter den Ungleichheiten des Eherechts ist auch der bekannte „Züchtigungsvers“ des Korans zu benennen, der dem Ehemann ein Erziehungsrecht an seiner Frau zugesteht: „Und wenn ihr fürchtet, daß (irgendwelche) Frauen sich auflehnen, 28 Shahla Haeri, Divorce in Contemporary Iran, in: Chibli Malllat/Jane Connors (Hrsg.), Islamic Family Law, 1993, 57. 29 Zur eherechtlichen Definition von „Ungehorsam“, insbesondere durch eigenmächtiges Verlassen des Hauses (etwa zur Arbeitsaufnahme) vgl. Lynn Welchman, Beyond the Code. Muslim Family Law and the Shari’a Judiciary in the Palestinian West Bank, 2000, 222 ff. 30 Nur die Rechtsschule der Hanafiten erkennt ausschließlich das Verlassen des Hauses gegen den Willen des Ehemannes als „ungehorsames“ (arab. nashiza) Verhalten an; für die drei übrigen sunnitischen Rechtsschulen besteht auch Ungehorsam, wenn die Ehefrau zwar zu Hause ist, aber den ehelichen Verkehr verweigert: David Pearl, A Textbook on Muslim Law, 1979, 65. 31 Dies betont auch Haeri (Fn. 28), 61. 32 Murtada Mutahhari, The Rights of Women in Islam, 1981, 182 mit Bezug auf eine nichtmuslimische Psychologin. 33 Ebd.

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dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie!“ (Sure 4,34). Zwar ruft die Überlieferung Männer gleichzeitig dazu auf, ihre Frauen gut zu behandeln, und zahlreiche Theologen betonen, dass eine Frau niemals heftig oder ins Gesicht geschlagen werden dürfe, zumindest nicht so, dass sie eine Verletzung davontrüge, sondern nur symbolisch, um sie zu demütigen (z. B. mit einer „Zahnbürste“)34. Andere Juristen benennen einen „Stock“ oder eine „Peitsche“ als legitimes Züchtigungsinstrument des Mannes für seine Frau.35 Die malikitische Rechtsschule gestattet der Frau eine Scheidung aufgrund von Grausamkeit36, und zahlreiche Länder haben der Frau eine Scheidungsmöglichkeit aus diesem Grund de facto eingeräumt. Islamische Apologetik betont, Schläge seien nur ein letztes Erziehungsmittel, wenn auf andere Weise kein ‚Frieden‘ in eine Familie zu bringen sei. Da der Mann rationaler sei und das Oberhaupt der Familie, obliege es ihm, die Ordnung zu wahren und Rebellion und Unfrieden – notfalls mit Druckmitteln – zu beenden. Von Muhammad ist überliefert: „Der Prophet sagte: Schlagt nicht die Mägde Gottes. Da kam ‚Umar [der zweite Kalif, regierte 634–644 n. Chr.] und sagte: ‚O Gesandter Gottes, die Frauen rebellieren gegen ihre Gatten.‘ So erlaubt er, sie zu schlagen“37. * Auch das auf Koran und Überlieferung gründende Scheidungsrecht gesteht dem Mann größere Rechte zu: Die traditionelle Verstoßungsformel „Ich verstoße Dich“ reicht heute in vielen Ländern nicht mehr aus, dennoch ist die Scheidung für den Mann bis heute erheblich einfacher als für die Frau, die ihrerseits für eine Scheidung immer einen Gerichtsprozess anstrengen und stichhaltige Gründe vorbringen sowie Beweise für ein Fehlverhalten des Mannes vorlegen muss, um eine Scheidung erwirken zu können. Gleichzeitig wird eine Scheidung sie jedoch häufig sozial stigmatisieren und wirtschaftlich in verzweifelter Lage zurücklassen. Auch die „widerrufliche“ Scheidung ist dem Mann allein erlaubt, indem er die Scheidungsformel nur einmal ausspricht und seine Frau wochen- und monatelang in einem Schwebezustand zwischen Scheidung und Ehe hält. Die Entscheidung, ob der Ehemann spätestens vor Ablauf des vollendeten dritten Monats die Scheidung zurücknimmt und die Ehe fortsetzt oder den letzten Tag der Zurücknahmemöglichkeit einfach verstreichen lässt und die Frau als verstoßen gilt, liegt allein bei ihm. In den letzten Jahrzehnten haben allerdings etliche Länder die Scheidung für den Mann erschwert, z. B., indem das Gericht der tatsächlichen Scheidung ein oder zwei Versöhnungsversuche vorschaltet und einen Vermittler beruft. * Die rechtliche Bevorzugung des Mannes im islamischen Eherecht wird auch im Kindschaftssorgerecht deutlich, da nach traditioneller Auffassung nach einer Scheidung die gemeinsamen Kinder eines Paares immer dem Mann gehören, in dessen Familie sie nach dem Ende der Kleinkinderzeit aufwachsen. Sieht das klassische islamische Recht eine vorübergehende Personensorge für Jungen bis sieben, für Mädchen bis neun Jahre durch die Mutter vor, haben heute viele islamische Länder diese Fristen angehoben und erlauben der Mutter die Fürsorge bis zum Alter von 15 Jahren für Jungen und bis 18 für Mädchen, nicht selten auch bis zur Eheschließung. 34 So auch ein Rechtskommentar für Britisch Indien von 1940: David Pearl/Werner Menski, Muslim Family Law, 19983, 187. 35 Shaheed (Fn. 24), Vol. 2, 235. 36 Vgl. David Pearl (Fn. 30), 109. 37 Zitiert nach Adel-Theodor Khoury (Übers.), So sprach der Prophet, Worte aus der islamischen Überlieferung, 1988, 268.

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Allerdings werden in einer Gesellschaft, die Männern so eindeutig den rechtlichen Vorrang einräumt, nicht selten Mittel und Wege gefunden, Müttern dieses Recht zu entziehen. * Wird im traditionellen Rahmen geheiratet, wie es für die Mehrzahl der Eheschließungen noch heute üblich ist, wird auch heute die Mehrzahl der Frauen von ihrem Vormund „verheiratet“, häufig, indem sie selbst kein Mitspracherecht bei der Wahl des Ehepartners hat. Heute haben jedoch etliche Länder zumindest gesetzlich das Mindesheiratsalter für Mädchen wie Jungen auf meist 16 bzw. 18 Jahre heraufgesetzt. Im städtischen Bereich leidet die Großfamilie unter Auflösungserscheinungen, die soziale Kontrolle wird weniger eng und „Liebesheiraten“ werden häufiger. Dennoch: nur eine Minderzahl muslimischer Frauen sind in der Lage, eine eigene Wahl hinsichtlich ihrer allgemeinen Lebensperspektive wie auch im Blick auf den Ehemann zu treffen, die Mehrzahl wird von ihrer Familie verheiratet, indem ihre Eltern für sie verhandeln und entscheiden. Die Frau unterzeichnet in aller Regel nicht selbst ihren Ehevertrag, ja ist selbst nicht unbedingt anwesend – d.h. ist im rechtlichen Sinn nicht für sich selbst handlungsberechtigt –, sondern wird von ihrem Vater oder einem anderen männlichen Familienmitglied vertreten. Der Ehevertrag – und darin besonders die Höhe der Brautgabe – wird in aller Regel nicht von ihr selbst ausgehandelt werden, sondern von ihrer Familie. * Eine Benachteiligung der Frau ist aus nichtmuslimischer Sicht selbstverständlich auch die Polygamie, die dem Mann – ausgenommen in Tunesien und der Türkei – prinzipiell immer die Möglichkeit zu einer Zweitehe eröffnet (4,3), die Frau zur Zweit- oder Drittfrau degradieren kann, während umgekehrt eine Mehrehe für Frauen selbstverständlich nicht zulässig ist. Allerdings haben zahlreiche islamisch geprägte Länder die Einholung einer Zustimmung vor den Abschluss einer Zweitehe gestellt, die entweder von der Erstfrau erteilt werden muss (wie z. B. in Ägypten) oder auch von einer lokalen Behörde (wie in Pakistan38) bzw. gerichtlich (wie in Pakistan 39) oder durch den Qadi (so wie etwa im Irak)40. Von Schiiten wird zudem die „Zeitehe“ (oder „Genuss“-Ehe) praktiziert, eine Art Nebenehe, die über die erlaubten vier Frauen hinaus für einen begrenzten Zeitraum – z. B. für eine Reise – auch ohne Wissen der Ehefrau(en) geschlossen werden kann. * Deutlich benachteiligt ist die Ehefrau auch im Erbrecht, wenn das – im übrigen überaus komplizierte muslimische Erbrecht – der Frau immer nur die Hälfte von dem zubilligt, was ein männliches Familienmitglied an ihrer Stelle erhalten hätte. * Und schließlich weisen auch die Familie, Gesellschaft und nahöstlich-muslimische Kultur der Frau einen nachgeordneten Platz zu, wenn sie empfiehlt oder sogar anordnet, dass eine Frau Sitte und Anstand zu wahren und sich bevorzugt im Haus aufzuhalten habe, um nicht durch ihr Verlassen des Hauses und ihren Umgang mit nichtverwandten Männern Anlass zu Unmoral zu geben. Sie hat sich zu verhüllen, sie ist für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral wie das Ansehen der eigenen Familie verantwortlich, und ihr Verhalten wird streng anhand dieser Normen kontrol38 Vgl. die Einzelbestimmungen zum Abschluss einer Mehrehe in Pakistan bei David Pearl, Three Decades of Executive, Legislative and Judicial Amendments to Islamic Family Law in Pakistan, in: Islamic Family Law, hrsg. von Chibli Malllat/Jane Connors, 1993, 322. 39 Hans-Georg Ebert, Zur Anwendung der sari’a in Libyen, ZDMG 143/1993, 367. 40 So Pearl (Fn. 30), 71.

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liert. Zwar sehen Koran und Überlieferung in der Theorie für den Mann wie für die Frau dieselben Strafen für Unzucht bzw. Ehebruch vor (Auspeitschen, Steinigung). In der Praxis jedoch werden Männern vor und in der Ehe ein weitaus größerer Bewegungsspielraum und z. T. gelegentliche moralische Verstöße zugestanden, da die Frau allein als die Bewahrerin der Familienehre gilt und ihr Verhalten die Familie entehrt, nicht das des Mannes. Dabei verträgt sich diese rechtlich und gesellschaftlich durchgängig sichtbare Höherordnung des Mannes aus muslimischer Sicht durchaus mit dem Gleichheitsgrundsatz, den islamische Menschenrechtserklärungen für Frau und Mann formulieren, denn die Frau sei zwar gleichwertig, aber nicht gleichartig geschaffen. Die Unterschiedlichkeit von Mann und Frau käme in der unterschiedlichen Aufgabenverteilung zum Ausdruck, die schon durch Schwangerschaft und Geburt vorgegeben sei. Die islamischen Ehegesetze dienten daher keinesfalls der Unterdrückung, sondern eigentlich dem Schutz der Frau – so die muslimische Apologetik. Selbstverständlich fordern islamische Frauenbewegungen seit Jahrzehnten vermehrte Rechte ein. Aber dennoch: Die traditionelle Argumentation lautet, dass der Islam – wenn er nur richtig verstanden und gelebt würde – der Frau volle Rechte gewähre und sie in einer „wahrhaft islamischen“ Gesellschaft glücklich und zufrieden leben könne. Daher fordern Frauenrechtlerinnen selten eine Aufhebung des islamischen Gesetzes oder eine Säkularisierung des Islam ein, sondern meist eine Neuinterpretation oder Herausarbeitung des „wahren“ Islam der Frühzeit, wie ihn Muhammad verkündigt habe. IV. DAS

ISLAMISCHE

STRAFRECHT

1. Grundzüge des Strafrechts Neben dem Ehe- und Familienrecht ist das islamische Strafrecht eines der Themen, bei dem sich im Vergleich zu westlichen Menschenrechtsvorstellungen und westlicher Gesetzgebung die größten Differenzen ergeben. Das islamische Strafrecht basiert nach überwiegender Meinung auf einer Dreiteilung in Grenz-, Ermessens- und Wiedervergeltungsvergehen. Vergehen beinhalten einen rechtlichen wie moralischen Aspekt. Das islamische Strafrecht ist daher nicht nur ein System der Definition bestimmter Vergehen und ihrer Bestrafung, sondern gleichzeitig eine Morallehre, die den Menschen erziehen und bessern, ihn vor Strafe warnen und so das Böse in der Gesellschaft überhaupt verhindern soll.41 Vergleichweise wenige Verbrechen und das dafür vorgesehene Strafmaß werden im Koran konkret benannt. In einigen Fragen bricht der Koran mit dem arabischen Gewohnheitsrecht, in einigen Fragen modifiziert er es, wenn er z. B. bei Mord und Totschlag eine begrenzte Vergeltung erlaubt. Hinzu kommt ein großes Spektrum an Vergehen, deren Ahndung weitgehend im Ermessen der betreffenden Rechtsorgane liegen. Teilweise sind die in einem konkreten Fall zu erwartenden Strafen nicht im Voraus definiert und abzuschätzen. 41 Die moralische Autorität der Sharia betont z. B. besonders Nagaty Sanad, The Theorie of Crime and Criminal Responsibilty in Islamic Law: Shari’a, 1991, 49 ff.

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a) Grenzvergehen (hadd-Vergehen) Mit „Grenzvergehen“ werden diejenigen vergleichsweise wenigen Verbrechen bezeichnet, die der Koran oder die Überlieferung als Kapitalverbrechen benennen und mit einem im Koran bzw. der Überlieferung definierten Strafmaß belegen. „Grenz“vergehen sind es, weil sie nicht menschliches Recht, sondern das Recht Gottes verletzen42, indem eine Grenze überschritten wird. Ein Gerichtsverfahren wegen eines Grenzvergehens darf daher nicht durch eine außergerichtliche Einigung abgewendet, noch darf die Strafe verschärft oder vermindert werden, sondern es muss genau die im Koran bzw. der Überlieferung vorgesehene Strafe vollstreckt werden. Zu den Grenz- bzw. Kapitalverbrechen gehören: * Ehebruch und Unzucht (arab. zina’), außerehelicher, ohne Zwang ausgeübter Geschlechtsverkehr von mündigen, geistig gesunden Verheirateten oder Unverheirateten. Der Koran bedroht den unzüchtigen Unverheirateten nach Sure 24,2–3 mit 100 Peitschenhieben, die Überlieferung fordert die Todesstrafe für Verheiratete.War die Frau unverheiratet, der Mann aber verheiratet, soll die Frau im Haus eingesperrt werden, „bis der Tod sie abberuft oder Gott ihr einen Ausweg schafft“ (4,15). Ist der Mann unverheiratet, die Frau aber verheiratet, soll er für ein Jahr verbannt werden; die Frau erhält 100 Peitschenhiebe. * Die Verleumdung wegen Unzucht (arab. qadhf) erfordert nach Sure 24,2–3 80 Peitschenhiebe. Diese vermutlich zum Schutz vor ungerechtfertigter Anzeige gedachte Regelung kann sich auch gegen das Opfer einer Vergewaltigung wenden, wenn eine Frau diese zwar zur Anzeige bringt, aber keine vier männlichen Zeugen noch ein Geständnis erbringen kann. Dann droht ihr eine Gegenklage wegen Verleumdung von Unzucht, und sie wird ein zweites Mal zum Opfer. * Schwerer Diebstahl (arab. sariqa): Sure 5,33+38 fordert ebenso wie die Überlieferung beim ersten Mal die Amputation der rechten Hand und im Wiederholungsfall des linken Fußes. Die islamische Rechtswissenschaft hat mehrere Möglichkeiten gefunden, diese harte Strafe zu umgehen, indem sie einen Diebstahl nur unter gewissen Bedingungen als echten Diebstahl gelten läßt (was z. B. bei Taschendiebstahl oder einem Diebstahl aus Not heraus nicht gegeben ist). Die hanbalitische Rechtsschule anerkennt zudem den „Rechtskniff “ (die Rechtsumgehung), dass der Beschuldigte schwört, das gestohlene Gut gehöre ihm, damit er der Amputation entgehen kann43. * Schwerer Straßen- und Raubmord (arab. qat’ at-tariq): Wegelagerei (ohne dass Raub oder Mord hinzukommen) soll nach Auffassung mancher Rechtsgelehrter mit Gefängnis oder Verbannung bestraft werden. Wegelagerei in Verbindung mit Raub fordert die Amputation der rechten Hand und des linken Fußes. Kommt zur Wegelagerei die Tötung eines Menschen hinzu, wird über den Täter die Todesstrafe verhängt. * Der Genuss von Wein (arab. shurb al-hamr) bzw. aller berauschender Getränke. Vielfach werden auch jede Art von Drogen darunter gefasst. Die Überlieferung fordert 40 (andere Überlieferungen: 80) Schläge zur Bestrafung von Weingenuss. 42 B. Carra de Vaux/J. Schacht, hadd, in: Encyclopaedia of Islam, Vol. 3, 1986, 20. 43 Baradie (Fn. 14), 115.

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Die Überlieferung – nicht jedoch der Koran – benennt unter den Kapitalverbrechen zudem Homosexualität und Vergewaltigung, allerdings wird das Strafmaß dafür unter muslimischen Theologen kontrovers diskutiert. Einige Juristen fordern in diesen Fällen die Todesstrafe, andere reihen die Homosexualität unter „Ermessensvergehen“ ein. Auch der Abfall vom Islam verlangt nach überwiegender Auffassung aller vier Rechtsschulen die Todesstrafe (eine liberalere Position, wie sie aktuell etwa von Abdullahi Ahmed an-Na’im vertreten wird, der von dem 1985 hingerichteten sudanesischen Theologen Mahmud Mohammad Taha geprägt wurde44), verneint allerdings die heutige Berechtigung der Todesstrafe), obwohl der Koran demjenigen, der dem Islam den Rücken kehrt, nur eine Strafe im Jenseits androht. Für das Diesseits fordert lediglich die Überlieferung die Todesstrafe. Zwar ist das Strafmaß für die Kapitalverbrechen überaus hart, aber die Voraussetzung für eine Verurteilung auch nur schwer zu erreichen: entweder durch ein Geständnis bzw. die Aussage zweier glaubwürdiger männlicher Augenzeugen, bei Ehebruch und Unzucht sind sogar vier männliche Augenzeugen erforderlich. Ein Geständnis muss freiwillig erfolgen und der Geständige mündig und geistig gesund sein und vorsätzlich gehandelt haben45. Muslimische Juristen haben zwar immer wieder betont, dass ein Angeklagter im Falle eines Zweifels nicht mit den Grenzstrafen bestraft werden soll, da sich Muhammad im Zweifelsfall für die Nicht-Verurteilung eines Verdächtigen ausgesprochen haben soll; wenn allerdings kein Beweisverfahren für ein Kapitalverbrechen geführt werden kann, kann ein Verdächtiger dennoch bestraft werden, z. B. mit einer Strafe, die im Ermessen des Richters liegt und u. U. doch noch die Todesstrafe beinhalten kann, wenn der Richter von einer besonderen Schwere der Schuld ausgeht. Geständnisse können bis zur Vollstreckung der Strafe zurückgezogen oder auch bei Unglaubwürdigkeit vom Richter zurückgewiesen werden, und Kapitalverbrechen verjähren überaus rasch. Indizienprozesse (etwa anlässlich einer Schwangerschaft einer unverheirateten Frau) sind in Einzelfällen möglich46, aber entsprechen eigentlich nicht dem klassischen Beweisverfahren des Geständnisses oder der Überführung durch Augenzeugenberichte.47 All das schränkt die Verhandlung von Kapitalverbrechen vor Gericht ein wie auch die Tatsache, dass die meisten Kapitalvergehen – insbesondere Fälle von Ehebruch und Unzucht – kaum je vor Gericht gebracht werden, sondern insbesondere eine Frau von ihrer eigenen Familie mit Schlägen, Einsperren oder Tod bestraft werden wird. Wird dennoch ein Kapitalverbrechen vor Gericht gebracht, geht es weniger um objektive Schuld oder Unschuld, sondern um einen Stellvertreterprozess, in dem ein Anghöriger einer einflusslosen Minderheit, der über keine gesellschaftlichen Schutzmechanismen verfügt, als Opfer einer politisch ambitionierten Gruppe ausersehen wurde. Daher ist mit dem 1993 von Extremisten ermordeten ägyptischen Publizisten Farag Fouda davon auszugehen, dass es 44 Vgl. die Beschreibung seiner Position bei Lorenz Müller, Islam und Menschenrechte. Sunnitische Muslime zwischen Islamismus, Säkularismus und Modernismus, 1996, 241. 45 Silvia Tellenbach, Strafgesetze der Islamischen Republik Iran, 1996, 47. 46 Vgl. die Aufzählung der Methoden der Beweisführung in Strafprozessen bei Mohamed S. El-Awa, Punishment in Islamic Law: A Comparative Study, 1993, 124 ff. 47 Das Strafgesetzbuch des Iran lässt eine uneheliche Schwangerschaft nicht als ausreichenden Beweis für einen unerlaubten Verkehr zu, sondern bezieht die Möglichkeit der Vergewaltigung ein: Tellenbach (Fn. 45), 14.

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„sich bei dem Ruf nach der schari’a nicht etwa um eine Frage des Glaubens [handelt], vielmehr um einen religiös verbrämten politischen Machtkampf um die Herrschaft.“48

Summa summarum wird Schariarecht im Strafrecht äußerst selten angewandt, obwohl es gleichzeitig in ihrem theoretischen Anspruch nirgends offiziell negiert oder relativiert wird. In den meisten Fällen wird es unter der Vorgabe, ausgelegt oder in seinem „eigentlichen“ Sinn angewandt zu werden, teilweise außer Kraft gesetzt oder ganz von anderen Gesetzen abgelöst. b) Verbrechen mit Wiedervergeltung (qisas-Vergehen) Die zweite Kategorie der Verbrechen sind Vergehen mit Wiedervergeltung (arab. qisas) gegen Leib und Leben eines Menschen. Mord oder Totschlag verletzen also nach Auffassung der Scharia nicht göttliches, sondern nur menschliches Recht, während Ehebruch und Alkoholgenuss unter die Grenzvergehen fallen, die Gottes Recht verletzen49. Die Verbrechen mit Wiedervergeltung erfordern die Zufügung derselben Verletzung bzw. die Tötung des Schuldigen, die – falls der Berechtigte darauf verzichtet – in Zahlung von Blutgeld umgewandelt werden kann, sowie eine religiöse Bußleistung wie z. B. zusätzliches Fasten (2,178–179). Im juristischen Sinne schuldig ist nur der Volljährige, der im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte ist. Wiedervergeltung bedeutet die Zufügung derselben Verletzung bzw. die Tötung des Mörders oder Totschlägers unter Aufsicht des Richters. Sofern ein Mensch vorsätzlich zu Tode gebracht wurde, kann die Familie des Getöteten die Tötung des Schuldigen verlangen. Allerdings kann nur der nächste männliche Verwandte diese Forderung aussprechen, der die Tötung des Schudigen unter Aufsicht des Richters durchführen darf. Dabei gilt streng das Prinzip der Gleichheit: eine Frau für eine Frau, ein Sklave für einen Sklaven. „O ihr Gläubigen! Euch ist Wiedervergeltung für die Getöteten vorgeschrieben: Der Freie für den Freien, der Sklave für den Sklaven, und die Frau für die Frau!“ (Sure 2,178). Kann diese Gleichheit nicht hergestellt werden, darf keine Wiedervergeltung geübt werden. Die Familie des Opfers kann auf die Tötung des Schuldigen verzichten und stattdessen die Zahlung eines Blutpreises (arab. diya) fordern. Im Iran beträgt der Blutpreis für einen muslimischen Mann derzeit 100 fehlerlose Kamele, 200 Kühe oder 1.000 Hammel, 200 jemenitische Gewänder und 1.000 Dinar oder 10.000 Silberdirham50. Für eine Frau beträgt er in der Regel die Hälfte, ebenso ist er für einen Nichtmuslim meist geringer. Wurde einem Opfer nur eine Verletzung zugefügt, kann dem Täter dieselbe Verletzung zugefügt werden, aber nur vom Opfer selbst. Auch hier kann eine Entschädigung bezahlt werden, wenn das Opfer auf Vergeltung verzichtet. Die Wiedervergeltung kommt nur selten gerichtlich zur Anwendung, kommt aber besonders im tribal geprägten Umfeld unter den einzelnen Stämmen oder Clanen zur Anwendung.

48 Ermute Heller/Hassouna Mosbahi, Islam, Demokratie, Moderne. Aktuelle Antworten arabischer Denker, 1998, 24. 49 Konrad Dilger, Tendenzen der Rechtsentwicklung. in: Der Islam in der Gegenwart, hrsg. von Werner Ende/Udo Steinbach, 19964, 206. 50 Tellenbach (Fn. 45), 96–97.

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c) Ermessensvergehen (ta’zir-Strafen) Alle anderen Fälle, die nicht zu den Kapitalverbrechen und Verbrechen mit Wiedervergeltung gehören, sind bei der Bestrafung in das Ermessen des Richters gestellt. Aufruhr, falsches Zeugnis, Beleidigung, Bestechung, Urkundenfälschung, Unterschlagung, Verkehrsverstöße, Betrug, Erpressung, Kidnapping u. a., sowie Kapitalvergehen, die z. B. durch einen Mangel an Beweisen nicht als Kapitalverbrechen bestraft werden können, gehören zu den Ermessensvergehen. Der Richter kann harte Strafen verhängen wie lange Gefängnisstrafen (auf eine bestimmte Zahl von Jahren begrenzte und unbegrenzte Haft), Verbannung, Auspeitschung (die Ansichten unter muslimischen Theologen variieren von 20 bis 99 Peitschenhieben51) oder Geldstrafen. Der Richter kann den Täter seines Amtes entheben oder seinen Besitz beschlagnahmen. Auch eine bloße Ermahnung oder ein Tadel kann als Ermessensstrafe gelten. Der Richter kann den Schuldigen öffentlich bloßstellen und vor ihm als einer nicht vertrauenswürdigen Person warnen52. In schweren Fällen kann der Richter für Ermessensvergehen sogar die Todesstrafe verhängen und zwar nach verbreiteter Auffassung vor allem bei Gewohnheitstätern ohne Aussicht auf Besserung: Homosexuelle, Verkünder von Häresien, die die islamische Gemeinschaft spalten, Mörder, sofern ihre Tat nicht durch Vergeltung gerächt wird, Rauschgifthändler oder Spione. Allerdings ist die Berechtigung der Verhängung der Todesstrafe unter den Rechtsgelehrten strittig, denn einige Theologen sind der Auffassung, dass eine Ermessensstrafe nie den Umfang einer Kapitalstrafe erreichen dürfe. Die Bandbreite an Straftatbeständen, die in den Ermessensbereich des Richters fallen, ist immens groß. Vor allem dort, wo noch kein kodifiziertes Strafgesetzbuch vorliegt (wie wohl derzeit noch in einigen Golfstaaten) ist die Bestrafung für ein Vergehen, das weder unter die Grenz-, noch unter die Wiedergeltungsverbrechen fällt, damit von anderweitigen Faktoren abhängig, die sich außerhalb rechtsstaatlicher Strukturen bewegen. 2. Die Scharia nach Anspruch und Wirklichkeit Das islamische Strafrecht wird also durch mehrere Besonderheiten gekennzeichnet: Zum einen durch seine immens harten Strafen wie Auspeitschung, Amputation, Steinigung und Kreuzigung für Kapitalverbrechen. Gleichzeitig ist ein Prozess nur sehr schwer, bzw. im Fall des Ehebruchs bzw. der Unzucht, der vier männliche Augenzeugen erfordert, so gut wie unmöglich. Dieser Umstand und die nahöstlichmuslimische Auffassung von Ehre und Schande, die die Frau als Trägerin der Ehre z. T. harten Sanktionen aussetzt, macht die private Ahndung eines vermeintlichen oder tatsächlichen Verbrechens wahrscheinlicher, da nach teilweiser gesellschaftlicher Auffassung durch eine familiäre Bestrafung kein wirkliches Unrecht begangen, sondern der richterlichen Gerechtigkeit nur vorgegriffen wurde. Immer wieder haben muslimische Juristen betont, dass die Scharia nur angewandt werden darf, wenn einige grundlegende Voraussetzungen gegeben sind, wie z. B. die geistige Zurechnungsfähigkeit, Einsicht in die Rechtsverhältnisse durch Erlangung des 51 El-Awa (Fn. 46), 107. 52 Ebd., 102–103.

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Alters der Pubertät sowie der freie Wille (die Abwesenheit von Zwang, Notwehr oder Rauschmitteln), wenn Straftaten begangen werden.53 Während einige Rechtsgelehrte wie etwa al-Juwaini (gest. 1085) dafür eintreten, dass ein Betrunkener daher nicht voll schuldfähig sein könne,54 betont das iranische Strafgesetzbuch, dass die Strafe nicht vermindert werden kann, wenn der Täter Alkoholika zum Zweck der Tatbegehung zu sich nahm.55 Auch Vergesslichkeit, zeitweise schwindendes Bewußtsein oder die irrtümliche Annahme eines anderen Sachverhalts (etwa die Annahme einer legalen Eheschließung mit einer bestimmten Frau) sind schon in der klassischen Rechtsliteratur als Gründe für die Minderung oder Aussetzung der Schariastrafen anerkannt worden. Gerade Kapitalvergehen können daher nur mit Vorsatz begangen werden. Da nur ein männlicher, erwachsener Muslim im Schariarecht im vollen Sinne als rechts- und schuldfähig gilt, sind Frauen in der juristischen Literatur teilweise als eingeschränkt schuldfähig betrachtet bzw. ihre Bestrafung bei Kapitalverbrechen vermindert worden (so droht nach Auffassung einiger Rechtsschulen einer Apostatin nicht die Todesstrafe, sondern die körperliche Züchtigung und Gefangennahme, nicht jedoch die Enthauptung). Die Zuhilfenahme der umgekehrten Voraussetzungen – also etwa die Behauptung, der Angeklagte sei zum Tatzeitpunkt nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewesen, wie dies etwa im Fall des zum Tode verurteilten Konvertiten zum Christentum, Abdurrahman, in Afghanistan im Jahr 2006 der Fall war56 – hat dort, wo die Scharia proklamiert wird, die tatsächliche Anwendung der Höchststrafe häufig verhindert. Adel Theodor Khoury betont jedoch zurecht, dass auch dann, wenn die Todesstrafe im konkreten Fall nicht angewendet wird (in den seltensten Fällen dürfte ein Fall von Apostasie je vor Gericht kommen), dennoch „die Todesstrafe als gesetzliche Sanktion für die Apostasie … jedoch ihre Gültigkeit“ behält,57 von einer eigentlichen Reform oder Relativierung zumindest von ihrem Anspruch her in der in Universität oder Moschee gelehrten Theologie nicht die Rede sein kann. Nach Auffassung muslimischer Apologeten erhält das islamische Strafrecht seine Berechtigung zum einen daher, dass es von Gott selbst erlassen wurde und daher über aller menschlichen Gesetzgebung steht. Diese grundlegende Unterschiedlichkeit von „göttlicher Inspiration“, die die „Vollkommenheit, Herrlichkeit und das Licht der Allgegenwart Gottes widerspiegelt“, und „menschlicher Schöpfung“ eines Gesetzes wird von muslimischen Juristen immer wieder hervorgehoben.58 Sodann aber schaffe es aber auch eine gerechtere Gesellschaft, denn die Abschreckung „schütze Leben, körperliche Unversehrtheit und Ehre und habe allgemein freiheitssichernden Charakter“59. Dies auch deshalb, weil sich muslimische Theologen und Juristen immer wieder für einen öffentlichen Vollzug der Strafen zur Abschreckung ausgesprochen

53 54 55 56

S. die Aufzählung der rechtlichen Preliminarien etwa bei Hasan (Fn. 9), 294 ff. So Nagel (Fn. 5), 34. Tellenbach (Fn. 45), 10. Vgl. den zusammenfassenden Bericht: http://de.wikipedia.org/wiki/Abdul_Rahman_(Konvertit) (31.3.2007). 57 Adel Theodor Khoury (Übers.), Der Koran, Arabisch-Deutsch, 1991, Bd. 2, 95. 58 So z. B. auch von Shaheed (Fn. 24), Vol. 1, 15–16. 59 Müller (Fn. 44), 182.

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haben: „Die Demütigung des Schuldigen und die Belehrung der Öffentlichkeit sind die Absichten der Bestrafung.“60 Zudem sei das islamische Strafrecht der Menschheit dienlicher als das Strafrecht westlicher Länder mit seiner Konzentration auf Gefängnis- und – in geringerem Maß – Geldstrafen, da es in weitaus größerem Maß der Abschreckung diene. Zudem falle ein Straftäter der Gesellschaft nicht durch lange Gefängnisstrafen zur Last61. Unberücksichtigt bleibt dabei allerdings, dass Gefängnisstrafen islamischer Länder oft sehr hoch sein oder aufgrund des Fehlens rechtstaatlicher Strukturen sogar unbestimmt verlängert werden können, sowie die Tatsache, dass ein durch Amputation körperlich Versehrter ebenfalls von der Fürsorge durch die Gesellschaft abhängig sein wird. Hat man vor 40 Jahren noch angenommen, dass die Autorität der Scharia im Zuge der Globalisierung an Bedeutung verlieren und auch die islamische Welt von einer im Westen weit vorangeschrittenen Säkularisierung ergriffen werden würde, wurde spätestens in den 70er Jahren deutlich, dass eine umgekehrte Entwicklung, eine Rückbesinnung und Neuorientierung auf das islamische Recht einsetzte, wobei sich allerdings die Umsetzung der erstrebten Islamisierung in wohlabgewogenen Detailgesetzen und der Schaffung eines lückenlosen praktikablen Rechtskodexes – dessen Grundlage allein die Scharia wäre – als überaus schwierig erwies. Enttäuscht von westlicher Politik und deren Verfolgung eigennütziger Interessen, konfrontiert mit mancherlei landesinternen Problemen wie einer hohen Arbeitslosigkeit, Überbevölkerung, Bildungsmisere, einer weithin fehlenden Infrastruktur und Unterentwicklung, suchte die islamische Welt Neuorientierung in der Rückbesinnung auf den Islam, während Islamisten die vollständige Durchsetzung des Islam in der Gesellschaft und die Rückkehr zum „Goldenen Zeitalter des Islam“ zu Zeiten Muhammads und der ersten vier Kalifen forderten, um der islamischen Welt die Stärke und Überlegenheit vergangener Jahrhunderte zurückzugeben. Allerdings haben bereits zahlreiche muslimische Theologen bzw. Juristen zu bedenken gegeben, dass die Einführung des islamischen Strafrechts in einer Gesellschaft, die von zahlreichen nicht-islamischen Prinzipien bestimmt wird, unsinnig wäre und zunächst die „ideale islamische Gesellschaft“ (die der ur-islamischen Gemeinschaft entsprechen würde) hergestellt werden müsse, bevor das islamische Strafrecht wirklich zur Anwendung kommen könne62 – eine Forderung, die wohl, realistisch betrachtet, nicht erfüllt werden kann. Dort, wo die Scharia – zumindest teilweise – in die Praxis umgesetzt wurde, hat sie ihr Versprechen, den Menschen Würde, Freiheit und Gerechtigkeit zu bringen, noch nicht eingelöst. Minderheiten und Frauen sind die ersten Leidtragenden auf dem Weg zu einer vermeintlich vollständigen Islamisierung der Gesellschaft. Eine besondere Problematik liegt zum einen in der Vorbildhaftigkeit Muhammads, dann aber auch in der fehlenden kritischen Aufarbeitung und historischen Relativierung des klassisch-islamischen Rechtssystems, sowie in dem von zahlreichen muslimischen

60 Mohammad Iqbal Siddiqi, The Penal Law of Islam, 1994, 9. 61 So referiert Sanad (Fn. 41), 56-57. 62 Dies betont etwa auch der ehemalige Professor für islamisches Recht der Universität Riad und Rechtsberater der Erziehungsbehörde der Golfstaaten, El-Awa (Fn. 46), 138.

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Intellektuellen beklagten weitgehenden Fehlen eines freien innerislamischen Diskurses zur Neubewertung und Relativierung der Scharianormen des 7. bis 10. Jahrhunderts in der Moderne.

AUTORENVERZEICHNIS Aliprantis, Nikitas, geboren 1941 in Sparta (Griechenland); Studium der RechtsWirtschafts- und Politikwissenschaften in Athen, Köln und Tübingen (Auslandsaufenthalt wegen der griechischen Diktatur bis 1980); Promotion und Lehrauftrag in Straßburg; seit 1984 Ordinarius für Arbeits- und Sozialrecht an der Demokritos-Universität Thrazien, ab 1989 Ordinarius an der Robert Schuman-Universität Straßburg, heute Emeritus Professor an dieser Universität; seit 1996 Mitglied des Europäischen Komitees für Sozialrechte im Europarat. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Stellung des Tarifvertrages im Stufenbau der Rechtsordnung, 1980 (auf frz.); Die Arbeitgeberverbände und die Justiz, 1981 (auf frz.); Neuere Entwicklungen in den Kollektiven Arbeitsverhandlungen in Europa, 1983 (auf frz. u. engl.); Rechtsordnung und kollektive Arbeitsphänomena, 1984 (auf gr.); Für eine Erweiterung der Sozialrechte. Ein Modell: die Europäische Sozialcharta, 2003 (Hrsg., auf gr.). Dreier, Horst, geboren 1954; Promotion 1985, Habilitation 1989; nach Stationen in Heidelberg und Hamburg seit 1995 Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Wichtigste Veröffentlichungen: Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986 (2. Aufl. 1990); Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991; Dimensionen der Grundrechte, 1993; Herausgeber und Mitautor eines dreibändigen Grundgesetz-Kommentars (Bd. I: 1996, 2. Aufl. 2004; Bd. II: 1998, 2. Aufl. 2006; Bd. III: 2000, 2. Aufl. 2008). Gabriel, Karl, geboren 1943; Promotion 1977 (Soziologie), Habilitation 1992 (Theologie); nach Stationen in Kassel und Vechta-Osnabrück seit 1998 Direktor des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften und Inhaber der gleichnamigen Professur an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Wichtigste Veröffentlichungen: Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, 1992 (7. Aufl. 2000); Religion und Gesellschaft, 2004 (zusammen mit H.-R. Reuter); Caritas und Sozialstaat unter Veränderungsdruck, 2007; Herausgeber des von Joseph Höffner begründeten Jahrbuchs für Christliche Sozialwissenschaften (Bd. 44/2003: Religionen im öffentlichen Raum: Perspektiven in Europa). Graf, Friedrich Wilhelm, geboren 1948; Promotion 1978, Habilitation 1986; nach Professuren in Augsburg und Hamburg seit 1999 Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Wichtigste Veröffentlichungen: Theonomie, 1987; Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, 1.-3. Aufl. 2004 (erw. Neuausgabe 2007); Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, 1.-3. Aufl. 2006; Der Protestantismus, 2006. Gutmann, Thomas, geboren 1964; Promotion 2000, Habilitation (Philosophie) 2005, Habilitation (Rechtswissenschaften) 2006; seit 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Bür-

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gerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Wichtigste Veröffentlichungen: Iustitia Contrahentium. Zu den gerechtigkeitstheoretischen Grundlagen des deutschen Schuldvertragsrechts (in Vorbereitung); Für ein neues Transplantationsgesetz, 2006; Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, 2001; als Mitautor: Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006; Transplantationsgesetz. Kommentar, 2005; Grundlagen einer gerechten Organverteilung, 2002; Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen, 2002. Haltern, Ulrich, geboren 1967; Promotion 1998, Habilitation 2003; nach einer Station in St. Gallen seit 2004 Universitätsprofessor für deutsches und europäisches Staats- und Verwaltungsrecht und seit 2005 Direktor des Instituts für nationale und transnationale Integrationsforschung an der Leibniz Universität Hannover. Wichtigste Veröffentlichungen: Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen, 1998; Europarecht: Dogmatik im Kontext, 2005 (2. Aufl. 2007); Europarecht und das Politische, 2005; Gemeinschaftsrechtliche Aspekte des Glücksspiels, 2007; Was bedeutet Souveränität?, 2007; Mitherausgeber des Bandes Europawissenschaft, 2005 (mit Gunnar Folke Schuppert und Ingolf Pernice). Hense, Ansgar, geboren 1965; 1996 Promotion über ein staatskirchenrechtliches Thema, 2004 Habilitation an der Juristischen Fakultät der TU Dresden (Venia legendi: Staats- und Verwaltungsrecht, Kirchenrecht und Sozialrecht); seit dem auch Privatdozent an der Juristischen Fakultät der TU Dresden; ferner Lehrbeauftragter der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Münster (seit 2000), der Juristischen Fakultät der Universität Köln (seit 2004/05); derzeit hauptberuflich am Institut für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands, Bonn. Wichtigste Veröffentlichungen: Glockenläuten und Uhrenschlag: Der Gebrauch von Kirchenglocken in der kirchlichen und staatlichen Rechtsordnung, 1998; Kirche und Diskriminierungsverbot, in: J. Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 182-237; Staatsverträge mit Muslimen – eine juristische Unmöglichkeit? Überlegungen zu Grund und Grenzen in rechtsvergleichender Perspektive, in: S. Mückl (Hrsg.), Das Recht der Staatskirchenverträge, 2007, S. 115-173. Hilgendorf, Eric, geboren 1960; philosophische Promotion 1990, juristische Promotion 1992, Habilitation 1997; im selben Jahr Professor in Konstanz, ab 2001 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtstheorie, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Wichtigste Veröffentlichungen: Argumentation in der Jurisprudenz, 1991; Strafrechtliche Produzentenhaftung in der Risikogesellschaft, 1993; Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht, 1998; Die Renaissance der Rechtstheorie zwischen 1965 und 1985, 2005. Hörnle, Tatjana, geboren 1963; Promotion 1998, Habilitation 2003 an der Universität München; seit 2004 Ordinaria für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Wichtigste Veröffentlichungen: Tatproportionale Strafzumessung, 1999; Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005; Mitautorin

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des Münchener Kommentars zum Strafgesetzbuch (Bd. II/2: 2005) sowie des Leipziger Kommentars zum Strafgesetzbuch (12. Aufl., im Erscheinen) mit Kommentierungen von Paragraphen des Religionsstrafrechts und des Sexualstrafrechts. Möllers, Christoph, geboren 1969; LL.M. 1995, Promotion 2000, Habilitation 2004; 2004 Professor in Münster, seit 2005 Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, insbes. Staatsrecht, Rechtsvergleichung und Verfassungstheorie an der Georg-AugustUniversität Göttingen. Wichtigste Veröffentlichungen: Staat als Argument, 2000; Gewaltengliederung, 2005. Rückert, Joachim, geboren 1945; Promotion 1972, Habilitation 1982; 1985-1993 Professor für Zivilrecht und Rechtsgeschichte in Hannover, seit 1993 für Neuere Rechtsgeschichte, Juristische Zeitgeschichte, Zivilrecht und Rechtsphilosophie an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main. Wichtigste Veröffentlichungen: A.L. Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802-1880, 1974; Betriebliche Arbeiterausschüsse in Deutschland, Großbritannien und Frankreich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, 1979 (mit W. Friedrich); Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 1984; Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, 1988; Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny, 1997 (Hrsg. und Mitautor); Niedersächsische Juristen (mit J. Vortmann, 2003). Schirrmacher, Christine, geboren 1962; Promotion in Islamwissenschaften 1991 an der Universität Bonn mit der Arbeit „Mit den Waffen des Gegners. Christlich-Muslimische Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert“, seit 1999 wissenschaftliche Leiterin des „Instituts für Islamfragen“ der Deutschen Evangelischen Allianz, seit 2005 Professorin für Islamische Studien an der Evangelisch-Theologischen Faculteit, Leuven/Belgien. Wichtigste Veröffentlichungen: Der Islam: Geschichte, Lehre, Unterschiede zum Christentum, 2 Bde., 1994 (2. Aufl. 2003); Frauen und die Scharia – Die Menschenrechte im Islam, 2004 (2. Aufl. 2006); Mord im Namen der „Ehre“ zwischen Migration und Tradition. Rechtspolitisches Forum – Legal Policy Forum 37, 2007. Volkmann, Uwe, geboren 1960; Promotion 1992, nach zwischenzeitlicher Tätigkeit als Rechtsanwalt Habilitation 1997; ab 1999 Professor an der Johannes GutenbergUniversität Mainz, seit 2001 dort Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht. Wichtigste Veröffentlichungen: Politische Parteien und öffentliche Leistungen, 1993; Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, 1998; Tarifautonomie in Deutschland und Europa (zusammen mit G. Britz), 2003; Juristischer Studienkurs Grundrechte, 2006. Zimmermann, Reinhard, geboren 1952; Ausbildung in Hamburg, 1981-1988 W.P. Schreiner Professor of Roman and Comparative Law, University of Cape Town, seit 1988 Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Römisches Recht und Historische Rechtsvergleichung, Universität Regensburg; seit 2002 Direktor am Hamburger Max-PlanckInstitut für ausländisches und internationales Privatrecht.

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Wichtigste Veröffentlichungen: The Law of Obligations: Roman Foundations of the Civilian Tradition, 2. Aufl., 1996 (Oxford University Press); Roman Law, Contemporary Law, European Law: The Civilian Tradition Today, 2001 (Oxford University Press); Comparative Foundations of a European Law of Set-Off and Prescription, 2002 (Cambridge University Press); The New German Law of Obligations: Historical and Comparative Perspectives, 2005 (Oxford University Press); Jurists Uprooted: German-speaking Émigré Lawyers in Twentieth-century Britain, 2004 (herausgegeben zusammen mit Jack Beatson, Oxford University Press); Mixed Legal Systems in Comparative Perspective, 2004 (herausgegeben zusammen mit Daniel Visser und Kenneth Reid, Oxford University Press); The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006 (herausgegeben zusammen mit Mathias Reimann, Oxford University Press).

SACHREGISTER Abendland 17, 30, 70 Absolute Straftheorie 300 Abu Ghraib 217 Affirmative Action 242 Aids 186 Allgemeine Rechtsfähigkeit 281 Antichristliche Elemente 275, 283 Antikerezeption 30 f. Antimodernisteneid 184 Antisemitismus 182 f. Atheisten 268 Aufklärung 142, 183 f., 187, 189, 216, 336 Begründungsressourcen 304, 311 Beschimpfung von Bekenntnissen (§ 166 StGB) 321, 326 Bestrafung 361 ff. BGB 34 f., 37 – Entstehung 264, 269 – Materiell-christliche Prägung 276 – Motive, Protokolle, Mugdan 264 – romanistische Imprägnierung 35 Bibel 13, 180, 188, 215, 246 Bigamie 19, 22, 300, 302 Billigkeitshaftung 273 Bioethik 68, 133 s. auch Leben Biopolitik 305, 308 s. auch Leben Bollwerk gegen den Nationalsozialismus 266 Bonum commune 305 Buddhismus 12, 185 Bürgerkriege 13, 251 Bürgerliche Ehe 272 s. auch Ehe Cannabis-Verbot 256 Caritas 126 f. Christentum 16 ff., 30 f., 175 ff., 185 ff. – Glaube 14 – Menschenrechte 14 f., 179 ff. – Naturrecht 161 – Prägung der Kultur 16 ff. – Prägung der Rechtsordnung 18 ff. Christliche Imprägnierung 263, 303 – des Rechts 265 – des StGB 296 – des Zivilrechts 265 Christliches Naturrecht 265 Christlich-kanonisches Recht 282 Civil Law 50 Code Civil 35 f. Codex Iuris Canonici 85 ff., 113 ff. Common Law 51 ff. Communio-Ekklesiologie 78, 95 ff., 105 ff.

Confessio Augustana 147 f. Corpus Iuris Canonici 82 ff. Corpus Iuris Civilis 43 ff. Crimen 295 Deliktische Billigkeitshaftung 276 Demokratie s. auch Recht, Staat – Experimentalismus 243 – Mehrheitsidentität 235 – Selbstbestimmung 236 Deutscher Idealismus 300 Dienstvertragsrecht 271 Diskriminierungsverbote 255 f. Dispositionsfreiheit 308 Dissensbewältigung im Verfassungsstaat 26 ff. Donum Vitae 76, 107 ff., 118 Dualismus von Reich und Kirche 45 f. Durchsetzung der Gesetze 23 ff. Ehe 267 – bürgerliche 272 – Dauerehe 279 – Einehe 279, 322, 341 – Lebensgemeinschaft 279 – Mehrehe 330 f., 341 – obligatorische Zivilehe 279 – Säulen des islamischen Eherechts 354 – Verbot der Doppelehe (§ 172 StGB) 322 s. auch Polygamie – Vielmännerei 323 – Zwangszivilehe 267 Ehe und Familie 106, 125 Ehebruch 300, 302 Eherechtsregeln 273 Eigenverantwortungsprinzip 326 Einehe 322, 341 Elterliches Erziehungsrecht 259 Embryonenschutzgesetz 303, 311 Entchristlichung der Gesellschaft 21 f. Entkirchlichung 274 Entklerikalisierung 149 Entkoppelung von Religion und Staat 26 s. auch Trennung von Staat und Kirche Entprivatisierung der Religion 55 ff. Erbrecht des Fiskus 282 Ermessensvergehen 361 Eugenik 305 Europäische Integration 233, 240 Europäische Kultur 29 ff., 48 Europäische Rechtstradition 45 ff. – Schriftlichkeit 48, 52 – Wissenschaftlichkeit und Wertebezug 48 ff., 52

Sachregister

370 Exekutivermessen 217 Fahrlässigkeit 296 Fanatiker 178 Feiertagswesen 256 Föderalismus 242 Französischer Republikanismus 242 Freiheit s. auch Pressefreiheit, Paradox der Freiheit, Religionsfreiheit – formale und materiale 152 – für die Religion 56 ff. – individuelle Freiheitswahrnehmung 237 – konservativer Freiheitsbegriff 151 f. – liberaler Freiheitsbegriff 151 – von der Religion 56 ff. Fundamentalismus 14, 28, 62 f., 178 Funktionale Differenzierung 59 Fürsorge 276 Geschlechtersegregation 351 Gesellschaft 56 ff. Gesellschaftsvertrag 234 Gesetz s. Durchsetzung der Gesetze, Recht Gesundbeter-Fall 246 f. Gewalt 11 ff., 169 ff., 234 Gewissen 147, 167 f. Glaube 14, 215 s. auch Christentum, Islam, Luthertum, Orthodoxe Kirche, Protestantismus Gleichberechtigung der Geschlechter 324 Globalisierung 236 Globalverfassung 198 Gott 67, 214, 265, 295, 299 Gottesebenbildlichkeit 67, 265 Gotteslästerung 19, 300, 321 (N), s. auch Beschimpfung von Bekenntnissen Grundgesetz 23, 26, 215, 250, 313 s. auch Verfassung Grundrechte 234, 330 f., 337 s. auch Menschenrechte – Autonomie, Handlungsfreiheit 330, 333 – Gleichbehandlung, Gleichstellung der Geschlechter 330 – körperliche Integrität 330 – Menschenwürde 330 f. Grundrechtsnormen 248, 329 Grundrechtssubjektivität 311 Guantánamo 217 Handlungsverantwortlichkeit 296 Heiligkeit 211, 310 Hexenverfolgungen 13, 182 Hinduismus 186 Homogenität 28 Homosexualität 19, 171, 300 ff., 320 (N), 359 Honestas juridica 309

Humangenetik 305, 311, 313 Humanklonierung 313 Identifikationsprozess 319 Identität 223, 225, 305, 307, 317 ff., 328, 331 ff. Idomeneo-Inszenierung 25 Imputabilitas 296 Individualpsychologie 337 Industriekapitalismus 316 Inkarnation des Heiligen 216 Innerlichkeitsanarchie 151 ff. Institutionelle Schwellen 307 Integration 26 ff., 159 f., 233, 240 Internationaler Schiedshof in Den Haag 195 Islam 11 ff., 63, 160, 169 ff., 175 ff., 182, 185 ff., 339 ff. s. auch Koran – fünf Säulen des Islam 340 – Grenz- und Kapitalverbrechen 358 – Kopftuchfrage 24, 253, 339, 352 – Menschen-, Frauen-, Minderheitenrechte 339 – Schächtungsurteil 339 – Scharia 256 ff., 339 ff., 349 ff. – schiitische Rechtsschule 343 ff. – sunnitische Rechtsschulen 343 ff. Islamisches Strafrecht 357 ff. Ius commune 45 ff. Ius Publicum Ecclesiasticum 84 ff. Judentum 176, 185 Jüngstes Gericht 295 Juridifizierung der theologischen Konzepte 295 Jurisprudenz und Religion 171 Juristische Begründung 99 ff. Kampf der Kulturen 11, 317, 331 Kannibale von Rotenburg 325 Kanonistik 16 ff., 82 ff., 265, 282 f., 295 f., 298 Kanonistische Schuldlehre 296 ff. Kantischer Republikanismus 308 Karikaturenstreit 24 Kastenwesen 186 Kategorischer Imperativ 300 Katholische Kirche s. auch Katholizismus – Katholizismus 74 ff. – Naturrecht 122, 134 ff. – Staat 111 ff. Katholische Soziallehre 121 ff. Katholisches Kirchenrecht 79 ff. Katholisches Schul- und Bildungswesen 126 Katholizismus 69 ff. s. auch katholische Kirche – Begriff 79 – Rechtsordnung 69 ff. – staatliche Rechtsordnung 110 ff., 134 – Verbändekatholizismus 75 f. – Zivilgesellschaft 64 ff. Ketzerverfolgungen 13, 182

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Sachregister Kirche 64 ff., 74 ff., 111 ff., 137 ff. Kirchenrecht 273 s. auch katholisches Kirchenrecht Kirchliche Verpflichtungen 272 Kirchliche Wohlfahrtspflege 126 f. Klassenfahrten 24 s. auch Schule Klonierung 305 Koedukativer Sport- und Schwimmunterricht 246 s. auch Schule Kollektive Identität 223, 225, 317 f. Kollektives Rechtsgut 323 Kommunitarismus 218, 239 Konfessionalisierung des Rechts 135 ff. Konflikte verschiedener Rechtsordnungen 241 Kopftuch 24, 253, 339, 352 Koran 12, 339, 343 f. s. auch Islam, Scharia – Scheidungsrecht 355 – Schöpfungsbericht 353 – Zeugenrecht 354 – Züchtigungsvers 354 Kosmopolitismus 196 Kränkungsfetischismus 24 Kreationismus 67 Kreuzzüge 13, 182 Kriminalpolitische Argumentationsfigur 320 Kruzifix 21, 236, 253 Kultur s. Christentum, Europäische Kultur, Recht und Kultur – Analyse Terry Eagletons 315 (N) – kollektive Identitäten 225 – Kultiviertheit 317 – Kulturalismus 239 – Kulturbegriff 224 ff., 243 – kulturelle Differenzen 235 ff., 241 – Kulturtheorien der Gegenwart 315 – Kunst 316 f. – Mehrheitskultur 235, 328, 332 – Selbstbestimmung 243 – strafrechtliche Verbotsnormen 317 Kultur des gewaltlosen Umgangs 322 Kultur des Privateigentums 322 Kulturadäquanzklausel 255 Kulturelle Identität 305, 317 ff., 328, 331 ff. s. auch Identität Kulturelle Werteordnung 320 Kulturelles Selbstverständnis 248, 254 ff. Kulturkampf 266, 274 – Kanzelparagraph 267 – Kulturkampfgesetze 267, 275 – Obligatorische Zivilehe 267 – Verbot von Kirchenstrafen 267 Kulturnormwidriges Verhalten 320 Kultursubjekt 319 Kulturtheorie 193 ff. Kunst- und Meinungsfreiheit 25

Laizismus 250 Leben s. auch Bioethik, Biopolitik, Sterbehilfe – individuelle Disposition 309 – Schutz des menschlichen Lebens 124 f., 308 f. – Schutz des ungeborenen Lebens 74 f., 124 f. Lebensrecht 310 Lebensschutz 308 f. Legal moralism 301 Legitimationsmechanismen 223, 242 Liberalismus 220, 239 s. auch Rawlsscher Liberalismus Lumpensammler-Entscheidung 247 Luthertum 132 ff. s. auch Protestantismus – Demokratie 142 f., 156 ff. – Distinktion von Person und Werk 148 – Freiheit 142 – Fürstenkritik 141 – Individuum und Institution 146 f., 159 ff. – „Lutherische Staatsfrömmigkeit“ 150 – Menschenrechte 156 – Obrigkeitsfixierung 144 f. – paternalistische Gemeinwohlkonzepte 141 – staatliche Rechtsordnung 150 ff. Mädchenbeschneidung 188, 248 Mehrehe 330 f., 341 Mehrheitsgesellschaft 322, 324 f. Mehrheitskultur 235, 328, 332 Menschenrechte 67, 169 ff., 185, 330 (N) s. auch Christentum, Grundrechte, Religion – Gleichheit 180 f. – Gottesebenbildlichkeit 180 – Naturrecht 180 f. Menschenrechts-Check für Religionen 184 ff. Menschenwürde 64, 136 f., 300, 311, 313 Menschenwürdekonzept 313 Metaphysisches Versprechen 216 f. Minderheiten 235 ff., 244 Mohammed-Karikaturen 24 Monismus 240 f. Monotheismus 176, 185 Moraltheologie 121 ff. Moraltheorie 219 f. (N) Muhammad 339 ff., 353 Muslimische Apologetik 353 Nächstenliebe 181 Narration 200 Nationaler Ethikrat 306 Naturalrestitution 282 Natürliche Rechtsfähigkeit 278 Neukantianismus 319 Neutralitätsprinzip 254 Nichtscheidung 275

372 Nomos des Völkerrechts 198 f. Normenbegründung 303 Obduktion 325 (N) Objektive Wertevorstellung 330 f. Objektiver Idealismus 279 Offenbarung 213 Öffentliche Identität 307 Öffentliche Moralität 301 Öffentlicher Frieden 326 Öffentlicher Vernunftgebrauch 303, 305 ff. Öffentlicher Vollzug von Strafen 362 f. Orthodoxe Kirche 163 ff. – Selbstverständnis 163 – Staat 163 ff. – Staatskirchentum 165 f. Pacta sunt servanda 282 Parabolantennenfall 246 f. Paradox der Freiheit 258 Parallelgesellschaften 28, 262 Patria potestas 281 Peccata criminalia 295 Peccatum 295 Person als Subjekt des Rechts in Europa 49 f. Persona ficta 282 Personalitätsprinzip 123 Pietismus 153 Pluralisierung der Gesellschaft 21 ff. Pluralismus 66 f. Politisch-rechtliche Ontologie 219 Polygamie 22, 256, 345, 352 s. auch Ehe Postmetaphysisches Denken 335 Postmoderne 316 Postmortales Recht des Toten 331 Prävention 299 Pressefreiheit 25 Prinzip der Dialogik 31 Prinzip der individuellen Freiheit 280 f. Privatisierung der Religion 59 ff. Protestantismus s. auch Luthertum – Demokratie 156 ff. – „Gewissensradikalismus“ 144 – konservative protestantische Kulturkritik 153 ff. – Naturrecht 157 – Rechtsordnung 129 ff. – Vielfalt der Protestantismen 129 ff. – „Weltfrömmigkeit“ 146, 149 Public justification 304 ff. Rassismus 245 Rastafaris 256 Ratio und Fides 30 ff. Rationalisierungsprozess 309

Sachregister Rationalität 16 ff., 30 Rawlsscher Liberalismus 306 s. auch Liberalismus Recht s. auch Grundgesetz, Grundrechte, Menschenrechte, Staat – als Imaginationsform 207 – Bürgerrecht 307 – Fortschritt 194 f. – gegebenes 277 – gesetztes 277 – Ikonographie 193 – kanonisches Strafrecht 295 – Kultur 31 ff., 315 – Kulturtheorie des R. 193 ff., 210 – Menschenrecht 307 – Naturrecht 283 – pönales Recht 295 – Religion 16 ff., 40, 49 – römisches R. 29 ff., 33 ff. s. auch Konfessionalisierung des Rechts – Vernunftrecht 283 – Zurückweichen des staatlichen Rechts 247 f. Rechtfertigungsglaube 147 Rechtserzeugung durch private Unternehmen 240 Rechtsgüterschutz 320 f. Rechtsinstitutionen mit begrenztem Verbindlichkeitsanspruch 160 Rechtskultur 33, 226 Rechtsordnung 241 Rechtspersonalität 300 Rechtspluralismus 240 f. Rechtsrealismus 205 Rechtsstaatlichkeit 220 Rechtssystem 231 Rechtstheorie 86 f., 240, 298 Rechtstradition 33 ff. Rechtsunsicherheit 272 Rechtswissenschaft 71, 86 f., 203 ff. Regensburger Universitätsrede 13, 55 Religion 12 ff., 55 ff., 172 ff. – als Herrschaftsinstrument 188 – Begriff 172 ff. – Dimensionen von Religiosität 172 ff. – Frauenfeindlichkeit 185 f. – freie Gesellschaft (Demokratisierung) 55 ff., 64 ff. – Funktionen in der Zivilgesellschaft 68 – Gewalt 169 ff. – konfessionelle Bürgerkriege 251 – Menschenrechte 67, 170 ff., 184 ff. – „Missbrauch“ 188 – Privatisierung 59 ff. – Rückkehr in den öffentlichen Raum 59 f. s. auch Wiederkehr der Religionen – Schulunterricht 20 f., 167 f.

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Sachregister – soziale Befriedungsfunktion 169 – Wissenschaft 67, 187 Religionsfreiheit 15, 25, 65 f., 167 f., 185, 245 ff. Religionsfreiheit und nationale religiöse Tradition 167 f. Religionsgemeinschaften 242 Religionsunterricht 167 f. Religionsverfassungsrecht 242 Religionswissenschaft 206 Religiöse Bedürfnisse 175 Religiöse Moral und staatliches Recht 173 Religiöse Wurzel allen Rechts 266 Religiöser Analphabetismus 171 Religiöser Friede und öffentliche Ordnung 110 Res publica Christiana 30 Romanistische Imprägnierung des BGB 35 Römisches Recht 29 ff., 33 ff. – Dynamik und Komplexität 41 – europäische Kultur 29 ff. – europäische Rechtstradition 48 ff. – in den modernen Kodifikationen 33 ff. – Missverständnisse 36 ff. Rule of Law 210 Sakralisierungen des Grundgesetzes 23 Säkularisation 249 Säkularisierte Lösungen christlicher Herkunft 277 Säkularisierte Theologie 296 Säkularisierung 18 ff., 55 f., 58 ff., 71, 135, 210 f., 298, 363 Säkularisierungsprozess 298 Säkularisierungsthese 210 f. Salus publica 299 Schächten 24, 339 Scharia 256, 339 ff. s. auch Islam, Koran – Ehe- und Familienrecht 350 ff. – Gottesrecht 342 f. – Osmanisches Familiengesetzbuch 349 Schiitische Rechtsschule 343 ff. Schikaneverbot 272, 276 Schule 27, 126, 224 s. auch Klassenfahrt, koedukativer Sport- und Schwimmunterricht, Schwimmunterricht Schutz kultureller Werte und Normen 323 Schutz von Individualinteressen 325, 328 Schwangerschaftsabbruch 171, 305 s. auch Leben Schweizerisches Zivilgesetzbuch 347 Schwimmunterricht 24, 246 s. auch koedukativer Sport- und Schwimmunterricht, Schule Scientology 176 Sectarian retreat 306 Selbstbestimmungsinteresse 325 Selbstentleibung 309

Selbstentrechtung 309 Selbstnegation 309 Selbsttötung 310 Selbstverdinglichung 309 Sexualdelikte 301 Sittengesetz 301 f. Sittensubstanz 302 Sittenverstoß 273 Sittenwidrige Schädigung 273 Sittlichkeit und Billigkeit 273 Sklavenbefreiung 307 Sklaverei 181, 278 Sonntag 270 s. auch Feiertag Souveränität 210 f. – gewaltsame Seite 219 – transzendenter Charakter 216 Sozialer Schutz 276 Sozialgeschichte Bielefelder Prägung 263 Sozialpolitik 127 Sprache 207 Staat s. auch Demokratie, Recht – als bloßer Zweckverband 252 – Äußerlichwerden 253 – demokratisierter Rechts- und Interventionsstaat 220 – liberaler 258 ff. – militarisierter 220 – neutraler 20 – Orthodoxe Kirche 163 ff. Staatsgesinnung 159 Staatskirche 14 ff., 60 f. s. auch orthodoxe Kirche Staatsziel-Bestimmungen 150 Stammzellforschung 305 Stammzellgesetz 311 Sterbehilfe 122, 303, 308, 311 s. auch Tötung auf Verlangen Störung der Religionsausübung (§ 167 StGB) 327 Störung der Totenruhe (§ 168 StGB) 324 f., 331 Störung von Bestattungsfeiern (§ 167a StGB) 324 f., 331 Strafrechtliche Schuldlehre 319 (N) Strafzweckdiskussion 299 Subsidiaritätsprinzip 123 ff. Sündentheologie 296 Sunnitische Rechtsschulen 343 ff. Synallelie 164, 167 Terrorismus 11, 144, 170 Theologische Begründung 88 ff. Theologumena 298 Toleranz 26 ff., 170, 258, 262 Tötung auf Verlangen 310 s. auch Sterbehilfe Traditional Leadership 242

374 Trennung von Staat und Kirche 20, 65 f., 161, 249 s. auch Entkoppelung von Religion und Staat Treu und Glauben 273 Türkei 341, 347 U.S. Supreme Court 234 Überlegitimation des Institutionellen 159 Überregulierung des religiösen Marktes 61 Unterlassene Hilfeleistung 246 Usus modernus pandectarum 44 Verbot der Doppelehe (§ 172 StGB) 322 s. auch Ehe, Polygamie Verbrechen 360 – Ehebruch und Unzucht 358 s. auch Ehe – Genuss von Wein 358 – Homosexualität 359 – schwerer Diebstahl 358 – schwerer Straßen- und Raubmord 358 – Vergewaltigung 359 – Verleumdung wegen Unzucht 358 Vereinsrecht 275 – christliches Vereinswesen 276 – freie Vereinsbildung 276 Verfassung s. auch Grundgesetz – als politisches Dokument 232 – gewalttätiger Ursprung demokratischer Verfassungsordnungen 234 – Legitimationsmechanismen 223 – liberal(demokratisch)e Verfassungstheorie 234, 237 f. – liberal-egalitäres Verfassungsverständnis 243 – multi-kulturalistische Verfassungstheorie 237 ff. – multikulturalistisches Verfassungsparadigma 223 – Verfassungsexperimentalismus 241 ff.

Sachregister – Verfassungsfolklore 233 – Verfassungskultur 233 Verfassungsauslegung und Moral 136 Verfassungsfolklore 233 Verfassungskultur 233 Verfassungsrecht 321 Verfassungsstaat 14 ff., 26 ff., 57, 67, 185, 238 Vernunftrechtstheorie 296 Vertragsfreiheit 272, 280 f. Vielmännerei 323 s. auch Ehe Völkermord 196 f. Völkerrecht 195, 217 Volkssouveränität 194 (N), 213 ff., 220 Vorsatz – direkt 296 – indirekt 296 – kognitives Element 296 – volitives Element 296 Wahrheit 12, 58, 63, 111 f., 115, 169, 178 Weltrechtskulturerbe 282 Wertbindung 57 f., 160 Westfälischer Friede 251 Wiederkehr der Religionen 187 Wiederkehr des Religiösen 56 Wohlfahrtspflege 126 f. Wucherverbot 271, 276 Würzburger Schule 84 f. Zentrumspartei 264, 266 Zeugen Jehovas 257 Zivilgesellschaft 61 f., 64 ff. Zivilisiertheit 315 f. Zwei-Reiche-Lehre 148 f. Zweites Vatikanisches Konzil 15, 63 ff., 77 f., 86 f., 95, 113 ff.

ARCHIV FÜR RECHTS- UND SOZIALPHILOSOPHIE (ARSP) BEIHEFTE

Herausgeber: Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) 80. Elspeth Attwooll / Annette Brockmöller (Hg.) Applied Ethics at the Turn of the Millenium Proceedings of the 19th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy (IVR), New York, June 24–30, 1999 2001. 122 S., kt. ISBN 3-515-07903-3 81. Kurt Seelmann (Hg.) Wirtschaftsethik und Recht Vorträge der Tagung der Schweizer Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, Oktober 2000 in Fribourg/ Schweiz 2001. 123 S., kt. ISBN 3-515-07899-1 82. Michel Troper / Annalisa Verza (Hg.) Legal Philosophy: General Aspects Concepts, Rights and Doctrines. Proceedings of the 19th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy (IVR), New York, June 24–30, 1999 2002. 208 S., kt. ISBN 3-515-08026-0 83. Gralf-Peter Calliess / Matthias Mahlmann (Hg.) Der Staat der Zukunft Vorträge der 9. Tagung des Jungen Forum Rechtsphilosophie in der IVR, 27.–29. April 2001 an der Freien Universität Berlin 2002. 226 S., kt. ISBN 3-515-08048-1 84. Winfried Brugger / Görg Haverkate (Hg.) Grenzen als Thema der Rechts- und Sozialphilosophie Referate der Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie vom 22. bis 23. September 2000 in Heidelberg 2002. 218 S., kt. ISBN 3-515-08042-2 85. Paricia Smith / Paolo Comanducci (ed.) Legal Philosophy: General Aspects Theoretical Examinations and Practical Application. Proceedings of the 19th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy (IVR) New York, June 24–30, 1999 2002. 176 S., kt. ISBN 3-515-08100-3 86. Hirokazu Kawaguchi / Kurt Seelmann (Hg.) Rechtliche und ethische Fragen der Transplantationstechnologie in einem interkulturellen Vergleich 2003. 180 S., kt. ISBN 3-515-08132-1 87. Rolf Gröschner / Gerhard Haney (Hg.) Die Bedeutung P. J. A. Feuerbachs (1755–1833) für die Gegenwart IVR-Tagung Jena 15. und 16. März 2002 2003. 240 S., kt. ISBN 3-515-08193-3 88. Arend Soeteman (ed.) Pluralism and Law Proceedings of the 20th World Congress of the

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FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART

ISSN 0341 - 079X