Jugend zwischen Tradition und Demokratie: Struktur und politische Bedeutung der Einstellung von Oberschülern zu politischer Autorität [1 ed.] 9783428409099, 9783428009091


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German Pages 231 Year 1967

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Jugend zwischen Tradition und Demokratie: Struktur und politische Bedeutung der Einstellung von Oberschülern zu politischer Autorität [1 ed.]
 9783428409099, 9783428009091

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Soziologische Schriften Band 5

Jugend zwischen Tradition und Demokratie

Von

Helge Lenné

Duncker & Humblot · Berlin

HELGE

LENNÉ

Jugend zwischen Tradition und Demokratie

Soziologische Schriften Band 5

Jugend zwischen Tradition und Demokratie S t r u k t u r u n d p o l i t i s c h e B e d e u t u n g der E i n s t e l l u n g von Oberschülern zu politischer A u t o r i t ä t

Von

Dr. H e l g e L e n n é

DUNCKER

& H U M B L O T /

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1967 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1967 bei Alb. Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Geleitwort

7

Vorwort

9

I. Einführung in die Methode der Einstellungsfeststellung und der Interpretation der Erhebungsresultate

13

1. Einstellung u n d ihre Formen

13

2. Z u r Interpretation der vorliegenden Einstellungs-Erhebung

18

3. Z u r Frage der Repräsentativität u n d Signifikanz der Resultate

27

I I . Patriarchalische Einstellung und Politik

33

1. Patriarchalismus als politisches Schicksal

33

a) Z u r Existenz einer konstanten U n t e r g r u n d - S t r u k t u r politischer Einstellung

33

b) Autonome Tradierung als Grundlage historisch tischer Einstellung

45

fixierter

poli-

c) T r a d i t i o n als Charakterbestand 2. Patriarchalische Jugend i n der industriellen Gesellschaft

70 84

a) Einstellung u n d H a l t u n g

84

b) Opportunismus als Äußerungsweise patriarchalischer Einstellung

87

c) Industrie als sozialer Rahmen v o n latentem jugendlichem Patriarchalismus

95

d) Funktionell-patriarchalische Einstellung u n d Konsumfreiheitsideologie

99

e) Ideologische Herrschaft u n d patriarchalische Einstellung

118

f) Allgemeine Herrschaftsstruktur u n d patriarchalische Einstellung 129 g) Patriarchalische Einstellung als Blockierung von Herrschaftskontrolle u n d -minimalisierung 148 h) Zusammenfassung

162

Inhaltsverzeichnis

6

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung . . 164 a) Politische Erziehung als Befreiung von autonomer Tradition

173

b) Folgerungen zur Praxis der politischen Erziehung

177

aa) Persönliche W i r k u n g des Erziehers innerhalb der politischen Erziehung 178 bb) Information i n der politischen Erziehung c) Z u m Problem des politischen Engagements

181 192

d) Die Abhängigkeit der Einstellung zur politischen F ü h r u n g von Intelligenz, Geschlecht u n d Altersstufe 197 aa) Einstellung zur politischen F ü h r u n g i n Abhängigkeit von der Intelligenz 198 bb) Einstellung zur politischen F ü h r u n g i n Abhängigkeit v o m Geschlecht 199 cc) Einstellung zur politischen F ü h r u n g i n Abhängigkeit von der Altersstufe 203 e) Ergänzungen Anhang I : (Zusamenstellung aller items)

212 215

Anhang I I : (Graphische Darstellung einiger wichtiger Einstellungs-Skalen u n d numerische Werte aller original berechneten Skalenitem-Werte) 218 Literaturverzeichnis

223

Geleitwort Untersuchungen über die Mentalität und „Einstellung" der deutschen Bildungsschichten haben unzweifelhaft erhebliche Bedeutung, wenn die politische Wissenschaft die Entwicklungsbedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft der Bundesrepublik bestimmen will. Die Mentalität jener jungen Generation in höherer Schule und Universität, die in den ersten Jahren der Weimarer Republik groß wurde, war in der Periode zwischen dem Untergang des monarchischen Obrigkeitsstaates und dem Sieg des Nationalsozialismus der Boden, auf dem die Hinwendung der Majorität dieser Generation zum Kampf gegen Demokratie und Rationalität, zum zunächst monarchischen, dann völkischen und zuletzt nationalsozialistischen politischen Reagieren entstanden ist. Gleichwohl war diese Wendung — einer der gewichtigsten Voraussetzungen zur Zerstörung der Weimarer Republik — kaum ein unaufhebbares Schicksal, wenn man nur die Situation rechtzeitig analysiert hätte und Gegenkräfte entwickelt worden wären. Deshalb hat sich Jürgen Habermas durch seine Überprüfung der „Einstellung" der studentischen Jugend der Universität Frankfurt am Main (Student und Politik, Neuwied 1961) ein gewichtiges Verdienst um die Fortentwicklung der deutschen politischen Wissenschaft erworben. Seine Ergebnisse gaben zwar zu übermäßigem Optimismus kaum Anlaß: kritisch-rationale, zur Entwicklung demokratischen Denkens geeignete Motivationen hielt er nur bei einer Minorität der Studentenschaft für gegeben. Allerdings erwies sich diese Minorität doch als erheblich größer als sie wahrscheinlich nach dem ersten Weltkriege gewesen ist. Die gegenwärtige politische Reaktion der Studenten an den bundesrepublikanischen Hochschulen, die so deutlich von den politischen Verhaltensweisen der Studenten der Weimarer Periode unterschieden ist, mag ihre Basis in dieser Differenz haben. Nur sollte bei der Beurteilung dieser Zusammenhänge nicht vergessen werden, daß das kritisch-demokratische Auftreten eines größeren Teiles der studentischen Jugend auch in der Gegenwart nur die Sache einer Minderheit ist, während die große Mehrheit der Studentenschaft, deren Mentalität politisch indifferent bleibt, aber mangels rationalen Bestimmtseins — falls sie politisch aktiviert werden könnte — eher zur Akklamation vorgegebener Machtstrukturen in der Form der Unterstützung irrationaler Glaubenssätze führen würde, öffentlich kaum in Erscheinung tritt, solange diese Majorität

8

Geleitwort

hoffen kann, nach Abschluß des Hochschulstudiums sofort und ohne Schwierigkeiten in gehobenen Berufen Verwendung zu finden. Die „Einstellungen" jener jungen Studenten, deren sich die Erhebungen von Jürgen Habermas angenommen haben, haben sich während ihrer Ausbildung auf den Oberschulen entwickelt und stabilisiert. Will man sie verändern und rationalisieren, so muß man deshalb zunächst die Mentalität der Oberschüler genau kennen. Darum ist die vorliegende Untersuchung von Helge Lenné, die von der Philosophischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen und von der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main ermöglicht wurde, eine gewichtige Ergänzung des Buches von Jürgen Habermas. Sie ist mit sehr differenzierten Methoden auf breiter empirischer Basis durchgeführt worden. Wenn sie sich auch darauf beschränkt, hessische Oberschulen zu überprüfen, so bleibt doch zu vermuten, daß parallele Erhebungen an den Oberschulen anderer Bundesländer kaum andere Ergebnisse erbringen würden. Der Verfasser der vorliegenden Arbeit hat Begriffswelt und Untersuchungsmittel für seine Dissertation aus ähnlichen Fragestellungen und Analysen der amerikanischen empirischen Sozialpsychologie — weitgehend in Anknüpfung an L. L. Thurstone — entwickelt. Man mag dabei in Einzelfragen Zweifel anmelden. Das Ergebnis der Arbeit erscheint jedoch durchaus überzeugend. Es bleibt zu hoffen, daß diese Arbeit einerseits methodische Diskussionen anregen und andererseits Erwägungen über politisch-pädagogische Schritte einleiten wird, die jene autoritären Mentalitäten auflösen helfen, die — falls sie bestehen blieben — die deutschen Bildungsschichten abermals zu politischen Fehlreaktionen führen könnten. Marburg a. d. L., den 11. Februar 1967 Wolf gang Abendroth

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde durch eine empirische Erhebung an etwa 1500 Schülern und Schülerinnen hessischer Höherer Schulen im Herbst 1962 angeregt. Die innere Struktur der Einstellung dieser Schüler zur politischen Führung im allgemeinen wurde mit Hilfe der Einstellungs-Skalierung durch Paarvergleich untersucht. Die zahlreichen Details dieser empirischen Vorarbeit liegen als geschlossene Publikation vor (vgl. Literaturverzeichnis Nr. 13)1. I n dieser Arbeit werden die inhaltlichen Ergebnisse jener Untersuchung zusammen mit allen empirischen Arbeiten, die erreichbar waren und in sinnvoller Weise vergleichbar erscheinen, politologisch, soziologisch und in gewissem Umfang auch pädagogisch interpretiert. Ausnahmslos handelt es sich bei den angezogenen empirischen Vergleichsuntersuchungen um normale Fragebogen-Erhebungen, wie u. a. bei der Studie von Habermas u. Mitarb. „Student und Politik" (4). Die letztgenannte Studie hat im übrigen die Thematik der vorliegenden Arbeit wesentlich mitangeregt. Gegenüber den vielen Untersuchungen, die sich mit den politischen Vorstellungen der westdeutschen Nachkriegsjugend im allgemeinen und mit ihren nationalen Einstellungen im besonderen beschäftigen, konzentriert sich diese Arbeit auf ein, wie mir scheint, sozialpsychologisch und historisch besonders tief liegendes Moment, das unmittelbar einstellungsmäßige Verhältnis zur politischen Führung, zur politischen Autorität. I m ganzen deutet diese Untersuchung darauf hin, daß für den Durchschnitt der Schüler Höherer Schulen noch ein ausgeprägtes Zuständigkeits- oder Ordnungsdenken gegenüber der politischen Autorität wirksam zu sein scheint. Wenn daher im Rahmen von Krisensituationen autoritäre politische Tendenzen der Öffentlichkeit gegenüber ausdrücklich unter den Aspekten von Ordnung und von fachlicher Zuständigkeit (ihrer politischen Vertreter) sichtbar werden würden, so kann möglicherweise nicht damit gerechnet werden, daß sich eine Mehrheit jener, die durch die Höhere Schule gegangen sind, diesen autoritären Tendenzen ernsthaft widersetzen werde. Wie im einzelnen noch 1 Z u r F o r m der Anmerkungen u n d Literaturhinweise: es werden statt der vollen Buchkennzeichnungen bzw. statt der — sehr unpraktischen — a.a.O.Verweise die N u m m e r n des Literaturverzeichnisses genannt. Dies erleichtert das Auffinden von wiederholt zitierten Arbeiten.

10

Vorwort

auszuführen sein wird, habe ich in meiner eigenen empirischen Untersuchung versucht, besonders die tiefer liegenden Motivationen zu erfassen und temporäre, mehr intellektuell übernommene Meinungen auszuschließen. Um so schwerer wiegt das Resultat, daß für den Durchschnitt der späteren Inhaber von leitenden gesellschaftlichen Stellungen, also der gegenwärtigen Schüler Höherer Schulen, demokratische Einstellungen noch wenig stabil zu sein scheinen. Die ausdrückliche Ausrichtung der empirischen Untersuchung auf tiefer liegende Einstellungen läßt diese Arbeit voraussichtlich nicht so rasch an Aktualität verlieren, wie es bei normalen Befragungen der Fall zu sein pflegt — ganz abgesehen von gewissen grundsätzlichen Überlegungen im Rahmen der theoretischen Interpretation. Die Tatsache, daß in jüngster Zeit die NDP etwa im gleichen Ausmaß wie die anderen Parteien jugendliche Wähler gewinnen konnte — trotz fortgesetzter Gegenindoktrination in Schule und Öffentlichkeit —, widerspricht jedenfalls nicht den Resultaten dieser Arbeit. Es kann nicht bezweifelt werden, daß seit 1962 (dem Jahr der hier wesentlich benutzten empirischen Erhebung) Schüler und Studenten in Schüler- und Studentenzeitungen wie etwa auch in Demonstrationen politisch aktiver als früher in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten sind. Genauere Informationen zeigen allerdings, daß es sich fast ausnahmslos um beschränkte Gruppen handelt. Mithin scheint inzwischen die Streuung der politischen Aktivität und der Einstellungen zwischen undemokratischen und demokratischen Tendenzen größer geworden zu sein — was immerhin schon ein bedeutsames Phänomen im Bereich besonders der Gymnasialjugend und der akademischen Jugend wäre. Diese Arbeit dagegen zielt ausdrücklich auf Mittelwerte. Gerade aber in der Schicht der gesellschaftlichen „Multiplikatoren" (der die Gymnasialschüler später überwiegend angehören werden) dürfte dem Einstellungsmittelwert größere politische Bedeutung zukommen als der Einstellungsstreuung. Als praktizierendem Sozialkundelehrer an der Höheren Schule war mir wichtig, aus den gewonnenen Ergebnissen zumindest einige grundsätzliche Folgerungen für den politischen Unterricht festzuhalten. Dies lag auch im Sinne des wissenschaftlichen Institutes, das mir die empirische Erhebung wie auch die spätere theoretische Reflexion der Resultate erst ermöglicht hat, dem heutigen Deutschen Institut für internationale pädagogische Forschung in Frankfurt. Die Publikation der Untersuchung hat sich aus verschiedenen Gründen stark verzögert. Soweit die inzwischen veröffentlichten einschlägigen Arbeiten nicht noch nachträglich durch Umarbeitung des Textes berücksichtigt werden konnten, sind sie in den Anmerkungen und inso-

Vorwort

weit auch im Literaturverzeichnis aufgenommen worden. Weder diese Literaturstudien noch auch allgemeine Gesichtspunkte (die oben schon teilweise erörtert wurden) haben Anlaß zu einer tiefer gehenden Revision der ursprünglichen Resultate geben können. Amtliche Verlautbarungen (vor den NDP-Wahlerfolgen), die bezüglich der demokratischen Einstellung der Jugendlichen wesentlich optimistischer sind, kann ich jedenfalls in Bezug auf die Gymnasialjugend weder in den vorliegenden empirischen Erhebungen noch in meiner eigenen Untersuchung bestätigt finden. Zum Abschluß dieser Arbeit möchte ich allen denen danken, die mich in so großzügiger Weise wissenschaftlich und auch materiell unterstützt haben. In Hinblick auf die empirische Erhebung möchte ich insbesondere dem Deutschen Institut für internationale pädagogische Forschung meinen Dank aussprechen. Dabei möchte ich auf die wohl selbst international einmalige Form dieser Institution hinweisen, die es praktizierenden Lehrern ermöglicht, für ein oder zwei Jahre zur wissenschaftlichen Arbeit zurückzukehren und dabei Erfahrungen der pädagogischen Praxis für die wissenschaftlichen Fragestellungen nutzbar zu machen, um später ihrerseits die wissenschaftlichen Kontakte anregend auf die pädagogische Praxis zurückwirken zu lassen. Speziell danken möchte ich Herrn Professor Dr. Fritz Süllwold von der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt, der durch seine wissenschaftliche Beratung mich in meinen empirisch-methodologischen Untersuchungen, die dieser Interpretationsarbeit notwendig vorausgehen mußten, ermutigt und gefördert hat. Zu Dank verpflichtet bin ich weiterhin dem hessischen Staat, der mich anderthalb Jahre lang für meine wissenschaftlichen Arbeiten unter Fortzahlung des vollen Gehalts beurlaubt und dadurch erst die finanziellen Voraussetzungen für die vorliegende Arbeit hergestellt hat. In Hinblick auf die Interpretationsarbeit selbst fühle ich mich meinem Lehrer in wissenschaftlicher Politik, Herrn Professor Dr. Abendroth von der Philipps-Universität in Marburg, aufs tiefste verpflichtet, und zwar nicht nur bezüglich der wissenschaftlichen Methode als solcher, sondern auch im Hinblick darauf, daß er die für politologische Untersuchungen besonders wichtige Fähigkeit, eigene, ggf. abweichende Auffassungen wissenschaftlich zu vertreten, geradezu zu einer Bedingung enger Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Schüler gemacht hat. Besonders danken möchte ich Herrn Dr. Broermann und damit dem Verlag Duncker & Humblot für sein außerordentlich freundliches Entgegenkommen in allen Fragen der Veröffentlichung.

12

Vorwort

Widmen möchte ich diese Arbeit meiner Frau, die meine lange Abwesenheit und die sonstigen zusätzlichen Belastungen der ganzen Familie mit Selbstverständlichkeit auf sich genommen und mich von Anfang an zu dieser Untersuchung ermutigt hat. Berlin, Oktober 1966

Helge Lenné

I . Einführung i n die Methode der Einstellungefestetellung und der Interpretation der Erhebungeresultate 1. Einstellung und ihre Formen Der Begriff der „Einstellung", auf den auch diese Untersuchung sich stützt, wird in vielen vorliegenden Einstellungsuntersuchungen recht unterschiedlich erläutert, überwiegend unter relativ konkreten sozialfunktionalistischen Kategorien, etwa im Sinne bestimmter Grade und Formen des Engagements1, auch im Sinne allgemeiner Einstellungsgestalten, also ζ. B. Gesellschaftsbilder 2 oder in noch größerer Konkretisierung auf bestimmte Detailfragen (ζ. B. nationale Stereotype 3, oder umgekehrt in größter Verallgemeinerung als motivisches Element 4 ). Schließlich wird Einstellung zuweilen mit Meinung gleichgesetzt, zumindest aber wird oft von Meinungen auf Einstellungen als etwas den Meinungen innewohnendes abstrahiert. I m letzten Sinne definiert auch Thurstone 5 „The concept ,attitude1 will be used here to denote the sum total of a man's inclinations and feelings, prejudice or bias, preconceived notions, ideas, fears, threats, and convictions about any specified topic . . . . The concept „opinion" will here mean a verbal expression of attitude." I m folgenden soll unter Einstellung nur „attitude" in diesem von Thurstone definierten Sinne verstanden werden. Dieser Begriff ist einmal quantitativ, indem er die Summe aller Gefühle, also die Gesamtintensität des Gefühls bezüglich eines bestimmten Bereiches meint. Indem man von Meinungen als verbalen Ausdrücken der Einstellungen feststellt, welche Intensität der Einstellung sie durchschnittlich zum Ausdruck bringen, kann man dann anhand der von einem Individuum vertretenen oder auch abgelehnten Meinungen auf die Intensität der jeweils betrachteten Einstellung dieses Individuums schließen. Grundsätzlich baut diese Untersuchung auf den an diese Überlegungen anknüpfenden Methoden von Thurstone auf. Die Einstellungsdefinition 1 2 8 4 5

Habermas u. Mitarb. (4). Popitz (3), Willener (5) u. a. So bei Sodhi u. Β er gius, Nationale Vorurteile, B e r l i n 1953. Bei Cattell nach Sweney (15). Thurstone (6) S. 216.

14

I. Einstellungsfeststellung u n d Interpretation der Erhebungsresultate

von Thurstone gibt aber zugleich einen in doppeltem Sinne qualifizierenden Begriff. Einmal ist bei Thurstone Einstellung („attitude") gekennzeichnet durch einen bestimmten Bereich bzw. Gegenstand („specified topic"), auf den sie sich bezieht, andererseits wird Einstellung aber auch gespeist aus einer Summe von Strebungen, Gefühlen usw. Die Qualifikation des „specified topic" wird bei Thurstone zu der „attitude variable" verschärft 6. Die Verfolgung dieses Gedankens führt dann auf die grundlegenden Methodenfragen, die im Kapitel über die Methode näher betrachtet werden sollen. Hier interessiert in Bezug auf die Fragestellung und die Interpretation der Ergebnisse zunächst die andere Qualifikation im Thurstone sehen Einstellungsbegriff. Zu dieser muß zunächst bemerkt werden, daß Strebungen, Gefühle, Ideen, Befürchtungen usw., also jene verschiedenen Qualitäten, deren Summe die Einstellung charakterisiert, fast ausnahmslos mindestens zweiwertige Größen sind, also Größen, die einerseits irgendwann, irgendwo und auf irgendeiner innerpsychischen Ebene von irgendwelchen Momenten ausgelöst werden, und die ihrerseits auf die Realisierung oder Aktivierung irgendwelcher Momente auf irgendeiner inner- oder außerpsychischen Ebene hindrängen 7. Dabei ist es nicht notwendig, daß diese Zweiwertigkeit in jedem Falle realisiert wird, ja Gefühle werden oft ausdrücklich als Zwischenpositionen bestimmt, die einen ursprünglich zwingenden Zusammenhang bestimmter Reize mit bestimmten Reaktionen in einen bloß wahrscheinlichen oder möglichen umwandeln 8 . Diese Mehrwertigkeit der eine Einstellung definierenden Ausgangsdaten hat aber zur Folge, daß die Ausgangsdaten selbst auf je eigene „specified topics" bezogen sind. Mithin kann grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, daß eine Einstellung im Sinne Thurstones a priori eine psychisch zusammengesetzte Erscheinung ist, daß also auch die „attitude variable" grundsätzlich nur als eine definitorische Größe betrachtet werden darf. Dabei wird in der Regel diese prinzipiell definitorische Größe sozial rationalisiert sein. Alle Leute werden das Wort, mit dem eine Einstellung bezeichnet wird, im großen und ganzen auf die gleiche Menge von Einzelgefühlen, Strebungen usw. beziehen. Diese Problematik ist für die vorliegende Untersuchung wesentlich. Sie wird daher noch im einzelnen zu betrachten sein. Die soziologische Interpretation von Einstellungen erfordert, daß Gefühle, Strebungen usw., die bei Thurstone eine Einstellung begründen, hinsichtlich der ihnen jeweils zugeordneten einzelnen Gegenstände („topics") untersucht und ggfs. klassifiziert werden. Insoweit mit diesen β 7 8

(6) S. 219. Vgl. Hartley (25) S. 437 ff. So u. a. A. Gehlen (54).

1. Einstellung u n d ihre Formen

15

Einzelgegenständen Strebungen, Gefühle usw. verknüpft sind, die sich alle in gleicher Weise oder in gleicher Richtung in der Einstellung niederschlagen, ist Einstellung im Thurstone'sehen Sinn zugleich eine Summe von einzelnen Verhaltensdispositionen. Diese sind in Bezug auf die Einstellungsvariable („attitude variable") mehr oder weniger fixiert. Ihre Gesamtheit determiniert bei — verbaler — Bezugnahme auf die Einstellungsvariable (auch als Kriterium bezeichnet) dementsprechend Zustimmung oder Ablehnung angebotener Meinungen, aber beeinflußt auch reales Verhalten im Zusammenhang mit der Einstellungsvariablen nach Maßgabe der jeweils sonstigen hinzutretenden Motivationen. Der so als komplexe Verhaltensdisposition bestimmte Thurstone'sehe Einstellungsbegriff ist unmittelbar in den soziologischen Begriffsapparat überführbar. Dabei werden hier theoretische Begriffe der funktionellstrukturellen Sozialtheorie 9 verwendet, weil sie notwendige, wenn auch nicht überall ausreichende Generalisierungen sozialer Erfahrungen anbieten. Zu ihnen zählt insbesondere der Begriff der Rolle als Gesamtheit bestimmter Handlungsweisen, die Personen von bestimmtem sozialen Status zugeordnet sind 10 . Mit diesem Begriff eng verknüpft ist der der Gegenrolle speziell in der Form der Rollenerwartung. Einstellung bzw. komplexe Verhaltensdisposition kann nunmehr besonders dann mit Rollenerwartung gleichgesetzt werden, wenn, wie in der vorliegenden Untersuchung, die Einstellung gegenüber Personen von bestimmtem sozialem Status geprüft wird. Diese nunmehr für die vorliegende Untersuchung vorausgesetzte Gleichsetzung von Einstellung und Rollenerwartung ermöglicht es, die hier in Betracht zu ziehenden Einstellungen von soziologischen Gesichtspunkten her einzugrenzen. Als Kategorien der Verfeinerung und Abgrenzung dienen dabei der Grad der in der Rollenerwartung disponierten Aktivität und die Art der Konstituierung der Rollenerwartung. Bezüglich der Konstituierung ergeben sich in erster empirischer Näherung drei wichtige Formen. 1. Rollenerwartungen können in Wunschvorstellungen bestehen, die im engeren Sinne ethische oder normative Setzungen, im weitesten Sinne aber auch irgendwelche Ideologien und ideologieartige, d. h. in wesentlichen Punkten nicht auf weitere Zwecke bezogene allgemeine Motivationen umfassen. Von jeglicher speziellen sozialen Zweckbindung wird dabei — jedenfalls im Prinzip — abstrahiert. In diesem Falle soll einfach von normativen Rollenerwartungen die Rede sein. Die Norm ist in ihnen konstituierend. 2. Rollenerwartungen können aber auch die Abspiegelung mehr oder weniger zahlreicher praktischer Erfahrungen oder auch sprachlicher 9 10

u. a. Parsons (2). Parsons (2) S. 25.

16

I. Einstellungsfeststellung u n d Interpretation der Erhebungsresultate

Konventionen sein. Der Grad der Verallgemeinerung wird dabei vor allem durch das Maß an praktisch notwendiger Handhabbarkeit der Erwartungsformulierung bestimmt, während die Erfahrung und die Sprachkonvention die wesentliche Grundlage darstellen. Solche Rollenerwartungen sollen empirische Rollenerwartungen genannt werden. 3. Es erscheint im Hinblick auf wichtige Erfahrungsbereiche nützlich, noch eine dritte Gruppe von Rollenerwartungen gesondert zu nennen; gemeint sind Einstellungen, die sich gerade erst aus einer je aktuellen Situation unter der Einwirkung sehr zahlreicher motivischer Komponenten herausbilden, aber, indem sie sich entweder begrifflich oder im Verhalten formulieren und zumindest in einer kleinen Umgebung der Situation an Status-Wahrnehmungen gebunden weiterwirken, doch als Rollenerwartungen gekennzeichnet werden müssen. Es möge hier von aktuellen Rollenerwartungen gesprochen werden. Dieser Unterteilung von Rollenerwartungen nach deren sozialer Konstituierung folgt die andere nach dem Grad der innewohnenden Aktivität. Das Mittel der Differenzierung kann der empirischen Methode als solcher entnommen werden, nämlich ihrer Forderung, Gegenstände durch Erfahrungen zu identifizieren. Rollenerwartungen sind in vielen Fällen nur durch Äußerung von Meinungen und Reflektionen empirisch zu erfassen. Der entscheidende und Rollenerwartungen kennzeichnende Aspekt von Meinungen und Reflektionen ist der Gehalt an Interpretation bestimmter sozialer Rollen, auf die sich daher die Rollenerwartung bezieht. Soweit eine Rollenerwartung nur durch derartige Interpretation identifizierbar ist, soll sie interpretative Rollenerwartung heißen. Dabei kann die Interpretation selbst bereits als eine Gegenrolle gegenüber der erwarteten Rollenform aufgefaßt werden, allerdings eine Gegenrolle, die sich grundsätzlich reflektiv und in Vorstellungs-Begriffs- und ggfs. noch in Gefühlsrelationen vollzieht. Der Träger von Rollenerwartungen könnte aber auch bestimmte äußere Gegenrollen entwickeln, die als Klassen ähnlicher Handlungen von außen her beobachtbar wären. Auch anhand solcher sozial aktiven Gegenrollen lassen sich empirisch Rollenerwartungen bestimmen. Dabei sollen wieder zwei Fälle unterschieden werden. Einmal können solche aktiven Gegenrollen unter der feststehenden Voraussetzung entwickelt werden, daß die erwarteten provozierenden Rollen unabänderliche soziale Tatsachen sind, die bei der Verfolgung irgendwelcher Intentionen als fixe Größen betrachtet werden müssen. Rollenerwartungen, die durch solche „konservativen" Gegenrollen angezeigt werden, sollen intentionale Erwartungen heißen. Es kann aber auch beobachtet werden, daß sich aktive Gegenrollen ausbilden, die die in der Erwartung enthaltenen erzeugenden Rollen nicht für feste unabänderliche

1. Einstellung u n d ihre Formen

17

Momente ansehen, sondern Veränderungen dieser erzeugenden Rollen unmittelbar mit beinhalten. Solche Rollenerwartungen mögen interventionierende Erwartungen genannt werden. Dieser begriffliche Ansatz liegt zwar noch nicht völlig im Bereich definitorischer Freiheit, aber er weist in wesentlichen Punkten über die strukturell-funktionelle Theorie hinaus, und zwar einmal in der strikten Trennung (und den damit eingeschlossenen Konfliktmöglichkeiten innerhalb der Realität) zwischen den Begriffen normativer, empirischer und aktueller Rollenerwartung, sodann im Begriff der intervenierenden Rollenerwartung selbst. Dieser Begriff setzt vorsorglich als mögliche Normalität in Rechnung, was in der strukturell-funktionellen Theorie gewöhnlich allenfalls als „deviant behavior" bestimmt wird, ohne allerdings für diese generelle soziologische Gewichtsbestimmung Beweise anzutreten 11 .

11

Parsons (2) S. 251 ff.

2 Lenné

2. Zur Interpretation der vorliegenden Einstellungs-Erhebung Eine vorsichtige Klassifikation wie die oben entwickelte, ist nicht nur auf Grund theoretischer Rücksichten notwendig, sondern zunächst einmal, um für empirische Erhebungen eine hinreichende Isolation der Bedingungen und Bereiche sicherstellen zu können. Diese Untersuchung über die Einstellung von Oberschülern zu Führungsstellen wurde auf eine einzige der im oben bestimmten Sinne neun möglichen Rollenerwartungsformen beschränkt: auf normative, interpretative Rollenerwartung. Mit anderen Worten: nur die Wunschbilder wurden in der Erhebung berücksichtigt, und dies wurde durch die Art der Erhebung auch nach Möglichkeit sichergestellt. Diese Beschränkung der Untersuchung auf normative, interpretative Rollenerwartungen von Oberschülern gegenüber sozialen Führungsstellen gestattet für die Zukunft die Präzisierung weiterer Untersuchungen auf die übrigen Bereiche. Sie hat andererseits zugelassen, die Erhebungen dieser Arbeit in sich hochgradig zu differenzieren, ohne in Vergleichbarkeitsschwierigkeiten zu geraten. Es wurden die Einstellungen der Oberschüler gegenüber sozialen Führungstellungen sowohl dem Subjekt wie dem Objekt der Einstellung (also der normativen, interpretativen Rollenerwartungen) nach differenziert. Die Schüler wurden unterteilt nach Schulstufen, repräsentiert durch die jeweiligen Schlußklassen 7 (Quarta), 10 (Untersekunda) und 13 (Oberprima), sowie nach Geschlecht. Parallel dazu wurden noch anhand eines Testes zwei Gruppen nach Intelligenz getrennt 1 . Schließlich konnte für die Erhebung auch noch eine vergleichbar stratifizierte Elternpopulation erfaßt werden. Für alle diese Gruppen konnten gesondert Einstellungs-Werte berechnet werden, die dann zur vergleichenden Interpretation zur Verfügung standen (vgl. Anhang II). Als Führungspositionen von einiger Bedeutung für die Schüler wurden: 1. Staatsmänner und Politiker als Führer der nationalen Gesamtgruppe, 1

figure-reasoning-test

(36).

2. Z u r Interpretation der vorliegenden Einstellungs-Erhebung

19

2. Klassenleiter als Führer der formellen Klassengruppe und 3. tonangebende Mitschüler als Führer der informellen Klassengruppe in die Erhebung einbezogen. I n dieser Arbeit werden jedoch die Resultate bezüglich des zweiten und dritten Kriteriums nur stellenweise zu vergleichenden Interpretationen herangezogen; ihre eigenständige Darstellung und Interpretation soll gesondert publiziert werden. Die Möglichkeit einer vergleichenden Interpretation wurde von vornherein durch strenge Analogisierung aller Formulierungen gesichert; Einzelheiten dazu finden sich in der methodologischen Vorpublikation 2 . Als Erhebungsmethode wurde — mit gewissen Abänderungen — die Konstruktion von Einstellungsskalen nach den zuerst von Thurstone 3 entwickelten Verfahren des Paarvergleichs und der sukzessiven Intervalle verwendet. Dazu sollen hier nur die für die Interpretation wichtigen methodischen Punkte betrachtet werden. Die methodischen Einzelheiten und Begründungen sowie auch grundsätzliche Resultate beim Vergleich der Ergebnisse beider angewendeten Skalierungsverfahren finden sich in aller Ausführlichkeit in einer eigenen Publikation zur Methode dieser Untersuchung 4. I n beiden angewendeten Verfahren werden zu dem Oberbegriff, für den die Skala konstruiert werden soll (hier „Staatsmänner und Politiker"), eine Reihe von Feststellungen (items) gesammelt. Zum besseren Verständnis der Bedeutung dieser Feststellungen sei vorweggenommen, daß anhand der Befragung für jede dieser Feststellungen (über „Staatsmänner und Politiker") eine Zahl berechnet wird, die angibt, wie groß im Durchschnitt die Wichtigkeit der jeweiligen Feststellung für die Befragten ist. Diese „Wichtigkeits"-Zahl heißt Skalenwert. Die Skalenwerte der in der vorliegenden Erhebung verwendeten Feststellungen (items) beziehen sich auf eine normierte Skala, deren kleinster Wert Null für die Befragten als „bedeutungslos", deren größter Wert Eins für die Befragten inhaltlich als „absolut notwendig" charakterisiert wurde. In der vorliegenden Skalierung wurden die Aussagen (items) über den Oberbegriff nicht nur wie sonst üblich unter den Bedingungen der Skalierungsmethodik ausgewählt (Eindimensionalität u. a. m.). Vielmehr sind sie in erster Fassung freien Schüleraufsätzen entnommen worden, um auf jeden Fall innerhalb der Vorstellungs- und Begriffswelt von Schülern zu bleiben. 2 8 4



Lenné (13). Thurstone (6), S.39ff. u.a. Lenné (13).

20

I. Einstellungsfeststellung u n d Interpretation der Erhebungsresultate

Sodann wurden aus allen so gefundenen — nahezu fünfzig — unterscheidbaren Aussagen-Kategorien nur diejenigen weiter verwendet, die in Hinblick auf die politologischen Fragestellungen der Untersuchung besonders aufschlußreich zu sein versprachen. Zuletzt ergaben sich — nach einer Kontrollskalierung über 22 verschiedene Aussagen — dreizehn besonders interessant erscheinende Aussagen, die im Anhang I für das Kriterium „unsere Staatsmänner und Politiker" aufgeführt sind5. I m Paarvergleichsverfahren werden je zwei dieser Aussagen zusammengestellt und dann wird für jede mögliche Paarung gefragt, welche von beiden gepaarten Aussagen für wichtiger angesehen wird. Aus der Gesamtheit aller Entscheidungen der befragten Gruppe werden dann die Durchschnitts-Skalenwerte berechnet, die unmittelbar als Kennzeichen der befragten Gruppe betrachtet werden dürfen. Diese Skalenwerte sind — für alle drei verwendeten Kriterien — im Anhang I I zu finden. Für die mit Skalierung von Einstellungen weniger Vertrauten werde folgendes ausdrücklich hinzugefügt. Einstellungen im Sinne dieser Untersuchung sind keine rational gewonnenen und logisch abgesicherten Standpunkte. Die zur Skalierung dienenden Aussagen (items) haben daher auch keine Präzision im Sinne logischer Deduktion und strenger logischer Disjunktionen. Psychische Grundtendenzen pflegen sich nicht in dieser Weise zu manifestieren. Die der Skalierung dienenden Aussagen dienen daher vor allem der Klärung eines assoziativen Gefüges und sind auf diese Aufgabe hin konstruiert. Eine kritische logische Analyse der verwendeten Aussagen, etwa Untersuchung auf logische Widersprüche, unvollständige Disjunktionen usw. würde in der Tat die vorausgesetzte Methode verfehlen. Auch sollten die Befragten gar nicht erst versuchen, ihre Entscheidungen rational zu treffen. Denn solche rationalen Erwägungen pflegen besonders bei Jugendlichen von Tag zu Tag zu wechseln und würden sehr schwankende Ergebnisse zeitigen. Vielmehr sollten allgemeine psychische Tendenzen zum Ausdruck kommen. Auch aus diesem Grunde erschien der Paarvergleich als Methode der Wahl: 78 Vorrangigkeitsentscheidungen zu immer wiederkehrenden Aussagen lassen im Verlauf der Beantwortung sehr rasch alle Versuche zu rationaler Entscheidung scheitern. Zur Unterstützung dieses die Rationalität der Entscheidungen störenden (Verwirrungs-)Effektes wurde absichtlich auch ein gewisser Zeitdruck ausgeübt. 5 Die Parallel-items f ü r die K r i t e r i e n „Klassenlehrer" u n d „tonangebende Mitschüler" sind i n der V o r p u b l i k a t i o n zu finden; Lenne (13).

2. Z u r Interpretation der vorliegenden Einstellungs-Erhebung

21

Schließlich werde ausdrücklich vermerkt, daß hier nicht die Meinung einzelner Schüler, sondern die durchschnittliche Einstellungsstruktur von Schüler-Kollektiven zur Frage steht. Über Repräsentanz und Signifikanz wird der nächste Abschnitt gesondert Auskunft geben. Für die Interpretation ist dazu inhaltlich nur wichtig, daß der Anteil an Schülern aus Arbeiterschichten sehr gering und daher auch in der vorliegenden Erhebung praktisch vernachlässigbar ist. Die vorgefundenen Einstellungen müssen im wesentlichen auf die ca. 50 °/o der Bevölkerung bezogen werden, die nicht der Arbeiterschaft zugerechnet werden können. Rückschlüsse von den Einstellungen der Schüler auf die sozialen Schichten, denen sie entstammen, besagen daher in keiner Richtung etwas über die Arbeiterschichten. Die politischen Fragestellungen, anhand derer die charakteristischen Aussagen (items) endgültig ausgewählt wurden und die auch den Standort der Interpretation bestimmen, sind hochgradig durch das Interesse an den letzten fünfzig Jahren der deutschen Geschichte motiviert worden. Bei der Auswahl dieser Fragestellungen wurde von der Annahme ausgegangen, daß die Einstellung zur politischen Autorität möglicherweise noch bedeutsamer für die politische Situation der Deutschen sei als Formen nationalistischer Einstellung. Darüber hinaus bestand der Eindruck, daß es zum ersten Gesichtspunkt noch vergleichsweise wenig empirische Untersuchungen gebe. I m Sinne dieser Überlegung wurden vor allem drei Fragen konzipiert: 1. Wird die politische Autorität instrumental — als Mittel individueller Endzwecke — betrachtet und in dieser Funktion ggf. toleriert? 2. Wird die politische Autorität als motivischer Halt betrachtet, also als Objekt der emotionalen Identifikation? 3. Oder wird die politische Autorität unter der entgegengesetzten Einstellung beurteilt, mit prinzipiellem Mißtrauen, Bedürfnis zu ihrer Kontrolle und Bedürfnis nach kritischer Distanzierung? Der Anteil aller drei Komponenten sollte in der vorgefundenen Einstellung möglichst genau bestimmt und interpretiert werden. In Hinblick auf die jüngste deutsche Geschichte ging dabei der Verfasser von der Auffassung aus, daß eine starke Ausbildung des dritten Aspekts, des Distanzierungsbedürfnisses, vor allem wünschenswert erscheine. Dieser subjektive politische Standort wird in der Interpretation immer wieder sichtbar werden. Die Interpretation konnte sich aber nicht mit der Feststellung der Einstellungskomponenten begnügen. Sie mußte versuchen, die soziale

22

I . Einstellungsfeststellung u n d Interpretation der Erhebungsresultate

Bedeutung der bei den Jugendlichen vorgefundenen Einstellungen anhand bestimmter gesellschaftstheoretischer Voraussetzungen näher zu analysieren. Dies betrifft vor allem Fragen der Einstellungstradierung und der Auswirkungen für die politische Struktur. Die Reichweite der Interpretation ist dabei einmal durch die Repräsentativität beschränkt. Wie noch näher auszuführen, kann die Erhebung als repräsentativ für die Gesamtheit der hessischen Oberschüler(innen) angesehen werden. Da weiterhin Hessen in seiner Struktur in guter Näherung als repräsentativ für die gesamte Bundesrepublik gelten darf, so scheinen Verallgemeinerungen auf die Bundesrepublik nicht unerlaubt, besonders, soweit die aufgefundenen Tendenzen den in Hessen aktuell wirksamen — sehr gemäßigten — Einflüssen der politischen Linken entgegengerichtet sind. Die Reichweite der Interpretation ist weiterhin durch die Beschränkung auf Schüler(innen) der Höheren Schule eingeengt. Da aber die mittleren und oberen Führungspositionen der Gesellschaft fast ausnahmslos von ehemaligen Schülern Höherer Schulen besetzt werden, so bedeutet diese Einengung zugleich einen prognostischen Gewinn. Dies wird im Einzelfall beachtet werden. Endlich ist die Reichweite der Interpretation dadurch beschränkt, daß ausschließlich normative, interpretative Rollenerwartungen erhoben werden sollten. Es mußten daher in der Interpretation immer die komplexen Beziehungen zwischen diesen Rollenerwartungen und den übrigen oben genannten Formen mitberücksichtigt werden, die eine direktere Beziehung zum tatsächlichen politischen Handeln haben. Als Faustregel kann man davon ausgehen, daß die hier ermittelten normativen, interpretativen Rollenerwartungen um so wirksamer das politische Handeln beeinflussen, je größer die Verhaltensunsicherheit in konkreten Situationen ist (besonders also in Krisensituationen) und je weniger Denkrationalität wirksam wird. Die gesamte Interpretation knüpft zwar in ihren Fragestellungen primär an die geschilderte Einstellungs-Erhebung an. Aber sie stützt sich zugleich auf alle anderen dem Verfasser bekannt gewordenen einschlägigen Untersuchungen und Befragungen. In der Regel werden dabei die Thesen von den Resultaten der Einstellungs-Erhebung her entwickelt und dann anhand der übrigen Literatur auf ihre Gültigkeit hin geprüft. Diese Reihenfolge hat daher nur praktische Bedeutung für die Entwicklung der Interpretation, besagt aber nichts über den wissenschaftlichen Rang der verschiedenen Informationsquellen. I m ganzen zeigt sich eine sehr gute Übereinstimmung aller einschlä gigen Veröffentlichungen. Aber auch innerhalb der oben beschriebenen

2. Z u r Interpretation der vorliegenden Einstellungs-Erhebung

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Einstellungs-Erhebung zeigen sich die Endresultate ansatzweise schon in den freien Aufsätzen, aus denen die charakteristischen Aussagen gewonnen wurden, wie auch in den Kontroll-Skalierungen vor der endgültigen Auswahl der items. Zum Schluß werde noch auf einige formale Ansätze und Begriffsbildungen hingewiesen, die in der Interpretation benutzt worden sind. Jede Interpretation beruht prinzipiell auf Formen der Mittelwertbildung. Diese kann rein summativer Natur sein, aber auch auf komplexeren Verfahren aufbauen. Bei solchen Mittelwertbildungen arbeitet daher jede Interpretation quantitativ, gleich, ob dies bewußt ausgesprochen wird oder nicht. Diese Quantifizierung kann ausnahmslos auch praktisch an Formulierungen wie „Aus alledem ergibt sich . . „Bei vorsichtiger Abwägung aller Argumente für und wider . . .", „Auch folgende Autoren (bzw. Texte, bzw. Erhebungen, bzw. Quellen) belegen diese Behauptung . . . " sprachlich diagnostiziert werden. Aus dem Umstand, daß dominant erscheinende Momente nicht gewonnen werden können, ohne mehr oder minder komplexe Mittelwerte zu bilden, ergibt sich mithin eine wichtige Folgerung. Jede Einzelgröße, die in die Mittelwertbildung eingeht, wird mit einem Gewicht versehen. Diese Gewichte werden in der Regel nach gefühlsmäßiger Abwägung bestimmt, also in einem methodisch unkontrollierten Vorgang und sind daher ein Ansatzpunkt subjektiver Prämissen. Der Mangel an einem objektiven Maßstab für die Gewichte der Einzeldaten kann sich dahin auswirken, daß von extremen Erscheinungen aus argumentiert wird („am Rande der Gaußschen Verteilung"). Das Problem des Gewichts von Daten tritt in den Sozialwissenschaften besonders deutlich hervor, weil in ihren Gegenständen einerseits statistische Strukturen (i. S. großer statistischer Massen), andererseits aber Einflüsse von Individuen und singulären Ereignissen in nicht vernachlässigbarer Weise gemischt auftreten und in Wechselwirkung stehen. Sozialwissenschaftliche Allgemein-Aussagen über Datenmengen bedürfen daher theoretisch stets einer Charakterisierung, in welchem Umfang sie von den gewählten Gewichten unabhängig sind (Grad der Wichtungs-Invarianz)*. Bei der oft sehr praktischen Interpretation mit Hilfe von Typenbildung kann es zu der Vorstellung kommen, als ließe sich die betrachtete Gesamtbevölkerung weitgehend eindeutig der Typologie entsprechend in zwei (bzw. mehrere) Klassen aufteilen derart, daß jedermann entweder der einen oder der anderen Klasse angehört und die typischen Eigenschaften in ihm deutlich vergesellschaftet auftreten. Demgegenβ

Vgl. Kolakowski

(74). S. 294 i n Verbindung m i t dem Ideologie-Problem.

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I. Einstellungsfeststellung u n d Interpretation der Erhebungsresultate

über kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß Typen in diesem Sinne nur in den seltensten Fällen empirisch gesichert werden konnten. I n den allermeisten Fällen ist der homogene „Mischling" am häufigsten, und mit wachsend typischer Ausprägung nimmt die Häufigkeit stark ab (eingipflige Verteilung). Diese normale Aufteilung muß daher in jedem Fall die Grundlage der Interpretation bilden. Jede gefühlsmäßige Gewichtsbestimmung von Daten — auch im Falle von Typenbildung — muß diesen empirisch weithin gesicherten Umstand im Sinne einer methodischen Selbstkontrolle berücksichtigen. I m engen Zusammenhang mit dieser Erscheinung einer ganz überwiegend normalen (eingipfligen) Aufteilung der Bevölkerung auf eine Stufenreihe von Merkmalen steht eine andere, die gleichfalls einer Kontrolle gefühlsmäßiger Bewertung von Einzeldaten dienen kann. Die Motivbildung des Menschen erscheint weder durch Geburt noch durch Milieu eindeutig determiniert. Daher dürfen grundsätzlich menschliche Motive nur im Sinne von kleinerer oder größerer Wahrscheinlichkeit als determiniert angesehen werden: der Mensch ist — in kybernetischer Formulierung — ein probabilistisches System, und zwar ein äußerst komplexes — d. h. ein prinzipiell nur unvollständig beschreibbares 7. Da aber alle sozialen Ereignisse sich nur über individuelle psychische Strukturen vollziehen können, so stellt auch Sozialstruktur in jedem Falle nur ein probabilistisches System dar. Praktisch bedingt dies, daß stets mit einer großen Zahl unkontrollierbarer, aber in ihrer Gesamtwirkung nicht vernachlässigbarer Faktoren gerechnet werden muß. I n der Tat wird allein hierdurch bereits die oben behauptete „normale Verteilung" weitgehend verursacht. Wenn angenommen werden muß, daß der Mensch soziologisch als probabilistisches System aufzufassen ist, seine Handlungen also immer nur mit kleinerer oder größerer Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden können8, dann bedarf es besonderer Vorgänge, um seine Verhaltensweisen und Einstellungen zumindest im statistischen Sinne zu stabilisieren. Dabei widerlegt die Erfahrung an vielen Beispielen, daß eine solche Stabilisierung nur durch gesellschaftliche Zwänge möglich sei, abgesehen von dem Einwand, daß auch solche sozialen Zwänge sich ihrerseits immer nur wieder über die ^ ε ά ι ε ε Γ ννί ^ μ ^ der Individuen festigen können. Mithin müssen im Individuum Prozesse auftreten, die eine autonome Fixierung und Stabilisierung von Verhaltensweisen und 7 Vgl. Beer (47), insbes. S.37 u. Langer (41), speziell zur probabilistischen S t r u k t u r des Neuronensystems S. 176 ff. 8 Portmann (50), S. 14, Gehlen (54), S. 37, zuvor schon Scheler u n d andere sprechen — i n einem weiteren Sinne — von der Weltoffenheit des Menschen.

2. Z u r Interpretation der vorliegenden Einstellungs-Erhebung

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Einstellungen ermöglichen. Die kybernetische Theorie zeigt, daß für äußerst komplexe probabilistische Systeme wie den Menschen nur „Regelungen", also funktionelle Rückwirkungen eine solche dynamische Stabilität gewährleisten können. I m neurologischen und physiologischem Bereich wurden solche Regelungen auch schon in großer Zahl nachgewiesen, bzw. nur mit Hilfe dieser Rückkopplungs-Konzeption wurden viele Mechanismen erst verständlich 9. I m psychologischen und pädagogischen Bereich haben Langer 10 und Frank 11 neben anderen kybernetische Überlegungen eingeführt. I m Bereich der Soziologie und Sozialpsychologie wird das Rückkopplungsprinzip funktionell eingeschlossen in den Prinzipien der Reziprozität und der Wechselwirkung, deren grundlegende Bedeutung u. a. Hofstätter 12 allgemein würdigt. Der Gleichgewichtsbegriff bei Homans 1S, den dieser selbst direkt mit dynamischen Reaktions-Gleichgewichten erläutert, läßt sich kybernetisch als Regelung mit negativem Rückwirkungskoeffizienten interpretieren. Aber auch die politischen Kreislauf-Theorien von Aristoteles und Polybios bis Pareto lassen sich als — sozial umfassende — Regelungsvorgänge darstellen. Weiterhin ist die kapitalistische Akkumulation streng als Regelung mit positivem Rückwirkungskoeffizienten beschreibbar und wird von Marx auch präzise so beschrieben 14, ohne daß er allerdings die allgemeine Kategorie der Regelung entwickelt. Auch die Marxsche Geschichtstheorie ist als integrale Regelung mit negativem Rückwirkungskoeffizienten formulierbar — ungeachtet der Frage ihrer Verifizierbarkeit. Es erscheint daher sinnvoll, den Begriff der Regelung, der in der Kybernetik konstitutiv ist 15 und dort in aller Strenge entwickelt wird, endgültig auch als soziologische Grundkategorie zu übernehmen, selbst wenn an eine strengere mathematische Formulierung vorläufig höchstens in Einzelfällen gedacht werden kann. Wegen des überwiegend qualitativen Gebrauchs in der Soziologie soll daher nicht das Wort Regelung selbst übernommen werden. Dementsprechend sollen alle sozialen Wechselwirkungsprozesse, in denen gewisse Größen (z. B. durchschnittliche Verbreitung von Moden oder Verhaltensweisen, Ermessungsumfang von Positionen usw.) auf Grund sozialer Rückwirkungen fortlaufend entweder wachsen oder fallen oder dynamisch konstant gehalten werden, Rückregelungen heißen. Nachdem der Begriff der Rückregelung hinreichend verdeutlicht erscheint, kann unter dem Aspekt empirischer Beschreibung die Ge9

Vgl. Steinbuch (43), S. 130, Langer (41), S. 162 f. (41). 11 (49). 11 (128), S. 25 f. 13 (35), S. 288 ff. u. S. 392. 14 Marx (130), S. 622. 15 Wiener (51), insb. S. 145 ff.

10

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I. Einstellungsfeststellung u n d Interpretation der Erhebungsresultate

samtheit aller motivischen Prozesse im Menschen als ein System von aufeinander bezogenen Rückregelungen interpretiert werden, in denen gewisse Sollwerte dynamisch stabilisiert sind1*. Mit der vorsichtigen, rein formalen Erörterung und Einführung des Rückregelungsbegriffes als Hilfsmodell zur Beschreibung von Erfahrungen ist dabei schon vorweggenommen worden, was abschließend ausdrücklich festgestellt werden soll. In dieser Arbeit wird der Rückregelungsbegriff ausschließlich als ein formales theoretisches Schema betrachtet, das geeignet erscheint, große Mengen empirisch feststellbarer sozialer Erscheinungen ökonomisch darzustellen. Dabei wird mit dem Gebrauch dieser kybernetischen Kategorie innerhalb der vorliegenden Untersuchung keinerlei Anspruch auf anthropologische oder ontologische Aussage über den Menschen im allgemeinen verknüpft. Ein solcher Anspruch wird um so weniger erhoben, als der Gegenstand der Interpretation das konkrete Auftreten empirisch identifizierter Einstellungen ist sowie die mögliche konkrete Auswirkung solcher Einstellungen in einer bestimmten historischen Situation.



Vgl. Langer (41) S. 162 ff.

3. Zur Frage der Repräsentativität und Signifikanz der Resultate I n der endgültigen Erhebung wurden in Hessen insgesamt 1495 Schüler und Schülerinnen von Gymnasien befragt. Die Schulen waren durch geschichtete Zufallsauswahl so ausgesucht worden, daß die entnommene Stichprobe weitgehend der Verteilung der Gesamtschülerschaft der höheren Schulen Hessens auf Groß-, Mittel- und Kleinstädte sowie auf Nord- und Südhessen und auf die Konfessionen entsprach. Eine brauchbare Stratifikation ergab sich auch in Bezug auf Koedukations- und Nichtkoedukationsschulen1. Außerdem wurden Fragebögen bezüglich der Einstellung zur politischen Führung auch an die Eltern der befragten Schüler verteilt. Die Zahl der zurückgekommenen Elternfragebögen reichte aus, um eine vergleichbar stratifizierte Elternpopulation zu skalieren und zusätzlich für akademische Beamte und Angestellte sowie nichtakademische Beamte und Angestellte gesonderte Skalen zu erstellen. Insgesamt können die Skalen als repräsentativ für die Schülerschaft sowie für die Elternschaft der hessischen höheren Schulen gelten, in der nach den zugleich vorgenommenen statistischen Erhebungen etwa 7 % ungelernte und gelernte Arbeiter, etwa 10°/o Meister, Ingenieure und technische, nichtakademische Angestellte, 3 3 % nicht-technische, nichtakademische Angestellte und Beamte, 21 % akademische Angestellte und Beamte, 1 1 % nichtakademische Selbständige, 4 % Landwirte und verwandte Berufe und 14 % technisch-wissenschaftlich akademische Angestellte und Beamte, akademische Selbständige und Spitzenmanager vertreten sind2. Bei insgesamt etwa 65 000 Schülern und Schülerinnen an hessischen staatlichen Gymnasien entspricht die Stichprobe einem 1 : 25 Mikrozensus. Außerdem wurde ein allgemeiner Intelligenztest8 in jeder Klasse durchgeführt, so daß eine getrennte Skalierung nach den beiden Gruppen der 35 % besten und der 25 % schlechtesten dieses Testes erfolgen konnte. Die Gleichartigkeit der Erhebung wurde dadurch zusätzlich gesichert, daß alle Befragungen vom Verfasser persönlich geleitet wurden. 1 1 s

Vgl. Lenné (13), S. 121 ff. Vgl. Lenné (13), S. 123 ff. Daniels (36), figure-reasoning-test.

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I. Einstellungsfeststellung u n d Interpretation der Erhebungsresultate

Insgesamt wurden für die drei Klassenstufen nach Geschlechtern getrennt in Bezug auf drei verschiedene Kriterien achtzehn verschiedene Skalen berechnet. Dazu kommen noch sechs verschiedene Skalen, die nach den drei Kriterien und den beiden Intelligenztest-Gruppen differenzieren, zu denen allerdings nur Untersekunden und Oberprimen der Jungen herangezogen wurden. Endlich wurden noch die drei oben genannten Elternskalen berechnet. Die item-Werte dieser insgesamt siebenundzwanzig Skalen finden sich vollständig im Anhang II. Die gesamte Interpretation der Skalen, wie sie gemäß der oben beschriebenen Methode bestimmt und als wichtige empirische Stütze dieser Arbeit zugrunde gelegt worden sind, beruht auf dem Vergleich von item-Werten. Dieser Vergleich wird sich überwiegend auf die Werte gleicher items innerhalb verschiedener Skalen beziehen, aber besonders im nächstfolgenden Abschnitt auch auf die Werte verschiedener items innerhalb der gleichen Skala. In jedem Fall bedeutet Vergleichen eine Feststellung der Art, daß ein item-Wert größer bzw. kleiner sei als ein anderer, also daß eine numerische Differenz zwischen beiden itemWerten bestehe. Für eine begründete Interpretation ist es dann von entscheidendem Interesse, ob und in welchem Umfang eine solche Differenz statistisch bedeutsam ist. Um also die Repräsentativität der berechneten Skalenwerte wenigstens roh beurteilen zu können, wurde ein Verfahren zur Abschätzung der Signifikanz der item-Werte entwickelt4. Dieses Verfahren bedient sich grober Näherungen 5. Da im Zweifelsfalle aber stets die vorsichtigere Schätzung verwendet wurde, sind die theoretisch ermittelten Signifikanzgrenzen im allgemeinen sehr wahrscheinlich zu vorsichtig gewählt, wie auch anhand gewisser spezieller Erscheinungen belegt werden konnte6. I m Rahmen dieses Verfahrens der Signifikanzbestimmung von item-Werten treten bestimmte Größen D auf. D kennzeichnet dabei einen kritischen Abstand (Differenz) zwischen zwei items mit folgender Eigenschaft. Nimmt man an, daß für die gesamte Schülerschaft der hessischen höheren Schulen bei entsprechender Skalierung zwischen den betrachteten beiden items die Differenz Null aufträte (Nullhypothese), so würde unter dieser Annahme nur in 5 °/o aller vergleichbaren Stichproben die Differenz der betrachteten beiden items gleich oder größer als D sein. Läßt die Nullhypothese aber eine beobachtete Differenz D oder eine größere nur in 5 % aller vergleichbaren 4 5

(13), S. 89 ff. I h n e n liegt teilweise die Idee der „Mutungsgrenzen" nach v. Schelling,

in Gebelein (17), S. 246 ff. zugrunde. • (13), S. 102 ff.

zit.

3. Z u r Frage der Repräsentativität u n d Signifikanz der Resultate

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Stichproben erwarten, so erscheint sie entsprechend unwahrscheinlich. D wird dann statistischer Konvention gemäß als signifikant auf dem 5 °/o-Niveau bezeichnet. Je nach Art des Vergleichs und der verglichenen Skalen liefert die theoretische Berechnung verschiedene Werte von D, wenn D als kritischer, nämlich auf dem 5 %-Niveau signifikanter Mindestabstand zweier items bezeichnet wird. Die Größe D ist insoweit ein reziprokes Maß für das Auflösungsvermögen einer Skala. Soweit sich D auf item-Differenzen innerhalb der gleichen Skala bezieht, wurde es Di genannt, soweit es sich auf den Vergleich zweier item-Werte in verschiedenen Skalen mit statistisch gleichen Voraussetzungen bezieht, Da oder Dm. Da bezeichnet dabei D in dem Fall, daß items in beiden betrachteten Skalen relativ zu deren Randwerten Null („bedeutungslos") und Eins („absolut notwendig") verglichen werden. Dm bezieht sich auf den Fall, daß items in beiden Skalen relativ zu deren Schwerpunkten mi verglichen werden. Alle drei Formen von D sind im Anhang I I mitangegeben. Eine strikte Beschränkung der Interpretation auf signifikante itemWert-Differenzen würde allerdings für diese Untersuchung eine allzu puristische Einengung darstellen. Sie erscheint auch nicht nötig, wenn immer dort, wo beobachtete item-Wert-Differenzen nicht mehr signifikant sind (5 %-Niveau), ausdrücklich angegeben wird, in wieviel Prozent aller vergleichbaren Stichproben unter der Annahme der Nullhypothese die beobachtete oder eine größere item-Wert-Differenz erwartet werden muß, wie unwahrscheinlich daher die Nullhypothese noch erscheint. Zur Vereinfachung sollen hierzu insgesamt vier Stufen eingeführt werden. Auf allen vier Stufen wird jeweils der Prozentsatz aller vergleichbaren Stichproben angegeben, für den unter Annahme der Nullhypothese noch gleiche oder größere item-Abstände erwartet werden können. Dieser Prozentsatz stellt anschaulich ein relativ proportionales Maß für die Wahrscheinlichkeit dar, daß der item-Abstand in Bezug auf die gesamte repräsentierte Population in Wirklichkeit Null ist. Dieser Prozentsatz soll fortan der Kürze halber als „%-Niveau" bezeichnet werden. Ist die beobachtete item-Wert-Differenz größer als D, so liegt Signifikanz vor (5 %-Niveau, abgekürzt 151). Ist die beobachtete itemWert-Differenz immer noch größer als 2/s D, verbal als starke Tendenz gekennzeichnet, so würden unter Annahme der Nullhypothese nur 20 °/o aller Stichproben gleichen oder größeren item-Abstand zeigen (20%Niveau, abgekürzt |20|. Ist der beobachtete Abstand nur VsD, verbal als Tendenz bezeichnet, so ergibt sich immer noch entsprechend wie oben 33 %-Niveau (abgekürzt: |33|), und ist der beobachtete item-Abstand V^D, verbal als schwache Tendenz charakterisiert, so soll noch

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I. Einstellungsfeststellung u n d Interpretation der Erhebungsresultate

vom 50%-Niveau gesprochen werden (abgekürzt |50|). I m strengen Sinne ist dieses °/o-Niveau statistisch wertlos. Trotzdem wird die schwache Tendenz hier als interpretierbar angesehen. Aus mehreren Gründen darf nämlich angenommen werden, daß die theoretischen Werte von D auf Grund der sehr einfachen, stets auf vorsichtige Schätzung hin orientierten Berechnungsmethoden zu groß angesetzt sind. Insbesondere hat der systematische Vergleich der Werte der Paarvergleichsskalen mit denen der „sukzessiv-Intervall"-Skalen empirisch stark überzufällige Abweichungen erbracht, aus denen sich auch empirisch begründen läßt, daß das reziproke Auflösungsvermögen D theoretisch zu groß abgeschätzt worden ist, wahrscheinlich mindestens um den Faktor 1,57. Schließlich kommt noch ein drittes Moment hinzu. I n der Skalierung sollten sich die normativen Erwartungen der Schüler niederschlagen, also ihre Wünsche darüber, welche Eigenschaften ihrer je persönlichen Meinung nach politische Führer haben sollten. Trotz aller nachdrücklich auf diesen Aspekt hin vorgenommenen Formulierung der items, der Fragebogenerläuterungen usw. kann nicht ausgeschlossen werden, daß auch empirische Erwartungen in die Antworten eingegangen sind, also eigene Erfahrungen der Kinder oder angelernte Sätze und Begriffsbestimmungen darüber, welche Eigenschaften soziale Führer „tatsächlich" haben. Nun ist durch zahlreiche Erfahrungen — auch im Rahmen von Skalierungen — gesichert, daß die innerhalb eines gleichartigen Milieus an der Wirklichkeit gemachten individuellen Erfahrungen sowie die Konventionen über die Bedeutung von Begriffen einheitlicher sind als die persönlichen Wünsche und Forderungen. Wenn daher in die Skalierung nicht nur Wünsche und Forderungen, sondern auch sicher Erfahrungen und Begriffskonventionen eingegangen sind, so werden die Skalen in Bezug auf die sich in der Stellung der items ausdrückenden Wünsche und Forderungen viel weniger deutlich zwischen verschiedenen Populationsgruppen trennen als theoretisch erwartet wird. Die Positionen der item-Werte werden durch die Wirkung der miteingegangenen sehr einheitlichen Faktenerfahrung (zumindest der skalierten Schüler) und Begriffskonventionen selbst vereinheitlicht. Wenn dann aber gleiche items auf verschiedenen Skalen immer noch deutlich verschiedene Werte zeigen, so muß wegen der eben dargestellten vereinheitlichenden Einflüsse eine solche Differenz in der Interpretation höher bewertet werden, als die theoretische statistische Rechnung zuläßt. Aus allen diesen drei Gründen darf erwartet werden, daß alle vier Stufen tatsächlich größere Bedeutung haben, als die statistische Meß7

Vgl. (13), S. 102 ff.

3. Z u r Frage der Repräsentativität u n d Signifikanz der Resultate

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zahl (°/o -Niveau) angibt, und daß insbesondere die schwachen Tendenzen, die theoretisch statistisch nichts mehr aussagen, doch noch echte Aussagen enthalten. I m Text wird in der Regel neben der verbalen Kennzeichnung der vier Stufen die zahlenmäßige benutzt, so wie sie oben jeweils in Klammern angegeben wurde, wobei die Zahl immer das %-Niveau angibt, also: Signifikanz |5|, starke Tendenz |20|, Tendenz 1331 und schwache Tendenz |50|. Liegt im Sinne dieser Stufen überhaupt keine interpretierbare Differenz vor, ist also die item-Wert-Differenz kleiner als 7s D, so wird dies ggfs. durch | — | gekennzeichnet. Wie im letzten Abschnitt bereits ausgeführt, hat es sich als zweckmäßig erwiesen, die Werte gleicher items auf verschiedenen Skalen nicht nur absolut, also in Bezug auf die Normierungsgrenzen 0 (bedeutungslos) und 1 (absolut notwendig) zu vergleichen, sondern auch in Bezug auf die Schwerpunkte, die in diesem Falle numerisch gleichgesetzt werden müssen. Diese Art des Vergleichs soll relativer Vergleich heißen. Der relative Vergleich soll in gleicher Weise durch die betrachteten vier Stufen gekennzeichnet werden wie der absolute. Für ihn gelten auch alle sonstigen Ausführungen darüber, daß der theoretische D-Wert mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu vorsichtig geschätzt ist. Endlich können Differenzen zwischen zwei items auch noch anhand der Rangordnung aller items festgestellt werden, und zwar durch den Differenzbetrag der Rangordnung beider verglichener item-Werte. Zur numerischen Kennzeichnung soll dieser Differenzbetrag in der Regel bei jedem item-Vergleich wiederum in Vertikalstriche eingeschlossen, angegeben werden. Somit erscheinen bei jedem Vergleich zweier itemWerte zwischen verschiedenen Skalen drei in Vertikalstriche eingeschlossene Zahlen: die erste bezeichnet das %-Niveau im absoluten Vergleich, die zweite das %-Niveau für den relativen Vergleich und die dritte den Rangplatzunterschied. Ist keinerlei Signifikanzgrad vorhanden, bzw. kein Unterschied im Rangplatz, so wird ein Strich gesetzt. Beim Vergleich zweier Werte verschiedener items innerhalb der gleichen Skala können natürlich nur zwei Werte erscheinen, da hier absoluter und relativer Vergleich identisch werden. Als Beispiel werde festgestellt, daß item Nr. 6 bei Quartanern bedeutsamer ist als bei Oberprimanern |5|5|4|, dagegen item Nr. 13 bei Oberprimanern bedeutsamer ist als bei Quartanern 12015| 21. Vereinzelt können auch in ein oder zwei Spalten der Signifikanzangabe Umkehrungen gegenüber der verbal behaupteten Relation auftreten. Durch Unterstreichung der Zahl soll besagt werden, daß diese %-Niveau-Stufe bzw. Rangplatzdifferenz für die der verbal ausgesagten Relation entgegengesetzte gilt.

I I . Patriarchalische Einstellung und Politik 1. Patriarchalismus als politisches Schicksal Alle Einstellungs-Skalen, die sich auf das Kriterium „Staatsmänner und Politiker" beziehen, bedürfen einer Interpretation im Rahmen der politischen Vergangenheit und Zeitgeschichte der befragten Bevölkerung. Die Einstellung zur politischen Führung ist ein für Deutsche besonders interessanter Aspekt politischer Einstellung überhaupt, da die Deutschen anders als ihre westlichen Nachbarn trotz einer Reihe historischer Ansätze nur einmal für wenig länger als ein Jahrzehnt, 1919 bis 1932, auch nicht ganz aus eigener Kraft eine demokratische politische Führung durchsetzen konnten. Ehe auf die Gesamtheit der hier auftauchenden Probleme näher eingegangen wird, soll zunächst eine für die Einstellungsskalen bezüglich politischer Führung dominante Erscheinung dargestellt und im einzelnen untersucht werden.

a) Zur Existenz einer konstanten Untergrund-Struktur politischer Einstellung

Betrachtet man die insgesamt sechs Skalen von Jungen und Mädchen in Quarta, Untersekunda und Oberprima sowie die Skalen der 35 °/o intelligentesten und der 25 °/o unintelligentesten Oberprimaner und Untersekundaner und endlich auch die Skala der — weitgehend gleichartig stratifizierten — Gruppe von Schülereltern, so fällt zunächst auf, daß in Bezug auf einige items die Struktur aller dieser auf politische Führung bezogenen Skalen sehr ähnlich ist [s. Anhang II, Skala (c)]. Insbesondere der Vergleich der Gesamt-SchülerdurchschnittsSkala mit der Skala der Eltern liefert folgendes Bild: Weitaus am wichtigsten, bei den Eltern sogar nahezu absolut notwendig erscheint, daß politische Führer auch in kritischen Situationen ruhig und sachlich entscheiden (item 1). An zweiter Stelle folgt in wenigstens doppelter kritischer Distanz D der Wunsch, daß die politischen Führer klug und erfahren in politischen Geschäften seien. Dicht darauf im Abstand von V* bis 1-facher kritischer Distanz D tritt item 2 auf, nach dem von politischen Führern erwartet wird, daß sie in gefährlichen Situationen zuerst an die persönliche Sicherheit der Geführten denken. Alle drei Spitzen-items gehören prinzipiell dem Bereich einer 3 Lennó

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I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

sachlichen Qualifikation der Führungsrolle an. Festgehalten werden muß jedoch, daß beide items, in denen überhaupt die Vorstellung des äußeren politischen Risikos Ausdruck findet, mit an der Spitze stehen, und daß das dritte Spitzen-item (Nr. 4) auch nicht eine materielle normative Rollenerwartung bezüglich politischer Führungsrollen ausspricht, sondern in allgemeinster Form die Fähigkeit, Schwierigkeiten zu bewältigen. I n der hier betrachteten durchgängigen Einstellungsstruktur zeigt sich mithin, daß der politische Führer vor allem als ein Mann gesehen wird, dessen Aufgabe es ist, an die Gruppe herangetragene Risiken und Unsicherheiten zu bewältigen 1 . Die Führungsrolle rechtfertigt sich in den Augen des deutschen Bürgers primär damit, daß sie vor Gefahren sachgerecht schützt2. Diese Einstellung bestätigt sich durch die Stellung, die anderen items gegeben wird. Insbesondere das item, das vordringlich — individuelle — wirtschaftliche Zufriedenstellung der Bürger fordert (Nr. 3), steht weit zurück in der Mitte beider hier verglichenen Skalen, also sowohl bei Eltern wie bei Schülern. Dagegen folgt als nächst wichtigster Wunsch an die politischen Führer, daß sie Recht und Gerechtigkeit üben mögen, hinter dem dritthöchsten item im Abstand von ein- bis zweimal D 3 . Nochmals in etwa gleichem Abstand erscheint dann erst item Nr. 5, nach dem politische Führer besonders auch die wirtschaftlich Schwachen menschlich anerkennen sollen. Diese Reihenfolge bestätigt die Interpretation oben, daß eine funktionell vorgestellte Risikosicherung im politischen Denken der Befragten vorrangig erscheint: erst Rechtssicherheit, dann menschliche Fürsorge gegenüber den Schwachen. Nochmals in etwa gleichem Abstand niedriger steht item Nr. 13 dicht vor item Nr. 3. Item Nr. 13 verlangt vom politischen Führer sachgerechtes Handeln insofern, als es die Verfolgung privater Interessen innerhalb der Führungsrolle ablehnt. Erst nach dieser Verweisung des politischen Führers auf strenge Funktionsfähigkeit hin wird in item Nr. 3 ein materielles Ziel für die Geführten gesetzt: wirtschaftliche Zufriedenheit. Es erscheint außerordentlich aufschlußreich, daß gerade dieses item relativ gering bewertet wird — in scheinbarem Widerspruch zu dem herrschenden Interesse der Bevölkerung in den Nachkriegsjahren. Offenbar wird von den mittleren und oberen Schichten, die vorrangig in dieser Untersuchung erfaßt sind, die Aufgabe wirtschaftlicher Führung gegenüber anderen Führungsaufgaben gering geachtet: in diesen Schichten wird mithin die individuelle wirtschaftliche Befriedigung in viel höherem 1 Bezüglich der Jugendlichen entsprechend Schelsky (44), S. 488, unter anderem Aspekt S. 48. 2 Vgl. Mitscherlich (45), S. 437, wonach das Versprechen totalen Schutzes paternale, autoritäre F ü h r u n g kennzeichnet. 3 Vgl. : starkes u. primäres Ordnungsbedürfnis der Jugend bei Schelsky (44), S. 458.

1. Patriarchalismus als politisches Schicksal

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Maße dem Einzelnen als Aufgabe zuerteilt als die Entscheidung und Bewältigung aller anderen Risiken. Dies mag teilweise eine Folge der in diesen Schichten wirksamen Tradition sein, die individuelle Wirtschaftsbestätigung überhaupt nur begrenzt im Rahmen politischer Problematik zu sehen. Zugleich zeigt sich in der relativ niedrigen Stellung von item Nr. 3 aber auch, daß der Einfluß des konsumtiven Denkens auf die politische Einstellung nicht überschätzt werden darf. Grundsätzlich könnte die ganz ausgeprägte Vorrangstellung sachlicher Führungsqualifikation als Ausdruck einer versachlichten Einstellung zur Politik angesehen werden. Hierin könnte ein Ansatzpunkt für ein versachlichtes und insoweit auch selbständigeres politisches Urteil liegen, ein für die politische Erziehung besonders interessanter Aspekt. Die Reichweite dieser Interpretation wird indessen durch die aufgewiesenen besonderen Akzente stark eingeschränkt. Einmal fällt auf, daß die durch ein konkretes Erfolgskriterium bestimmten Führungsqualifikationen nicht im Vordergrund stehen. So liegt persönliche wirtschaftliche Befriedigung (item 3) erst an 10. Stelle, Berücksichtigung persönlicher Sicherheit der Geführten nach den beiden anderen sachlichen Führungsqualifikationen erst an 3. Stelle von insgesamt 13 Positionen. Umgekehrt wird eine rein formale Qualifikationsnennung ohne jeden Rückbezug auf irgendwelche konkreten politischen Bedingungen, Klugheit und Erfahrung in politischen Geschäften, weit vorn an zweiter Stelle genannt, ein kaum weniger merkmalsarmes item wie „in kritischen Situationen ruhig und sachlich entscheiden können" steht an erster Stelle 4 . Damit aber erscheint die Interpretation unvermeidlich, daß die Bevorzugung der Sachqualifikation vor allem einem Denken in Zuständigkeiten entspringt, die im Falle der politischen Führung sich primär am — subjektiv sichtbar werdenden — Erfolg ausweisen. Insoweit erscheint ein Erfolg in der hier festgestellten Einstellungsstruktur ein besonders wichtiges, wenn nicht das wichtigste Kriterium eines politischen Führers zu sein, wobei „Erfolg" weitgehend abstrakt, losgelöst von konkreten politischen Bedingungen oder gar Vorbehalten, verstanden wird. 4 Die Befragung einer repräsentativen A u s w a h l aller 17 bis 22jährigen j u n gen Männer durch ein bekanntes I n s t i t u t 1952 ergab als gewünschte Eigenschaften eines Vorbildes: intelligent an 1. Stelle, 2. pflichtbewußt, 3. fleißig, 4. unternehmungslustig, 5. gewissenhaft, 6. zäh, ausdauernd (alle Eigenschaften von mehr als 30 °/o genannt). Auch hier ist die Erfolgsorientiertheit offensichtlich, zudem Eigenschaften w i e „ g u t gelaunt" erst an 6. Stelle, „ g ü t i g — m i t f ü h lend" erst an 11. Stelle (17 °/o), „großzügig" erst an 13. Stelle, „selbstlos" erst an 19. Stelle (10 %) u n d „freigiebig" erst an 16. (zweitletzter Stelle) folgen.

3*

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I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

Die Sicherheit einer Deutung als Tendenz zu politischer Sachlichkeit wird aber noch weiter vermindert, wenn man bedenkt, daß politische Führung als faktischer sozialer Prozeß funktionell teilweise direkt durch das Kriterium des Erfolges definiert ist. Da wahrscheinlich erscheint, daß trotz aller Vorkehrungen in entgegengesetzter Richtung nicht nur normative, sondern auch empirische Einstellungskomponenten in die Erhebung eingegangen sind, so muß angenommen werden, daß die Vorrangigkeit der sachlichen Führungsqualifikationen, insbesondere die spezielle Vorrangigkeit der den „Erfolg" schlechthin betreffenden items (Nr. 1 und 4) teilweise nur die Spiegelung des tatsächlichen politischen Führungsprozesses in empirischen Einstellungskomponenten ist. Dabei wird im übrigen eine Wechselwirkung zwischen normativen und empirischen Einstellungskomponenten bzw. zwischen normativen Einstellungen und objektiven Bedingungen durchaus unterstellt, wie später noch in allgemeinerem Rahmen und im Vergleich der Skalen nach verschiedenen Führungsrollen diskutiert werden wird. Der — politologisch betrachtet, stets nur subjektiv geglaubte — „Erfolg" des Führers als vorrangig gesehene Führungsqualifikation kennzeichnet keineswegs mehr nur eine bloß sachliche Einstellung zur politischen Führung. Denn hier kann — im Prinzip — jeder höhere Wertaspekt, aber auch jede individuelle Zweckrationalität ausgeklammert sein. Insbesondere wird die materiale Rechtfertigung des Führungserfolges, das Wohlergehen der Geführten, zumindest deutlich abgeschwächt. Zugleich wird durch die Betonung gerade der formalen Sachqualifikationen das Gewicht der Beziehung zwischen Führer und Geführten gemindert. Erfolgreiche Führung wird zumindest teilweise als Eigenwert schlechthin, als objektive Zuständigkeit akzeptiert 5 . Damit aber wird eine spezifische Form autoritärer Einstellung sichtbar. Ihre Spezifität liegt darin, daß mit der Anerkennung des „Erfolgs" schlechthin nicht notwendig zugleich die persönliche Unterwerfung unter den Führer, also seine religiöse oder psychisch charismatische Deutung, verbunden ist. Diese vergleichsweise Verabsolutierung des Erfolgskriteriums in der politischen Einstellung deutet auf Blindheit gegenüber der tatsächlichen und erstrebenswerten politischen Bedingtheit der Führungsrolle von Staatsmännern und Politikern. Solche als Einstellung verinnerlichte Blindheit in der Bevorzugung des bloßen „Erfolgs" als Führungskriterium deutet auf eine ebenso verinnerlichte allgemeine Furcht vor dem Mißerfolg. I n der Tat stützt die Stellung von item Nr. 2 (Wunsch nach 5 Vgl. A. Grosser i n Sachverstand u. P o l i t i k (188), S. 198 f. M a n vgl. damit auch die Forderung des Bundespräsidenten der BRD, Lübke, auf eine „Regier u n g der Fachleute".

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Berücksichtigung der persönlichen Sicherheit der Geführten) an dritter Stelle der Gesamtskala und item Nr. 12 (Wunsch nach Respektierung von Gesetz und Gerechtigkeit) an vierter Stelle diese Überlegung, daß ein sehr allgemeines, stark ausgeprägtes Risikodenken eine bedeutsame Wurzel der Bevorzugung der sachlichen Führungserfolgskriterien ist. Dieses Risikodenken scheint auf das objektive Lebensrisiko gerichtet zu sein und schließt daher keineswegs notwendig den Wunsch der Risikoabdeckung durch emotionale Identifikation mit dem politischen Führer ein. Dies wird bei der Diskussion der identifikationsbezogenen items (Nr. 7, 8, 9) noch im einzelnen zu zeigen sein. Insbesondere deutet auf diesen objekt-bezogenen Charakter des Risikodenkens die Stellung von item Nr. 6 hin (sich dem erfolgreichen, starken Führer getrost anvertrauen wollen), das etwa in der Mitte der Skalen an sechster Stelle rangiert. Die Interpretation der Vorrangigkeit sachbezogener Führungs-items als politische Sachlichkeit muß daher aus allen angegebenen Gründen nachhaltig durch den anderen Aspekt ergänzt werden, daß hinter dieser scheinbar reinen Sachlichkeit ein mehr oder minder absolut gesetztes politisches Erfolgsdenken steht, mit dessen Blindheit gegenüber Mitteln und Zwecken des Erfolgs gerechnet werden muß. Dieses Erfolgsdenken ist möglicherweise durch eine sehr starke einstellungsmäßige Betonung der objektiven Lebensrisiken begründet, eine Einstellung, die auf tiefgehende historische Erfahrungen zurückverweist, ohne daß damit ihre politisch negativen Auswirkungsmöglichkeiten aufgehoben erscheinen. I m Gegenteil scheinen historische Erfahrungen als Ursache solcher Einstellung und politische Katastrophen als ihre Folgen in einer sukzessiven Wechselwirkung zu stehen, ein Rückwirkungsprozeß, der unter dem allgemeinen Begriff der historischen Rückregelung später nochmals aufgenommen werden wird. Der hier behauptete spezifisch autoritäre Charakter dieser äußerlich die sachlichen Kriterien bevorzugenden Einstellung zur politischen Führung wird durch die Stellung der übrigen items nachhaltig gestützt. So zeigt sich, daß das item Nr. 6 (sich dem starken, erfolgreichen politischen Führer anvertrauen wollen) zwar nicht in der Spitzengruppe der items, immerhin aber doch an sechster Stelle noch deutlich oberhalb des Skalenschwerpunktes rangiert, also noch in erheblichem Ausmaß in der skalierten Population motivisch repräsentiert wird. Es kann gewiß nicht gefolgert werden, daß der in item Nr. 6 ausgedrückte Wunsch nach persönlicher politischer Unterwerfung unter den politischen Führer das entscheidende Kennzeichen des oben charakterisierten Erfolgsdenkens sei — schon deshalb nicht, weil item Nr. 11 (Wunsch nach kritischer Kontrolle des Führers) dicht auf item Nr. 6 folgt. Aber es kann geschlossen werden, daß die gemeinsame Aussage der sachbezogenen

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Spitzen-items und des items Nr. 6, die bedingungslose Übertragung von Zuständigkeit auf Grund — subjektiv geglaubten — Erfolgs, besonders betont ist. Dabei bedeutet die Stellung des items Nr. 11 (der Führer soll kritisieren, aber sich auch kritisieren lassen) gleich hinter item Nr. 6 keinen wesentlichen Einwand bezüglich der praktischen Auswirkungen einer zuständigkeits- und erfolgsorientierten politischen Einstellung, weil unter dem Aspekt der Hochachtung vor dem Erfolg der Erfolg für sich allein und ohne Betrachtung der Mittel und allgemeineren Zwecke bereits zu einem sicheren Argument gegen mögliche Kritik wird, so daß diese nicht gefürchtet zu werden braucht. Insbesondere aber zeigt auch die näherungsweise Gleichrangigkeit des „autoritären" items Nr. 6 und des „demokratischen" items Nr. 11 zumindest, daß in Bezug auf die politische Prinzip-Entscheidung entweder für politische Kontrolle oder für politische Unterwerfung im befragten Mittelschichts-Kollektiv noch keine einstellungsmäßige Sicherheit gewonnen ist. Diese Behauptung wird auch dadurch belegt, daß die Skalenmitte ganz allgemein einstellungsmäßige Unsicherheit bezüglich der in ihr erscheinenden items indiziert 6 und die fraglichen items Nr. 6 und Nr. 11 etwa in der Skalenmitte liegen. Diese Unsicherheit in der Entscheidung zwischen, vereinfacht formuliert, demokratischer oder direkt autoritärer Einstellung gegenüber der politischen Führung erscheint als die entscheidende Voraussetzung für die präzise Interpretation der Vorrangigkeit der sachlichen, insbesondere unspezifisch erfolgsbezogenen Führungsqualifikationen. Unter dem Aspekt dieser tiefgehenden Unsicherheit der politischen Grundeinstellung erscheint nunmehr die Vorrangigkeit des unspezifischen Führungskriteriums des „Erfolgs" nicht nur als allgemeine Fluchtreaktion gegenüber den stark betonten objektiven Risiken, sondern als spezifische Selbstsicherungsreaktion gegenüber der individuellen politischen Unsicherheit und damit vor der latenten politischen Unmündigkeit überhaupt 7 . Zu dem ursprünglichen Aspekt, daß die Vorrangigkeit der sachbezogenen Führungsqualifikationen eine gewisse Versachlichung der politischen Einstellung bedeute, tritt somit auf Grund der Unsicherheit der politischen Grundeinstellung der andere Aspekt hinzu, daß diese Sachbezogenheit Mangel an politischer Selbstsicherheit ausdrückt, der zwar nicht unmittelbare Unterwerfung unter politische Autorität bedeuten muß, faktisch politisch aber die Entwicklung autoritärer Führung begünstigt. Was so zunächst als Ausdruck einer männlichen Lebenshal• Hofstätter (40), s. 190 ff. 7 Vgl. die international vergleichende Charakterisierung der politischen E i n stellung der Deutschen besonders gegenüber den Staatsbeamten bei Carter (38).

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tung und Sachlichkeit verstanden werden kann — besonders, wenn man die sehr schwache Stellung der persönliche Identifikation anzeigenden items Nr. 7, 8 und 9 berücksichtigt —, muß mithin im wenigstens gleichem Umfang als Ausdruck einer politischen Ambivalenz, ja Unmündigkeit 8 gesehen werden. Die Gefahren eines Denkens in Kategorien bloßer „fachmännischer Verantwortlichkeit" und „Kompetenzsicherheit" in der Politik, also einer mehr oder minder unkontrollierten Übergabe der politischen Verantwortung an den „politischen Fachmann" auf Grund eigener politischer Unsicherheit haben sich in der deutschen Geschichte gezeigt. Daher erscheint der gleichlautende aktuell in der Erhebung sichtbar gewordene Aspekt eines auf Fachqualifikation zielenden Zuständigkeitsdenkens besonders wichtig und interessant. Auf ihm vor allem soll die weitere Interpretation aufgebaut werden, ohne daß die Bedeutsamkeit des anderen Aspektes ( politische Versachlichung) geleugnet und seine spezielle Affinität zu einer die Fachqualifikation besonders ausprägenden Industriegesellschaft verschwiegen werden wird. Gerade kraft dieser Affinität vermag sich ggfs. die gefährliche Virulenz der aus politischem Fachlichkeitsdenken entspringenden, indirekten autoritären Tendenzen erweisen. Der damit herausgearbeitete, hier gewählte Hauptaspekt der Interpretation soll im folgenden noch in verschiedener Weise detailliert werden. Ausdrücklich wird jedoch betont, daß es sich dabei um Modifikation des bereits dargestellten Gesamteindrucks, nicht um Entwicklung besonderer politischer Typen oder einer typischen Polarität handelt. I m Bereich von „wenig wichtig", also im unteren Viertel der Skala, in weitem Abstand von allen sonstigen items finden sich die drei items, die überzeugende und freundliche Hedeweise des Führers und seine Fähigkeit fordern, Sympathie bzw. Hochachtung und Bewunderung zu erregen. Alle drei items drücken Formen von Identifikationsbedürfnissen aus, allerdings Bedürfnissen, deren politischer Charakter sehr verschieden sein kann. So kann unterstellt werden, daß in den USA, in denen feminine Werte traditionell hoch rangieren, alle drei Eigenschaften relativ geschätzt sind, ohne daß damit notwendig autoritäre Ein8 Vgl. A . Mitscherlich (189), insbes. S. 96 f., w o anhand einer anderen Befragung der „ L e i t w e r t Pflicht-Gehorsam" als nach w i e v o r g ü l t i g diagnostiziert wird. Vgl. die bereits angemerkte Befragung von 17 bis 22jährigen jungen Männern 1952, i n der als Eigenschaften von bejahten V o r b i l d e r n „ g ü t i g - m i t fühlend" an 11. Stelle (von 17 °/o), „großzügig" an 13. Stelle, „selbstlos" an 14. Stelle, „weltmännisch" an 15. u n d „freigiebig" an 16. Stelle (von 17 items) genannt werden. K e i n auf Identifikation zielendes i t e m w i r d v o r der 17. Stelle genannt.

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Stellungen verknüpft werden 9 . Alle drei Wünsche gegenüber politischen Führern, insbesondere aber die ersten zwei können in geeigneten Zusammenhängen auch als ein urbanes Bedürfnis danach verstanden werden, daß der politische Führer zu den Geführten einen Kontakt pflege, wie er in jeder affektiv aufgeschlossenen menschlichen Beziehung wünschenswert erscheint. Wenn daher die Befragten durchgehend diese drei items am Schluß der ganzen Skala rangieren lassen, so muß diese politische Doppeldeutigkeit gesehen werden. Es bedeutet einerseits eine Absage an emotionale politische Identifikationswünsche, wie sie in Zusammenhang mit autoritärer Einstellung auftreten können, und insoweit beinhaltet diese Wertung einen — zumindest scheinbaren — Widerspruch zu dem tatsächlichen politischen Verhalten insbesondere der älteren Generation, in dem doch — zumindest scheinbar — solche Identifikationsweisen hochgradigen Ausdruck gefunden haben. Andererseits kann in dieser niedrigen Rangierung von überzeugender und freundlicher Rede, von Sympathie zwischen Führer und Geführtem und auch von Hochachtung und Bewunderung, die der Führer erregt, eine Abwertung allgemeiner urbaner Werte menschlichen Umganges liegen. Dies jedoch bedeutet abermals eine Herausstellung des auf objektiven Erfolg zielenden funktionellen Charakters der Führerrolle gegenüber dem positiv emotionalen. Es scheint so, als würden — wenn hier eine Verallgemeinerung erlaubt ist — die Deutschen ihre politischen Führer nicht lieben, aber sich für zu schwach halten, ohne den Führungsfunktionär die großen politischen Risiken zu bewältigen. Das Verhältnis der Befragten zum politischen Führer erscheint in hohem Maße unausgeglichen, ohne Liebe, aber auch ohne Selbstbewußtsein. Eysenck 10 sieht in dieser „Lieblosigkeit" sogar ein allgemeines Charakteristikum autoritärer und insoweit patriarchalisch eingestellter Persönlichkeiten und unterscheidet daher die „Machtorientierung" der Autoritären von der „Liebesorientierung" der Nicht-Autoritären. Emnid 11 bestätigt dieses Moment in Bezug auf die deutschen Jugendlichen. 1955 wurde die Bewunderung von Gestalten aus der Vergangenheit begründet mit: Können und Leistung (Führungsleistung) von 75 °/o aller Jugendlichen, mit Sympathie von 3 °/o. Entsprechend dieser Übereinstimmung von Ergebnissen darf man pointiert formulieren: politi® Die außerordentliche K o m p l e x i t ä t der politischen Verhältnisse i n den U S A f ü h r t leicht zu Einzelerfahrungen, die dem zu widersprechen scheinen. Dies hat auch der Verfasser erlebt. Trotzdem u n d i n Übereinstimmung m i t anderen persönlichen Erfahrungen sowie vieler Berichte hält er die Annahme f ü r möglich. 10 (61) S. 146. Vgl. auch die bereits zitierte Befragung von 17 bis 22jährigen jungen Männern, die als gewünschte Eigenschaft von Vorbildern „ g ü t i g - m i t fühlend" erst an 11. Stelle (von 17 items) nennen (17 °/o d. Befragten). 11 (33), S. 167.

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sehe Führung tritt bei den erfaßten jugendlichen Deutschen und ihren Eltern geradezu als kollektives Ressentiment bezüglich der eigenen politischen Urteilsfähigkeit auf. Dies wird von der Untersuchung hier besonders dadurch bestätigt, daß zwei so klare und in der Tendenz sich einander widersprechende items wie Nr. 10 (politische Führer sollen nicht von oben herab anordnen, ohne andere anzuhören) und item Nr. 6 (politische Führer sollen einen starken und erfolgreichen Willen haben, dem man sich getrost anvertrauen möchte) beide in der Mitte der Skalen stehen und insbesondere bei Erwachsenen unauflösbar dicht benachbart sind. Bei einer Umfrage nach dem 2. Weltkrieg 12 ergab die Frage: „Glauben Sie, daß man den meisten Leuten vertrauen kann?" in der Bundesrepublik 93 °/o nein-Antworten, in den USA dagegen nur 30 °/o neinAntworten. Dies Ergebnis stützt die Annahme, daß von den Deutschen die politische Führung überwiegend unter dem Gesichtspunkt des Risiko-Schutzes — ggfs. sogar blindlings — akzeptiert, im übrigen aber mit Mißtrauen und ohne breite innere Anteilnahme beobachtet wird. Eben diese Ambivalenz ermöglicht unter bestimmten Bedingungen einen ebenso ambivalenten, äußerlich aber radikalen Umschlag in blinde Führergewißheit und Begeisterung und die Manipulierbarkeit auf solche Radikalismen hin. Unter normalen Verhältnissen von durchschnittlich erträglicher individueller Verunsicherung dagegen setzt sich die Ambivalenz der Einstellung zu politischer Führung in Opportunismus in Hinblick auf denkbare Risiken um, der überwiegend dann die politische Unterordnung motiviert. Opportunismus, besonders in dieser Funktion, wird auch von Eysenck 13 als allgemeines Kennzeichen autoritär-patriarchalischer Persönlichkeit gewertet und als „Überrealismus" treffend charakterisiert. 1957 befragte Habermas 14 Frankfurter Studenten und fand nur 30 °/o genuine Demokraten, dagegen einen vergleichsweise hohen Prozentsatz „auch" demokratisch Gesonnener 15, so daß sich auch hier deutlich die Unbestimmtheit und eine als Uninteressiertheit rationalisierte Ambi12

Hofstätter, Die Psychologie der öffentlichen Meinung, zit. n. (167), S. 13. (61), S. 146. 14 (4), Vgl. auch die Befragung von 17 bis 22jährigen, repräsentativ i n der BRD ausgewählten jungen Männern 1952 durch ein bekanntes Institut. A u f die Frage: „ W a r der Nationalsozialismus eine gute oder schlechte Idee?": Teils, teils: 41 %, gute Idee 33 °/o. A u f die Frage: „Angenommen, eine neue Nationalsozialistische Partei sucht an die Macht zu kommen?": Wäre m i r egal — 26 °/o; wäre dagegen, w ü r d e aber nichts besonderes t u n — 26 °/o; w ü r d e n es begrüßen, aber nichts besonderes t u n — 17 °/o; würde eine solche Partei unterstützen — 12 %. 15 (4), S. 133. 18

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valenz der Einstellung zu spiegeln scheint. W. Jaide kam in einer nach ähnlichen Kategorien wie Habermas differenzierenden empirischen Untersuchung an jüngeren Jugendlichen wenige Jahre später zu einem ähnlich doppeldeutigen Bild 1 *. So erscheint für einen Großteil der deutschen Jugendlichen und ihrer Eltern wie auch für das als Reservoir politischer Willensbildung betrachtete Gesamtkollektiv der erfaßten deutschen Bevölkerung politische Führung als ein einstellungsmäßig fixierter innerer Konflikt, als unbewältigtes, unentschiedenes Problem. Insgesamt kann daher die vorgefundene Einstellungsstruktur hinsichtlich politischer Führung charakterisiert werden wie folgt: Die politische Führung wird überwiegend unter dem Gesichtspunkt vorhandener oder denkbarer politischer Risiken und ihrer fachmännischen und erfolgreichen Bewältigung beurteilt und akzeptiert, ohne daß im Verhältnis zu ihr tiefgehende Verbindlichkeit entweder demokratischer oder autoritärer Art entwickelt wird. Eine in diesem Sinne ambivalent gewertete politische Führung soll als funktionelles Pariarchat bezeichnet werden. Der Durchschnitt der Befragten wünscht sich mithin als politische Führung ein funktionelles Patriarchat. Eine Vielzahl früherer Untersuchungen haben in diesem Sinne immer wieder ergeben, daß zwar in den Meinungsäußerungen über aktuelle politische Ereignisse die Demokratie bejaht wird, zugleich aber in der Einstellung, die anhand öffentlich nicht vorbeeinflußter Kriterien feststellbar ist, eine starke autokratische Komponente sichtbar wird. Auch diese durchgehend auffindbare Ambivalenz läßt sich ohne Zwang als funktioneller Patriarchalismus im hier bestimmten Sinne deuten. Für die Jugendlichen wurde dies in den Jahren 1953, 1954 und 1955 durch repräsentative Befragungen belegt 17 , 1957 für Studenten in der zitierten Untersuchung von Habermas 18, 1961 für Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren in einer Befragung durch W. Jaide 19 (insbesondere im Kapitel „Autokratie statt Demokratie") und endlich hat 1962 die vorliegende Untersuchung zum gleichen Ergebnis geführt. Insgesamt erscheint es daher hochgradig gesichert, daß die westdeutsche Jugend in einem für 16 (48), S. 104 ff. Vgl. auch die repräsentative Emnid-Befragung 1965 i n J u gend . . . , (205) entschieden sich Oberschüler f ü r folgende politische Verhaltensweisen: „Die P o l i t i k anderen überlassen, die mehr davon verstehen" u n d „interessiere mich gar nicht f ü r P o l i t i k " — 30 °/o; „ z u r Kenntnis nehmen, was i n der P o l i t i k geschieht" u n d „interessiere mich k a u m " — 30 °/o. Starkes a k tives Interesse — 28 °/o, stärkeres, inaktives Interesse — 11 °/o. Ca. 60 °/o der Oberschüler zeigen also noch 1965 wenig Voraussetzungen f ü r demokratisches Verhalten. Die Gruppe der ca. 3 0 % demokratisch a k t i v e n Studenten (bei Habermas) ist nach dieser Befragung auf ca. 36 °/o angewachsen, i n 8 Jahren ein Zuwachs von 6 °/o! 17 Emnid (53), S. 294—347. 18 (4). 19 (46) S. 88 ff.

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die weitere politische Entwicklung bedeutsamen Maße funktionellpatriarchalisch i. o. def. S. eingestellt ist, wobei diese Einstellung als ein tiefliegendes kollektives Persönlichkeitsmerkmal angesehen werden muß, das nicht bewußt zu sein braucht und den meisten Jugendlichen infolge der zeitgenössischen, offiziösen anti-autoritären Überformung und der konsumtiven Ablenkung auch nicht bewußt ist 20 . Besonders interessant ist die Tatsache, daß die Eltern der in dieser Untersuchung erfaßten Schüler — wie oben bereits beschrieben wurde — eine hochgradig gleichartige Einstellungsstruktur aufweisen. Allerdings kommt die funktionell-patriarchalische Einstellung der Eltern nicht unerwartet, denn sie hat sich historisch in jeder wünschenswerten Deutlichkeit manifestiert. Darüberhinaus haben Untersuchungen auch ein erhebliches Überleben von sozialen Schichten und Führungsgruppen bewiesen, die ζ. T. durch extrem autoritär-patriarchalische Einstellung gekennzeichnet sind 21 . Die Problematik dieser Übereinstimmung zwischen Eltern und Kindern bezüglich der politischen Einstellung soll im folgenden Abschnitt untersucht werden. Zum Schluß dieses Abschnitts müssen noch zwei Gesichtspunkte besonders betont werden. Einmal stellt die hier als funktioneller Patriarchalismus gekennzeichnete Einstellung zur politischen Führung, also der — vergleichsweise sachlich gedachte — Wunsch nach einer fachmännischen, kompetenten Führung eine deutliche Veränderung gegenüber der überaus emotional geladenen und zugleich dichotomisch zerrissenen politischen Einstellung der deutschen Bevölkerung nach 1918 dar, so wie sie durch zahlreiche Erscheinungen jener Zeit, ζ. B. die Formen der politischen Agitation, klar belegt wird. Insoweit beinhaltet der funktionelle Patriarchalismus im oben definierten Sinne tatsächlich eine deutliche Versachlichung, gleich aus welchen Gründen sie sich entwickelt hat. Darin liegt eine echte Chance, die zunächst auf die bloß „fachmännisch"-patriarchalische Kompetenz bezogene Vorstellung vom politischen Führer mehr und mehr anzureichern mit einem FührungsKontrollbedürfnis, dessen politische Notwendigkeit aus der gleichen sachlichen Gestimmtheit einsichtig werden könnte. I n dem Maße, wie „Verfassungsmäßigkeit" als Kriterium sachlicher Führungsqualifikation assimiliert wird, ist eine solche Demokratisierung des funktionellen Patriarchalismus tatsächlich denkbar und durch einzelne Erscheinungen in Westdeutschland besonders seit 1960 als möglich erwiesen 22 . 20

Vgl. W. Jaide (48), S. 99 ff., S. 104 ff. u. S. 129 f. Zusammenfassend Fritz Bauer i n (73), S. 221 ff. Vgl. a u d i W. Abendroth: Das Unpolitische als Wesensmerkmal der deutschen Universität (190), S. 189 ff. Besonders aufschlußreich die Deutung einer Befragung v o n politischen E i n stellungen durch A . Mitscherlich (189), S. 93 f. 22 M a n vgl. die Rolle des Bundesverfassungsgerichts. 11

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Andererseits bedeutet die sachliche Einsicht, daß politische Führung der Kontrolle bedürfe, logisch notwendig den Verzicht auf die funktionell-patriarchalische Auffassung, daß eine nur durch sachlich-funktionelle Qualifikation definierte politische Führung möglich sei. Demokratisierung beinhaltet daher nicht einfach eine Anreicherung des funktionellen Patriarchalismus ζ. B. mit Kontroll-Forderungen, sondern letztlich den Verzicht auf ihn mit Ausnahme der sachlichen Form seiner Konzeption. Von seinem politischen Inhalt her ist der funktionelle Patriarchalismus blind gegen autoritäre Entwicklungen, sofern sie sich — wie fast immer in der einen oder anderen Form — als sachlich-fachlich notwendig und politisch erfolgreich darstellen. Es soll nachdrücklich festgehalten werden, daß angesichts der deutschen Geschichte besonders der letzten Jahrzehnte die weitere Interpretation speziell auf diesen einen auf Autokratie zielenden Aspekt des funktionellen Patriarchalismus abgestellt wird. Der zweite Gesichtspunkt, der zum Schluß dieses Abschnitts erörtert werden muß, betrifft den Gültigkeitsbereich, der hier der empirischen Feststellung und der Interpretation des funktionellen Patriarchalismus zugrunde gelegt worden ist. Die Skalierung wie auch alle sonstigen empirischen Daten, mit denen hier Begriff und Existenz eines funktionellen Patriarchalismus gestützt sind, wurden in Westdeutschland gewonnen. Alle Folgerungen sind daher zunächst nur auf Westdeutschland und in Bezug auf westdeutsche Verhältnisse anwendbar. Wie sich eine Skalierung der Einstellung zur politischen Führung über eine internationale Population und im internationalen Vergleich gestalten würde, welche Modifikationen der hier gebrauchten Begriffe sich dabei als zweckmäßig erweisen würden und wie damit in Bezug auf internationale Verhältnisse sich auch die politische Bewertung der Einstellungen ggfs. verschieben würde, muß hier offen gelassen werden. Ob und inwiefern bei ggfs. geänderten Maßstäben andere Völker beispielsweise stärker demokratische Einstellungen oder auch stärker autoritäre politische Haltungen zeigen, hätte nur durch eine international vergleichende Erhebung geprüft werden können. Eine solche Erhebung ist grundsätzlich ins Auge gefaßt. Der Umfang einer solchen Erhebung und die besonderen methodischen Schwierigkeiten, auch auf internationaler Ebene die für Skalierungen notwendige geschichtete Repräsentativität der items hinreichend zu sichern, machten jedoch eine solche Erhebung im Hinblick auf den außerordentlichen zeitlichen und finanziellen Aufwand unmöglich. Hinzu kam, daß in jedem Falle die besonderen methodischen Probleme gruppencharakterisierender repräsentativer Skalierungen erst auf einem beschränkten Feld studiert werden mußten.

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Andererseits erscheint die zugelassene Interpretation relativ zu den westdeutschen Verhältnissen auch ausreichend, um die möglichen innerpolitischen Auswirkungen der festgestellten politischen Einstellungen untersuchen zu können. Angesichts der Begünstigung gewisser autoritärer Tendenzen durch einen — nur der Form nach sachlichen — funktionellen Patriarchalismus erscheint aber gerade dieses Thema von primärem sozialem und wissenschaftlichem Interesse.

b) Autonome Tradierung als Grundlage historisch fixierter politischer Einstellung

I m folgenden soll nicht die innere Struktur der Skalen selbst, sondern das Verhältnis zwischen der Elternskala und der über alle Jugendlichen gemittelten Skala näher erörtert werden. Beide Skalen finden sich graphisch dargestellt im Anhang II, Fig. (c). Es zeigt sich, daß die Struktur beider Skalen sich bis in Einzelheiten hinein weitgehend gleicht, wenn man davon absieht, daß die Elternskala relativ gedehnt erscheint, also eine durchschnittlich entschiedenere Stellungnahme widerspiegelt. Aber auch die alters- und geschlechtsmäßig differenzierten Einzelskalen der Schüler zeigen im Grundriß immer noch die gleiche Struktur wie die Elternskala, wobei die Verschiebungen einzelner items noch erörtert werden. Diese hochgradige Übereinstimmung zwischen der durchschnittlichen Einstellungsstruktur der Elternschaft und der durchschnittlichen Einstellungsstruktur der Kinder in Bezug auf politische Führung ist ein so gewichtiges Ergebnis, daß eine umfassende Interpretation notwendig erscheint. Zunächst muß festgehalten werden, daß diese Übereinstimmung der durchschnittlichen Einstellungsstrukturen von Elterngruppe und Jugendlichenpopulation keinen unmittelbaren Schluß daraufhin erlaubt, daß durchschnittlich der einzelne Jugendliche mit der politischen Einstellung seiner Eltern hochgradig übereinstimmt. Mittelbar darf jedoch gerade eben dieser Zusammenhang als mögliche Alternative unterstellt werden, weil die durchschnittliche individuelle Kongruenz eine besonders einfache und durch viele andere Erfahrungen gestützte Hypothese für die Kongruenz der entsprechenden Gesamtgruppen darstellt. Für die beobachtete Gleichartigkeit der Einstellungsstrukturen von Eltern und Jugendlichen bieten sich als Begründung vier Hypothesen an: 1. Es besteht ein allgemeiner sprachlicher und empirischer Konsensus über die Wichtigkeit von politischen Führungsqualifikationen, der sich vor allem in Form empirischer Einstellungskomponenten in allen ska-

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Herten Einstellungen gleichartig niederschlägt (Hypothese vom prinzipiellen empirischen Konsensus). 2. Eltern und Jugendliche waren in Bezug auf politische Führung den gleichen historischen Erfahrungen ausgesetzt (Hypothese vom gleichen historischen Milieu). 3. Die bei Eltern und Jugendlichen verschiedenen historischen Erfahrungen wirken sich doch in gleicher Weise auf die Einstellungsstruktur aus (Hypothese von der gleichen Wirkung verschiedener historischer Milieus). 4. Die Eltern haben die Einstellung ihrer Kinder weitgehend kraft Erziehung usw. bestimmt (Hypothese von der familiären Tradierung). Die Hypothese vom allgemeinen empirischen Konsensus kann grundsätzlich nur soweit ausgeschlossen werden, als in die Erhebung keine empirischen, sondern nur normative Einstellungen eingegangen sind. Da trotz aller diesbezüglichen Vorkehrungen aber nicht mit einer vollständigen Ausfilterung empirischer Einstellungen gerechnet werden darf, so muß die Gleichheit der Einstellungsstrukturen teilweise im Sinne dieser Hypothese verstanden werden. Indessen gibt es zahlreiche Hinweise dafür, daß der Einfluß solcher empirischen Einstellungskomponenten nicht sehr groß sein kann, so etwa die Altersabhängigkeit und die Geschlechtsabhängigkeit der Schülerskalen. Hinzu kommt aber, daß hinsichtlich politischer Führung in der hier gegebenen Allgemeinheit nur wenig öffentlich durchgesetzter Sprachkonsensus und Erfahrungsbestand fixiert ist. Die Existenz einer politischen Führung als solcher erscheint allgemein selbstverständlich, sodaß eine Dimensionierung im Sinne eines „dafür oder dagegen" im Prozeß der sozialen Bewußtseinsformung fehlt. Die sehr unterschiedlichen historischen Konkretisierungen von politischer Führung haben auch weitgehend verhindert, daß sich eine Dimensionierung nach wichtigen und unwichtigen oder gar nach wünschenswerten und nicht wünschenswerten Eigenschaften sprachlich deutlich niedergeschlagen hat. Die soziologischen Schwierigkeiten einer „Eigenschafts-Theorie des sozialen Führers" deuten auf die objektiven Gründe dieses Sachverhaltes hin. Insbesondere fehlt auch soziale Übereinstimmung darüber, welche Begriffe die politische Führung als Gegenstand der Einstellung positiver bzw. negativer charakterisieren, während eine solche zunächst rein sprachlichkonventionelle Dimensionierung sich bezüglich vieler anderer Kriterien durchsetzen konnte, meist im Rahmen anhaltender öffentlicher Diskussionen bezüglich jener Kriterien. Als einer der wenigen möglicherweise verbreiteten empirischen Kennzeichen des politischen Führers war bereits der „Erfolg" als solcher genannt worden, in der Tat eine Art Existenzbedingung des Führers im Sinne einer funktionellen Führer-

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Theorie. Aber selbst, wenn dieses empirische Moment die Gleichartigkeit der Einstellungsstruktur von Eltern und Jugendlichen mitbedingen sollte, so bleibt doch die Frage, woher die Jugendlichen diese empirische Komponente in ihre Einstellung übernommen haben. Denn die Sprachkonvention selbst hat bis jetzt keineswegs den „Erfolg" als solchen als wichtiges oder gar notwendiges Kennzeichen von Führer und Führung verbindlich gemacht, sondern assoziiert persönliche Bindungen verschiedener Art, die bloße Befehlsfunktion, die Demagogie und endlich Verhandlungs- und sonstige Kontaktfunktionen mindestens so stark mit dem Begriff des Politikers oder Staatsmannes wie den „Erfolg". Die Frage nach der Herkunft solcher allgemeinen empirischen Einstellungskomponenten bei Jugendlichen führt daher notwendig auf die drei übrigen Hypothesen. Die Hypothese, daß die Jugendlichen und ihre Eltern einem gleichartigen historischen Milieu ausgesetzt gewesen seien, kann sicher kaum die Gleichartigkeit der Einstellungen begründen. Denn das historische Milieu, das insgesamt die Eltern politisch geprägt haben mag, muß als hochgradig verschieden von dem politischen Milieu in Westdeutschland nach 1945 angesehen werden, das allein auf die Jugendlichen gewirkt hat. Das gilt selbst für den Fall, daß man die westdeutschen politischen Praktiken sehr negativ beurteilt. Diese historisch recht eindeutige Milieudifferenzierung zwischen den Generationen schließt nicht nur die zweite Hypothese praktisch aus, sondern mit ihr wird auch die erste Hypothese noch weiter eingeschränkt, da zwischen Eltern und Jugendlichen keine bedeutsame gemeinsame Basis politischer Erfahrung besteht, die einen allgemeinen empirischen Konsensus von größerem Gewicht begründen könnte. So darf zunächst einmal angenommen werden, daß die Einstellungskongruenz zwischen Eltern und Jugendlichen sich sehr weitgehend auf normative Einstellungen bezieht. Mithin treten als wirklich gravierend die zwei letztgenannten Hypothesen ins Blickfeld, nämlich, daß die verschiedenen politischen Erfahrungen von Eltern und Jugendlichen sich doch in ähnlichen normativen Einstellungsstrukturen niederschlagen, und endlich, daß die Einstellung der Jugendlichen von der Einstellung der Eltern geprägt worden ist. Es erscheint in der Tat nicht ausgeschlossen, daß die starke konsumtive Steuerung und andere spezifische Momente der erst nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland voll wirksam gewordenen Gesellschaftswandlungen durch die Industrialisierung (etwa „Außenlenkung" i. S. Riesman) sich auf die Jugendlichen und deren politische Einstellung ähnlich ausgewirkt haben wie autoritäre Erziehung und Regierung auf die Erwachsenen. Es werden in diesem Sinne noch soziale Gründe für

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die Entstehung funktionell-patriarchalischer werden.

Einstellungen

erörtert

Insgesamt aber darf unterstellt und auch die Erörterung möglicher sozialer Gründe vorweg genommen werden, daß die Prägung der jugendlichen Einstellung zu politischer Führung überwiegend von den Eltern ausgeht. Für die Annahme dieser Hypothese gibt es zunächst einige unmittelbare Hinweise. So wurde in einer repräsentativen Erhebung im Durchschnitt von Männern und Frauen „als Wichtigstes bei der Erziehung" (in Prozent aller Befragten) genannt Respekt und Einordnung 20 %, Ordentlichkeit 6 %, gute Ausbildung und Leistungsdisziplin 23 °/o, dagegen: Anständigkeit, Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft und Sittlichkeit (in der Reihenfolge der partiellen Nennungshäufigkeiten) zusammen 2 5 % (wobei alle diese Momente, insbesondere aber auch das als zweites genannte noch erhebliche patriarchalische Komponenten enthalten), Selbständigkeit 3 % (!!!). Ohne Antwort bleiben 12%, der Rest verteilt sich auf irrelevante Positionen23. Andere empirische Ergebnisse, die diese Hypothese belegen, werden in spezielleren Zusammenhängen noch genannt werden. I m geschichtlichen Bereich erscheint die Prägung der jugendlichen Einstellungen durch die Eltern als eine verbreitete Form der Tradierung so zahlreich belegt, daß diese Untersuchung nicht näher darauf eingehen wird. Es werde u. a. auf die außerordentliche Beharrlichkeit zahlreicher normativer Einstellungen in der Geschichte der USA hingewiesen, Einstellungen, die in der frühen Einwandererzeit aufgebaut bzw. in den neu entstehenden Staat eingeführt wurden und sich noch heute an mannigfaltigen Erscheinungen nachweisen lassen24. Selbst solche Einstellungen wie die besondere Berücksichtigung des Femininen, die sozial in vieler Hinsicht vollkommen sinnlos geworden ist und wahrscheinlich auf den starken Frauenmangel zur Zeit des großen Zugs nach Westen zurückgeht, sind immer noch nachweisbar. Ähnlich eklatante Beispiele solcher Tradierungen — über kürzere Zeiträume, aber unter besonders krassen sozialen Wandlungen — bietet Rußland ζ. B. bezüglich der Ausdrucksformen gesellschaftlicher Ränge 25 . So lassen sich insbesondere in den Nationalgeschichten konstante Einstellungen über lange Zeiten und durch stark wechselnde äußere Einflüsse hindurch verfolgen, ein Vorgang, der nur durch innerfamiliäre Tradierung verständlich erscheint, da nur innerhalb der Familie sich die fraglichen Einstellungen relativ unbeeinflußt von historischen Wechselfällen manifestieren und 28

Emnid (140), I n Bezug auf unmittelbar (202), 25 Vgl. Mehnert 24

1956. Normen des Familienlebens vgl. Homans (35), S. 383, Erikson insb. S. 286 f. (110), u. a. S. 181 ff.

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damit zur Erfahrungsbasis von Kindern werden können. Zu solchen konstanten, für ein Volk oft Jahrhunderte lang als charakteristisch geltenden Einstellungen darf man daher auch die meisten jener Momente rechnen, die populär den „Charakter" eines Volkes darstellen. Die damit historisch ausgewiesene familiäre Tradierung von Einstellungen wird aber auch von der Theorie her belegt. Normative Rollenerwartungen allgemeiner Art können im tiefenpsychologischen Sprachgebrauch dem Bereich des Über-Ich zugerechnet werden 26 . I m Sinne der Existenz familiärer Tradierung sagt dann A. Mitcherlich 27 „. . . das Über-Ich des Kindes . . . wird nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern nach dem elterlichen Über-Ich aufgebaut...". Entsprechend äußert sich Tornau 28 in Übereinstimmung mit speziellen empirischen Erhebungen von Argyle 29. Es fällt insbesondere bei den letztgenannten Feststellungen auf, daß sie in bestimmter Weise über den bekannten Satz hinausgehen, daß der überwiegende Teil aller Einstellungen von den Eltern den Kindern und Jugendlichen innerhalb der Familie eingeprägt wird 3 0 . Diese weiterreichenden Feststellungen sagen, daß die Einstellungen, die die Eltern selbst in ihrer Kindheit übernommen haben, ohne gravierende Änderungen (etwa durch Wandlung der sozialen Voraussetzungen solcher Einstellungen) weiter tradiert werden. Kinder und Jugendliche werden also nicht bloß im Sinne der Erfahrungen, die die Eltern in ihrer sozialen Umgebung machen, geprägt, sondern unabhängig von diesen Erfahrungen nach den Einstellungen, die die Eltern selbst bereits übernommen haben. Insbesondere in der zitierten Feststellung von Mitcherlich kommt dieser Tatbestand eindeutig zum Ausdruck. Aber auch zahlreiche historische Beispiele belegen diese relative soziale Unabhängigkeit oder Autonomie bestimmter Tradierungslinien. So wirkt die schon erwähnte Begünstigung des Femininen in den USA bis zum heutigen Tage in zahlreichen Erscheinungen nachweisbar nach, obwohl die soziale Bedingung zu dieser Einstellung, die Frauenknappheit, fast über hundert Jahre zurückliegt und längst einem gewissen Frauenüberschuß gewichen ist. Ebenso wichtig wie solche Fälle direkter sozialer Unabhängigkeit bestimmter familiär stabilisierter Traditionen sind jene Fälle, in denen die familiär tradierte Einstellung immer wieder neu zu einer sozial wirksamen Gesellschaftsinterpretation und darüber hinaus zu objektiven gesellschaftlichen Bedingungen führt, die ihrerseits eine 26 27 28 29 30

Vgl. Brown (181), S. 46 u n d Toman (60), S. 262 ff. (45), S. 286. (60), S. 263. (69). So u. a. bei König (93), S. 144.

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weitere Tradierung dieser Einstellung nicht hindern oder sogar fördern 31 . In diesem Fall wird die relative Unabhängigkeit der Einstellungstradierung auch gegenüber erheblichen Wandlungen objektiver Gesellschaftscharakteristika durch Rückwirkungsprozesse, also durch historische Rückregelungen gesichert. I n dieser Untersuchung des funktionellen Patriarchalismus muß die Erscheinung geprüft werden, daß die normative Einstellung von Jugendlichen weitgehend übereinstimmt mit der normativen Einstellung der Eltern, die — dem allgemeinen familiensoziologischen Ansatz zufolge — als normative Einstellung weitgehend wiederum auf die Prägung seitens der Großeltern zurückgeht. Besonders in Anbetracht der tatsächlichen Änderung des politischen Milieus seit 1945 muß daher die Tradierung des funktionellen Patriarchalismus genau im Sinne von Mitcherlich relativ unabhängig von dem faktischen Vorbild der Eltern, also von deren sozialer Erfahrung und damit relativ unabhängig von sozialen Wandlungen außerhalb der Familie überhaupt stattgefunden haben. Es erscheint daher notwendig, gegenüber dem allgemeinen sozialen Tradierungsprozeß (durch fortbestehende Institutionen) und gegenüber dem generellen familiären Tradierungsvorgang einen speziellen Begriff familiärer Tradierung zu definieren, um eine präzise Interpretation zu ermöglichen. Ein familiärer Tradierungsprozeß soll autonom 32 heißen, wenn durch ihn seitens der Eltern Einstellungen tradiert werden, die die Eltern selbst innerfamiliär von den Großeltern übernommen, also nicht wesentlich verändert haben, etwa anhand eigener sozialer Erfahrungen an möglicherweise gewandelten sozialen Verhältnissen. Der Begriff der autonomen Tradierung ist idealtypisch, da verschiedene konkrete Tradierungsprozesse sich immer nur graduell in ihrer sozialen Unabhängigkeit unterscheiden bzw. in mehr oder minder vielen Einzelmerkmalen doch durch soziale Wandlungen modifiziert werden. Das entscheidende methodische Moment des Begriffs der autonomen Tradierung liegt nicht darin, daß die Aufrechterhaltung gewisser sozial bedeutsamer Größen gegen Änderungstendenzen gekennzeichnet wird. Das leistet bereits der Begriff der Tradition selbst. Vielmehr meint autonome Tradierung eine Form der Tradierung, die die Aufrechterhaltung gewisser Größen gar nicht erst gegen soziale Wandlungen 31

So k a n n die Restauration der traditionellen Hausfrauen- u n d M u t t e r rolle i n den U S A nach 1945 aus einem Rückregelungsprozeß der Einstellung der Frauen m i t der Konsum-Werbung interpretiert werden. Vgl. B e t t y Frie-

dan (206).

32 Der ursprünglich gewählte Ausdruck „gesellschaftsfern" w u r d e wegen der Gefahr von Mißverständnissen ersetzt, obwohl er inzwischen publizistisch — i n der „ Z e i t " — verwendet wurde.

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durchsetzen muß, weil der Tradierungsmechanismus selbst von vornherein vom Bereich der sozialen Wandlungen mehr oder weniger funktionell separiert, also diesen gegenüber relativ autonom ist. Gegenüber der Tradition im konventionellen Sinne erscheinen in der autonomen Tradierung nicht bloß Inhalte vom sozialen Wandel isoliert, sondern die Tradierungsvorgänge selbst. I n Hinblick auf die grundlegende politische und pädagogische Bedeutung der autonomen Tradierung besonders im Zusammenhang mit der hier empirisch festgestellten funktionell-patriarchalischen Einstellung von Jugendlichen und Eltern soll sie im folgenden eingehend erörtert werden. Dabei soll zunächst der oben eingeführte Begriff der Rückregelung weitgehend ausgenutzt werden. Unter Rückregelung war verstanden worden, daß der Mensch als hochgradig probabilistisches Wesen nur dadurch zahlreiche physiologische und motivische Vorgänge in charakteristischer Weise aufrecht erhalten kann, daß die Resultate der Einzelakte über geeignete Wahrnehmungsmittel auf ihn zurückwirken und dadurch Korrekturen bewirken. Unter ethischem Aspekt können so auch Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung als Rückregelungsformen beschrieben werden, denn beide Verhaltensweisen setzen voraus, daß jene Motive, die kontrolliert und beherrscht werden sollen, zunächst einmal ansatzweise sichtbar geworden sind. Jede Rückregelung physiologischer wie auch motivischer Art zielt mithin auf Aufrechterhaltung bestimmter Sollwerte, etwa bestimmter ethischer Normen im Bereich des Verhaltens. Wie oben schon ausgeführt, beinhaltet die Verwendung solcher Schemata wie Rückregelung und Sollwert in keiner Weise eine philosophische oder ontologische Entscheidung, sondern einzig eine sehr abstrakte Form, um umfangreiche Erfahrungsmengen ökonomisch beschreiben zu können. Sollwerte finden sich nachweislich in vielfältiger Form in der Physiologie des Menschen, etwa als eine bestimmte Bluttemperatur, ein bestimmter Blutdruck und eine bestimmte Pulszahl des Herzens. Auch im Bereich primitiver Motivationen, etwa der Feinregelung von Muskelspannungen, Einstellung von Gliedmaßen und Bewegungen u. a. m., sind Rückregelungen auf Sollwerte hin unmittelbar nachzuweisen. Solche Sollwerte können aber selbst wieder als Veränderliche einem weiteren zusätzlichen Rückregelungskreis unterworfen sein. In dieser Weise können über ihre Sollwerte eine Reihe von einzelnen Rückregelungskreisen miteinander verkettet sein. Grundsätzlich muß bei der außerordentlichen Schaltungsmannigfaltigkeit des menschlichen Neuronensystems mit Rückregelungen sehr hoher Komplexität gerechnet werden. I n jedem Falle aber ergeben sich Sollwerte, die nicht mehr unmittelbar als Veränderliche weiteren Rückregelungen unterworfen sind. Solche Sollwerte *

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sollen hier als End-Sollwerte bezeichnet werden. Aus der Definition der End-Sollwerte ergibt sich aber bereits, daß solche End-Sollwerte um so abstrakter sind, je komplexer das Rückregelungssystem ist. Soweit EndSollwerte hochkomplexer Rückregelungs-Systeme nicht mehr als spezielle Größen aufgefaßt werden können, sondern sich aus einer Gesamtheit von Wechselwirkungen definieren, die sich bereits auf unterer Ebene wechselseitig stabilisieren, sind sie aber auch weitgehend unabhängig von normalen Ereignissen im System, also von normalen Regelungsvorschlägen und Einzelwert-Abweichungen. End-Sollwerte sind daher durch die hohe Komplexität der Gesamtheit aller von ihnen beeinflußten Wechselwirkungen stabilisiert (Stabilität durch System-Komplexität). Diese sehr allgemeinen Überlegungen lassen sich nunmehr auf die vorliegende Fragestellung anwenden. Einstellungen als Verhaltensdispositionen allgemeiner Art können um so eher als End-Sollwerte des Motivations-Steuerungs-Systems betrachtet werden, je allgemeinerer Natur sie sind. Mit wachsender Allgemeinheit darf dann eine Zunahme ihrer relativen Stabilität unterstellt werden, weil im Durchschnitt zugleich die Komplexität des von dieser Einstellung beeinflußten MotivBereiches zunimmt. Die Interpretation der allgemeinsten Einstellungen als End-Sollwerte der Motivation entspricht insoweit der Erfahrung, daß Einstellungen besonders stabil zu sein pflegen. Die Auffassung von allgemeinen Einstellungen als End-Sollwerte leistet indessen noch mehr. Die Komplexität aller Motivationen steigt mit wachsendem Lebensalter zunächst steil, später flacher an: der relative Zuwachs an Gedächtnis- und Verhaltensdispositionen nimmt ab zugunsten wachsender Praktizierung 33 . Daraus folgt, daß die MotivationsKomplexität in der Kindheit noch relativ sehr niedrig ist und mit dem Erwachsen-Werden einem gewissen Grenzwert zustrebt. Damit aber ergibt sich, daß sowohl Allgemeinheit wie auch Stabilität von End-Sollwerten in der Kindheit noch niedrig ist und erst im Erwachsenen-Alter gewissen Grenzwerten zustrebt. Dies gilt beispielhaft für die Sprache, die, indem sie eine feste Vorauswahl darstellt, zugleich einen formal normativen Teilbereich 34 repräsentiert. Mithin ist bereits unter den angegebenen sehr allgemeinen Bedingungen zu erwarten, daß Einstellungen vor allem in Kindheit und Jugend beeinflußbar sind, also in den intimen Beziehungen innerhalb der Familie, der Gleichaltrigen und der Schüler-Lehrer-Beziehungen. In diesem Umstand allein ist bereits ein erhebliches Maß an Autonomie gegenüber den „großen sozialen Ereignissen" begründet, da i. S. der Interpretation durch Rückregelung die 33 34

Gehlen (59), S. 68 spricht von fortschreitender Indirektheit. Vgl. Hofstätter (40), S. 215 f.

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in der Kindheit geprägten Einstellungen sich autonom stabilisieren. Diese Feststellung hat insoweit universellen Charakter, als die familiären Beziehungen insbesondere zu Kleinkindern und zwischen Kindern in großem Umfang in fast allen beobachteten Kulturen ähnlich zu sein scheinen und eine stark biologische Determinierung dieser Beziehungen naheliegt. Indessen ist damit der Erscheinung der gesellschaftsfernen Tradierung nur ein allgemeiner theoretischer Rahmen gegeben. Erst weitere Verfeinerungen erlauben ein vertieftes theoretisches Verständnis. Das System aller individuellen Motivationen hält bestimmte individuelle Strukturen, insbesondere auch Soll-Werte, gegenüber wechselnden Einflüssen der Umwelt fest. So werden Einstellungen gegenüber allen, auch widersprechenden Erfahrungen konstant gehalten, ähnlich, wie ζ. B. im physischen Bereich die Körpertemperatur durch ähnliche Rückregelungsmechanismen gegen alle Schwankungen der Außentemperatur konstant erhalten wird. Die Körpertemperatur ist dabei ein typischer — allerdings physischer — Sollwert. Dieser Vorgang werde hier als Anpassung bestimmt. I m übrigen stehen im Bereich der Vorstellungen, Gedanken und Gefühle die menschlichen Motivationen sich auch selbst gegenüber. Da in dieser Untersuchung der Mensch grundsätzlich als probabilistisches System verstanden wird, also nur im Sinne statistischer Tendenzen determiniert erscheint, enthalten alle seine Aktionen ein erhebliches Maß an Zufall. Auch gegenüber seiner eigenen Zufälligkeit bedarf es der Aufrechterhaltung konstanter Strukturen und damit des Anpassungsprozesses. Anpassung in diesem Sinne ist eine Prägnanztendenz, die darauf hinzielt, individuelle Strukturen und Sollwerte gegenüber der äußeren und inneren Zufälligkeit von Umwelt und Motivationsmechanismus zu bewahren bzw. immer schärfer herauszuarbeiten. (In zweitem Fall soll von innerer Anpassung die Rede sein). Allgemein aber kann von Anpassung nur gesprochen werden, wenn ein Bereich von Einstellungen und Verhaltensweisen als individuelles Charakteristikum und damit als Invarianzbereich festliegt, der gegenüber einem Störbereich gesichert werden muß. Dabei können Einwirkungen der Umwelt ebenso wie innere Zufälligkeit als Störquellen auftreten. Fortan soll dieser individuelle Invarianzbereich, also die Gesamtheit aller individuellen End-Sollwerte, die als Einstellungen, Verhaltensdispositionen oder auch Reaktionsweisen meist sehr allgemeiner Art gegen äußere oder innere Störungen bewußt oder auch unbewußt stabilisiert werden, als charakteristischer Bereich bezeichnet werden. Der charakteristische Bereich als Träger auch der hier untersuchten Einstellungen

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zu politischer Führung wird, soweit er in der Kindheit durch „primäre Institutionen" (i. S. von Identifikations- und Frustrationsquellen) entsteht, mit A. Kardiner 85 und R. Linton auch als „basic personality structure" bezeichnet und in seiner Bedeutung hervorgehoben 36. Die hier interessante Frage, wieweit die Einstellungs-Internalisierung in der Kindheit autonom ist, bleibt bei allen angeführten Autoren unerörtert. Der psychoanalytisch betonte Ansatz Kardiners und Alexanders soll daher erst später wieder aufgenommen und das Problem der autonomen Tradierung zunächst unter dem Aspekt der Wechselwirkungen weiter verfolgt werden. Dabei werden sowohl Wechselwirkungen zwischen Individuum und Umwelt wie auch solche zwischen Individuum und Individuum selbst (Reflexion) in Betracht gezogen. Beide Formen der Wechselwirkung nehmen immer wieder die Gestalt von Rückregelungen an, durch die bestimmte Motivationsfiguren laufend wiederholt bzw. neu realisiert und damit prägnant herausgearbeitet und befestigt werden — wobei weder vorausgesetzt noch als nötig angesehen wird, daß es sich um völlig identische Wiederholungen handelt 37 . Neben der aktuellen Entstehung von Rückregelungen durch objektive oder spontan-motivische, rückbezügliche oder wechselseitige Kopplung von Motiv-Eingang mit Motiv-Ausgang (ζ. B. Wahrnehmung und Motorik) muß an langfristige Formen der Rückregelung gedacht werden. Verwirklichungen bestimmter Motive können i. S. der Lerntheorie die Motivationsspannung verstärken bzw. sie i. S. des Allportschen Prinzips der funktionellen Autonomie 38 verselbständigen und damit die mittlere Wahrscheinlichkeit einer abermaligen Realisierung des betreffenden Motivzusammenhanges vergrößern. Die mittlere Wiederholungswahrscheinlichkeit eines Motivs und die bereits realisierte Verwirklichungshäufigkeit konstituieren mithin eine Rückregelung, wenn der Lern- und Autonomisierungserfolg tatsächlich der Zahl der realisierten Wiederholungen in erster Näherung proportional ist. Der Aspekt des Lernerfolges durch Wiederholung — wie immer diese im einzelnen definiert sein mag — wird von allen bedeutsamen Lerntheorien gesehen, insbesondere in denen von E. R. Guthrie (i. S. diskontinuierlicher Ergänzung der motivischen Gesamtfigur), von C. L. Hull (i. S. einer Fixierung der Erfolgsbeständigkeit) und von E. C. Tolman (i. S. einer Fixie85

(55). Vgl. auch F. Alexander (56) u n d allgemeiner Ciaessens (155), bes. S. 46 ff. u n d S. 150. 87 Vgl. Newcomb (58), S. 246 f., Gehlen (54), S. 140 „Elementare Kreisprozesse" u n d Handb. d. Psychologie (57), S. 234. 8β

88

(28).

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rung des Erwartungsbildes 89). Auch Newcomb 40 und Ciaessens 41 betonen den lerntheoretischen Aspekt des Internalisierungsvorganges. Ciaessens12 spricht explizit von der Fixierungswirkung von Wiederholungen. Die langfristige Rückregelung zwischen Wiederholung und Wiederholungswahrscheinlichkeit erscheint damit unter dem lerntheoretischen Aspekt gesichert, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, daß in allen Entscheidungssituationen die besser trainierte Motivation vorrangig realisiert wird, sofern sie überhaupt zur Entscheidung beitragen kann (was aber nicht einmal immer notwendige Bedingung für die vorrangige Realisierung ist). Die fortlaufende Verselbständigung einer Motivation i. S. des Prinzips der funktionellen Autonomie begründet prinzipiell eine zweite Form langfristig internalisierender Rückregelung, weil die Verselbständigung eines Motivs vor allem dann gefördert wird, wenn es mit möglichst geringen Konnex zu anderen Motiven, also möglichst autonom verwirklicht wird. Für den Lernerfolg ist dagegen gerade möglichst reicher Zusammenhang mit — abstützenden — Motiven wünschenswert. Aktuelle Rückregelungen, etwa die Wiederholung frühkindlicher Bewegungen, oder die aktuelle Wechselwirkung zwischen kindlichem Trotz und elterlicher Aggression 43 pflegen nur episodisch zu wirken, um allerdings bestimmte Detailmotivationen mitunter stark fixiert zurückzulassen. Einen Übergang zu langfristigen Rückregelungen bildet ζ. B. die kindliche Sprachentwicklung mit der altersabhängigen sprachlichen Rück-Anpassung (Nachahmung der Kindersprache seitens der Eltern) 44 . Kurz- und langfristige Rückregelungen, die in der beschriebenen Weise zur Entstehung des charakteristischen Bereiches beitragen, also zu jenen Einstellungen, Verhaltensdispositionen usw., die das Individuum charakterisieren und Gegenstand seiner Anpassung sind, sollen erzeugende Rückregelungen heißen. Interne, erzeugende Rückregelungen wie die Iteration motorischer Figuren vollziehen sich fast ausschließlich über biologisch vorgegebene Mechanismen wie sensorisches und motorisches Nervensystem, Aufmerksamkeitserregung durch Bewegung usw. Wenn allgemein die Elemente oder Gegenstände oder Einzelerscheinungen, über die sich Wechselwirkung, insbesondere aber eine erzeugende Rückregelung in Gang setzt, als erzeugende Basis bezeichnet werden, so ist die erzeugende Basis der motorischen Iteration anfangs weitgehend bio39 40 41 42 43

44

Vgl. Psychol. (23), S. 197 ff. (58) u. a. S. 239. (155), S. 32 ff. (155), S. 103 Vgl. „Teufelskreis" bei Neidhart

Vgl. Hofstätter

(40), S. 275.

(151), S. 130.

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logischer Natur. Mögliche biologische Basis bilden auch instinktive Reste als motivische Verknüpfungen von bestimmten auslösenden Reizschemata mit bestimmten Reaktionsschemata, die angeborener Weise bevorzugt, wenn auch beim Menschen nicht mehr zwingend sind 45 . Formen der Selbstdarstellung, der gegenseitigen Ansprache und Gebärden (die, für sich betrachtet, instinktrudimentäre Motivierungen enthalten können) und insbesondere die Sprache bilden die elementare soziale Basis von Wechselwirkungen aller Art. Entwickelt sich auf einer erzeugenden Basis eine Rückregelung, so werden durch diese Rückregelung bestimmte Motivationen immer neu realisiert und zumeist dadurch präzisiert bzw. prägnanter gestaltet (Überleitung von Komplexqualitäten in prägnante Gestalten, bzw. Denk- oder Bewegungsfiguren 46 ). Diese Motivationen, die unmittelbar von einer Rückregelung betroffen und eingeübt werden, sollen Charakteristika heißen. Sie erweitern als befestigte Verhaltensdispositionen schließlich den charakteristischen Bereich des Individuums. Gegenüber diesen Charakteristika erscheint die erzeugende Basis einer Rückregelung als Mittel. Tatsächlich aber werden auch alle Elemente der erzeugenden Basis im Rahmen jeder Rückregelung fortlaufend mitrealisiert und damit gleichfalls eingeübt und motivisch befestigt. Mithin ist jede Rückregelung, ja Wechselwirkung überhaupt zugleich ein fixierender und automatisierender Prozeß in Bezug auf die erzeugende Basis. So werden ζ. B. bei der Iteration motorischer Figuren nicht nur die Figur selbst (das Charakteristikum), sondern auch Wahrnehmungsvermögen, motorisches Koordinationsvermögen usw., also die Elemente der erzeugenden Basis trainiert. Daher ist jede erzeugende Basis zugleich Mittel (zum Training von Charakteristiken) und Zweck (nämlich selbst Charakteristikum). Die Gesamtheit aller (insbesondere der erzieherischen) Wechselwirkungen bildet sich somit in eine Hierarchie von Charakteristiken ab, deren jedes zugleich Basis zur Erzeugung komplizierterer Charakteristiken ist. In dieser Hierarchie tiefstehende Basiselemente sollen primitiv heißen, hochstehende demgemäß komplex. Die Doppeldeutigkeit jeder erzeugenden Basis als Mittel wie auch als Zweck bleibt also bei der Entwicklung fortlaufend erhalten und kennzeichnet zuletzt auch das relativ fertige Selbst als „Wert" und zugleich als „Hilfsmittel" 47 . Diese Art Doppeldeutigkeit werde wegen ihrer großen sozialpsychologischen Bedeutung ausdrücklich als funktionelle Ambivalenz bezeichnet. 45 Vgl. Gehlen (54), S. 23 f. u. Lorenz (53). Sie können auch als Reservoir der .Libido" i n — unorthodoxen — psychoanalytischen Sinne angesehen werden. 46 Vgl. Langer (41), S. 198. 47 Newcomb (58), S. 241 ff.

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Die funktionelle Ambivalenz der Basen bedeutet, daß biologische, insbesondere aber auch soziale Basiselemente zugleich Charasteristikum werden. Formen der gegenseitigen sozialen Ansprache, Gebärden, Haltungen und die Sprache werden hauptsächlich und zunächst von den Eltern, später auch von Lehrern in die Wechselwirkung als Basiselemente übernommen (ζ. B. durch Nachahmung)48 und von den Kindern zunächst als Mittel der Wechselwirkung, damit aber auch zugleich als Charakteristikum ausgebildet. Gehlen 49 sagt: „. . . der Prozeß der Erfahrung (ist) zugleich der Prozeß der Charakterformierung". Der Umwelt im allgemeinen, dem Erzieher im besonderen kommt dabei ein „Hunger nach neuen Eindrücken" entgegen, der die fixierenden Kreisprozesse, die „retardierenden Tendenzen des Wiederholungszwanges" antagonistisch erweitert 50 . Wenn Erzieher dem Kinde Basiselemente mitteilen, vollzieht sich dies in Form von Vorwegnahmen, wobei Vorwegnahme 51 partielle Nachahmung und spielerische Verwirklichung von „Erwachsenen-Rollen" bedeutet. Unter Erwachsenen-Rolle sind dabei bereits einfachste Umgangsgebärden im Umgang mit Sachen und Menschen zu verstehen, bedeutungsvoll im frühen Kindesalter, aber auch komplexe Dialoge zwischen Partnern, die erst ab drei bis vier Jahren übersehen und trainiert werden können, wobei übrigens bei allem „Spiel-Ernst" fast niemals das „Spiel"-Bewußtsein verloren geht. Fremde Rollen werden mithin erkannt (und zwar konkret als fremde Rollen), aber in dem Maße, wie sie erkannt werden, zugleich im Rahmen von Kreisprozessen eingeübt 52 , bis schließlich die generellen Züge der fremden Rollen, insbesondere jene der Eltern, als rollenspezifische Einstellungen begriffen und internalisiert sind 53 . Die allgemeinen Formen der sozialen Selbstdarstellung, die Art und Weise sprachlichen Ausdrucks wie auch der von den gegebenen Begriffen ausgewählten Gegenstandsklassen sind aber in der Tat höchst charakteristisch und nichts weniger als wertneutral oder normenunspezifisch. Insbesondere sehr allgemeine Charakteristika wie durchschnittliches Aggressivitätsniveau, durchschnittliche Wohlwollenserwartung, durchschnittliche Zuverlässigkeitserwartung und viele andere Momente gehen hier bereits in die frühkindliche Erziehung ein, werden als primitive Basiselemente immer neu mit jeder weiteren erzeugenden 48

Vgl. Handb. d. Psychologie (57), S. 255. (54), S. 332. 50 Nunberg, i n Hartmann (59), S. 79, allgemein Hartmann, S. 71 ff. 51 Newcomb (58), S. 235 f. 52 Newcomb (58), S. 235 ff. 53 Newcomb (58), S. 240, vgl. auch Vorwegnahme als M i t t e l stufenweiser E r ziehung bei Ciaessens (155), S. 147 f. 49

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Rückregelung eingeübt und besitzen dadurch einen erheblichen Trainierungsvorsprung. Dieser Umstand gibt ihnen als Charakteristika ein außerordentliches Übergewicht gegenüber allen später erworbenen, komplexen Basiselementen. Da solche primitiven Basiselemente, soweit von den instinktrudimentären abgesehen wird, vom Kind unmittelbar im Wechselwirkungsprozeß zunächst mit Eltern, später auch noch mit Lehrern erfahren werden, so soll diese Art, Einstellungen als Inhalte primitiver Basiselemente zu tradieren, reaktive Tradierung heißen. Da die Tradierung über primitive Basen notwendig weitgehend ins frühkindliche Alter fällt und sich weitgehend im Innern der Familie abspielt, so ist sie insoweit bereits autonom. Typisches Beispiel einer solchen reaktiven Tradierung normativer Einstellungen sind die Vorstellungen über Erziehung selbst: nach Emnid 54 beabsichtigen etwa 82 °/o aller Jugendlichen ihre Kinder so zu erziehen, wie sie selbst erzogen worden sind, gleich, ob sie diese Erziehung als sehr streng, streng oder mild klassifiziert haben. Und nur 6 °/o beabsichtigen, die Erziehung in Hinblick auf gesellschaftliche Wandlungen zu ändern. Seitens des Kindes ist diese soziale Abkapselung erzwungen, da das Kind auf die Übernahme der primitiven Basen als Mittel weiterer externer wie interner Wechselwirkung angewiesen ist und, indem es überhaupt erst Kommunikationsmittel übernimmt, natürlich noch keine Mittel hat, bewußt oder unbewußt die Übereinstimmung der primitiven Basen mit den herrschenden sozialen Verhältnissen zu kontrollieren. Aber auch seitens der Eltern und Erzieher ist die soziale Abkapselung der Tradierung über primitive Basen weitgehend gesichert. Die Formen des unmittelbaren Sozialkontaktes, also der Gebärden, der Mimik, der in der gegenseitigen Ansprache und in den gewählten Formulierungen enthaltene Grad durchschnittlicher Aggressivität, durchschnittlichen Wohlwollens usw., die innere Folgerichtigkeit vieler verschiedener Einzelakte und anderes mehr sind weitgehend gesteuert durch die primitiven Basiselemente, also die primitiven Charakteristika, die Eltern und Erzieher selbst als Kind verinnerlicht haben. Alle diese primitiven Charakteristika sind der bewußten Kontrolle sehr schwer zugänglich, besonders in den motivisch stark gebundenen Situationen akuter Erziehungs-Rückregelungen und im langwierigen, unübersehbaren (weil sich bloß statistisch ausprägenden) Ablauf langfristiger Entwicklungs-Rückregelungen. Auf Grund der unaufhörlichen Miteinübung mit allen weniger primitiven Rückregelungen und Wechselwirkungen sind die in den primitiven 54

(53), S. 171.

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Basen enthaltenen primitiven Charakteristiken, also Einstellungen oder auch normativen Verhaltensdispositionen, ebenso automatisiert wie die einfachen motorischen Koordinationen, auf denen sich die komplexeren aufbauen. Diese Eigenschaft der primitiven Charakteristika, zugleich primitive Basis, also automatisiertes Mittel für die meisten anderen komplexeren Rückregelungen zu sein, macht sie unmittelbar auch zum — bequemsten und ökonomischsten — Mittel für kurz- und langfristige Erziehungs-Rückregelungen, die im Erwachsenen-Status als Partner des Kindes verwirklicht werden müssen. Tiefenpsychologisch heißt das: im Rückregelungsprozeß mit Kindern regrediert der Erwachsene. Damit ist direkt aus dem Rückregelungsmechanismus hergeleitet, daß die Tradierung über primitive Basen hochgradig autonom sein muß. Dieser funktionelle Beweis trägt weiter als nur der Hinweis auf die Entstehung der primitiven Basen in der frühen Kindheit. Denn er benötigt nicht mehr bedingungslos die Voraussetzung eines bestimmten Lebensalters, und er benötigt auch nicht mehr die Voraussetzung einer besonderen affektiven Bindung etwa zwischen Eltern und Kindern. So macht diese funktionelle Überlegung einsichtig, daß die reaktive autonome Tradierung, also jene über primitive Basen, keineswegs ohne weiteres durch Erziehung seitens staatlicher oder sonstiger angestellter Erzieher durchbrochen werden kann, sondern nur durch bewußte Einsicht von Erziehern in die von ihnen selbst verinnerlichten primitiven Charakteristiken und durch bewußte Einübung eines ggf. diesen eigenen Primitivcharakteristiken widersprechenden Erziehungsverhaltens. Die rein funktionelle Überlegung soll nunmehr durch tiefenpsychologische Überlegungen ergänzt werden. Während bei der rein funktionellen Darstellung der quantitative Internalisierungsvorsprung allgemeiner Einstellungen auf Grund ihrer Primitivität (i. oben def. Sinne) wesentlich ist, setzt eine tiefenpsychologische Begründung die Bindung zwischen Eltern und Kind als prima causa55. Diese wirkt sich in Identifikationen des Kindes mit den Eltern und deren Einstellungen aus, welche — unter dem Druck von Frustrationen — in den Bereich des Über-Ich eingebracht werden. Unter Über-Ich wird dabei nicht bloß eine Kontroll-Instanz verstanden, die durch Schuld-, Peinlichkeits- und Schamgefühle wirksam wird, sondern auch eine Selbstbestätigungs-Instanz, die gewisse positive Normen vertritt, deren Nichterfüllung folgenlos bleibt, deren Realisierung aber Gefühle der Selbstzufriedenheit und Selbsterhebung auslöst56. Ohne diese weitere Fassung des Übe'r-IchBegriffes wäre eine tiefenpsychologische Konzeption nicht geeignet, die autonome Tradierung theoretisch zu deuten. Denn viele normative Ein55

Vgl. Brown

(181), S. 45 f. und, viele diesbezügliche neuere Ergebnisse zu-

sammenfassend, Stern (52), S. 17 f. M Vgl. Toman (60), S. 263.

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Stellungen, ζ. B. auch einige gegenüber politischer Führung, lassen sich schlechterdings nicht als Verbotsnormen, sondern nur als Angebotsnormen deuten und auch nicht funktionell auf Verbote reduzieren. Andererseits ist eine unorthodox-psychoanalytische Begründung autonomer Tradierung gerade in Bezug auf funktionell-patriarchalische Einstellungen besonders naheliegend57. Denn eine hochgradig patriarchalische Einstellung der Eltern bedingt im Durchschnitt eine relativ autoritäre Erziehung mit durchschnittlich hohen Mittelwerten erzieherischer Frustationen des Kindes — wobei allerdings das absolute Maß dieses Frustationsmittelwertes wesentlich nach dem sozialen Umfeld der betrachteten Familie beurteilt werden muß. Hohes Frustationsniveau bewirkt gewöhnlich entweder Disposition zu starker Aggressivität oder zu allgemeiner Lebensängstlichkeit58. Beide Momente prädestinieren aber wieder für aktiv oder passiv autoritäre Verhaltensweise und dementsprechende patriarchalische Einstellung 59 . Die Funktionalisierung dieses Patriarchalismus, insbesondere im Sinne einer Ambivalenz zwischen Lieblosigkeit und Sicherheitsbedürfnis, ließe sich als Folge des Oedipuskomplexes deuten, der innerhalb patriarchalischer Umgebungen durchschnittlich geringere Auslöschung erfährt als in anderen Umgebungen. Allerdings unterliegt dieser Teil der Deutung erheblichen Einwendungen, die sie nur bedingt als Hypothese für reaktive autonome Tradierung geeignet erscheinen lassen. Zunächst bietet die Tierpsychologie in Verbindung mit der Abstammungslehre eine sehr klare Konzeption der instinktrudimentären Basis des Menschen an, auf Grund deren mit einer Vielfalt präzise festgelegter Zuordnungen von genau bestimmten Auslöserformen zu genau bestimmten Reaktionsformen erwartet werden muß, die als angeborene Schemata mit — zirkulär oder reaktiv auslösbarer — Motivspannung besetzt sind 60 . Diese nur durch ihre Genesis eindeutig erkennbaren Motive sind unter der Gesamtheit der Motive verteilt und fast ausnahmslos nur mit anderen, erworbenen Motiven zusammen realisierbar. Wird diese Konzeption unterstellt, dann muß eine sehr komplizierte motivische Struktur im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern angenommen werden. I m Rahmen dieser vielfältigen Motivationen können sexuelle Motive nur den Charakter von Leitmotiven annehmen. Und zwar insbesondere dann, wenn sie relativ zur 57

Vgl. E. Fromm (70), S. 233 ff. Vgl. Toman (60), S. 186 ff. 59 Fromm (70). 60 Vgl. Lorenz (26) u. (27), der inzwischen diesen Vorstellungen m i t seinem Buch „Über das sogenannte Böse" zu einer gewissen Popularität verholfen hat — w e n n auch m i t Folgerungen, die nicht i n jeder Hinsicht abgestützt erscheinen. 88

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angeboren-altersabhängigen Realisierungschance statistisch bevorzugt werden, etwa weil die sonstigen Motive nicht ausreichend realisiert werden können. I n diesem Sinne von Leitmotivationen, die erst bei Näherung ans Pathologische deutlich hervortreten, interpretiert u. a. Toman 61 insgesamt den psychoanalytischen Ansatz. I n der Tat spielen Kinder nicht mit Kot, solange sie anderes, angemessenes Spielzeug haben. Sie müssen nicht ein Trauma durch die Reinigungsdressur erleiden, weil sie spätestens mit drei bis vier Jahren ohne Dressur sauber werden, wenn sie nur diesbezügliche Gelegenheiten vorfinden. Und sie entwickeln auch selten einen Oedipus-Komplex, wenn das Spektrum der möglichen Bindungen nicht durch soziale Isolation oder andere Gründe zu sehr auf einen Elternteil eingeschränkt ist. Eine tiefenpsychologische Deutung der gesellschaftsfernen Tradierung muß sich primär auf Bindungen zwischen Kindern und deren Eltern berufen — im Gegensatz zur rein funktionellen Deutung, in der grundsätzliche beliebige Erwachsene den Kindern gegenübertreten können. Wenn daher soziale Einflüsse von außen heute einen wesentlich bedeutsameren Anteil an der Gesamtheit kindlicher Eindrücke und Anregungen haben als früher, wenn durch größerere mittlere Wohndichte und Kindergärten auch die Zahl der kindlichen Außenkontakte höher als früher angesetzt werden muß und endlich die Väter dem kindlichen Alltag mehr als je zuvor entzogen sind und in wachsendem Maße ihnen als „Feiertags- und Ferienväter" gegenübertreten, so müssen merkliche Verschiebungen im emotionalen Haushalt der Eltern-Kind-Beziehungen erwartet werden. Diese Verschiebungen mit ihrer relativen Lockerung aller Bindungsgefüge überhaupt und einer Steigerung der Bindungsoffenheit und Bindungslabilität begünstigen insbesondere nicht solche auf radikalisierten Bindungen beruhende Konflikte wie den Oedipus-Komplex. Die direkte Frustrierung scheint im Rahmen des Konsumdenkens ebenfalls eher ab als zuzunehmen, auch, weil die Väter im Alltag nicht zuhause sind und Sonntags Freizeitatmosphäre herrscht. Daher ist Patriarchalismus als fixierte Reaktion auf aktive autoritäre Frustration seitens der Eltern, besonders der Väter, kaum glaubhaft. Eher deuten die sozialen Verhältnisse auf einen latenten Mangel an elterlicher Liebe überhaupt, auf latenten Liebesentzug. I n der Tat darf man diesem die Wirkung zuschreiben, daß er ein gesteigertes Sicherheitsverlangen erzeugt und dieses ggf. mit Mißtrauen, Lieblosigkeit oder sogar Haß verknüpft. Insoweit liefert die tiefenpsychologische Konzeption zwar nicht so sehr eine Stütze für die Hypothese der autonomen Tradierung (als Ursache funktionell-patriarchalischer Einstellung), aber eine Stütze für die andere ursprüngliche Hypothese, daß die β1

(60).

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sozialen Verhältnisse (der industriellen Gesellschaft) die funktionellpatriarchalische Einstellung auch der Jugendlichen begünstigen. I m Sinne der Hypothese der autonomen Tradierung kann daher tiefenpsychologisch nur geltend gemacht werden, daß die instinktrudimentären Familienbindungen als solche den Lernprozeß, kraft dessen elterliche Einstellungen unmittelbar von Kindern übernommen werden, stark begünstigen, gleich durch welche Mechanismen im einzelnen immer. Insofern und nur insofern ergänzen sich der stark quantitativ ausgebildete lerntheoretische Aspekt und der auf angeborene Konstanten zielende qualitative tiefenpsychologische Aspekt. Autonome Tradierung über primitive Basen geht wesentlich von externen Wechselwirkungen aus, wenn sich die weitere Fixierung primitiver Basiselemente dann auch über interne Wechselwirkungen vollziehen kann. Indessen ist mit der Feststellung der reaktiven Tradierung, also der Tradierung über primitive Basen, die Gesamtheit der autonomen Tradierung noch nicht theoretisch beschrieben. Wenn etwa bestimmte Einstellungen gegen spezielle Menschengruppen, Nachbarvölker oder ζ. B. Juden, tradiert werden, obwohl oder sogar weil überhaupt kein direkter Kontakt zu diesen Gruppen oder zu Angehörigen von ihnen besteht und obwohl solche Gruppen keinerlei aktuelle Gefährdung etwa der eigenen Familiengruppe oder Staatsgruppe darstellen, so kann hier im strengen Sinne der Definition keine reaktive Tradierung vorliegen. Denn derartige Einstellungen haben unter den genannten Voraussetzungen für weitere Wechselwirkungen keinerlei instrumentale Bedeutung, und schon garnicht als primitive Basiselemente. Andererseits scheint es aber unmöglich zu sein, die Existenz solcher Einstellungstradierung beispielsweise in Deutschland zu leugnen. So äußert sich eine solche unter anderem in einem latenten Antisemitismus, den der Verfasser als praktizierender Sozialkundelehrer bei einer nicht vernachlässigbaren Zahl von Schülern beobachten konnte. Wenn daher mit der Möglichkeit einer Beeinflussung von Kindern oder Jugendlichen ohne unmittelbaren Bezug auf soziale Wechselwirkung gerechnet werden muß, also die tradierenden Gegenstände primär nicht durch ihre Eigenschaft als Basis oder Mittel weiterer Wechselwirkungen gekennzeichnet werden können, so fallen solche Tradierungen aus dem allgemeinen Zusammenhang von den Basiselementen und Wechselwirkungen heraus. Eine derartige Tradierung soll spontan genannt werden. Zunächst sollen weitere Beispiele spontaner Tradierung folgen. I m Jahre 1955 steht unter den von Jugendlichen bekannten Persönlichkeiten aus der Vergangenheit weitaus an erster Stelle Bismarck mit mehr als doppelt so vielen Nennungen als der an zweiter

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Stelle rangierende Hitler repräsentativ für die westdeutschen Jugendlichen von 15—25 Jahren. Die genannten Persönlichkeiten waren in Prozentzahlen der Nennungen: Bismarck 12 (11), Hitler 5 (4), Goethe 5 (6), Friedrich II. 4 (5), Hindenburg 3 (1), Luther 3 (5). Die eingeklammerten Zahlen beziehen sich auf Oberschüler und Studenten 62 . Auch eine Befragung von W. Jaide 68 für 1961 mit ähnlicher Fragestellung brachte Bismarck weitaus an die Spitze. Lipset 64 führt an, daß — in den USA — festgestellt wurde, daß Erstwähler in hohem Maße „Erblichen Wahlschablonen" folgen. Zuletzt werde noch ein völlig unpolitisches Beispiel gebracht. Laut Emnid 85 nehmen bei Tanzbewertungen im Jahre 1955 seitens der Jugendlichen zwischen 15—25 Jahren traditionelle Tänze die höchsten Ränge ein: Walzer zieht 3 0 % aller Stimmen als schönster Tanz auf sich, Tango rund 25°/o, Rumba, Samba 8°/o, Boogie-Woogie 7 °/o. Tatsächlich besteht kein Zweifel, daß auch schon 1955 moderne Bewegungstänze jeweils modischer Art in der Tanzpraxis der Jugendlichen eindeutig bevorzugt worden sind. Damit äußert sich in dieser Bewertung eine typisch autonome Tradierung, denn insbesondere in Deutschland waren schon vor 1914 der Walzer und spätestens seit etwa 1930 auch der Tango Favoriten (Turniertänze) 66 . Der weiteren theoretischen Bestimmung der spontanen autonomen Tradierung soll zunächst vorausgeschickt werden, daß Gegenstände in Bezug auf bestimmte Merkmale offenbar als primitive Basiselemente, also reaktiv, in Bezug auf andere Merkmale möglicherweise ohne diesen funktionellen Zusammenhang, also spontan tradiert werden können. Daher darf die Unterscheidung nach reaktiver und spontaner Tradierung nur idealtypisch aufgefaßt werden: die Wirklichkeit liefert in der Regel Mischfälle. Die spontane Tradierung etwa antisemitischer Einstellung bedarf in jedem Falle eines Mittels. Das normale Mittel für spontane Tradierung ist die Sprache einschließlich der Fähigkeit, den Wortschatz in einem gewissen Umfang zu verstehen, also mit Begriffen gewisse konkrete ® 2 Emnid (53), S. 164. Die Befragung 17 bis 22jähriger junger Männer, repräsentativ f ü r die BRD, 1952 durch ein bekanntes I n s t i t u t ergab auf die Frage „Welcher große Deutsche hat I h r e r Ansicht nach am meisten f ü r Deutschland geleistet?" Bismarck 36%, Friedrich d. Große 14%, H i t l e r 10%, Hindenburg 5 %, andere Kaiser, Könige u n d Soldaten 6 %, Goethe 5 %, andere Dichter, Philosophen, Künstler 2 %, demokratische u n d liberale P o l i t i k e r sonst 5 %, Robert Koch 2 % , andere Wissenschaftler, Erfinder usw. 4 % , Sonstige 2 % , ohne A n t w o r t 15 %. 63

(46), S. 82 f.

64

(64), S. 233 f.

65

(53), S. 268 f.

86

Vgl. Rössner (21), S. 37 f.

64

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Vorstellungen, Begriffsrepräsentanten und gewisse typische Merkmale verknüpfen zu können. Die Tatsache, daß auch die spontane Beeinflussung auf ein Mittel der Wechselwirkung angewiesen ist, erscheint der Definition spontaner Tradierung zu widersprechen, nämlich Tradierung außerhalb der sonstigen motivischen Zusammenhänge zu sein. Hinter diesem Widerspruch liegt indessen gerade der für spontane Tradierung entscheidende Sachverhalt. Die Sprache oder alle anderen Mittel spontaner Beeinflussung sind nicht einfach eine Erweiterung des Erfahrungsbereiches, sondern ein Gebiet autonomer innerer Reflexion. Die sprachliche Verknüpfung von gegebenen Begriffen (ähnlich wie die Neuzusammenstellung gegebener Vorstellungselemente in der Phantasie) ist nicht durch die Umwelt gebunden, sondern offen 87 . Diese Offenheit bedingt, daß jede neue Kombination von an sich real repräsentatierten Begriffen oder Vorstellungselementen Motivspannungen ermöglicht und früher oder später auch aktiviert in der Frage, ob und wieweit auch die Kombination Realitätswert besitze68. Da nun in dieser Untersuchung der Mensch als probabilistisches System vorausgesetzt wird, so folgt daraus, daß die interne Wechselwirkung ununterbrochen sprachliche und vorstellungsmäßige Neukombinationen spontan zur Verfügung stellt, deren Realitätsprüfung im allgemeinen mühelos erfolgt und zwar um so müheloser, je mehr Kombinationen bereits geprüft und bekannt sind. I n nicht wenigen Fällen jedoch führt die interne Wechselwirkung auf Realitätsproblematiken, die den gegebenen Kontrollmöglichkeiten des Kindes weit voraus eilen. So kennt wohl jeder Erzieher Fälle wie diesen vom Verfasser erlebten, daß ein Vierjähriger plötzlich fragt, warum alle Menschen sterben. Dieser Tatbestand, der aus der objektiven Offenheit der Sprache und der Spontaneität des Menschen folgt, soll Vorauseilung heißen. Vorauseilung bezeichnet also im Bereich des Denkens und Reflektierens prinzipiell das gleiche wie der Begriff der „Vorwegnahme" 69 im Bereich der sensomotorisch realisierbaren Formen, der Rollen 70 . Vorauseilungen sind mithin alle Problematiken oder auch Aussagen eines Kindes, deren Beantwortung bzw. Wahrheitskontrolle den Eigenerfahrungen dieses Kindes vorauseilt. Vorauseilung in einfachster Form ist bereits die Übernahme von Begriffen bzw. Worten, deren Bedeutung anfangs nur zu einem geringen Teil erfaßt wird. Sie stellen aber ein unentbehrliches Anknüpfungsgerüst für jene sprachlichen 87 Vgl. Gehlen (54), S. 214 „ I n der Sprache ist eine A k t i v i t ä t möglich, die in der faktischen Dingwelt nichts verändert" vgl. noch S. 296 f. 68 Vgl. Handb. d. Psychol. (57), S. 278 f. u. Toman (60) S. 302 ff.

® 9 Newcomb (58), S. 235. Vgl. Remplein (160), S. 285 ff.

70

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Wechselwirkungen dar, durch die allein sie schließlich die volle Bedeutung verinnerlichen 71 . Vorauseilungen können auf Grund der kindlichen Spontaneität und der Offenheit von Sprache und sinnlichen Vorstellungselementen aus der Wechselwirkung zwischen Kind und seinen eigenen Bewußtseinsinhalten (also aus interner Wechselwirkung) entstehen. I n diesem Fall sei von subjektiver Vorauseilung die Rede. Ebenso bedeutsam aber ist die objektive Vorauseilung. Unter dieser soll verstanden werden, daß ein Erwachsener (oder auch ein anderes Kind) Probleme oder Aussagen, deren Lösungs- bzw. Wahrheitskontrolle den Erfahrungen eines Kindes vorauseilt, diesem Kinde so begreiflich macht, daß dieses Kind die Einzelbegriffe dieser Aussage sich in irgendeiner Form vergegenwärtigen kann und daher die Ausgangssituation die gleiche ist wie bei subjektiver Vorauseilung. Bedingung jeder objektiven Vorauseilung ist daher, daß es gelingt, von außen her eine Neukombination von Begriffen oder sinnlichen Vorstellungselementen auf ein Kind zu übersetzen, und zwar so, daß die gleiche motivische Situation wie bei spontaner Bildung der Neukombination vorliegt. Die Fähigkeit, in diesem Sinne zu übersetzen, ist daher die Grundvoraussetzung für objektive Vorauseilung. Diese Fähigkeit hängt aber hochgradig von den affektiven Bindungen oder Widerständen zwischen Kind und Erwachsenen ab. Ist auf dem Wege einer objektiven oder teilweise objektiven Vorauseilung eine Meinung, Einstellung usw. erst einmal wirksam tradiert worden, so unterliegt sie auf Grund der relativen Isolierung von sonstigen Erfahrungen zunächst der Selbstreproduktion, wenn immer in interner oder externer Wechselwirkung die ursprüngliche Problematik auftaucht. Diese zunächst wegen der relativen Isolation ungestörte fortlaufende gedankliche oder verbale Neuverwirklichung der angenommenen Aussage (oder Einstellung) führt zu ihrer weiteren Verfestigung. Der gesamte Vorgang kann als selbstreproduktive Rückregelung bezeichnet werden: sie führt schließlich zu einer erheblichen Fixierung einer zuweilen nur einmal gehörten Auffassung oder Meinung. So ist es sehr wohl möglich, in einer Unterrichtsstunde mit günstigen affektiven Voraussetzungen und etwa in einer Nebenbemerkung, der als solcher kaum bewußter Widerstand entgegengesetzt wird, Schülern für ihr ganzes Leben negative oder positive Vorurteile gegen einen Schriftsteller einzuflößen (ζ. B. „Hier unten wird auch Rilke erwähnt, heute nicht mehr interessant!" oder „Musil? Nur für die literarischen Feinschmecker, strengen Sie sich an!"). Hinzu kommt, daß solche angenommenen Meinungen, Einstellungen usw. mit langsam wachsender ein71 Piaget (62) hat diesen Prozeß von der bloßen Wortübernahme (S. 9) bis zum vollen Verständn. am Beispiel des Zeit-Begriffes i m einzelnen analysiert.

5 Lenné

66

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schlägiger Erfahrungsberührung zunächst dazu führen, alle Erfahrungen im Sinne der vorgefaßten Meinung zu deuten und damit zu Bestätigungen dieser Meinung umzudeuten, die wiederum die ursprüngliche Meinung verfestigen usw. (Interpretationsrückregelung) 72. I n diesem Vorgang wird schließlich die durch spontane Tradierung angenommene Einstellung selbst wieder Basis für weitere Wechselwirkung und unterliegt damit jener Fixierung, der jede Basis mit den von ihr getragenen Wechselwirkungen ausgesetzt ist. Diese Vorgänge, insbesondere die Interpretationsrückregelung, werden sinngemäß um so besser funktionieren, je weniger konkrete Tatbestände sie miterfassen müssen. Hier gibt Newcomb und Hartley einen funktionellen Beleg (spontane Tradierung von Rasse-Vorurteilen von Kindern ohne Berührung mit Schwarzen). Diese Vorurteile entwickeln sich, soweit sie abstrakter Natur sind (Kriterium: formale Rangeinstufung) sehr rasch bis zum 5. Lebensjahr zum Maximalwert. Je mehr aber die Testsituation den sozialen Situationen, in denen sich das Vorurteil konkretisieren könnte, imitierend entspricht (Zusammenleben zwischen Schwarz und Weiß), um so weiter schiebt sich altersmäßig das Erreichen des Maximums 73 hinaus. Damit ist die spontane Tradierung näher bestimmt und zudem gezeigt, wie reaktive Tradierung und spontane Tradierung in Wechselwirkung stehen können, indem spontane und reaktive Tradierung sich wechselseitig Basiselemente zur Verfügung stellen. Es muß noch gezeigt werden, daß auch die spontane Tradierung im oben bestimmten Sinne weitgehend autonom ist, daß also nicht bloß die Inhalte, sondern der Tradierungsprozeß selbst gegenüber sozialen Wandlungen relativ isoliert bestehen bleibt. Hierfür kann das Argument, daß die subjektive oder objektive Vorauseilung eben nur solange bedeutsam sei, wie noch wesentliche allgemeine Probleme ungeklärt sind, also nur solange der Mensch Kind oder Jugendlicher sei, nicht ausreichen. Denn die Vorauseilung ist in der ganz frühen Kindheit noch vergleichsweise bedeutungslos, weil die Basis noch zu schwach, die Zahl der wichtigen Begriffe und Vorstellungen, die problematisch kombinierbar sind, noch zu gering ist. Die wichtigste Zeit der spontanen Tradierung erstreckt sich daher von mittlerer Kindheit bis zur Adoleszenz. Hier aber sind viele Einflüsse der unmittelbar herrschenden sozialen Verhältnisse denkbar, so daß von daher ein Vorrang der traditionellen Einstellungen nicht erweisbar ist. Weiterhin ist zunächst auch nicht gesichert, daß die Erwachsenen innerhalb der spontanen Tradierung wiederum die in 11 Vgl. Wahrnehmung und Einstellung bei Newcomb (58), 139 ff. u. Hofstätter (40), S. 267 ff. 73

(58) S. 522 ff. u. (25), S. 466 ff.

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ihrer eigenen Kindheit empfangenen Vorstellungen und Einstellungen stärker tradieren als solche Einstellungen, die den von ihnen bewußt erlebten sozialen Gegenwartsverhältnissen möglicherweise besser entsprechen — wobei der Terminus „besser entsprechen" hier offengelassen werden soll. Für die Frage, ob spontane Tradierung autonom sei, ist daher entscheidend, wie der Erwachsene objektive Vorauseilung erzeugt bzw. in subjektive Vorauseilung (durch Beantwortung aufgetauchter Probleme) wirksam eingreift und damit Einstellungen, Meinungen, Verhaltensdispositionen als „an sich richtig" glaubhaft macht. Der Erwachsene wird optimalerweise das Kind zu veranlassen suchen, Person und Aussagen des Erwachsenen mit der Wahrheit der eigenen sinnlichen Anschauung zu identifizieren, so daß die zu tradierende Behauptung Wahrheitswert an sich gewinnt und von der Bedingtheit durch die behauptende Person gelöst wird. Eine solche Identifikation zwischen der eigenen Anschauung und der Aussage einer anderen Person ist um so wahrscheinlicher, je mehr sich das Kind im allgemeinen mit dem Erwachsenen identifiziert, also geneigt ist, so zu fühlen und zu handeln wie der Erwachsene. Insoweit sind gute affektive Beziehungen zwischen Kind und Erwachsenen, etwa Eltern oder Lehrern, eine besonders günstige Voraussetzung für spontane Tradierung. Da aber im Durchschnitt eine solche affektive Beziehung wie auch die in ihr enthaltene Identifikationsneigung wechselseitig und zumeist selbst erst durch emotionale Rückregelung stabilisiert ist, also die spontan tradierenden Eingriffe selbst unter der Affekthaltigkeit der Wechselbeziehung stehen, so werden jene Äußerungen des Erziehers im Durchschnitt vorrangig wirksam werden, die der äußeren sozialen Kontrolle, insbesondere auch dem kontrollierenden Vergleich mit den herrschenden sozialen Verhältnissen entzogen sind. Mit anderen Worten: die Reziprozität des emotionalen Verhältnisses, durch das die spontane Tradierung begünstigt oder erst ermöglicht wird, bedingt zugleich eine Reziprozität der Aktionsweise, also der Spontaneität. Die Darstellungen und Einlassungen von Eltern und Lehrern im Rahmen solcher affektiver Beziehungen sind meist ebenso spontan und der Kontrolle durch die soziale Gesamtsituation tatsächlich entzogen, wie sie seitens des Kindes spontan und nicht einmal der Möglichkeit nach kontrollierbar sind (und deshalb Vorauseilung genannt wurden). Indem die im affektiven Verhältnis angeregte spontane Aktionsweise den Erwachsenen von den vorhandenen Kontrollinstanzen, der äußeren sozialen Erfahrung, isoliert, regrediert er, und es werden die in seiner eigenen Jugend verinnerlichten Einstellungen und Normen vorrangig wirksam, mithin spontan tradiert. Dies wird dadurch verstärkt, daß die allgemeine und berufliche Gesellschaftserfahrung in der Industriegesellschaft immer spezieller und 5·

68

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immer komplexer wird. So vergrößert sich die Neigung, vor der Aufgabe einer angemessenen Deutung für sich und Vereinfachung für Kinder und Jugendliche zu resignieren und statt dessen im Augenblick der spontanen Erläuterung kindlicher Fragen in die ursprünglichen, selbst einmal übernommenen Einstellungen und Haltungen regressiv zu flüchten. Versucht der Erwachsene, Einstellungen und Auffassungen spontan zu tradieren, die — ggf. im Widerspruch zu den von ihm selbst in der Jugend übernommenen Vorstellungen — etwa den herrschenden sozialen Verhältnissen entsprechen, so wird durch diese Verfremdung zu sich selbst im allgemeinen die Übersetzung in das Bewußtsein des Kindes hochgradig kontrolliert und bewußt erfolgen müssen. Diese Kontrolliertheit und Bewußtheit stört aber gerade die bei der spontanen Tradierung notwendige wechselseitige Spontaneität, wenn nicht durch geeignetes Training der Erwachsene die seinen eigenen in der Jugend übernommenen Vorstellungen ggf. widersprechenden Einsichten hinreichend neu verinnerlicht hat. Ein solches Training kann nur ausnahmsweise erwartet werden. Auch die unmittelbare Berührung der Kinder und Jugendlichen mit den gegenwärtigen sozialen Verhältnissen kann die soziale Abkapselung spontaner Tradierungen nur sehr bedingt aufheben. Denn die Industriegesellschaft hält kaum wechselseitige Spontaneität bereit, die das leisten könnte (nicht zuletzt auf Grund der Indirektheit der industriellen Produktion) 74 . Es bleibt meist eine einseitig spontane Rezeption von Reizen, die nicht spezifisch abreagierbar sind und daher nur eine allgemeine diffuse Reaktionsbereitschaft bzw. unspezifische Aggressivität bewirken 75 . Damit ist auch für die spontane Tradierung gezeigt, daß sie grundsätzlich in hohem Maße autonom ist, also ungeachtet inzwischen eingetretener sozialer Wandlungen gerade jene Einstellungen und Verhaltensdispositionen bevorzugt weiterträgt, die bereits die tradierenden Erwachsenen als Kinder und Jugendliche übernommen haben, weil der Tradierungsprozeß selbst von aktuellen sozialen Einflüssen mehr oder weniger wirksam isoliert bleibt. So ist insgesamt ein theoretischer Hintergrund für den empirischen Befund dieser Arbeit gelegt, daß trotz außerordentlicher Wandlungen Eltern und Kinder gleiche Grundstrukturen in der Einstellung gegenüber politischer Führung zeigen. Die hierbei verwendeten Begriffe wurden einerseits in möglichster Allgemeinheit, andererseits optimal 74 I m Gegensatz zu früheren Epochen haben K i n d e r k a u m mehr eigene A n schauung von Berufs- u n d Produktionstätigkeit ihrer Väter.

75

Vgl. Muchow (67), S. 121.

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69

für das vorliegende Problem definiert. Insgesamt sollen diese theoretischen Darlegungen als Hypothese angeboten werden, als die Hypothese von der autonomen Tradierung, die durch weitere möglichst systematische Erfahrungen gesichert oder modifiziert werden muß, auch wenn sie eine vorläufige theoretische Orientierung über das hier empirisch gegebene Problem möglich macht. Zum Schluß dieses Abschnittes muß noch auf die Bedeutung autonomer Tradierung im sozialen Gesamtzusammenhang hingewiesen werden. Autonome Tradierung stellt eine systematische Quelle des „cultural lag" dar 76 . Auf Grund autonomer Tradierung werden immer wieder Einstellungen in späteren Generationen fixiert, die unter den sozialen Bedingungen früherer Generationen entstanden sind und in vielen Fällen den neuen (etwa technischen oder organisatorischen) Gesellschaftsbedingungen widersprechen 77. Man kann dies in Umkehrung einer Formulierung von Gehlen als „sekundäre Unzweckmäßigkeit" bezeichnen. Cultural lag i. S. kultureller „Disproportionalität" wird daher von Mannheim 78 als eines der wichtigsten Kulturprobleme der Gegenwart betrachtet und mit der Forderung und dem Prinzip „der FundamentalDemokratisierung" kommentiert. I n diesem Sinne aber ermöglicht die Entwicklung einer brauchbaren Theorie der autonomen Tradierung — als einer besonders wichtigen Ursache des cultural lag — ggf. wirksame praktisch-politische Entscheidungen. Zugleich erschöpft die Sozialpsychologie der autonomen Tradierung auch die konservative Theorie, soweit diese Beziehungen zur Realität hat. Als „Grundbedingungen menschlicher Existenz" 79 können, soweit man keine transzendierenden Postulate aufstellt, außer der — verdächtigten — intellektuellen Neugier, inhaltsunspezifischen Lernfähigkeit und Spontaneität und außer dem Primitivbereich des konkret Triebhaften nur die autonome Tradierung und ihre — zumeist unreflektierten — Inhalte gemeint sein. Damit aber heiligt man nach dem konservativen Prinzip in den Einstellungen, die heute bereits tradiert sind, zugleich Einstellungen, die doch früher einmal neu waren. Denn die autonome Tradierung ist eine inhaltlich unspezifische Funktion und kann nur weitertragen, was ihr irgendwann einmal als neue Idee aufgegeben worden ist, was in einer noch früheren historischen Situation sogar 76

F. Ogburn, vgl. auch Fischer L e x i k . (117), S. 155 f. Formen autonomer Tradierung lassen sich wahrscheinlich außer i n Familien auch i n allen Gruppen nachweisen, die u n m i t t e l b a r Einfluß auf K i n der u n d Jugendliche haben, aus denen sie sich — später — rekrutieren: so i m Erziehungswesen, speziell i n der Gymnasialpädagogik, i m H a n d w e r k u n d w o h l auch i m M i l i t ä r . Dies w ü r d e die auffällige Tatsache von „ c u l t u r a l lags" gerade i n diesen Bereichen verständlicher machen. 78 Vgl. (120), insbes. S. 48. 77

79

Mühlenfeld

(65), S. 351.

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erst Wunschbild war. So können auch die Konservativen den Wunschbildern nicht entgehen. Aber indem sie „Politik ohne Wunschbilder" 80 fordern, fordern sie Politik ohne Alternativen, also Politik ohne Blick auf soziale Wandlungen, mithin Politik, die autonom gegenüber der Realität ist. Konservatismus erscheint insofern als politische Ideologisierung des Faktums autonomer Tradierung, und damit wird dieser Prozeß selbst zu einer Variablen politischer Intentionen.

c) Tradition als Charakterbestand

I m letzten Abschnitt wurde versucht, mit möglichst wenig allgemeinen Voraussetzungen die Erscheinung der sozialen Abkapselung des Tradierungsprozesses in erster Näherung als autonome Tradierung theoretisch zu begründen. Unter sozialer Abkapselung wird dabei verstanden, daß Einstellungsstrukturen fast unverändert und relativ unbeeinflußt durch zuweilen außerordentliche äußere Gesellschaftswandlungen tradiert werden, weil der Tradierungsprozeß selbst den sozialen Wandlungen mehr oder minder entzogen ist. Solche autonome Tradierung wird in der vorliegenden Arbeit empirisch belegt, und zwar in Hinblick auf den 1945 eingeleiteten Gesellschaftsumbruch besonders eindrücklich 81. Will man die Struktur der hier festgestellten konstanten Einstellungen gegenüber politischen Führern geschichtlich interpretieren, so erscheint es notwendig, zuvor auch noch für eine andere mit der gesellschaftsfernen Tradierung verknüpfte Erscheinung theoretische Gründe zu erörtern. Es wurde festgestellt, daß die spontane Tradierung von Einstellungen sich an Hand relativ abstrakter Spontanproblematiken von Kindern und Jugendlichen vollzieht, die der sozialen Wirklichkeit und Urteilsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen vorauseilen. Vorauseilung und Abstraktheit bedingen, daß bezüglich dieser Probleme die Kinder bzw. Jugendlichen vor allem verbal beeinflußt werden. Die neue Frage ist, warum Eltern und Erzieher in der erzieherischen Verbalisierung ihre Einstellungen im Rahmen spontaner Tradierung auf die ihnen selbst tradierten Gehalte zurückgreifen, obwohl diese oft in erheblicher Spannung zur sozialen Wirklichkeit und auch zu ihrem tatsächlichen Verhalten stehen. " 81

(65).

Vgl. Mitscherlich (189), eine Umfrage (1960 i n Hamburg) interpretierend, S. 97: „ D i e Deutung lautet, daß i n Deutschland die autoritäre F a m i l i e n s t r u k t u r die Gesellschaftsstruktur repräsentiert, u n d zwar i n dem Sinn, daß der L e i t w e r t Pflicht-Gehorsam i n einem ungebrochenen Unisono sowohl die I n t i m gruppe w i e die größeren gesellschaftlichen Gruppen strukturiert."

1. Patriarchalismus als politisches Schicksal

71

Zur Klärung dieser Frage muß an den oben gebrauchten Begriff der Anpassung erinnert werden. Anpassung heißt danach, daß ein Invarianzbereich von Motiven (Einstellungen und Strebungen) gegen Störungen konstant erhalten wird. Anpassung i. d. S. erscheint als Verallgemeinerung des psychologischen Homeostase-Begriffes auf Motivationen, insbesondere auf Einstellungen. Erst ein psychischer Invarianzbereich als Gegenstand der „Selbsterhaltung" kennzeichnet den Menschen als ein System, das nicht bloß physiologische Sollwerte wie körperliche Existenz, Körpertemperatur usw. gegenüber äußeren Einwirkungen verteidigt. Dies ist anthropologisch unbestritten. Gehlen 82 spricht von einem Dauersystem von Gewißheiten, Hofstätter 83 ordnet ein — sozial durchgesetztes — normatives Gleichgewicht dem biologischen Gleichgewicht (i. S. d. Homeostase) über 84 . Dieser Satz wird hier nicht als Wertsetzung, sondern ausschließlich als Tatsachenfeststellung formuliert: alle Menschen haben tatsächlich eine Reihe von rein motivischen Sollwerten 85 . Wenn ζ. B. die soziale Wertung von Individuen als eine universelle motivische Struktur angesehen werden muß, dann ist es unausbleiblich, daß jeder Mensch zwingend einen gewissen Standard an Eigenwert festhält, also die an Begriffen fixierte Motivation, daß er selbst als Individuum ein Minimum an sozialem Wert darstelle und daß er beanspruchen dürfe, als solcher von anderen Menschen respektiert zu werden. Auf jede Weise wird ein Mensch, der in dieser für sein körperliches Wohlbefinden — dieses isoliert betrachtet — völlig bedeutungslosen Sache unsicher geworden ist, sich zu vergewissern suchen. Er wird durch Leistungen oder durch direkte Aggressivität Gelegenheiten provozieren, in denen die Mitmenschen seinen sozialen Wert zugeben müssen (mit Vorbedacht wird hierbei Leistung als mögliche motivische Realisierung von Aggressivität gesehen, ein wichtiger interpretativer Gesichtspunkt86). I m Sinne aller dieser Überlegungen wird daher der charakteristische Bereich als ein Bereich besonders stabiler individueller Motive verstanden. Damit aber wird bereits die Doppelfunktion allgemeiner Einstellungen und Verhaltensdispositionen deutlich 87 . Einstellungen können einerseits Mittel der Anpassung sein. Als solche sind sie motivische An82 88

84 86

(54), S. 231. (60), S. 253 ff.

Entsprechend F. Alexander (72). Vgl. den Persönlichkeitsbegriff bei Allport

und bei Newcomb (58), S.

256 ff. 86 Vgl. Browns Zusammenfassung über Tatsache u n d Festigkeit i n d i v i d u e l ler Grundeinstellungen (181), S. 114 f. 87 Newcomb spricht v o m „Selbst" als W e r t w i e auch als H i l f s m i t t e l (58), S. 249 ff.

72

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Weisung, auf eine bestimmte Einwirkung von außen hin in bestimmter Weise zu handeln, um die Eigenstruktur aufrechterhalten zu können. Sie können aber auch selbst zu dieser zu erhaltenden Eigenstruktur gehören, also im charakteristischen Bereich enthalten sein. Insoweit sind Einstellungen Zweck der Anpassung. Als Mittel der Anpassung müssen sie empirischen Bedingungen genügen, um den angestrebten Erfolg zu sichern. Als Zweck sind sie Besitzstand des eigenen „Ich" und werden als solcher unter allen Umständen verteidigt. Einstellung als Funktion individueller Psyche leidet daher unter einer ähnlichen funktionellen Doppeldeutigkeit (als Mittel und Zweck der persönlichen Anpassung) wie die im letzten Abschnitt untersuchten Basiselemente (als Mittel und Inhalte der kindlichen Entwicklung), und wie die Normen einer Gruppe (als Mittel und Gegenstand der Selbstbehauptung), wie das bare und in Zertifikaten umlaufende Geld in der Volkswirtschaft (mit seinen Funktionen als jeweils zu fixierender Besitz- oder Liquiditätsbestand und als Mittel der Anpassung von Angebot und Nachfrage), und wie der Staat (als Organisation Mittel und Zweck seiner selbst)88. Wegen der universellen Bedeutung dieser Doppelwertigkeit als Mittel und Zweck wurde sie bereits unter dem Begriff der funktionellen Ambivalenz festgehalten. Die Funktion von Einstellungen als Mittel der Anpassung ist an Hand des Erfolgskriteriums operational bestimmt und damit klar erkennbar. I n diesem Sinne ist Einstellung eine relative Größe, die je nach Art der hinzukommenden Wirklichkeitserfahrung fortlaufend korrigiert werden muß. Daher sind Einstellungen empirisch, soweit sie faktische Beziehungen spiegeln, und empirisch-pragmatisch, soweit sie Anweisungen enthalten, wie ein vorgegebenes Ziel unter den gegebenen Wirklichkeitsbedingungen erreichbar sei. Demgegenüber erscheint es notwendig, den Begriff der normativen Einstellung über die bloße Bestimmung als Endzweck individueller Anpassung oder als End-Sollwert eines komplexen Rückregelungs-Systems hinaus in entsprechender Weise zu verschärfen. Normative Einstellungen beeinflussen alle Handlungen unabhängig von der Wirklichkeit bezüglich jener Verhaltensmerkmale, auf die sich die Norm bezieht. Hat eine Einstellung einmal normativen Charakter gewonnen, so bedeutet das, daß sie — kraft funktioneller Ambivalenz — wenigstens teilweise vom Individuum nicht mehr anhand des empirischen Erfolgskriteriums interpretiert wird. Jede erfolgreiche Handlung, in der als Teilmotiv die normative Einstellung realisiert wird, bestätigt nicht mehr nur die Zweckmäßigkeit dieser Einstellung, sondern bestätigt ihre normative Richtigkeit als Charakteristikum der Person. Nicht nur die 88

Vgl. (137), S. X I I I .

1. Patriarchalismus als politisches Schicksal

73

Brauchbarkeit als Mittel, sondern darüber hinaus die Brauchbarkeit als Zweck, also als „Ich-Bestätigung", wird dadurch versichert. Ein Rückregelungssystem, das — zunächst etwa zufällig — eine Veränderliche konstant hält und damit einen Anpassungsvorgang nach außen bewältigt, wird diese Größe als Soll-Wert fixieren. Denn spätestens die einmal erfahrene Möglichkeit, diese Größe konstant zu halten, macht sie geeignet, neben anderen Größen als weiterer Sollwert die invariante Eigenstruktur schärfer zu definieren und damit die Nebenbedingungen der Anpassung durch Herabsetzung des zukünftigen Entscheidungsaufwandes zu verbessern. Quantitativ erscheint dies als „Tendenz zur Maximalisierung der Überzeugungsstärke" i. S. einer Entlastung von dem „in der Schwebe-Halten eines wichtigen Problems" 89 . Gehlen 90 betont — als Grenzfall von Entlastung — die absolute Notwendigkeit „irrationaler Überzeugungsgewißheiten", die als qualitativ entlastende Schemata auch Hofstätter sieht 91 . Dem entspricht das Ökonomieprinzip F. Alexanders 92. Kybernetisch tritt der gleiche Sachverhalt als Prinzip der Informationsersparnis auf 93 . Eine Vergrößerung des Invarianzbereiches mindert mithin den Entscheidungsaufwand innerhalb des Anpassungsprozesses, indem sie die aufrecht zu erhaltende Individualstruktur schärfer bestimmt. Psychologisch beinhaltet dies die Entscheidungsentlastung durch Selbstbestätigung, also durch Bestätigung der charakteristischen Motivationen, insbesondere der normativen Einstellungen 94 . Jede solche Selbstbestätigung in Einzelhandlungen, in denen eine normative Einstellung in irgendeiner Form mitrealisiert wird, fixiert im Sinne der allgemein anerkannten Sätze der Lerntheorie zugleich den normativen Charakter der Einstellung weiter. Die Einstellungen gewinnen so den Charakter von Automatismen 95 und verlieren dabei den Zusammenhang mit ihren konkreten Anlässen i. S. des Kretschmerschen Gesetzes der formelhaften Verkürzung 96 . Insbesondere auch Mißerfolge, in denen normative Einstellungen durchgehalten worden sind, sind Mißerfolge nur in Bezug auf die anderen zumeist konkreteren Zielsetzungen, dagegen in Bezug auf Durchsetzung und Aufrechterhaltung der Individualstruktur, insbesondere also der jeweiligen normativen Einstellung, sind es Erfolge. Nur dort, wo allgemeine Einstellungen unmittelbar und eindeutig für Mißerfolge verantwortlich sind, in denen noch wichtigere Teile der Individualstruktur bedroht 89 90 91 92

93 94 95 98

Hofstätter

(40), S. 191 f.

(54), S. 327 ff. (40), S. 426 ff. (71).

Langer (41), S. 176. Vgl. Simon (72), bes. S. 522 ff. Hartmann (59), S. 73.

I n : Mediz. Psychol., Leipzig 1922.

74

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

oder gar zerstört worden sind, kann daher eine Änderung erwartet werden. Die fortlaufende erfolgsunabhängige Selbstbestätigung normativer Einstellungen durch ihre bloße Reproduktion ist ein motivischer circulus vitiosus, also eine typische motivische Rückregelung. Diese soll nunmehr umgekehrt einer operationalen Definition normativer Einstellungen dienen. Eine Einstellung heiße soweit normativ, als die bloße Wiederholung ihrer Verwirklichung im Rahmen tatsächlicher Handlungen (oder Gedanken) zu ihrer Verstärkung beiträgt, unabhängig vom realen Erfolg bezüglich der konkreten Verhaltensabsichten. Funktionelle Ambivalenz ist in dieser Definition konstitutiv: der Zweck ist zugleich Mittel (seiner selbst). Die dieser Definition zugrunde liegende Rückregelung heiße individuelle Rang-Rückregelung. Ihre formale Definition lautet: kann jeder Gegenstand in einem Gegenstandsbereich durch Anteil an einer allgemeinen Größe charakterisiert werden und stabilisiert oder vergrößert jeder Gegenstand seinen Anteil an dieser allgemeinen Größe nach Maßgabe des bereits vorhandenen Anteils, so soll diese allgemeine Größe ein Rang dieses Gegenstandsbereiches heißen, und die Wechselwirkung, nach der sich der jeweilige Rang stabilisiert oder vergrößert, Rang-Rückregelung. Es ist leicht erkennbar, daß normative Einstellungen durch die beschriebene Rang-Rückregelung immer unabhängiger vom empirischen Erfolg eingeübt, dadurch immer weniger Anpassungsmittel und immer mehr Anpassungszweck werden, sich also als Element des charakteristischen Bereichs fixieren. Der charakteristische Bereich entwickelt sich so zu einer Hierarchie der Strebungen, in der die Berücksichtigung der vorrangigen Normen Bedingung der Berücksichtigung von Rang-Nachfolgern ist 97 . Es soll aber schon an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß auch im sozialen Bereich Herrschaft einen Rang darstellt und der — sozialen — Rang-Rückregelung unterliegt. Die engen Zusammenhänge zwischen beiden Rängen, dem normativen EinstellungsRang und dem Herrschafts-Rang (kurz: zwischen Ideologie und Herrschaft), können indessen hier nicht weiter verfolgt werden. Hier muß zunächst festgehalten werden, daß auch die Abstraktheit von Einstellungen einen prinzipiell von der Normativität unabhängigen Rang darstellt. Je abstrakter eine Einstellung ist, um so mehr Einzelhandlungen beschickt sie mit ihrer Motivation. Sie wird daher relativ häufiger verwirklicht als weniger abstrakte Motivationen und daher dauerhafter fixiert. Dies gilt auch dann, wenn Erfolg und Mißerfolg als Fixierungskriterien (CI. Hull) hinzugenommen werden. Denn die über97

Maslow (66).

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wiegende Zahl aller Einzelhandlungen wird zumindest subjektiv als erfolgreich interpretiert. Sind Normativität und Abstraktheit von Einstellungen auch grundsätzlich verschiedene Ränge, so sind sie doch praktisch miteinander verknüpft. Insbesondere pflegen Einstellungen von hohem normativen Rang auch meist sehr abstrakt zu sein und daher auch der hierzu gehörigen Rückregelung zu unterliegen. Werden in Kindheit und Jugend normative Einstellungen spontan autonom tradiert, so vermögen sich diese Einstellungen zunächst weitgehend durch ihre Unwichtigkeit in Bezug auf die soziale Umwelt des Kindes bzw. Jugendlichen vor Erfahrungsrelativierung abzudecken und zu erhalten. I m Rahmen der Rang-Rückregelung verfestigen sie sich dann immer mehr. Eine letzte entscheidende Chance, die normativen Einstellungen selbstkritisch zu prüfen und ggf. zu wechseln, besteht in der Phase der endgültigen Ablösung von den ursprünglichen Erziehern und beim Ubergang zu eigenen vollverantwortlichen sozialen Rollen, also insbesondere in der Berufsausbildung, in der Höheren Schule, im Studium und der frühen Berufsausübung. I n dieser Zeit pflegt erfahrungsgemäß das Gesamtsystem der spontan tradierten normativen Einstellungen noch einmal relativ offen zu sein. Gewöhnlich werden die Lebenserfahrungen innerhalb dieser Phase auch als besonders fruchtbar in Bezug auf die Bildung sozial relevanter normativer Einstellungen angesehen. Das ist sicher um so zutreffender, je konkreter die normativen Einstellungen sind und je mehr sie daher auch den konkreten Lebenserfahrungen und der Pluralität vieler fremder Meinungen ausgesetzt sind 98 . Gerade in dieser Zeit treten indessen auch erhebliche Gefährdungen einer eigenen Einstellungsbildung des jungen Menschen auf. Die Loslösung von Eltern und Erziehern bedingt in der Regel, daß nach der Phase der Jugend neue, schulische oder berufliche Verbindungen eingegangen werden. Je mehr in diese Bindungen außer speziellen sachlichen Beziehungen auch allgemein-persönliche Momente eingehen, um so schwieriger wird die Befreiung von autonom tradierten Einstellungen, wenn der schulische, wissenschaftliche oder berufliche Vorgesetzte in den gleichen Traditionen steht. In diesem Fall kann der normale Ablösungsprotest gegen die primären Erziehungsautoritäten nicht mehr einer gleichzeitigen Distanzierung von autonom verinnerlichten Einstellungen dienen 99 . Die Flucht vor der familiären Autorität in die 98 Vgl. F. Tenbruck (191), der „Jugend" geradezu als eine neue, relativ autonome Sozialisierungsphase i n der Industriegesellschaft bestimmt. Vgl. insbes. S 76 f. 99 Tenbruck (191), bes. S.28f. betont den fluktuierenden Charakter aller Kontakte i n der eigentlichen Jugendphase u n d die Unfähigkeit, Sicherheit i n Dauerformen zu entwickeln. Eben dadurch verliert auch der Ablösungsprotest seine innere Verbindlichkeit. Das oberflächliche Arrangement m i t den tra-

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scheinbar sachliche innerhalb von Beruf oder Studium führt dann den Nestflüchtling zu den gleichen Einstellungen zurück. Spannungen zwischen normativen Einstellungen etwa der Vorgesetzten und der sozialen Wirklichkeit werden zwar oft erkannt, aber mit wachsender beruflicher und institutioneller Abhängigkeit wird eine Reaktionsweise praktisch eingeübt, die mehr und mehr auch in späteren Lebensaltern gestattet, gegenüber allen sozialen Wandlungen die eigenen normativen Einstellungen zu bewahren. Gilt es dabei anfangs, den äußeren normativen Konsensus mit Vorgesetzten zu sichern, so bleibt zuletzt als Zweck die Bewahrung ursprünglicher normativer Einstellungen überhaupt. Zeigen sich zwischen normativen Einstellungen einerseits und sozialer Wirklichkeit andererseits Spannungen, sei es, daß die Wirklichkeit nicht mehr verständlich wird, sei es, daß praktische Mißerfolge drohen, so werden von allen normativen Einstellungen zunächst immer die nach Normativität und Allgemeinheit unwichtigsten aufgegeben. Brown 100 zitiert: „Eine bestimmte Einstellung läßt sich niemals zu anderen umformen. Sie läßt sich lediglich der Wirklichkeit besser angleichen (Gordon Rattray Taylor) 101" Die ranghöchsten Einstellungen werden so lange bewahrt als irgend möglich. Diese Art der Anpassung an Diskrepanzen zwischen Wirklichkeit und Motivation soll konservative Anpassung heißen. Konservativ bezeichnet hier die ganz spezielle Tendenz, den charakteristischen Bereich des eigenen Individuums, insbesondere also auch die normativen Einstellungen, gegenüber auftretenden sozialen Änderungen unverändert zu erhalten und zuerst immer nur im Detail nachzugeben. Je mehr Veränderlichkeit im Detail vorhanden ist, um so leichter gelingt die konservative Anpassung. Die konservative Anpassung führt daher zur Bevorzugung abstrakterer Einstellungen vor konkreteren. Daher besteht unter dem Druck äußerer sozialer Wandlungen die Tendenz, tradierte Einstellungen immer allgemeiner und unbestimmter zu formulieren. Sie werden im Sinne von Topitsch 102 zu Leerformeln. Je allgemeiner normative Einstellungen sind, um so leichter gelingt es, sie in Bezug auf konkretere Sachverhalte umzuinterpretieren. Wo konkrete Wirklichkeit und normative Einstellungen in Konflikt geraten, werden mithin durch weitere Abstraktion und durch Veränderung der Einstellungsdetails die tatsächlichen sozialen Bedeutungen von Einstellungen verändert oder „umrationalisiert", ditionellen Einstellungen der Vorgesetzten fordert schließlich eine innere Rechtfertigung durch die regressive Annahme der i n der K i n d h e i t selbst erfahrenen gleichartigen Einstellungen heraus. Die weitgehende Regredierung i n traditionelle Einstellungen nach Erledigung des Jugend-Protestes speziell beim deutschen Jugendlichen beschreibt unter psychoanalytischen Kategorien sehr eindringlich Erikson (202), S. 326—331. 100 (181), S. 115. 101 101

Ähnl. Homans (35). S. 383. (124).

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ohne dabei die normativen Grundbegriffe der tradierten Einstellungen selbst ändern zu müssen. Der Vorgang der konservativen Anpassung und der Umrationalisierung als wichtigste Form dieser Anpassung ist allerdings nicht nur individuell von größter Bedeutung, sondern Grundlage für die theoretische Klärung des Verhältnisses zwischen politischer Herrschaft und der sie rechtfertigenden Herrschaftsideologie. Konservative Anpassung und Umrationalisierung sind zugleich pragmatische Prinzipien der politisch-propagandistischen Führung, die hierin grundsätzlich den individuellen Motivationsbeziehungen folgen muß. Zuletzt erhebt sich die Frage, unter welchen Bedingungen denn überhaupt unabhängig von der autonomen Tradierung neue normative Einstellungen gebildet werden können. Im Rahmen dieser Untersuchung kann diese Frage nur sehr grundsätzlich betrachtet, aber doch nicht ganz umgangen werden. Zunächst folgt aus dem vorher Gesagten, daß soziale Ereignisse, die die übrige Individualität der Menschen mindestens ebenso bedrohen wie ihre normativen Einstellungen, zu einer merklichen Verunsicherung des Bestandes an normativen Einstellungen führen können. I n diesem Sinne begründet Allport 103 plötzliche Neuorientierungen ausdrücklich durch Traumata. Auch Toman 104 hält starke Verunsicherung — "Alarmzustände" — für eine Bedingung von Umstrukturierungen. Newcomb 105 spricht vom Erwerb neuer Motivkonstellationen durch Motivblockierung. Hinzu kommt, daß durch Verunsicherung Einstellungen bewußt werden und diese ihre stabile Gewohnheitsmäßigkeit verlieren 106 . Wo eine normative Einstellung unmittelbar derartige Gefährdungen erzeugt, wird sie mithin zunächst ausgesetzt und durch vorläufige konkrete Verhaltensweisen ganz im Sinne konservativer Anpassung verdrängt 107 . Bietet sich im Zusammenhang mit der sozialen Bedrohung eine andere, offensichtlich adäquate normative Einstellung an, so kann sie die Leerstelle der Verunsicherung ausfüllen. Adäquat heißt eine solche neue Einstellung, wenn sie 1. das Versagen der früheren Einstellung rationalisieren kann, 2. eine prägnante, positive Neuordnung vorschlägt und 3. innerhalb der Gruppe entwickelt wird, mit der sich die meisten identifizieren, also innerhalb der „eigenen Gruppe" 108 . 103 104 105

106 107 108

(28), S. 208 ff. (60), S. 200 ff. (58), S. 271 ff.

Eysenck (61) S. 129. Vgl. Lenk (74), S. 48. Vgl. Lewin (153), S. 92 ff.

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Bietet sich aber keine adäquatere Neu-Einstellung an, so wird nach Überwindung der akuten Gefährdung die alte normative Einstellung wieder in ihre alten Hechte eintreten, und zwar verstärkt, weil sie im Endeffekt durchgehalten worden ist. I n diesem Fall wird die Verunsicherung zur Ursache von Einstellungsfixierung 109. Stärkste, womöglich physische Verunsicherung, etwa in Kriegen oder revolutionären Vorgängen, vereint mit einem adäquaten Angebot neuer Normenvorstellungen, sind daher die beiden notwendigen Bedingungen sozial ins Gewicht fallender Sofortänderungen normativer Einstellung. Der Ausdruck „adäquat" beinhaltet dabei insbesondere, daß das Angebot neuer normativer Einstellungen von einer Stelle kommt, der nicht von vornherein der größte soziale Widerstand entgegengesetzt wird. Derartige Angebote sollen daher insbesondere der jeweils eigenen politischen oder sozialen Gruppe entstammen oder doch als Gruppeninteresse interpretierbar sein. Alle diese Bedingungen sind am besten in Revolutionen erfüllbar. Daher soll diese Form sofortiger Änderung normativer Einstellungen auch revolutionär genannt werden. Eine andere Form, die „evolutionär" heißen soll, ergibt sich aus dem Mechanismus der autonomen Tradierung selbst. Die Spontanproblematiken von Kindern und Jugendlichen haben zwar Zufallscharakter, sind ihrer Tendenz nach aber festgelegt auf den bereits vorhandenen Motivationsbereich. Dieser jedoch ist in seiner konkreten Mannigfaltigkeit weitgehend durch tägliche Anpassungsvorgänge und damit durch die tatsächlichen sozialen Verhältnisse innerhalb der sozialen Umwelt von Kind bzw. Jugendlichem bestimmt. Daher verschieben sich die Spontanproblematiken im einzelnen zufällig, im ganzen aber systematisch entsprechend den Wandlungen der sozialen Wirklichkeit. Damit aber verschieben sich auch von den Objekten her systematisch die normativen Einstellungen, die von den Erziehern verbal als Antwort auf Spontanproblematiken weitergegeben werden, und dementsprechend ändert sich allmählich der spontan tradierte Bestand. I n ähnlicher Weise unterliegen auch die primitiven Basiselemente in der frühen Kindheit einer fortlaufenden Detailverschiebung durch soziale Wandlungen, die wegen der Primitivität der Basiselemente um so geringer ist, je niedriger die betrachtete Altersstufe liegt. Insgesamt ergibt sich aber doch eine langsame Änderung der reaktiv tradierten Inhalte. Auch von Seiten der Erzieher schlägt auf die Länge ein sozialer Trend durch. Denn nicht alle von Eltern gegebenen Antworten und Meinungsäußerungen entsprechen exakt den ihnen selbst früher tradierten Vorstellungen, sondern unterliegen gerade in ihrer Neuformulierung gegenüber fragenden oder zuhörenden Kindern und Jugendlichen einer systematischen 109

Brown (181), S. 115.

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Tendenz in Richtung auf je aktuelle soziale Verhältnisse. Eine genauere Untersuchung des Verhältnisses zwischen autonomer Tradierung und evolutionärer Einstellungsverschiebung muß Spezialarbeiten vorbehalten bleiben. Quantifizierende Methoden erscheinen nicht unmöglich. Zweifellos lassen sich Verschiebungen innerhalb der Einstellungsstruktur zwischen Eltern und Jugendlichen, die in der vorliegenden empirischen Arbeit auftreten, im Sinne solcher evolutionärer Vorgänge deuten. Darauf wird noch näher einzugehen sein. Abschließend muß auf eine grundlegende Fragestellung hingewiesen werden, die in dieser Untersuchung nicht mehr weiter ausgeführt werden konnte: wenn die befragten Jugendlichen und deren Eltern durchschnittlich eine funktionell-patriarchalische Einstellung zu zeigen scheinen und wenn diese Einstellung wenigstens teilweise das Resultat einer autonomen Tradierung sein sollte, so muß sie irgendwann sich anhand historischer Konstellationen gebildet haben. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß erste Ansätze sich im Anschluß an die ungeheure Verunsicherung durch den dreißigjährigen Krieg gebildet haben 110 . Mit der religiösen Einheit des Mittelalters war die sichere religiöse Basis 111 zerstört worden, eine kritische, für Einstellungsänderungen besonders günstige Situation 112 . Den absolutistischen Herrschern konnte vor diesem historischen Hintergrund im Daseinsverständnis der Bevölkerung eine ausgeprägte Sicherungsaufgabe zuerteilt werden, die angesichts der tatsächlichen Nöte des Sachverstandes bedurfte und die zugleich gedeckt war durch eine Zuständigkeit kraft Gottes-Gnadentums. Die Entwicklung eines frühen funktionell-patriarchalischen Einstellungs-Syndroms erscheint insoweit als wahrscheinlich. Die Verknüpfung mit Ordnungsdenken und Betonung der rechtlichen Aspekte, eine gewisse Erwartung von Rechtsstaatlichkeit überhaupt könnte durch die besonderen Akzente des deutschen aufgeklärten Absolutismus bedingt sein, in dem Recht und Ordnung zumindest teilweise zur Legitimations-Ideologie der absoluten Herrschaft gehörten 118 . Demgegenüber konnten die französische Revolution und die Napoleonische Ära kaum grundlegende Änderungen bewirken. Das funktionell110

Vgl. Valentin (76), S.225f.; Gebhardt (78), S. 403 ff.; generell-theoretisch

i n Anschluß an Freud Wanda von Baeyer-Katte 111

(216), S. 84 ff.

Vgl. Valentin (76), S. 224 sowie Lemberg (81), S. 106.

112 Als Zeugnis f ü r die sich ergebenden Einstellungen i n Richtung auf kluge, d. h. Frieden u n d Sicherheit bringende Herrschaft vgl. „Simplizissimus" (80), u. a. S. 459; vgl. auch Malch (75), S. 174 f. u n d die Verknüpfung sadomasochistischer Erfahrungen m i t autoritärer Einstellung bei E. Fromm (70), Kap. 5.

113

Vgl. Gebhardt (31), S. 2 u. Gebhardt (78), S. 40; zur politischen Neutralität

der Schule vgl. Flitner

Lemberg (81), S. 113 f.

(82), S. 18 f f ; zur frühen nationalen Akzentuierung vgl.

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I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

patriarchalische Risiko-Denken wurde in Verbindung mit den nationalen Befreiungskriegen möglicherweise zu einem kollektiven, auf die „Nation" bezogenen Risiko-Denken umfunktioniert und die sozial privilegisierte preußische Armee in das Lager eines national akzentuierten Anti-Westlertums 114 getrieben. Die demokratischen Bewegungen scheinen in erheblichem Umfang nur instrumentale Bedeutung als Werkzeug der nationalen Einigung gegen den Willen der Fürsten gehabt zu haben, während sie weder in der höheren Bildung 115 noch im einseitig wirtschaftlich orientierten Liberalismus (mit regional akzentuierten Ausnahmen) 116 nachhaltige originale Motivationen entwickelt zu haben schienen, zudem die konservativen Tendenzen der politischen Romantik ein Gegengewicht darstellten 117 . Mit dem Zusammenbruch der nationalen Einigungsideen 1848 erlahmte die demokratische Bewegung, soweit sie nur als Vollstreckungsinstrument dieser Einigungsidee entwickelt worden war 1 1 8 . Die Ära Bismarck führte zu einem endgültigen Verzicht des wirtschaftlichen Liberalismus auf politische Zuständigkeit 119 . Es entwickelte sich — in breiter Ausfächerung — eine national-patriarchalische Einstellung, die insbesondere in der Pädagogik nachhaltig wirksam wurde. Es wurde zu „einer Ethik der Selbstaufopferung im Dienste des Staatsganzen" erzogen 120 . Eine historische Sonderrolle nahm dabei offenbar die Arbeiterschaft ein, auch wenn selbst ihr national-patriarchalische Einstellung keineswegs fremd geblieben ist 1 2 1 . Es werde dabei auf eine möglich erscheinende Differenzierung hingewiesen. Von den nationalstaatlich privilegierten Schichten, Adel, Militär, höheren Beamten und führenden Wirtschaftlern 122 darf einstellungsmäßig eine bedingungslosere Bejahung der autoritären Komponenten des funktionellen Patriarchalismus erwartet werden als von den beherrschten und insoweit frustierten Schichten des Kleinbürgertums 123 . Bei diesen wäre ein größerer Opportunismus zu vermuten. Der erste Weltkrieg hat, da er nicht eindeutig und radikal verloren wurde, eher zu einer Verschärfung national-patriarchalischer Einstel114

ne V 118

117 118 119 120

Vgl. Gebhardt (79), S. 2 f.; Bracher (91), S. 4 f.; Valentin (87), S. 357. g L Flitner (82), S. 88 u. Weinstock (175), S. 16. Vgl. (79), S. 4.

Vgl. Gebhardt (79), S. 4, S. 88 f., S. 91 f. u. S. 102 f. Vgl. Bracher (91), S. 6 f.; Gebhardt (79), S. 134 ff.; Seil (83), S. 157. Vgl. (87), S. 71; Lemberg (81), S. 114; Seil (83), S. 227 f.

Vgl. Wilhelm

(161), S. 245; Kerschensteiner,

Preisschrift 1901, zit. i n (161),

S. 245; Flitner (82), S. 176 ff. u. Zeidler (89), S. 60 ff.

121 Theoretisch dazu Lipset (64), S. 118 ff.; vgl. auch d. M a r x - B r i e f an Schweizer aus London v. 13.10.1868, erläutert v. Bernstein i n : Die neue Zeit, 15,1897, S. 19.2 2

128

Vgl. Schelski (93), S. 167 f. Vgl. Mills (86) u. a. S. 274 ff.; Croner (88), S. 102 u. S. 191 ff.

1. Patriarchalismus als politisches Schicksal

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lung geführt 124 — nach der verbreiteten Formel, daß die ungeheuren Opfer nicht sinnlos gewesen sein können. Über der Dolchstoßlegende formulierte sich der moderne konservative Mythos eines auf dem Schlachtfelde unbesiegten Deutschlands. Unter ihm erschien eine westlich-demokratische Entwicklung unmöglich. Unterstellt man der Wählerschaft von NSDAP, DNVP, Zentrum, BVP, DDP und auch der D V P eine mehr oder weniger ausgeprägte national-patriarchalische Einstellung, aktiviert durch ein in der Wirtschaftskrise aktiviertes, auf erfolgreiche Führung drängendes Sicherheitsverlangen, so kann man nahezu 6 0 % der Wählerschaft des Jahres 1932 als Anhänger eines nationalen Patriarchats ansehen. Dieses kam dann auch mit Hitler 1 2 5 . Die Niederlage nach dem 2. Weltkrieg war zu unmittelbar, um noch einmal uminterpretiert werden zu können. Der Nationalismus war zunächst kompromittiert. Die außerordentliche individuelle Verunsicherung mußte das Gewicht eines sachlich funktionierenden Führungsstiles verstärken 126 . Der große Taktiker Adenauer kam diesem Bedürfnis nach Sicherheit weitgehend in seinem innerhalb demokratischer Institutionen autoritären Führungsstil entgegen 127 . Hier konnten nur einige historisch-politische Hypothesen skizziert werden, die als erste Hinweise auf den möglichen historischen Mutterboden der festgestellten funktionell-patriarchalischen Einstellung dienen könnten, quasi als ein hypothetisches Modell. I m Sinne dieses hypothetischen Modells scheinen die Deutschen nach dreihundertjähriger Geschichte wieder zur gleichen Einstellung zurückgekehrt zu sein, zu einem funktionellen Patriarchalismus 128 . Der politische Führer wird nicht geliebt, aber da die politische Lage — jedenfalls nach Darstellung Adenauers — ununterbrochen ernst war und ist, bedarf man einer sachverständigen politischen Führung. 114 125

Vgl. Bracher (91), S. 16 ff. u. Pross (85), S. 248 u. 259. n. Bracher (91), S. 646.

126 Die Schwächung der nationalen Komponente i n der politischen Einstellung läßt sich u. a. an den Emnid-Erhebungen ablesen vgl. (53), S. 335 ff. 127 Vgl. v. d. Heydte (87) S. 220 u. S. 226, ein gewiß unverdächtiger Zeuge. 128 Vgl. zum Gesamtproblem dieser historischen Entwicklung von politischen Einstellungen Fritz Stern (194); Ernst Weymar (196) m i t einer Analyse von Äußerungen von Schulmännern und Geschichtspädagogen i m 19. Jahrhundert; Κ . v. Klemperer (197) m i t einer Analyse der konservativen Bewegung seit 1900 m i t deren Vorgeschichte; Bericht über eine Tagung zum Thema „Autoritarismus und Nationalismus — ein deutsches Problem?" (200); W. Bossenbrool (199) m i t allgemeiner Fragestellung ohne primäre Berücksichtigung nationaler Einstellungen; ähnlich H. Kohn (198) und P. H. Seraphim (195) einer stark ideengeschichtlich orientierten Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands.

6 Lenné

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I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

Hier soll noch ein bestimmter Aspekt näher geprüft werden. Wenn die Annahme richtig ist, daß die neuerliche Einstellungsfestigung der Deutschen nach 1945 abermals auf — nunmehr entnationalisierten — Traditionen eines funktionellen Patriarchalismus aufbaut, so muß erwartet werden, daß sich auch die oben angedeuteten Variationen der Einstellungsstruktur bei Klein- und Großbürgertum nachweisen lassen. Das ist in der Tat der Fall. Es war möglich, die Gruppe der nichtakademischen Beamten und Angestellten getrennt von der Gruppe der akademischen Beamten und Angestellten zu skalieren. Aus technischen Gründen sind in der letzten Gruppe mit etwa 10 % die Bauern und mit etwa 2 °/o Spitzenfunktionäre der Wirtschaft beteiligt. Diese relativ geringen Prozentsätze mindern den Wert der Aussage, die ja auf strengen Mittelwertbildungen beruht, kaum. Für das Folgende vergleiche man Anhang II, Skalen (6). Das item Nr. 6 (ich wünsche mir von unseren Staatsmännern und Politikern, daß sie einen starken und politisch erfolgreichen Willen haben, dem man sich getrost anvertrauen möchte) rangiert bei der großbürgerlichen Gruppe wesentlich höher |20|5|6|. Dieser Befund relativ stärkerer autoritärer Neigungen von Akademikern findet sich auch schon bei Habermas 129: etwa 6 0 % der als nur formal demokratisch und 70 % der als autoritär gekennzeichneten Studenten kommen aus Familien mit akademischen Traditionen, wesentlich mehr als dem Anteil der Studenten aus akademischen Elternhäusern an der Gesamtstudentenschaft entspricht. Dieser Befund wird auch nicht durch Lipset 180 und Emnid 181 widerlegt, die festgestellt haben, daß Zustimmung zur Existenz demokratischer Institutionen mit sozialem Rang und mit Schulbildung wächst. Denn äußere Zustimmung hat sehr oft nur Meinungscharakter und drückt insoweit eine (konformistische) Anpassung aus, deren Ausmaß — in Übereinstimmung mit der Theorie der Gruppen — mit Rang und Bildungsgrad wächst. Das schließt aber eine entgegengesetzte Einstellung mit besonderer Bedeutung für autonome Tradierung nicht aus. Das item Nr. 3 (ich wünsche mir von unseren Staatsmännern und Politikern, daß sie vordringlich unsere wirtschaftliche Zufriedenheit anstreben), wird dagegen von der kleinbürgerlichen Gruppe merklich höher angesetzt 13312012 J. Andererseits schätzen großbürgerliche, also vornehmlich akademische Kreise ihren Wunsch, den Politiker bewundert zu sehen (item Nr. 9), höher ein als die nichtakademischen Beamten und Angestellten j 50133121. Eine schwache Tendenz zeigt sich noch darin, daß Respekt vor Gesetz und Gerechtigkeit seitens der nichtakademischen Angestellten und Beamten als wichtiger eingeschätzt wird " · (4), S. 196. 180 (69), S. 107. 181 (53).

1. Patriarchalismus als politisches Schicksal

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wie seitens der akademischen Schichten J 50 ] 33111. Auch dieser Zug ist für die soziale Situation beider Schichten in Bezug auf ihre Teilhabe bzw. Nichtteilhabe am Patriarchat charakteristisch und war zu erwarten (siehe S. 80). Bedenkt man, daß nach 1918 und insbesondere nach 1945 stärker als je zuvor sich die sozialen Über-Unterordnungsbeziehungen anonymisiert haben, daß auch die für Einstellungsvariationen wirksame Zeitspanne von kaum 17 Jahren äußerst kurz ist und selbst die 38 Jahre seit 1918 dafür noch sehr kurz erscheinen und daß endlich die einstellungsrelevanten Verunsicherungen unter Hitler und nach dem Krieg außerordentlich allgemein und schichtunspezifisch waren, so bleibt nur die Annahme übrig, daß die hier empirisch ermittelten Einstellungsverschiedenheiten zwischen akademischen und nichtakademischen Angestellten und Beamten nicht auf die Zeitgeschichte reduziert werden können, sondern bereits tradiert sind. Dafür spricht auch, daß sich die Unterschiede auf politische Momente beziehen, die in der äußeren politischen Struktur nach 1945 kaum expliziten Ausdruck finden konnten. Dagegen genügen die gefundenen Unterschiede genau den sozialen Bedingungen des Deutschland vor 1918. Wenn aber bezüglich dieser speziellen Einstellungsunterschiede die Tradition durchschlägt, so muß angenommen werden, daß in der Einstellung des funktionellen Patriarchalismus, wie sie in den empirischen Ergebnissen sich ausweist, überhaupt weitgehend traditionelle Bestände weitergeführt bzw. wieder aufgenommen worden sind.

2. Patriarchalische Jugend in der industriellen Gesellschaft a) Einstellung und Haltung

Die bisherigen Betrachtungen hatten den Befund untersucht, daß Oberschüler und ihre Eltern eine durchgehende Grundstruktur in ihrer Einstellung gegenüber politischer Führung aufweisen. Diese Struktur war als funktioneller Patriarchalismus bezeichnet worden, weil in ihr politische Führung primär unter dem Gesichtspunkt des politischen Risikos beurteilt wird, das der politische Führer erfolgreich abzudecken habe. Demgegenüber werden eigentliche autoritative Bindung (mit Vertrauen, Bewunderung oder gar Liebe zum politischen Führer), aber auch demokratische Kontrolle des politischen Führers als potentielle Quelle politischer Risiken als zweitrangig eingestuft. Der politische Führer wird vor allem danach beurteilt, ob er funktioniert im Sinne der persönlichen Sicherung der Geführten. Aber durch die Erwartung, daß er qualifiziert funktioniere, wird seine autoritäre Stellung bereits gerechtfertigt. Es wurde die Hypothese angedeutet, daß diese Einstellung — unter weitgehender Vernachlässigung aller einzelgeschichtlichen Abwandlungen — die ganze neuere deutsche Geschichte kennzeichnet, wobei die Funktionalität des Patriarchats rund anderthalb Jahrhunderte lang statt auf die individuelle Sicherheit zunehmend auf die Kollektividee der „Nation" gerichtet war. Nach der vollkommenen Pervertierung dieser Entwicklung durch Hitler zeigen die empirischen Ergebnisse, daß die heutigen Deutschen zumindest innerhalb der Beamtenund Angestelltenschaft (also innerhalb des Bürgertums) wieder die Grundeinstellung des funktionellen Patriarchalismus aufgenommen haben. Diese Einstellung findet sich aber nicht nur bei den Erwachsenen, sondern auch bei den Jugendlichen der höheren Schule1. Darin erweist sich nicht nur, daß elementare Einstellungen sich autonom und daher mit kaum zu überschätzender Beharrlichkeit weiter tradieren, sondern es erhebt sich die Frage, in welche Beziehung sich die Jugendlichen mit ihrer funktionell-patriarchalischen Grundeinstellung zur gegenwärti1 Dabei ist nicht wichtig, daß Jugendliche möglicherweise ein unsicheres u n d wenig gut begründbares U r t e i l haben; wichtig ist n u r die f u n k t i o n e l l patriarchalische Tendenz dieses politischen Urteils, die sich nicht als Ausdruck von altersgebundenen Vorstellungen verstehen läßt.

2. Patriarchalische Jugend i n der industriellen G e s e l l s c h a f t 8 5

gen industriellen Gesellschaft setzen. Dabei ergibt sich zunächst eine wesentliche Einschränkung der Fragestellung dadurch, daß nur Oberschüler und Oberschülerinnen in die Skalierung aufgenommen wurden. Andererseits darf dieser Gruppe von Jugendlichen eine besondere soziale Bedeutung zugemessen werden, weil sie fast alle mittleren und oberen Führungsstellungen in absehbarer Zeit besetzen wird. Weiterhin muß schon hier auf gewisse Differenzierungen hingewiesen werden. Der Gesamtdurchschnitt der Einstellungsskalen aller Jugendlichen zeigt zwar eine sehr weitgehende Übereinstimmung mit der Elternskala. Auch die Skalen der Einzelgruppen bieten durchweg die gleiche Grundstruktur eines funktionellen Patriarchalismus, aber es treten doch deutliche Akzentverschiebungen einzelner items auf. So darf der Einzeluntersuchung schon vorweg genommen werden, daß die demokratische Komponente der politischen Einstellung insbesondere bei Oberprimanern merklich stärker ausgeprägt ist als bei den Erwachsenen, insbesondere bei den erwachsenen Akademikern. Von einer grundsätzlichen Abkehr von der funktionell-patriarchalischen Grundstruktur kann indessen auch bei optimistischer Auslegung nicht gesprochen werden. Dies ist um so weniger möglich, als die relative Verstärkung demokratischer Einstellungsmomente wahrscheinlich teilweise sicher eine Folge des Alters und der schulischen Situation ist. Nach langer schulischer Abhängigkeit, deren Formen nicht immer sachlich berechtigt erscheinen, entstehen zwangsläufig verstärkte Unabhängigkeitsbedürfnisse, die aber später durchaus wieder opportunistischen Praktiken des Berufslebens unterliegen können. Die grundlegende Frage bezüglich des Verhältnisses zwischen einer funktionell-patriarchalisch eingestellten Jugend und industrieller Gesellschaft läßt sich nun mehr verschärfen. I n welchen Momenten der gegenwärtigen Gesellschaft begünstigt die — durchschnittliche — Einstellung der auf mittlere und obere Führungspositionen hin ausgebildeten Jugend soziale Wandlungen bzw. soziale Verfestigungen? Wenn dabei Einstellung in ihrem Durchschnittscharakter betont wird, so hat dies zwei Gründe. Einmal wird angenommen, daß sich innerhalb der relativ breiten Schicht der mittleren Führung für die Beurteilung von Einstellungswirkungen die extremen Einstellungen gegeneinander aufheben lassen, daß sich also soziale Motivationswirkungen ebenso weitgehend in erster Näherung summativ verstehen lassen wie individuelle Motivationswirkungen (auf deren Summativität oder Additivität methodisch und inhaltlich die gegenwärtige Individualpsychologie weitgehend aufbaut, ohne im übrigen in Sonderfällen multiplikative Erscheinungen auszuschließen). Der andere Grund ist, daß die Heraushebung etwa extremer Einstellungen durch eine bereits vorgegebene soziale Führungsposition erst in Bezug auf eigentliche Spitzenpositio-

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I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

nen bedeutsam wird und diese ohnehin einer besonderen Betrachtung bedürfen. Eine weitere Überlegung muß mit dem Problem verknüpft werden, ob und wieweit Einstellungen einen unmittelbaren Einfluß auf politisches Handeln haben. So zeigen bei Eltern wie bei Jugendlichen die items Nr. 7, 8 und 9, in denen der Wunsch ausgesprochen wird, daß Politiker und Staatsmänner überzeugend und freundlich reden sowie Sympathie und Bewunderung erwecken können, durchweg vergleichsweise sehr niedrige Skalenwerte (signifikant niedriger als die Werte aller anderen items). Vergleicht man mit dieser niedrigen Bewertung der drei auf Identifikationsbedürfnisse zielenden items die politische Wirklichkeit in Deutschland vor und auch nach 1945, so scheint hier ein direkter Widerspruch vorzuliegen. Denn ihrem politischen Verhalten nach scheinen die Deutschen auf die drei genannten Eigenschaften in besonders hohem Maße anzusprechen. Widersprüche dieser Art werden im Rahmen allgemeiner gruppentheoretischer Gesichtspunkte noch im einzelnen analysiert werden. Hier begründet dieser scheinbare Widerspruch zunächst die Vorsicht, mit der das Verhältnis von Einstellung zu sozialem Verhalten betrachtet werden muß. Bei näherer Untersuchung ergeben sich zwischen der Einstellung einerseits und dem widersprüchlichen sozialen Verhalten andererseits vereinfacht drei Ebenen, in denen die Widersprüchlichkeit sich auflösen kann. Einmal ist eine Mehrdeutigkeit im Bereich der Einstellungen selbst möglich: der tatsächlichen Bewertung, wie sie im Skalenrang zu Tage tritt, steht eine kompensatorische, nur auf das reale Verhalten hin bestimmte Verhaltensdisposition gegenüber. „Ideal" und „Wirklichkeit" sind bereits innerhalb der Einstellungen deutlich getrennt: in der Wirklichkeit beherrscht Opportunismus das Handeln und täuscht so eine Einstellung vor, die nicht besteht. I m Begriff des funktionellen Patriarchalismus findet diese Interpretation einen nachdrücklichen Niederschlag: die Bindung an die Autorität des Patriarchen ist vorwiegend negativer Natur, nur auf die Unsicherheit der Geführten gegenüber den — tatsächlichen oder vermeintlichen — objektiven Risiken und Zuständigkeiten begründet. Es besteht insoweit keine Liebe zum Patriarchen und kein inneres Bedürfnis danach, daß er Sympathien und dergleichen ausstrahle. Dagegen erzwingt das gleiche hypertrophe Risikodenken gegenüber dem Patriarchen selbst eine opportunistische Verhaltensweise. Ebendies war zu Anfang bei der Gesamtinterpretation der Einstellungsskala von Eltern und Jugendlichen im einzelnen dargetan und als Ambivalenz der politischen Einstellung gekennzeichnet worden. Die Widersprüchlichkeit kann sich aber auch auf der Ebene der Verhaltenskontrolle auflösen. Der Opportunismus muß nicht notwendig in

2. Patriarchalische Jugend i n der industriellen G e s e l l s c h a f t 8 7

der Einstellung begründet sein, sondern kann symptomatisch als Ergebnis einer situativen sozialen Überwältigung auftreten (ζ. B. Begeisterung durch Kriegserfolge). I n diesem Falle versagt die reflektorische Kontrolle des tatsächlichen Handelns anhand der an sich vertretenen normativen Einstellungen. Ohne Zweifel haben ζ. B. die Deutschen im Durchschnitt zur Rhetorik ein sehr viel weniger klares und reflektiertes Verhältnis als etwa die romanischen Völker. So erklärt sich zumindest teilweise, daß rednerische Qualitäten von Politikern (item Nr. 7) einerseits relativ sehr niedrig eingestuft werden, und zugleich, daß man ihnen dort, wo sie praktisch auftreten, besonders leicht und unkontrolliert verfällt. I n entsprechender Weise darf auch mangelnde politische Selbstkontrolle in Bezug auf item Nr. 8 und 9 („Politiker mögen Sympathie und Bewunderung erwecken") neben anderen Momenten unterstellt werden. Schließlich kann der scheinbare Widerspruch zwischen Einstellung und realem Verhalten (bei den items 7, 8 und 9) sich auch noch auf der Ebene der realen sozialen Mechanismen auflösen. Es ist denkbar, daß die Verkettung der tatsächlichen sozialen Aktionen trotz anderer Einstellung und trotz funktionierender Kontrollen solche Eigenschaften wie die in den items 7, 8 und 9 ausgedrückten hochspielt. Jedoch wird die gruppentheoretische Analyse zeigen, daß dieser Gesichtspunkt nur in einem engen Sinne wichtig werden kann. Daher müssen Einstellungszwiespältigkeiten und mangelnde Selbstkontrolle (mangelndes politisches Bewußtsein) als Hauptgründe des hier untersuchten Widerspruches zwischen festgestellter Einstellung und tatsächlichem Handeln angesehen werden. Beide Momente widersprechen sich aber nicht, sondern verstärken sich sogar im Rahmen eines grundsätzlich akzeptierten Patriarchalismus.

b) Opportunismus als Äußerungsweise patriarchalischer Einstellung

I n Hinblick auf die im letzten Beispiel dargestellte Kompliziertheit des Verhältnisses von normativer Einstellung zu tatsächlichem Verhalten soll zunächst das situative Umfeld der normativen Einstellung der Jugendlichen in der industriellen Gesellschaft in Deutschland gekennzeichnet werden. Dabei sind vorweg einige wichtige sozialpsychologische Folgen der industriellen Struktur zu nennen. Die steigende Versorgung der Bevölkerung mit Gegenständen und die wachsende individuelle Verfügbarkeit — vor allem von Sachen ohne unmittelbare Bedeutung für soziale Kontakte — bewirken, daß anhand der sich vergrößernden Zahl von „Sachgut-Entscheidungen" sich das eigene „Ich" als Träger von „Sachgut-Entscheidungen" immer leichter

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herausabstrahiert 2. Das sachbezogene „Ichbewußtsein" wächst, aber völlig isoliert. Diesen Gedanken hat Gehlen 8 unter verschiedenen Aspekten näher begründet. Da die bedeutsamen sozialen Kontakte sich nicht ebenso mitvermehren wie die käuflichen Sachgüter 4, bleibt das sozial orientierte Ichbewußtsein zurück, und zwar sowohl in Bezug auf soziale Verpflichtungen — ein von konservativer Seite betonter Aspekt — wie auch in Bezug auf soziale Kritik, also politische Wachheit — ein von der politischen Linken hervorgehobener gesellschaftskritischer Gesichtspunkt. Dieser hochgradige Egozentrismus zeigt sich u. a. in folgendem Befragungsergebnis. Nur 15 °/o jugendlicher Wünsche betrifft allgemeine soziale Aspekte5. Ähnliches ergibt sich in Bezug auf die „schlimmsten Befürchtungen". 62°/o aller Jugendlichen sind politisch uninteressiert®. Selbst die Familie wird zur Verbrauchergemeinschaft und das Kind zum reinen Kostenfaktor 7. Für die Einstellungssituation der hier untersuchten Jugend folgt daraus, daß der tradierte Patriarchalismus als Grundlage politischer Einstellung in Hinblick auf die wachsenden individuellen Sachgüter-Bedürfnisse und die damit verbundenen Frustrations-Risiken eher gefestigt, gewiß aber nicht in Frage gestellt wird 8 . Andererseits wird die Kontrolle der jeweils herrschenden „politischen Patriarchen" anhand ihrer Funktionsfähigkeit (bezüglich der individuellen Zielsetzungen), also der funktionelle Charakter des Patriarchalismus verstärkt. Die Schwächung des auf die soziale Makrostruktur bezogenen Bewußtseins einseitig zugunsten eines individuellen wird aber auch von der Seite der Berufstätigkeit und des mit ihr verknüpften Gewinnes an Prestige bedingt. Die Spezialisierung auf allen Ebenen zerlegt berufsständische Verbindungen und die mit ihnen verknüpften sozialen Prestige-Garantien immer mehr in reine Zweckverbände großer Reichweite mit wenigen, aber hochgradig prestige-geladenen Positionen einerseits und in isolierte kleine Inseln informeller Berufs- und 2 8

Vgl. Heintz (97), S.190f.

(92), bes. S. 58 ff. u. S. 109. I m Sinne Tenbrucks (191), insb. S. 94 ff. ist hier an einen A b b a u tiefgehend Einstellungs-prägender sozialer E i n w i r k u n g zugunsten diffuser, unspezifischer u n d unverbindlicher K o n t a k t e besonders m i t Gleichaltrigen gedacht. 4

5

β 7

Emnid (53), S. 282. Emnid (53), S. 290 u. S. 294. Schmucker (99), S. 137.

8 Dem widerspricht nicht die These Tenbrucks von Jugend als autonomer Sozialisierungsphase (191), u. a. S. 89 ff, denn die v o n Tenbruck selbst betonte U nVerbindlichkeit u n d Erwachsenen-Perspektive dieser „Selbstsozialisierung" verleiht den i n den Phasen vorher internalisierten Einstellungen u m so größeres Gewicht, w e n n i n den „Ernst-Situationen" von Beruf usw. später v e r bindliche Entscheidungen abgefordert werden, vgl. (191), S. 88 ff. u. S. 97. Vgl. i. d. Sinne auch Erikson (202), insb. S. 300 ff.

2. Patriarchalische Jugend i n der industriellen Gesellschaft

89

Wohnbekanntschaften andererseits 9. I n der Formulierung von 10 Kluth würde zu sagen sein, daß Sozialprestige als Positionsäquivalent innerhalb jeweils einer relativ fixierten (etwa ständischen) Hierarchie durch die moderne „Überdehnung der Distanzen" 11 abgebaut und durch „Individual-Prestige" ersetzt wird. Ob dabei, wie Kluth 12 meint, die Chance der inneren Stabilisierung der Industriegesellschaft abnimmt, scheint fraglich, wenn man die — historisch nie zuvor realisierte — Ordnungs- und Stabilisierungsfunktion des objektiven industriellen Apparates hinreichend berücksichtigt zusammen mit der — in manchen Kulturen durchaus verwirklichten — Möglichkeit voller subjektiver Befriedigung innerhalb kleiner sozialer Umgebungen. Deren Bedeutung spiegelt sich auch in der Wahl von Vorbildern durch Schüler: 70 °/o der gewählten Vorbilder stammen aus dem Verwandtenund Bekanntenkreis 18 . Eben diese kleinen sozialen Umgebungen mit ihren verschiedenen Primär-Gruppen bleiben für die meisten eine wirksame, wenn auch die einzige Plattform, Prestige geltend zu machen bzw. fortlaufend sich bestätigen zu lassen14. In diesem Sinne läßt sich auch der rapide Anstieg der Zahl der Frühehen 15 deuten als schnellstmögliche Sicherstellung einer Mindestprestige-Garantie durch Fixierung in einer Intim-Gruppe innerhalb einer sozialen Makrostruktur, die solche Mindest-Garantien verweigert 16 . Insbesondere die Berufstätigkeit verliert als allgemein gewußtes soziales Muster ihre generelle Funktion der Prestige-Zuteilung bzw. „IchBestätigung", denn ihre Spezialisierung entzieht sie der Beurteilung durch einen weiteren Personenkreis und der ständischen, in wachsendem Maße auch der klassenmäßigen Ideologisierung. So ist ζ. B. die Sicherheit der Einstufung von Berufen nach ihrem Sozialrang nur noch gering 17 . Als Beweis der weitgetriebenen Spezialisierung der Berufe darf auch angesehen werden, daß aus 100 Urberufen etwa 2600 Lehrund Anlernberufe mit etwa 25 000 Berufsbenennungen geworden sind 18 . 9

Vgl. Schelsky (145), S. 37 sowie auf Jugend als S u b k u l t u r bezogen Tenbruck (191). 10 (112), bes. S. 99. 11 (112), S. 72. 12 (112), S. 93 ff. 13

14

Emnid (53), S. 158. Entsprechend Gehlen (92), S. 73 f., Brown (181), insb. S. 144 und Heintz (97),

S. 184. 15

18 17 18

Beer (173), S. 55. Vgl. Beer (173), S. 30. J. Hall und D. C. Jones (94) u. Lehmann (95). Betriebspsychol. (134), S. 89.

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I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

Es bleibt mithin als allgemeinverständliches berufliches Prestigemuster nur noch der berufliche Aufstieg als solcher, die Karriere. Unter Karriere wird dabei fortan Aufstieg im Hauptberuf verstanden, gleich in welcher Berufsgruppe. Karriere im beamtenrechtlichen Sinne wird jeweils gesondert gekennzeichnet. Die soziale Prestigefunktion der Karriere als solcher, die auch Kluth 19 und Fürstenberg 20 stark betonen, wird verstärkt durch den Schwund des Arbeitsobjekt-Interesses, also der Entfremdung kraft Arbeitsteilung, die Marx als erster nachdrücklich registriert hat 2 1 . Die so gesteigerte Prestige-Bedeutung der Karriere schlägt sich in den elterlichen Entscheidungen über die Schulbildung nieder, die in immer weiteren Schichten hochgradig in Hinblick auf Karriere-Möglichkeit gefällt werden — allerdings den traditionellen Strukturen entsprechend am wenigsten noch bei den Arbeitern 22 . Die Einengung der Prestige-Basis auf relativ kleine Berufs- und Wohnbekanntschaften hatte noch eine weitere gravierende Folge: die Gegenstände und Verhältnisse des alltäglichen Umgangs, die vor allem anderen einen Menschen innerhalb seiner Berufs- und Wohnbekanntschaften kennzeichnen, werden selbst zur zweiten Hauptquelle des Prestiges neben der Karriere: der Konsum wird grundsätzlich zu einer Prestigefrage. So wird die „conspicious consumption", mit der Th. Vehlen in der „Theorie der feinen Leute" 25 die Oberschicht charakterisiert hat, zum allgemeinen Kennzeichen der Industriegesellschaft überhaupt 24 . Eine empirisch-bevölkerungssoziologische Begründung von Karriere und Konsum als individuelle Prestige-Quellen in der Industriegesellschaft gibt anhand des Begriffes der Aufwandsnorm G. Mackenroth 25. Zugleich erreichen durch Spezialisierung und vielfach sich überkreuzende Verbandsbildungen wirtschaftliche und politische Strukturen ein Maß von Kompliziertheit, das von den meisten Menschen auch bei bestem Willen nur in grober Annäherung bewältigt werden kann. Die darin liegende permanente Frustration führt zu einer verstärkten Hinwendung auf den privaten Kreis der Berufs- und Wohnbekanntschaften und auch oft zu einer bloß ideologischen Rationalisierung des Gesellschaftsbildes 2·. 19

(112), S. 63 u n d 81. (96), S. 28. 21 Ausführlich f ü r die gegenwärtigen Verhältnisse Friedmann S. 159. 22 Kob (111), insbes. S. 56 m i t empirischen Ergebnissen. 23 deutsch, K ö l n 1958. 20

24

2δ 28

(100), insb.

Vgl. Kluth (112), S. 37 f. (93), S. 83 ff.; vgl. Schmucker (99), S. 138 und Zahn (102), S. 88 ff. Vgl. Heintz (103), S. 189 f.

2. Patriarchalische Jugend i n der industriellen G e s e l l s c h a f t 9 1

Funktionell-patriarchalische Einstellung hat innerhalb dieser industriellen Gesamtsituation des Individuums eine doppelte Auswirkung. Einmal verzögert sich die allgemeine Einsicht, daß die soziale Makrostruktur sich in wachsendem Maße einer emotionalen Beurteilungs- und Anpassungsweise entzieht und daher je nach individuellem Bedarf, der zumindest bezüglich allgemeiner Lebensbedingungen (etwa der Grundrechte) immer besteht, rational beurteilt und beeinflußt werden muß. Statt dieses notwendigen rein rationalen Verhältnisses des Individuums zu einem Apparat, der zunehmend durch Emotionen nur noch gestört werden kann, gibt funktionell-patriarchalische Einstellung regressive Anweisungen sehr allgemeiner Art, macht dadurch das Individuum gegenüber dem vollkommen rationalen Verhalten des Apparats zu einem durchschaubaren Objekt politischer Manipulation und hindert darüber hinaus das Individuum noch daran, sich dieser seiner einseitig geschwächten Situation bewußt zu werden 27 . Gegenüber dem rationalen Politiker, den die Emotionen der Wähler allein in Bezug auf Wahlstrategie interessieren, hilft nur ein rationaler Wähler, den am Politiker wesentlich auch dessen persönliche Emotionen und verhüllte Privatinteressen am politischen Beruf — kritisch — interessieren. Funktionell-patriarchalische Einstellung als Zuständigkeits-Übertragung „apriori" fixiert hingegen die Schwäche der Aktionsweise des Individuums gegenüber der vollkommen rationalen Aktionsweise des makrosoziologischen Apparates. Die zweite Auswirkung funktionell-patriarchalischer Einstellung bezieht sich auf die kurzen sozialen Distanzen. Der hohen Prestige-Geladenheit von Karriere und Konsum entspricht eine gespannte individuelle Zwecksetzung in Richtung auf Berufsaufstieg und Konsumsteigerung. Funktionell-patriarchalische Einstellung mit ihrem auf den Vorgesetzten bezogenen Risikodenken wird dabei den Vorgesetzten (als Persönlichkeit) und die persönliche Unterordnung unter ihn als Bedingung des Erfolgs erscheinen lassen anstelle reiner Leistung und offenen Interessenausgleichs. Indem aus dem Vorgesetzten statt einer vorwiegend sachlichen Erfolgsbedingung eine vorwiegend persönliche wird, erzeugt funktionell-patriarchalische Einstellung Opportunismus. Die opportunistische Unterwerfung ist dabei das Ergebnis einer auf die Person des Vorgesetzten angewendeten Risikorechnung. Auf kurzen sozialen Distanzen bewirkt daher funktioneller Patriarchalismus genau das Umgekehrte wie auf langen. Die persönlichen emotionalen Beziehungen entarten unter dem Druck eines durch berufliche und konsumtive Prestige-Wünsche aktivierten patriarchalischen Risikodenkens in wechselseitige Manipulation. 87

Vgl. hierzu insbes. Stammer

i n (188), S. 51 ff.

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I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

So gewinnt unter den beschriebenen Auswirkungen der industriellen Gesellschaftsstruktur dieser Opportunismus einen hohen Grad von Bewußtheit: er wird bewußt als ein Mittel des Erfolgs gesehen und gebraucht, und zwar auf allen Ebenen. Dieser „funktionelle Opportunismus" hat eine spezifische Kehrseite, eine positive oder auch zuweilen sehr negative Großzügigkeit gegenüber Mitarbeitern und Vorgesetzten überall dort, wo man keine persönlichen Risiken vermutet. Diese Form des Realismus und der vergleichsweise prinzipienlosen Anpassung an gegebene Verhältnisse mit optimalem Nutzeffekt für die individuellen Interessen wird an dieser Stelle theoretisch aus der festgestellten Einstellung gegenüber politischer Führung und den Bedingungen industrieller Gesellschaft hergeleitet. Zahlreiche Untersuchungen bestätigen aber in verschiedenen Richtungen diese hier gefolgerte praktische Einstellung der Jugendlichen anhand spezieller empirischer Ergebnisse. So diagnostiziert W. Roessler 29 den Beginn derartiger Einstellungswandlungen schon für die Zeit nach dem 1. Weltkrieg und kennzeichnet die Jugend heute mit Nüchternheit, ahistorischem und ideologiefreiem Denken, Mangel an Oppositionslust, Zweckdenken, aber auch mit Unfähigkeit, der Überwältigung durch Ideologien zu entgehen. R. Münster 29 belegt die starke Absorbtion der Jugend durch Konsumvorstellungen. Insbesondere hat Schelsky den Begriff der „skeptischen Generation" 80 geprägt, in dem die gleichen Momente, allerdings mit einem deutlich optimistischen Akzent, erfaßt werden 31 . Die Erscheinungen, die er beschreibt und die weitgehend mit den hier theoretisch erschlossenen Charakteristiken zusammenfallen, könnten mit eben der gleichen Berechtigung als Desinteresse an Reflexion insbesondere der eigenen normativen Voraussetzungen interpretiert werden. Schelsky betont selbst den „Hang zur Konkretisierung" 82 . Normative Voraussetzungen sind natürlich zwangsläufig vorhanden, ζ. B. in der hier empirisch festgestellten Einstellungsstruktur gegenüber politischer Führung; sie sind da, auch wenn kein Jugendlicher darüber spricht oder darüber sprechen will oder kann. Die Wirklichkeit der technischen Zivilisation gewinnt hier kraft der oben näher analysierten Mechanismen und auch kraft unmittelbarer Faszination die Bedeutung einer Verdeckungsideologie. Dieser Charakter als Verdeckungsideologie ist um so fragwürdiger, als eben keine echte Ideologie vorliegt, also keine verbale Rationalisierung, die einer kritischen Analyse direkt zugänglich wäre. Stattdessen tritt ein Wirklichkeitstypus auf, dessen Komple28 29

(104), S. 243 ff. (39), vgl. auch die grundlegenden Feststellungen Tenbrucks

so (44). 31 32

(44), bes. S. 89 ff. (44), S. 89.

(191).

2. Patriarchalische Jugend i n der industriellen Gesellschaft

93

xität einerseits, dessen empirischer Anspruch andererseits die ideologische Funktion besonders schwer durchschaubar macht 83 . Wenn das hier vorgelegte Zwischenresultat der Analyse richtig ist und angeblich die Jugendlichen gegenüber sozialen Führern, von denen sie persönlich abhängig sind, einen aus tradiertem funktionellem Patriarchalismus und aus den sozialen Bedingungen des Industriezeitalters begründeten oft sehr bewußten Opportunismus entwickeln, dann darf dies auch ihrer Einstellung gegenüber Klassenlehrern (und Schule) nicht widersprechen, da hier hochgradige persönliche Abhängigkeit besteht. So muß zunächst erwartet werden, daß auch in der Einstellung gegenüber Klassenlehrern (und insoweit Schule) die Grundstruktur des funktionellen Patriarchalismus deutlich erkennbar bleibt. Für die Eltern besonders der Oberschüler gilt dies nachweislich, da sie einerseits den Oberschulweg für ihre Kinder weitgehend zweckrational unter dem Aspekt der Karriere wählen, andererseits aber die Oberschule auch in zweckirrationalen, nur traditionellen Normen und Ansprüchen nahezu widerstandslos akzeptieren 84 . Es kann dabei unterstellt werden, daß diese Haltung der Eltern in Wechselwirkung zur Einstellung der Oberschüler steht und insoweit deren Einstellung wiedergibt. Die empirisch festgestellte Einstellungsstruktur der Oberschüler selbst widerspricht dem nicht 85 . Die beiden Spitzenitems der Einstellungen gegenüber Staatsmännern und Politikern besetzen in der Einstellung gegenüber Lehrern über alle Schülergruppen gemittelt immer noch den zweiten und dritten Platz, wobei sie unter sich nahezu gleichrangig geworden sind (es geht in ihnen um Entscheidungsfähigkeit in kritischen Augenblicken des Schullebens sowie um Klugheit und Erfahrung im Unterricht). Die hohe Bewertung der Entscheidungsfähigkeit in kritischen Augenblicken ist dabei angesichts des geringen faktischen Gewichts von kritischen Augenblicken in der Schule besonders bezeichnend. Auch· die items Nr. 12 (Gesetzestreue und persönliche Gerechtig33 Vgl. Horkheimer u. Adorno (101), S. 11 u. S. 57. Die politischen Risiken einer solchen unartikulierten Verdeckungsideologie — einer i n Pragmatismus von Konsumverlangen pervertierten Fortschrittsgläubigkeit — werden n u r zu leicht unterschätzt, w e i l sie historisch neu sind. Nicht einer Revolution, w o h l aber schleichender „vornehmer" Machtusurpation werden hier größte Chancen geboten. 34 Kob (111), S. 74 ff. 35 A n dieser Stelle werde nochmals angemerkt, daß alle Überlegungen zumindest f ü r Oberschüler, also f ü r die Aspiranten auf soziale Führungsrollen, gelten. E i n Vergleich m i t Jugendlichen anderer Kategorien wäre zwar sehr wünschenswert, könnte aber i n diesem Zusammenhang keine wesentlichen Verschiebungen i n der Interpretation bewirken.

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I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

keit), Nr. 6 (Besitz eines starken Willens, dem man sich anvertrauen möchte), Nr. 8 (Fähigkeit, Sympathie zu erwecken) und Nr. 9 (Fähigkeit, Hochachtung und Bewunderung zu erregen) verändern gegenüber der Skala politischer Einstellungen kaum ihren Platz im mittleren bzw. (Nr. 8 und 9) im unteren Drittel. I m Sinne des behaupteten größeren Opportunismus im Rahmen persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse muß dagegen erwartet werden, daß alle Lehrereigenschaften sachlicher wie persönlicher Art, die sich auf die individuellen Zwecke des Schülers beziehen, eine Anhebung erfahren. Das ist der Fall. Insbesondere das item Nr. 5, das menschliche Beachtung speziell auch der schulisch Schwachen, also eine Art sozialer Fürsorge fordert, ist an die Spitze gerückt, und zwar auch in Mittelstufe und Jungen-Oberstufe, nicht nur in der Mittelwert-Skala aller Schülergruppen. Das item Nr. 3, befriedigenden schulischen Erfolg betreffend, hat sich im Vergleich zur politischen Einstellungsskala signifikant nach vorn verschoben, ohne jedoch in die Spitzengruppe einzurücken. Auch das item Nr. 7 (die Fähigkeit, überzeugend und freundlich reden zu können) hat sich signifikant nach vorn verlagert und gehört als Schlußlicht der Mittelgruppe an. I n diesen relativen Verschiebungen zwischen der Einstellung gegenüber Politikern einerseits, Klassenlehrern andererseits zeigt sich offenbar der gesteigerte individuelle Anspruch im Falle persönlicher Abhängigkeit, der aber keineswegs mit einer gesteigerten persönlichen Bindungsbereitschaft verknüpft zu sein scheint. Denn im Gegenteil sind jene items, die starke Distanzierung, aber auch demokratische Tendenzen beinhalten, gleichfalls signifikant in Richtung auf größere Wichtigkeit verschoben, also Nr. 10 (daß nicht von oben herab angeordnet werde) und Nr. 11 (daß auch offene Kritik ertragen werde). Einen unmittelbaren Ausdruck kann Opportunismus in den gegebenen Skalen kaum finden, denn er stellt stets gegenüber den „theoretisch" oder „ideell" vertretenen normativen Einstellungen, wie sie hier empirisch erfaßt sind, eine teilweise antagonistische, in jedem Falle aber auf praktisches Handeln bezogene Verhaltensdisposition dar. Doch selbst eine sehr vorsichtige Interpretation der relativen Strukturverschiebungen zwischen Einstellung gegenüber Politikern und gegenüber Klassenlehrern wird feststellen müssen, daß diese Strukturverschiebungen einem höheren Grad von Opportunismus im Falle persönlicher Abhängigkeit in keiner Weise widersprechen. Wieweit im übrigen in diese Strukturverschiebungen die spezielle soziale Situation der Schule eingeht, wird später besonders anhand der Klassenstufen- und Geschlechtsdifferenzierung zu prüfen sein. Insgesamt zeigt außerdem die erhebliche Höherrangierung von „Kritikbereitschaft" und „Nichtautoritärem Gebaren" innerhalb der Einstellungsstruktur gegenüber Klassenlehrern, daß zumindest in der Schulsituation der herrschende

2. Patriarchalische Jugend i n der industriellen G e s e l l s c h a f t 9 5

Opportunismus einen hohen Grad von Bewußtheit haben muß 38 . Denn opportunistisches Handeln enthält in vielen Fällen Akte berechneter persönlicher Unterwerfung, die insoweit Existenz von Autorität unterstellen, die weder vom jeweiligen Vorgesetzten selbst immer beansprucht wird, noch auch vom Geführten seiner normativen Einstellung nach anerkannt werden kann. Wird insbesondere von Schülern ausdrücklich die Fähigkeit, Kritik zu ertragen und autoritäre Gesten zu unterlassen, sehr wichtig genommen, so muß demgegenüber die opportunistische Unterstellung einer faktisch autoritären Situation mit großer Wahrscheinlichkeit bewußt werden. Dieses Bewußtsein aber relativiert autoritäre Reste, soweit sie vorhanden sind, indem es sie bloß zweckrational betrachtet, relativiert damit den Opportunismus und endlich auch patriarchalische Normen im Untergebenen selbst. Mit dem Wachsen dieses Bewußtseins wächst daher die Wahrscheinlichkeit, antidemokratische Einstellungen aufzulösen, allerdings ohne damit notwendig positiv-demokratische Normen als Einstellung zu verinnerlichen. Die praktische Erfahrung des Verfassers als Lehrer an der Höheren Schule bestätigt diesen Vorgang im vollen Maß. Das Bewußtsein opportunistischen Verhaltens wird in vielen Fällen ein zweiseitiges, auch vom Lehrer geteiltes und sogar — innerhalb gewisser Grenzen — bejahtes. Die offene Bejahung dieses Opportunismus ist zugleich eine fruchtbare pädagogische Methode, unsachliche Momente zu reduzieren und die sachlichen Unterrichtsansprüche mit einer seitens der Schüler nicht mehr falsch interpretierbaren Härte durchzusetzen. I n extremen Fällen kann der Lehrer auf diesem Wege seinerseits die opportunistische Aufhebung seines Patriarchats überspielen und den durch Tradition wie vielleicht auch durch das Jugendalter angelegten Patriarchalismus der Schüler in Richtung auf emotionale autoritäre Bindung aktivieren. Der Lehrer inszeniert gleichsam „Perikleische Demokratie". c) Industrie als sozialer Rahmen von latentem jugendlichem Patriarchalismus

Eine Interpretation der Beziehungen zwischen einer patriarchalisch eingestellten Jugend und der sie umgebenden Gesellschaft muß notwendig bestimmte, diese Gesellschaft dominant charakterisierende Tendenzen herausarbeiten. Denn nur an Tendenzen, an den möglichen Veränderungen der Gesellschaftsstruktur kann man abschätzen, in welcher Weise sich potentielle, grundsätzlich erst zukünftig wirksame Momente wie die Einstellung der Jugend sozial auswirken. Die Voraus88 Dieser bewußte Opportunismus k a n n w o h l k a u m anhand eines speziell konstruierten empirischen Instruments nachgewiesen werden, w o h l aber spiegelt er sich i n der praktischen Erfahrung vieler Lehrer (auch des Verfassers i n zehnjähriger Unterrichtspraxis).

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I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

Setzungen seitens der Jugendlichen aus Höheren Schulen sind dazu hinreichend herausgearbeitet. Ihre Einstellung zu politischer Führung kann durch drei Punkte vereinfacht charakterisiert werden: 1. normativ unterliegt sie in ihrer Mehrheit einem funktionellen Patriarchalimus, 2. sie ist sich dieser normativen Einstellung kaum bewußt, zudem auf Grund seiner autoritären Gehalte dieser Patriarchalismus offiziell kompromittiert erscheint und daher verdrängt wird, 3. praktisch verhält sie sich hochgradig opportunistisch, und zwar einmal aus dem vom funktionellen Patriarchalimus her übernommenen Risiko- und Erfolgs-Denken, zum anderen in enger Verbindung damit aus gesteigertem Karriere- und Konsumzwang als Mittel zum Sozialprestige — dieser Opportunismus ist mehr oder minder bewußt. Die hier betrachteten Jugendlichen sind Schüler und Schülerinnen höherer Schulen und stellen daher die Hauptgruppe der Anwärter auf die oberen und höchsten sozialen Führungspositionen dar. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen und die aus ihnen resultierenden Tendenzen sollen soweit als möglich auf Charakteristika von allgemeiner Bedeutung und Erfahrung gestützt werden, um so zu Ergebnissen zu kommen, die möglichst wenig umstrittene Gesichtspunkte benützen. Die starke Belastung des Gegenstandes mit politischen Werturteilen läßt ein solches Vorgehen gerechtfertigt erscheinen. Soweit als irgend möglich sollen aus dem gleichen Grund die Überlegungen nur auf Voraussetzungen gestützt werden, die für jede Industriegesellschaft gültig sind. Ggf. werden mehrere Alternativen idealtypisch parallel untersucht, und es wird offengelassen, welche Alternative quantitativ von größerer sozialer Bedeutung ist. Denn eine solche quantitative Kontrolle relativer Bedeutung bleibt bei allgemeingesellschaftlichen Betrachtungen in den meisten Fällen weitgehendes Ermessen, solange keine sehr sorgfältigen, methodisch durchgearbeiteten empirischen Spezialuntersuchungen vorliegen. Unter Industriegesellschaft wird im folgenden eine Bevölkerung verstanden, innerhalb welcher zwei Bedingungen erfüllt sind 37 : 1. der in technisch-naturwissenschaftlichen Apparaten und in technisch-naturwissenschaftlicher Bildung angelegte Kapitalbetrag pro Kopf der Bevölkerung liegt oberhalb einer kritischen Grenze. 2. Die weitaus überwiegende Mehrheit der Bevölkerung weiß, daß sich mit Hilfe technischer Apparate und technischer Organisation 87

Vgl. E. Zahn (102), S. 12.

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große gesellschaftliche Aufgaben lösen lassen, insbesondere sich der Lebensstandard heben läßt — gleich wie dieses Wissen auch immer formuliert wird. I n einer solchen Gesellschaft ist zwangsläufig die Arbeitsteilung und die Spezialisierung sehr weit getrieben. Daraus ergeben sich die bereits im letzten Abschnitt hergeleiteten Folgerungen, daß an Stelle berufsständischer Bindungen Karriere und Konsum (Lebensstandard) zum Ausweis des Sozialprestiges werden. Von diesen Folgerungen wird weiterhin nachhaltig Gebrauch gemacht. Dabei wird das Moment der Karriere in seiner allgemeinsten Form verstanden, insbesondere auch als privatunternehmerische Karriere in Ländern mit relativ freier Wirtschaft, als Funktionärskarriere in Ländern mit relativ dirigistischer Wirtschaft. I n beiden genannten Sonderfällen wird der Karriere-Inhaber durch Konkurrenz seitens anderer Karrieren unter anderem zur Hebung der Produktivkraft bzw. Effektivität der von ihm verwalteten Produktionseinheiten und insoweit zur Kapitalkumulation in ihnen angehalten. Dabei kann dieser Konkurrenzdruck sich institutionell in sehr verschiedener Weise ausprägen 88. Daß das System der Karrieren dabei eng mit Herrschaftstruktur verknüpft ist, wird noch betrachtet werden. So gilt insgesamt für jede industrielle Gesellschaft, daß sowohl vom Karriere-Zwang wie vom Konsum-Bedürfnis her — beide durch ihre Eigenschaft als Mittel zum Sozialprestige gekennzeichnet — auf eine Steigerung der Gesamtproduktion und der Kopfproduktivität hingewirkt wird 8 9 . Karriere- und Konsumdruck verstärken zugleich das allgemeine Bewußtsein davon, daß sich auf industriellem Wege der Lebensstandard steigern läßt. Somit verstärken beide Elemente die sozialen Bedingungen, die eine Industriegesellschaft definieren. Indem sich aber diese Merkmale der Industriegesellschaft verstärken, werden wiederum die Voraussetzungen verfestigt, unter denen Karriere und Konsum zum wesentlichen Ausweis des Sozialprestiges werden. Damit aber ist ein Kreislauf sich wechselseitig steigender sozialer Wirkungen beschrieben, der notwendig mit jeder Industrie-Gesellschaft verknüpft ist und der wesentlich die industrielle Dynamik kennzeichnet. Dieser sich steigernde Wechselwirkungskreislauf soll Industrie-Rückregelung heißen. Hier sind nur die allgemeinsten hinreichenden Bedingungen der Industrie-Rückregelung beschrieben worden. Weitere wichtige Aspekte dieser Rückregelung sollen später erörtert werden, ebenso, daß in jedem 38

Vgl. Mehnert (110), S. 143 ff.

89

Dreitzel (132), S. 155: „Das Prinzip der Industriewirtschaft ist die Steigerung des Lebensstandards." 7 Lenné

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Falle historische Sonderbedingungen hinzukommen, die diese Rückregelung in der einen oder anderen Weise modifizieren. Universelle sozialpsychologische Prämisse, die notwendig in die hier beschriebenen Mechanismen eingeht, ist, daß fast jeder Mensch bestrebt ist, informell in seiner näheren Umgebung oder auch als Status-Äquivalent in einer formellen Struktur Achtung und Hochachtung zu erringen und, wenn möglich, dieses sein Prestige noch zu steigern, gleich wie immer die sozialen Merkmale und Rollen inhaltlich formuliert sind, die von einer Gesellschaft mit Sozialprestige besetzt werden 40 . Eine funktionell-patriarchalische Einstellung mit opportunistischer Äußerungsweise wirkt sich bereits in diesem sehr allgemeinen Rahmen aus. Indem Karriere-Rang unter funktionell-patriarchalischer Einstellung sofort mit patriarchalischer Autorität verknüpft wird, ausgestattet mit persönlichen Rechten und Pflichten im Sinne bestimmter Führungsfunktionen, erzeugt Karriere bei verbreiteter funktionell-patriarchalischer Einstellung immer auch ein dem Karriere-Inhaber untergeordnetes Klientel. Diese Mitläufer des Karriere-Inhabers unterstützen ihren „Patriarchen" ggf. unter Mißachtung aller sonstigen Prinzipien aus Opportunismus zugunsten der eigenen Karriere oder auch aus echter Autoritätsbindung. In der Wirklichkeit durchdringen sich meistens beide Motive, vermutlich häufig für den Betreffenden selbst untrennbar. Diese theoretische Herleitung wird von der allgemeinen Erfahrung besonders in Bezug auf Partei- und Verbandsorganisationen bestätigt 41 . Die Tatsache, daß auch die Jugend und zwar insbesondere die Anwärter auf die sozialen Führungspositionen der gleichen Einstellung huldigen, läßt daher erwarten, daß die Erscheinung eines funktionellpatriarchalischen und daher als legitim ausgegebenen Karriere-Klienteis auch weiterhin für Westdeutschland charakteristisch sein wird. Aber auch in Bezug auf Konsum als Prestige-Ausweis hat die patriarchalische Einstellung spezifische Folgen. Da die in dieser Untersuchung festgestellte funktionell-patriarchalische Einstellung zwar — aus der Priorität des Risiko- und Kompetenzdenkens heraus — die Autorität des sozialen Führers im patriarchalischen Sinne zugibt, aber sie keineswegs liebt, so verbleibt bei dieser Gesinnung immer ein Rest von Unsicherheit und Angst, die vom Risikodenken her die Autorität 40

Allgemein unter dem Aspekt der Persönlichkeitsforschung u. a. bei All-

port (28), S. 190 ff. 41 Vgl. v. d. Heydte-Sacherl,

bes. i. S. v. Cameraderien (87), S. 221 ff. u. S.

299; Eschenburg (146) S. 18 ff. — öffentlich diskutiert w u r d e auch der volkstümliche bayerische Begriff des „Spezi-turns", w i e überhaupt das p o l i tische Leben der Bundesrepublik Deutschland einige i n dieser Hinsicht besonders illustrative Beispiele gezeigt hat, die auch deswegen besonders i n t e r essant sind, w e i l Vorfälle i n dieser F o r m i n den westlichen Demokratien k a u m denkbar u n d insoweit f ü r deutsche Verhältnisse typisch sind.

2. Patriarchalische Jugend i n der industriellen Gesellschaft

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des sozialen Führers begründet, aber umgekehrt seitens des Geführten als eine dauernde Bedrückung durch die Autorität reflektiert wird. Diese Unsicherheit und Bedrückung wird sich, wo immer möglich, konkrete Entlastungen suchen, da eine Befreiung von der Gesamteinstellung schwierig ist und fern liegt. Der gehobene Konsum der Industriegesellschaft ist zu solcher Entlastung ein geeigneter Anlaß. Konsum wird zum Ausweis nicht nur des eigenen Prestiges, sondern einer neu erworbenen, jedenfalls partiellen Freiheit. Die rücksichtslose öffentliche Verwirklichung dieser vom gehobenen Konsum geschenkten neuen Freiheit, Protzentum und Konsum-Rauditum waren und sind denn auch ein bekanntes Kennzeichen des westdeutschen Lebens, das seinen statistischen Ausdruck in der Zahl und Art der Autounfälle findet 42. So wird auch hier die theoretische Herleitung von Erfahrungen bestätigt, wenngleich man bei Jugendlichen noch speziell jugendpsychologische Momente zusätzlich in Rechnung stellen muß 48 .

d) Funktionell-patriarchalische Einstellung und Konsumfreiheits-Ideologie

Die Bedeutung des Konsums in der Industriegesellschaft muß zunächst grundsätzlich charakterisiert werden, ehe die Wechselwirkung mit patriarchalischer Einstellung im einzelnen geprüft werden kann. Die Industriegesellschaft ist mit ihrem industriellen Apparat und ihren Organisationen auf Massenabfertigung und Massenproduktion von Konsumgütern eingestellt. Nicht die Luxusgüter- und Luxusdienstleistungen, sondern die Massengüter- und Massendienstleistungen kennzeichnen die Industriegesellschaft als Industriegesellschaft. Sie ist daher in Bezug auf Konsumgüter und Dienstleistungen (ζ. B. Verkehrswesen, Post, Schulen) konstitutiv und tendenziell egalitär 44 . Andererseits wird in der Industriegesellschaft der Konsum zum individuellen Prestigeausweis, so daß insbesondere diejenigen Konsumgüter (primäre Güter) Produktionspriorität gewinnen, die auf kürzestem Wege individuelle Prestige-Wünsche erledigen können (Vorrangigkeit der primären Konsuminteressen) 45. Andere Güter wie die öffentlichen Dienste, Versorgungen und Sicherungs- und Schutzmaßnahmen — zumeist aus sachimmanenten Gründen von der öffentlichen Hand realisiert und verwaltet — können als egalisierende (sekundäre) 42 I n d. Sinne Middendorf Deutschland (106), S. 146 ff.

43 44

bezüglich der Verkehrsundiszipliniertheit

in

Vgl. Muchow (67), u. a. S. 130.

Vgl. Zahn (102), u. a. S. 13. 45 Vgl. Zahn (102), 4. Kap. „Der Vorrang der gesellschaftlichen Geltung v o r dem Nutzen der Güter". 7«

100

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Güter kaum individuelles Prestige-Bedürfnis direkt befriedigen 46. Sie erregen nur sekundäres Konsum-Interesse. So zeigen alle Industriegesellschaften eine je historisch modifizierte Tendenz zu immer stärkerer Befriedigung der primären Konsuminteressen auf Kosten der sekundären Konsuminteressen, insbesondere auch Westdeutschland, in dem offenbar erstmalig breite Schichten von Praxis und Einstellung auf individuelle Wirtschaftsfreiheit hin berührt worden sind 47 . In den USA haben primäre Konsuminteressen dabei einen solchen Grad von Priorität durchgesetzt, daß scharfe sozialkritische Reaktionen ausgelöst wurden 48 . Da Prestige als Motor informeller und als Ausweis formeller Rangordnungen a priori eine anti-egalitäre Sozialfunktion ist, so werden primäre Konsumgüter in dem Maße als Prestige-Ausweis entwertet, wie sie als Massenprodukte von immer mehr Leuten in Besitz genommen und damit ebenso gemein werden wie die a-priori egalitären sekundären Güter. Mithin führt die tendenzielle Konsum-Egalität der IndustrieGesellschaft notwendig zu einer allmählichen Prestige-Entleerung der ursprünglich erst von ihr mit besonderem Prestige ausgestatteten primären Konsumgüter. Damit aber drängt das individuelle Prestige-Bedürfnis auf Produktion immer neuer primärer Konsumgüter, die noch prestigegeladen sind. Daß dadurch früher oder später die nicht in Masse produzierbaren Güter der persönlichen Fertigkeiten oder gar der schöpferischen Bildung wieder mit sozialem Prestige aufgefüllt werden, ist eine Tendenz, deren Anfänge sich heute schon in den USA — im Rahmen der Hobby-Bewegungen etwa — und auch in Deutschland — Büchermarkt — beobachten lassen, die aber hier nicht weiter interessiert. Hier ist nur wichtig, daß in der Industriegesellschaft die relativ engen Umgebungen der Berufs- und Familienbekanntschaften für die meisten Menschen zur einzigen sozialen Prestige-Grundlage werden, und daß bezüglich dieser Prestige-Basis nur Karriere und primärer Konsum Prestige erzeugen. Der Druck auf immer neue primäre Konsumgüter anstelle der durch egalisierende Massenproduktion prestigeentleerten alten ist daher eine notwendige Begleiterscheinung der Industriegesellschaft 40. Dieser Konsumausweitungsdruck läßt sich keineswegs nur als Folge einer einseitigen Manipulation durch eine hemmungslose Werbung und 48 Vgl. Zahn (102): die gleichfalls absinkende Bedeutung von Routine-Ausgaben S. 67 ff. sowie zur „Dissonanz zwischen privaten u n d öffentlichen W o h l stand" S. 190 ff.

47

48

88 ff. 49

Dahrendorf u. a. Galbraith,

(29), S. 312 ff. Gesellschaft i m Überfluß (37). Vgl. auch v. Borch (113), S.

Vgl. Zahn (102) S. 86 ff.

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101

Bedürfnisweckung verstehen. Diese kann in der Tat nur als kapitalistischer, vom Rentabilitätsstreben erzwungener — wenn auch dadurch nicht notwendig gerechtfertigter — Reflex auf den beschriebenen allgemeinen Konsumausweitungsdruck verstanden werden. Vom werbepsychologischen Detail her und in Bezug auf die Tatsache, daß es überwiegend um relative Marktanteile, also um relative Konsumsteigerungen geht, und angesichts der oben klargelegten außerordentlichen Trägheit aller Einstellungen erscheint es ausgeschlossen, eine derartig umfassende soziale Bewegung wie die Konsumausweitung von der industriellen Manipulation her verstehen zu können 50 . Hinzu kommt endlich, daß industrielle Werbung im Gegensatz zur politischen und religiösen nicht zentral gesteuert ist, sondern in sich konkurriert (unmittelbarer Ausweis übrigens eines nach wie vor höchst lebendigen Konkurrenzkampfes, insbesondere in der Interbranchen-Konkurrenz). Andererseits stellen Konsumausweitungsdruck und Werbung (bzw. Bedürfniswekkung) ohne Zweifel einen sich steigernden Wechselwirkungsvorgang, eine Rückregelung dar. Aber darin ist der Konsumausweitungsdruck genetisch früher und sozial umfassender, denn er zeigt sich eindeutig auch in Ländern ohne entwickelte Werbung, wie ζ. B. in der USSR 51 . Hat ein Konsumgut durch billige Massenproduktion erst einmal mehr oder minder seine Prestige-Funktion verloren, so verschwindet es ggf. vom Markt völlig. I n der Regel aber wird es weiter produziert, d. h. die Konsumausweitung vollzieht sich kumulativ. Denn entweder ist das betrachtete Konsumgut in den Bereich der konsumtiven Mindestnorm eingegangen, die praktisch von allen Konsumenten erfüllt wird, gleichsam die allgemeine konforme Grundlage aller weiteren Prestige-Entfaltung. Oder aber das Konsumgut hält sich auf Grund seiner objektiven Vorzüge (ζ. B. echte Arbeitserleichterung, echte Erholung in Ferienreisen usw.), also auf Grund seiner — gleichsam sekundären — Zweckmäßigkeit (Gehlen). In der Regel fallen konsumtive Mindestnorm und konsumtive sekundäre Zweckmäßigkeit — teilweise — zusammen. Insgesamt entwickelt so der Markt ein Gleichgewicht zwischen seiner Funktion als Depot von Prestige-Symbolen und als Bedürfnis-Deckungseinrichtung in Bezug auf zweckmäßige Instrumente und Mindestnorm. Diesem Marktgleichgewicht korrespondiert eine Ambivalenz der konsumtiven Motive. Die probabilistische Struktur der Motivation macht es dabei auch der kritischsten Reflexion unmöglich, die allgemeine Un50 Vgl. auch Katz u. Lazarsfeld, u. a. (103), S. 26 f. u. 31 ff., die die tatsächlich außerordentliche K o m p l e x i t ä t des j e spezifischen Werbevorgangs hervorheben; sie sind i m übrigen sehr v i e l ernster zu nehmende Autoren, als E. Dichter, J. Packard (24) u. a., die die Werbung geradezu zu einem Mythos popularisiert haben.

51

Vgl. Leonhard (109), S. 211. S. 222 ff. u. S. 514 ff.; Mehnert (110), S. 113, S.

143, S. 169 f. u n d i n Bezug auf B i l d u n g S. 231.

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schärfe der Motive im Einzelfall aufzuheben und sicher zu entscheiden, wo genau im konsumtiven wie im produktiven Verhalten der Sachoder Selbstzweck aufhört und Prestigebedürfnis und Eitelkeit, also der „Fremdzweck" anfängt. Das gilt selbst für wissenschaftliche und künstlerische Produktion. Der damit für die Industriegesellschaft als charakteristisch erkannte kumulative Konsumausweitungsdruck wurde auch von T. Geiger gesehen und ausdrücklich als originäre Tendenz zur Konsumgesellschaft festgehalten 52. Der Konsumbegriff gewinnt dadurch wachsende öffentliche Bedeutung als Urteilskategorie in allen sozialen Bereichen. Die qualitative und quantitative Konsumexpansion wird so zu einer universellen Kategorie für die Formulierung von individuellen Lebensansprüchen. Dies bewirkt — zunächst latent, doch zunehmend offener — einen Totalitätsanspruch des Konsums selbst: alles, womit ein Individuum in Beziehung treten kann, wird tendenziell als Konsum beansprucht 55. So erzeugt der tatsächlich auftretende Anspruch auf Konsum eine Ideologie. Damit wird hier angenommen, daß das Faktische normenbildende Kraft habe, oder in Marxscher Formulierung, daß das Sein das Bewußtsein bestimme. Gemäß den sozialpsychologischen Überlegungen über die möglichen Änderungsweisen tradierter Einstellung kann die hier behauptete normenerzeugende Wirkung wiederum idealtypisch in zwei Formen gesehen werden. Einmal verändert die Konsumexpansion die Begriffs- und Urteilsbildung des Alltags in kleinen, unkontrollierbaren Schritten, die insgesamt zu einer evolutionären Änderung der primitiven Basiselemente der Kindheit und zu einer schrittweise konservativen Anpassung der Erwachsenen führen und damit auf längere Zeit überhaupt die Einstellung verschieben. Die Bedrohung mit PrestigeEntzug — als Form eines kalten Terrors im Falle eines je individuellen „Unterkonsums" — kann aber gegebenenfalls so wesentliche latente Verunsicherungen erzeugen, daß mit einer quasi-revolutionären Verinnerlichung des Konsumanspruchs gerechnet werden muß. Die jede Industriegesellschaft charakterisierende Konsumtendenz wurde bis zu dem Punkt theoretisch untersucht, wo sie die Basis einer Ideologie werden muß. Ehe diese Konsum-Ideologie schärfer gefaßt und ihre Konsequenzen näher betrachtet werden, soll indessen das Verhältnis zwischen der tatsächlichen Konsumtendenz mit dem dazuge52

(105), S. 175, vgl. auch Zahn (102), S. 123 ff. Entspr. Gehlen (92), bes. S. 78 ff., m i t p r i m ä r ideengeschichtlichen Begründungen; auch Ortega y Gassets Begriff des „Aufstands der Massen" zielt — k u l t u r k r i t i s c h — genau auf diesen Sachverhalt. Vgl. auch S. 92 f. hier. 53

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hörenden Prozeß der Verinnerlichung des Konsumdenkens und der tradierten funktionell-patriarchalischen Einstellung geprüft werden. Grundsätzlich muß vorangeschickt werden, daß auch zwei sich theoretisch widersprechende Einstellungen wie das auf individuelle Freiheit zielende Konsumdenken und das auf individuelle Unterordnung zielende patriarchalische Denken nebeneinander und zugleich verinnerlicht werden können. Der zwischen zwei solchen Einstellungen bestehende grundsätzliche Konflikt verhindert nicht ihre gleichzeitige motivische Fixierung, solange und soweit beide Motivbereiche sich nicht am konkreten Fall widersprechen. Erst wenn die konkreten Widersprüche hinreichend häufig oder an hinreichend schwerwiegenden Fällen auftreten, wird der grundsätzliche Widerspruch virulent und entweder gelöst, etwa dadurch, daß die sich widersprechenden Motivbereiche bewußt und damit beeinfiußbar werden, oder der Konflikt fixiert sich als eigene, neue motivische Konstellation und wird dadurch chronisch. Da sich das Konsumdenken zunächst immer auf noch prestige-geladene primäre Konsumgüter wirft, können direkte Konfliktfälle zwischen Konsumdenken und patriarchalischer Einstellung solange nicht bedeutsam werden, wie der industrielle Apparat das Bedürfnis nach neuen, noch prestige-geladenen Konsumgütern befriedigt. Erst allmählich kommt es zu einem Druck des Konsumdenkens auch in anderen Richtungen als in Richtung auf primäre Konsumgüter. So zeigen sich Ansätze eines konsumtiven Drucks auf die Umstände am Arbeitsplatz: man erwartet und zählt als „Nebenleistungen" nicht bloß soziale Leistungen im allgemeinen, sondern ein angenehmes „menschliches Klima". Solche Arbeitsplatzqualifikationen werden keinesfalls unter den allgemeinen anthropologischen Kategorien bewußt, die ihnen ggf. angemessener wären, sondern unter konsumtiven, und in diesem Sinne werden sie in wachsendem Maße auch seitens der Produzenten berücksichtigt. „Was bietet der Arbeitsplatz?" ist dabei die vollkommen konsumtiv gedachte stereotype Frage 54 . Somit sind zwar erste Ansätze eines unmittelbar möglichen Konflikts zwischen konsumtivem Denken und funktionell-patriarchalischer Einstellung sichtbar. I m ganzen aber ergreift die evolutionäre Verinnerlichung des Konsumdenkens erst zuletzt das praktische Verhältnis zwischen sozialen Führern und Geführten. Erst zuletzt können Patriarchalismus und opportunistische Praktiken als mögliche Ursachen drohender konsumtiver Prestige-Verluste erkannt und damit kompromittiert werden, und dieser Prozeß wird sich auch nur in dem Maße durchsetzen können, wie auf dem Arbeitsmarkt, also dem Markt der relativen Unterordnungsbeziehungen und des realisierten funktionellen Patriarchalismus, eine hinreichende Mangellage herrscht. 54

Vgl. Brown (181), S. 123 f.

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A n diesem Punkt aber erweist sich auch das dialektische Verhältnis zwischen Patriarchalismus und Konsumdenken. Denn solange das Konsumdenken nicht die menschlichen Beziehungen, in denen sich der funktionelle Patriarchalismus immer neu fixiert, direkt erfaßt, verstärkt es seinerseits indirekt den funktionellen Patriarchalismus, und zwar muß an folgende Formen (bzw. Mechanismen) gedacht werden. Wachsende Möglichkeiten primären Konsums ebenso wie die zunehmende Bedeutung von (außerfamiliärer) Berufstätigkeit sowohl als Basis des Konsums wie als unmittelbarer Prestige-Ausweis steigern — in einem sozialen Rückregelungsvorgang — die Ansprüche an individuellem Eigenleben. Dies kann — in sehr verschiedenen Formen — zu einer Verarmung der Eltern-Kind-Kontakte führen, die ggf. als Liebesentzug wirksam werden, besonders wenn Kinder unmittelbar als Konsum-Hindernis und schwere Behinderung persönlichen Auslebens empfunden werden. Diese Verarmung an Kind-Eltern-Kontakten, ggf. durch besonders gute konsumtive Versorgung des Kindes verdeckt, kann in der gegenwärtig normalen Kleinfamilie auch kaum durch andere quasi-familiäre Kontakte ausgeglichen werden. Diese Kontaktarmut — besonders im Säuglings- und Kleinkindalter und in Verbindung mit noch vorhandener patriarchalischer Grundeinstellung der Eltern — erzeugt aber Unsicherheit und Gefühlsambivalenz gegenüber Autoritäten und kann damit zuletzt eine Akzeptierung funktionell-patriarchalischer Einstellung begünstigen55. Ebenfalls innerfamiliär könnte sich der in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft unvermeidliche Ausschluß der väterlichen Berufsrolle aus dem Gesichts- und Verinnerlichungsfeld des Kindes besonders in den Mittelschichten auswirken. Die überstarke Betonung der femininen Rolle vor allem für Jungen könnte zu einem antifemininen Protest führen, der jegliche Art männlicher Geschlechtsrolle, insbesondere aber traditionellen Patriarchalismus attraktiv macht 56 . Weiterhin bewirkt das Primat der prestigegeladenen Konsumgüter und der Karriere als Prestige-Ausweis, daß im Verhältnis zum Vorgesetzten sich das regressive patriarchalische Risiko- und Kompetenzdenken fortlaufend durchsetzen kann. Damit aber wird patriarchalischer Opportunismus weiter praktiziert und fixiert. Endlich aber werden durch Konsumdenken auch alle traditionell patriarchalischen sozialen Institutionen politisch gestärkt, weil und soweit 55 Dieser Ansatz gründet auf den Resultaten der neueren HospitalismusForschung, also der Arbeiten H. Spitz u. a., doch fehlen zur Beurteilung seiner Tragweite weitergehende empirisch-soziologische Untersuchungen. 58 H i e r w i r d eine von T. Parsons vorgeschlagene Hypothese verwendet, i n T. Parsons , Certain P r i m a r y Sources and Patterns of Aggression i n the Social Structure of the Western World. I n : Psychiatry, X , M a i 1947, S. 167 ff.

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die Teilhabe an ihnen selbst eine Prestige-Quelle darstellt (Ideologie und politische Repräsentation als Konsum). Diese — patriarchalische Einstellung indirekt verstärkenden — Tendenzen werden aber von einem bestimmten Punkt ab notwendig in ihr Gegenteil umschlagen, sofern die allgemeine Industrie-Rückregelung weiter voranschreitet. Die Kontaktverarmungen gegenüber dem Kleinkind werden abgebaut werden, sobald Kinder selbst zu einem schwerwiegenden Prestige-Ausweis werden, wenn also in Bezug auf primäre massenhaft produzierbare Güter eine gewisse Sättigung eingetreten ist. Dabei kann der latente Liebesentzug ggf. zeitweise in das umgekehrte Extrem umschlagen mit zunächst ähnlichen Resultaten. Der patriarchalische Opportunismus am Arbeitsplatz wird in dem Maße abgebaut werden, wie er seine soziale Funktion verliert. Diese soziale Funktion geht insbesondere verloren, soweit durch weitere Spezialisierung die Karriere selbst als Prestige-Ausweis entwertet wird. Aber auch die Möglichkeit, eine Karriere durch Arbeitsplatzwechsel statt durch Aushalten aufzubauen, nimmt dem Opportunismus gegenüber Vorgesetzten seine soziale Bedeutung. Endlich erhalten auch die patriarchalischen Institutionen gerade dadurch, daß sie Gegenstand prestigegeladenen Konsums werden, MarktEigenschaften mit der daran geknüpften Relativierung der angebotenen ideologischen Ansprüche. Wenn man weiterhin festhält, daß patriarchalische Einstellung zunächst die für eine funktionierende Industrie notwendige Disziplinierung im hohen Maße stützt, so kann zusammenfassend gesagt werden, daß konsumtive und industrielle Tendenzen einerseits und funktionell-patriarchalische Einstellung andererseits sich in einer Anfangsphase gegenseitig verstärken, aber im weiteren Verlauf der industrieeilen und konsumtiven Entwicklung in Widerspruch geraten müssen. Lipset 57 bestätigt mit empirischen Daten indirekt sowohl die kurzfristigen wie auch die entgegengesetzten langfristigen Tendenzen. Die geschilderten Erscheinungen lassen sich qualitativ auch in mehr oder weniger vorangeschrittenem Zustande beobachten, überlagert und modifiziert durch regionale, historische und technologische Sonderverhältnisse. Wenn die Jugend, besonders jene mit Anwartschaft auf soziale Führungsstellungen, nach wie vor latent funktionell-patriarchalische Einstellung hat, so muß erwartet werden, daß der oben geschilderte vielseitige Prozeß eine Verzögerung erfährt, die insbesondere dann erhebliche Ausmaße annehmen kann, wenn eine solche in Führungspositionen hineingewachsene Jugend patriarchalisches Verhalten, tatsächlich also patriarchalischen Opportunismus, von den Untergebenen erwartet 57

(64), S. 294.

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und sie mithin auch entsprechend dieser Verhaltenserwartung beruflich qualifiziert. Es besteht die Gefahr, daß von der Herrschaftsstruktur her eine patriarchalische Einstellung konserviert wird, die zwar äußerlich die Herrschaftspraxis angenehmer machen und ihre Prestige-Haltigkeit auch stärker akzentuieren mag, die aber auf die Länge mit dem konsumtiven Denken in ernsthafte Konflikte kommen muß. Typisch dafür ist das in Westdeutschland verbreitete Unverständnis dafür, daß auch untere Schichten eine (günstige Marktsituation individuell konsumtiv ausnutzen (nicht einmal so radikal, wie es in den traditionell herrschenden Schichten üblich zu sein pflegt). Nachdem so die unmittelbare Wechselwirkung zwischen Konsumtendenzen und funktionell-patriarchalischer Einstellung beleuchtet worden ist, soll die Konsumfreiheits-Ideologie und ihr Verhältnis zur funktionell-patriarchalischen Einstellung als Ideologie näher bestimmt werden. Oben wurde bereits dargetan, daß die Konsumausweitungstendenz sich auch auf die Menge verschiedenartiger Konsumgüter bezieht, daß also eine Kumulation der konsumtiven Qualitäten besteht, die dementsprechend eine Tendenz des Konsumanspruchs auf überhaupt alle möglichen Güter und Dienstleistungen, also einen Totalitätsanspruch begründet. Daher soll im Anschluß an den tatsächlichen Konsumausweitungstrend als Norm der Konsumfreiheits-Ideologie bestimmt werden, daß die Konsumfreiheit aller Menschen, auch in den unteren Schichten, nach Maßgabe der technischen Möglichkeiten so groß wie möglich sein müsse. Unter Konsumfreiheit eines Individuums wird dabei die Gesamtheit aller materiellen und dienstleistungsartigen Konsumgüter verstanden, die dieses Individuum pro Zeiteinheit, etwa also innerhalb eines Jahres, erwirtschaften und in einer ihm durch technische Arbeitsentlastung gegebenen pflichtfreien Zeit nützen kann. Diese Formulierung der Norm der Konsumfreiheits-Ideologie bezieht sich primär auf die absolute Höhe des Lebensstandards, weil die Industriegesellschaft als Organisation der Massenproduktion und -Versorgung vorwiegend unter dem Aspekt der durch ihn bewirkten absoluten Erhöhung des Massen-Lebensstandards beurteilt werden muß. Die moralische Frage, ob kleine Schichten weiterhin in der Nähe des Hungers leben sollen, wenn zugleich andere kleine Schichten in außerordentlichem Überfluß leben, wurde in der Formulierung absichtlich nicht berücksichtigt. Denn es erscheint fraglich, ob diese moralische Erwägung von der großen Mehrheit der industriellen Bevölkerung, die potentieller Träger der Konsumfreiheits-Ideologie ist, mehr als höchstens gelegentlich als Politikum angesehen werden wird 5 8 . 58

Vgl. Horkheimer-Adorno

(101).

2. Patriarchalische Jugend i n der industriellen Gesellschaft

107

Die hier als Konsum-Ideologie oder auch Konsumfreiheits-Ideologie rationalisierte Einstellung hat eine gewisse Verwandtschaft mit der von Riesman eingeführten Verhaltensweise der „Außengelenktheit" 59 . Tatsächlich ist aber der Begriff der Außengelenktheit eine viel allgemeinere Kategorie und auch funktionell etwas anders begründet. Wegen der bei Riesman unmittelbar auftauchenden Gegenüberstellung des traditionsgelenkten (patriarchalischen) und des außengelenkten Menschen und der darin zum Ausdruck kommenden unmittelbaren Nähe zu dem hier behandelten Thema bedarf es einer genaueren Darlegung, warum hier von dem Riesmanschen Begriff kein Gebrauch gemacht wird. Außenlenkung wird von Riesman als eine säkulare Interaktionsweise betrachtet insofern, als sie sich von der Innenlenkung bzw. von der noch früheren traditionellen Lenkung unterscheidet. Zunächst ist dabei zweifelhaft, ob es historisch je eine Phase des innengeleiteten Menschen gegeben hat. Was Riesman als innengeleitete Menschen beschreibt, sind bestimmte, nur von einer kleinen Minderheit repräsentierte Typen der Bevölkerung, die im Rahmen starker gesellschaftlicher Wandlungen immer auf zutreten pflegen und ζ. B. in der Zeit der Völkerwanderung und der Renaissance schon aufgetreten sind, also vor der eigentlichen Übergangsphase zur Industrialisierung. Die innengelenkten Menschen erscheinen insofern überall in der Geschichte, nämlich als Eroberer und Mitläufer neuartiger Gesellschafts- und Herrschaftsformen 60, die, ausgestattet mit einer noch ungebrochenen Selbstsicherheit, neue Mittel und Möglichkeiten der Herrschaft erkennen und ausnutzen. Ihnen gegenüber verharrt die Mehrheit der Bevölkerung trotz geänderter objektiver Sozialverhältnisse zunächst in tradierten Einstellungen. Soweit Riesman mit innengeleiteten Menschen auch diese Mehrheit bezeichnet, charakterisiert er aber keinen neuen Einstellungstypus, sondern einen Gesellschaftstypus. Evolutionär und in Vorgängen konservativer Anpassung, allenfalls durch Kriege und Revolutionen beschleunigt, ändern sich schließlich auch die verinnerlichten Einstellungen entsprechend den faktisch-objektiven Sozialverhältnissen. I n dieser Phase steigender diffuser Verunsicherung durch objektive soziale Wandlungen relativ zu den alten Einstellungsbeständen wird je aktuelle Angleichung an die Umgebung als systematische Form konservativer Anpassung fortwährend trainiert und insoweit auch als Einstellungsnorm — als Außenlenkung 61 — verinnerlicht. Dies gilt besonders für Bevölkerungen wie die der USA, in der durch politische Tradition und Philosophie62 die Praxis und Ideologie der de69 60 61 62

Riesman (107).

Vgl. (107), S. 53. (107), Def. S. 55. I n angelsächsischer Bedeutung.

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mokratischen Kooperation als mögliche Rationalisierung der Außenlenkung im Sinne einer Verhaltensnorm längst bereitstand. Verstärkt wird Außenlenkung, also verinnerlichte Neigung zur aktuellen Angleichung, durch die in der Industriegesellschaft wachsende Bedeutung der kleinen sozialen Umgebungen (Mikrostruktur) als vorrangige individuelle Prestige-Quelle. Aber ähnlich wie die Funktion der autonomen Tradierung ist die Außenlenkung inhaltlich prinzipiell unspezifisch und offen, das verinnerlichte Prinzip der sozialen Wechselwirkung schlechthin. Der soziale Zustand der Außenlenkung ist daher in Bezug auf normative Inhalte — in Entsprechung zu allgemeinen kybernetischen Regeln — hochgradig instabil. Kraft Rückregelungen besonders anhand der sozialen Vorbild- und Verwirklichungshäufigkeit werden sich notwendig im Laufe der Zeit neue — wahrscheinlich sehr abstrakte — Inhalte normativ fixieren, die ihrerseits die Außenlenkung als normative Einstellung verdrängen bzw. einschränken. Diese inhaltlichen NeuEinstellungen liegen wahrscheinlich in Richtung auf die Norm individueller Verschiedenheit, die als universelles mikrosoziales Rangordnung-Mittel in dem Maß bedeutungsvoll wird, wie der nivellierte primäre Konsum als solcher versagt 63 . Insofern kennzeichnet aber Außenlenkung als Funktion wie als normative Einstellung prinzipiell nur eine Übergangs-Phase, in der die Mehrheit einer Bevölkerung sich Vorbildern gemäß einem sozialen oder kulturellen Wandel, der von innengeleiteten Menschen weit vorangetrieben wurde, allmählich einstellungsmäßig anpaßt. So verinnerlichen heute große Bevölkerungsschichten — notwendig durch Außenlenkung — sogar unmittelbar jenen konsumtiven Stil des Privatlebens und des Prestige-Vergleichs, den eine kleine Minderheit von frühen sozialen Führern früher gruppenintern vorpraktiziert hat. Insgesamt erscheinen daher die Riesmanschen Kategorien als allgemeine Kategorien jedes Kulturwandels und des in ihm auftretenden „cultural lag" zwischen vorangeschrittener Entwicklung der tatsächlichen sozialen Verhältnisse und autonom tradierten Einstellungen, von Riesman am Übergang zur Industriegesellschaft in den USA spezifiziert und exemplifiziert. Wegen dieser kategorialen Allgemeinheit einerseits und seiner Eigenschaft als Kategorie einer Übergangsphase wurde der Riesmansche Begriff der Außenlenkung hier zurückgestellt zugunsten des Begriffs des Konsumdenkens, der für die Industriegesellschaft absolut spezifisch ist. Dazu soll noch gezeigt werden, daß speziell auch in Bezug auf die industrielle Entwicklung Außenlenkung wahrscheinlich nur einen historischen Zwischenbereich kennzeichnet. I m Begriff der Außenlenkung werden vor allem drei Momente der Industriegesellschaft zusammengefaßt: 68

Entsprechend Riesman selbst (107), S. 226 ff.

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1. die allgemeine konsumtive, speziell die geschmackliche und modische Konformität 64 , 2. die reaktive Steuerung der Interaktionen — also Außenlenkung als hochgradige je aktuelle Berücksichtigung anderer Personen 65, und 3. der — im Sinne bloß konsumtiver Beurteilung — anwachsende Verlust von Engagiertheit gegenüber der sozialen Führung 66 . Alle drei Momente charakterisieren zweifellos in bedeutendem Maße die Industriegesellschaft. Aber sie fallen nicht notwendig als überzufällig häufiges Charakteraggregat innerhalb der Individuen zusammen, sondern sind ggf. nur Spiegelungen objektiver industrieller Strukturbestandteile, die getrennt identifiziert werden können und deren funktionelle Einheit erst in der industriellen Produktionsweise selbst erzeugt wird. Hinsichtlich aller drei Momente liegen die im folgenden genannten objektiven Merkmale der Industriegesellschaft vor, als deren subjektiv antrainierter Reflex die drei genannten Momente aufgefaßt werden können. So aber wird es fraglich, ob man diese Momente unter dem einen Aspekt der Außenlenkung i. S. notwendig und unmittelbar psychisch vergesellschafteter Besonderheiten zusammenfassen kann. I m einzelnen muß in Rechnung gesetzt werden: 1. Die einzige Möglichkeit, großen Bevölkerungsteilen einen hohen Lebensstandard zu sichern, besteht in Massenproduktion. Sie aber bewirkt statistisch notwendig, daß in dem Maße, wie große Massen konsumtiv erfaßt werden, Beschäftigungen und Konsumweisen aller Art zugleich massenhaft auftreten, selbst wenn alle Konsumenten intellektuell hochentwickelt wären und über großes Urteilsvermögen verfügten. In dem Maße, wie konsumtive Freiheit für Massen ermöglicht wird, ist es daher immer die Freiheit, das Gleiche zu tun wie viele andere (funktionelle Konformität). 2. In dem Maße, wie die Kontaktdichte absolut steigt und außerdem der Anteil an arbeitsteiliger Tätigkeit relativ wächst, muß das Individuum sein Verhalten und seine Interaktionen in progressiv wachsendem Umfang auf das Verhalten seiner Mitmenschen einstellen, und zwar einerseits in Bezug auf die Randbedingungen der Kontakte im allgemeinen (ζ. B. begrenzte Straßenverkehrsmöglichkeiten) und andererseits in Hinblick auf die objektiven Zwecke der Arbeitsteilung. Mithin ist auch hier das Anwachsen der Außenlenkung zunächst einmal ein objektiv erzeugtes statistisches Phänomen (funktionelle Reaktivität). 64

(107), u. a. S. 131 ff. (107), u. a. S. 201 ff. ·« (107), u. a. S. 286 ff. 65

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3. Umfang, innere Rationalität und arbeitsteilige Spezialisierung aller sozialen Führungsapparate wachsen mit den Fortschritten der Technik und dem Voranschreiten der Industrialisierung. Dabei werden die Bedingungen emotionaler Kontakte, nämlich Nähe, Prägnanz und Überschaubarkeit, immer weniger objektiv erfüllt. Insoweit ist der Verlust des emotionalen Engagements gegenüber sozialer Führung unvermeidlich (funktionelles Disengagement). Unvermeidlich bewirken das wachsende Training (anhand der funktionellen Formen) und die mit der Kontaktdichte zunehmende Wechselwirkungsverstärkung dieses Trainings, daß funktionell erzwungene Konformität, Reaktivität und Disengagiertheit auch hochgradig in individuell bestimmbare Bereiche übergreifen. Erst diese nicht funktionell erzwungenen Formen können der Außenlenkung im Riesmanschen Sinne zugerechnet werden, aber da sie aus verschiedenen, für sich identifizierbaren Quellen stammen, erscheint es fraglich, sie unter einen Begriff zu fassen. Denn aus jeder dieser funktionellen Quellen für sich können sich Gegentendenzen konstituieren. Das sieht in Bezug auf die Reaktivität Riesman selbst67. Insbesondere bedingt der Umstand, daß den drei genannten Formen der Außenlenkung drei verschiedene objektive soziale Momente zugrundeliegen, zweierlei. Erstens werden diese Momente kraft ihrer objektiven Repräsentation zunehmend zu sozialem Hintergrund, werden also bis zu einem gewissen Grad selbstverständlich und verlieren dadurch ihre werbende und trainierende Kraft. Dies zeigt sich u. a. in dem sichtbaren Verschleiß an (noch) wirksamen Werbemethoden, (noch) wirksamen Methoden der „Betriebsklimatisierung" und (noch) wirksamen Methoden zur Popularisierung politischer Führer. Zweitens aber sind funktionelle Konformität und Disengagiertheit auf längere Zeit hin auch für große Schichten identifizierbar, eben weil sie durch die objektive Gesellschaftsstruktur bedingt sind. I n dem Maße aber, in dem diese Momente bewußt werden, unterliegen sie der sozialen Relativierung und durch das Bewußtsein ihrer egalisierenden Wirkung auch der Abschwächung. Insgesamt ist es daher wahrscheinlich, daß sich auf die Dauer andere Verhaltensweisen als die von Riesman beschriebene Außenlenkung durchsetzen, inhaltlich näher bestimmte Formen, die als Traditionssequenzen innerhalb verschiedener Gruppen parallel laufen, und denen gegenüber Außenlenkung im Riesmanschen Sinne nur das historische Strukturierungs- und Internalisierungsmedium darstellt. Diese Folgerung ist um so wahrscheinlicher, als über die endgültige Struktur der 67

(107), S. 424 ff.

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industriellen Gesellschaft noch nichts Sicheres gesagt werden kann. Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß die gegenwärtige Situation immer noch eine Übergangszeit repräsentiert. Insgesamt ergibt sich, daß der vergleichsweise spezifisch und operational definierte Begriff des Konsumausweitungsdrucks und der entsprechend definierte Begriff der Konsumfreiheit als Grundlage, die soziale Bedeutung funktionell-patriarchalischer Einstellungen zu prüfen, zuverlässiger erscheinen als der Riesmansche Begriff der Außenlenkung. Wesentlich für die Konsumfreiheits-Ideologie als politische Rationalisierung des Konsumausweitungsdrucks ist nicht nur ihr sozialer Absolutheitsanspruch, sondern auch ihr Totalitätsanspruch in Bezug auf alle denkbaren Konsum-Qualitäten. In diesem Sinne wird als Konsum alles beansprucht, was ein Individuum überhaupt haben und tun kann, ohne daß die typische — objektive — Konsumeigenschaft verloren geht, nämlich daß jeder andere es zugleich auch haben und tun kann. Insbesondere in Bezug auf sekundäre Konsumgüter (Versorgungen usw.) wird daher auch der Staat immer mehr als Produktionsbetrieb gewertet; der Versorgungsstaat ist kein sozialistischer Begriff, sondern ein Begriff der Konsumfreiheits-Ideologie. Den hier behaupteten Totalitätsanspruch der Konsumfreiheits-Ideologie hat Riesman — allerdings unter anderem Aspekt — in jeder nur denkbaren Richtung beschrieben, und Ortega y Gasset hat ihn als „Aufstand der Massen" namens einer traditionellen Elite-Ideologie verurteilt. Die Konsumfreiheits-Ideologie ist daher die der gegenwärtigen Industriegesellschaft angemessene Form der Ideologie der individuellen Freiheit überhaupt, die zudem mit der universellen anthropologischen Eigenart des Menschen, seiner probabilistischen Natur, direkt korrespondiert. Dies gilt, obwohl der Konsumfreiheits-Anspruch zunächst — wie alle historisch sichtbar gewordenen Freiheitsansprüche — als soziale Bewegung vom individuellen Prestige-Bedürfnis angetrieben wird, das zweifellos eine Form möglicher Unfreiheit darstellt 68 . Konsum im Sinne der Konsumfreiheit ist daher einerseits die unfertige Gleichheit, insbesondere an Prestige sozialer Konsum- und KarriereRepräsentation. Sie ist aber auch stets die unfertige Freiheit vom Prestige — als mögliche Individuation durch Konsum und Karriere. Ohne Beachtung ihres Ideologie-Charakters wird freiheitsanspruch auch von der politischen Linken zunächst vorrangigen primären Konsumansprüche „tatsächlichen Unfreiheit" und des Konformismus 88

daher der Konsumoft nur anhand der als Verhüllung der verurteilt. Ähnlich

Vgl. die soziologisch-anthropologische Diskussion, insb. den Beitrag Dah-

rendorfs

(157), S. 110 ff.

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argumentiert aber auch Riesman* 9. Insbesondere implizieren diese Kritiken die Behauptung eines generellen sozialen Verlustes an Individualität. Demgegenüber muß eingewendet werden, daß die Riesmansehen „Innengelenkten" noch niemals eine Gesellschaft als ganzes charakterisiert haben, sondern als Elite-Form einen ausgesprochenen Minderheiten-Typus darstellen. Traditionell oder ideologisch-dogmatisch gelenkte Bevölkerungen aber liefern sicher keine höhere mittlere Individualität, sondern allenfalls eine andere Art und Verteilung. Für Konformität ist es gleich, ob sie je aktuell durch Außenlenkung oder autonom tradiert durch Glaube oder staatlich oktroyiert durch Überzeugungen hervorgebracht wird. Endlich aber gibt es bis heute keine Methode, die mittlere Individualität im Sinne von Verteilungen über die Gesamtpopulation quantitativ historisch oder ethnologisch vergleichend abzuschätzen70. Auch Riesman bleibt vollkommen qualitativ, und auch er bedient sich der anfechtbaren Methode, Unterschichten der Gegenwart mit Oberschichten der Vergangenheit sowie auch Mischungen aus repetitiver Arbeit, schöpferische Tätigkeit und unproduktiver Entspannung ohne Beachtung des Mischungszustandes zu vergleichen. Daher sind Schlüsse aus solchen Vergleichen nicht mehr als Glaubenssätze, allerdings als emotionale kulturpolitische Argumente legitim. Demgegenüber wird von konservativen Kritikern der Konsumfreiheits-Ideologie viel schärfer deren relativierender Charakter gesehen. Nicht, weil Konsumfreiheit bloß äußerliche Bedürfnisse anzielt, sondern weil sie alle individuellen Möglichkeiten auf eine Ebene, nämlich die der individuellen Entscheidung und Befriedigung reduziert und relativiert, macht den Konsumfreiheitsanspruch seitens der patriarchalischen, religiösen, völkischen, historisch-eschatologischen und asketisch-heroisierenden Ideologien unannehmbar. Damit aber kommt nunmehr der ideologische Konflikt zwischen Konsumfreiheits-Ideologie als der allgemeinsten Rationalisierung der industriellen Tendenzen und funktionellem Patriarchalismus in den Blick. Funktionell-patriarchalische Einstellung erscheint zwar im konkreten Verhältnis zwischen Vorgesetztem und Untergebenem als Opportunismus und zwar ggf. als zynischer Opportunismus. I m Falle großer sozialer Distanzen zwischen Individuum und politischem Führer und bezogen auf die politischen Entscheidungen selbst kann sich aber der Oppor«· (107), insb. S. 376 ff. Die Tatsache, daß es keine Methode einer quantitativen Abschätzung „ m i t t l e r e r I n d i v i d u a l i t ä t " oder m i t t l e r e r K o n f o r m i t ä t " gibt, erschwert zwar sinnvolle Vergleiche, besagt aber nicht, daß deswegen K o n f o r m i t ä t g r u n d sätzlich nicht quantifizierbar sei. Darüber hinaus lassen sich — anhand des gegebenen empirischen Instrumentariums — sehr w o h l quantitative Operationalisierungen dieser Begriffe vorstellen; vgl. W.Metzger (216), S.30ff., insbes. S. 41 f. 70

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tunismus, besonders der zynische Opportunismus, nicht verwirklichen. Denn in diesem Falle geht es nicht um gezielte konkrete Verhaltensweisen auf eine bestimmte Person hin, den Vorgesetzten, sondern konkret stets nur um mehr oder weniger anonyme Äußerungen, etwa in politischen Gesprächen mit anderen, in Zuschriften (oder ggf. Aufsätzen) in Zeitungen und an Abgeordnete und in der politischen Wahl selbst. I n allen diesen — politisch gesehen — anonymen, konkret ziellosen Vorgängen fehlt der opportunistische, ja weithin sogar der funktionalistische Bezugspunkt, weil die objektiven Variablen gewöhnlich weder durchschaubar und bestimmt nicht kraft einer einzigen Stimme verfügbar sind. Aber alle diese politischen Mikrovorgänge werden motivisch überwiegend von funktionell-patriarchalischer Einstellung gesteuert, sofern diese Einstellung da ist 71 . Damit jedoch gewinnt im eigentlich politischen Bereich funktionell-patriarchalische Einstellung das volle Gewicht einer ideologischen Festlegung: man akzeptiert die jeweils gegebene politische Führung ggf. blindlings, sofern sie nur irgend glaubhaft machen kann, daß sie die Risiken sachlich und fachmännisch bewältigen wird. Insbesondere wird man jedem Vater-Imago, das im Sinne dieses hypertrophen Risikodenkens zuverlässig erscheint, die Stimme geben. Mit einer solchen Einstellung aber ist — grundsätzlich — ein Teil der individuellen Selbstbestimmung aufgegeben, und zwar auch dann, wenn diese Selbstbestimmung in der politischen Realität virtuell bleibt, also sich nicht unmittelbar in ihr verwirklichen läßt. Diese partielle Selbstaufgabe und Fremdbindung durch funktionellen Patriarchalismus ist Bestandteil des charakteristischen Bereiches. Tritt ihr gegenüber nunmehr die Konsumfreiheits-Ideologie mit ihrem Anspruch auf, daß das Individuum grundsätzlich alles als Objekt möglicher Konsum-Entscheidung sehen dürfe, also letztlich unbeschränkte Selbstbestimmung besitze, ungeachtet, ob sich die — konsumtive — Eigenentscheidung auf dem politischen Markt jeweils verwirklichen läßt oder nicht, so wird damit der funktionelle Patriarchalismus in Frage gestellt, also der charakteristische Bereich verletzt. Dies zwingt den Vertreter einer funktionell-patriarchalischen Einstellung, die sachangemessene Rationalisierung des — als Tatsache und auch als privater Wunsch — nicht abzuleugnenden Konsumausweitungsdruckes zu ver71 Die höchst reale Bedeutung dieser Aussage läßt sich generell an der heute üblichen, an empirischen Motivations-Untersuchungen angelehnten W a h l kampfstrategie erkennen. Nicht nur werden persönliche Images m i t „Vaterbild"-Charakter aufgebaut, sondern — speziell i n Westdeutschland — gilt das Thema „Sicherheit" nach wie vor als Grundlage der durchschnittlichen politischen Ansprechbarkeit (vgl. den SPD-Slogan „Sicher ist Sicher" i m W a h l kampf 1965).

8 Lenné

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drängen, also die Konsumfreiheits-Ideologie als eine moralisch minderwertige Normensetzung zu behandeln. Eine solche Ambivalenz zwischen hochgradigem Konsumverlangen einerseits und unterschwellig schlechtem Gewissen andererseits scheint unter vielen Aspekten kennzeichnend für den Zustand in Westdeutschland zu sein, wobei die folgenden Feststellungen nur einen atmosphärischen Befund darstellen können. Zwar dissoziieren die Komponenten sozial, die des „ungehemmten" Konsumverlangens sind die „großen Leute" und die „Neureichs", und die Vertreter des „schlechten Gewissens" sind die „Intellektuellen". Aber einerseits zeigen die zahlreichen finanziell Arrivierten sehr deutlich ihr „schlechtes Gewissen" genau in Bezug auf ihr Protzentum — niemals sonst hätte etwa die Propaganda gegen schlechtes Benehmen im Ausland überhaupt entstehen und in relativ kurzer Zeit gewissen Erfolg haben können 72 . Andererseits werden Intellektuelle — mit subjektivem Recht — auf keinen erreichbaren Konsum verzichten — etwa um des Prinzips willen. Zugleich zeigt dieser — empirisch streng allenfalls durch umfangreiche Inhaltsanalysen erfaßbare — atmosphärische Befund, daß in der Tat die funktionell-patriarchalische Einstellung in Deutschland noch weit verbreitet ist, denn andere Völker geben sich sehr viel naiver und unbeschwerter dem Konsum und seinen Ansprüchen hin. Wenn die deutsche Jugend nach wie vor latent in funktionellem Patriarchalismus befangen ist, so muß mithin erwartet werden, daß diese ideologische Verdrängung des Konsumbegehrens — langsam sich abbauend — noch einige Zeit anhalten wird. Dies wird weniger die tatsächliche Konsumausweitung beeinträchtigen, denn konservative Anpassungen zur faktischen Umgehung des Einstellungskonflikts, also des „schlechten Gewissens" sind immer möglich78. Aber es wird die Klarheit der politischen Gesinnung beeinträchtigen. So können politische Entscheidungen, deren unmittelbare Folgen man selbst nicht zu tragen hat, in Richtung auf eine wie immer geartete Konsumfeindlichkeit abgedrängt werden. Insbesondere können Institutionen wie Schul- und Universitätswesen, Wehrmacht, Sozialrecht, Eherecht usw. mit asketischen Forderungen belastet werden, die von einer Mehrheit von zumeist nicht unmittelbar Betroffenen bejaht werden, weil man „den bösen Geist des Konsumdenkens" zu verdrängen geneigt ist. So kann 72 Schwerwiegender als Symptom ist, daß Prof. E r h a r d annehmen konnte, durch quasi moralische Ermahnungen das Verhalten der Bevölkerung beeinflussen zu können w i e auch Zustimmung zu dieser A r t der „ E r m a h n u n g " zu erhalten. Erst eklatante Mißverhältnisse zwischen „Mahnen" u n d politischem Handeln haben seit 1965 zu deutlichen Gegenreaktionen zur Methode des „ E r mahnens" geführt. 73 Hierzu trägt die M a n i p u l a t i o n durch Werbung u n d d a r i n die A k z e n tuierung des „eigenen Rechts der Jugend" wesentlich bei; vgl. Lamprecht (204);

Tenbruck (191).

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funktionell-patriarchalische Angst, die Selbstbestimmung des Individuums ernst zu nehmen, unter dem ideologischen Stereotyp eines „Anti-Konsumdenkens" befriedigt werden. Diese aus einer funktionellpatriarchalischen Einstellung der Jugendlichen, insbesondere der Herrschaftsanwärter, sich ergebenden Zukunftsaspekte bedürfen einer nachhaltigen pädagogischen Berücksichtigung 74. Aber der Konflikt zwischen funktionell-patriarchalischer Einstellung und Konsumfreiheits-Ideologie hat einen weiteren Aspekt. Die Praxis, dem Konsumverlangen, soweit irgend wirtschaftlich möglich, nachzugeben, bedeutet, daß man im Rahmen dieser Praxis das „schlechte Gewissen" unterdrücken muß. Insbesondere der hier in Frage stehende Jugendliche der Höheren Schule wird beim Kauf bèsonders von primären Konsumgütern wie Mopeds, Schlagerplatten usw. niemals ganz aus den Augen verlieren, daß dies „eigentlich" minder wertvolle Dinge seien. Die Praxis des Deutsch- und Sozialkundeunterrichts beweist, daß ein gewisses schlechtes Gewissen gegenüber Konsum-Begehren gewöhnlich nicht erst durchgesetzt werden muß. „Im Grunde wissen die Jungen sehr genau, was gut und wertvoll ist", lautet eine Aussage, die wahrscheinlich die meisten Lehrer aus vollem Herzen bestätigen werden. Eben darum aber, weil die Jungen es „wissen", trotzdem aber konsumieren, wünschen sie es nicht zu wissen. Die normative Fremdbindung, eben die vorhandene patriarchalische Einstellung, wird durch den Konflikt mit dem alltäglichen Konsum-Verhalten verdrängt und erst auf entsprechende Anfragen hin formuliert 75 . Damit ergibt sich ein zweiter Zukunftsaspekt: es muß erwartet werden, daß die funktionell-patriarchalische Einstellung der Jugendlichen so wenig wie bisher sich unmittelbar in Meinungen zu bestimmten politischen und wirtschaftlichen Dingen dokumentiert. Der Hang der Jugend zur nüchternen Anpassung und zum Konkreten (Schelsky) erscheint somit unter einem weniger unproblematischen Aspekt, selbst dann, wenn man sicher richtig unterstellt, daß ein gut Teil gegenwärtigen jugendlichen Verhaltens in der Tat schlichte Nüchternheit beinhalte. Der Konflikt zwischen tatsächlichen, stark konsumtivem Verhalten, insbesondere in Richtung auf primäre technische Konsumgüter, und dem latenten Patriarchalismus erschwert mithin einerseits die be74

Gerade w e i l sich die Jugendphase sozial p r i m ä r über Konsumformen a k zentuiert, besteht die Gefahr, daß die späteren Erwachsenen — als Erwerbstätige u n d Finanziers — i n dem Maße ihres Konsumverzichts auf funktionellen Patriarchalismus regredieren; vgl. Erikson (202), S. 328 f. 75 Die Frage, was v o n der Jugend konsumtiv begehrt w i r d , k a n n k a u m zu einer wesentlichen Änderung der Perspektive führen, solange als sicher angesehen werden kann, daß die Mehrzahl dieser Konsumwünsche (wie Mopeds, Autos, Platten m i t „nicht ernster" M u s i k usw.) keine „bildenden" Momente i m Sinne traditioneller Bildungsvorstellungen erfassen. 8*

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wußte Einsicht in die Konsumfreiheits-Ideologie als die der Industriegesellschaft adäquate Form der Ideologie der Selbstbestimmung, sie erschwert andererseits aber auch, sich der vorhandenen latenten funktionell-patriarchalischen Einstellungen bzw. Einstellungsreste bewußt zu werden. Gegen diese Überlegungen kann indessen eingewendet werden, daß doch in Bezug auf die Bewertung des Konsums keine Alternative vorhanden sei: primäre technische Konsumgüter müssen als minderwertiger angesehen werden als etwa geistiges Training. Zudem aber bedeute der Drang besonders zum primären Konsumgut nicht etwa Freiheit, sondern im Gegenteil Unterwerfung unter die Werbung und unter die Mode. Insofern werde aber die ganze Betrachtung des Konflikts zwischen Konsumfreiheits-Ideologie und funktionell-patriarchalischer Einstellung fragwürdig, zudem eine Fremdbindung etwa anhand funktionell-patriarchalischer Einstellung geeignet sei, die Freiheit des Jugendlichen gegenüber dem Konsumdenken zu vergrößern. Die erste in diesem Einwand enthaltene Behauptung ist eine Wertsetzung, die als solche grundsätzlich nicht entscheidbar ist und die daher als Alternative gegeben werden muß. I m übrigen aber kann eine solche Wertsetzung nur soweit und ohne Konflikte durchgesetzt werden, als sie den objektiven sozialen Tendenzen nicht entgegenläuft. Die objektiven Tendenzen des Konsums beinhalten aber gar nicht die Unterbewertung des geistigen Trainings, sondern sie besagen nur, daß die erste Phase der sozialen Konsumexpansion über die primären Konsumgüter läuft, daß man also nicht ohne Konflikte erheblicher Art die Phase des primären Konsums im sozialen wie im individuellen Leben — zumindest im Sinne der Mindestnorm — überspringen kann. Dies betrifft u. a. das sehr aktuelle Problem des Schüler- und Studentenkonsums. Die Öffentlichkeit ist aufgebracht darüber, daß sich Schüler und Studenten, statt sich ihren Studien zu widmen, in den Ferien Geld verdienen, um Auto fahren zu können oder Auslandsreisen zu machen. Die Beunruhigung betrifft besonders solche Studenten, die Stipendien beziehen. Wenn diese öffentliche Beunruhigung in Westdeutschland es bei Studenten und Schülern durchsetzen sollte, daß sie auf solchen moralischen Druck hin nicht dem Konsumverlangen nachgeben, so kann andererseits nicht erwartet werden, daß diese Studenten dann demokratisch eingestellt sein werden. Denn eben nur die Berufung auf Fremdbestimmung, also auf eine höhere Autorität außer ihrer selbst, wird ihnen vor sich selbst den Konsumverlust erträglich machen76. Die 76 Die naheliegende Feststellung, daß „Stipendien zum Studieren da seien", also nicht f ü r Konsumzwecke, unterstellt bereits einen Begriff von Studieren, i n dem eine w i e i m m e r zu begründende soziale Sonderstellung studierender Stipendiaten impliziert ist. Dies aber liegt dem Gedankengang hier zugrunde.

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Konsumfrustration läßt sie eine derartige patriarchalische Einstellung mit großer Wahrscheinlichkeit inter nalisier en [vgl. Riesman (107), S. 25]. Es ist für die Verinnerlichung des Selbstbestimmungswillens nicht entscheidend, ob das Handeln von Schülern oder Studenten tatsächlich frei ist, sondern ob sie subjektiv überzeugt sind, frei und selbstverantwortlich zu handeln. Zudem kann wissenschaftlich für keinen Menschen sichergestellt werden, ob er selbst in irgend einem Augenblick in dem hier von Studenten abverlangten Sinne frei handelt. Das bedeutet aber, daß in der Regel ein Handeln sich dann als frei und selbstverantwortlich registriert, wenn es den durchschnittlichen sozialen Tendenzen folgen kann, sofern der Wille dazu besteht. Es wird aber in dem Augenblick patriarchalische Normen entwickeln, wo es von vornherein gehindert wird, den mittleren sozialen Tendenzen zu folgen. Es wird dann gegenüber dieser Frustration als Selbstrechtfertigung die Existenz einer äußeren, moralisch gerechtfertigten Autorität persönlicher oder normativer Art unterstellen. Damit aber wird die zweite in dem oben gesetzten Einwand enthaltene Behauptung angeschnitten, daß eine verinnerlichte, etwa patriarchalische Fremdbestimmung eine Hilfe biete, der Unfreiheit des Konsumdenkens bzw. der Werbung zu entgehen. Demgegenüber muß festgehalten werden, daß eine noch so große Überwältigung durch Konsumwünsche keine grundsätzliche Abhängigkeit vom Konsum als solchem verinnerlichen kann. Sobald die Wünsche näherungsweise befriedigt sind, löst sich im gleichen Maße das Verlangen. Konsumsüchtigkeit gibt es nicht, denn Sucht bedarf eines spezifischen Ziels, während Unspezifizität geradezu Kennzeichen des Konsums ist, zudem Konsum immer und überall Entscheidungsakte einschließt, notwendig nämlich jene zwischen konkurrierenden Angeboten, meist aber noch sehr viel mehr. Konsumdenken ist daher, wenn überhaupt, immer nur temporäre Fixierimg, abgesehen von der grundsätzlichen Unentscheidbarkeit der Wertfrage. Patriarchalische Einstellung, welcher Modifikation immer, ist dagegen prinzipiell eine zeitlich grenzenlose Festlegung auf bestimmte Bereiche von Fremdbestimmung. Danach kann kein Zweifel sein, welcher Art von Fremdbestimmung, insgesamt und auf die kollektive soziale Auswirkung hin gesehen, schwerwiegender ist. Darüberhinaus aber gibt die Fremdbestimmung nicht die behauptete Freiheit gegenüber der Konsum-Ideologie. Denn indem sie den unvermeidlichen praktischen Konsum mit einem untergründigen schlechten Gewissen besetzt, hindert die Fremdbestimmung nicht etwa die tatsächliche Konsum-Ausübung, wohl aber führt sie zur Verdrängung des Konsum-Bewußtseins und der Konsumfreiheits-Ideologie, wie oben bereits ausgeführt wurde. Wenn aber irgend etwas größere Freiheit gegen-

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über dem sozialen Konsumdruck geben kann, dann nur das Bewußtsein von diesem Konsumdruck, das Bewußtsein der Alternativen, das Bewußtsein eines individuellen Anspruches auf anderes oder mehr als nur auf primäre Konsumgüter. Das aber heißt, daß Bewußtsein vom realen Konsumdruck vereint sein muß mit dem Bewußtsein der Konsumfreiheits-Ideologie. Fremdbestimmungen wie etwa funktionell-patriarchalische Einstellungen vergrößern daher nicht die tatsächliche Selbstbestimmung gegenüber dem Konsumdruck, sondern verringern sie, weil sie Hemmungen erzeugen, sich der Alternativen voll bewußt zu werden. Darauf wird später in der pädagogischen Problematik noch einmal einzugehen sein.

e) Ideologische Herrschaft und patriarchalische Einstellung

I n den letzten Abschnitten wurde die durchschnittliche tendenzielle Interessenlage der großen Mehrheit einer industrialisierten Bevölkerung in Beziehung zu funktionell-patriarchalischer Einstellung gebracht und die immanente Konfliktlage untersucht. Nunmehr muß jene soziale Struktur in ihren Beziehungen zu funktionell-patriarchalischer Einstellung geprüft werden, über die allein Interessenlagen sich in soziale Zwänge und Institutionen umsetzen können, die industrielle Herrschaftsstruktur. I m Anschluß an die vorausgegangenen Analysen wird aus dieser Herrschaftsstruktur zunächst ein bestimmtes Moment herausgegriffen und gesondert betrachtet, die Struktur der ideologischen Herrschaft. I m Sinne vorläufiger Begriffsbestimmung soll hier unter Herrschaft zunächst mit M. Weber die von identifizierbaren Gruppen oder Positionen ausgehende Fremdbestimmung bestimmter anderer Gruppen verstanden werden. Der hier verwendete Ideologie-Begriff knüpft äußerlich an T. Geiger 77 an, wird aber allgemeiner definiert, insbesondere nicht als vollständige Disjunktion zu wissenschaftlich relevanten Aussagen. Dementsprechend sollen Aussagen ideologisch heißen, soweit sie ohne Rücksicht auf empirischen bzw. logischen Wahrheitsgehalt innerhalb einer Gruppe beanspruchen, daß man sie als richtig — in einem beliebigen Sinne — anerkenne, sie demgemäß vor anderen Menschen vertrete und sich nach den darin gegebenen Normen verhalte. Ideologie in diesem Sinne wird daher primär als sozial erzeugte, durch bestimmte soziale Rollen definierte Norm verstanden in Übereinstimmung mit K. Lenks Interpretation des Marxschen Ideologiebegriffes 78, wobei Lenk allerdings den Rollenbegriff der ihm üblicherweise zugeschriebenen hohen Spezifität 77 78

(74), S. 168. (74), S. 34,

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entleert. Indem hier der Ideologie-Charakter einer Aussage notwendig und hinreichend durch den sozialen Anspruch, den diese Aussage impliziert, bestimmt wird, begründet jede ideologische Aussage i. S. d. Definition ihre „Wahrheit" auf den sozialen Anspruch als solchen, also auf Wille und Aktion als Wahrheitsfunktion. Ideologie ist hier mithin als allgemeinste Form von Aussagen bestimmt, die auf intentionalem Weltverständnis basieren 79. Ideologische Herrschaft soll daher bedeuten, daß bestimmte Gruppen oder Positionen anderen bestimmten Gruppen bestimmte, nämlich ideologische Normen bzw. normative Einstellungen (ggf. nur in Bezug auf den Akt des „für richtig Haltens") mit sozialem Absolutheitsanspruch aufoktroyieren. Aufoktroyieren heißt dabei, daß die Betroffenen ohne Kenntnis von Alternativen, entweder durch Hoffnung auf Vergünstigungen weltlicher oder transzendenter Art oder durch Furcht vor Benachteiligungen weltlicher oder transzendenter Art oder durch ein — ggf. mit diesen Mitteln — sozial durchgesetztes Training dazu genötigt werden, die ideologischen Normen sich zu eigen zu machen. Sich zu eigen machen bedeutet dabei mindestens, daß diese Normen gegenüber anderen Menschen vertreten werden. I m strengen Sinne dieser Definition ist daher — soziologisch voll zu Recht — die autonome Tradierung ideologische Herrschaft von Eltern und Lehrern über die nachwachsende Generation. Hier interessiert indessen nicht diese älteste und verbreitetste Form ideologischer Herrschaft, sondern jene, die innerhalb der Industriegesellschaft von bestimmten Gruppen oder Positionen auf Erwachsene ausgeübt wird. Das charakteristische Moment ideologischer Herrschaft in der Industrie-Gesellschaft ist der Verlust der objektiven Voraussetzungen für viele Ideologien. Es ist unbestreitbar, daß im Rahmen der überwiegend sozial bedeutsamen Situationen, nämlich in den kleinen sozialen Umgebungen, die faktische Lebenssicherheit stark zugenommen hat. Das Gefühl der Machbarkeit des eigenen Lebens ist zudem die unmittelbare und notwendige Folge der anwachsenden individuellen Verfügung über langlebige Konsumgüter und hochgradig wirksame Sicherheitsorganisationen, deren man sich bedienen kann. Der konsumtiven Sicherheit aller Lebenserwartungen entspricht eine wachsende wissenschaftliche Sicherheit, erzeugt von einer Naturwissenschaft, die jede Erscheinung, wo und wie immer sie auftaucht, als wissenschaftliches Objekt betrachtet und schon deshalb Wunder und „Unerklärliches" nicht anerkennt, weil sie, was oft übersehen wird, — im 79

Topitsch (122) u. a. S. 280 ff., entsprechend auch Hersch (125), S. 25 ff. u n d

Loewenstein (126) S. 251 ff.

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strengsten Sinne — nur beschreibt 80. Auch Gehlen 81 besteht auf der Unterscheidung zwischen der „Wahrheit theoretisch gemeinter Erkenntnisse" und der Wahrheit von „Gewißheit" 82 . Unter diesen Bedingungen werden die großen, politisch bedingten Lebensrisiken nicht mehr als Verhängnis, sondern als Verschulden von Personen oder als Fehlfunktionen sozialer Mechanismen gesehen. Insgesamt lassen daher die objektiven Bedingungen der Industriegesellschaft immer weniger Lücken der Daseinssicherheit. Literarische und „philosophische" Existenzbetrachtungen, die dieser Darstellung zu widersprechen scheinen, widersprechen nirgends den Fakten, denn sie knüpfen immer und überall gerade an die Perfektion der industriellen Lebenssicherung, an die Ausweglosigkeit dieser perfekten sozialen Determinierung des Individuums an. Der Mensch ist — in kybernetischer Formulierung — ein probabilistisches System und daher auf ein gewisses Mindestmaß an äußerer „statistischer Schwankung", an äußerer Lebens verunsicherung angewiesen83, um die für eine voll befriedigende Ausfüllung der gegebenen Wechselwirkungsfunktionen nötigen Provokationen zu erhalten. Gehlen begründet das Bedürfnis nach Verunsicherung durch Antriebsüberschuß, den er als menschliches Grundcharakteristikum ansieht 84 ; entsprechend F. Alexander in psychoanalytischer Verengung auf erotischem Antriebsüberschuß 85. Carrel spricht in „Der Mensch, das unbekannte Wesen" vom „Gesetz der notwendigen Anstrengung". Zu denken ist auch an die Funktionslust K. Bühlers*«. Wo die Perfektion der Sicherheit diese Befriedigung gegebener Wechselwirkungsmechanismen (etwa der „Aggressivität" oder der „Sexualität" oder der Koordinationsbedürfnisse usw. 87 ) verhindert, werden Kriege und Katastrophen unter dem Deckmantel legitimierender Ideologien zu Befreiungen. Kriegs- und Katastrophentod und auch Tod durch Todesstrafe erscheinen so nicht nur als notwendige Bestätigung normativer Einstellungen und insofern als Mittel, sondern erst die ihnen innenwohnende äußerste Verunsicherung erzeugt ihre transzendierende Wirkung. Erst dieser Selbstzweck der totalen Ungewißheit macht diese Erscheinungen als Mittel der Selbstbestätigung tauglich, wobei auch hier wieder funktionelle Ambivalenz sichtbar wird. Unter 80 81

82 83 84 85

86 87

Vgl. Heisenberg (119) und auch u. a. S. 169. (54), S. 333.

Vgl. Hofstätter (128), S. 75 ff. Vgl. Langer (41), insb. S. 178 ff. (54), S. 64. (71).

Hartmann (59), S. 80. Vgl. Lorenz (63).

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Verschleierung der tatsächlichen motivischen Zusammenhänge und durch deren Projektion auf höhere Wirklichkeiten werden allgemeine Bedürfnisse befriedigt, sich zeitweilig von der Sicherheitsperfektion zu befreien und damit gleichzeitig die „Gültigkeit der höheren Wirklichkeiten zu beweisen". Die tendenzielle Sicherheitsperfektion in der Industriegesellschaft verdreht daher in wachsendem Maße eine der wichtigsten sozialen Funktionen der traditionellen Ideologien, ein individuell nicht zu bewältigendes Ubermaß an äußerer Lebensunsicherheit durch eine höhere Wirklichkeit zu ergänzen und dadurch auf erträgliche Maße zu reduzieren, in ihr Gegenteil. Die traditionellen Ideologien religiöser und politischer Art werden als Reservoir irrationaler Aussagen Inhalt und Rechtfertigung individueller Flucht aus der sozialen Sicherheit und Überdeterminierung. Die dabei vorausgesetzte ursprüngliche Sicherungsfunktion wird u. a. von Glasenapp 88 allgemein umrissen, von Remplein 89 für die elementare Religiosität der Kinder beschrieben und von Topitsch 90 als „empirisch-pragmatischer Charakter" aller religiösen und politischen Ideologien gekennzeichnet. Dem entspricht auch die Auffassung Malinowskis von der Religion als pragmatischer Funktion 91 . An Stelle dieser schwindenden Sozialfunktion einer je subjektiven Unsicherheitsreduktion tritt mithin der Widerstand gegen Übersicherheit, der sich wie immer zunächst an den sensibelsten Punkten der Gesellschaft signalisiert, in Literatur und Philosophie. Worauf gründet sich aber die tatsächlich in Westdeutschland beobachtbare Herrschaft partikulärer Ideologien, wenn ihre einstigen sozialen Funktionen immer bedeutungsloser werden? In dem Maß, wie die partikulären Ideologien ihre ursprünglichen sozialen Funktionen verlieren, in dem Maße, wie sie angesichts der Machbarkeit des Lebens absurd werden, werden sie nicht nur in der beschriebenen Weise zu Fluchtpunkten aus der Sicherheitsperfektion, sondern sie werden zu einer virtuellen Gegenposition der Konsumfreiheits-Ideologie in der Industriegesellschaft schlechthin. Und wie die Aufklärung als rationale Gesellschaftstheorie den Konservatismus aller Spielarten als irrationale Gesellschaftstheorie provoziert hat, so scheint auf der Ebene des Realverhaltens die Industrie als institutionalisierte Rationalität eine religiös-ideologische Praxis der Flucht in institutionalisierte Irrationalität anzuregen (man denke an die neuen Orthodoxien, an die wachsende Bedeutung ritueller Tendenzen wie der lithurgischen Bewegungen, an neue — konkret gegen die Theologie Bultmans gerichtete — Bekenntnisbewegungen u. a. m.). 88 89 90 91

Fischer-Lexikon „Nichtchristliche Religionen", S. 19 f. (160), S. 283 ff. (122) insb. S. 280 ff. u. a. (143) S. 193 ff.

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Darin deutet sich an, wie sich auch in einer sicherer gewordenen Welt die überweltliche religiöse oder übergeschichtliche ideologische Position aufrecht erhält und aufrecht erhalten lassen könnte. Eigenart, Spontaneität, Persönlichkeit des Individuums finden in Religion oder Ideologie ein Refugium vor dem inhumanen Perfektionismus einer vollkommen zweckrationalen, industriellen Welt. I n dieser umfassenden Gegenposition scheint der ursprüngliche, unvermittelte Teil der Herrschaftsbasis der partikulären Ideologien innerhalb der westdeutschen Industriegesellschaft zu liegen. Dabei überschneiden sich traditionelle, Sicherheit und Heil gewährende Funktionen oft unübersehbar mit „modernen", Individualität und innere Selbstbestimmung ermöglichenden Funktionen. Die traditionellen Ideologien stellen sich stets und immer mit dem Anspruch dar, die „höheren" Werte gegenüber profanem Konsumstreben zu repräsentieren. So spricht Amery 92 bezüglich des deutschen Katholizismus vom „ . . . verwaltete(n) Höhere(n)" 93 . Historische und philosophische Wurzeln dieses — uralten — Dualismus zwischen „profanem" und „Höherem" im neuzeitlichen Gebrauch verfolgt Topitsch 94. Da es aus historischen Gründen gelungen ist, diesen Anspruch mit Sozialprestige zu verknüpfen, so ist jedermann bestrebt, zu zeigen, daß er keineswegs nur vom profanen Konsumstreben motiviert ist, sondern auch „höheren Werten" folgt. Indem jedermann sich öffentlich in diesem Sinne seiner Anerkennung der „höheren" Gegenposition äußert, verknüpft er abermals weiteres Sozialprestige mit dieser Äußerungsweise. Indem diese Äußerungsweisen weiteres Sozialprestige an sich reißen, veranlassen sie weitere Leute, sich in dieser Weise zu äußern, und so ad infinitum. Damit ist eine Rückregelung herausgearbeitet, die in der Tat beobachtbar ist und die überwiegend die Herrschaft der traditionellen Ideologien bewahrt. Diese Rückregelung anhand der Teilhabe an einer anti-konsumtiven höheren Position, die zudem ein Abenteuer jenseits des profanen Sicherheitsperfektionismus zu sein verspricht, ist aber nicht nur die eigentliche Herrschaftsbasis partikulärer Ideologien in industriellen Gesellschaften, sondern sie hat gerade in der Industriegesellschaft noch einen spezifischen Aspekt. Es ist durch zahlreiche Erhebungen etwa in Westdeutschland gesichert, daß die Zahl derjenigen, die tatsächlich von den Inhalten traditioneller Ideologien so überzeugt sind, daß sie ggf. freiwillig bereit wären, erhebliche persönliche Opfer zu bringen, sehr gering ist, gleich ob konfessionelle, nationale, demokratische, konservative, liberale oder M 95 94

(115), S. 96. Vgl. auch (115), S. 25. (123), S. 201 ff.

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sozialistische Inhalte angesprochen sind. So haben in einer Erhebung 1956 nur 2 °/o aller befragten Männer und Frauen emotionale und religiöse Werte „als Wichtigstes" in der Erziehung genannt 95 , dagegen ζ. B. geschlechts-spezifische Normen immer noch 6,5 °/o. Bezüglich der tatsächlichen Uberzeugungsbasis des deutschen Katholizismus geben auch Statistiken über Nachwuchs, Kirchenbesuch usw. gewisse Auskünfte 9® (dies alles besagt nicht, daß es nicht kleine Gruppen konkret Engagierter der verschiedenen Richtungen gäbe). Die Rückregelung der Teilhabe an „höheren, nichtprofanen" Positionen beruht daher tatsächlich ganz überwiegend auf Opportunismus. Daher soll diese für Industriegesellschaften ganz allgemein typische ideologische Rückregelung LeerformRückregelung heißen. Diese Bezeichnung „Leerform-Rückregelung" ist auch aus einem anderen Grunde berechtigt. Die in ihr stabilisierten traditionellen Ideologien sind weithin institutionelle Träger der traditionellen Inhalte der autonomen Tradierung. Es wurde aber bereits gezeigt, daß die allgemeinsten, autonom tradierten Einstellungen dem charakteristischen Bereich jedes von ihnen betroffenen Individuums angehören. Das Individuum verteidigt daher solche Einstellungen als Bestandteil seiner selbst auch dann, wenn sie sozial funktionslos geworden sind, also keinerlei rationale Anpassungsleistung mehr erbringen. Diese Verteidigung vollzieht sich, wie beschrieben, zumeist als konservative Anpassung, also durch Änderung aller konkret sich auswirkenden Einstellungsdetails, notfalls anhand geeigneter Uminterpretation unter Aufrechterhaltung der allgemeinsten Einstellungsmerkmale. Dieser Vorgang der konservativen Anpassung aber führt notwendig zu einer immer weitergehenden Abstraktion, Inhaltsverarmung und Ablösung von allen konkreten motivischen Bezügen seitens der ursprünglichen Einstellungen und der in ihnen stabilisierten ideologischen Normen, also zu einer fortschreitenden Entleerung. Bei dem historisch besonders weit zurückführenden Beispiel des scholastischen Naturrechts hat Knoll 97 die Inhaltslosigkeit explizit dargetan. Dieses „produziert . . . weder ein konkretes noch ein konstruktives Sozialmodell"98. Die partikulären Ideologien werden zu Leerformen 99 , die als solche die industrielle Praxis nicht mehr zu stören vermögen, die aber als autonom tradierte, motivisch isolierte Inhalte des charakteristischen Bereichs verteidigt werden. Hier an dieser historisch auf Grund der 95 96 97

Emnid (140). (116). (118).

98 (118), S. 10 vgl. Topitsch (123), S.40, grundlegend (124); dazu Hahne (171), S. 68 f. 99 Vgl. Moscas Begriff der politischen Formel.

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autonomen Tradierung vorgeformten Struktur der vielen Individuen kann aber die Verknüpfung der anti-profanen „höheren" Position traditioneller Ideologien mit Sozialprestige erfolgen. Indem viele Menschen im Öffentlichkeitsanspruch traditioneller Ideologien alte Normenbestände ihres eigenen charakteristischen Bereichs verteidigt sehen, sind sie bereit, sich im Sinne dieser Ideologien öffentlich zu äußern, auch wenn sie selbst weder die Inhalte dieser Ideologien noch auch die mit ihnen identifizierten autonom tradierten Eigennormen in der industriellen Praxis verwirklichen wollen und können. Damit sind die Eigentümlichkeiten ideologischer Herrschaft in der Industriegesellschaft näher beschrieben. Ihr Charakter als LeerformRückregelung ist geklärt und die entleerten, autonom tradierten Eigennormen der Individuen als Basis dieser Rückregelung bestimmt, in der zunächst einmal die Verknüpfung von Sozialprestige mit ideologischer Konformität sich vollzieht. Welche Bedeutung hat funktionell-patriarchalische Einstellung bezüglich der so strukturierten ideologischen Herrschaft? Einmal beinhaltet funktionell-patriarchalische Einstellung selbst partikulär-ideologische Normen, insbesondere folgende drei: 1. I m sozialen Bereich, insbesondere in Politik und Wirtschaft, sind Risiken enthalten, die dem Geführten als Nichtfachmann grundsätzlich verborgen bleiben. 2. Da der sozial Führende als Fachmann Überblick über alle Risiken hat, ist er berechtigt, zu befehlen und ungeprüft Gehorsam zu verlangen. 3. Da der Geführte vom sozialen Führer persönlich abhängig ist und dieser als Fachmann alle verborgenen Risiken kennt, kann der soziale Führer, wann immer er will, dem Geführten persönlich schaden. Je nachdem, welche von diesen drei Komponenten im Vordergrund stehen, gewinnt der Patriarchalismus mehr den Charakter der Funktionsbereitschaft, des blinden Glaubens oder des Opportunismus. Seine Bedeutung in Westdeutschland als unabhängige partikuläre Ideologie ist gering, weil ein derart unverhüllter Patriarchalismus zu sichtbar der demokratischen Ideologie widerspricht, die — aus sehr unterschiedlichen Gründen — noch die öffentliche Meinung beherrscht. Hingegen als Bestandteil anderer partikulärer Ideologien, insbesondere des Konservatismus, Nationalismus und konfessioneller Normen ist er überall nachweisbar. Aber anders als die ideologischen Verbalismen enthält funktionell-patriarchalische Einstellung noch eine sehr aktive, wenn auch abstrakte und meist unbewußte Verhaltensdisposition: die unge-

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prüfte Unterordnung unter Autoritätsansprüche. Damit stellt patriarchalische Einstellung für die auf sie bezogenen Ideologien einen wesentlichen, noch funktionierenden motivischen Motor für deren Verbalismen dar. In die Rolle des Patriarchen können dabei sowohl Gottesbilder wie politische Ideen versetzt werden. So wird autonom tradierter, funktioneller Patriarchalismus, wie er hier empirisch belegt ist, unmittelbar zur erzeugenden (historischen) Basis der oben beschriebenen LeerformRückregelung und damit zur universellen Basis der Herrschaft von patriarchalischen Ideologien. Wenn daher die Jugend sich als patriarchalisch eingestellt erwiesen hat, so folgen daraus merkliche Chancen für diese Ideologien, ihre sozialen Herrschaftspositionen erhalten zu können. I n der Verknüpfung mit anderen partikulären Ideologien aber zeigt sich auch noch eine äußerlich-opportunistische Funktion patriarchalischer Einstellungen für die ideologische Herrschaftsstruktur in Westdeutschland. Der aus der patriarchalischen Einstellung erwachsende zusätzliche soziale Druck vom sozialen Führer auf die Geführten, gleich, auf welchen der drei genannten Hauptformen er überwiegend beruht, bewirkt eine zusätzliche Anpassung des Geführten an den Führer und damit eine Übernahme seiner partikulär-ideologischen Vorstellungen. Umgekehrt wird der soziale Führer, der bei den von ihm Geführten gleiche partikulär-ideologische Äußerungsweisen bemerkt, in seinen partikulär-ideologischen Einstellungen bestätigt und verfestigt. Damit aber ist eine zusätzliche Rückregelung beschrieben, deren erzeugende Basis gleichfalls patriarchalische Einstellung ist. I n diesem Sinn vermag patriarchalische Einstellung jeder partikulären Ideologie eine zweite verstärkende soziale Rückregelung zu liefern. Da sie auf der Verknüpfung der bei patriarchalischer Einstellung gegebenen konkreten sozialen Autoritätsbejahung mit partikulärer Ideologie beruht, soll sie autoritätsbezogene Leerform-Rückregelung heißen. Dem gegenüber basiert die zuerst beschriebene Leerform-Rückregelung auf der Verbindung von partikulärer Ideologie mit Sozialprestige und kann daher prestigebezogene Leerform-Rückregelung heißen. Beide Arten der LeerformRückregelung unterstützen sich offenbar gegenseitig. Wenn daher die Jugendlichen der höheren Schulen in Westdeutschland — insofern Hessen als repräsentativ genommen werden kann — nach wie vor funktionell-patriarchalische Einstellungen verinnerlicht haben, so muß erwartet werden, daß trotz der wachsenden Wirksamkeit etwa der Konsumfreiheits-Ideologie die historisch vorgegebenen und durch beide Leerform-Rückregelungen stabilisierten partikulären Ideologien weiterhin eine außerordentliche Macht bewahren werden ungeachtet des Umstandes, daß sich die Zahl der echten und innerlich überzeugten Anhänger weiter verringern kann.

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Als letzter wesentlicher Aspekt ideologischer Herrschaft muß noch ihre soziale Funktion als Mittel anderer Formen sozialer Herrschaft sowie der Einfluß patriarchalischer Einstellung auf diese Funktion betrachtet werden. Wie immer im einzelnen die nichtideologischen Formen sozialer Herrschaft beschaffen sein mögen, so gründet ihre Stabilität nicht nur auf Anteil an direkter oder indirekter Gewaltsamkeit, sondern auf der tradierten oder oktroyierten Uberzeugung der Beherrschten, daß die jeweils bestehende Herrschaftsstruktur die bestmögliche oder doch wenigstens das kleinste Übel sei. Diese Überzeugung ist — und war schon immer — meistens mit einem Satz von Normen verknüpft, die unter anderem für sich absoluten Öffentlichkeitsanspruch erhoben, also Ideologien sind bzw. waren. Insoweit diese Ideologien bestimmte Eigennormen ohne Bezug auf bestehende Herrschaft sonstiger Art enthalten, die als Einstellung weithin verinnerlicht sind, begründen sie ideologische Herrschaft. Soweit die ideologischen Normen zugleich geeignet sind, die sonstige bestehende Herrschaftsstruktur zu rechtfertigen und durch einen absoluten Öffentlichkeitsanspruch zu decken, sind sie Herrschaftsmittel der allgemeinen bestehenden Herrschaftsstruktur. Soweit die sonstigen Herrschaftspositionen mit ihren Machtmitteln dazu beitragen, die Normen der herrschenden Ideologien bei den Beherrschten als Einstellung zu verinnerlichen, sind sie Herrschaftsmittel der ideologischen Herrschaft. Ideologische und sonstige Herrschaft können daher wechselseitig als Mittel der Herrschaftsstabilisierung dienen, so daß ein grundsätzliches gegenseitiges Interesse aneinander besteht. So handelt die ganze Arbeit Amerys 100 von der Identifikation der Kirche mit dem „Milieu", wobei im Begriff des „Milieus" wesentlich die allgemeine Herrschaftsstruktur miterfaßt wird. Damit ist eine uralte, historisch unzählige Male realisierte Figuration beschrieben 101. Hier gilt es, deren besondere Aspekte in der Industriegesellschaft und unter der Voraussetzung einer tradierten funktionellpatriarchalischen Einstellung zu untersuchen. Charakteristisch für die ideologische Herrschaft der Industriegesellschaft ist, daß ihre erzeugende Basis nicht mehr echte Überzeugungen sind (die zudem früher oft die einzigen formulierten Rationalisierungen der sonstigen Herrschaftsstrukturen darstellten), sondern die Leerform-Rückregelungen in ihrer prestigebezogenen und autoritätsbezogenen Gestalt und die der patriarchalischen Grundeinstellung entlehnte Unterordnungsbereitschaft im allgemeinen. 100

iw

(115). V g L

Topitsch (122), S. 311.

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Naturwissenschaften und Industrie haben sich als autonome geistige und administrative Ordnungen erwiesen, die in der Industriegesellschaft seitens der ideologischen Herrschaft einen Prozeß fortlaufender konservativer Anpassungen und damit Uminterpretationen erzwungen haben und erzwingen. Damit werden die ideologischen Inhalte sachlich entleert und auf sehr allgemeine Gestalt reduziert, auf die Gestalt einer „höheren" oder auch „zukünftigen" Wirklichkeit, die sich jenseits alles Details primär nur noch als die soziale Funktion der Gegenposition zur profanen, technischen oder vom Konsuminteresse gesteuerten alltäglichen Wirklichkeit etablieren kann. Die soziale Verknüpfung von ideologischer und sonstiger sozialer Herrschaft charakterisierte früher die Ideologie zwar schon als Rechtfertigung, aber da diese Rechtfertigung zugleich direkte Formulierung der bestehenden Herrschaftsstrukturen darstellte, können sie allenfalls in der soziologischen Rückschau als Verhüllung bezeichnet werden. Seitdem Naturwissenschaften und Industrie eine autonome, auf Logik und Empirie gestützte Analyse von Herrschaftsstrukturen aller Art sozial möglich machen oder zumindest in Aussicht stellen, charakterisiert die Verknüpfung zwischen politischwirtschaftlicher Herrschaft und ideologischer Herrschaft die ideologischen Leerform primär als Verhüllung der — logisch und empirisch — tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse. Dabei wird über Wert oder Unwert der verschleierten Herrschaftsverhältnisse nichts impliziert. Es wird nur festgestellt, daß jede ideologische Aussage über Herrschaftsverhältnisse auf Grund des ideologischen Anspruchs auf soziale Absolutheit die logische und empirische Charakterisierung (und die damit notwendige Betrachtung aller logisch und empirisch denkbaren Alternativen) sozial blockiert. Der primäre Verhüllungscharakter aller Ideologien in der Industriegesellschaft beruht mithin auf ihrer Entleerung und damit auf dem Verlust ihrer Sozialfunktion als Gesellschaftstheorie, die prinzipiell in der Industriegesellschaft von jener neutralen Instanz übernommen wird, die ein notwendiger Teil der erzeugenden Basis der Industriegesellschaft ist, von der logischen und empirischen Wahrheitsfindung. Soweit man den Inhabern von sozialen Herrschaftspositionen ein Interesse daran unterstellen kann, sich je individuell diese Herrschaftsposition zu erhalten 102 , und soweit eine rationale Diskussion der Herrschaftsstruktur Gefährdungen eines je individuellen Herrschaftsbesitzes auch nur andeuten könnte, werden solche Herrschaftsinhaber ihre Herrschaftsposition unbewußt oder auch bewußt ideologisch interpretieren, um damit die — im Sinne rationaler Diskussion — tatsächliche Herrschaftsstruktur zu verhüllen. Bei der soziologischen Betrachtung 102

Vgl. Ritter (19), S. 37.

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dieses Zusammenhanges kann dabei objektiv kaum mehr getrennt werden, ob diese ideologische Interpretation einer tatsächlichen Überzeugung entspricht oder reiner Opportunismus im Sinne der Erhaltung der eigenen Herrschaftsposition ist. Aber eine solche Unterscheidung ist soziologisch, nämlich in Hinblick auf die sozialen Folgen, auch uninteressant. In jedem Falle dringt eine solche ideologische Interpretation der Herrschaft auf Blockierung der rationalen Diskussion und auf ungeprüfte Anerkennung bestehender Verhältnisse. An diesem Angelpunkt der Funktion von Ideologien als Mittel beliebiger sonstiger Herrschaft gewinnt aber eine funktionellpatriarchalische Einstellung zentrale Bedeutung. Wenn gerade die Inhaber von Herrschaftspositionen als potentielle Interessenten an einer Verhüllung sich in der Öffentlichkeit ideologisch engagieren, wenn also gerade die sozialen Führungspositionen unter einem solchen Interessendruck in Richtung auf Ideologisierung stehen, so wird eine hinreichend verbreitete funktionell-patriarchalische Einstellung als erzeugende Basis der autoritätsbezogenen Leerform-Rückregelung dieses Engagement öffentlich multiplizieren. Dabei werden genau jene Ideologien in ihrer öffentlichen Herrschaft gefördert, die von den sozialen Herrschaftspositionen vorgegeben werden und daher vorwiegend geeignet sind, die tatsächlichen Herrschaftsstrukturen zu verhüllen. Wenn mithin die Jugendlichen in Westdeutschland — repräsentiert durch die Jugendlichen in Hessen — immer noch ein hohes Maß funktionell-patriarchalischer Einstellung verinnerlicht haben, so muß damit gerechnet werden, daß die ideologische Verhüllung der sozialen Herrschaftsstrukturen in Westdeutschland im bisherigen Ausmaß anhält. Also muß zugleich erwartet werden, daß Wille, Bereitschaft und Fähigkeit zu eigenem politischem Urteil auch in Zukunft durch die Herrschaft verhüllender Ideologien eingeschränkt bleiben. Da die funktionell-patriarchalische Einstellung an Schülern der höheren Schulen, also an den Anwärtern der sozialen Führungsrollen ermittelt wurde, so erstrecken sich diese Folgerungen insbesondere auf die zukünftigen Führungsschichten selbst, die sich damit auch in Zukunft voraussichtlich in hohem Maße in den gleichen Verhüllungsideologien engagieren werden wie die gegenwärtige Führungsgeneration. Die durch die Verhüllungs-Ideologien ausgehende Minderung der Fähigkeit des Willens und der Bereitschaft zu selbständigem politischem Urteil konvergiert indessen wiederum in einer neuerlichen funktionell-patriarchalischen Billigung vorgegebener ideologischer Einstellungen und damit in der neuerlichen Festigung funktionell-patriarchalischer Einstellung selbst. Funktionell-patriarchalische Einstellung ist daher nicht nur Basis für ideologische Verhüllungen sonstiger Herrschaftsstrukturen, sondern

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129

selbst Verhüllungs-Ideologie und unterliegt als solche unmittelbar der autoritätsbezogenen Leerform-Rückregelung in besonders hohem Maße. Zum Schluß dieser ganzen Analyse der Beziehungen zwischen Ideologie im allgemeinen und funktionell-patriarchalischer Einstellung im besonderen muß darauf hingewiesen werden, daß auch die Ideologie der Demokratie in Westdeutschland in großem Umfang zu einer Leerform geworden ist bzw. niemals etwas anderes war und gleichfalls der Leerform-Rückregelung unterliegt. Gewisse Inhalte der demokratischen Ideologie ebenso wie der liberalen Traditionen werden allerdings in wachsendem Maße von der Ideologie der Konsumfreiheit miterfaßt, in dem Maße nämlich, wie der in dieser Ideologie formulierte absolute Anspruch auf Konsum von den Konsumgütern der Massenproduktion auf Dienstleistungen und Sonderansprüche hin verdrängt wird gemäß der oben begründeten industriellen Tendenz.

f) Allgemeine Herrscfaaftsstruktur und patriarchalische Einstellung

Nunmehr soll die allgemeine, nicht spezifisch ideologische Herrschaftsstruktur auf ihre Wechselwirkung mit funktionell-patriarchalischer Einstellung hin geprüft werden. Entsprechend dieser Auf gäbe wird sich auch hier die Analyse vorwiegend auf soziologische und sozialpsychologische Kategorien stützen und anders als etwa bei Habermas 103 historische und staatsrechtliche Gesichtspunkte weitgehend nur implizit erfassen. Dies ist schon aus Gründen der thematischen Beschränkung unvermeidlich. Überdies wird hier unterstellt, daß das westdeutsche Verfassungsrecht zumindest noch hinreichend offen ist, um alle wichtigen Tendenzen der Verfassungswirklichkeit, sei es in Richtung auf eine verhüllte oligarchische Fixierung, sei es in Richtung auf größere Zirkulation und Kontrolle der Herrschaft, zuzulassen104. Diese hier unterstellte relative Trend-Ambivalenz des Grundgesetzes und des bisherigen Verfassungsrechtes, die hier nicht weiter begründet werden kann, würde mithin die zukünftige politische Entwicklung überwiegend von den tatsächlichen politischen Herrschaftsstrukturen und den tatsächlichen sozialen Tendenzen abhängig machen, so daß auch in Bezug auf den prognostischen Aspekt eine Beschränkung der Analyse auf soziologische und sozialpsychologische Momente gerechtfertigt erscheint. 103

(4), S. 13 ff. Die Verfassungsgerichtsbarkeit i n Westdeutschland hat bisher die bemerkenswerte Rolle eines i m Prinzip oligargischen Herrschaftselementes m i t einer die Demokratisierung stark unterstützenden Praxis entwickelt. Ob m i t dem Spiegel- u n d dem Partei-Finanzierungs-Urteil sich eine Änderung dieser Praxis anbahnt, bleibt abzuwarten. 104

9 Lenné

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I m Rahmen der Industrialisierung tritt zu den drei traditionellen öffentlichen Aufgaben einer sozialen Gruppe, eine bestimmte normative Ordnung nach innen durch eine intern höchste Gewalt festzuhalten, die Existenz der Gruppe nach außen gegen gleichgeordnete Gewalten zu sichern und konkurrierende politische Entscheidungen und Tendenzen innerhalb der Gruppe zu koordinieren, eine vierte hinzu, die sozial geschaffene objektive Wirtschaftsbasis der Bevölkerung (den Industrieapparat) zu erhalten und zu verbessern. Hierbei wird unter öffentlicher Aufgabe eine Aufgabe von individuellem Interesse für jedes Gruppenmitglied verstanden, die nur kollektiv zu lösen ist. Wenn alle individuellen Interessen in bestimmten Gegenständen und Verhaltensweisen sich berühren, so kann insoweit von öffentlichem Interesse gesprochen werden, das seinerseits die Öffentlichkeit von Aufgaben kennzeichnet. Der Einfluß auf persönliche und öffentliche Existenz aller Gruppenmitglieder begründet daher ein öffentliches Interesse105. Gruppentheoretisch — in Bezug auf Großgruppen — können daher folgende traditionelle Interaktions-Bereiche öffentlichen Interesses genannt werden: 1. Normierung aller gruppeninternen Interaktionen (interne Normierung) 2. Steuerung der gruppenexternen Interaktionen (externe Steuerung) und 3. Koordinierung normativer und aktueller politischer Ansprüche (Entscheidungskoordinierung). I m letzten Satz wurde dabei der unklar erscheinende Begriff der politischen Willensbildung durch den informationstheoretisch gebildeten präziseren Begriff der Entscheidungskoordination ersetzt. Dabei ist die empirische Bedingung berücksichtigt, daß der Prozeß einer politischen Gesamtwillensbildung nur erfaßt werden kann als Komplexion zahlreicher individueller oder körperschaftlicher Einzelwillen, wobei diese empirisch wiederum streng nur im Sinne einer je aktuell, nicht notwendig endgültig vollzogenen Entscheidung bestimmt werden können. Dabei wird der Willenszustand der Unentschiedenheit a priori selbst zu einer Entscheidung, was sowohl informationstheoretisch wie politisch-soziologisch vollkommen gerechtfertigt erscheint. Erst eine gruppenintern durchgesetzte Fixierung dieser drei genannten Bereiche der internen Normierung, der externen Steuerung und der Entscheidungskoordination sichert funktionell die Existenz einer traditionellen Großgruppe. Mit der Industrialisierung wurde aber der industrielle Apparat (maschinelle Ausrüstung, Organisation, Forschung und 105

Kogon (135), zusammenfassend S. 1784.

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131

Erziehung) zu einer weiteren Existenzbedingung jedes einzelnen Gruppenmitgliedes und damit notwendig zu einer vierten öffentlichen Aufgabe jeder industrialisierten Großgruppe. Dies gilt unabhängig davon, daß diese Aufgabe in Deutschland und in anderen Ländern unter der Ideologie des Liberalismus sich nicht als solche öffentlich rationalisiert hat 1 0 8 . Sachlich wird hier daher die „freie Wirtschaft" mit „Privateigentumsrecht an Produktionsmitteln" nur als eine mögliche Organisationsund Rechtsform unter vielen zur Bewältigung dieser öffentlichen Aufgabe industrieller Entwicklung und Stabilität angesehen. Diese Organisations· und Rechtsform ist, wie jede andere Alternative, prinzipiell problematisch und nicht an sich gerechtfertigt, sondern nur durch zu erweisende höhere Qualifikation gegenüber anderen Formen. Insbesondere folgt die Organisations- und Rechtsform der „freien Wirtschaft" nicht notwendig aus der Konsumfreiheits-Ideologie, da spätestens mit der Etablierung relativ fixierter industrieller Verwaltungen grundsätzlich die allgemeine, d.h. konsumtive Zugriffsmöglichkeit gegenüber wirtschaftlichen und sonstigen Führungspositionen mindestens ebenso beschränkt ist wie in beliebigen anderen Organisations- und Rechtsformen der Industriegesellschaft. Aus der Konsumfreiheits-Ideologie folgt daher nur das Kriterium der allgemeinen Konsumfreiheits-Effektivität, anhand deren ggf. die beste unter mehreren denkbaren Wirtschaftsformen ausgesucht werden kann. Die hohe funktionsbedingte Spezifität der vier für jede Industriegesellschaft prinzipiell auftretenden öffentlichen Aufgabenbereiche bedingt, daß innerhalb jeder dieser Bereiche eigene Organisations- und Machtapparate möglich und nötig sind, um die Funktionen dieses Bereiches in der industriellen Großgruppe effektiv erfüllen zu können. Den vier Grundaufgaben der externen Steuerung, internen Normierung, Entscheidungskoordination und Industrieverwaltung sind daher gewöhnlich mindestens vier Macht- und Organisationsapparate zugeordnet, nämlich Militär, Staatsverwaltung (mit Justiz und Polizei), politische Regierung und wirtschaftliches Management. Die hier gruppentheoretisch hergeleitete primäre Vierteilung der Machtapparate entspricht weitgehend dem theoretischen Ansatz von R. Aron 107, der nur noch die „Massen-Lenkung" als gesonderten Bereich abspaltet, sowie der von Mills 1 0 8 beschriebenen Machtaufteilung in den USA, in der allerdings die Staatsadministration grundsätzlich als Teil einer nur mittleren Machtebene erscheint und in der die entscheidungs108 Wobei das Schlagwort von der — öffentlichen — V e r a n t w o r t u n g des Unternehmers zeigt, daß das Bewußtsein des faktischen Sachverhalts nicht verloren gegangen ist; das Schlagwort wäre n u r „ b e i m W o r t zu nehmen". 107 (133), S. 9. 108 (138), S. 15 ff.

9*

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koordinierende politische Führung durch die starke Stellung des Präsidenten und seiner persönlichen Führungsclique, durch den Mangel an einem politischen Etablishment im Sinne eines höheren Berufsbeamtentums und durch den politisch machtvollen Föderalismus in spezifisch amerikanischer Weise geformt ist. Leonhard 109 nennt für die USSR fünf Säulen der Macht, Armee, Partei, Staat, Wirtschaft und Geheimpolizei, wobei die Partei eindeutig die Funktion der Entscheidungskoordination besitzt, während die Funktionen der Geheimpolizei zwischen den anderen vier Bereichen fluktuieren und anscheinend immer bedeutungsloser werden. So kann unterstellt werden, daß die prinzipielle Vierteilung der Machtapparate in je historisch modifizierter Weise durchschlägt, ggf. mit einer zusätzlichen Spaltung oder mit Querverbindungen etwa anhand persönlicher Machtkonzentration oder mit zeitweiliger Vorherrschaft einer der — historisch gesehen — drei bis sechs großen Machtfaktoren. Die besonders in der Neuzeit wachsende hochgradige sachliche Spezifität der vier prinzipiellen öffentlichen Aufgabenbereiche bedingt jedoch, daß sich auf die Dauer ein entsprechend hoher Grad relativer Unabhängigkeit und Autonomie durchsetzt, so daß grundsätzlich die Gesamtherrschaft im Staat durch die Wechselwirkungstotalität der spezifischen Machtapparate definiert wird. I n diesem Sinne hebt auch H. Heller nicht nur die relative Autonomie jeweils des wirtschaftlichen und des staatlichen Bereiches hervor 110 , sondern betont vor allem den Charakter des Staates als innere Wechselwirkung 111 und lehnt eine einseitige, „monistische" Interpretation — etwa als Klassenstaat — mit guten historischen Gründen ab (137, S. 105): solcher „Monismus ist Religionsersatz". Die öfters zitierte These (137, S. 137 f), daß wirtschaftliche und staatliche (d. h. politische) Herrschaftsposition eine auf die Dauer instabile Herrschaftskonkurrenz darstellen, bezieht sich offenbar auf priratwirtschaftliche Herrschaft, impliziert aber als Aussage über einen Sozialprozeß genau einen solchen theoretisch-politischen Monismus, den Heller überall sonst zurückweist. Wegen dieser Widersprüchlichkeit soll daher diese These nicht berücksichtigt werden. Die Behauptung, daß ein hoher Spezifitätsgrad der sozialen Funktion einen hohen Autonomiegrad der zugeordneten sozialen Institutionen bedinge, beschreibt einen sehr allgemeinen sozialen Sachverhalt, der fortan als Spezifitäts-Autonomie bezeichnet werden soll — analog zu dem entsprechenden anthropologischen und psychologischen Begriff der funktionellen Autonomie 112 . Der Satz von der Spezifitäts-Autono(109), S. 24 ff. (137), u. a. S. 167 ff. gegenüber M a r x . 111 (137), S. 101 ff.

110

112

Malinowski (143), S. 214 bzw. Allport (28), 7. Kap.

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133

mie kann sozialpsychologisch damit begründet werden, daß die gruppenmäßige (bzw. organisatorische) Zusammenfassung mehrerer ver schiedenartig spezialisierter Leistungsinstanzen und spezialisierter Funktionen keinerlei Leistungsvorteil bzw. sogar einen Leistungsnachteil bedingen würde, weil die Voraussetzungen eines Gruppen-Leistungs-Vorteils (Unabhängigkeit der Problemlösung, Kommunikation und Lösungs-Akzeption) durch die Spezifität von Problemen und Instanzen durchgehend verletzt werden 113 . Dabei wird vorausgesetzt, daß die spezifischen Leistungsinstanzen auch nicht im Sinne vertikaler Arbeitsteilung arbeitsentlastend integriert werden können. Diese Voraussetzung trifft für die oben beschriebenen — theoretisch vier — parallelen Machtapparate wie auch etwa für Branchen innerhalb der Volkswirtschaft weitgehend zu. Eine wahrscheinlich ebenso schwerwiegende Ursache für die Existenz der Spezifitäts-Autonomie ist, daß die Größe der hier betrachteten sozialen Aufgaben den Aufbau entsprechend großer administrativer Apparate erfordert, die allenfalls in wenigen Spitzenpositionen und wenigen Querverbindungen integriert werden können, während eine vollständige, instanzenweise Integration wegen der Spezifität auch der Detailfunktionen hochgradig uneffektiv wäre. Die Spezifitäts-Autonomie einer sozialen Funktion wird daher mit der Größe des sie ausfüllenden Apparats multipliziert, zudem dieser Apparat jeweils auch in spezifischer Weise innere Normen und Interaktionsweisen (System-Autonomie) entwickelt, durch die die Spezifitäts-Autonomie des Apparats eine zusätzliche normative Basis erhält. Besonders deutlich wird dies an den Militär-Apparaten in aller Welt und an den Schwierigkeiten der politischen Führungen, diese der obersten Entscheidungskoordination zu unterwerfen. Aber auch im erstaunlich geringen Zusammenhalt der Arbeitgeber-Organisationen angesichts von Streikdrohungen zeigt sich die Wirkung der in den Einzelfirmen wirksamen Spezifitäts-Autonomie 114. So wirkt sich Spezifitäts-Autonomie entweder nach Spezifität der Zwecke (Interessenverbände) aus oder nach Spezifität der Techniken (relative Autonomie etwa der Massenmedien) oder ggf. nach Spezifität der Regionen (politische Föderalismen und Regionalismen) 115 . Ganz allgemein bedingt Spezifitätsautonomie einen Pluralismus in jeder Herrschaft. Mit diesem Pluralismus der Herrschaft (Oligarchie) ist in der Regel auch eine der Divergenz der spezifischen Interessen entsprechende Vielfalt ideologischer Modifikationen gegeben 116 . Zugleich 113 114 115

118

Hofstätter

(128), S. 164 ff.

Vgl. Ross i n : Soziale Welt, 1962, S. 114. Vgl. Mannheim (120), S. 100 ff. elite-theoretisch.

Vgl. Bendix (98), S. 461 ff.

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gleichen sich die funktionellen, den Herrschaftscharakter betreffenden Bedingungen der Spitzenpositionen in verschiedenen, spezifität-autonomen Hierarchien immer mehr an 1 1 7 . Da Industriegesellschaften wegen der sie definierenden Arbeitsteilung nur als Großgruppen vorstellbar sind, so bedürfen die öffentlichen Aufgabenbereiche in jedem Fall entsprechend großer Apparate. Um effektiv zu sein, ergibt sich für alle Bereiche die gleiche rationale Notwendigkeit, die Entwicklung und soziale Durchsetzung von Entscheidungen arbeitsteilig zu vollziehen. Da alle Entscheidungen nur als begriffliche Aussagen konkretisiert werden können, vollzieht sich die Arbeitsteilung der Entscheidungsbildung und -durchsetzung nach den begrifflichen Einzelmerkmalen der Entscheidungsaussagen. Der begrifflichen Struktur entsprechend besitzen daher die Apparate, in denen sich die Arbeitsteilung der Entscheidungsbildung und -durchsetzung verwirklicht, eine hierarchische Struktur. Insgesamt können Industriegesellschaften wegen ihrer Arbeitsteiligkeit auf allen Gebieten — wie schon bei Max Weber ausgeführt — durch das starke Anwachsen solcher hierarchischen Verwaltungs- und Produktionsstrukturen gekennzeichnet werden. So zeigt sich u. a. eine erhebliche absolute Steigerung der abhängigen Stellungen — in Westdeutschland heute schon über 7 5 % aller Erwerbstätigen — und in einer großen relativen Zunahme der Angestelltenschaft 118. Je höher die Instanzen innerhalb dieser Struktur, um so allgemeinere Kennzeichen der Entscheidungsaussagen sind ihrem Ermessen zugeordnet. Da aber bei der Entscheidung über allgemeinere Merkmale die konkreten Aspekte mitgedacht werden müssen, so bedürfen die höheren Instanzen zugleich auch einer Weisungs- und Kontrollbefugnis bezüglich dieser konkreten Aspekte, also bezüglich der unteren Instanzen. Die Hierarchie des Entscheidungs-Apparates ist daher grundsätzlich mehr als bloße Arbeitsteilung über die verschiedenen mehr oder weniger allgemeinen Teilmerkmale von Entscheidungsaussagen, sie ist zugleich eine Weisungs- und Kontrollhierarchie 119 . Dieser Begriff der Weisungshierarchie ist allgemeiner als der Begriff der Bürokratie von M. Weber 120 , denn er umfaßt insbesondere auch die sekundär-produktiven Instanzen (i. S. v. Fourastié) und informelle Weisungsverhältnisse. Weiterhin bedarf jede solche Entscheidungs-Hierarchie, als wesentlich arbeitsteilige Organisation eines Reglements, einer Zuteilung der Zuständigkeiten und der Ermessensbereiche. I m Sinne dieser allgemeinen 117 118 119

120

Lauterbach (142), S. 34. Vgl. Croner (88). Vgl. Betriebspsychol. (134), S. 436 ff.

Vgl. Lange (149), S. 163 ff.

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135

Konzeption definiert Fürstenberg 121 auch den sozialen Aufstieg als „Zuwachs an erzielter Macht im Sinne der Erweiterung der Verhaltenskontrolle und des Verfügungsspielraumes" 122. Dabei wächst der Umfang des Entscheidungs- und Weisungsermessens innerhalb der Hierarchie von unten nach oben überproportional stark an 1 2 8 . Denn einmal ist der Umfang der Verzweigung von Zuständigkeit von jeder Ebene zur nächstunteren in erster Näherung immer der gleiche, so daß insgesamt sich die Hierarchie von oben nach unten exponentiell aufspaltet und damit auch den Umfang des Ermessens überproportional verringert. Außerdem aber wächst der Umfang der notwendigen Koordination innerhalb einer Schicht überproportional (etwa qradratisch) mit der Zahl der Schichtmitglieder. Daher sind die spezialisierten, instanzenreichen unteren Ebenen durch die überproportional größeren Koordinationsreglementierungen stärker im Ermessen eingeschränkt als die oberen. Das entspricht dem gruppentheoretischen Satz, wonach der freie Interaktionsumfang nach dem Grad der Spezialisierung eingeschränkt ist 1 2 4 . Es ist soziologisch wichtig, diese grundsätzliche und universelle Ermessensbegünstigung der Entscheidungsspitze jedes administrativen Apparates im Auge zu behalten, die bis zu Entscheidungen einer Verbandsführung gegen die Interessen der Verbandsmitgliedermehrheit gehen kann 1 2 5 . Alle diese Überlegungen gelten sinngemäß für alle Kontroll- und Weisungshierarchien überhaupt, insbesondere für die industriellen. Wenn die Entscheidungen bezüglich der primären Großgruppenaufgaben (externe Gruppensteuerung, interne Gruppennormierung, Entscheidungskoordination und Wirtschaftsverwaltung) notwendig arbeitsteilig auf Weisungshierarchien umgelegt sind, so folgt daraus zunächst gemäß der Max Weberschen Herrschaftsdefinition, daß in Bezug auf Entscheidungen in den vier genannten Gruppenfunktionen Herrschaft vorliegt, also einseitige Bestimmung bestimmter Bevölkerungsteile durch andere Bevölkerungsteile. Dies soll grundlegend als Herrschaftstheorem festgehalten werden: jede Entscheidungs-Arbeitsteilung und damit jede Weisungs- und Kontrollhierarchie konstituiert immer auch Herrschaft. Da solche Hierarchien unvermeidlich sind, deckt sich dieses Theorem mit der allgemeinen Feststellung Dahrendorfs 12β, daß eine entgültige Nivellierung oder Ausschließung von Herrschaft unmöglich 121

(96), S. 47. Vgl. zur Frage der Führungshierarchien auch Betriebspsychol. (134), S. 516 ff. 128 Vgl. insbes. Stammer (188), S. 31 ff. u. S. 51 ff. 122

124 125

128

Vgl. Homans (35), S. 378. Arndt (135), S. 34. (127), S. 110 u. S. 181.

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erscheint. I n diesem Theorem ist auch in allgemeinster Form die Grundthese Michels 127 von der unvermeidlichen Tendenz zur Oligarchie ausgesprochen, wenn man die oben festgestellte universelle Eigenschaft von Weisungshierarchien in Rechnung setzt, daß die Spitzenpositionen einseitig disproportional in ihrem Ermessen begünstigt sind. Gegenüber Michels muß indessen betont werden, daß die Herrschaft über und durch eine Weisungshierarchie dieser immer funktionell verbunden bleibt, und zwar um so mehr, je spezifischer diese Hierarchie geartet ist — ganz abgesehen von etwa vorhandenen institutionellen Herrschaftskontrollen. Insgesamt ist die so genetisch aus der Existenz von Weisungshierarchien bestimmte Herrschaft entsprechend dem Rangplatz innerhalb der beschriebenen Weisungshierarchie unterschiedlich verteilt, und zwar einseitig disproportional zu Gunsten der obersten Positionen, wie schon gezeigt wurde. Dies versucht Mills 128 besonders auch für die politische Herrschaft in den USA zu belegen. Dabei vernachlässigt er allerdings die Spezifitäts-Autonomie und die innere Herrschaftswechselwirkung auch in den obersten Positionen und behauptet anhand gewisser Erscheinungen einen funktionellen Monismus 129 , der sich durch zahlreiche neueste Gegenbeispiele in Zweifel setzen läßt. Letztlich wird von ihm die methodische Grundfrage der Gewichtsabschätzung der Einzeldaten vernachlässigt. Da die Möglichkeit der Fremdbestimmung, also der Herrschaft, unmittelbar verknüpft ist mit dem in einer hierarchischen Position institutionell zugestandenen bzw. tatsächlich nutzbaren Ermessen, erscheint es sinnvoll, die Definition der Herrschaft derart zu verändern, daß die Spezifität des Ermessens auch implizite nicht mehr darin auftritt. Eine solche Änderung der Definition erscheint um so notwendiger, als in Bezug auf Dienstleistungen der beschriebenen Weisungshierarchien (sekundäre Konsumgüter) die Industriegesellschaft tendenziell und auch grundsätzlich egalitär ist. So können sich die Weisungshierarchien in der Industriegesellschaft nur noch in relativ engen Grenzen unter Berufung auf Gewalt durchsetzen. Ihr Hauptdurchsetzungsmittel ist die Gewährung von Konsum in weitestem Sinne individuellen Vorteils, insbesondere auch die Gewährung von Gegenleistungen im Vollzug der Entscheidungsdurchsetzung (so u. a. verstärkte Sicherheitsgarantien bezüglich individueller Wünsche, Pflege des Betriebsklimas, „human relations" 130 und Pflege der public relations auch beim Umgang von Behörden mit der Bevölkerung). 127 128 129 130

(131), u. a. S. 13 u. 24 ff. (138). bes. S. 327 u. 332. Als klinische Aufgabe, Atteslander

(121), S. 300 ff.

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137

Hinzu kommt, daß besonders in der Industrie selbst der wachsend komplizierter werdende technische Apparat dazu zwingt, an sehr viele Menschen technologische Ermessensmomente zu delegieren, die zwar in ihrer positiven Bedeutung für die Gesamtentscheidung sehr klein sind, wohl aber einschneidenden Vetocharakter besitzen: innerhalb großer im Verbund arbeitender Aggregate kann in der Tat jeder von Tausenden von Arbeitern den Gesamtbetrieb aufs empfindlichste stören. Alle diese Momente, insbesondere aber die umfangreiche Teilhabe am technologischen Veto, die sich in den Gewerkschaften organisiert hat, lassen in vielen Fällen zumindest äußerlich den Besitz von Herrschaft als eine weitgehend reziproke, sich innersozial ausgleichende soziale Gegebenheit erscheinen und die Industriegesellschaft als Ganzes auch bezüglich der Herrschaftsstruktur als nivellierte Mittelstandsgesellschaft. Einer solchen semantischen Entdifferenzierung des Herrschaftsbegriffes durch die Komplexität der Industriegesellschaft kann durch eine Herrschaftsdefinition entgegengewirkt werden, die in die Definition von Max Weber noch die Verknüpfung mit der Weisungshierarchie unmittelbar einfügt und in der dabei der soziologisch entscheidende Punkt jeder Herrschaftsposition, ihre relative soziale Autonomie, definitorisch getroffen wird durch die soziale Funktion, die diese Autonomie begründet. Herrschaftsposition soll daher jede soziale Position heißen, soweit der Inhaber dieser Position das dieser Position institutionell zugestandene oder das in dieser Position tatsächlich nutzbare Ermessen zur Festigung oder Erweiterung seiner Position, des in ihr verfügbaren Ermessens und der in ihr begründeten Karrierechancen ausnützen kann. I m Sinne dieser Definition wird also die Herrschaft als eine stabilisierende und erweiternde Rückregelung vom Ermessensbesitz auf den Ermessensumfang definiert. Herrschaft erfüllt genau die Voraussetzungen der abstrakten Rang-Rückregelung; sie wird daher unmittelbar als soziale Rang-Rückregelung bezeichnet. In dieser Definition spiegelt sich die alte populäre Bestimmung von Herrschaft in der volkstümlichen Redewendung: Geld kommt zu Geld, Besitz kommt zu Besitz, Macht kommt zu Macht. Sie ist andererseits auch die abstrakteste soziologische Verallgemeinerung der Marxschen Mehrwert-Theorie. M a r x 1 3 1 beschreibt präzise die „Accumulation" als Rückregelung zwischen KapitalInvestition und Mehrwert, ohne den generellen Begriff der Rückregelung dabei zu entwickeln. Die so gegebene theoretische Definition von Herrschaft als soziale Rang-Rückregelung läßt sich in mathematischen Modellen präzisieren, 131

(130), S. 611.

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wie der Verfasser in weiteren Arbeiten zu zeigen beabsichtigt 182 . I n jedem Fall liefern solche Ansätze Endverteilungen der mit Individuen i verknüpften, in geeigneter Weise definierten Ermessensbesitzgröße Ei bezüglich des individuellen Hangplatzes Ri, die exponentialartigen bzw. hyperbelartigen Charakter haben. Dies muß auf Grund der relativen Bevorzugung der hohen Ermessenspositionen durch den als Herrschaft definierten Rückregelungsprozeß auch erwartet werden. Für einen wichtigen Sonderfall ist dazu eine gewisse empirische Kontrolle möglich. Bezüglich des wirtschaftlichen Einkommens darf eine hohe Korrelation mit dem allgemeinen Herrschafts-Rang erwartet werden. Wenn daher Herrschaft als Rückregelung definiert wird, so muß angenommen werden, daß auch die Einkommen sich in erster Näherung hyperbolisch über die Rangplätze verteilen. Dies erweist sich als empirisch richtig: die Pareto-Funktion zwischen Einkommenshöhe E und Einkommensrangplatz R lautet E = A / R p wobei nur die Einkommensverteilung der etwa oberen 50 °/o aller Einkommen richtig approximiert wird. Bei Berücksichtigung auch der unteren 50 °/o („Pareto-Schwanz") ergibt sich als sehr rohe Näherung E = A exp [-ρ In R · y ï - l / ( Q - R ) ] , eine Beziehung, deren exponentieller Charakter ungleich ausgeprägter ist als bei der einfachen Pareto-Funktion. Besonders wichtig ist dabei, daß diese Einkommensstruktur nahezu universellen Charakter hat, also weitgehend in allen industrialisierten Volkswirtschaften, auch in der USSR, gilt, wobei ρ in jedem Fall ein Maß für die Größe der Einkommens-Dyskrasie darstellt 188 . Als maximale Verhältnisse zwischen minimalem und maximalem Einkommen erscheinen (1936) in den USA 1 : 4000 184 , in der USSR (nach dem 2. Weltkrieg 1 : 40 1 8 5 , wobei beide Verhältnisse nicht systematisch gleich definiert sind und daher nicht direkt vergleichbar sind. Dagegen können individuelle Begabungs- oder Leistungsunterschiede maximal zu 1 : 4 bis 1 : 6 eingeschätzt werden 138 , wenn man soziale Wirkungen solcher Leistungen sinnvoller Weise nicht einrechnet, weil sie vom Urheber zwar vielleicht bedacht, aber nicht physisch oder psychisch selbst verwirklicht worden sind. Daraus folgt, daß die tatsächlichen Einkommensunterschiede auch in solch extremen Beispielen von Industriegesellschaften wie USA und USSR nicht auch nur annähernd linear auf individuelle Unterschiede von Begabung und Leistung redu188

Vgl. Boissevain, C. H. Metron, 13, 1939, Hofstätter

u n d einführend Kellerer 183 184

(135), S. 41 ff.

Vgl. Hofstätter (40), S. 473 ff. Hofstätter (40), S. 470.

hinweisend (40), S. 471

135 Ossowski (139), S. 146, wahrscheinlich ohne Berücksichtigung v o n Nebeneinkünften, Vergünstigungen usw.

138

Hofstätter

(40), S. 471.

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139

zierbar sind. Es müssen daher soziale Verstärkungsmechanismen wirksam sein, die die individuellen Leistungen derartig unproportional auf Einkommen, insgesamt auf Herrschaftsrang übersetzen. Der einfachste Mechanismus dieser Art ist die Rang-Rückregelung, die sich im Sonderfall der Kapitalakkumulation unmittelbar nachweisen läßt. Ganz allgemein sieht dies auch Michels 1* 7. Dies ist aber auch qualitativ einsichtig. Da die den obersten Positionen von Weisungshierarchien zugestandenen Ermessungsbereiche quantitativ größer und qualitativ weniger spezifiziert sind, so können Inhaber solcher Positionen eine solche Rang-Rückregelung quantitativ wirksamer als auch über mehr qualitativ verschiedene Instanzen in Gang setzen. Wird entsprechend früherer Definition die Gesamtheit aller für eine Rückregelung nutzbaren Interaktionsrechte, Interaktionskanäle und Interaktionsbefähigungen als erzeugende Basis der Rückregelung bezeichnet, so ist die erzeugende Basis der sozialen Rang-Rückregelung, also der Herrschaft, bei höheren Positionen in einer Weisungshierarchie überproportional quantitativ und qualitativ breiter als bei niedrigeren Positionen. Dies läßt sich auch unmittelbar auf den gruppentheoretischen Satz von Hornaus 138 stützen: „Je höher der soziale Rang einer Person ist, um so größer wird der Bereich ihrer sozialen Interaktion sein." Diese und nur diese Disproportionalität der Herrschaftsverteilung, also der Verteilung der Chancen sozialer Rang-Rückregelung, erlaubt die begriffliche Vereinfachung (bzw. Approximation) der sozialen Herrschaftsverteilung durch die Unterscheidung zwischen zwei Kollektiven, der herrschenden Klasse und der beherrschten Klasse 139 . Dieser empirische Klassenbegriff ist gegenüber der Riesmanschen Argumentation 140 , daß die Existenz einer herrschenden Klasse fast nur noch eine soziale Fiktion sei, völlig unempfindlich wie andererseits gegen die Unterstellung von Verschwörungstheorien im weitesten Sinne. Bezüglich des Marxschen Klassenbegriffes, der sich wesentlich auf das Merkmal der Teilhabe an den Produktionsmitteln stützt 141 , erscheint dieser Klassenbegriff auf Grund der zugrundegelegten Herrschaftsdefinition (als Rang-Rückregelung) als die denkbar abstrakteste Verallgemeinerung und Erweiterung auf beliebige positiv-rechtliche und administrative Systeme. Da die Reduktion einer an sich kontinuierlichen Verteilung auf zwei Klassen oben als approximative Maßnahme mit 137 138

(131), S. 50. (35), S. 154.

189

Vgl. Stammer (188), S. 32 f.

140

(107), S. 344 ff. Vgl. Ossowski (139), S. 221 ff. sowie S. 189 f.

141

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der stark exponentialartigen Form dieser Verteilung empirisch begründet wurde, kann auch die Kritik von Geiger 142 nicht angewendet werden. Anders als bei Dahrendorf 43 werden hier die Klassen selbst als zwei die Gesamtpopulation deckende, gliedfremde Teilkollektive verstanden, die anhand eines empirischen Merkmals ausgesucht werden. Diese Teilkollektive entsprechen bei starker Vereinfachung den QuasiKlassen bei Dahrendorf. Wieweit Klassen im hier definierten Sinne, also etwa Quasi-Klassen im Dahrendorfschen Sinne, tatsächlich soziale Gruppen mit spezifischen, auf Verteilung und Verteilungsmerkmal bezogenen Gruppennormen bilden, ist entgegen der von Dahrendorf behaupteten Psychologie-Unabhängigkeit144 eine wesentlich sozialpsychologische Fragestellung. Denn was im Rahmen politischer Fragestellungen als Ideologien und organisatorische Aktivität auftritt, erscheint apriori sozialpsychologisch als Gruppennormen, normative Einstellungen, Motive und Gruppen-Aktivitäten und wird dort auf Beschreibbarkeit durch allgemeinere theoretische Ansätze geprüft. H. Dreitzels Grundthese 145 , daß in der Industriegesellschaft Klassenstrukturen von Elite-Strukturen abgelöst werden, die primär an individueller Leistung und Leistungsfähigkeit orientiert sind, erfaßt zwar eine notwendige Folge der Industralisierung, die starke Erhöhung des technologischen Leistungsanspruchs und Qualifikations-Minimums auf allen Positionen 148 . Sie vermag aber nicht die stark disproportionale Verteilung der Herrschaft, gemessen an der individuellen Leistungsfähigkeit, zu erklären und übersieht die großenteils jetzt schon empirisch direkt zu sichernde Existenz der Rang-Rückregelungen als Herrschaft-stiftende Funktion. I n diesen Rang-Rückregelungen wirkt individuelle Begabung und Leistung — neben Erbschaft und Glück — nur als Initialzündung, und sie werden mindestens ebenso durch sehr spezielle Kontakt- und Organisationsbefähigungen in Gang gehalten wie durch irgendwelche generell sozial gefragten Individualleistungen 147 . Die großen Wissenschaftler, Erfinder und Techniker gehören daher nach wie vor überwiegend allenfalls der zweiten Garnitur der herrschenden Klasse an (etwa als „staff-members"). Der hier gegebene Klassenbegriff ist dann und nur dann im strengsten Sinne dichotomisch für die ganze Gesellschaft, soweit jede Form sozialer Herrschaft mit jeder anderen rangmäßig vergleichbar erscheint, also alle Herrschaftspositionen als soziale Ränge den Grundsätzen der 142 143 144 145 148

147

(105), S. 44 ff. (127). (127), S. 186. (132). Die neuesten Ergebnisse zusammenfassend Schelsky (163), S. 97 ff.

Vgl. Stammer (188), S. 46 ff.

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141

Anordnung genügen und insoweit sich auf einer einzigen Rangskala theoretisch anordnen lassen. Andererseits wurde oben gezeigt, daß prinzipiell mit vier, historisch mit wenigstens drei bis sechs spezifitätsautonomen Herrschaftsapparaten gerechnet werden muß, die nebeneinander stehen und deren Wechselwirkungstotalität erst die Herrschaftsstruktur als ganze bestimmt 148 . Die Dichotomisierung der Gesellschaft in zwei Klassen bzw. die Möglichkeit rangmäßiger Anordnung aller Herrschaftspositionen kann daher grundsätzlich nur gesichert werden, wenn es wirksame Transfer-Mechanismen gibt, die es dem Inhaber einer Herrschaftsposition innerhalb einer der großen Herrschaftsbereiche gestattet, potentiell eine entsprechende Position in einem der anderen Herrschaftsbereiche zu übernehmen, bzw. wirksam zu beeinflussen. Erst solche Transfer-Mechanismen würden Herrschaftspositionen in verschiedenen spezifitätsautonomen Herrschaftsbereichen vergleichbar machen. Dabei ist hier die Frage nach der Transferierbarkeit grundsätzlich gestellt, ungeachtet, welche Modifikationen sich im konkreten Fall einstellen. Solche Transfermedien gibt es mindestens zwei. I n relativ liberalen Industriegesellschaften wie Westdeutschland stellen Geld- und Zertifikataustausch in Verbindung mit der nur wenig beschränkten Rechtsform des Privateigentums ein solches Transfermedium dar. Das zweite Transfermedium ist die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei und ihrer Hierarchie, und zwar insbesondere dann, wenn es die einzige Partei innerhalb des Staates ist. Hohe politische, militärische und wirtschaftliche Herrschaftsränge gestatten und bedingen, besonders im Fall des Einparteiensystems, Einfluß auf hohe Parteiränge und umgekehrt. Hohe Parteiränge öffnen zugleich gegenüber allen Instanzen in allen spezifischen Hierarchien eine entsprechend hohe Einflußmöglichkeit, offiziell und mehr noch inoffiziell 14®. Parteien sind daher nicht nur Mittel politischer Entscheidungskoordination, sondern sie sind, weil sie in dieser Eigenschaft unmittelbar am Hebel der (gewaltsamen) Macht stehen und damit eine universelle soziale Funktion beherrschen, auch Medium der Herrschafts-Rangplatz-Koordination. Umfang und Wechselwirkung beider Transfer-Formen, Finanzmacht und Parteimacht, schildert Mills 150 eingehend für die USA, wobei er allerdings von starkem Herrschaftstransfer auf Unität der Herrschaft schließt — was fragwürdig erscheint. 148 V o n weiteren politologisch wichtigen Aufspaltungen dieser G r u n d f u n k tionsbereiche w i r d hier abgesehen w i e ζ. B. die Aufspaltung des wirtschaftlichen Entscheidungsapparates i n die antagonistischen Zweige der (die I n v e stitionsentscheidungen beherrschenden) Unternehmerschaft u n d der (die L o h n kosten wesentlich mitbeherrschenden) Gewerkschaften. 149 Vgl. Djilas (136), bes. 106 f., f ü r westdeutsche Verhältnisse vgl. Eschen-

burg (146) und Kaiser (141), S. 253 f. u. S. 267 ff. 150

(138).

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Diese Feststellungen über Herrschaftstransfer können nur als Bausteine einer noch fehlenden Theorie des horizontalen und vertikalen Herrschaftstransfers angesehen werden. Aber sie erlauben die grundsätzliche Feststellung, daß Herrschaftsdispositionen zwischen verschiedenen spezifitätsautonomen Hierarchien transferierbar erscheinen und daß daher prinzipiell alle Herrschafts-Ränge sich miteinander vergleichen und auf einer Rangskala anordnen lassen. Die Gesamtmenge aller Herrschaftspositionen einer Gesellschaft läßt sich daher in erster Näherung in den Punkten eines mehrdimensionalen Herrschaftsraumes abbilden, dessen Dimensionen durch die (theoretisch vier — historisch drei bis sechs) spezifitätsautonomen Herrschaftsbereiche definiert werden. Der Rang-Vergleich aller Herrschaftspositionen stellt sich dann als der Vergleich der den entsprechenden Punkten im Herrschaftsraum zugeordneten Absolutwerte oder Skalare oder auch Radien dar. Dieser Vergleich wird möglich durch den Herrschaftstransfer, der im abstrakten Herrschaftsraum nichts anderes bedeutet als die Drehung der den Punkten zugeordneten Radien. Die nähere Entwicklung einer Theorie des Herrschaftsraumes würde die Thematik dieser Arbeit sprengen. Es sei nur darauf hingewiesen, daß sie den empirischen Methoden etwa der Faktorenanalyse (i. S. Cattells) besonders nahe steht. Insgesamt ergibt sich damit endgültig die Berechtigung, die gesamte Gesellschaft auf Grund der horizontalen Vergleichbarkeit spezifitätsautonomer Herrschaftsränge und auf Grund der starken Disproportionalität der vertikalen Herrschaftsverteilung als Theorie erster Näherung in zwei Klassen aufzuteilen, eine herrschende und eine beherrschte. Etwa die Hälfte aller Berufstätigen in Westdeutschland sind Arbeiter. Popitz i5 i hat festgestellt, daß von ihnen die Gesellschaft überwiegend dichotomisch gesehen wird, wobei bei ihnen die Cäsur oberhalb des Vorarbeiters einsetzt. Somit entspricht die Bewußtseinslage der Mehrzahl der Beherrschten dem hier theoretisch hergeleiteten Modell. Aber es darf unterstellt werden, daß auch die Inhaber der Spitzenpositionen der Herrschaft die Gesellschaft in erster Näherung dichotomisch empfinden 152. Indessen bleibt im dichotomischen Gesellschaftsbild des Arbeiters weithin und naturgemäß der kritische Aspekt lebendig, daß die herrschende Klasse, also die zahlenmäßig kleine Gesamtheit aller von der Rang-Rückregelung Begünstigten, nicht notwendig die Interessen der Arbeiter oder der Allgemeinheit überhaupt mitvertreten, sondern auch oder im Alternativfalle sogar primär das partikuläre Interesse an der Herrschaft, an der Aufrechterhaltung der bestehenden Rang-Rück151

1M

(3).

Vgl. Moore und Kleinig, (108), S. 93.

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143

regelung 153 . I n diesem Sinne stellt die Bewußtseinslage der Arbeiter die Möglichkeit von Interessenkonfìikten a priori in Rechnung, aus welchen historischen und sozialpsychischen Quellen auch immer dieses Bewußtsein stamme. Das hat u. a. auch v. Fer ber 1 5 4 am Gegenstand der subjektiven Arbeitsbewertung bestätigt. I n welcher Beziehung steht demgegenüber funktionell-patriarchalische Einstellung zur Existenz einer sozialen Klassenstruktur im beschriebenen Sinne? Auch funktionell-patriarchalische Einstellung ist eine prinzipielle dichotomische Konzeption, und insoweit spiegelt auch sie die Realität. Aber indem sie die soziale Relation unkontrollierter Überordnung-Unterordnung bewußt oder wenigstens faktisch-motivisch anerkennt, wird die soziale Tatsache von Herrschaft und in ihrer historischen Prägung einfach hingenommen 165 . Patriarchalische Einstellung, auch in ihrer funktionell-opportunistischen Spielart, ist daher für jede Herrschaft und ihre auf der Rang-Rückregelung beruhende innere Tendenz zur Maximalisierung eine optimale sozialpsychische Basis. Daher sind auch alle Herrschafts-legitimierenden Ideologien spezifische Rationalisierungen patriarchalischer Einstellung. Indessen stützt funktionell-patriarchalische Einstellung auch eine bestehende Herrschaft noch über spezielle sozial-psychische Mechanismen. Die Weisungshierarchien in der Industriegesellschaft sind zwar von Organisation und Zwecksetzung her prinzipiell rational begründet. Aber die tatsächlichen innerhierarchischen Interaktionen zwischen allen beteiligten Instanzen liefern zahlreiche nicht zweckrationale Motivationen. Diese verknüpfen die in der Hierarchie handelnden Personen, indem sie deren rationale Amtskontakte sogleich in persönliche Bindungen unterschiedlicher Art umsetzen zu informellen Gruppen und größeren, gruppenähnlichen Systemen, entsprechend den Homansschen Regeln 156 . Dies hat auch schon H. Heller 1 5 7 präzise festgehalten. So gewinnen die Verkehrsformen innerhalb jeder ursprünglich vollkommen rationalen Hierarchie eine außerrationale Gesamtstruktur, die sich als ein „inneres System" im Sinne vom Hornaus 158 theoretisch vom „äußeren System" (der zweckrationellen Organisation) abhebt. Zusammen damit bildet sich ein hierarchisches Ethos, ein System normativer Einstellungen, das Normen und Rangverhältnisse innerhalb des inneren Systems einer Weisungshierarchie formuliert und fixiert 15·. 153 V 154

g L

popitz (3), S. 247 ff. u. Stammer (188), S. 48 f.

(158), insb. S. 138.

155

Vgl. Stammer (188), S. 44.

156

(35) vgl. (40), S. 363 ff. (137), S. 93. (35), S. 235 ff.

157 158

159

Vgl. Kolakowski (74), S. 291.

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I n diesem universellen Vorgang stellt patriarchalische Einstellung, gleich, ob mehr opportunistisch oder mehr paternal bestimmt, einen außerordentlich wirksamen Motor dar 1 6 0 . Patriarchalische Einstellung fördert aber nicht nur die Bildung innerer Systeme, sondern spezifiziert sie gegenüber den normalen inneren Kontakten durch Ausbildung ausgeprägter Über-Unterordnungsbeziehungen. Das innere System wird selbst zu einer autoritär-patriarchalischen Hierarchie, in der sich zudem die formellen Strukturverhältnisse ziemlich genau abbilden, ohne deren Zweckrationalität mitzuübernehmen. Diese innere Hierarchie richtet die privaten Interaktionen aller Instanzen des Systems gleichsinnig aus, so daß neben den formellen Weisungslinien informelle gleichlaufende oder zusätzliche Weisungslinien entstehen. Damit konstituiert sich eine innere Weisungshierarchie, die aber nicht mehr über die ursprünglichen Zwecke der Organisation aufgebaut ist, sondern über die personalen autoritär-patriarchalischen Über-Unterordnungsbeziehungen. Wegen der grundsätzlichen Funktionsfähigkeit dieser inneren Weisungshierarchie, unabhängig von der äußeren rationalen Zwecksetzung der Organisation, soll diese innere Weisungshierarchie auch autonomes System heißen und der ganze Mechanismus Systemautonomie. Da sowohl zwischen oberen und unteren Instanzen wie auch zwischen organisatorischer, äußerer Hierarchie und innerer Hierarchie auf patriarchalischer Einstellung beruhende Wechselwirkungen bestehen, konstituieren sich Rückregelungen, die geeignet sind, Ansätze von Systemautonomie fortlaufend zu erweitern und zu stabilisieren. In dem Maße, wie durch solche Rückregelungen ein autonomes System stabilisiert wird, können die zunächst auf das äußere, organisatorische System begründeten Herrschaftspositionen gegenüber allen institutionellen oder spontanen Kontrollen von außen auf das autonome System zumindest zeitweilig ausweichen und sich damit jenen nur auf das zweckrationale System abgestellten Kontrollen entziehen. Autonome Systeme funktionieren stets als Hausmacht der obersten Herrschaftspositionen. Unter dem Druck des autonomen Systems decken die unteren Instanzen diese Herrschaftspositionen auch dann, wenn gegen die Zweckrationalität der Organisation oder gegen allgemeinere Normen oder ggf. sogar gegen die persönlichen konsumtiven Interessen der Untergebenen verstoßen wird. Damit erweist sich funktionell-patriarchalische Einstellung auch mikrosoziologisch und funktionell als eine starke Stütze der jeweils in und durch die Weisungshierarchien gegebenen Klassenstruktur und der sie repräsentierenden Herrschaftspositionen 161. Wenn daher der Durchschnitt der Gymnasialschüler, also jener Teil der Jugend, der die Anwärter auf mittlere und höhere Herrschaftsuo V g L 181

Newcomb (58), S. 432 ff. Vgl. Kolakowski (74), S. 295 ff.

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145

Positionen stellt, nach wie vor funktionell-patriarchalische Einstellungen verinnerlicht hat, so wird auch weiterhin mit der Tendenz politischer und sozialer Führung gerechnet werden müssen, die inneren Systeme der zweckrationalen Organisationen zu autonomen Systemen umzuformen, die auf die leitenden Personen hin gerichtete innere, vom Organisationszweck unabhängige Weisungslinien enthalten und insoweit eine zusätzliche patriarchalische Herrschaftsstruktur sichern. Dabei wird diese Tendenz auf Systemautonomie hin bei verbreiteter funktionell-patriarchalischer Einstellung auch dann einsetzen, wenn von den Führungspositionen keine bewußten Impulse ausgehen. Aber in der Regel werden die Führungspositionen solche Entwicklungen zur Systemautonomie („persönliche Loyalität") unbewußt oder auch bewußt aufgreifen und durch adäquates Verhalten unterstützen. Insbesondere werden solche inneren Weisungslinien und die sie rechtfertigenden inneren hierarchischen Normen dazu dienen, Interessengegensätze innerhalb des hierarchischen Systems besonders auf Grund der Klassenstruktur zu verhüllen. So erscheint der Herrschafts-Rang der Spitzenpositionen durch den „höheren" systeminternen Zweck auch ohne Bezug auf die äußeren Zwecke in den Augen der unteren Positionsinhaber gerechtfertigt, sei es unter dem informellen Druck der Systemautonomie, sei es unmittelbar unter dem motivischen Zwang patriarchalischer Einstellung. Damit erscheint auch notwendig das spezifische auf RangRückregelung gerichtete Eigeninteresse der Inhaber der Spitzenpositionen unmittelbar gerechtfertigt. I n dem Maße, wie funktionell-patriarchalische Einstellung verbreitet ist, entsteht daher ein dem Konflikt zwischen konsumtivem Eigeninteresse der Beherrschten und dem Rang-Rückregelungs-Interesse der Herrschenden nicht entsprechendes Bewußtsein, mit Marx ein „falsches Bewußtsein". Wenn die Jugend noch deutlich funktionell-patriarchalisch eingestellt ist, so muß auch in Zukunft mit einem verbreiteten „falschen Bewußtsein" gerechnet werden. Das aber bedeutet keineswegs Lösung oder Befriedigung sozialer Spannungen, so wenig wie das „richtige Bewußtsein" Revolution oder auch nur große Störungen beinhaltet. Das Bewußtsein des immanenten Interessenkonfliktes ist zunächst und vor allem nichts anderes als Sachkenntnis über einen sozialen Tatbestand. Aber nur diese Sachkenntnis allein kann eine maximal störungsfreie Zeremonialisierung und Institutionalisierung des Klassenkonfliktes erbringen, und das heißt primär, eine funktionierende demokratische Kontrolle 162 . 162 Funktionell-patriarchalische Einstellung fixiert daher die Barrieren z w i schen Herrschaftspositionen u n d — zur demokratischen K o n t r o l l e legitimierten — beherrschten Schichten; vgl. Stammer (188), S. 51 f. 10 Lenné

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Es muß nunmehr eine Folgeerscheinung von Systemautonomie und damit von patriarchalischer Einstellung betrachtet werden, mit der zu rechnen ist, soweit funktionell-patriarchalische Einstellungen aufrecht erhalten bleiben. Ein autonomes System innerhalb der zweckrationalen Organisation stellt immer eine latente, von äußeren Kontrollen relativ unabhängige Hausmacht der Spitzenposition der betreffenden Hierarchie dar. Damit aber erhalten die Spitzenpositionen auch nach außen hin eine stärkere und selbständigere politische Stellung, als es die ursprüngliche Spezifitätsautonomie der repräsentierten Apparate bewirkt hätte. Die innere Loyalität des Apparates gegenüber dem Spitzenfunktionär ermöglicht, pointiert ausgedrückt, erst dessen Illoyalität gegenüber der Herrschaftsgesamtheit. Praktisch beinhaltet daher die von funktionell-patriarchalischer Einstellung wesentlich geförderte Systemautonomie eine gesteigerte Möglichkeit des Spitzenfunktionärs, innerhalb der Entscheidungskoordination des Staates oder des übergeordneten Bereiches Veto einzulegen. Da aber andererseits die Systemautonomie, also insbesondere die innere Loyalität des Apparates gegenüber dem Spitzenfunktionär, auch diesen informell daran bindet, in gewissem Umfang den Normen des autonomen Systems entsprechend zu handeln, so wächst nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Nötigung des Spitzenfunktionärs, vom Veto Gebrauch zu machen. I n diesem Sinne glaubt Riesman 1**, daß sich die politische Führung insbesondere der USA inzwischen völlig in ein System von Veto-Wechselwirkungen aufgelöst habe, die von den Veto-fähigen Spitzenfunktionären hinreichend großer Apparate, den Veto-Gruppen, in Gang gehalten werden. Mills 104 setzt dieser Auffassung den personellen, institutionellen und interessenmäßigen Herrschaftstransfer zwischen den Spitzenfunktionären entgegen, der die Blockierung durch Veto zumindest dort immer wieder aufheben wird, wo das gemeinsame Herrschaftsinteresse der Spitzenfunktionäre es notwendig erscheinen läßt. Mills kann dies fallweise auch belegen, fallweise aber können Gegenbeispiele angegeben werden. Das jedoch entspricht dem theoretischen Sachverhalt, daß für eine beständige Durchsetzung eines gemeinsamen Herrschaftsinteresses die Akte bloßen, stets fallweisen Herrschaftstransfers nicht eine institutionalisierte Entscheidungskoordination ersetzen können. Selbst in einer kleinen Gruppe von 10 bis 20 Mitgliedern bedarf es zur dauernden Durchsetzung des gemeinsamen Interesses einer hinreichenden Organisation, und sei es auch nur fortlaufender, regelmäßiger, gemeinsamer Kontakte, bedarf es also einer institutionalisierten Entscheidungskoordination. Denn das gemeinsame Interesse kann zwar vielleicht abstrakt endgültig definiert werden, für das tatsächliche politische Verhalten bedarf 183 184

(107), insb. S. 337 ff. (138).

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147

es — schon auf Grund der prinzipiell probabilistischen Struktur aller sozialen Beziehungen — einer immer neuen Konkretisierung. Da aber — auf Grund der Spezifitätsautonomie — der staatlich institutionalisierten höchstrangigen Entscheidungskoordination die anderen Bereiche (wie etwa Militär und Wirtschaft) immer noch relativ autonom gegenüber stehen, so gibt es eine solche institutionalisierte „noch höhere" Entscheidungskoordination nicht, solange man vom Sonderfall der persönlichen Diktatur absieht. Eine durchlaufende Unität der herrschenden Klasse auf Grund eines beständig durchgesetzten gemeinsamen Herrschaftsinteresses im Sinne von Mills kann es daher nicht geben, wohl aber eine fallweise Einigung, wie sie sich in der Tat durch Beispiele belegen läßt. I m Sinne seines persönlichen Herrschaftsinteresses kann daher fallweise der Spitzenfunktionär als Antagonist des autonomen Systems seines Apparates auftreten, sicher aber kann er nicht häufig den inneren Normen des autonomen Systems widersprechen, die im Falle von Interessenverbänden unmittelbar mit den durchzusetzenden Verbandsinteressen zusammenfallen. Denn unweigerlich würde bei häufigen Widersprüchen der Spitzenfunktionär seine Position als oberste Autorität des autonomen Systems verlieren. Der Spitzenfunktionär ist so — wie allgemein jeder Führer — „Gefangener der Geführten" 165 . Ein Kriegsminister, der rigoros die Eigennormen des Militärs zu Gunsten ziviler Normen mißachtet, wird sehr bald „das Vertrauen der Truppe" verlieren, insbesondere aber auf das autonome System des Militärs als politischer Hausmacht sich nicht mehr verlassen können. Daher kann ein Spitzenfunktionär niemals fortwährend die Spezifität seiner Herrschaftsbasis ignorieren, kann also nur fallweise gemeinsame Interessen der herrschenden Klasse gegen die Spezifität des autonomen Systems der eigenen Herrschaftsbasis verfolgen, so daß auch von daher die Unität der Herrschaft seitens der herrschenden Klasse notwendig gestört ist. Aus den gleichen Gründen sind aber Spitzenfunktionäre oft gezwungen, selbst dann ihr Veto einzulegen, wenn es ihrem persönlichen Herrschaftsinteresse oder sachlichen Überlegungen nicht entspricht. Somit ergibt sich, daß die Blockierung von politischen Entscheidungen durch Veto der Spitzenfunktionäre zwar, statistisch gesehen, das gemeinsame Herrschaftsinteresse der herrschenden Klasse relativ am wenigsten stören wird, sofern ein solches konkret und prägnant auch ohne institutionelle Konsultation definiert erscheint. Absolut genommen aber wächst die Veto-Blockierung der politischen Entscheidungskoordination an, und zwar um so stärker, je ausgeprägter die Systemautonomie der großen 165

10»

Vgl. Hofstätter

(40), S. 408.

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Hierarchien und damit die spezifische normative Bindung der Spitzenfunktionäre ist. Da aber die Systemautonomie wiederum durch verbreitete funktionell-patriarchalische Einstellung erheblich verstärkt wird, so bedeutet dies, daß verbreitete funktionell-patriarchalische Einstellung die Veto-Blockierung politischer Entscheidungen steigert. Insgesamt bewirkt somit verbreitete patriarchalische Einstellung, insbesondere das damit begünstigte „patriarchalische Treue-Verhältnis" zwischen Spitzenfunktionär und Apparat, starke Veto-Tendenzen. Diese blockieren vor allem solche Entscheidungen, die entweder das allgemeine oder spezifische Herrschaftsinteresse der Spitzenfunktionäre oder aber die unmittelbar mit den spezifischen Herrschaftsinteressen verknüpften Normen des autonomen Systems negativ berühren könnten. Das zeigt sich praktisch in der gesetzgeberischen Vernachlässigung aller Bereiche, die so weitreichend sind, daß ihr unmittelbarer Nutzen für die Herrschaftsinteressen oder ihr Wert im Sinne der Normen der autonomen Systeme nicht erkennbar ist. Oder es werden Gebiete vernachlässigt, deren gesetzliche Neuordnung direkt zu einer Verletzung von Herrschaftsinteressen bzw. von Normen der autonomen Systeme führen könnte. I n Westdeutschland läßt sich das besonders an der Schulund Bildungspolitik, an der Forschung und an den Praktiken des politischen Verhaltens exemplifizieren 166 . Alle drei Momente sind für die zukünftige Entwicklung von großer Reichweite und Bedeutung, insbesondere die politische Praxis für die Verinnerlichung eines stabilen demokratischen Verhaltensstiles. Aber eben wegen dieser Ferne der Auswirkungen können diese Bereiche nicht das aktuelle Interesse binden und normative Wandlungen auslösen. Oder aber die Neuordnung dieser Bereiche würde bestimmte Herrschaftsinteressen und bestimmte Normen autonomer Systeme antasten, so daß gerade jene Organisationen, die zweckrational direkt auf diese Bereiche gerichtet sind, tatsächlich am stärksten institutionell und normativ Widerstand leisten. Wenn die Jugendlichen latente funktionell-patriarchalische Einstellung zeigen, dann werden auch diese Neuordnungs-Blockierungen nicht rasch abgebaut werden, denn gerade sie beruhen — als Folge von Herrschaftsinteressen und systemautonomen Normen — wesentlich auf verbreiteten patriarchalischen Einstellungen. g) Patriarchalische Einstellung als Blockierung von Herrschaftskontrolle und -minimalisierung

Die Industriegesellschaft kann auf optimale Weise die öffentlichen Aufgaben nur mit Hilfe großer Weisungshierarchien lösen. Wie immer im V g l > ( 7 3 ) ; Hentig: S.340; R . W . Leonhard: G. Picht (203), insbes. T e i l I I u. I I I .

S.354ff.; Gerlach: S.365ff.;

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149

diese auch beschaffen sein mögen, ermöglichen sie doch Rang-Rückregelung und Herrschaft, wie oben hergeleitet wurde. Mithin erscheint ein Minimum an Herrschaft unvermeidlich. Dabei wird der tatsächliche Umfang der Herrschaft das theoretische Minimum in der Regel überschreiten. Die Größe dieses Minimums ist zudem vom Stand der industriellen Technik abhängig 167 . I n der Industriegesellschaft scheint aber ein Minimum von Herrschaft nicht nur unvermeidlich, sondern auch notwendig zu sein. Denn weder unmittelbare, etwa instinktrudimentäre Motive, noch traditionelle ideologische Motive oder Normen, noch auch die Konsumfreiheits-Ideologie und auch nicht die Motive von kurzer Reichweite im Alltag berücksichtigen unmittelbar die notwendigen Bedingungen zur Aufrechterhaltung der industriellen Produktion in allen ihren Zweigen. Insbesondere die der Industriegesellschaft eigentümliche Konsumfreiheits-Ideologie stellt die je individuellen Konsuminteressen motivisch in den Vordergrund, und zwar vorweg die primären 168 . Demgegenüber werden schon die sekundären Konsumgüter (öffentliche Dienstleistungen, Sicherheitseinrichtungen) usw. vernachlässigt. Entsprechend stärker ist die Tendenz zur Nichtberücksichtigung des Produktionsapparates, auch wenn dieser die Grundlage des Konsums ist. Die Beziehungen zwischen optimaler Realisierung der Konsumfreiheit aller individuellen Interessen einerseits und industrieller Produktion andererseits sind komplex und werden immer komplexer. Daher ist das individuelle Interesse motivisch selten bereit, sich aus solchen Erwägungen heraus den Produktionsbedingungen unterzuordnen, solange Konsum auf kürzerem Wege realisierbar erscheint, und es ist auch — mangels objektiver Maßstäbe — selten fähig, eine solche Bereitschaft zu konkretisieren. Denn bei aller Bereitschaft müssen die Einzelinteressen doch mit dem arbeitsteiligen Apparat der Industrie koordiniert werden 169 . Geht man von dieser begrenzten Motivation der meisten Individuen in Bezug auf sehr indirekte Vorgänge aus, so muß die Investitionsrate, durch die allein der industrielle Apparat erhalten und vergrößert werden kann, weiterhin auf die eine oder andere Weise von sozialen Instanzen gegen das allgemeine Interesse am unmittelbaren Konsumerfolg durchgesetzt und koordiniert werden. Soziale Instanzen können dies aber nur dann durchsetzen, wenn sie in ihrer sozialen Po187 Z u denken ist v o r allem an die durch Massenfertigungszwang u n d A u t o matisierung wachsende „optimale Betriebsgröße" u n d die daraus folgende Schwächung der Herrschaftskontrolle d u r t h Konkurrenz auf G r u n d f o r t l a u fender Oligopolisierung. we V g l Z a h n (102), S. 204 ff. I n diesem Sinne die berechtigte K r i t i k Stammers (188), S. 31, an der einseitigen Betonung von „Konsumorientierter Gesellschaft" bzw. „Verbrauchergesellschaft".

1ββ

Vgl. Heller (137), S. 90.

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sition, die diese Durchsetzung ermöglichen soll, hinreichend autonom sind. Genau diejenige soziale Funktion, die solche Autonomie sichern kann, wurde aber als Rang-Rückregelung gekennzeichnet und Herrschaft genannt. Ein Minimum an Herrschaft ist daher nicht bloß die Folge jeglicher Industriegesellschaft, sondern zugleich ihre Bedingung. Diese Herrschaft kann mehr oder minder gewaltsam vorgehen, aber auch durch Propaganda politisch, durch Werbung ökonomisch zu manipulieren versuchen (etwa mit Produktivitätsideologien), um die für den industriellen Apparat notwendige Investitionsrate zu sichern. I n jedem Fall rechtfertigt so die Direktheit und Diffusität des je aktuellen konsumtiven Interesses ein vom Stand der industriellen Ausrüstung abhängiges Minimum von Herrschaft zugunsten des generellen Konsuminteresses. Je mehr der absolute konsumtive Lebensstandard einer gewissen Sättigung auch in den untersten Schichten der Sozialpyramide entgegenstrebt, um so mehr sinkt dieses theoretische Minimum ab in Richtung auf einen theoretischen Grenzwert, der ein gewisses vom Stand der Technik abhängiges Gleichgewicht zwischen notwendigen je individuellen Vorleistungen an Arbeit und Investition und individuellen Konsumtionsneigungen bezeichnet. Die Frage ist daher nicht, ob funktionell-patriarchalische Einstellung ein Verschwinden der Herrschaft überhaupt verhindert, sondern ob und wieweit sie eine mögliche Minimalisierung stört. Zeitweise konnte und kann sich dabei funktionell-patriarchalische Einstellung sogar in den Dienst der notwendigen Investitionsdurchsetzung stellen und in diesem Sinne sekundäre Zweckmäßigkeit erweisen. Aber diese Art von Zweckmäßigkeit bleibt rational unkontrolliert. Da Herrschaft direkt oder indirekt immer eine Beschneidung auch der Konsumfreiheit beinhaltet, soweit sie nicht vor allem der industriellen Produktion dient, so impliziert eine konsequent gedachte Konsumfreiheits-Ideologie die Forderung nach Minimalisierung der Herrschaft. Da aber die Rang-Rückregelung, in der sich Herrschaft bewahrt und erweitert, nicht vom allgemeinen Konsum-Interesse, sondern vom individuellen Interesse der jeweiligen Inhaber der Herrschaftspositionen ausgelöst ist — gleich wie immer dies von den Herrschaftsinhabern ideologisch gerechtfertigt wird und welche sozialen Funktionen damit sekundär erfüllt werden —, so drängt Herrschaft fast ausnahmslos als sozialer Prozeß auf ihre Vergrößerung hin, also auf Maximalisierung 170 . Damit aber konstituiert Herrschaft als konkreter sozialer Prozeß in jedem Fall einen sozialen Konflikt zwischen Herrschafts-Minimalisierungs- und Herrschafts-Maximalisierungs-Tendenzen, dessen durchschnittliche Populations-Fron170

S. 37.

Vgl. historisch Lipset (64), S. 309 f. — allgemein-historisch Ritter (19) u. a.

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ten in erster Näherung zusammenfallen mit den Grenzen der beiden oben definierten Klassen der Herrschenden und Beherrschten. I n diesem Konflikt ist eine funktionell-patriarchalische Einstellung eine ideologische und funktionelle Stütze des Maximalisierungsanspruchs in den bisher beschriebenen Formen. Zu prüfen ist, welchen Einfluß funktionell-patriarchalische Einstellung auf die möglichen Kontrollen der Herrschaft hat, durch die ihre Maximalisierungstendenz gestört öder ggf. sogar eine Minimalisierung erreicht werden kann. Unter Kontrolle von Herrschaft wird dabei jede soziale Einwirkung verstanden, die die Herrschaft begründenden Rang-Rückregelungen stört bzw. beschränkt. Grundsätzlich können — im Rahmen einer gedrängten Analyse — drei Formen von Kontrolle unterschieden werden, immanente, soziale und stochastische Kontrolle. Die immanente Kontrolle umfaßt Beschränkungen, die sich unmittelbar aus den Eigenschaften der erzeugenden Basis der Rang-Rückregelungen ergeben. Folgende Einzelformen gehören dazu: 1. Aus dem technologischen Charakter der Industriegesellschaft folgt die progressive Steigerung des Minimums an technologischer Ausbildung und Leistungsfähigkeit auf allen sozialen Positionen i. S. Dreitzels, der diesen Aspekt umfassend als Elite-Kriterium abhandelt 171 . Dadurch wird ein erhöhter Grad an Offenheit und Zirkulation in den oberen Positionen erzwungen (technisch-elitäre Kontrolle) 172 . 2. Die wachsende Komplexität des industriellen und administrativen Apparates vermindert die Zahl der möglichen politischen und wirtschaftlichen Alternativen in wachsendem Maße. Die Herrschaftspositionen können daher wohl noch ihre Existenz autonom und insofern als Herrschaft stabilisieren; ihre von der sozialen Position her außerordentliche Ermessensfreiheit ist dagegen durch die objektiven Bedingungen des industriellen Apparates tatsächlich stark beschränkt. In dem Maße, wie Herrschaft auf „technischen Sklaven" beruht, ist sie an deren starre, objektiv-technische Lebensbedingungen gebunden, die anders als beim universell brauchbaren menschlichen Sklaven sehr speziell sind und dadurch ungleich mehr Freiheitsgrade des Ermessens absorbieren (objektive technische Kontrolle) 173 .

171

172

(132).

Vgl. Fürstenberg (147), S. 54 u. Schelsky (159), S. 108 f. na V g l t Fürstenberg (147), S. 57 ff. insb. S. 62.

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3. Die wachsende Spezialisierung der Herrschaftspositionen selbst erzeugt den Zwang, Entscheidungen innerhalb von Spezialistenteams zu koordinieren, mithin Herrschaftsermessen aufzuteilen (spezialistische Kontrolle). Alle diese immanenten Kontrollen in der Industriegesellschaft betreffen vor allem den zweitobersten Rang der Herrschaftsstruktur. Die obersten Spitzenpositionen haben sich ihrerseits im wachsenden Maße auf sehr allgemeine Rahmen-Entscheidungen spezialisiert. So wird durch die immanente Kontrolle die Disproportionalität der Herrschaftsverteilung noch weiter verschärft. Funktionell-patriarchalische Einstellung als person-bindende und persönlich verpflichtende soziale Zuordnungsweise hat gegenüber den primär der Sache verpflichtenden immanenten Kontroll-Tendenzen eine starke, die Kontrolle schwächende Gegenwirkung. Anstelle technischelitärer Auslese wird Protektion und autoritative Positionsbehauptung begünstigt. Anstelle von strikt technologisch bedingten Folgerungen werden u. Umständen auch ideologisch-autoritäre Beschlüsse realisiert — ggf. unter Hintansetzung rein wirtschaftlicher Aspekte. Statt zu spezialistischer Zusammenarbeit kommt es zu solistisch-autoritären „einsamen" Entscheidungen. Die beiden weiteren grundsätzlichen Formen der Herrschaftskontrolle sind: ausdrücklich als Kontrolle hergestellte soziale Institutionen (soziale Kontrollen), und Störungen der Rang-Rückregelung durch stochastische Bedingungen (stochastische Kontrolle). Zu den letzteren zählen insbesondere sozial bedeutsame Zufälligkeiten wie Tod, Katastrophen usw. sowie die statistische Gesetzmäßigkeit, daß in einer Gruppe, in der jeder Veto-Recht hat, die Erzielung positiver Entschlüsse weniger wahrscheinlich ist als die Abweisung positiver Entschlüsse. Die Kontrolle durch Zufall ist von großer sozialer Bedeutung. Eine patriarchalische Einstellung besonders in ihrer funktionellen, unpersönlichen Nuancierung, die eine rasche Übertragung von Amtsautorität in persönlicher Autorität begünstigt, dämpft allerdings die herrschaftskontrollierende Wirkung des Zufalls stark ab, da sie abrupte reale Diskontinuitäten und Positionsöffnungen innerhalb der Herrschaftsstruktur durch eine fixierte Herrschaftserwartung überbrückt. Die Kontrollbedeutung der Entscheidungsblockierung durch Veto ist ohnehin fragwürdig, da Blockierung durch Veto zwar Entscheidungen zugunsten weiter Herrschaftsausweitung vèrhindern könnte, aber ebenso auch Entscheidungen zugunsten der Herrschaftsminimalisierung. Wird noch bedacht, daß jeder Gruppe von Führungspositionen, innerhalb der sich Blockierung durch Veto sozial bedeutsam auswirken kann, hauptsächlich Angehörige der herrschenden Klasse anzugehören pflegen, so wird

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sich das Veto vornehmlich in Fragen auswirken, denen gegenüber die herrschenden Positionen unterschiedliche Auffassungen und Interessen vertreten, und das sind vor allem auch die großen öffentlichen Probleme wirtschaftlich-technologischer Natur sowie Erziehung, Forschung und andere universelle soziale Fragen, die gerade wegen ihrer Universalität und Komplexität die je spezifische Meinung der partikulären Interessenten herausfordern und damit ihre Blockierung durch Veto veranlassen. Dagegen werden Fragen speziell zur Möglichkeit gemeinsamer Herrschaftserweiterung für jeweils alle Beteiligten noch am ehesten einstimmige Entscheidungen erwarten lassen. Die soziale Herrschaftskontrolle hat sich vor allem in zwei Formen ausgeprägt, in der Gründung von eigenen Kontrollapparaten seitens der Beherrschten und, als Verallgemeinerung davon, in der demokratischen Staatskontrolle durch mehrere konkurrierende potentielle Herrschaftsapparate. Die Kontrolle durch Gegenorganisationen seitens der Beherrschten, durch Gewerkschaften, Mittelstandsorganisationen und darüberhinaus alle Interessenverbände (teilweise wieder reaktive Zusammenschlüsse) beinhaltet zunächst nur, daß eben durch die Apparate, die Interessen durchsetzen bzw. Gegeninteressen kontrollieren sollen, weitere Weisungshierarchien begründet werden, weil andere Formen der Kontrolladministration nicht konkurrenzfähig sind 174 . Mit Weisungshierarchien werden aber weitere Rang-Rückregelungen, also weitere Herrschaftspositionen begründet, deren Eigeninteresse wiederum nicht in einem festen Zusammenhang mit der Zweckrationalität der Organisation stehen muß. So kommt es ζ. B. im Falle der Gewerkschaften durchaus zur Kooperation zwischen Gewerkschafts- und Unternehmensleitung auch gegen das subjektive, ggf. sogar objektive Interesse der Gewerkschaftsmitglieder 175. Der Charakter der Spitzenfunktionärsgruppe als weitere Herrschaft wird von den Arbeitern auch subjektiv registriert 176 . Gewöhnlich kann allerdings durch zusätzliche, untergeordnete Kontrollinstitutionen ein vollständiges Auseinanderfallen zwischen Eigeninteressen der neuen Herrschaftspositionen und ursprünglichem Zweck der sie erzeugenden Organisation im allgemeinen verhindert werden 177 . Insgesamt wird daher die herrschende Klasse durch Kon174 Vgl. die Formulierung Rüdiger Altmanns i n „Das Erbe Adenauers", der die Bundesrepublik als ein „ L a n d der Sekundärstrukturen", das „seine Probleme i n Organisationen auflöst" bezeichnet hat.

175 176

Atteslander (121), S. 223 ff.

Popitz (3), S. 147 ff., bez. der Arbeitnehmer-Vertreter i n Rahmen der M i t bestimmung S. 144 ff. 177 I n diesem Sinne muß die Grundthese von Michels (131), die unaufhebbare Tendenz zur Oligarchie, eingeschränkt gesehen werden.

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trollorganisationen um weitere wichtige Herrschaftspositionen vermehrt, die in wichtigen Fragen von den übrigen Positionen abweichen. Die Divergenz der Interessen in fast allen wichtigen gesellschaftlichen Fragen ist aber für die Mitglieder der herrschenden Klasse ohnehin charakteristisch, denn das einzige stabile gemeinsame Interesse ist die Aufrechterhaltung des jeweiligen Mechanismus der Rang-Rückregelung. Da aber die erzeugende Basis der Rang-Rückregelung jeder Herrschaftsposition meist verschieden ist von der erzeugenden Basis der anderen Herrschaftspositionen, so sind die materiellen Interessen divergent. Zudem spiegeln die Herrschaftspositionen selbst speziell der Parteien mehr oder minder überall den Klassenkonflikt, sogar in den USA 1 7 8 . Die Herrschaft der einen basiert auf dem Verkauf von Grundstoffen, die Herrschaft des anderen auf der Stimmenmehrheit vornehmlich katholischer Landwirte, die Herrschaft des dritten beruht entscheidend auf Bankverbindungen usw. Zwar haben alle das gemeinsame Interesse, weiterhin das gewohnte Maß sozialer Autonomie, also Herrschaft, sich zu erhalten. Aber in Bezug auf alle Entscheidungen allgemeinerer Art müssen Divergenzen auftreten, weil jede positive politische Allgemein-Entscheidung sich auf die so verschiedenen Herrschaftsvoraussetzungen konkret verschieden auswirken muß. Hinzu kommt die Interessendivergenz durch die gegenseitige Karriere-Konkurrenz in ihrer allgemeinsten Form: eine Erweiterung der Herrschaftsbasis der einen Herrschaftsposition, etwa durch vermehrten Einfluß in Parteien, Religionsgemeinschaften, Staatsexekutive usw., bedeutet wegen der Endlichkeit des möglichen Gesamteinflusses eine Einschränkung der Herrschaftsbasis anderer Herrschaftspositionen. Die Gründung von Kontroll-Apparaten, durch die der herrschenden Klasse weitere Herrschaftskonkurrenz zugeführt wird, erzeugt mithin zwar im Augenblick der Entstehung der neuen Herrschaftspositionen eine Schwerpunktverschiebung kleinerer oder größerer Art innerhalb der herrschenden Klasse, insgesamt jedoch reduziert sich die Kontrollwirkung auf eine weitere Verstärkung der Entscheidungsblockierung durch Veto und damit auf dynamische Stabilisierung des Herrschaftsgleichgewichtes nach vollzogener Schwerpunktänderung. Die Herrschaftskontrolle durch Gründung von Gegenorganisationen kann daher immer nur beschränkte Reichweite haben, denn es bleibt als Herrschaftsstruktur immer wieder „ein System letztinstanzlicher, im übrigen ungeordnet koordinierter Oligarchien" 179 zurück. Diese Kontrollreichweite wird indessen noch mehr beschränkt werden, wenn funktionell-patriarchalische Einstellungen die Entstehung 178 179

Lipset (64), S. 242 ff. W. Weber (144), S. 62.

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155

von Systemautonomie innerhalb der Gegenapparate beschleunigen, die der Festigkeit der Herrschaftspositionen zugute kommt und andererseits die Inhaber der Herrschaftspositionen geneigt macht, ihre Kontrollstimmen innerhalb der herrschenden Gruppe nicht nur im Sinne der ursprünglichen Kontrollzwecke des Apparats zu gebrauchen, sondern auch im Sinne der Normen und der Autoritätsstruktur des autonomen Systems. I n diesem Fall ist das Kontroll-Votum innerhalb der herrschenden Klasse durch drei Bedingungen bestimmt, durch die ursprünglichen Kontrollzwecke der Organisation, auf der die KontrollHerrschaftsposition überhaupt beruht, sodann durch das autonome Interesse des Inhabers der Kontroll-Herrschaftsposition an seinem individuellen Herrschaftsbesitz 180, und schließlich durch Normen und Autoritätsstruktur des autonomen Systems innerhalb des Apparats 181 . Derartig festgelegte, oft überbestimmte Voten können aber weder folgerichtig sein noch durch Elastizität die Blockierung durch Veto abschwächen zugunsten bestimmter sozialer Tendenzen. Die zweite Hauptform sozialer Kontrolle ist die demokratische Kontrolle auf der Ebene des Staates, also die parlamentarische Kontrolle. Auf Grund der beschränkten Reichweite aller anderen Kontrollen ist sie als politische Kontrolle durch die politischen Herrschaftsgruppen direkt auf die Gesamtheit der Bevölkerung bezogen, dadurch universell und in ihrer relativen Autonomie prinzipiell allen anderen Kontrollen überlegen, also „primär" i. S. v. Kogon 182. Ihre Grundidee kann im Formalismus der sozialen Rückreglungsprozesse interpretiert werden als dauernde Unterbrechung der Rang-Rückregelung durch eine instabile Kontroll-Rückregelung: Es wird die oberste exekutive Macht innerhalb des Staates (oder innerhalb einer Organisation) konkurrierenden Herrschaftsgruppen periodisch angeboten. Eine Kontrollinstanz gibt den „Zuschlag". Die in den zeitweiligen Besitz der Exekutive gelangte Herrschaftsgruppe wird im allgemeinen ihrer normalen Tendenz folgen, innerhalb der Rang-Rückregelung mittels des zeitweiligen Besitzes der Exekutive diese endgültig in Besitz zu nehmen und dabei auch die demokratischen Institutionen als solche unwirksam zu machen. Die in der Konkurrenz leer ausgegangenen Herrschaftsgruppen werden versuchen, diese Tendenzen in kritische Argumente vor der den „Zuschlag" erteilenden Kontrollinstanz umzusetzen, um damit ihre Chancen zu er180 181

Vgl. Michels (131), S. 200 ff. u. 216 ff. Bez. d. Parteien: Bracher (91), S. 38 f.

182 (135), S. 1784; schon M a x Weber hat letztlich einem „arbeitenden Parlament" die entscheidende Chance i n der K o n t r o l l e der Bürokratien zuerkannt — w e n n auch m i t dem Gedanken einer plebizitären Führerdemokratie i m H i n t e r grund. Vgl. Stammer (188), S. 50 u. S. 51 ff.

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höhen, nach Ablauf der Exekutiv-Periode ihrerseits den „Zuschlag" auf die Exekutive zu erhalten. Die Auseinandersetzung zwischen den kandidierenden Parteien wird daher hier primär als Machtkampf gesehen, die Parteien sind „kriegführende" Organisationen 183 . Ganz entscheidend für die richtige Einsicht in den demokratischen Kontroll-Mechanismus ist aber, daß die Parteien nicht nur unter sich kriegführende Organisationen sind, sondern auch, besonders soweit sie die Exekutive innehaben, gegenüber der Kontrollinstanz. Die Parteihierarchien konstituieren in ihren Führungsgremien ausgesprochen Positionen der herrschenden Klasse, Herrschaftspositionen also, als deren primäres Interesse ungeachtet individueller Modifikationen immer die Aufrechterhaltung und Erweiterung der Herrschaft-begründenden RangRückregelung unterstellt werden muß. Da die Kontrollinstanz in der Regel zur beherrschten Klasse gehört, so sind mithin die Parteien prinzipiell auch kriegführende Organisationen gegen die Kontroll-Instanz, nämlich innerhalb des Konflikts zwischen herrschender Klasse und beherrschter Klasse. Die herrschende Klasse in ihren parteilichen Positionen und insbesondere in der Position der Exekutive unterliegt nach wie vor dem Rang-Rückregelungsinteresse und strebt daher grundsätzlich die Alleinherrschaft und damit die Ausschaltung der Kontroll-Instanz an, also der Kontrolle durch die beherrschte Klasse 184 . Der Dreiecks-Konflikt zwischen zwei (oder mehreren) Positionen der herrschenden Klasse und außerdem der beherrschten Klasse (als demokratische Kontroll-Instanz) ist daher konstitutiv für demokratische Kontrolle. Der Kampfcharakter zwischen Parteien und Kontroll-Instanz geht deutlich aus den Sicherungsmaßnahmen zugunsten der KontrollInstanz hervor, ohne die sie von vornherein unterliegen müßte (Freiheit, Gleichheit und Geheimhaltung eines auf feste Periodik fixierten Wahlaktes). Die tatsächlichen Werbepraktiken der Parteien entlarven deren demokratische Ideologie im gleichen Maße als Verhüllungsideologie, wie die Behauptung des konsumtiven Nutzens einer Ware seitens der wirtschaftlichen Werbung Verhüllung des Gewinnstrebens ist. Das dynamische Gleichgewicht der Parteien kann durch die demokratische Kontrolle dadurch und nur dadurch gesichert werden, daß die durch die Kontroll-Rückregelung wachsende Abwertung der jeweils die Exekutive besitzenden Partei immer wieder die machterweiternde Rang-Rückregelung seitens dieser Partei überholt, ehe diese RangRückregelung einen Punkt erreicht hat, von dem aus die KontrollInstanz offen oder verhüllt wirkungslos gemacht werden kann. 183 184

Michels (131), S. 38 ff., Schumpeter (148), S. 259 und Lipset (64), S. 18 ff. Vgl. Michels (131), S. 17 ff. u. Eschenburg (146), S. 13.

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Hieraus folgt, daß eine Partei auf die Dauer um so größere Chancen hat, sich endgültig durchzusetzen, je häufiger unmittelbar nacheinander sie den Machtzuschlag erhält, es sei denn, durch spezielle politische Ereignisse würde ihr Ansehen plötzlich hochgradig geschädigt. Daraus folgt wiederum, daß die gesamte demokratische Kontrolleinrichtung auf die Dauer und nur dann wirksam bleibt, wenn jede an der Exekutiv-Konkurrenz beteiligte Herrschaftsgruppe eine vergleichbar große Chance des „Zuschlags" besitzt, so daß ein hinreichend häufiger Wechsel der Exekutive gesichert erscheint. Lipset nennt u. a. als naheliegende Bedingung gleicher Chance eine nicht zu verschiedene innere soziale Stratifikation der Partei-Wählerpopulationen 185 . Wichtiger erscheint die negative Kontroll-Rückregelung selbst, also die politische „Abnutzung" der jeweils die Exekutive beherrschenden Partei. Wegen des stochastischen Charakters politischer Entscheidungen und der propagandistisch stark manipulierbaren Erfolgs-Beurteilung ist für das Funktionieren der Kontroll-Rückregelung vor allem zweierlei wichtig. 1. Es muß eine wirksame parteiliche Opposition bestehen, die unter ihrem Herrschaftsinteresse durch geeignete Kritik an der regierenden Partei deren öffentlichen Einfluß systematisch abbaut, wobei vorausgesetzt werden muß, daß diese Opposition keinen umfassenden sozial-psychischen Hemmungen seitens der Bevölkerung gegenübersteht. 2. Weiterhin muß aber auch die Bevölkerung als Kontroll-Instanz sich des grundsätzlichen Charakters der politischen Demokratie als Austragung von Konflikten bewußt sein und unter dem Interesse der beherrschten Klasse a priori geneigt sein, jeweils die Exekutive besitzende Gruppe der herrschenden Klasse kritisch zu betrachten und sie bei leisestem Zweifel an der Entwicklung sobald als möglich wieder abzuwählen. Als Sprachrohr dieses kritischen politischen Interesses der beherrschten Klasse bedarf es dabei einer kritischen Presse, wobei zwischen beiden Momenten gerade auch bezüglich der finanziellen Unabhängigkeit und Nonkonformität dieser Presse eine Interessen-Rückregelung bestehen muß. Die hier verwendete Deutung der Demokratie verzichtet auf die Annahme, daß Volksherrschaft — im Detail — möglich sei. Demokratie wird hier nur als institutionalisierte Herrschaftskontrolle angesehen, möglich für den Staat als ganzen wie gegenüber allen spezifitätsautonomen Herrschaftpositionen 186. Darüberhinaus wird hier diese demokratische Kontrolle als Institutionalisierung eines Konfliktes zwischen herrschender und beherrschter Klasse angesehen, der deswegen institu185

186

(64), S. 18 ff.; vgl. auch Stammer

(188), S. 51 ff.

Entspr. Stammer (93), S. 261 u. Hersch (125), S. 181 f.

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tionalisiert werden muß, weil er grundsätzlich ebenso wenig völlig aufhebbar erscheint wie die Existenz von Herrschaft selbst. Dabei vertritt die Kontroll-Instanz, also die beherrschte Klasse, den allgemeinen industriellen Tendenzen gemäß als politische Zielnorm die KonsumfreiheitsIdeologie und somit die Herrschaftsminimalisierung gegenüber den je aktuell wirksamen Herrschaftsmaximalisierungstendenzen der einzelnen Herrschaftspositionen. Wie wirkt sich in diesem Kontrollmechanismus funktionell-patriarchalische Einstellung aus? Entscheidende Bedingung wirksamer demokratischer Kontrolle ist die grundsätzlich kritische Einstellung der Kontroll-Instanz gegenüber der jeweils regierenden Partei, also insbesondere die grundsätzliche Verweigerung jeglichen Anspruchs auf ungeprüfte Entscheidungsautorität. Funktionell-patriarchalische Einstellung bedeutet daher einen direkten Widerspruch zu dieser Bedingung demokratischer Kontrolle. Denn sie unterstellt — im Rahmen eines hypertrophen Risiko- und Zuständigkeits-Denkens — der Regierung stets und grundsätzlich eine größere, wenn nicht sogar absolute politische Kompetenz. Funktionellpatriarchalisches Denken kann daher nicht wahrnehmen, daß diese größere Kompetenz überwiegend erst auf Grund des Selbstbewußtseins beansprucht wird, das der Besitz des Amtes und Kenntnis diplomatischer und administrativer Gepflogenheiten (sowie öffentlich nicht bekannter Informationen) hervorruft. Erst die Interpretation der demokratischen Kontroll-Instanz als eigene, dritte Partei innerhalb einer grundsätzlichen sozialen Konfliktsituation enthüllt dabei den unauflöslichen Widerspruch zwischen funktionell-patriarchalischer Einstellung mit ihrer elementaren Autoritätsanerkennung und der demokratischen Kontrollfunktion mit ihrer grundlegenden Autoritäts-Kritik. Wenn daher — auch gelegentlich von pädagogischer Seite 187 — versucht wird, Autorität doch noch als eine legitime Größe im Mechanismus der demokratischen Kontrolle zu verstehen, so überträgt man unzulässiger Weise gewisse, in der Kindererziehung notwendige und sinnvolle Modelle auf die industrielle Makrostruktur, die prinzipiell (und in wachsendem Maße auch tatsächlich) nur noch rational verstanden und beherrscht werden kann. Soweit überhaupt ein autoritatives Moment im Rahmen demokratischer Kontrolle wirksam werden darf, ohne deren Funktion grundsätzlich zu stören, kann dies nur die Autorität der de187 Hahne (171), S. 70 ff., der allerdings nicht als repräsentativ gelten kann. I m allgemeinen w i r d n u r der Begriff der „ A u t o r i t ä t " beibehalten u n d nach Traditions-Autorität bzw. A u f t r a g s - A u t o r i t ä t — oder ähnlich — differenziert, was allerdings i m Sinne streng soziologischer Terminologie eine strikte A b grenzung gegen soziologisch ungeklärte Wertprämissen innerhalb der pädagogischen T r a d i t i o n erschwert. Charakteristisch hierfür W. Strzelewicz (207), S. 53 ff. sowie die Referate der pädagogischen Hochschultage 1965 (212).

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159

mokratischen Kontrolle und der sie repräsentierenden Institutionsformen selbst sein, eine ganz abstrakte Autorität, die jeglicher konkreten Anweisung unfähig, die nur ein Mittel der Verinnerlichung ist. Wenn die Jugend in Deutschland — repräsentiert durch die hessischen Oberschüler — deutlich funktionell-patriarchalische Einstellung zeigt, so muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß sie den primären Konfliktcharakter der demokratischen Kontrolle nicht sieht und nicht erkennt, daß Demokratie nur eine Bewußtmachung, eine zeremonielle Bewältigung unaufhebbarer sozialer Konflikte in Permanenz sein kann. Daraus kann die Neigung entstehen, gerade den immanenten Konfliktgehalt des politischen Bereiches überhaupt als minderwertig oder zumindest als störend zu empfinden und sich Verhüllungs-Ideologien anzuvertrauen, die eine endgültige Befriedung versprechen. I n diesem Wunsch, politisch „in Frieden gelassen zu werden", drückt sich nicht nur deutscher Patriarchalismus als solcher aus, sondern er kann auch in vielen Einzelfällen die Grundlage für ein opportunistisches politisches Verhalten werden. Um des persönlichen Friedens willen werden viele Jugendliche auf Grund ihrer funktionell-patriarchalischen Einstellung auch in Zukunft darauf verzichten, bei Vorfällen, die den Anschein von Unrechtmäßigkeit oder autoritärem Anspruch enthalten, vernehmlich zu protestieren, sei es auch nur im Rahmen persönlicher Gespräche, sei es in Briefen und Telegrammen an die Zeitungen und Politiker, sei es — bei älteren Jugendlichen —durch Wahl der Oppositionspartei oder in organisierter Form in Demonstrationen 188 . So kann die opportunistische Variante des funktionellen Patriarchalismus eine stille Aushöhlung der demokratischen Kontrolle ebenso zulassen wie die direkte funktionell-patriarchalische Unterordnung unter die akzeptierte politische Autorität. Schließlich diskreditiert funktionell-patriarchalische Einstellung die demokratische Kontrolle auch noch indirekt. Der patriarchalische Dezisionismus kann mühelos auf das „Positive" autoritärer Führung hinweisen, gleich ob es um positives Wissen, positives Handeln, positives Glauben geht. Denn unter patriarchalischer Einstellung kann nicht gesehen werden, daß die sachliche und soziale Problematik dadurch, daß eine Autorität positiv entscheidet, nicht aufgehoben, sondern verhüllt wird. I n diesem Sinne des „Positiven" aber erscheint demokratische tee D e r Verfasser ist gerade i n diesem P u n k t erheblichen Zweifeln besonders unter pädagogischen Aspekten (in Gesprächen m i t Kollegen) begegnet. M a n betont die Gefahr „jugendlicher Überheblichkeit bei Mangel an sachlichfachlichem Niveau". Bedenkt man, daß entwicklungspsychologisch gerade die Jugend f ü r Proteste — i m Rahmen demokratischer K o n t r o l l e — prädestiniert erscheint, so w i r d der symptomatische Charakter dieses Einwandes offen sichtbar.

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Kontrolle grundsätzlich als das „Negative", das Unfertige, denn tatsächlich beinhaltet sie, daß man den sozialen Konflikt auf Dauer anerkennt. Mit dieser Verurteilung verknüpft sich meist aber noch eine zweite Disqualifikation. Der funktionell-patriarchalisch eingestellte Jugendliche glaubt leicht, daß das „Negative", daß die Konflikthaltigkeit der sozialen Makrostruktur sich notwendig emotional in Haß oder Aggression abbilden müsse, also in Formen der sozialen Mikrostruktur. Der funktionell-patriarchalisch Eingestellte kann nicht anders folgern, denn eben sein Patriarchalismus ist eine typische Übertragung aus der sozialen Mikrostruktur in die soziale Makrostruktur. So sieht er eine soziale Totalität 1 8 9 , wo keine ist: der politische Propagandist als Funktionär der Makrostruktur berechnet und manipuliert sein Gegenüber um so besser, je weniger Emotionen er dabei pflegt; als Liebhaber wird der gleiche Mensch in der sozialen Mikrostruktur allerdings ebenso vorrangig seine Emotionen bemühen müssen, wenn er nicht individuell auf die Dauer Mißerfolg haben will. So hindert die im funktionellen Patriarchalismus eingeschlossene Totalität der Weltbetrachtung an der Einsicht, daß man den gleichen Menschen als politischen Partner aufs schärfste kontrollieren und ggf. bekämpfen kann, obwohl man ihn zugleich persönlich hochschätzt. Die gleiche Einstellung verführt politisch leicht zum umgekehrten Schluß: weil es gut ist, sich persönlich hochzuschätzen und sich der Aggressionen zu enthalten, ist es notwendig, im politischen Bereich unter allen Umständen den ewigen Frieden herzustellen. Auch in dieser Überlegung wird wieder die grundsätzliche Konflikthaltigkeit der sozialen Makrostruktur nicht zur Kenntnis genommen und, statt bewußter Zeremonialisierung des Konflikts mit der daran geknüpften Befreiung von seiner Gewaltsamkeit, eine absolute Forderung aufgestellt, die schließlich auch neue Gewaltsamkeit rechtfertigen und eben dadurch hervorrufen muß 1 9 0 . Damit erscheinen die verschiedenen wichtigen Reaktionsweisen patriarchalisch eingestellter Jugendlicher gegenüber dem Mechanismus der demokratischen Kontrolle und des in ihm zeremonialisierten permanenten Konfliktes zwischen Herrschenden und Beherrschten hinreichend geklärt. Die wesentlichen sozialen Funktionen demokratischer Kontrolle liegen indessen nicht nur an der Stelle ihres Funktionierens, sondern vor allem in zwei Momenten. 18« y g L stammers K r i t i k an Ernst Forsthoff, der an der Bundesrepublik das Fehlen „autoritärer Staatlichkeit" bemängelt u n d rügt, daß sie aufgehört habe „objektiver Geist" zu sein (188), S. 40. 190 Die Notwendigkeit strikter Trennung von sozialer M a k r o - u n d M i k r o s t r u k t u r v e r t r i t t neuerdings entschieden — schuldidaktisch — Giesecke (208), S. 123 ff.

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161

1. Nur die zentrale demokratische Kontrolle sichert prinzipiell ein Minimum an individuellen Grundrechten und zwar deshalb, weil sie eine notwendige Bedingung für das Funktionieren der demokratischen Kontrolle darstellen und daher mit der Kontrolle selbst aufrechterhalten werden. In keiner anderen Staatsform aber sind die individuellen Grundrechte unmittelbar Bedingung für die Existenz dieser Staatsform. Insoweit ist die zentrale demokratische Kontrolle die einzige mögliche Basis für die dauernde Verwirklichung von Konsumfreiheits-Garantien und damit von Konsumfreiheit selbst 101 . 2. Nur der mit der zentralen demokratischen Kontrolle erzwungene Wechsel in der Exekutive und die zugleich gesicherte Möglichkeit öffentlicher Diskussion aller wichtigen sozialen Fragen vermag auf die Dauer die universelle Offenheit zu sichern, die für eine effektive Lösung auch langfristiger sozialer Probleme nötig ist. Kraft dieser Offenheit in der Diskussion aller denkbaren Alternativen und in der unbeschränkten empirischen, im politischen Bereich also öffentlichen Kontrolle von Lösungsversuchen entspricht eine wirksam demokratisch kontrollierte Herrschaft in ihrer Aktionsweise prinzipiell der aktionalen Struktur der Industrie und der sie begründenden Naturwissenschaften. Insoweit institutionalisiert und repräsentiert nur demokratische Kontrolle auf die Dauer die Idee des Fortschritts in voller Universalität, wie sie neuerdings von Schelsky wieder formuliert und als notwendige Leitvorstellung vertreten worden ist 1 9 2 . Insbesondere kann nur zentrale politische demokratische Kontrolle wichtige politische Entscheidungen und Tendenzen gegen die Blockierung durch Veto-Gruppen durchsetzen, ohne zugleich Grundrechte des Individuums zu gefährden. Solche Entscheidungen und Tendenzen beziehen sich auf die Organisations- und Rechtsform der Wirtschaft unter dem Kriterium optimaler Konsumfreiheits-Effektivität, auf die Entzerrung der Prioritäten zwischen primären und sekundären Konsumgütern, auf Abbau traditioneller zwischenstaatlicher Spannungen, auf Herrschaftsminimalisierung im allgemeinen und vieles mehr. Insoweit erweist sich demokratische Kontrolle als grundlegender sozialer Antagonist einer Industriegesellschaft, die auf einem gewissen (revolutionäre Prozesse mit Sicherheit ausschließenden) Niveau des Lebensstandards anfängt zu stagnieren, sich mit allen ideologischen und strukturellen Unfertigkeiten und Irrationalismen konformistisch zu verfestigen, die diesem untersten, sozial gerade schon stabilisierbaren Niveau 101

Vgl. Hersch (125), S. 179 und Kaiser (141), S. 320; Zahn (102), S. 13 f., S. 40

u. S. 174 ff. 192 (159), S. 107 f. U

Lenné

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zu eigen sind 198 , und damit zugleich eine verhüllte Autokratie auf Dauer zu stellen 194 . Demgegenüber läßt es funktionell-patriarchalische Einstellung besonders der Jugendlichen nicht ausgeschlossen erscheinen, daß gerade eine solche relative Erstarrung historisch zufälliger sozialer Gefüge begünstigt wird. Soweit funktionell-patriarchalische Einstellung die demokratische Kontrolle selbst unwirksam werden läßt, fördert sie die Entstehung formaldemokratisch verhüllter Oligarchien, deren innere Interessendivergenz durch Veto zu einer Blockierung jeder weiterreichenden Entwicklung führen kann. Die gleiche funktionell-patriarchalische Einstellung begünstigt aber auch in den mittleren und unteren Strukturen die unkontrollierte variationsfreie Ausführung der autoritativ verstandenen Weisungen. Der private Konsum gewöhnt sich an bestimmte Bereiche und respektiert unter dem Druck funktionell-patriarchalischer Einstellung schließlich bestimmte ideologische Einschränkungen als ebenso selbstverständlich wie die Einhaltung zahlreicher positiver Riten. Der körperliche Hunger wird in jeder industriellen Gesellschaft gestillt werden. Aber eine industrielle Gesellschaft, in der irgendeine Art von Patriarchalismus dazu führt, den Anspruch auf Konsumfreiheit (d. h. auch Selbstbestimmung) zugunsten der Sicherung bestimmter Herrschaftsstrukturen freiwillig unter das sozial und technisch erreichbare Niveau zu senken, ist geistig-politisch der vorindustriellen Gesellschaft prinzipiell in Nichts voraus. Die Bewertung dieses Sachverhaltes ist allerdings eine je persönliche Entscheidung.

h) Zusammenfassung

Die Industriegesellschaft enthält eine Klassenstruktur, in der sich der alte Konflikt zwischen Herrschenden und Beherrschten in neuer, komplexer Weise abbildet. Die Technik hat diesem Konflikt die emotionale Virulenz genommen, die Beherrschten haben kaum mehr Hunger und körperlichen Terror zu fürchten. Trotzdem werden die Beherrschten tendenziell von einem gemeinsamen Interesse betroffen, dem nach maximaler Konsumfreiheit und damit nach Minimalisierung der Herrschaft. Diese Tendenz kann sich anhand demokratischer Kontrolle möglicherweise fortlaufend auch gegen die Tendenz der Herrschaftsstruktur zur oligarchischen Verfestigung durchsetzen. Die in dieser Arbeit empi193 194

Vgl. Hersch (125), S. 74 ff.

Vgl. die hochinteressanten Ausführungen zu den psychoanalytischen Aspekten einer solchen Unterwanderung durch funktionellen Patriarchalismus bei Erikson (202), S. 316 ff. — entwickelt an bestimmten Verhältnissen i n den USA.

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risch festgestellte latente funktionell-patriarchalische Einstellung besonders der Jugendlichen mit Anwartschaft auf mittlere und obere Herrschaftspositionen wird zwar ggf. in der Industriegesellschaft einer individuellen spezialistischen Karriere förderlich sein, indem der autoritativ empfundene Druck die Leistungskonzentration erhöht. Aber ungeachtet dessen, wie man diese möglichen Folgen bewertet, wird diese funktionell-patriarchalische Einstellung möglicherweise die oligarchische Herrschaftsverfestigung passiv und aktiv begünstigen, die Wirksamkeit der demokratischen Kontrollinstitutionen in Frage stellen, den durchgesetzten Öffentlichkeitsanspruch traditioneller Ideologien stützen und den gesellschaftlichen Fortschritt, wie immer man ihn definiert und bewertet, stagnieren lassen. Insbesondere wird die geistige Selbstbestimmung als notwendige Basis der politischen Selbstbestimmung, die auf dem Weg über den unbeschränkten Konsumfreiheits-Anspruch vielleicht auch breitere Schichten erreichen könnte, selbst in den höheren sozialen Schichten stagnieren, ein bereits jetzt symptomatisch beobachteter Tatbestand bei Jugendlichen, nicht so sehr auf Konsumbedürfnissen als auf patriarchalisch-opportunistischer Selbstbeschränkung in Beruf und Studium beruhend. Die von anderen Autoren beobachtete Entwicklungsalternative 195 zwischen autoritärer Oligarchie einerseits und nachhaltiger Stabilisierung und Erweiterung von Bewußtsein und Institutionen demokratischer Kontrolle andererseits drängt sich auch in dieser Arbeit unabweisbar auf, und zwar speziell auch im Hinblick auf die hier entwickelten politischen Wirkungen eines empirisch festgestellten funktionellen Patriarchalismus innerhalb der Jugend.

195

11*

Zusammenfassend Lange (149), S. 136, speziell Habermas (4), S. 34 ff.

3. Politische Erziehung und funktionell-patriarchalische Einstellung Bevor das Verhältnis zwischen politischer Erziehung und patriarchalischer Einstellung grundsätzlich erörtert wird, sollen noch einmal konkrete empirische Ergebnisse unter dem besonderen Aspekt der politischen Erziehung genannt werden, um eine gewisse Anschaulichkeit in den nachfolgenden Betrachtungen zu sichern. Nach Emnid haben sich im Jahre 1955 72°/o aller befragten 15—18jährigen Jugendlichen als politisch wenig oder nicht interessiert erklärt (1965: 78°/o), von Oberschülern und Studenten, also den Anwärtern auf soziale Führungsstellen, 1955 immer noch 4 8 % (1965: ca. 50 %*). Ähnliche Ergebnisse lieferte bereits eine NDR-Befragung zwei Jahre vorher 2 . 5 2 % der Schüler und Studenten begründen ihr politisches Desinteresse mit anderen Interessen bzw. mit sozialen Vorurteilen spezieller Art, nur 10 % mit allgemeiner Ablehnung des Gegenstandes Politik, dagegen 38 % mit Mangel an Verständnis. Diese Begründungen sind für die politische Pädagogik besonders wichtig. Die mitzitierten Ergebnisse 3 von entsprechenden Befragungen 1953 und 1954 zeigen zwischen 1953 und 1955 eine Zunahme des politischen Desinteresses, zugleich auch eine Zunahme des Desinteresses an politischer Mitverantwortung 4 und der ungeprüften Hinnahme von Autorität 5 ; so wurde der Satz „Jugendliche sollen Vorschriften nicht kritisieren, sondern befolgen" 1953 noch von 52 %, 1955 nur noch von 44 % der befragten Jugendlichen mehr oder weniger abgelehnt. Andererseits zeigen die politischen Meinungen über Hitler und Nationalsozialismus sowie auch über den Wert der westdeutschen Demokratie deutliche Tendenzen im konformistischen Sinne 6 . 1

2 3 4

(53), S. 294 ff, (205), S. 113 f.

N. Knoll (174), S. 30. I n Emnid (53).

(53), S. 303, bei einer vertraulichen Befragung eines bekannten Instituts gaben 1952 49 % aller 17 bis 22jährigen jungen Männer an, wenig oder nicht politisch interessiert zu sein. Bei einer Emnid-Befragung (205) zeigten 1965 60 o/o aller 18 bis 21jährigen jungen Männer schwächeres, inaktives oder überhaupt kein Interesse an Politik. Dieser allgemeinen Zunahme politischen Desinteresses steht nur eine schwache Abnahme politischen Desinteresses bei Studenten gegenüber (Habermas 1957: 3 0 % aktiv Interessierte, Emnid (205) 1965: 3 6 % aktiv Interessierte). 5 (53), S. 301 f. 6 (53), S. 205 ff.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

165

Damit ergibt sich zunächst, daß die offizielle Einwirkung auf die Jugend durch öffentliche Meinung, Schule und andere Medien die politischen Meinungen beeinflussen kann, ohne politische Einstellungen und Interessendispositionen zu treffen 7 . So zeigt sich in diesen Ergebnissen abermals das Vorhandensein starker funktionell-patriarchalischer Momente, darüberhinaus jedoch zeigt sich, daß trotz aller Erziehungsmaßnahmen diese Momente stärker geworden sind, obwohl zugleich die politischen Meinungen sich konformistisch entwickelt haben. Die Ursachen dieser langsamen Verstärkung einer Einstellung, die geeignet ist, die demokratische Staatsform auf die Dauer zur Unwirklichkeit zu verurteilen, mögen sowohl in der Ausbreitung des Konsumdenkens wie auch in der zunehmenden Reaktivierung autonomer Tradierung liegen, wie in den letzten Abschnitten näher untersucht wurde. Die Tatsache, daß funktionell-patriarchalische Einstellung zumindest latent in der Jugend verbreitet ist und daß sie sich allen pädagogischen Bemühungen entgegen verstärkt, zwingt zu einer eingehenden Erörterung der möglichen Folgerungen für den politischen Unterricht. Aus zwei weiteren Gründen sollen die Möglichkeiten politischer Erziehung angesichts der vorhandenen politischen Einstellungen der Jugend betrachtet werden. Einmal ist diese Untersuchung wesentlich auf diese politisch-pädagogische Fragestellung hin angelegt worden und zwar sowohl durch den Verfasser persönlich als aktiver Sozialkundelehrer als auch durch die Zielrichtung des wissenschaftlichen Instituts, das die Durchführung der empirischen Untersuchung getragen hat, des heutigen Deutschen Instituts für internationale pädagogische Forschung in Frankfurt. Sodann aber liefert die Untersuchung eine Reihe von empirischen Anhaltspunkten für die methodische Seite eines effektiven politischen Unterrichts. Andererseits unterliegt die Erörterung der politischen Erziehung in dieser Arbeit einer notwendigen Beschränkung durch den Bezug auf die empirischen Ergebnisse, insbesondere auf die festgestellte latent funktionell-patriarchalische Einstellung. Insbesondere treten dadurch alle Momente des politischen Unterrichts zurück, die sich auf integrierende politische Verhaltensweisen und Vorstellungen beziehen. Da diese Momente aber im Schrifttum sehr umfassend behandelt worden sind8, so bedeutet die relative Beschränkung dieser Untersuchung keine Einseitigkeit, sondern eine notwendige Ergänzung 9. 7 Vgl. auch die Resultate von Τ eschner „ Z u r Wirksamkeit der politischen Bildung an höheren Schulen" (213), S. 107 ff. Vgl. auch (217) u n d (218). 8 Vgl. u. a. Röhrig (192) (1964!) besonders S. 176 ff. 9 Vgl. Giesecke (208), S. 12 f., S. 23 ff. u n d S. 29 ff. M i t Giesecke dürfte w o h l auch endgültig „politisches Wissen als Konflikt-Wissen" verstanden werden; vgl. S. 24 f.; vgl. auch Teschner (213), S. 119: I n dem Maße, i n dem der politische

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

Jede Betrachtung pädagogischer Fragen von umfassendem Charakter muß zunächst angeben, unter welchem Erziehungsziel die Probleme behandelt werden sollen. Die Bestimmung des Erziehungsziels hier geht zunächst von der praktisch-politischen Zielsetzung aus, daß die bestehende demokratische Staatsform auch in Zukunft funktionsfähig bleiben möge. Sie geht weiterhin von dem oben dargestellten empirischen Ergebnis aus, daß bisher überwiegend nur Meinungen, nicht aber die politischen Einstellungen wirksam von der politischen Erziehung betroffen worden sind, so daß vor allem auf die Entwicklung persönlicher politischer Engagiertheit in Zukunft geachtet werden müsse. Die praktisch-politische Zielsetzung — Erhaltung einer funktionierenden Demokratie — bedeutet aber nach den Überlegungen im letzten Abschnitt, daß der kritische politische Urteilswillen aller Bürger erhalten und verstärkt werden muß. Beide Prämissen, Stärkung des kritischen politischen Urteilswillens und Steigerung des persönlichen politischen Engagements, konvergieren aber in pädagogisch allgemeinster Form in der Erziehung zur Selbstbestimmung und zum Selbstbestimmungswillen. Aktive Selbstbestimmung des späteren Erwachsenen wird daher hier als Ziel der Erziehung, speziell der politischen Erziehung vorausgesetzt und wie folgt präzisiert: Die Erziehung soll den Jugendlichen mit der Mannigfaltigkeit aller praktisch und prinzipiell wichtigen Alternativen und Konfliktmöglichkeiten vertraut machen, ihm die selbständige Aufdeckung weiterer Alternativen und Konfliktmöglichkeiten ermöglichen und Bedingungen und Mittel individueller Reaktionen auf politische Konflikte erkennen lehren, um ihm — im Rahmen der historisch gegebenen Möglichkeiten — maximale Selbstbestimmung zu ermöglichen 10. I n prinzipieller Übereinstimmung mit der hier vorausgegebenen Zwecksetzung, wenn wohl auch die realen Möglichkeiten politischer Aktivität überschätzend, sieht u. a. Bergstraesser als Ziel der politischen Erziehung „Die Selbstgestaltung einer inneren Form der Persönlichkeit, welche befähigt, auf politische Entscheidungsfragen adäquat und zugleich produktiv einzugehen"11. Unterricht die „Anerkennung von W i r k l i c h k e i t u n d Notwendigkeit gegensätzlicher Interessen" (Dahrendorf) außer Betracht läßt u n d er stattdessen durch die ungebrochenen Gesellschaftsbilder der Lehrer gesteuert w i r d , k a n n er k a u m der B i l d u n g eines demokratischen Potentials dienen: Vgl. Litt (214), S. 77, (217) u n d (218). 10 Genau i n diesem Sinne, aber eingehender auch Weisser (216), S. 11 ff.; vgl. auch das Gutachten des deutschen Ausschusses f ü r Erziehungs- u n d Bildungswesen v. 22.1.1955 i n (169), S. 305. Die v o n Hennis (210) vertretene Auffassung, mehr Gewicht auf politische Reaktionen zu legen, w i r d i n dieser Zielbestimm u n g miterfaßt; ebenso die später (1965) von Giesecke (208), S. 65 f. vorgeschlagene Zielsetzung der „politischen Beteiligung", vgl. auch S. 75. 11 (152), S. 248; vgl. auch Flitner (168), S. 47 ff.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

167

Wiewohl auch die oben gegebene Zielsetzung ideologischen Charakter hat, unterscheidet sie sich von den sonstigen Erziehungsintentionen durch ihre Allgemeinheit. Sie geht von der Erfahrung aus, daß nur die elementaren moralischen Umgangsregeln sich autonom, alltäglich funktionell durchsetzen und alle anderen Wertsetzungen nicht sozial auf der Grundlage von Logik und Empirie allgemeingültig entscheidbar sind — außer durch soziale Zwänge. Kommt hier die politische Überzeugung hinzu, daß die sozialen Zwänge, wie sie historisch zufällig sich entwickeln, nicht wertrelevant seien, so folgt daraus die pädagogische Zielsetzung der optimalen Selbstbestimmung des Menschen mit allen pädagogischen Konsequenzen. I m Gegensatz zu allen anderen Wertsetzungen schließt aber die Forderung nach individueller Selbstbestimmung nicht alle anderen Höchstwert-Setzungen logisch aus, sondern macht eine Aussage über die gesamte Klasse aller anderen möglichen Höchstwerte, die Aussage nämlich, daß jedes Individuum selbst seinen Höchstwert setzen soll. Daher ist das Prinzip der Selbstbestimmung allgemeiner als jedes andere Höchstwert-Prinzip und insofern als eine Art politische „minima moralia" ausgezeichnet. Die hier in ihrer logischen Struktur charakterisierte Prämisse der Selbstbestimmung als Erziehungsziel wird in diesem Sinne von K. Schaller 12 als Forderung verstanden, „im Unterricht auf jegliche Bildungswirkung zu verzichten, und ihn statt dessen als Einführung des jungen Menschen in die Einheit der Widersprüchlichkeit unserer Welt zu verstehen...". Die angestrebte Selbstbestimmung erscheint so als „stetige(n) Bereitschaft des Menschen, . . . die aus seinem ,Werkbezirk' an ihn ergehenden Ansprüche aus Sachen wie aus Mitmenschen — nicht zu verwechseln mit den Aufträgen, die verteilt und empfangen werden — zu vernehmen und ihnen selbstätig zu entsprechen" 13. Die Problematik einer solchen pädagogischen Auffassung gegenüber allen wie immer gearteten speziellen Erziehungsansprüchen wird von Schaller im allgemeinen wie auch im besonderen am Beispiel des kirchlichen Unterrichts diskutiert. Als Beispiel eines solchen speziellen Erziehungsanspruches im Bereich des politischen Unterrichts soll hier die Idee der Partnerschaft von Wilhelm 14 angeführt werden. Partnerschaft bezeichnet — stark abstrahiert — Zusammenarbeit im je eigenen Interesse der Partner. In 12

(163), S. 104; die später — 1965 — insbesondere von Giesecke nachhaltig herausgearbeitete Vorstellung v o m Politischen als Bereich der Konflikte findet sich hier bereits angedeutet; ebenso auch die Ablösung von traditionellen BildungsVorstellungen; vgl. (208), S. 24 wie auch S. 159 ff. 18 (163), S. 106. 14 (165).

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diesem Sinne ist sie zweifellos eine wichtige Alternative bei vielen politischen Entscheidungen und als solche notwendig ein Gegenstand politischer Erziehung. Soweit sie aber Integration — sei es auch im je eigenen Interesse der Partner — als höchstes soziales Prinzip setzt, auch außerhalb der moralischen Elementarregeln, fordert sie ggf. eine Beschränkung der Selbstbestimmung zugunsten von Fremdbestimmung. Insoweit fordert das Partnerschaftsprinzip also stets, die individuellen Interessen als vereinbar mit Integration, notfalls mit Herrschaft, zu bestimmen. Damit aber ist Partnerschaft als primäre politische Wertsetzung unvereinbar mit Selbstbestimmung; darum ist sie auch stets in Gefahr, zur Verhüllungsideologie von Herrschaftsstrukturen zu werden. Hinzu kommt aber, daß die Realisierung des Partnerschaftsprinzips notwendig die Übersichtlichkeit des Spielfeldes erfordert 15 , was a priori in der Industriegesellschaft nicht verwirklicht ist. Alle politisch bedeutsamen Dinge spielen sich in ihr in dem höchst unübersichtlichen, nur noch rational zu erfassenden Bereich der Herrschaftsstruktur ab. Insoweit ist die Partnerschafts-Idee auch empirisch in ihrer Anwendbarkeit auf den mikrosozialen Bereich beschränkt. I m übrigen folgen gewisse Elementarformen der Partnerschaft ihrerseits notwendig aus dem Prinzip der Selbstbestimmung. Denn in dem Augenblick, wo die Selbstbestimmung sozial bedeutsam auftritt, ist sie Selbstbestimmung aller Menschen und umschließt daher notwendig gewisse Mindestbeschränkungen ihrer selbst, die im wesentlichen in der Elementarmoral niedergelegt sind. Die pädagogische Verwirklichung des Ziels optimaler individueller Selbstbestimmung setzt praktisch-politisch ein Minimum von Erziehungsfreiheit und damit ein Minimum politischer Demokratie voraus 16 . Daß Möglichkeit und Wille zur Selbstbestimmung, damit aber die Erziehung zur Selbstbestimmung, die Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie ist, wurde bei der Herleitung dieser Erziehungsprämisse bereits festgestellt. Sie entspricht aber auch dem kompromißlos ernstgenommenen pädagogischen Ethos der absoluten Respektierung der Eigenpersönlichkeit des zu Erziehenden, wiewohl von Schulorganisation wie von Lehrerpersönlichkeit her sich immer wieder — ideologisch verhüllte — Gegentendenzen zeigen werden 17 . Ermöglichte Selbstbestimmung schließt notwendig die Kenntnis von Inhalten und Normen aller bedeutsamen Ideologien als Alternativen ein 18 . 15

(165), S. 141 ff.; vgl. auch Hennis (210).



Vgl. Schaller (163), S. 104.

17

Vgl. Stoldt (162), S. 82 ff. u n d 126 ff. sowie (217) u n d (218). I m Sinne Gieseckes (208), S. 77 ff. also eine F o r m von Bildungswissen.

18

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

169

Aber sie schließt den Öffentlichkeitsanspruch solcher Ideologien im Rahmen des Erziehungsvorganges ebenso zwingend aus. Denn die Beachtung eines solchen Öffentlichkeitsanspruches hieße notwendig, daß der Erzieher in bezug auf die Erziehung ohne sozial allgemeingültige (logische, empirische oder elementarmoralische) Gründe sich partikulär für eine dieser Ideologien entscheide und daß er ihr gegenüber andere wichtige Alternativen erzieherisch abschwäche und dadurch dem Jugendlichen die ihm zustehende echte Eigenentscheidung vorenthalte 19 . In dieser Frage ist kein Kompromiß möglich: jede noch so geringe vorsätzliche erzieherische Einseitigkeit in der Darstellung von Alternativen widerlegt zwingend die Behauptung, die Selbstbestimmung des Menschen zu respektieren 20. Wo aber die Selbstbestimmung des Menschen an einer Stelle bestritten wird, gibt es keinen Maßstab mehr dafür außer je individueller oder verbandsmäßiger sozialer Willkür, wo und wie weitgehend die Selbstbestimmung über das aus ihr selbst folgende Maß hinaus eingeschränkt werden müsse. Diese Feststellung gilt insbesondere in der Erziehung, und zwar vor allem bei jenen von Erziehung betroffenen Motivationen, die nicht bloß eine Mittel-Zweck-Relation abbilden, sondern bei den normativen Motivationen, bei den potentiellen Gegenständen des charakteristischen Bereiches des späteren Erwachsenen. Dabei bleibt es auch stets empirisch unerweisbar, daß der zu erziehende Jugendliche die einseitig — und insoweit autoritär — angetragene Norm „eigentlich" oder „in Wahrheit" bereits in sich trage oder doch in sich tragen müßte, etwa, „weil er ein Mensch sei". Vielmehr ist diese Unterstellung selbst schon ein zwar verhüllter, aber trotzdem eindeutig autoritärer Akt, der die Selbstbestimmung — ggf. durch Vorwegnahme eines bestimmten Menschenbildes — stillschweigend einschränkt. Dieses intellektuell unredliche erzieherische Vorgehen ist allerdings weit verbreitet und wohl in der Mehrzahl der Fälle den Lehrern selbst nicht bewußt. Insoweit ist es oft ein Element der immanenten erzieherischen Wirkung der Lehrerpersönlichkeit, auf die noch näher eingegangen wird. Es bedarf keiner besonderen Ableitung, daß die hier vorausgesetzte Erziehungsprämisse, die Selbstbestimmung des späteren Erwachsenen, in der Ideologie der Konsumfreiheit enthalten ist. Wer diese Ideologie in voller Tragweite ernst nimmt, muß die Selbstbestimmung des Menschen respektieren. Trotzdem kann die Konsumfreiheits-Ideologie nicht 19

Vgl. Heistermann (154), insbes. S. 25 u. Topitsch. S. 37 f. vgl. auch Giesecke

(208), S. 55, der von der D i d a k t i k des politischen Unterrichts erwartet, daß sie auf eine Änderung aller vorurteilserzeugenden Verhältnisse dringe. 20 Dies g i l t besonders dann, w e n n normative Vorstellungen nicht offen als persönliche Überzeugung deklariert werden.

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Erziehungsidee des politischen Unterrichts sein, weil sie die optimale Selbstbestimmung nur als soziale Möglichkeit fordert. Inhaltlich ist das Prinzip der Selbstbestimmung umfassender, denn es bezieht sich auch auf das Innere, auf das Denken des Menschen. Selbstbestimmung anerziehen beinhaltet auch, das Denken von zwanghaften Kanalisierungen und Klichés befreien. Andererseits bedeutet das Primat des Selbstbestimmungsprinzips in der politischen Erziehung nur, daß auch das Primat der politischen Selbstbestimmung gegenüber einer aktuellen Konsumbefriedigung dem Jugendlichen bewußt gemacht wird; die Jugendlichen müssen wissen, daß durch die bloß aktuelle Befriedigung des Konsumverlangens die politische Aufmerksamkeit und damit zuletzt die Demokratie unterlaufen werden kann. Darüber hinaus kann der Vorrang des Selbstbestimmungsprinzips vor dem Prinzip der Konsumfreiheit aber nicht rechtfertigen, den Konsum-Anspruch normativ durch irgendwelche ideologisch-asketischen Prinzipien im Rahmen der politischen Erziehung zu filtern; das kann und muß jedes Individuum kraft eigener Entscheidung tun. Politische Erziehung kann den grundsätzlichen Konsumfreiheitsanspruch nur über jedes aktuell erfüllte Maß hinaus systematisch generalisieren 21, und damit als Ausdruck auch politischen Selbstbestimmungswillens zu einer Basis demokratischer Einstellung werden lassen. An dieser Stelle bedarf es noch einer Erörterung verschiedener Argumente, wie sie in diffusen, kulturkritischen Tendenzen der Gegenwart entwickelt worden sind. Gemeinsam ist diesen Argumenten, daß angesichts des fortlaufenden Abbaus gewisser traditioneller Einstellungen (ζ. B. der Innenlenkung n. Riesmann 22) und sozialer Werthierarchien nur durch neue Formen einer über die Elementar-Moral hinausgehenden normativen Disziplinierung (oder auch einer neuen, kulturentwikkelnden, sozial durchgesetzten Hingabe und Askese) ein Zusammenbruch der Gesellschaft aufzuhalten sei 23 . Diese Argumentation ist deshalb im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit grundlegend wichtig, weil von ihr aus ein weiterer Abbau sozial überdeterminierender Normen zugunsten der Selbstbestimmung seitens der politischen Erziehung als falsch erscheint. Dieser Argumentation liegt insgesamt eine Anthropologie zugrunde, die den Menschen als primär triebhaft desintegriertes Wesen ansieht, das nur durch soziale Zwänge humanisiert werden kann, wobei Humanisierung notwendig als Unterordnung unter gewisse sozial durchgesetzte Wert21

Vgl. Rodenstein (154). S. 219 ff. u. Mitscherlich

22

(107). Zusammenfassend i n Hinblick auf die Schule (Weiß (187)), Tl. l a , S. 98.

28

(45), S. 76; (107).

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

171

Vorstellungen bestimmt ist, die über die elementare Moral hinausgehen. Weiß 24 weist in diesem Sinne auf die katholische Askese hin. Abgesehen davon, daß dabei wieder das Wert-Entscheidungsproblem neu aufgenommen ist, erscheint die sachliche Charakterisierung des Menschen empirisch äußerst fragwürdig. Es sprechen alle Ergebnisse insbesondere der vergleichenden Verhaltensforschung, aber auch psychoanalytischer Autoren dafür, daß die Triebhaftigkeit des Menschen, etwa die Sexualität, als zirkulär auslösbare Motivation, angeborene Sättigungsgrenzwerte besitzt. Es ist nicht nachgewiesen, daß es Kulturen vermocht hätten, für die Mehrheit der Bevölkerung etwa die sexuelle Befriedigung wesentlich unter derartige Sättigungsgrenzen herabzudrücken. Ebenso wenig besteht ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen großen individuellen Kulturleistungen und sexueller Askese; die Geschichte legt eher das Gegenteil nahe 25 . Nirgends ist auch bewiesen, daß das Individuum ohne soziale Überdeterminationen einem chaotischen Verhalten verfallen müsse. Wohl aber hat sich in zahlreichen Fällen gezeigt, daß es spontan von sich aus kraft Selbstbestimmung immer wieder Verhaltensgerüste aus Gewohnheiten und Eigennormen entwickelt. Vieles spricht dafür, daß die Anpassungsfähigkeit des Menschen durchschnittlich groß genug ist, um eine große individuelle Freiheit zu bewältigen. Wohl aber ist diese Anpassungsmehrleistung unbequem. Darum aber muß sie in der Erziehung trainiert werden. Als Symptom eines schon einsetzenden Gesellschaftsverfalls wird die steigende Jugendkriminalität angesehen. Auch von daher wird eine stärkere normative Bindung seitens der Erziehung befürwortet. Gewiß verstärkt ein wachsender Wertepluralismus die Jugendkriminalität, aber besonders dann, wenn Erziehung und Jugendpflege ihrerseits immer noch auf einem Wertemonismus beharren 26 , statt die Jugendlichen Entscheidungsfähigkeit und zugleich damit auch Gewohnheit von und Willen zu Selbstbestimmung zu trainieren. Notwendig werden Jugendliche ohne generellen sozialen Status-Rahmen informelle StatusFormen etwa in Gangs aufsuchen, aber man kann sie sehr wohl lehren, in welchen Gangs (wie Erfahrungen in den USA, bes. in New York zeigen). Auch hier ist nicht ein Zuviel, sondern ein Mangel an Fähigkeit zur Selbstbestimmung wesentliche Ursache der Erscheinungen. 24

(187), Tl. la, S. 96 ff. Eine — notwendigerweise — ausführliche Auseinandersetzung m i t den Freudschen Auffassungen k a n n hier nicht geleistet werden. Die größte — der Psychoanalyse immanente — Umorientierung, die diese Aspekte berührt, scheint bei H. Marcuse „ T r i e b s t r u k t u r u n d Gesellschaft" F r a n k f u r t 1965, v o r zuliegen. 28 Vgl. Cohen (211), insbes. S. 40 ff. u. Kap. I V , Erziehung i n einer Klassengesellschaft. 25

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

Als auf ein weiteres Symptom, das den Verlust von Normen-Indoktrination in der politischen Erziehung gefährlich erscheinen läßt, wird auf den Verfall der elementaren Moral hingewiesen. Tatsächlich aber tendiert die Kriminalität im allgemeinen im Vergleich zu früheren Zeiten auf einen Grenzwert hin, der durch den klinisch oder sozial pathogenen Bevölkerungsanteil bestimmt ist. Die Ursache davon ist die nie zuvor in der Geschichte erreichte faktische Verhaltenskontrolle und Verhaltensdisziplinierung durch den industriellen Apparat. Neben der Jugendkriminalität und der moralisch ohnehin schwer erfaßbaren Verkehrskriminalität sind nur Delikte im administrativen Bereich relativ angewachsen27. Dies kann nur als eine der Industriegesellschaft entsprechende Objektverlagerung interpretiert werden, die überdies teilweise noch auf einem sozial ungeklärten Verhältnis zu den unpersönlichen Funktionen der Verwaltungen beruht, aber keinesfalls als Symptom einer allgemein schwindenden Moral. Sodann wird auf den Verfall der großen makrosozialen Status-Hierarchien hingewiesen, den eine auf politischer Selbstbestimmung basierende Sozialkritik nicht beschleunigen sollte. Tatsächlich erscheint es aber sehr zweifelhaft, ob in der Industriegesellschaft mit ihrer Tendenz zur Rationalisierung aller großen Apparate der makrosoziale Bereich nicht ganz überwiegend nur mehr rational begreifbar bleiben wird. Es ist nicht bewiesen, daß der Mensch sich diesem Zustand nicht anpassen kann, solange man ihn seitens der Erziehung in dem Vorurteil beläßt, daß auch die makrosoziale Struktur emotional unter wenigen normativen Sätzen faßbar sein müßte 28 . Der Verlust an formellem Prestige beim Abbau der alten Status-Hierarchien und beim Übergang zu einer funktionellen Gesellschaftsordnung wird aber reichlich ausgeglichen durch das informelle Prestige im mikrosozialen Bereich der Berufsund Wohnbekanntschaft anhand der Karriere und der primären Konsumgüter. Daher erscheint es sehr gut möglich, daß die Menschen ihre emotionalen Sozialbedürfnisse in der sozialen Mikrostruktur voll befriedigen können, so wie es in vielen einfachen Kulturen geschieht. Schließlich werde noch das kulturpessimistische Argument des Bildungsverlustes erwähnt, der es geraten sein lasse, in der Erziehung eine gewisse Askese zugunsten eines höheren Bildungsniveaus walten 27 28

Vgl. Middendorff

(106).

Vgl. den Begriff der funktionellen Gesellschaftsordnung bei Fürstenberg (96), S. 31. M i t Recht greift auch Giesecke (208), S. 53 dieses Problem m i t einer kritischen Analyse des — angeblichen — Wunsches der Gesellschaft nach dem „Kritischen Bürger" auf. Ohne Zweifel wünschen die herrschenden I n s t i t u tionen den „Kritischen Bürger" nicht, w e n n sie vorsätzlich die soziale M a k r o s t r u k t u r i n Persönlichkeitsbilder aufzulösen suchen; die Gesellschaft braucht auch keine Kritischen Bürger — genau i n dem Maße, w i e sie undemokratisch wird.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

173

zu lassen. Wenn man mit Adorno 29 Bildung wesentlich als Selbstbestimmung in einem komplexen geistigen Beziehungsraum ansieht, so wird Erziehung, besonders auch politische Erziehung, nur soweit bilden, als sie den Willen zu geistiger und politischer Selbstbestimmung anregt und ein komplexes System der Alternativen vermittelt einschließlich der Methoden, weitere Alternativen selbständig zu entwickeln. In bezug auf Kenntnis von Alternativen und ihren Beziehungen und Methodik des Denkens in Alternativen sollte in der Tat eine gewisse erzieherische Härte nicht gescheut werden. Aber eine derartige Askese kann nur um der Selbstbestimmung des Jugendlichen willen gerechtfertigt sein, niemals um ihrer selbst oder um eines vom Erzieher gesetzten Wertes willen, ebenso wie man vom Soldaten Härtetraining verlangen muß, aber nicht der Härte an sich, sondern nur des Überlebens wegen. Damit erscheinen die grundlegenden Voraussetzungen für eine Untersuchung von politischer Erziehung in bezug auf die festgestellte funktionell-patriarchalische Einstellung hinreichend geklärt. Wenn somit politische Erziehung wesentlich als Erziehung zu optimaler Selbstbestimmung — sozial innerhalb der sich aus diesem Begriff selbst ergebenden Grenzen — bestimmt worden ist, so zielt politische Erziehung ebenso nachdrücklich auf Aufhebung von Fremdbestimmungen. Wichtige Formen solcher Fremdbestimmung sind Außenlenkung, also ungeprüfte Übernahme von Verhaltensweisen und Meinungen überwiegend von sozial Gleichgestellten, und Autoritätslenkung, also ungeprüfte Übernahme von Verhaltensweisen und Meinungen überwiegend von sozial Übergeordneten. Das Prinzip der Selbstbestimmung richtet sich gegen beide Formen der Fremdbestimmung, und zwar sowohl in deren aktueller Wirkung als auch gegen deren Verinnerlichung etwa kraft autonomer Tradierung. Dabei interessieren in dieser Untersuchung vornehmlich die Folgerungen aus den hier hergeleiteten Erziehungsvoraussetzungen in bezug auf die festgestellte funktionellpatriarchalische Einstellung, aber diese Folgerungen gelten in sehr weitem Umfang sinngemäß auch für die Problematik der Außenlenkung.

a) Politische Erziehung als Befreiung von autonomer Tradition

Als Ziel politischer Erziehung wird nunmehr vorausgesetzt, daß der Jugendliche mit allen wichtigen praktischen und prinzipiellen Alternativen und Konfliktmöglichkeiten politischen Charakters vertraut sei, selbständig neu entstehende Konfliktmöglichkeiten und Konflikte zu erM

(114), S. 168 ff.

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

kennen vermag, Bedingungen und Mittel seiner individuellen Reaktionen — in Richtung auf größtmögliche Selbstbestimmung — übersehen kann und vorhandene Möglichkeiten auszunutzen willens ist. Notwendiges, wenn vielleicht auch nicht hinreichendes Merkmal aller Erziehungsprozesse ist die Beteiligung sowohl von unbewußten Vorgängen der Angewöhnung, Verinnerlichung und Informationsübertragung wie auch von bewußten, ggf. geplanten Verhaltensübungen und Belehrungen 80 . Für Form und Inhalte der erzieherischen Wirkungen im ersten, unbewußten oder halbbewußten Bereich kann der Erzieher nicht verantwortlich gemacht werden. Hier prägt er, was er selbst ist, hier ist der Ort aller autonomen Tradierung, hier kann ernstlich kein Respekt vor der Selbstbestimmung des Kindes oder Jugendlichen in Bezug auf tiefer liegende Einstellungsmomente erwartet werden. Ort dieser Erziehungsform ist vorwiegend das Elternhaus. Eine „zureichende Bewußtheit und Vorbildung der Eltern" 8 1 kann wegen der hochgradig emotionalen Grundlagen der elterlichen Erziehung kaum in großem Umfang erwartet bzw. durchgesetzt werden. „Koordination" und „Integration" der vielfältigen äußeren Einflüsse 82 wird stets überwiegend auf dieser emotionalen Basis vollzogen werden. Demgegenüber ist die Schule die Stelle grundsätzlich und auch praktisch überwiegender bewußter Pädagogik (insoweit intentionaler Erziehung) 88 . Wird der oben vorangestellten Erziehungs-Prämisse zugestimmt, so folgt daraus notwendig, daß die bewußte Erziehung dann und nur dann die Selbstbestimmung des Jugendlichen respektiert, wenn sie unter den Bedingungen, die der Jugendliche auf Grund der Tradierung mitbringt, das Bewußtsein der Alternativen fördert. Wenn daher Jugendliche durch vorbewußte Erziehung oder autonome Tradierung zunächst stark auf partikuläre Möglichkeiten festgelegt sind, so muß die vorsätzliche Erziehung, in dem sie alle Alternativen bewußt macht, im Jugendlichen den Stand der Entscheidungsfreiheit herstellen, ggf. wiederherstellen. 30 Diese Bestimmung deckt sich n u r teilweise m i t der zeitweilig a k t u e l l gewesenen Unterscheidung von funktionaler u n d intentionaler Erziehung; vgl. Weiß (187), Tl. la, S. 109 ff. Eine hinreichende Bestimmung von Erziehung ist hier i n Hinblick auf die tatsächliche Ungeklärtheit dieses Begriffes (bzw. das Fehlen eindeutiger Konventionen) i n der Erziehungswissenschaft vermieden worden: „Die Erziehungswissenschaft k a n n i n diesem L a b y r i n t n u r versuchen, Kategorien zu finden, u m die Fragestellung einsichtig u n d faßbar zu machen." schreibt L. Froese (207), S. 239. Dem ist nichts hinzuzufügen. Daher w u r d e n hier n u r notwendige Merkmale genannt, die i m folgenden gebraucht werden.

81

Wurzbacher

82

(99) S. 91 ff. Z u m pädag. Verhältnis von Elternhaus u. Schule vgl. Kob (111) S. 31 ff.

88

(99), S. 94.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

175

Nun hat andererseits der öffentliche Erzieher nicht das Recht, die individuellen Tradierungsbedingungen eines Jugendlichen zu erfahren und auszunutzen, denn dies wäre bereits wieder ein indirekter Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht und zudem in die häusliche Intimität. Weiterhin muß ein öffentlich bestellter Erzieher wesentlich allen individuellen Ansprüchen zugleich gerecht werden. Daraus folgt, daß ein öffentlich bestellter Erzieher nur in Ausnahmefällen den individuellen Tradierungsbedingungen und den daraus folgenden Selbstbestimmungsbeschränkungen eines bestimmten Jugendlichen individuell entgegenwirken kann bzw. darf. Somit bleibt ihm nur die Möglichkeit, unabhängig von allen speziellen Inhalten den Jugendlichen bewußt zu machen, daß sie notwendig zunächst einmal durch autonome Tradierung einstellungsmäßig gebunden seien (allgemein durch vorbewußte Erziehungsvorgänge). Wenn es Alternativen gibt, die wichtig sind und daher der Bewußtmachung bedürfen, so sind es die den Jugendlichen im Milieu der vorbewußten Erziehung angetragenen Alternativen, insbesondere die autonom tradierten Einstellungen34. Der Jugendliche hat — unter den vorgegebenen Wertprämissen — ein Recht darauf, nicht nur — unbewußt — zu handeln, sondern auch zu wissen, nach welchen Normen er tatsächlich handelt und woher diese Normen und Einstellungen kommen. Er hat das Recht zu erfahren, daß Normen und Einstellungen nicht selbstverständlich sind, sondern Alternativen. Auch unbewußten Einstellungen gegenüber kann kein Mensch seiner persönlichen Verantwortung ausweichen, weil er letztlich die persönlichen Folgen von Handlungen auf Grund solcher Einstellungen tragen muß. Erziehung zur Selbstbestimmung erfordert daher, solche unbewußten Einstellungen bewußt zu machen, also die innere Entscheidungsfreiheit auch (so weit als möglich) herzustellen, wo sie — sei es politisch oder rechtlich — von der Gesellschaft faktisch vorausgesetzt wird. I n diesem sehr subtilen Sinne geht daher das — in der öffentlichen Diskussion meist verschwiegene — Eigenrecht des Kindes vor allem Elternrecht, was sich sozial im „grundsätzlichen Anspruch" der „heutigen Gesellschaft" auf ein „institutionalisiertes Erziehungswesen" spiegelt 35 , das dem „Abbau der Traditionsbestimmtheit von Gesellschaft und Einzelwesen" dient 36 . Der öffentlich bestellte Lehrer hat demnach nicht die Aufgabe, für tradierte oder sonstwie bedeutsame Normen oder Einstellungen zu werben oder abzuwerben. Er hat allein die Aufgabe, sie alle als echte Alternativen bewußt zu machen. Diese aus der Erzie84

Dieses Problem streift auch Giesecke (208), S. 144 f., wobei er, S. 146, die Schwierigkeiten betont, „seitens der Schule gegen die Urteilsmaßstäbe solcher Gruppen — etwa der Familien — anzugehen". 35 Kob (111) S. 1 f. 86 (111) S. 3 ff.

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

hungsprämisse oben folgende Pflicht, alle echten Alternativen bewußt zu machen, gilt insbesondere für die üblicherweise tradierten oder als selbstverständlich hingenommenen Normen und Einstellungen. Die erzieherische Entscheidung in diesem Punkt ist zwingend und besonders kritisch: entweder wird das Selbstbestimmungsrecht des Jugendlichen vom Erzieher (nicht notwendig von der übrigen Gesellschaft) respektiert, oder die Erziehung ist autoritär etwa im Sinne bloßen Konformismus mit den öffentlich herrschenden Vorstellungen und Normen. Wissen, was möglich ist und welche Kräfte den eigenen Willen bestimmen können, ist die notwendige Bedingung der Selbstbestimmung. I n diesem Sinne ist insbesondere die bewußte politische Erziehung unparteiliche Reflexion aller wichtigen sachlichen und normativen Alternativen ebenso wie aller möglichen motivbestimmenden Einwirkungen auf den Jugendlichen selbst. Denn die angestrebte Selbstbestimmung ist fortlaufende individuelle Entscheidung zwischen grundsätzlich offenen Alternativen mit vielfältig antinomischem Charakter 37 Der Lehrer vermittelt in diesem Sinne Selbsterkenntnis in ihrer allgemeinsten und sachlichen Bedeutung, nämlich die Erkenntnis, welchen normativen Alternativen und welchen prägenden Kräften man selbst ganz persönlich ausgesetzt war und ist, nicht in dem willkürlich eingeengten Sinne, wie weit man — ungeprüft als wahr vorausgesetzten — Normen persönlich nicht genügt habe und nicht genüge. Kernstück jedes politischen Unterrichts ist infolgedessen die Selbstreflexion, die fortlaufende Betrachtung der persönlichen Verflochtenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedingungen, insbesondere mit der autonomen Tradierung als Ursache der weitaus stärksten primären politischen Bindung 38 . Dabei ist nicht die Anerziehung etwa entgegengesetzter Normen erzieherisches Ziel, denn dies würde genau wieder der vorausgesetzten Grundkonzeption entgegenlaufen. Es ist auch nicht praktische Bindungslosigkeit das Ziel, insbesondere nicht bezüglich der elementaren Moral, wie eine — zuweilen vorsätzliche — Verwechslung von Willkür des äußeren, sozialen Handelns mit innerer reflektorischer Freiheit behauptet, sondern die Fähigkeit, auf Grund innerer reflektorischer Freiheit selbstverantwortliche Entscheidungen auf äußere Bindungen hin fällen zu können 39 . Dies schließt die absolute Freiheit und Vorurteilslosigkeit des Denkens ein; wer nicht alles, was denkbar ist, zu denken wagt, entscheidet ohne volle Alternativen, also innerlich nicht voll 37

Eingehend herausgearbeitet bei Newe (170), S. 21 ff. Entsprechend Pf äff (176), S. 34 ff. vgl. hierzu auch Giesecke (208), S. 55. 39 I m übrigen ist oben bereits eindeutig festgehalten worden, daß Erziehung zu Selbstbestimmung eine Erziehung zu demokratischen Formen — als dem optimalen Rahmen von Selbstbestimmung — notwendig intendiert. 38

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

177

selbstverantwortlich. Wer ζ. B. die elementare Moral nur als übernommene Rolle befolgt ohne Einsicht in ihre sich immer wieder durchsetzende alltägliche Zwanghaftigkeit gegenüber sonstigen Alternativen, kann nicht selbst die Bedingungen seines Handelns sehen. Er wird ggf. (wie etwa im Falle Höß) andere der elementaren Moral absolut widersprechenden Rollen von gleichem Absoluteinheitsanspruch ebenso blindlings übernehmen und so zum Werkzeug kollektiver Verbrechen werden können. So muß politische Erziehung unbedingt Erziehung zu offenem Denken sein, also zur schrankenlosen denkenden Rezeption alles dessen, was möglich ist. Wer ζ. B. nicht fähig ist, östliche bzw. asiatische, aber auch amerikanische Vorstellungen probeweise vollkommen zu übernehmen und in ihnen zu denken, bleibt ohne wahre Kenntnis der Alternativen und insoweit ohne freies politisches Urteil 4 0 . Die Leugnung der absoluten Freiheit des Denkens, also des Probehandelns als Erziehungsziel, beinhaltet notwendig bestimmte immanente oder intentionale Beschränkungen des Denkens und damit der individuellen Entscheidungsfreiheit, also der Selbstbestimmung. Da solche bestimmten Beschränkungen des Denkens im Vorgang der Erziehung immer sozial, also von Erziehern, an die Jugendlichen herangetragen werden (bzw. soweit sie herangetragen worden sind, sozial zugelassen werden), ist eine solche Erziehung autoritär. Selbstverständlich ist die pädagogische Uberzeugung möglich, daß autoritäre Erziehung zugunsten bestimmter partikulärer Ideologien bzw. Konformismen gut und erstrebenswert sei. Aber keinesfalls kann eine solche Erziehung behaupten, daß sie nicht autoritär, also ζ. B. freiheitlich demokratisch sei, wenn nicht die elementare Logik selbst dem Prozeß bloßer Indoktrination aufgeopfert werden soll.

b) Folgerungen zur Praxis der politischen Erziehung

Auch die erzieherische Praxis in der Schule enthält die beiden Grundkomponenten einerseits des methodischen Trainings und geplanter Information, andererseits der zumindest zufällig erscheinenden persönlichen Wirkung durch Beispiel und Kontakteigenschaften des Erziehers. I m Rahmen der zweiten Komponente vollzieht sich überwiegend die unreflektierte autonome Tradierung. Aber im Gegensatz zur elterlichen Erziehung kann vom Berufserzieher gefordert werden, daß er auch der Wirkung dieser Komponenten sich bewußt ist und sie kraft eines geeigneten Berufstrainings bezüglich der wichtigsten Alternativen auch willkürlich in der Hand hat. Denn eben die willkürliche Beherrschung 40 Dieser Mangel an Perspektiven kennzeichnet i n erstaunlichem Maße alle Parteien u n d Richtungen i n Bezug auf den V i e t n a m - K o n f l i k t .

1

Lenné

ί 78

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

des vorher Unbewußten und Zufälligen unterscheidet erst den Professionellen vom Laien. Allerdings muß darauf hingewiesen werden, daß Training in der willkürlichen Beherrschung der erzieherischen Eigenhaltung weithin bis heute kaum in der deutschen Lehrerausbildung enthalten ist. Insbesondere berücksichtigt dies nicht die Ausbildung der Lehrer an den höheren Schulen, obwohl, wie oben gezeigt wurde, Akademiker im Durchschnitt eine schärfer ausgebildete patriarchalische Einstellung zeigen als Nichtakademiker, somit trotz ggf. vornehmen oder freundlichen Unterrichtsverhaltens den Patriarchalismus möglicherweise nachhaltiger tradieren und daher entsprechend schärferer Selbstkontrolle ihrer unterrichtlichen Haltung und des Trainings darin bedürfen 41 . Dies gilt besonders wegen der Spannung zwischen jugendpsychologischen und fachlichen Forderungen in der Höheren Schule42. Beide Momente, methodische Informationen wie auch persönliche Wirkung, sollen in Bezug auf den politischen Unterricht näher erläutert werden. aa) Persönliche Wirkung des Erziehers innerhalb der politischen Erziehung I m Abschnitt über die Tradierung von Einstellungen wurde bereits erörtert, daß bestimmte durchgehaltene Kennzeichen im Verhalten des Erziehers geeignet sind, grundlegende Kennzeichen im Verhalten der Erzogenen anzuregen und durch dauernde Wiederholung zu fixieren (reaktive Tradierung). Eine zweite Form besteht in der nicht vorsätzlichen verbalen Festlegung offener jugendlicher Problemsituationen (spontane Tradierung). In beiden Hauptformen vermag auch der Lehrer Einstellungen seiner Schüler vorweg festzulegen. Das oben vorausgesetzte Erziehungsziel steht aber jeder solchen Festlegung, gleich welchen Inhalts, entgegen, insoweit dadurch die Selbstbestimmung, also die reflektorische Freiheit des Jugendlichen beschränkt wird 4 3 . Ungeachtet der Einschränkungen, die sich anhand altersmäßiger, geschlechtsbedingter und intelligenzabhängiger Differenzierungen ergeben werden, muß daher die heute noch weithin übliche latent-autoritäre Schul- und Unterrichtsatmosphäre gewandelt werden 44 . Der Lehrer muß Umgangsweisen entwickeln, die solche autonom tradierten Festlegungen weitgehend vermeiden. Bezüglich der reaktiven Tradierung wird er nach Möglichkeiten sozialintegrative 45 oder verwandte Kontaktweisen sich anzugewöhnen 41

42 43 44

Vgl. Haseloff

(154), insbes. S. 60 ff. Vgl. auch (218).

Vgl. Lippert (150) S. 154 f.; vgl. auch Meyer (215), S. 168 f. Vgl. Wiesbrock (156), S. 97 ff. Tausch (5), S. 41 ff.; Wilhelm (161), S. 243 und Weniger (164), S. 130 f., um-

fassend auch Newe (170), S. 83 ff. 45 Tausch (5) sowie (216), S. 107 ff.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

179

suchen. Das bedeutet, daß in Formulierung und Gestik möglichst weitgehend Person und persönliche Zwecke des Erziehers einerseits und Erziehungsvogänge mit den ihnen unvermeidlich anhaftenden Frustrationen andererseits getrennt werden. I n diesem Sinne darf schon die Disziplin nur als sachliche Bedingung eines erfolgreichen Unterrichts oder erfolgreicher Problemlösung erscheinen, niemals dagegen als absolute Norm und damit notwendig als persönliche Wertvorstellung des Erziehers, die dieser kraft Amtsautorität durchzusetzen sucht46. Gröbere erzieherische Eingriffe müssen immer unter diesen sachlichen Gesichtspunkten ihre Berechtigung ausweisen, zumindest nachträglich in der Reflexion des Schülers, niemals dürfen sie als Folge von Launen oder persönlichen Wertvorstellungen der Erziehungsperson erscheinen. Als allgemeine „absolute" Norm kann der Erzieher „Disziplin" allenfalls vorschlagen, nicht aber durchsetzen wollen, ohne gegen das Prinzip der Selbstbestimmung zu verstoßen 47. Da die Person des Erziehers indessen sich selbst prinzipiell nicht von zufälligen Schwankungen frei machen kann, so muß der Schüler so früh wie möglich und immer wieder das Bewußtsein davon gewinnen, daß dem Erzieher wie jedem Menschen gewisse Toleranzgrenzen zugestanden werden müssen, innerhalb derer sich Zwänge des Subjekts und der Situation niederschlagen, ohne daß damit ein grundsätzlicher Anspruch verknüpft ist. Die Eigenerfahrung des Verfassers lehrt im übrigen, daß solche Toleranz vom Schüler mühelos begriffen und akzeptiert wird und daß sich etwaige Schülerkurzschlüsse bezüglich solcher Toleranzerwartung schneller bereinigen lassen als alle anderen Kurzschlüsse. Sehr häufig wird geglaubt, daß eine solche fortwährende immanente, sachbezogene Rechtfertigung erzieherischen Verhaltens gegenüber Jugendlichen weiche und nachgiebige Erziehung einschließe. Dies ist jedoch eine Verwechslung von Intensität mit Qualität. Der Qualität nach bedarf der Unterricht und der erzieherische Kontakt der Sachlegitimation, um die Festigung personaler Bindungen innerhalb von Sachverhältnissen, also die reaktive Tradierung patriarchalischer Einstellung zu hemmen; dem entspricht die wachsende Bedeutung dauern46 Wenn die Unmöglichkeit, „absolute Normen" allgemeingültig zu belegen, ernstgenommen w i r d , folgt daraus, daß jede — auch die erzieherische — Behauptung einer „absoluten" N o r m notwendig n u r persönliche Auffassung ist. Dies w i r d i m übrigen von älteren Schülern auch sehr oft durchschaut, w e n n auch nicht immer präzis formuliert. 47

Vgl. die vorstehende A n m e r k u n g 46. I m Sinne dieser Überlegungen möchte Giesecke prinzipiell, daß auch der Schüler bewußt Amtsautorität u n d Erziehungsautorität — hier sei vorgeschlagen: und Privatperson — des Lehrers zu trennen lernt (208), S. 150 ff. — m i t allen Folgen — auch denen wachsender Unterrichtskritik durch die Schüler (zudem diese Trennung u n d die K r i t i k latent längst bestehen). 1

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

der Sachlegitimation des Vorgesetzten auch in der Industrie 48 . Der Intensität nach besteht kein Grund, bestimmte Verhaltensweisen nicht ggf. mit großer Härte durchzusetzen, wenn es gelingt, diese Härte von der Sache her glaubhaft zu machen49. Die spontane Tradierung kann gleichfalls bewußt gesteuert werden, ohne daß der Erzieher das Unmögliche leisten müßte, persönliche Stellungnahme und Meinung zu verschweigen. Es bedarf dazu nur dreierlei. Einmal muß sich der Erzieher — zumindest zu hinreichend häufigen Gelegenheiten oder im Sinne einfacher Sachberichtigung — der offenen Kritik der Jugendlichen stellen (Im Falle von Sachberichtigungen ist dabei der kurze Dank so notwendig wie in irgendeinem menschlichen Kontakt). Weiterhin dürfen wichtige normative Fragen und Antworten nicht in Nebensätzen oder auf andere, der bewußten Kontrolle der Schüler entzogene Weise erledigt werden. Drittens müssen alle Behauptungen des Erziehers, die notwendig überzeugungs- oder meinungshaltig sind, offen auf die Person des Erziehers relativiert, also insoweit als Meinung gekennzeichnet sein. Das gilt für alle Aussagen, die sich nicht auf sozial zwingende Wahrheitsbegründungen (Logik und Erfahrung) stützen können, also auch für Bekenntnisaussagen, etwa in Bezug auf moralische, religiöse, ästhetische oder auch politische Bekenntnisse, die aber alle doch einen auf die Wichtigkeit der jeweils zugeordneten individuellen Entscheidungssituation gestützten Wahrheitsanspruch erheben 50. I m Rahmen der Problematik politischen Unterrichts interessiert dabei, daß es durchaus möglich erscheint, die hier beschriebenen unterrichtlichen Kontaktweisen systematisch zu trainieren, so daß dementsprechende autonome Tradierungen und vorverfestigte politische Einstellungen, wie die patriarchalische, geschwächt werden könnten, um so den Grad der politischen Selbstbestimmung der Jugendlichen und späteren Erwachsenen zu steigern. Die von Tausch entwickelten Trainingsmethoden bedürften allerdings als Mittel der Ausbildung in politischer Erziehung entsprechender Abwandlung, vor allem einer besonderen 48 49

Schelsky (159), S. 97 ff.

Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß Jugendliche auch dann einen gewissen Grad von Härte schätzen, w e n n diese Härte nicht gruppendynamisch als ein gewisser „Elite"-Ausweis jugendliches Prestige-Bedürfnis befriedigt. Gerade dann allerdings bedarf solche Härte fortlaufender Rechtfertigung von der Sache her; gerade dann darf der Erzieher nicht guten Glauben i n seine erzieherische A u t o r i t ä t erwarten, sondern muß sich sachlich rechtfertigen — i m besten Sinne demokratische Erziehung u n d Respektierung der Eigenpersönlichkeit des zu Erziehenden. 80 Tausch (179), S. 132—139.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

181

sozialpsychologischen Fundierung und eines inhaltlich und organisatorisch detaillierten Kursus-Planes. Andernfalls würden alle Versuche dieser Art am Widerstand der latenten funktionell-patriarchalischen Einstellung der Lehramtskandidaten scheitern bzw. sich in allgemeinem Gerede auflösen. Eine — auch nur skizzenhafte — Darstellung eines solchen Kursus-Planes überschreitet indessen das Thema dieser Arbeit. Weiterhin zeigt sich, daß genau in diesem Punkt politische Erziehung kein Fachprinzip, sondern ein Unterrichtsprinzip schlechthin ist 51 , und zwar in einem viel bedeutsameren Sinne als die politische Interpretation aller Fachbereiche, wie sie u. a. auch im Gutachten des deutschen Ausschusses für Erziehungs- und Bildungswesen stark betont wird 5 2 . Entscheidend als Unterrichtsprinzip der politischen Erziehung ist zudem politische und menschliche Offenheit des Lehrers, also daß „der politisch Gebildete schlechthin gebildet sein muß" 53 . Politischer Unterricht als Prinzip (wie auch als Fach) wurde 1953 auch von einer Mehrheit befragter Mittelschullehrer bejaht 54 . Dies gilt nach den Eigenerfahrungen des Verfassers sehr wahrscheinlich auch für die Höhere Schule, obgleich man hier die Risiken aller Art eines — gleich wie immer formulierten — politischen Engagements sehr stark betont 55 . Es zeigt sich weiterhin, daß politischer Unterricht als Unterrichtsprinzip im hier entwickelten Sinne nur Wirkung erzielen kann, wenn er systematischer Bestandteil der Ausbildung der Lehrer wird. Es ist unmöglich, ein als pädagogisch wertvoll erkanntes pädagogisches Verhalten in voller Breite sich auswirken zu lassen, wenn es nicht als berufliche Kunstform gelehrt und trainiert wird. Solange dies nicht geschieht, bleibt das unterrichtliche Verhalten der Lehrer in Hinblick auf politischen Unterricht als Prinzip unbestimmt, soweit es den je subjektiven Entwicklungen unterliegt, und gebunden an den fortlaufenden historischen Prozeß autonomer Tradierung, soweit es selbst das Ergebnis autonomer Tradierung ist. bb) Information

in der politischen Erziehung

56

Nach Hilligen war 1953 in den Augen von Sozialkundelehrern an Mittelschulen das wichtigste Ziel des Sozialkundeunterrichts die Steige51 52

Vgl. Wilhelm (161), S. 256.

(169), S. 301 ff. Vgl. v o r allem die generelle „kritische F u n k t i o n der p o l i tischen D i d a k t i k " , w i e sie Giesecke als grundlegend f ü r die D i d a k t i k überhaupt herausarbeitet, (208), S. 165 ff. 53 54 u M

Messerschmidt (166), S. 18. Hillingen (167), S. 50.

Vgl. Ellwein (169), S. 280 f. Vgl. a u d i Giesecke (208), S. 162. Hilligen (167), S. 52. Vgl. auch (217) u n d (218).

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

rung des Gemeinschaftsgefühls, das zweitwichtigste die sittliche Persönlichkeit57. Kritik- und Urteilsfähigkeit stehen erst an dritter Stelle. Deutlicher kann sich die traditionelle Identifikation von Politik mit Integration (ggf. um jeden Preis) nicht dokumentieren. Demgegenüber muß nachdrücklich als erste Voraussetzung politischer Selbstbestimmung die Kritik- und Urteilsfähigkeit betont werden. Für diese aber ist politische Information — wie Schulbildung überhaupt — eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung, damit aber eine notwendige Bedingung letztlich für die Funktionsfähigkeit der Demokratie 58 . Wenn politische Information die politische Selbstbestimmung des späteren Erwachsenen sichern soll, so muß sie alle wichtigen politischen Alternativen aufdecken, die sachlichen Bedingungen ihrer Verwirklichung vorweisen und die je persönlichen Motive und Voraussetzungen zu ihrer Entscheidung klarstellen. I m Rahmen der Höheren Schule kann dies nur bezüglich der wichtigsten politischen Alternativen geschehen. Zu diesen zählen aber insbesondere die autonom tradierten. Sie als mögliche Alternativen neben anderen möglichen Alternativen bewußt zu machen, ist daher Gebot der auf Selbstbestimmung gerichteten politischen Information 59 , nicht dagegen ihre Verteidigung oder ihre Herabsetzung. I n Verallgemeinerung dieses Gesichtspunktes müssen fortwährend die sozialen Zwänge klargelegt werden, denen jeder politisch sich selbstbestimmende Mensch durch Milieu, durch Interessen, durch Affekte und durch die werbende oder drohende Wirkung sozialer Apparate, insbesondere durch Herrschaftsverhältnisse im engsten wie im weitesten Rahmen ausgesetzt ist. So ist der Kernpunkt jeder politischen Entscheidung das Bewußtsein der Kräfte, die eine bestimmte politische Entscheidung im Individuum zu fördern oder zu hemmen pflegen, und daher muß der Angelpunkt politischer Information besonders in der Oberstufe politische Sozialpsychologie in einer angemessenen Form sein. Damit wird die Notwendigkeit, politische Erziehung ausschließlich auf die politische Realität der zu Erziehenden zu gründen, direkt getroffen· 0. 57 Über Rolle der traditionellen deutschen Bildungsideologie u n d i h r e U n fähigkeit, eine brauchbare Konzeption politischen Unterrichts zu entwickeln Giesecke (208), S. 72 ff. 58 Empirische Daten dazu bei Lipset (64), S. 45 ff., vgl. auch Weinstock (175), S. 108. 59 Was hier als politische Information bezeichnet w i r d , erscheint bei Giesecke (208), S. 77 vor allem als Bildungs- u n d Orientierungswissen. 80 Wie sich dieser Ansatz von früheren Ansätzen abhebt, hat Giesecke (208), insbes. S. 56 ff., gezeigt, wobei er allerdings die Zentrierung auf das politisch reagierende I n d i v i d u u m weniger präzise unter dem Begriff „politische Beteiligung" (S. 65) formuliert.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

183

I m Sinne dieser Zielsetzung erscheint es notwendig und möglich, den begrifflichen Apparat der politischen Sozialpsychologie für die Zwecke des politischen Unterrichts auf ein — notwendig vereinfachtes — systematisches Gerüst zu bringen, dessen kategoriales Zentrum stets Zwang und Möglichkeit des Individuums ist, zwischen Alternativen zu entscheiden. Das Thema dieser Arbeit gestattet nicht, ein solches Gerüst auch nur zu skizzieren. Aber nur ein solches einheitliches Gerüst kann dem politischen Unterricht einen Bereich „harter" Informationen und „positiver Kenntnisse" geben, der unbestreitbar erst die Ergebnisse des Unterrichts übertragbar und anwendbar machen kann, zugleich aber auch unter den Lehrern der Höheren Schule eine geradezu unabdingbare Voraussetzung für das bisher weithin fehlende Prestige des politischen Unterrichts als Fach darstellt. Eben dieser Mangel an — inoffiziellem — Prestige aber darf als einer der Hauptgründe für den Mißerfolg bisheriger Bemühungen angesehen werden. Viele Lehrer der Höheren Schule haben zwar die grundsätzliche Einsicht in die Notwendigkeit politischer Information, aber sehen mangels „positiver Anforderungen" gegenüber dem Schüler und „positiver Fachvoraussetzungen" seitens der Lehrer tatsächlich und praktisch den politischen Unterricht als verlorene Zeit oder gar als „Geschwätz" an. Die Behandlung dieses Faches in Stundenplanfragen, Stundenkürzungen usw. entspricht vollkommen dieser Situation. Hinter diesem Bedürfnis vieler Lehrer nach „positiv gegebenen Inhalten" steht selbst die funktionell-patriarchalische Einstellung, die sich in Fachwissenschaftlichkeit rationalisiert. Denn tatsächlich kann der politische Unterricht stets mit „positivem Lernstoff" angefüllt werden, wenn der Lehrer es wünscht, nur war ein solcher Stoff bisher im Detail nicht verbal amtlich vorgegeben, sondern der Selbstbestimmung des Lehrers weitgehend überlassen. Die Bedeutung des politischen Unterrichts für die Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Demokratie angesichts der nachweislich vorhandenen funktionell-patriarchalischen Einstellung der Jugend ist zu groß, als daß sein schulisches Prestige weiterhin der unterrichtlichen Unsicherheit überlassen werden dürfte. Es erscheint daher unbedingt notwendig, ein verbindliches Informationsgerüst für den politischen Unterricht expressis verbis zu entwickeln und als Stoffminimum den Lehrern in die Hand zu geben. Dieses Informationsgerüst muß von der politischen Sozialpsychologie getragen werden, denn nur sie liefert eine umfassende theoretische Basis, in der die gesamte politische Symptomatik eingeordnet werden kann®1. 81 E i n verbindliches Informationsgerüst erscheint zwar unentbehrlich, aber es vergrößert abermals die Gefahr, daß eine Kunde, eine v o n den Realitäten abgelöste „Schulweisheit" gelehrt w i r d . Dem k a n n wiederum n u r durch eine Umstellung der Referendarausbildung von Theorie u n d Zufallserfahrung i n

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

Nunmehr soll der Ansatz einer auf politische Selbstbestimmung zielenden, sich auf ein Grundgerüst von politisch-sozialpsychologischen Kenntnissen stützenden politischen Information noch in Einzelbezügen skizziert werden. I n der Oberstufe sollte das politisch-sozialpsychologische Gerüst so ausgebaut werden, daß eine verständnisvolle Einordnung wichtiger politischer Systeme in ihren wichtigsten Zügen möglich ist und diese ihrerseits dieses Grundgerüst des politischen Wissens ergänzen und verfeinern* 2 . Zu dieser Vertiefung der politischen Urteilsfähigkeit anhand einer systematisch betriebenen Selbstreflexion der eigenen politischen Motive bedarf es in der Mittelstufe einer systematischen Kenntnisvermittlung einerseits in den wichtigsten Sachalternativen und den mit ihnen verknüpften Institutionen, andererseits in der neueren Geschichte als dem unmittelbar bedeutsamen Bereich individueller politischer Prägung und autonomer Tradierung. Zugleich müssen in der oberen Mittelstufe einige soziologische und sozialpsychologische Grundbegriffe an Beispielen aus der Geschichte und aus dem Bereich der Institutionen systematisch eingeübt und gelernt werden, damit eine auch nur relativ eindeutige Verständigung möglich ist. Der Verfasser als praktischer Lehrer in politischem Unterricht hat die Erfahrung gemacht, daß gerade die systematische Einübung soziologischer und sozialpsychologischer Grundbegriffe anhand von Sachverhalten der Gegenwartsgeschichte und der herrschenden politischen Institutionen dem — sachlich meist noch blinden — Systematisierungsund Ordnungsbedürfnis der Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen in Bezug auf soziale und emotionale Beziehungen genau entspricht. Längst bekannt ist dies für die Behandlung des Strafrechts, es gilt aber ganz allgemein für jede Relation zwischen einzelmenschlichem Verhalten und sozialen Normen und ihren Institutionen. Dagegen erscheinen formale Institutionslehre und psychologiefreie Behandlung politischer Systeme, meist noch in Form recht unscharfer Schlagworte (ζ. B. Marktwirtschaft und Planwirtschaft 68 ), höchst fragwürdig und besonders im Hinblick auf politische Selbstbestimmung unergiebig. Denn nicht nur bleiben diese der Unterrichtspraxis — w i e bisher — auf systematisches Situationstraining (ζ. B. i. Sinne von Tausch) entgegengewirkt werden. •2 Giesecke (208), S. 88, hat hierzu vier Systeme, das der Produktion u n d des Marktes, das der Verwaltung, das der politischen Herrschaft u n d das der i n t e r nationalen P o l i t i k vorgeschlagen. D a m i t t r i f f t er genau die f ü r gegenwärtige Großgruppen charakterischen vier „öffentlichen Aufgaben", die zugleich eigene, spezifische Herrschaftssysteme begründen, w i e i m K a p i t e l über allgemeine Herrschaftsstruktur gruppentheoretisch u n d politologisch bereits näher ausgeführt wurde. Vgl. auch Bolle (201), S. 22 ff., insbes. S. 37. M Vgl. Torwin, Stoffsammlung v. 1958 (166), S. 185 f.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

185

Gegenstände dann ohne Bezug auf die eigenen politischen und moralischen Motive; nicht nur bleiben fragwürdige Klichés (wie Demokratie und Diktatur 8 4 ) zurück, die mehr verhüllen als klären, sondern die in der Schule erlittene Frustration durch unerwünschten Informationszwang sperrt auch gegen spätere Einsicht in die Bedeutsamkeit objektiver Sozialerscheinungen, sobald die eigene Person politisch in Frage steht 65 . Ebenso nutzlos erscheint auch eine Behandlung der neueren Geschichte ohne ihre Durchdringung und Integration anhand allgemeiner soziologischer Begriffe und der möglichen politischen Motivationen 68 . Die historische Frage etwa der Revolution oder der sozialen Spannungen oder der konservativen Strömungen bleibt im luftleeren Raum, wenn diese historischen Dinge nicht zugleich bezüglich ihrer wichtigsten Gehalte durch soziologische und sozialpsychologische Begriffe näher erläutert werden, während umgekehrt diesen Begriffen durch die neuere Geschichte klärende Beispiele zugeordnet werden können 67 . Dies gilt um so mehr, als der Transfer von Kenntnissen, Einsichten und geistigen Fertigkeiten von einem Gebiet auf ein anderes weitaus schwieriger und seltener ist, als noch heute in Unkenntnis der Forschungsergebnisse allgemein von den pädagogischen Praktikern unterstellt wird, und außerdem um so unwahrscheinlicher, je konkreter der Gegenstandsbereich bleibt, in dem die Einsichten und Fertigkeiten erarbeitet worden sind 68 . Zugunsten früher Materialvermittlung zu diesen wichtigen Dingen können die bisherigen einfachen Themen in später Unterstufe und unterer Mittelstufe vernachlässigt werden. Es pflegt Schüler einfach zu langweilen, wenn man sie erläutern läßt, warum die Feuerwehr nötig ist und weshalb der Vater Geld verdienen muß 69 . Hier fehlt kaum je das Wissen, sondern allenfalls die Fähigkeit, es zu formulieren. Diese Fähigkeit aber kann auch an Themen geübt werden, die das politische Wissen der Jugendlichen effektiv bereichern. So ist es sehr wohl möglich, bereits Ende der Unterstufe und zu Beginn der Mittelstufe an zahlreichen Beispielen den Begriff der sozialen Gruppe — unsystematisch — zu klären samt ihren wichtigsten Eigenschaften 84 Vgl. die berechtigte K r i t i k Gieseckes an diesem Modell, (208), S. 67 ff. Vgl. auch S. 30 ff. 85 So auch Giesecke (208), S. 96 f. ·· Vgl. Hahne (171), S. 236ff.; insbesondere aber Giesecke (208), S. 23f. V o n großer Bedeutung ist hier das Prinzip der „Wissenschaftlichkeit", vgl. Messerschmid (213), S. 29 f. Welche Schwierigkeiten einen w i r k l i c h politischen U n t e r richt seitens des Wissenschaftsbewußtseins des Historikers erwarten, i l l u s t r i e ren die Ausführungen Messerschmids (213), S. 30 f., besonders These 5. 87 Vgl. Strunz, (150), S. 129 ff. 88 Ausführl. Handb. d. Psychol. (57), S. 398 ff. 89 Vgl. Tormins Stoffplan-Sammlung v. 1958 (166), S. 185 ff., systematische K r i t i k an dieser A r t T h e m a t i k bei Giesecke: „Die Bedeutung der politischen A k t u a l i t ä t " (208), S. 41 ff., sowie S. 99 f.

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

und Formen; wie Gruppeninteresse, Gruppenprestige, Gruppenführer, Gruppenkonformismus, Gruppen-Ideologie, familiäre Gruppen, informelle Gruppen, formelle Gruppen usw. Es ist auch sehr wohl möglich, die wichtigsten Ereignisse der neueren Geschichte als politische Exempel — mit Vorbehalt späterer Verfeinerung — zu erläutern. Und das ist nicht nur möglich, sondern auch nötig, um die Jugendlichen bereits in einem Alter politisch aufgeschlossen zu machen, in dem zumindest die spontane Form der autonomen Tradierung sich noch nicht voll ausgewirkt hat. I n Bezug auf die Schwierigkeitsfrage muß noch ein weiterer wichtiger Einwand widerlegt werden. Sehr oft wird vom politischen Unterricht gefordert, daß die Jugendlichen verstehen und voll übersehen könnten, was sie lernen. Wollte man diese Forderung auch an die anderen Schulfächer stellen, so könnte es in der Tat keine Höhere Schule geben. Die Rationalität des Unterrichts, der geforderte Informationsumsatz zwingt in allen Fächern zu erheblichen begrifflichen und methodischen Vorgriffen. Solange diese sich auf operative Begriffsbildungen und Formaldefinitionen beziehen, nicht auf Schlagworte und Klichés, sind sie psychologisch kaum anstößig70. Denn alle allgemeinen und integrierenden Begriffe, soweit sie nicht bereits in der frühen Kindheit (als merkmalsarme quasi motorische Kategorien) erworben wurden, werden ohnehin erst allmählich sachlich aufgefüllt, obwohl und auch, weil sie als Wort längst da sind (ζ. B. der Zeitbegriff nach Piaget 71). Es ist daher sogar förderlich, wenn ebenfalls der politische Unterricht fortwährend in geeignetem Ausmaß Begriffe sich selbst voraus darbietet 72 , auch wenn sie zunächst nur mit einem Teil ihrer allgemeinen Reichweite erfaßt und praktizierbar werden. Denn es wirken gute Begriffe, die wenigstens auf Teilbereiche hin sauber definiert sind, also nicht mit Schlagworten verwechselt werden können, als Problem-Leitfaden entsprechend der allgemeinen psychischen Entwicklungsfunktion, die als „Vorwegnahme" bzw. als „Vorauseilung" oben beschrieben wurde 73 . Von ihnen aus werden Fragen sichtbar, und damit verschaffen sie dem Stoff motivische Anreize gerade durch ihre relative Offenheit und die Offenheit ihrer gegenseitigen Beziehungen. In dieser Weise kann der Vorgang spontaner Tradierung unmittelbar unterrichtlich ausgenutzt werden. Daher ist ein folgerichtiger begrifflicher Aufbau des politischen Unterrichts von der Unterstufe an nicht nur Ziel des Unterrichts und Mittel zur Transferierbarkeit der erworbenen Einsichten, sondern auch Methode des Unterrichts. Daß wie in jedem Fach solche Begriffe eingen 71 71

75

Vgl. Metzger (156), S. 41. (62). Vgl. den Begriff der Vorauseilung S. 64 ff. oben.

Newcomb (58), S. 235 ff.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

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übt und ihre Bestimmungen ggf. auswendig gelernt werden müsssen, soll ausdrücklich bemerkt werden, da sonst alle Einwände gegen den didaktischen Vorgriff zu Recht geltend gemacht werden können 74 . Nach diesen Betrachtungen muß noch ein allgemeiner methodischer Gesichtspunkt berücksichtigt werden. Mehr als andere Dinge leiden die Gegenstände des politischen Unterrichts an ihrer Komplexität, und nur wenige Aussagen sind eindeutig richtig. Die Struktur aller Aussagen wird durch diese Komplexität und durch die Tatsache zahlreicher unausgesprochener und unkontrollierter Mittelwertbildungen unübersichtlich. Daher kommt gewissen allgemeinen Umgangsregeln mit Aussagen im soziologischen und politikwissenschaftlichen Bereich besondere Bedeutung zu. Insbesondere genügt es wegen der eingeschlossenen Mittelwertbildungen nicht mehr, die verbale Logizität der Gesamtaussage und die empirische Richtigkeit von isolierten Sachbehauptungen zu sichern, sondern es bedarf immer und ausnahmslos der vollen Gegenkontrolle, also des Nachweises, daß alle anderen Alternativen der betrachteten Aussage nicht oder doch sehr wahrscheinlich nicht zutreffen. Diese Kontrolle erfordert aber die Fähigkeit, alle anderen Alternativen einer Aussage stets mitzudenken und abzuwägen. Methodisches politisches Denken ist daher notwendig dialektisches Denken, und zwar nicht im Sinne einer politischen Philosophie, sondern im Sinne einer methodischen Kontrolle der sachlichen Schlüssigkeit von qualitativen Aussagen, die Mittelwertbildungen, also statistische Quantitäten enthalten. Die strengste Kontroll-Methode ist die volle Mathematisierung. In ihr sind methodisch a priori alle Alternativen mitberücksichtigt. Solange aber die volle Mathematisierung, gleich aus welchen Gründen, nicht oder noch nicht oder praktisch nicht möglich ist, bedarf es der „dialektischen" Kontrolle implizit quantifizierender Qualitätsaussagen. Der politische Unterricht muß daher auch schon seiner Methode nach immer auf die Entwicklung aller Alternativen aus einer bereits gegebenen Alternative heraus bedacht sein. Die Jugendlichen müssen möglichst dazu gebracht werden, im politischen Bereich in gewissem Umfang routinemäßig mit jeder vorgebrachten Aussage oder Behauptung auch die Alternativen, insbesondere die widersprechenden Aussagen mit zu denken und abzuwägen. In diesem Sinne decken sich Methode und Ziel des politischen Unterrichts: die Gewinnung aller Alternativen eines Problems als Voraussetzung der Selbstbestimmung. Zum Schluß ergeben sich aber auch Folgerungen für die Organisation des politischen Unterrichts. Ebenso sehr, wie die unterrichtlichen Umgangsformen als vorsätzliche Steuerung der Tradierungswirkungen Unterrichtsprinzip sind, ebenso ist die Vermittlung von Informationen 74

Vgl. Haseloff

(154), S. 140 ff.

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

im dargelegten Sinne Unterrichts/ach. Wer die persönliche politische Entscheidungsfähigkeit der Jugendlichen anhand der soziologischen und sozialpsychologischen Reflexion ihrer eigenen politischen und sozialen Stellung entwickeln soll, muß sehr spezielle studienmäßige Voraussetzungen dazu haben. Wer systematisch soziologische und politische Begriffe unterrichtlich entwickeln soll, die dem Schüler zu einem Wissensund Fähigkeitstransfer auf politischem Gebiet verhelfen können, braucht selbst einen solchen Begriffsapparat in erheblich größerem Umfang und in erheblicher Vertiefung des Anwendungstrainings. I m Regelfall muß daher ein Lehrer, der das hier gesetzte Ziel methodischer Entwicklung der wichtigsten politischen Alternativen und der wichtigsten politischen Motivationen erreichen soll, Soziologie oder auch wissenschaftliche Politik studiert haben 75 . Angesichts des inzwischen von der Kultusministerkonferenz geschlossenen und in vielen deutschen Ländern eingeführten Faches „Gemeinschaftskunde" anstelle direkter politischer Unterrichtung in der Oberstufe 76 müssen zur Frage der politischen Information in ihrer Funktion als Mittel der Einstellungsbeeinflussung einige weitere Aspekte in gedrängter Form beleuchtet werden. Wenn die festgestellte funktionellpatriarchalische Einstellung bewirkt, daß unter dem Druck betonter Risikovorstellungen politische Autorität ggf. blindlings anerkannt wird, sofern sie sich als fachmännisch und taktisch erfolgreich darzustellen weiß, dann muß eine auf Stabilisierung demokratischer Kontrolle ausgerichtete politische Erziehung auch informativ die Grundlagen solcher autoritärer Einstellungen anfechten. Sie muß die Fähigkeit und den Willen zu politischer Selbstbestimmung und damit zu wirksamer demokratischer Kontrolle unter zwei zentralen Gesichtspunkten der Information entwickeln. Einmal muß jeder Gegenstand politischer Unterrichtung Anlaß des je individuellen politischen Urteils, der verschiedenen politischen Alternativen seitens des betroffenen Individuums und damit zugleich ein Trainingsobjekt individueller politischer Entscheidung werden. Dann und nur dann wird politisches Sachwissen transferierbar auf eigene 75

Vgl. Bergstraesser (152), S. 259 ff. und Wilhelm (161), S. 286; Giesecke (208),

S. 172.

7 ® (20). Die folgenden Ausführungen beziehen sich weitgehend auch auf den „Lehrgang politische Weltkunde", Gutachten des Deutschen Ausschusses f ü r das Erziehungs- u n d Bildungswesen über die Neuordnung der Höheren Schulen v. 3. Oktober 1964; (193), S. 105 ff., i n dem die starke Orientierung am Fach „Geschichte" sowie an einem traditionellen Bildungsbegriff unübersehbar erscheint; vgl. insbesondere S. 109 ff., Pkt. 1., 3., 5., 6., 7., 8., 9. u. 11.; i n acht von elf Punkten erscheinen p r i m ä r die beiden erwähnten Aspekte betont; n u r i n Pkt. 4 w i r d der zentrale Gegenstand politischer D i d a k t i k angesprochen. Vgl. hierzu Giesecke (208), 4. Teil.

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spätere politische Entscheidung. Mit der Einsicht, daß Fachwissen zwar ein wichtiges, zuweilen notwendiges, aber niemals hinreichendes Mittel politischer Entscheidung ist, wird aber ins Bewußtsein gehoben, daß die in der funktionell-patriarchalischen Einstellung fixierte politische Rechtfertigung von Autoritätsansprüchen allein durch etwaige Fachkenntnisse grundsätzlich und weithin auch praktisch falsch ist. Weiterhin aber befähigt ein kategoriales Gerüst zentraler Begriffe der politischen Soziologie und Sozialpsychologie den Schüler, neue politische Einzelerscheinungen in seine politische Urteilsfähigkeit einzubeziehen. I n diesem Sinne kann ein guter politischer Unterricht sehr wohl dem Durchschnitt der Oberschüler ein wohlfundiertes Reservoir an politischer Methodik und politischen Grundkenntnissen vermitteln, so daß die in der funktionell-patriarchalischen Einstellung implizierte Kritiklosigkeit vor dem politischen Praktiker als Fachmann der Politik auch von der Seite des theoretischen Wissens her abgebaut werden kann. Beide Momente, Entscheidungstraining und generelles Kategorialgerüst, werden in dem neuen Fach Gemeinschaftskunde weitgehend verfehlt, indem es die alte didaktische Unsicherheit der Pädagogik gegenüber der Politikwissenschaft ohne jede Einschränkung neu praktiziert und politische Didaktik als didaktisches Konglomerat dreier Fächer, Geschichte, Erdkunde und „eigentliche" Sozialkunde vorlegt 77 . Diese tiefe didaktische Unsicherheit dokumentiert sich denn auch in der Farblosigkeit und Allgemeinheit der im Erlaß 78 vorgeschlagenen politischen Themen im Vergleich besonders zu den historischen. Diesen Umstand werden die als Politik-Lehrer immer noch am häufigsten eingesetzten Geschichtslehrer ebenso wenig übersehen wie den anderen Umstand, daß Geschichte in der didaktischen Einzelbetrachtung an erster Stelle genannt wird. Dies und die in mancher Hinsicht schätzenswerte Liebe der deutschen Gymnasiallehrer für abfragbares Wissen werden allein genügen, aus der Gemeinschaftskunde in der Mehrzahl der Fälle eine Art Geschichtsunterricht mit politisch-philosophischen Abschweifungen zu machen79. Die geringe Zahl von Lehrern mit politisch-soziologischer Fachausbildung wird in Verbindung mit der Furcht vor Kompetenzschwierigkeiten diesen Trend erst recht wirksam werden lassen80. Zweifellos wird 77 Z u r K r i t i k des Fächer-Kombinierens u n d der Rahmenvereinbarung, m i t gleicher Tendenz, aber eingehender Giesecke (208), S. 29 ff.

78 79

(20). Z u m gleichen Resultat, w e n n auch eingehender begründet, k o m m t Gie-

secke (208), S. 32.

80 Vgl. Giesecke (208), S.33 u n d generell S. 162 f.; vgl. auch Messerschmid (213), S. 31.

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

ein solcher Unterricht in dem einen oder anderen Detail, in dem sich der Historiker fachlich genügend sicher zu sein glaubt, auch politisches Wissen vermitteln. Aber dieses muß isoliert und ohne Transferierbarkeit bleiben, da solche nur durch fortlaufendes Entscheidungstraining und durch hinreichend abstrakte kategoriale Unterbauung möglich wird — entsprechend den empirisch-psychologisch gesicherten Bedingungen für Transferierbarkeit 81 . Die Problematik der mit dem Fach Gemeinschaftskunde eingeleiteten Historisierung des politischen Unterrichts soll noch in anderer Hinsicht betrachtet werden. Zunächst muß damit gerechnet werden, daß nach wie vor — sozialpsychologisch wohlbegründet — erhebliche Hemmungen in der Behandlung der Zeitgeschichte bestehen82. Mit dem nicht ganz falschen Argument, daß der Abstand noch zu gering sei, werden die entscheidenden politischen Momente in der neuesten Geschichte nur zu leicht verfehlt und zwar eben wieder deshalb, weil die historische Betrachtungsweise einer Aktualisierung des Stoffes als Gegenstand der individuellen politischen Entscheidung nachhaltig widerstrebt. Die neueste Geschichte wird daher nur selten konsequent als unmittelbare politische Vorgeschichte der politischen Gegenwart entwickelt und dementsprechend selten mit Kategorien der politischen Soziologie bzw. Sozialpsychologie durchleuchtet werden 83 . I n der Schulpraxis wird zuweilen immer noch unterstellt, daß auch schon die ältere Geschichte geeignet sei, das politische Urteil zu entwickeln 84 . Abgesehen davon, daß dabei in hohem Maße die Tatsache der inzwischen hinreichend oft nachgewiesenen Nicht-Transferierbarkeit 8 5 abermals ignoriert wird, ist es allgemein bekannt, wie schwierig ein unmittelbares Verständnis der geschichtlichen Beziehungen und Denkformen selbst noch in der Oberstufe ist. Wie auf dieser Grundlage dann außerdem noch politisches Denken wirksam entwickelt werden soll, wurde bisher nicht glaubwürdig publiziert. Das viel genannte Beispiel, etwa demokratische Vorstellungen am Beispiel der attischen Demokratie zu entwickeln, ist das Gegenbeispiel schlechthin. Denn die historische Ferne der attischen Demokratie, die auch nicht mehr unmittelbar an griechischen Texten sprachlich lebendig gemacht werden kann, assoziert notwendig im Denken der Schüler mit Demokratie die absolute Unaktualität, wenn nicht sogar einen gewissen 81

u. a. (57), S. 398 ff. Vgl. auch Giesecke (208), S. 12, sowie Messerschmid (213), S. 31. 83 Dem steht das Wissenschaftsbewußtsein der Historiker möglicherweise entschieden entgegen; vgl. Messerschmid (213), S. 30 f. 84 Vgl. die Bedenken bei Ortlieb (201), S. 46 f. 85 Vgl. u.a. (57), S.398ff. 82

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Grad an Uninteressantheit überhaupt auf Grund des oft mangelnden Interesses der Schüler an diesem fernen Gegenstand. Allein diese assoziative Belastung demokratischer Vorstellungen mit Desinteresse und Unaktualität macht diesen historischen Vergleich zu einem pädagogischen Kunstfehler (wobei nicht der ausnahmsweise hervorragende, sondern der durchschnittliche Unterricht in Rechnung gestellt werden muß). Weiterhin aber liefert die attische Demokratie ein Modell, das in keiner Weise mit der politischen Gegenwart übereinstimmt, und daher geeignet ist, den politischen Einblick in die Probleme eher zu verengen als zu erweitern. Insbesondere geht verloren, daß Demokratie in der Gegenwart stets demokratische Kontrolle bedeutet, nicht Herrschaft, daß sie Massendemokratie ist und nicht Honoratiorendemokratie, daß sie nicht einen insgeheim vorauszusetzenden consensus omnium institutionalisiert, sondern den permanenten sozialen Konflikt insbesondere zwischen Herrschenden und Beherrschten, und daß die industrielle Basis einen Wertepluralismus möglich und nötig macht, der es nicht mehr gestattet, den politischen Auseinandersetzungen eine gemeinsame ideologische Basis etwa im Sinne des Vaterlandes oder einer Religion usw. zu unterstellen. Denn die einzige gemeinsame Basis ist tatsächlich das industrielle Funktionssystem und i. S. der Elementarmoral die Humanisierung der politischen Konflikte durch deren Institutionalisierung in demokratischen Kontrollmechanismen. Besonders der für die moderne Demokratie konstitutive Gesichtspunkt der industriellen Bestimmtheit, der erst eigentlich die zuvor genannten Momente bedingt, läßt sich am Beispiel der attischen Demokratie nur noch verfehlen. Zusammenfassend muß daher gesagt werden: mit dem Fach Gemeinschaftskunde ist die Konzeption einer fachlichen politischen Erziehung in der Gymnasial-Oberstufe zwar nicht der Absicht nach, aber sehr wahrscheinlich tatsächlich aufgegeben worden, in der Regel zugunsten eines wie immer verstandenen Geschichtsunterrichtes 86. Eine Analyse, wieweit in dieser Entwicklung selbst nicht bestimmte Traditionsbestände abermals sich durchgesetzt haben, überschreitet die Thematik dieser Arbeit. Jedenfalls muß angesichts der festgestellten latenten funktionell-patriarchalischen Einstellung der Jugendlichen der Höheren Schulen gesagt werden, daß nach einer Einführung des Faches Gemeinschaftskunde mit Gewißheit nicht mehr alles Mögliche getan wird, um von der Erziehung her die Funktionsfähigkeit der Demokra88 I m Endresultat zu einem ähnlichen Ergebnis k o m m t Giesecke (208), insbes. S. 32 ff. I m p l i z i t u n d i n der Konsequenz seiner Überlegungen sagt dies auch Messerschmid (213), S. 32 u. S. 33. Wenn er feststellt, daß Geschichte u n d Geschichtsunterricht kein Monopol auf die politische B i l d u n g beanspruchen, so ist dies sehr euphemistisch. Vgl. Ortlieb (201), S. 46 f.

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tie zu sichern und undemokratische Traditionen in Deutschland zu überwinden 87 . Ob der Zweck der Schule, nach Möglichkeit die demokratische Entwicklung Deutschlands zu fördern, weniger wichtig ist als detailliertere positive Kenntnisse etwa in der griechischen Geschichte, ist eine politische Entscheidung und keiner allgemeinen Beweisführung zugänglich.

c) Zum Problem des politischen Engagements

Eines der schwierigsten Probleme politischer Erziehung ist, politisches Engagement zu erzeugen und zwar grundsätzlich Engagement für politische Selbstbestimmung. Nach dem Gutachten des Deutschen Ausschusses für Erziehungs- und Bildungswesen88 stehen die deutschen Schüler „noch nicht im Ernst der politischen Kämpfe, Risiken und Entscheidungen". Dieser Satz berührt einen ersten wesentlichen Punkt der Frage des politischen Engagements. Er behauptet, daß die Schüler auch der Mittel- und Oberstufe nicht im Ernst der politischen Entscheidung stehen. Steht der durchschnittliche deutsche Erwachsene im Ernst der politischen Entscheidung? Worin besteht seine politische Entscheidung und deren Ernst? Die normalerweise möglichen politischen Akte des durchschnittlichen Erwachsenen sind: politische Gespräche, Zuschriften an Zeitungen und Politiker, Teilnahme an Demonstrationen, Beiträge und Spenden an Parteien und die Wahlen. Schüler der Mittel- und Oberstufe sind nur von den letzten beiden Möglichkeiten ausgeschlossen, und selbst das nicht ganz, denn sie können zu einer politischen Jugendorganisation gehören und außerdem auf ihre Eltern ggf. einen fühlbaren Wahleinfluß nehmen. Sind Schüler der Mittel- und Oberstufe unfähiger zur politischen Entscheidung als ein Erwachsener? Zweifellos gibt es zahlreiche Erwachsene, die es an politischem Urteil keineswegs mit einem durchschnittlichen Schüler zumindest der Oberstufe aufnehmen können. Zuletzt erhebt sich noch die Frage, ob politische Entscheidungen für Oberschüler grundsätzlich weniger gravierend sind als für den durchschnittlichen Erwachsenen. Auch dies muß zumindest für Oberstufenschüler verneint werden. I n welchem Sinne stehen daher die Schüler der Mittel- und insbesondere der Oberstufe nicht im Ernst der politischen Entscheidung89? 87 Wenn Giesecke (208), S. 65 f. auf G r u n d der Gültigkeit des GG Zielbegriffe empfiehlt, die den K o n f l i k t des politischen Unterrichts m i t antidemokratischen Tendenzen nicht zum Ausdruck bringen, dann verfehlt er seine eigene K o n zeption (vgl. S. 165 ff.), das Politische des politischen Unterrichts selbst, des Unterrichts überhaupt allen Überlegungen zugrunde zu legen. 88 (169), S. 301. 89 Eine entschiedene K r i t i k an dieser Konzeption auch bei Giesecke (208), S. 42 ff. Vgl. auch L i t t (214), S. 78.

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Da ohne Zweifel viele Lehrer die Behauptung des Gutachtens, daß der Schüler nicht im Ernst der politischen Entscheidung stehe, vollauf teilen 90 , so kann von einem Großteil des politischen Unterrichts nicht erhofft werden, daß er bei den Schülern Engagement für politische Selbstbestimmung und Beteiligung entwickele. Niemand entwickelt Engagement, wenn dieses nicht ernst genommen wird. Solange nicht gesehen wird, daß die politischen Meinungen des Schülers ernst sind, daß diese insbesondere die Grundlagen späterer Wahlakte und Stimmungsbildungen vorweg fixieren und darum sich politisch auch höchst zerstörerisch auswirken können 91 , solange werden sich die Schüler politisch nicht mehr engagieren wie bisher. Wenn insbesondere dem Schüler nicht deutlich gemacht wird, wie ernst er selbst seine politische Kopfarbeit auch und gerade in der Schule nehmen muß — und zwar ganz aktuell politisch —, so werden auch weiterhin politische Patriarchen nahezu unangefochten die Politik verwalten. Die Jugendlichen horchen erst dann auf, wenn im politischen Unterricht mehr zustande kommt als eine selbstzufriedene Rechtfertigung oder gar unbewußt snobistische Grundierung des Konformismus (konformistische Scholastik 92 oder „Idylle der Macht" 93 ). Aus der notwendigen Ernsthaftigkeit politischer Erziehung als Bedingung für das Engagement der Jugendlichen folgt der didaktische Zwang, Alternativen kompromißlos als solche darzustellen, besonders in sogenannten „heiklen" Themen. Ein solches Thema wäre neben vielen anderen die Ehe- und Sexualgesetzgebung in der Bundesrepublik, in der der ganze Bereich der Sexualbindungen in sich uneinheitlich, aber überwiegend im Sinne bestimmter einseitiger Vorstellungen normiert ist. Es ist notwendig, kompromißlos deutlich zu machen, daß diese wie alle Gesetze mögliche Alternativen darstellen, daß sie keine schlechthin allgemeingültigen Grundsätze spiegeln, sondern immer das Werk von Politikern sind, die der Kontrolle bedürfen. Gerade an solchen Themen muß der Schüler erfahren, daß allen Ernstes politische Maßnahmen (wie etwa Gesetze) immer 94 nur sozial durchgesetzte, persönliche Meinungen darstellen, die so gut und so schlecht sein können wie seine eigenen95. 90

Dies hat der Verfasser nach langjähriger Erfahrung an verschiedenen Schulen beobachten können. 91 M a n denke an die Auswirkungen, die eine hochgradig nationalistische Erziehung an Gymnasium u n d Universität zwischen 1870 u n d 1918 m i t v e r u r sacht hat. 92 95

Vgl. Topitsch (123).

Pf äff (176), S. 217. 94 Dies „ i m m e r " g i l t nur, soweit m a n die „Absolutheit" von sozialen Normen nicht allgemeingültig beweisen k a n n u n d diesen Sachverhalt ernst n i m m t . 95 Über den rechtlichen Rahmen der Meinungsfreiheit des Schülers vgl.

Perschel (172), S. 116. 1

Lenn

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

Damit kommt eine weitere wichtige Ursache politischer Uninteressiertheit ins Blickfeld, das Gefühl politischer Bedeutungslosigkeit in der Massendemokratie. Hierzu muß so früh wie möglich die Einsicht geweckt werden, daß eine funktionierende Demokratie auf die permanente kritische Einstellung der Beherrschten gegenüber den herrschenden Politikern angewiesen ist 96 . Es muß deutlich werden, daß auch eine sogenannte große Masse nur dann zu einer selbständigen politischen Macht gegenüber der politischen Herrschaft wird, wenn eine große Gruppe in dieser Masse das kritische politische Urteil ununterbrochen wach hält 9 7 , so daß organisatorisch ungesteuerte politische Strömungen, Motive und Meinungsentwicklungen sich verstärken, Loyalitäten und Solidaritäten innerhalb politischer Gruppen und Interessenverbänden variabler werden und dadurch die politischen Reaktionen der Masse in Wahlen und öffentlicher Meinung (in einem näher zu bestimmenden Sinne) undurchsichtig und unmanipulierbar machen. Erst die politische Unberechenbarkeit der beherrschten Masse zwingt den Politiker zur vorsichtigen und rücksichtsvollen Wahl seiner politischen Mittel. Die Grundlage dieser inneren Variabilität der Masse ist aber Selbstbestimmung und Spontaneität im politischen Urteil mindestens einer großen (Multiplikatoren-) Gruppe. Mit Recht kann der Lehrer also dem Schüler das Prestige der individuellen politischen Reflektiertheit als notwendig und erstrebenswert bewußt machen, notfalls mit Hilfe des gewissen Snobismus, zu dem gerade begabte Jugendliche oft neigen und der als politische Motivation immer noch besser ist als völlige politische Stumpfheit. Dies aber knüpft an ein weiteres wichtiges Moment für die Entstehung politischen Engagements an. Die individuellen Motivlagen von Menschen in Verbindung zu politischen Problematiken und Institutionen sind entscheidende Bereiche, über die hinweg Schüler ihre persönlichen Spannungen und Konflikte ins Allgemeine der Politik projizieren können und damit zu politischem Engagement gelangen98. Wieweit ein Lehrer dabei mit der untergründigen Einbeziehung der je persönlichen Schüler-Motivlagen kommt, hängt nicht nur von seiner Intuition ab, sondern von einer Ausbildung, kraft deren er die Hauptproblematiken jeder Altersstufe kennt und die tatsächlichen, durchschnittlich in einer Klasse virulenten Fragestellungen wahrnimmt. Ausgeschlossen erscheint es dagegen, nach den Vorschlägen von Newe 99, politisches Engagement mit den bekannten Mitteln der Wer98

Vgl. H. Becker (177), S. 73 ff.

97

Vgl. i n diesem Sinne Giesecke (208), S. 62 ff.

98 99

Vgl. Knoll (174), S. 49. (170), S. 65 ff.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

195

bung, ζ. Β. Feiern usw., also mit direkter formeller emotionaler Ansprache erwecken zu können. Die Jugendlichen heute spüren zu genau, daß die soziale Makrostruktur durch Rationalität und durch rationale Manipulation bestimmt ist und daher alle davon ausgehenden emotionalen Appelle grundsätzlich nur als manipulative Formen verstanden werden dürfen. Emotional ernst genommen werden daher allenfalls noch Aussprachen zwischen Klasse und Lehrer; schulische Feiern mit offiziellem Charakter werden mit Anstand aufgenommen und als Stundenausfall registriert — wie übrigens auch bei den meisten Lehrern. Die Schule täuscht sich, wenn sie meint, Schülern glaubhaft machen zu können, was Lehrern selbst nicht mehr glaubhaft erscheint, wobei schon eine Minderheit nicht engagierter Lehrer die allgemeine Skepsis auslöst. Die Variabilität von Kindern und Jugendlichen in Nachempfindung und Denken ist dem normalen Erwachsenen hochgradig überlegen und fast immer in der Lage, vorgetäuschte emotionale Konstruktionen der Erwachsenen zu entlarven. Zuletzt muß noch ein besonders wichtiger Aspekt betrachtet werden. Politische Selbstbestimmung hat zwei notwendige Seiten, den Willen zur Selbstbestimmung und die Kenntnis möglicher Alternativen. Es darf auch ohne empirische Untersuchung unterstellt werden, daß die Lehrer der Höheren Schule auf Grund ihrer Fachdisziplinierung und der damit verknüpften Einstellungen geneigt sind, vor allem die Seite der positiven Kenntnis zu betonen. Solange das nicht auf Kosten des Willens zur Selbstbestimmung und damit auf Kosten des politischen Engagements geht, kann dagegen nichts eingewendet werden. Es muß auch um der politischen Selbstbestimmung willen gefordert werden, daß bei allem Willen zur Selbstbestimmung ein Schüler niemals den Sachvorbehalt vergißt, also immer „nach dem gegenwärtigen Stand meiner Kenntnis" urteilt. Diese Forderung ist im übrigen universell und gilt auch für den Lehrer. Dieses prinzipielle subjektive Vorläufigkeits-Zugeständnis rechtfertigt andererseits jede Schüler-Äußerung unbedingt. Sie legitimiert sie deshalb auch grundsätzlich, weil es ein richtiges politisches Urteil nicht gibt, sondern nur mehr oder weniger zahlreiche Alternativen, unter denen nach Ermessen ausgewählt werden kann. Der Gehalt an Ermessen im politischen Urteil macht den politischen Unterricht fast unvergleichbar mit allen anderen Fächern. Überall sonst kann sich der Lehrer letztlich auf seine größere Kompetenz zurückziehen und damit auch etwa vorhandene Autoritätsbedürfnisse immer noch indirekt befriedigen. I m politischen Unterricht muß er, wenn er seinen Zweck erreichen will und die Schüler zu politischer Selbstbestimmung und politischem Engagement bringen will, Stunde um Stunde einerseits in aller „positiv 1·

I I . Patriarchalische Einstellung und Politik

wißbaren Genauigkeit" mögliche Alternativen herausarbeiten, um dann demonstrativ die nur je persönliche Entscheidbarkeit zu zeigen. Wenn daher ein Schüler eine politische Meinung äußert, so muß der Lehrer zwar darauf bestehen, daß der Schüler sich die möglichen Gründe und Alternativen zu seinem Urteil klarmacht. Aber der politische Charakter dieser Urteile erlaubt es dem Lehrer nicht, sie grundsätzlich zu disqualifizieren, gleich aus welchen Gründen. Demgegenüber verneinen viele Lehrer zumindest gefühlsmäßig das Recht des Schülers auf ernst zu nehmendes politisches Urteil, meist unter Berufung auf die mangelnde Wissens- und Erfahrungsqualifikation. Sie bedenken nicht, daß auch ihr eigenes politisches Urteil im Vergleich zu dem eines Politik-Wissenschaftlers möglicherweise unqualifiziert erscheinen könnte und sie trotzdem und mit Recht politisches Gehör und Wahlrecht verlangen, weil politische Urteile grundsätzlich ein Moment — wissenschaftlicher Rationalisierung entzogener — Entscheidung enthalten. Als zusätzliche pädagogische Schwierigkeit muß allerdings bedacht werden, daß gerade die intelligenten Schüler — allgemeiner psychologischer Feststellung zufolge — zu äußerer Anpassung neigen und sich auf Lehrerdruck hin gewöhnlich konformistisch verhalten, obwohl sie tatsächlich, wie in dieser Untersuchung empirisch sichtbar wurde, — auch gegen den Lehrer persönlich — am kritischsten eingestellt sind 100 . So wird der das politische Schülerurteil ablehnende Lehrer gewöhnlich vor allem weniger intelligente politische Schülerurteile zu hören bekommen und so — scheinbar — seine Auffassung bestätigt finden. Auch im Hinblick auf diese Wechselwirkung darf der Lehrer keinesfalls das schlechtbegründete politische Schülerurteil abweisen oder einfach disqualifizieren, sondern als Pädagoge muß er umgekehrt dieses Urteil nachträglich qualifizieren, er muß dem Schüler noch die guten Gründe für seine Meinung erläutern wie auch die Gegengründe. Ganz besonders wichtig ist die emotionale Seite dieses Sachverhalts. Die Klasse mit dem Lehrer ist eine Gruppe, die in der Mehrzahl der Fälle eine überwiegende politische Meinung konstituiert. Alle Schülermeinungen, die von der Gruppenmeinung oder gar von verbreiteten öffentlichen Ansichten abweichen, benötigen zu ihrer offenen Formulierung notwendig und unaufhebbar ein übernormales emotionales Engagement des abweichenden Schülers. Besonders im Falle von häufigeren Abweichungen zeigen sich daher bei abweichenden Schülern zuweilen 100 Vgl. Anh. I I , Tab. β. I n diesem ganzen Problem spielt die Generationsfrage sicher eine wichtige Rolle. Vgl. u. a. Edelstein i n (213), S. 89, der auf das Mißverständnis zwischen den Generationen durch bereits differenzierende Wertsysteme hinweist. Vgl. auch Böhm, der das Problem allgemeiner erfaßt (216), S. 92 f.

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Arroganz, Überlegenheits-Allüren, auch Aggressivität, Ironie usw.* Soweit diese Äußerungsweisen die üblichen Formen der Höflichkeit erheblich verletzen, bedürfen sie einer Zurückweisung. Soweit sie aber unter Wahrung der äußeren Form in Verbindung mit abweichender politischer Meinung auftreten, müssen sie respektiert werden. Die Praxis zeigt überwiegend das Gegenteil. Man verlangt vom Schüler eine emotionale Ausgeglichenheit des abweichenden politischen Urteils, die kaum ein Erwachsener zustande bringt. Man verlangt oft von Schülern, daß sie wenigstens „höflich" sind, wenn sie schon „recht dumme Ansichten" haben, oder aber daß sie wenigstens sehr gescheit sind, wenn sie sich schon nicht „höflich" äußern, am besten aber ist beides. I n der Regel hat der Schüler aber beide Eigenschaften, gemessen an seiner Jugendlichkeit, so wenig oder auch so viel wie der Lehrer selbst in vergleichbaren Situationen sozialer Abhängigkeit. Ob aggressiv oder außerdem noch dumm, so ist doch jedes abweichende Urteil eines Schülers, pädagogisch richtig genutzt, als Ansatz zur Entwicklung von Alternativen, ein Gewinn für politische Selbstbestimmung und politisches Engagement der Klasse, selbst dann, wenn der Lehrer dem abweichenden Schüler im allgemeinen eine gewisse charakterliche Anormalität unterstellen möchte. Nicht die konformistischen USA-Soldaten haben in Nordkorea die antidemokratische Gehirnwäsche am besten überstanden, sondern die nonkonformistischen Soldaten 101 , was bei der Zahl der Fälle und den außerordentlichen Belastungen doch einiges heißt. Insgesamt ist daher nicht nur Zulassung zunächst schlecht begründeter politischer Urteile, sondern auch die Zulassung emotional betonter Formen — in gewissen Grenzen — durch den Lehrer das einzige Klima, in dem sich abweichende politische Urteile und damit politische Selbstbestimmung und politisches Engagement in der Erziehung entwickeln können. d) Die Abhängigkeit der Einstellung zur politischen Führung von Intelligenz, Geschlecht und Altersstufe

Da die Abhängigkeit der Einstellung zur politischen Führung von Intelligenz, Geschlecht und Altersstufe nur für politisch noch nicht verantwortliche Jugendliche vorgelegt werden kann, müssen diese Abhängigkeiten vor allem in Hinblick auf Folgerungen im politischen Unterricht betrachtet werden. Andererseits erscheinen aber gerade in Hinblick auf Intelligenz und Geschlecht gewisse Extrapolationen auf 1β1 Dies hat eine nachträgliche systematische Überprüfung der Personalpapiere von i n Gefangenschaft geratenen USA-Soldaten ergeben. Z u r Charakterisierung von Konformismus vgl. auch Metzger (216), S. 30 bis S. 66 m i t e n t sprechenden Folgerungen.

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

Verschiedenheiten der Einstellungen auch bei Erwachsenen erlaubt, zumindest bei Erwachsenen mit Oberschulbildung. aa) Einstellung zur politischen Führung in Abhängigkeit von der Intelligenz Alle Schüler und Schülerinnen wurden einem Intelligenztest unterzogen, der nur bestimmte geometrische Figuren benutzt, bezüglich derer einfache abstrakte Ergänzungsfigurationen richtig auszuwählen waren 1 0 2 . Der Test spricht daher die Fähigkeit an, aus visuellem Material sukzessive Formen bzw. Gesetzmäßigkeiten, und zwar auch verschiedene, aber parallellaufende Formen, abstrahieren und darnach eine Lösung richtig konkretisieren zu können. Er hat nach Angabe des Verfassers eine starke Verknüpfung mit dem allgemeinen Intelligenzfaktor wie auch mit verbaler (sich sprachlich formulierender) Intelligenz. Die Skalierungen wurden nur für eine Mischung der Klassenstufen Oberprima und Untersekunda und nur für Jungen vorgenommen, und zwar getrennt für die etwa 35—40 °/o Besten und die etwa 20—25 % Schlechtesten der Testprüfung. Die soziale Gliederung beider Gruppen ist gleichwertig. Als wesentliches Ergebnis (siehe Anhang II) zeigt sich, daß sich beide Skalen trotz der hochgradigen Differenzierung nach der Intelligenz der beteiligten Populationen nicht merklich unterscheiden. Allenfalls können folgende Unterschiede festgehalten werden. Die Intelligenten halten persönliche Befriedigung (item Nr. 3) für unbedeutender als die weniger Intelligenten 133120121. Gleichzeitig bestehen die Intelligenten auf geringerem Egoismus des politischen Führers (item Nr. 13) 150150111. Dagegen hoffen die weniger Intelligenten auf größere Gesetzestreue I — 150111. Die Unterschiede der Skalen bei Intelligenten und weniger Intelligenten fallen in Bezug auf die Kriterien „Klassenleiter" und „tonangebender Mitschüler" sehr viel deutlicher aus. Mithin ist in einer Population aus Untersekundanern und Oberprimanern, die zweifellos viel stärker mit politischen Fragen theoretisch befaßt wird als der Durchschnitt der Bevölkerung und außerdem aus Jungen mit traditionell stärkerem politischen Interesse besteht 103 , die Einstellung zu politischer Führung nahezu unabhängig von der Intelligenz. Einerseits erscheint insoweit gesichert, daß die hier verwendete Skalierungsmethode tatsächlich weitgehend bis zu den Einstellungen selbst vordringt, also zumindest von individuellen und zufälligen Einwirkungen intellektueller Prozesse weitgehend unabhängig ist. Andererseits ist das Ergebnis doch sehr bedenklich. Denn es zeigt, wie hochgradig sich wesentliche politische Einstellungen selbst bei Oberschülern nicht 102

103

figure-reasoning-Test

(36).

Vgl. Emnid (53), S. 294 ff.

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199

über Anstrengungen des Intellekts entwickeln, sondern durch bloße Prägung. Denn wenn merkliche Anstrengungen des Intellekts eingingen, so müßten größere Unterschiede sichtbar werden, so wie einerseits bei der Stellungnahme gegenüber Klassenlehrern und führenden Mitschülern und andererseits bei Differenzen nach Geschlecht und Alter größere Skalenunterschiede auftreten. Aus diesem Befund folgt daher, wie notwendig eine selbstrefiektierende politische Unterrichtung ist. Denn wenn es überhaupt einen Weg gibt, Jugendliche bezüglich ihrer politischen Einstellungen aus den jede Selbstbestimmung aufhebenden Zwängen bloßer arationaler Prägung und autonomer Tradierung zu lösen, so ist es nur die gründliche Reflexion der politischen Motivationen und Tradierungen, denen sie selbst unterworfen sind. Die theoretisch aus der Prämisse der anzustrebenden politischen Selbstbestimmung hergeleitete didaktische Forderung, den politischen Unterricht mit Mitteln einer unterrichtlich praktikabel gemachten Soziologie und Sozialpsychologie auf politische Selbstreflexion hin zu zentrieren, wird mithin durch dieses empirische Ergebnis nachdrücklich gestützt. Dabei soll noch einmal angemerkt werden, daß eine solche politische Reflexion nicht die wertmäßige Herabsetzung etwaiger Inhalte der autonomen Tradierung beabsichtigen kann, denn unter dem Aspekt der Rationalität ist das Überkommene weder an sich schon gut, wie die Konservativen oft festsetzen, noch an sich schon schlecht, wie manche Linksintellektuelle postulieren. Das Überkommene ist aber in jedem Falle das zu Prüfende und ins Bewußtsein zu Rückende, weil es zunächst schon immer in der motivischen Position des Vorweg-Eingeprägten steht. bb) Einstellung zur politischen Führung in Abhängigkeit vom Geschlecht Zunächst zeigt sich ein an sich zu erwartendes, trotzdem nicht weniger bedeutsames Ergebnis, nämlich daß Mädchen auf allen Altersstufen die items des Identifikationsbedürfnisses (Nr. 6, 7, 8, 9) politischer Führung gegenüber für wichtiger halten als Jungen. Mit den Zahlen 7, 10 und 13 wurde jeweils die Klassenstufe Quarta, Untersekunda und Oberprima bezeichnet. Dann ergibt sich für item Nr. 6 (sich einem starken Willen getrost anvertrauen wollen): (7) 15120121 — (10) 133120131 — (13) 133120121. Item Nr. 7 (überzeugend und freundlich reden können): (7) 151201 —I —(10) 1331201 — I — (13) 133120111. Item Nr. 8 (Erscheinung und Auftreten mögen Sympathie erwecken): (7) 1331 — I — I —(10) I50I33111 — (13) I—1501 — I. Item Nr. 9 (Hochachtung und Bewunderung erregen): (7) 151201 — I — (10) 12015111 — (13) 133120111.

I I . Patriarchalische Einstellung u n d P o l i t i k

Nimmt man noch hinzu, daß in den am ehesten mit Erwachsenen vergleichbaren Stufen (10) und (13) das besonders nachdrücklich auf demokratische Kontrolle zielende item Nr. 11 (Kritikbereitschaft auch passiv) von Jungen nachhaltiger vertreten wird als von Mädchen (10) I — I 50 I 2 I und (13) I 50 I 20 111, während in den übrigen wichtigen items keine vergleichbaren Unterschiede bestehen, so darf gesagt werden, daß Mädchen schon von ihrer Einstellung her einer autoritären politischen Führung eher zuneigen als Jungen. Dies gilt für Jugendliche der Oberschulen und daher noch mehr für alle übrigen Jugendlichen, da die Erziehung der höheren Schule allgemein die seelischen Geschlechtsunterschiede mehr abzugleichen pflegt als andere Erziehungsformen, in denen die Geschlechtsspezifität früher soziale Funktion gewinnt. Diese differenzierte Interpretation deckt sich vollkommen nicht nur mit der allgemeinen Erfahrung sondern auch mit den Ergebnissen von Emnid 10* im Jahre 1955. Daß Frauen bzw. Mädchen mehr als Männer den Konservativen bzw. den autoritären Richtungen zuneigen, wird von Lipset 105 als international gültig bestätigt. Umgekehrt erscheint es wertvoll, daß nunmehr auch eine direkte sozialpsychologische Methode die allgemeine politische Erfahrung belegt. Damit ist zugleich gezeigt, daß die hier verwendete Methode tatsächlich solche Tatbestände wie den festgestellten erfaßt. Offen bleibt dagegen die Frage, ob diese — eine autoritäre politische Führung begünstigende — Einstellung von Mädchen angeboren geschlechtsspezifisch oder Ergebnis sozialer Tradition ist. Der zweite Faktor „sozialer Tradition" ist ohne jeden Zweifel beteiligt, da solche Traditionen sprichwörtlich sind und sich in zahlreichen Erscheinungen unmittelbar belegen lassen. Der genotypische Faktor ist aber doch wohl wahrscheinlich. Denn die soziale Inferiorität der Frauen ist zwar nicht absolut universell, aber die Zahl der Kulturen, die darin eine Ausnahme bilden, erscheint im Verhältnis der Zahl der Kulturen, in denen soziale Inferiorität der Frauen durchgesetzt ist, zu klein, um genotypische Zufälligkeit glaubhaft erscheinen zu lassen. Möglicherweise ist indessen die nachweislich genotypische körperliche Unterlegenheit der Frau bereits eine hinreichende Bedingung für die beobachtete große Wahrscheinlichkeit, in eine geschlechtsspezifisch sozial unterlegene Stellung zu geraten, zudem sie in jedem Fall durch die leiblichen Fortpflanzungsfunktionen durchschnittlich sowohl zeitlich wie interessemäßig den eigentlichen politisch-sozialen Interaktionen mehr entzogen wird als die Männer.

104 105

(53), S. 301 f. u. S. 294—347. (64), S. 243.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

201

Da andererseits die Frauen unter dem Druck der Industrie-Rückregelung und der mit ihr wirksamen Konsumfreiheits-Ideologie sowohl ideologisch wie arbeitsmäßig fortlaufend mehr in eine den Männern gleichgeordnete Stellung gelangen, verdient die festgestellte höhere Neigung zu politischer Unterwerfung besondere Beachtung. Der Widerspruch zwischen politischer Einstellung und sozialer Tendenz ist um so deutlicher, als sexuelle Bindung und auch Kinderaufzucht beide tatsächlich längst und ideologisch immer mehr als — sehr wichtige — spezielle Formen individuellen Konsums begriffen werden, insoweit eine Abwägung gegen andere Konsumgüter immer mehr zunimmt 106 . Aus diesem Grunde aber werden die besonderen biologisch-sozialen Funktionen der Frau fortlaufend weniger als soziale Sonderrolle mit allen daran gebundenen Rechten und Tabus anerkannt. Zu einem solchen Sonderstatus besteht angesichts der Industrialisierung, der wachsenden naturwissenschaftlich-technischen Beherrschung des Lebens und der dadurch hervorgerufenen Überbevölkerungstendenz auch kein rationaler Grund. Die Stabilität wie auch die Problematik von Ehe und Familie bezieht sich mithin nicht mehr primär auf Sexualbindung und Kinderaufzucht, sondern auf die unentbehrlich erscheinende Bindung des Individuums in relativ stabile Kleingruppen überhaupt, zu der Sexualbindung und Kinderaufzucht nur den affektiv nächstliegenden und zudem traditionell bekannten Anlaß bieten. Damit aber ergeben sich einige Konsequenzen für den politischen Unterricht. So wie dieser die gegebenen Traditionen insgesamt als eine unter möglichen Alternativen bewußt machen muß im Rahmen geeigneter politischer und sozialpsychologischer Reflexion, so zwingt die festgestellte Geschlechtsdifferenzierung der politischen Einstellung auch zu einer Bewußtmachung der in diesem Bereich wirksamen autonomen Tradierungen, insbesondere bezüglich der sozialen Inferiorität der Frau und der weitgehend aus diesen Traditionen resultierenden Einstellung, autoritärer politischer Führung vergleichsweise entgegenzukommen. Das bedeutet aber nicht nur, unterrichtlich den Tatbestand solcher Einstellungen zu erörtern, sondern es müssen die ursächlichen Momente bewußt gemacht werden. Besonders muß geklärt werden, daß Ehe, Familie, Sexualbindung und Kinderaufzucht — entgegen der in Filmen und Unterhaltungsmedien angekurbelten Leerform-Rückregelung über diese Dinge— allenfalls eine wichtige Glücks- und Befriedigungsmöglichkeit der Frau in einem bestimmten Lebensabschnitt sein können, aber nicht sein müssen und insbesondere tatsächlich bei weitem nicht die soziale Anerkennung und Honorierung finden, die in den Massenmedien vorgetäuscht wird. Daher 106

Vgl. Beer (173), S. 26.

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müssen auch bezüglich der tradierten Vorstellungen, auf denen sich die relativ positive Einstellung der Mädchen zu politischer Autorität gründet, die Alternativen wie die realen sozialen Gewichte bewußt gemacht werden. Darüber hinaus bedarf es der Klärung, daß bei allen diesen Alternativen, daß es beim praktischen Verhältnis der Geschlechter überhaupt erst sekundär um geschlechtliche Fragen geht, sondern primär um Alternativen und Gestaltung intimer, individueller Bindung in Kleingruppen als der wichtigsten Grundlage zur Entfaltung prägnanter Individualstruktur 107 . Die Behauptung, daß Mädchen aufgeschlossener gegenüber autoritärer Führung seien als Jungen, weil alle ihre auf Identifikationsbedürfnis gerichteten items relativ höher rangieren, kann noch einer weiteren Kontrolle unterzogen werden. Wenn diese Einstellung auf allgemeinen Traditionen oder auch geschlechtsspezifischen Eigenheiten beruht, dann müßte sich das Identifikationsbedürfnis auch gegenüber den übrigen überprüften Kriterien, also Klassenlehrern und führenden Mitschülerinnen, zeigen. Insgesamt müßten daher die Identifikationsbedürfnisse anzielenden items in der Durchschnittsskala für alle Mädchen höher rangieren als in der Durchschnittsskala für alle Jungen (vgl. Anhang II, Skalendarstellung (a). Die items Nr. 6 (sich starkem Willen anvertrauen wollen), Nr. 7 (überzeugend und freundlich reden können), Nr. 8 (durch Auftreten und Erscheinung Sympathie erwecken) und Nr. 9 (Hochachtung und Bewunderung erregen) sind bei Mädchen im Durchschnitt aller Altersstufen und aller Kriterien stärker ausgeprägt als bei Jungen mit Nr. 6 I 5 I 5 I 2 I — Nr. 7 I 5 I 5 I — I — Nr. 8 I 5 I 5 I — I und Nr. 9 I 5 I 5 I — I. Zugleich sind die wesentlichen Distanzierungsitems, vor allem Nr. 11 (passive Kritikbereitschaft) weniger oder gar in umgekehrter Richtung verschieden, also bei Jungen deutlicher ausgeprägt als bei Mädchen mit folgenden °/o-Niveaus: Nr. 11 1 — 120111, Nr. 12 (Gesetzestreue und Gerechtigkeit) | 2 0 | - | - | , Nr. 13 (nicht egoistisch sein) |5J20| - |und Nr. 10 (nicht von oben herab anordnen) 15J - 12J. (Die unterstrichenen Zahlen bedeuten konventionsgemäß entsprechendes %-Niveau in der zur behaupteten Richtung entgegengesetzten Richtung, widersprechen also insoweit der hier vorgetragenen These). Insgesamt stützen mithin auch diese aus den Durchschnittswerten hergeleiteten Unterschiede die Behauptung nachhaltig, daß Mädchen die Identifikationsbedürfnis ausdrückenden items höher rangieren als Jungen, während dieser Unterschied bei den Distanzierung ausdrückenden 107

Entsprechend Hofstätter

(40), S. 339 u n d Beer (173), S. 24 ff.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

203

items merklich geringer ist, zum Teil, besonders bei item Nr. 11, sogar in ein Übergewicht der Jungen umschlägt. cc) Einstellung zur politischen Führung in Abhängigkeit von der Klassenstufe Die Klassenstufen Quarta (7) mit 12—14-Jährigen, Untersekunda (10) mit 15—17-Jährigen und Oberprima (13) mit 18—20-Jährigen wurden jeweils getrennt skaliert. Bei der Interpretation der Unterschiede müssen verschiedene mögliche Ursachen solcher Unterschiede in Betracht gezogen werden. Einmal können Unterschiede vom Alter selbst bzw. vom schulischen Entwicklungsstand verursacht sein. Andererseits können aber auch für die verschiedenen Altersgruppen bereits verschiedenartige autonome Tradierungen vorliegen, da sich das mittlere Alter der Eltern in erster Näherung mit dem Alter der erfaßten Schüler verschieben wird. Bei den Quartanern muß durchschnittlich bei den Eltern mit Dreißigbis Vierzigjährigen gerechnet werden, also mit Menschen, die den zweiten Weltkrieg noch in jugendlichem Alter miterlebt haben und gegenüber dem nationalsozialistischen Regime einerseits in einer rein passiven Beziehung standen und daher kaum politische Schuldgefühle entwickeln können, andererseits aber doch noch möglicherweise in erheblichem Ausmaß von den nationalsozialistischen Vorstellungen geprägt worden sind, und zwar in der besonders prägungswirksamen Situation des Krieges. Bei den Oberprimanern muß man bei den Eltern durchschnittlich mit Fünfzig- bis Sechzig jährigen rechnen. Sie haben Beginn und Geschichte der nationalsozialistischen Herrschaft als politisch Verantwortliche miterlebt und können sich äußerlich gewissen politischen Vorwürfen allgemeiner Art und auch der politischen Mitverantwortung — im Sinne politischer Kausalität — nicht ganz entziehen. So zeigen sie weithin ein politisches Verdrängungs- oder doch Selbstsicherungsbedürfnis gegenüber diesen Vorwürfen wie auch gegenüber den historischen Tatbeständen selbst, an denen sie entweder aktiv beteiligt waren oder doch ihre indirekte Teilnahme im Sinne politischer Kausalität objektiv nicht leugnen können, obwohl sie sich subjektiv mangels eigenen Erlebnisses oder Wissens tatsächlich nicht mit der Schuld an den schlimmen Dingen zu identifizieren vermögen. Aus dieser Betrachtung ergibt sich aber, daß möglicherweise beide beteiligten Elterngenerationen, die einen aus naiver Geprägtheit, die anderen zur Sicherung ihrer Selbstachtung funktionell-patriarchalische Ordnungsvorstellungen aufrechterhalten und in nicht sehr verschiedener Weise autonom tradieren werden. Aus diesem Grunde wird man

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keine erheblichen Unterschiede zwischen den Einstellungen der verschiedenen Altersstufen erwarten dürfen, soweit sie auf Unterschiede der elterlichen Prägung zurückgehen. Hinzukommt, daß die beiden an den zeitlichen Grenzen der erfaßten Schulaltersgruppen liegenden Elternaltersgruppen nur sehr rohe Durchschnittsschätzungen darstellen und sich vermutlich — gemessen an den zugeordneten Schulaltersgruppen — sich erheblich überschneiden. Damit wird auch von der Verteilung her ein merklicher Einfluß der Verschiedenheit der Elterngenerationen unwahrscheinlich. Endlich können auch die allgemeinen sozialen Verhältnisse kaum für altersbedingte Unterschiede herangezogen werden, da selbst die Zwanzigjährigen bereits etwa 15 Jahre unter dem mit der Währungsreform 1948 einsetzenden ausgeprägten KonsumStreben gelebt haben. Schließlich besteht noch eine weitere Kontrollmöglichkeit. Bezüglich der drei skalierten Kriterien (politische Führung, Klassenleiter, tonangebender Mitschüler) ist zweifellos die Einstellung im ersten Fall am stärksten der elterlichen Prägung ausgesetzt, weil hierbei die Jugendlichen am wenigsten Eigenerlebnis verarbeiten. Wenn daher bestimmte altersspezifische Unterschiede bezüglich aller drei Kriterien in gleicher Weise auftreten, so darf daraus geschlossen werden, daß der Einfluß der Altersunterschiede in der Elternschaft nur wenig zu den Einstellungsunterschieden beiträgt. Wenn sich umgekehrt bezüglich aller drei Kriterien ähnliche altersmäßige Skalenunterschiede zeigen, so kann angenommen werden, daß diese allgemeinen Altersbedingungen auch bei der politischen Einstellung durchgeschlagen haben. Insoweit stellen dann solche Skalendifferenzen eine vorwiegend entwicklungspsychologisch interessierende Erscheinung dar. Um den Gegenstand übersichtlicher zu erfassen, sollen vor allem Verschiebungen von item-Werten längs der Skala betrachtet werden, die mit der Änderung des Alters durchgehend für alle drei Kriterien in gleichbleibender Richtung erfolgen. Solche Verschiebungen sollen Trends heißen. Es soll von starken Trends die Rede sein, wenn viele der auftretenden Verschiebungen ein hohes %-Niveau haben, von schwachen Trends, wenn viele der auftretenden Verschiebungen nur noch als schwache Tendenzen angesprochen werden können. Nur, soweit sich zwischen dem Durchschnitt aller Skalen und den auf politische Führung bezogenen Skalen Unterschiede in den Trends ergeben, liegt ein von der politischen Fragestellung her speziell interessierender Tatbestand vor. Zunächst besteht ein starker Trend darin, daß der Skalenschwerpunkt mit wachsendem Alter sinkt, also weniger allgemeine Neigung besteht, die Wichtigkeit aller items hervorzuheben. Dies muß auch erwartet werden. Denn mit wachsendem Alter wächst der Gesamtbestand

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

205

an Motivationen und in ihnen erfaßten Werturteilen an. Daher sinkt das Wichtigkeits-Niveau einer einzelnen motivischen Größe relativ dazu durchschnittlich ab, weil der klassenabgrenzende Wichtigkeitsbegriff eine immer schärfere Auswahl unter den — in wachsender absoluter Zahl angebotenen — Urteilen treffen muß. Dieser Trend zeigt bei den Skalen bezüglich politischer Einstellung die einzige Störung überhaupt bei den Jungen der Quarta-Stufe, deren Skalen-Schwerpunkt noch unter dem Skalenschwerpunkt der JungenOberprima liegt und signifikant 151 unter dem Schwerpunkt der JungenUntersekunda. Entsprechend der eben angestellten Überlegung über die Bedeutung des allgemeinen Trends des Skalen-Schwerpunktes, mit wachsendem Alter zu sinken, kann daher vorsichtig interpretiert werden, daß das allgemeine Engagement an Fragen politischer Führung bei diesen jüngeren Schülern geringer ist, oder auch, daß die Fragen politischer Führung bei jüngeren Schülern motivisch von außen her nicht so stark in Anspruch genommen werden, sei es durch geringere Wirksamkeit der autonomen Tradierung, sei es vor allem durch die starke Konkurrenz der unpolitischen Konsumtion, sei es aber auch durch ein altersspezifisches Desinteresse. Diese Interpretation wird vor allem dadurch gesichert, daß im Durchschnitt aller drei Kriterien gerade die entgegengesetzte Tendenz stark hervortritt. Da nach den Überlegungen oben nicht unwahrscheinlich ist, daß sich in dieser Erscheinung Altersunterschiede der Eltern niederschlagen, zudem nur die Quartaner diese Abweichung signifikant aufweisen, während Untersekunda- und Oberprimastufe sich regulär verhalten, so muß an Ursachen gedacht werden, die für die Unterstufe spezifisch sind. Zunächst muß an den entwicklungspsychologischen Aspekt gedacht werden, daß Unterstufenschüler (hier 12—14-Jährige) überwiegend durch konkrete, in eigenen Erlebnissen erfahrene Problematiken gefesselt werden, so daß die relativ abstrakte Problematik politischer Führung im Gegensatz zu den Kriterien „Klassenlehrer" und „tonangebende Mitschüler" weniger Engagement erregt. Dieser Umstand spricht aber nicht für eine Beschränkung des politischen Unterrichts in der Unterstufe, sondern im Gegenteil für eine besonders genaue methodische Durcharbeitung. Denn größere Mittelbarkeit und Abstraktheit politischer Fragestellungen ist nicht nur für diese Altersstufe, sondern überhaupt eine bedeutsame Schwierigkeit, politische Alternativen bewußt zu machen. Einen Verzicht auf politischen Unterstufenunterricht daraus herleiten hieße, den Unterstufenunterricht auch in anderen Disziplinen wie Geschichte oder sogar Mathematik verneinen, denn an charakteristische und zentrale Problemstellungen und Methodenfragen können auch in diesen beiden Fächern erst Ober-

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stufenschüler herangeführt werden, aber beide Fächer bedürfen doch einer Unterbauung durch Faktenwissen und typisches Denktraining. Bezüglich des politischen Unterrichts kommt aber hinzu, daß zwar das Engagement in Bezug auf die hier empirisch untersuchten relativ abstrakten Einstellungs-Kategorien geringer sein mag als bei älteren Schülern, aber es besteht eine hochgradige diffuse Provokation durch die Massenmedien, Werbung, Rundfunk, Fernsehen usw. Deren Einfluß bliebe weitgehend passive Reizzumutung, wenn nicht die Schule Möglichkeiten der Reaktion und der Ventilierung böte. Das wichtigste Fach hierzu aber ist gerade politischer Unterricht in der Unterstufe. Eben an dieser Vielfalt verschiedener angebotener Reize und Materialien aber bietet sich auch ein vorzüglicher Ansatzpunkt, allgemeine soziologische und sozialpsychologische Begriffe zu erläutern und immer wieder an jeweils gegebenen außerschulischen Reizen zu trainieren. Dabei bedarf es zu diesen Begriffen zunächst noch keiner Systematik, aber sie helfen, große Teilgebiete der von den Massenmedien angebotenen Reize in den Unterstufenschülern von ihrer bloß diffusen Anregungswirkung zu lösen und in ein reaktives motivisches Verhältnis in Bezug auf die gegebenen Allgemeinbegriffe überzuführen — etwa im Sinne des Wiedererkennens oder des reaktiven Ansprechens und Einordnens. Es gibt aber noch einen viel wichtigeren Grund, den politischen Unterricht der Unterstufe methodisch und auch organisatorisch zu fördern. Der Unterstufenschüler befindet sich in einem Alter, in dem besonders die spontane autonome Tradierung noch nicht abgeschlossen ist. Daher besteht gerade in diesem Alter eine echte Chance, Alternativen erst garnicht verloren gehen zu lassen. Es besteht die Möglichkeit, im statu nascendi tradierender Prägung Alternativen offen zu halten. In diesem Alter kann Toleranz noch direkt fixiert werden, wenn mit Bewußtsein oder im konkreten Erlebnis aufgenommen wird, daß Leute, die kapitalistisch, kommunistisch, atheistisch, katholisch, protestantisch, liberal oder konservativ denken, nicht notwendig deshalb minderwertige oder amoralische oder sachlich unqualifizierte Menschen sind. Nichts ist wertvoller und eindrucksvoller als das Erlebnis, daß solche Leute sich sogar untereinander gut vertragen und miteinander offen reden können, etwa der General mit dem Kriegsdienstverweigerer, der Atheist mit dem Seelsorger einer Konfession. Was in einem späteren Alter bereits überwiegend intellektuell — mit festliegenden Vorurteilen — verarbeitet wird, kann in diesem Alter noch unmittelbar einseitige, alternativensperrende Einstellungsentwicklungen hemmen oder sogar verhindern. Die hierbei vorausgesetzte Prägungsoffenheit dieses Alters läßt sich anhand der empirischen Ergebnisse dieser Untersuchung direkt belegen. Sie müßte sich — theoretisch betrachtet — darin zeigen, daß alle items, in denen sich besonderes Bedürfnis zur Unterwerfung unter Autorität

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

207

aus drückt, in dieser Altersstufe hoch rangieren. Tatsächlich zeigt insbesondere das item Nr. 6 (der Führende soll einen starken Willen haben, dem man sich getrost anvertrauen möchte) einen sehr starken altersabhängigen Trend: in Bezug auf alle Vergleichsmöglichkeiten und in Bezug auf alle drei Führungskriterien nimmt der Skalenwert von item Nr. 6 mit wachsendem Alter stark ab. Ähnliches gilt für das item Nr. 7 (der Führer soll überzeugend und freundlich reden können). Merklich schwächer zeigt auch item Nr. 8 diesen Trend (Erscheinung und Auftreten mögen Sympathie erwecken). Als Gegenprobe muß theoretisch erwartet werden, daß in der Unterstufe noch kein großes Bedürfnis besteht, Kritik zu üben, so daß auch item Nr. 11 (passive Kritikbereitschaft des Führenden) mit wachsendem Alter bedeutsamer werden müßte. Dieser Trend ist tatsächlich vorhanden, bei den Jungen deutlicher als bei den Mädchen, und unter Berücksichtigung aller Vergleichskriterien in Bezug auf alle Führungskriterien. I m Vergleich der Durchschnittsskalen für die Klassenstufen ist er ausgeprägt (signifikante Unterschiede insbesondere beim relativen Vergleich und gleichlaufenden Hangplatzdifferenzen). Die eben genannten Trends begründen die Behauptung, daß die Unterstufe noch stark anlehnungsbereit und damit noch direkten alternativen-öffnenden Einwirkungen zugänglich ist. Demgegenüber lassen sich andere, schwächere Trends beobachten, die weniger das Autoritätsbedürfnis als vielmehr das Sicherheitsbedürfnis in Abhängigkeit vom Alter beleuchten. Es treten — allerdings nur schwächere — Trends auf: item Nr. 2 (vor allem an persönliche Sicherheit der Geführten denken) und Nr. 5 (auch den Wert der Schwächeren beachten) rangieren mit wachsendem Alter niedriger. Relativ am wenigsten ausgeprägt sind diese Trends in Bezug auf politische Führung, aber deutlich sichtbar im Vergleich der Mittelwertskalen. Dagegen tritt mit wachsendem Alter item Nr. 1 (Entscheidungsfähigkeit in kritischen Augenblicken) immer deutlicher hervor. Die Gegenläufigkeit des Trends von item Nr. 1 und der erstgenannten Trends von item Nr. 2 und 5 erlaubt eine verfeinerte Interpretation. Das zum Ausdruck kommende stark altersabhängige Sicherheitsbedürfnis ohne die Komponente der Entscheidungsfähigkeit des Führers erscheint weniger als eine Folge einer funktionell-patriarchalischen Einstellung, sondern als Äußerung primär familiärer Autoritätsbindung 108 , die schematisch auf den Politiker projiziert ist. So scheint tee w i e bereits oben u n d aus den gleichen Gründen w i r d hier darauf v e r zichtet, auf den Autoritätsbegriff i n der Erziehungswissenschaft näher einzugehen (vgl. S. 158 Anmerk.). H i e r w i r d die Erscheinung gemeint, daß K i n d e r bis zu einem gewissen A l t e r geneigt sind, sich den elterlichen Lebensformen u n d auch Einzelentscheidungen anzupassen. Die Formen dieser Anpassung einschließlich der Rolle der Erziehungsvorstellungen u n d des normativen Bewußtseins der Eltern ist p r i m ä r eine empirisch zu lösende, w e n n a u d i noch i n keiner Weise abgeklärte Problematik.

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sich das Analogie-Prinzip der normativen kindlichen Umweltserfassung (Piaget) bei geeigneten Objekten auch an älteren Kindern zu bestätigen. Geht man von der — hier wahrscheinlich wichtigen — Annahme einer echten Altersabhängigkeit aus (die streng nur durch Verlaufsstudien gerichtet werden könnte), so läßt sich dieser Aspekt zu einer entwicklungspsychologischen und zugleich tiefenpsychologischen Interpretation der funktionell-patriarchalischen Einstellung und ihrer Altersabhängigkeit ausweiten. Der Patriarchalismus kann als einstellungsmäßige Fixierung primärer, familiärer Autoritätsbindung 109 verstanden werden, die mit wachsendem Alter mehr oder auch weniger abgebaut wird. Die größere Bedeutung der items Nr. 2 und 5 (persönliche Sicherheit und Wunsch auf menschliche Beachtung) bei Unterstufen-Schülern erscheint als unmittelbarer Reflex der normalen Abhängigkeitssituation in der Kindheit. Die funktionellen Elemente der späteren funktionellpatriarchalischen Einstellung dagegen werden mit wachsender Reflexionsfähigkeit, also mit wachsendem Alter gesteigert: Dabei bewahren die unmittelbaren und auf der Hand liegenden Reflexionen und damit die direkten Bezugnahmen auf die eigene Unsicherheit (Entscheidungsfähigkeit in kritischen Lagen) sowie Führungsqualifikationen unter Absehung von spezifischen Führungszielen — item Nr. 1 und 4, das den gleichen Trend zeigt — Vorrang vor eigener Verselbständigung und tieferer Reflexion (insbesondere item Nr. 11 — Forderung der Kritisierbarkeit). Insoweit erscheint die Einstellung des funktionellen Patriarchalismus als Ergebnis einer steckengebliebenen Entwicklung, die von extremer Unterwerfung unter die väterliche Autorität ausgeht. Diese primitive Bindung wird aber nur unvollständig abgebaut und nur unvollständig durch reflexive Momente ersetzt, die zudem mehr auf Funktionalisierung als auf Auflösung des Patriarchalismus zielen. I m Sinne dieser Interpretation wird also die autonome Tradierung funktionellpatriarchalischer Einstellung durch die universelle, primäre Bindung an die väterliche Autorität besonders begünstigt. Indem der politische Unterricht sachliche Bedingungen und mögliche Alternativen eigener Entscheidung vermittelt, setzt er den Trend der inneren Verselbständigung konsequent fort. Soweit er die politische und soziologische Reflexion vertieft, verschafft er auch den weniger unmittelbaren Einsichten motivischen Ausdruck und lenkt damit den auf bloße Funktionalisierung des Patriarchalismus gerichteten Entwicklungstrend der Jugendlichen um auf Alternativen erfassendes Verständnis und damit auf innere Akzeption der sozialen Kontrolle politischer Führung, der demokratischen Kontrolle. 10

® Vgl. Anm. 108.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

209

I m Rahmen dieser entwicklungspsychologischen Interpretation der funktionell-patriarchalischen Einstellung soll die Frage aufgegriffen werden, ob und in welchem Umfang der — durch theoretische Extrapolation in die frühe Kindheit — herleitbare Ausgangspunkt der dargestellten Trends universeller, biologischer Natur sei oder sozial gegeben. Für den Trend von Unreflektiertheit hin auf Reflektiertkeit darf auf Grund der Parallelität zur Intelligenzentwicklung die soziale Hypothese angenommen werden. I n Bezug auf die übrigen Trends müssen die beiden Aspekte der Unsicherheit und der Autoritätsbindung wahrscheinlich getrennt betrachtet werden. Die frühkindlich extreme Bindung an die primäre Autorität der Eltern ist zweifellos eine universelle, biologistisch zu verstehende Erscheinung, möglicherweise durch sich sozial wechselseitig auslösende, die Aufzucht partiell regulierende Instinktrudimente begründet 110 . Dagegen ist das Moment des Sicherheitsbedürfnisses als mitbestimmendes Motiv der Unterwerfung unter Autorität weniger sicher biologistisch begründbar, denn eben die — als möglicherweise vorhanden unterstellten — instinktrudimentären Aufzuchtmechanismen sorgen in besonders hohem Maße für Eindeutigkeit der Sozialbeziehungen und Gewißheit in der Erwartung, daß die — zunächst vorwiegend primären — Bedürfnisse befriedigt werden. Wenn daher das Moment eines betont unmittelbaren, nicht reflektierten Sicherheitsstrebens deutlich als altersabhängiger Trend auftritt, so müssen soziale Kräfte vermutet werden, die das — biologisch betrachtet — sehr eindeutige und sichere Sozialsystem in der frühen Kindheit stören. Zunächst muß dabei an die Entstehung eines normativen Equilibriums gegenüber dem rein biologischen im Sinne Hofstätters gedacht werden 111 — also an die mit sozialer Entwicklung und Erziehung in jedem Fall verknüpften Frustrationen 112 . Ein großer Teil dieser Frustrationen, besonders, soweit sie von den Eltern ausgehen, wird durch kompensative Akte elterlicher Zuneigung ergänzt, so daß sie im Sinne eines Aufzuchts- und Anpassungsgleichgewichtes zwischen Eltern und Kind akzeptiert und bewältigt werden. In diesem Fall würde der beobachtete Trend eines mit dem Alter absinkenden Sicherheitsbedürfnisses persönlicher Art nur den Grad spiegeln, mit dem jeweils die Umwelt noch nicht sicher beherrscht wird. Gegenüber diesem als normal gesetzten Fall kann noch an zwei parallele Möglichkeiten zusätzlicher kindlicher Verunsicherung gedacht 110

Vgl. Hofstätter (40), S. 339 ff. Vgl. auch die Ergebnisse der vergleichenden Verhaltenswissenschaft, K . Lorenz u. a. 111 (40), S. 339 ff. u. 343; vgl. auch Erikson (202), u. a. S. 28 ff. 112

Vgl. Stern (52), S. 68.

14 Lenné

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werden. Die Autoritätsanwendung der Eltern kann einen so hohen Grad dauernder Frustration erzeugen, daß weder die Kompensation durch Zuneigungsbezeugungen, noch die Variabilität des Kindes selbst eine Bewältigung ermöglichen. In diesem Fall kann es entweder zur Verinnerlichung eines Zustandes von Dauertrotz und Daueraggressivität kommen als Ergebnis eines Trainings in sehr zahlreichen Einzelaktionen dieser Art, oder auf gleichem Wege zur Fixierung einer Dauerverängstigung. Das eine begünstigt später einen aktiven, das andere einen passiven Patriarchalismus. Die andere abweichende Erziehungshaltung der Eltern ist eine zu schwache Führung des Kindes, so daß eine relativ dauernde Unsicherheit gegenüber den Umweltbedingungen und den sozialen Forderungen verinnerlicht werden kann, eine Unsicherheit, die sich abermals ambivalent als naive Unterwerfung der Mitwelt mit allen Mitteln oder als autistische Berührungsscheu fixieren kann und gleichfalls patriarchalische Einstellungen in modifizierter Form begünstigt. Beide Erziehungsabweichungen von einer gewissen optimalen Norm begünstigen daher eine zusätzliche Fixierung von Sicherheitsbedürfnissen. Wieweit solche Mechanismen zusätzlich als Grundlage der funktionell-patriarchalischen Einstellungen in Betracht gezogen werden müssen, wurde bereits im Abschnitt über autonome Tradierung erläutert. Aus den beobachteten Trends und den durchschnittlichen Skalenstrukturen ergibt sich, daß auf Ordnung und Recht zielende items höher bewertet werden als solche auf direkte Unterwerfung unter eine Autorität zielende (item Nr. 6). Auch werden items, die persönliche Identifikationen ausdrücken, sehr niedrig bewertet, so daß sich im ganzen eher ein autistisch anmutendes Bild zeigt. Dieses ließe aber in Bezug auf das tatsächliche Erziehungsverhalten eher auf zu wenig Führung und zugleich auch auf Liebesentzug schließen in Übereinstimmung mit den Überlegungen innerhalb des Abschnitts über autonome Tradierung. Die drei hier idealtypisch angegebenen Erziehungsformen, starke, ausgeglichene und schwache Führung, finden sich unter verschiedenen Aspekten wieder, gruppentheoretisch bei Hofstätter 11*, erziehungspsychologisch bei 11 Tausch *, betriebssoziologisch bei Atteslander 115 und tiefenpsychologisch bei Stern 116. Weiter besteht die Frage, warum alle die beobachteten Trends in einem Lebensalter von 12—14 Jahren noch nicht weiter vorangeschritten sind, warum insbesondere auch in diesem Alter die Einstellung ge113 114 115 11β

(40), S. 413. (199). (121), S. 170 ff. (52), S. 22.

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

211

genüber Politikern patriarchalischer ist als gegenüber Lehrern. Item Nr. 6 (starker Wille gewünscht, dem man sich getrost anvertrauen möchte) ist insgesamt gegenüber Lehrern niedriger einrangiert als gegenüber Politikern, für Quartaner |50|20|4|. Dagegen ist item Nr. 11 (Forderung auf Kritisierbarkeit) gegenüber Lehrern stärker betont als gegenüber Politikern, für Quartaner |5|20|4|. Für Quartanerinnen ergeben sich als entsprechende %-Niveaus für niedrigere Werte von item Nr. 6 und höhere Werte von item Nr. 11 bei Lehrern gegenüber Politikern (6) I33I20I2I und (11) |33|20|3|. Ähnliche Unterschiede ergeben sich auf den höheren Klassenstufen insbesondere noch in Bezug auf das item Nr. 11. Eine solche relativ stärker patriarchalische Einstellung gegenüber dem Kriterium der politischen Führung, bezüglich der am wenigsten praktische Eigenerfahrung besteht, kann aber nur als Folge einer ausdrücklichen Einstellungsfixierung in Bezug auf politische Führung angesehen werden. Denn gegenüber jenen Kriterien, bei denen die Jugendlichen auf Eigenerlebnis zurückgreifen können und der Einfluß der Eltern stark gemindert ist, gegenüber Klassenlehrern, (noch stärker gegenüber tonangebenden Mitschülern!) sind die patriarchalischen Elemente bereits viel mehr abgebaut, wie oben gezeigt wurde. Mithin kann abschließend festgestellt werden, daß die relativ stärkere patriarchalische Einstellung speziell in politischer Hinsicht das Ergebnis politischer autonomer Tradierung sein muß, und zwar überwiegend in ihrer spontanen Wirkungsweise. Unter spontaner Tradierung war verstanden worden, daß zu spontan begriffenen, zumeist dem Urteilsvermögen eines Kindes oder Jugendlichen weit vorauseilenden Fragen Eltern bzw. Erzieher, die in einem affektiv offenen Verhältnis zum Jugendlichen stehen, spontane verbale Antworten geben, die ein oft unbewußtes Abbild der eigenen Einstellung des Erziehers sind und daher diese Einstellung auf diesem Wege autonom tradieren. Anlaß zu solchen jugendlichen Spontanproblematiken sind nicht nur konkrete selbst erlebte Vorfälle, sondern — besonders in der Gegenwart — sehr oft Anregungen seitens der Massenmedien in Bezug auf bestimmte politische Ereignisse, politische Persönlichkeiten und politische Meinungen. Abermals wird damit die Beziehung zwischen Massenmedien und politischem Unterstufenunterricht erkennbar. Während die von Eltern usw. oft nebenbei gegebenen Kommentare bestimmte Alternativen bezüglich solcher auftretenden politischen Anregungen im Jugendlichen spontan festlegen, wird der politische Unterstufenunterricht solche Anregungen als Gelegenheiten aufgreifen, Alternativen bewußt zu machen. Er wird zu politischen Ereignissen, die durch Massenmedien an die Jugendlichen herangetragen worden sind, parallele und kontrastierende Ereignisse darstellen. I m Falle politischer Persönlichkeiten können neue und verschiedene Seiten 14·

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der gleichen Persönlichkeit hervorgehoben werden, und es können Persönlichkeiten in vergleichbaren politischen Stellungen oder Situationen geschildert werden. Auf etwas abstrakterer Ebene gilt dies auch für politische Meinungen. I n jedem Fall muß das Ziel sein, zufällig entstandene oder bloß autonom tradierte Zuordnungen zwischen Ereignissen, Persönlichkeiten und auch Meinungen und Werturteilen wieder aufzulösen, also unzulässige Verallgemeinerungen zu hemmen, aber andererseits auch denkbare, d. h. durch bestimmte empirische oder intentionale Sachbedingungen möglicherweise zu sichernde Verallgemeinerungen zu klären. Ein solches genau der spontanen Form der autonomen Tradierung angepaßtes Unterrichtsverfahren kann noch nicht mit weitertragender Systematik belastet werden, weil es ja auf die mehr oder minder zufällig auftretenden Momente jugendlicher Spontanproblematik angewiesen ist. Es erfordert allerdings, daß der Lehrer auf irgendeine Weise von diesen Spontanproblematiken erfährt, daß er ihre unterrichtliche Formulierung provoziert und damit für die politische Erziehung fruchtbar macht. Ein affektiv offenes Verhältnis ist dazu eine wichtige Voraussetzung. Daher darf ein solcher Unterricht nur insoweit mit Notengebung und Notendrohung belastet werden, als damit grobe disziplinäre Hemmungen einer freien Unterrichtsaussprache beseitigt werden können oder gelegentlich rein wissensmäßige Momente durchgesetzt werden müssen. Es muß hinzugefügt werden, daß der Lehrer in vielen Fällen selbst Spontanproblematiken wird anregen müssen, und zwar auch schon in der Unterstufe gelegentlich durch Einführung von Begriffen, die zunächst dem direkten Verständnis der Jugendlichen vorauseilen.

e) Ergänzungen

I m Rahmen der Interpretation der funktionell-patriarchalischen Einstellung der Jugendlichen als Ausdruck entwicklungspsychologischer Trends — wachsende, aber unvollständige Ablösung von der familiären Autoritätsbeziehung in der frühen Kindheit und wachsende, aber unvollkommene Reflexion — muß auch noch der Umstand näher betrachtet werden, daß insbesondere Oberprimaner einige deutliche Abweichungen in ihrer Einstellungsstruktur gegenüber der durchschnittlichen Einstellungsstruktur der Eltern zeigen. Insbesondere rangiert das item Nr. 6 (der politische Führer möge seinen starken Willen haben, dem man sich getrost anvertrauen möchte) bei den Oberprimanern signifikant niedriger als bei dem Durchschnitt der Erwachsenen |5|5|3|. Ein ähnlicher deutlicher Unterschied zeigt sich bezüglich des item Nr. 11 (passive Kritikbereitschaft der politischen Führer), daß bei Oberprimanern signifikant höher rangiert |33|5|3|. Den Unterschieden in diesen

3. Politische Erziehung u n d funktionell-patriarchalische Einstellung

213

beiden items gegenüber erscheinen die sonstigen Unterschiede vernachlässigbar. Bei Oberprimanerinnen können entsprechende Unterschiede beobachtet werden, aber mit bei weitem nicht so hohem °/o-Niveau. Schon dieser Umstand deutet schon darauf hin, daß diese Abweichung der Oberprimanereinstellung eindeutig in Richtung auf stärker demokratisches Bewußtsein nur mit Vorsicht als eine stabile Einstellungsänderung relativ zur Einstellung der Eltern gewertet werden darf. Der Umstand, daß eine solche Verschiebung bei Oberprimanerinnen nicht völlig fehlt, läßt allerdings die Möglichkeit einer solchen echten Einstellungsverschiebung nicht ausschließen, zudem Mädchen ohnehin stärker einer autoritären Bindung zuneigen, wie oben festgestellt wurde. Andererseits sind bekannten jugendpsychologischen Erfahrungen nach Jungen im Adoleszensalter besonders stark in sozialen Fragestellungen engagiert. Die Tendenz solcher Engagements, gegenüber den gegebenen Verhältnissen und Autoritäten eine besonders kritische Einstellung einzunehmen, ist sprichwörtlich. Es muß daher diese relative Verschiebung der Einstellung der Oberprimaner in Richtung auf demokratisches Bewußtsein wahrscheinlich großenteils als eine Entwicklungserscheinung gewertet werden. Diese kann und muß zwar auf jede Weise als Motor des politischen Unterrichts genutzt werden, aber es besteht keine Gewähr, daß diese relative Verschiebung nicht wieder beim Übergang ins Berufsleben verloren geht. Dies ist um so wahrscheinlicher, als gerade Akademiker item Nr. 6 besonders hoch einrangieren, so daß der in der Mehrzahl ergriffene akademische Berufsweg zumindest im Rahmen opportunistischer Anpassung wieder eine Vorverschiebung von item Nr. 6 (Autoritätsbedürfnis) hervorruft 117 . Am ehesten ist im Zusammenhang mit der zunehmend naturwissenschaftlich-kausalen und zweckrationalen Denkweise an eine Stabilisierung der gesteigerten Stellung von item Nr. 11 (passive Kritikbereitschaft der politischen Führer) innerhalb der Einstellungsstruktur zu erwarten. Insgesamt aber stellen die beschriebenen Abweichungen keine wesentliche Änderung der funktionell-patriarchalischen Grundstruktur dar. Wie weit sie mehr sind als ein entwicklungspsychologisches Phänomen, müßten andere empirische Untersuchungen im einzelnen feststellen. Zum Abschluß der Untersuchung altersabhängiger Einstellungsdifferenzen gegenüber politischer Führung soll noch auf einen nicht sehr deutlichen, aber gegenüber allen Kriterien auftretenden und daher in den Durchschnittsskalen ausgeprägten Trend hingewiesen werden. Item Nr. 9 (der Führer möge Hochachtung und Bewunderung erregen) rangiert mit wachsendem Alter immer höher. Der Trend dieses auf ein 117

Vgl. Erikson (202), S. 328 f.

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Identifikationsbedürfnis hinzielenden items verläuft daher genau in umgekehrter Richtung wie die Trends aller anderen auf Identifikationsbedürfnisse zielenden items Nr. 5, 6, 7, 8. Die Bewunderung und Hochachtung, die ein Führer erregt, wird also mit wachsendem Alter ein immer wichtigerer Bestandteil seiner Beurteilung. Diese Erscheinung läßt sich durch den Umstand begründen, daß die Formen, in denen sich das Sozialprestige von Politikern und auch Lehrern niederschlägt, erst mit wachsendem Alter von den Jugendlichen begriffen und übernommen werden. Dieser Begründung scheint zu widersprechen, daß der beobachtete Trend von item Nr. 9 (der Führer möge Bewunderung erregen), sich auch bezüglich des Kriteriums „tonangebender Mitschüler" zeigt. Die Formen des Sozialprestiges tonangebender Mitschüler werden aber — auch in Unterstufenklassen — von den Mitschülern notwendig selbst praktiziert, denn sie selbst sind die Grundlage des Sozialprestiges, das der tonangebende Schüler innerhalb der Klasse genießt. Andererseits folgt aus der Praxis nicht notwendig deren Reflexion in bestimmten Einstellungen. Der Grund des Bedeutungsanstiegs von item Nr. 9 mit wachsendem Alter scheint also doch darin zu liegen, daß Hochachtung und Bewunderung Formen von Sozialprestige sind, deren Eigenart und Wichtigkeit erst mit wachsendem Alter reflektiert und anerkannt werden.

Anhang I Fragebogen mit vollständiger Liste der items Erläuterungen Nachfolgend sind dreizehn Sätze über Staatsmänner und Politiker i n F o r m von Wünschen aufgeführt. Diese Sätze wurden Schüleraufsätzen entnommen und etwas verändert. H i n t e r jedem Satz stehen fünf Zeilen m i t den A u s d r ü k ken „bedeutungslos„wenig wichtig„wichtig", „sehr wichtig„absolut notwendigLies zuerst alle dreizehn Sätze vollständig durch. Dann fange von vorne an und streiche hinter jedem Satz diejenige der fünf genannten Eigenschaften an, die Deiner Meinung nach für den I n h a l t des betreffenden Satzes am richtigsten ist. Wenn D u ζ. B. glaubst, daß die i m ersten Satz ausgedrückte Eigenschaft von Staatsmännern bedeutungslos ist, so mache hinter bedeutungslos" einen leicht schrägen Strich, der den Rand der Seite s c h n e i d e t , aber keinesfalls auch das darunter liegende B l a t t trifft. Beispiel:

Bedeutungslos

/

Lege einen strengen Maßstab an Dein U r t e i l u n d frage Dich stets: ist diese Eigenschaft w i r k l i c h so wichtig? Beachte besonders die Bewertungen „bedeutungslos" und „absolut notwendig". Die meisten Schüler(innen) haben bisher wenigstens e i n e n der dreizehn Sätze als „bedeutungslos" u n d einen als „absolut notwendig" angestrichen. Überlege nicht zu lange, entscheide notfalls rein gefühlsmäßig! Kontrolliere zum Schluß, ob D u auch für j e d e n Satz genau e i n e der fünf Eigenschaften angestrichen hast. Staatsmänner und Politiker beschließen Maßnahmen, schlagen Gesetze vor, schließen Verträge ab, geben Verordnungen heraus, haben Tagungen, halten Staatsreden vor dem Parlament u n d Wahlreden vor den Wählern. Uberlege einen Augenblick lang, was Staatsmänner u n d Politiker noch tun. 1.

Bedeutungslos

Ich wünsche m i r von unseren Staatsmännern u n d Wenig wichtig Politikern, daß sie auch i n kritischen politischen N i c h t i g Lagen ruhig und sachlich entscheiden. Sehr wichtig Absolut

notwendig

2. Bedeutungslos Ich wünsche m i r von unseren Staatsmännern u n d Wenig wichtig Politikern, daß sie bei politischen Gefahren zuerst w i c h t i g an unser aller persönliche Sicherheit denken. Sehr wichtig Absolut

notwendig

216 3.

Anhang I Bedeutungslos

Ich wünsche m i r von unseren Staatsmännern u n d Wenig wichtig Politikern, daß sie vordringlich unsere Wirtschaft- Nichtig liehe Zufriedenheit anstreben. Sehr wichtig Absolut 4.

notwendig

Bedeutungslos

Ich wünsche m i r von unseren Staatsmännern und Wenig wichtig Politikern, daß sie i n politischen Geschäften K l u g h e i t u n d Erfahrung zeigen. Sehr wichtig Absolut 5.

notwendig

Bedeutungslos

Ich wünsche m i r von unseren Staatsmännern u n d Wenig wichtig Politikern, daß sie den menschlichen W e r t auch der ^ r r ^ r ^ wirtschaftlichen Schwachen anerkennen. Sehr wichtig Absolut

notwendig

6. Bedeutungslos Ich wünsche m i r von unseren Staatsmännern u n d Wenig wichtig Politikern, daß sie einen starken u n d politisch erfolgreichen W i l l e n haben, dem man sich getrost an- Wichtig vertrauen möchte. Sehr wichtig Absolut 7.

notwendig

Bedeutungslos

Ich wünsche m i r von unseren Staatsmännern u n d Wenig wichtig Politikern, daß sie überzeugend u n d zugleich freund- N i c h t i g lieh zu uns reden können. Sehr wichtig Absolut

notwendig

8. Bedeutungslos Ich wünsche m i r von unseren Staatsmännern u n d Wenig wichtig Politikern, daß ihre äußere Erscheinung u n d i h r N i c h t i g Auftreten allerseits Zuneigung erwecken. Sehr wichtig Absolut

notwendig

9. Bedeutungslos Ich wünsche m i r von unseren Staatsmännern u n d Wenig wichtig Politikern, daß sie überall Hochachtung oder sogar Wichtig Bewunderung erregen. Sehr wichtig Absolut

notwendig

217

Anhang I 10.

Bedeutungslos

Ich wünsche

mir

von

unseren

Staatsmännern

u n d Wenig wichtig

Politikern, daß sie nicht v o n oben herab anordnen, ohne andere Meinungen zu berücksichtigen.

wichtig Sehr wichtig Absolut

11.

notwendig

Bedeutungslos

Ich wünsche

mir

von

unseren

Staatsmännern

u n d Wenig wichtig

Politikern, daß sie offen kritisieren u n d K r i t i k an der eigenen Person offen anhören.

Nichtig Sehr wichtig Absolut

12.

notwendig

Bedeutungslos

Ich wünsche

mir

von

unseren

Staatsmännern

u n d Wenig wichtig

Politikern, daß sie sich redlich an die Gesetze halten u n d zudem auch persönlich gerecht sind.

Nichtig Sehr wichtig Absolut

notwendig

13. Bedeutungslos Ich wünsche m i r von unseren Staatsmännern u n d Wenig wichtig Politikern, daß sie nicht n u r an ihre persönliche politische Befriedigung u n d an ihren privaten Ge- Nichtig w i n n denken. Sehr wichtig Absolut

notwendig

Anhang I I I m Anhang I I werden die numerischen item-Werte aller original berechneten Skalen vorgelegt. I n Tabelle a finden sich die item-Werte der insgesamt achtzehn Skalen, getrennt nach Jungen u n d Mädchen, nach den Klassen Quarta (7), Untersekunda (10) u n d Oberprima (13) sowie nach den drei K r i t e r i e n „Staatsmänner u n d Politiker", „Klassenlehrer" u n d „tonangebender Mitschüler" skaliert. I n Tabelle β sind nach den drei angegebenen K r i t e r i e n j e zwei aus Untersekundanern u n d Oberprimanern gemischte Gruppen skaliert worden. Die eine Gruppe umfaßt die 35—30 °/o der Schüler, die i n einem Intelligenztest am besten abgeschnitten haben, die andere Gruppe die 25—30 °/o Schlechtesten. Außerdem ist die Gesamtelternschaft skaliert u n d zum Vergleich die gemittelten Werte der Gesamtschülerschaft hinzugesetzt worden. Darüberhinaus w u r d e n die Sonderskalierungen f ü r akademische u n d nichtakademische Eltern hinzugefügt, mi bedeutet i n allen Skalen den Wert des Skalenschwerpunktes, Da bedeutet den k r i t i schen Abstand f ü r den Vergleich zwischen zwei Skalen, w e n n die Skalenenden gleichgesetzt werden, D m i den kritischen Abstand f ü r den Skalenvergleich, wenn die Schwerpunkte gleichgesetzt werden u n d D i den k r i t i schen Abstand für zwei items innerhalb einer Skala. Haben zwei items wenigstens den kritischen Abstand, so k a n n erwartet werden, daß sie i m Falle der Nullhypothese i n wenigstens 95 °/o aller vergleichbaren Skalierungen eine kleinere item-Differenz zeigen würden, so daß die Nullhypothese entsprechend unwahrscheinlich ist. Z u r besseren Veranschaulichung w u r d e n außerdem drei Skalenpaare graphisch dargestellt, u n d zwar die f ü r die Interpretation besonders wichtigen. Der N u l l p u n k t (Wert 0,000) ist inhaltlich als „bedeutungslos" der M a x i m a l p u n k t (Wert 1,000) ist inhaltlich als „absolut notwendig" definiert.

Erläuterung zu Tabelle β (Seite 221) Die item-Werte der nach Intelligenz (figure-reasoning-Test) 35—40 °/o Besten, der 25—30 % Schlechtesten u n d die item-Werte der Elternskalen zusammen m i t der Schülergesamtskala f ü r das K r i t e r i u m „Staatsmänner u n d Politiker"

Jungen

Mädchen

1 2 3 4 5 6 7 8 9

10

11

Item-Nr.

12

13

~

^ .

m{

signifikante

Da

Di Umt

Mindest, .. , Ν abstande

7

10 13

727 670 670 652 843 642 613 373 276 785 738 766 671 749 508 629 675 820 536 918 317 237 817 764 833 693 668 522 588 640 715 433 461 344 325 720 716 756 660

157

120 025 060 160 030 086

673

642 100 030 060 320 626 100 030 067 245 581 150 030 086 157

7 782 694 675 707 829 731 632 437 342 767 726 711 618 ^ ^ ^ 7g8 ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ 801 611 644 827 760 604 514 369 385 702 742 741 547 634

tonangebende Mitschüler

«senlehrer

7

13

7

10 13

1Q

434 321 792 749 718 592 ^ ^ ^ ^ ^

727 577 697 776 794 553 430 287 294 688 774 704 538 664 715 643 652 824 576 529 329 221 667 707 701 632 689 568 593 622 762 471 407 261 222 716 708 735 607 679 510 617 623 732 398 422 275 241 659 757 754 637

785 790 737 745 858 726 61 ^ ?58 79g ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^

110 030 060

316~ 603 140 035 075 195 605 100 037 060 311 566 110 040 067 263 563 100 037 075 194

681

Staats7 816 786 607 738 630 680 397 354 225 597 594 634 521 583 090 025 060 315~ manner und 10 887 805 618 784 668 653 353 322 303 700 680 688 559 645 100 025 067 264 Politiker 13 926 767 527 835 665 543 275 264 270 696 698 728 605 600 100 030 075 195

tonangebende Mitschüler

13

Klassen a ssen- 1Q 6 Ter

Staats7 841 791 609 791 676 795 520 409 352 720 670 700 649 656 110 020 060 320~ manner und 10 914 775 610 832 666 712 419 355 389 721 659 702 628 645 110 020 067 244 Politiker 13 909 728 527 830 589 608 335 283 336 679 643 738 584 602 120 030 086 157

-li li τ^ A KlasGeschlecht Kriterium se

(alle Werte in 0, . . .)

Tabelle α: Die item-Werte der 18 Grundskalen

319 Anhang I I

^

/

12

631 326 31g 2g2 66g ß64 ?28 533

61Q

611

13

1?() 04g

120 033

ΓΪ

12Q

86

τλ·

746 619 723 765 854

^ m

^ 351 751 ?g4 ?3g 552

^ 230 05? 120

25-30%

^g 66g ?2g 55g

532

igo Q63 12Q

950 817 634 847 688 597 311 321 262 637 650 752 628

622

170 063

110

882 775 583 801 649 665 383 331 312 685 657 698 591

621

048 012

°3°

965 839 600 857 708 682 327 301 297 681 651 776 637

Minsen)

mi

1495

640

92

SQ

585

80

631

150

ΤΛ ·

981 806 530 841 676 733 297 316 337 681 635 687 616

638 487 545 5?1 735 459 3g4 25g 22ß

708 566 625 644 732 455 459 296 241 740 754 747 637

unteren

lo

25—30°/0

die unteren

Akademiker Nicht-Akademiker

,

— Und alle Eltern Politiker

Staats-

tonangebende Mitschüler

Klassenlehrer

11

die besten _ _ An0//o 671 644 692 778 751 607 470 354 291 734 814 698 696

25—30%

10

Item-Nr.

892 770 571 799 657 647 343 289 318 710 685 690 581

1 2 3 4 5 6 7 8 9

893 767 ß43 807

/o

Gruppe

Staatsmanner und , Politiker die unteren

r, .. . Kriterium

Tabelle β (alle Werte in 0, . . .)

Di

150

150

153

190 066 140

86

86

Dmi

130 045 086

626

150 048

150 042

Da

Abstände

signifikante Mindest-

Ν

61

Anhang I I 221



Jugendliche

1

98J

ι—ι—ι

?

78

9 8

—1

1

?

98

TT

1

7

7 8 9

?

-

η

313

1 τ1

Γ

7

3

1

6 Μ τι

1

5 10

2 4

ττ

1311 |é | 12 2 4

10 5

10

5

ι

1

6 2

^

4

HI

1—II

12

3|ό 2 1211 |54 1 13 10 1310

1311 5|ΐ2

|ιΐ6|ΐ2

1011

ΓΠ—ι—π—m 1

1 1

1 ιι 1 1

3

m

1

,l

13 Ì ftlf? 1

2 4



(C)

1

Il

(b)

ι

(a)

^

Die numerischen item-Werte aller Skalen wurden auf eine Normalskala normiert, deren Anfangspunkt Null durch das Kriterium „bedeutungslos", deren Endpunkt Eins durch das Kriterium „absolut notwendig" charakterisiert ist. Die unten graphisch dargestellten Skalen sind maßstabgerechte Abbildungen der item-Werte verschiedener Skalierungen. Die Gesamtstrecke entspricht dem Zahlenwert Eins. Alle dargestellten Skalen sind Durchschnitts-Skalen über die angegebenen Populationen.

ok

^

QjEjtern

Akademiker

Ohr:—-, r.

1

0|Nicht-Akadem»ker

'Madchen

Ol·«··-» L

|Da I

o Jungen

6

222 Anhang I I

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