Struktur von Variation zwischen Individuum und Gesellschaft: Akten der 14. Bayerisch-Österreichischen Dialektologietagung 2019 3515133585, 9783515133586

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes widmen sich der Untersuchung von Dialekten und der sprachlichen Variation in Ba

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German Pages 492 [494] Year 2022

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VORWORT
INHALT
MORPHOLOGIE
(Christine Ganselmayer / Peter O. Müller) Wortschatzausbau im Ostfränkischen. Wortbildung – Bedeutungsbildung – Entlehnung
(Rüdiger Harnisch) Analogie im Diastratum und verborgene Vertikalisierung im Synstratum
(Katharina Korecky-Kröll)
Nichtprototypische Flexion und Derivation in ländlichen Regionen
Österreichs
(Grit Nickel / Alexander Werth)
Zwischen ungebändigter Allomorphie und gesteuertem
Deklinationsklassenwandel. Intra- und interindividuelle Variation
in der Pluralmarkierung bayerischer und thüringischer Dialekte
SYNTAX
(Alexander Glück)
Eingebettete w-Infinitive in deutschen Varietäten in Südtirol
(Philip C. Vergeiner / Marlene Hartinger)
Zur Mehrfachnegation in den Dialekten Österreichs. Außer- und
innersprachliche Faktoren
(Helmut Weiß)
Artikelsyntax deutscher Dialekte. Ein erster Vergleich
SPRACHWAHRNEHMUNGEN UND SPRACHEINSTELLUNGEN
(Carina Auzinger / Stephan Gaisbauer / Barbara Gusenbauer)
Methodische Überlegungen und Beobachtungen zur Erhebung
standardnaher Sprechlagen im ländlichen Raum
(Monika Dannerer) Varietäten im Tiroler Tourismus. Ein USP oder doch nur ein „Ups!“?
(Elisabeth Knipf-Komlósi / Márta Müller)
Wahrnehmungen und Einstellungen älterer Ungarndeutscher zur
deutschen Sprache
(Mara Maya Victoria Leonardi)
Varietätengebrauch und Spracheinstellungen. Eine qualitative
Untersuchung sprachbiographischer Interviews mit MaturantInnen
an deutschsprachigen Oberschulen in Südtirol
(Konstantin Niehaus)
Zur sozialen Bedeutung des Bairischen in Bayern. Das indexikalische
Feld einer Dialektgruppe
(Elisabeth Wellner)
Die Entdeckung des „sprachlichen Chamäleons“. Laienlinguistische
Wahrnehmung des Sprachgebrauchs in Regensburg im Spannungsfeld
zwischen Standardsprache und Dialekt
SPRACHKONTAKT UND SPRACHVERGLEICH
(Mechthild Habermann / Sebastian Kürschner)
Sprachliche Variation im Bairischen von São Bento do Sul, Brasilien
(Simon Pröll / Thilo Weber)
Die Denaturierung oraler Varietäten. Bairisch, Niederdeutsch
und Färöisch
(Lea Schäfer)
Wie bairisch ist Jiddisch? Morphosyntaktische Evidenz für ein
jiddisch-oberdeutsches Dialektkontinuum
SPRACHGESCHICHTE UND SPRACHWANDEL
(Carsten Becker / Oliver Schallert)
Areale Variation im Bairischen des 13. Jahrhunderts. Eine Innen- und
Außenperspektive
(Stephan Gaisbauer / Karl Hohensinner)
Vokalepenthese (Sprossvokal) in Appellativen und Namen
(Irmtraud Kaiser / Lars Bülow)
Der Dialekt der jüngsten Generation. Wandel, Remanenz und Abbau
dialektaler Merkmale bei Kindern im westmittelbairischen Raum
Salzburgs
(Alexandra N. Lenz)
Sprachvariation und Sprachwandel in Österreich. Alte und neue Pfade
in der Forschungslandschaft
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Struktur von Variation zwischen Individuum und Gesellschaft: Akten der 14. Bayerisch-Österreichischen Dialektologietagung 2019
 3515133585, 9783515133586

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BEIHEFTE

Struktur von Variation zwischen Individuum und Gesellschaft Akten der 14. Bayerisch-Österreichischen Dialektologietagung 2019 Herausgegeben von Philip C. Vergeiner, Stephan Elspaß und Dominik Wallner

Germanistik

ZDL

Franz Steiner Verlag

zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte

189

Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik In Verbindung mit Michael Elmentaler, Jürg Fleischer und Mark L. Louden Herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt Beiheft 189

Struktur von Variation zwischen Individuum und Gesellschaft Akten der 14. Bayerisch-Österreichischen Dialektologietagung 2019 Herausgegeben von Philip C. Vergeiner, Stephan Elspaß und Dominik Wallner

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13358-6 (Print) ISBN 978-3-515-13359-3 (E-Book)

VORWORT Der vorliegende Band präsentiert ausgewählte Beiträge zur 14. Bayerisch-Österreichischen Dialektologietagung (BÖDT), die vom 7. bis 9. November 2019 an der Universität Salzburg stattfand. Die internationale Tagung, die alle drei Jahre abwechselnd in Bayern und in Österreich stattfindet, versammelt Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler, die sich mit den Dialekten und mit sprachlicher Variation in Bayern, Österreich, Südtirol, angrenzenden Gebieten oder in bairischen oder fränkischen Sprachinseln beschäftigen. Ein Schwerpunkt der Tagung 2019 lag auf Beiträgen zur Struktur von Variation zwischen Individuum und Gesellschaft, insbesondere auf Fragen nach der Systematik dialektaler und regiolektaler Variation, dem Verhältnis von intra- und interindividueller Variation sowie Wahrnehmungen von und Einstellungen zur Variation. Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, besonders aber den anderen Mitgliedern des Salzburger Organisationsteams 2019 – Lars Bülow, Andrea Ender, Eva Fuchs, Irmtraud Kaiser, Peter Mauser, Simon Pickl und Katharina Siedschlag – sei an dieser Stelle herzlich für ihren Beitrag zur gelungenen Tagung gedankt. Weiters geht unser Dank an das Land Salzburg, die Stadt Salzburg, das Rektorat der Universität Salzburg, das Kolleg „Linguistik: Kontakt – Variation – Wandel“ der Doctorate School PLUS der Universität Salzburg sowie die Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft e. V. für die finanzielle Unterstützung der Tagung. Der Band spiegelt zum einen die genannten Schwerpunkte der Tagung, umfasst darüber hinaus aber auch Beiträge zu weiteren Themenbereichen der bayerisch-österreichischen Dialektologie, die dort zur Sprache kamen. Dementsprechend sind die Beiträge thematisch in die folgenden Blöcke gegliedert: – – – – –

Morphologie (inkl. Wortschatz), Syntax, Sprachwahrnehmungen und Spracheinstellungen, Sprachkontakt und Sprachvergleich, Sprachgeschichte und Sprachwandel.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren1 für ihre Beiträge und für die Zusammenarbeit – auch für ihre Geduld –, den Reviewerinnen und Reviewern der Beiträge für ihre Mitwirkung sowie den Herausgebern der ZDL-Beihefte für die Aufnahme des Bands in diese Reihe. Einen ganz herzlichen Dank möchten wir schließlich Magdalena Hackl und Claudia Maria Kraml für die sorgfältige redaktionelle Arbeit aussprechen. Salzburg, in der staden Zeit 2021 Philip C. Vergeiner 1

Stephan Elspaß

Dominik Wallner

Bei allen notwendigen und üblichen Vereinheitlichungen in der Formatierung und in den Bibliographien war es den Beiträgerinnen und Beiträgern überlassen, ob und wie sie in ihren Texten gendern.

INHALT Morphologie .................................................................................................. 11 Christine Ganselmayer / Peter O. Müller Wortschatzausbau im Ostfränkischen. Wortbildung – Bedeutungsbildung – Entlehnung ............................................................... 13 Rüdiger Harnisch Analogie im Diastratum und verborgene Vertikalisierung im Synstratum .... 39 Katharina Korecky-Kröll Nichtprototypische Flexion und Derivation in ländlichen Regionen Österreichs.................................................................................................. 49 Grit Nickel / Alexander Werth Zwischen ungebändigter Allomorphie und gesteuertem Deklinationsklassenwandel. Intra- und interindividuelle Variation in der Pluralmarkierung bayerischer und thüringischer Dialekte .............. 81 Syntax........................................................................................................... 103 Alexander Glück Eingebettete w-Infinitive in deutschen Varietäten in Südtirol ................. 105 Philip C. Vergeiner / Marlene Hartinger Zur Mehrfachnegation in den Dialekten Österreichs. Außer- und innersprachliche Faktoren ........................................................................ 129 Helmut Weiß Artikelsyntax deutscher Dialekte. Ein erster Vergleich ........................... 149 Sprachwahrnehmungen und Spracheinstellungen .................................. 171 Carina Auzinger / Stephan Gaisbauer / Barbara Gusenbauer Methodische Überlegungen und Beobachtungen zur Erhebung standardnaher Sprechlagen im ländlichen Raum ..................................... 173

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Inhalt

Monika Dannerer Varietäten im Tiroler Tourismus. Ein USP oder doch nur ein „Ups!“? ..... 199 Elisabeth Knipf-Komlósi / Márta Müller Wahrnehmungen und Einstellungen älterer Ungarndeutscher zur deutschen Sprache .................................................................................... 223 Mara Maya Victoria Leonardi Varietätengebrauch und Spracheinstellungen. Eine qualitative Untersuchung sprachbiographischer Interviews mit MaturantInnen an deutschsprachigen Oberschulen in Südtirol ........................................ 247 Konstantin Niehaus Zur sozialen Bedeutung des Bairischen in Bayern. Das indexikalische Feld einer Dialektgruppe .......................................................................... 261 Elisabeth Wellner Die Entdeckung des „sprachlichen Chamäleons“. Laienlinguistische Wahrnehmung des Sprachgebrauchs in Regensburg im Spannungsfeld zwischen Standardsprache und Dialekt .................................................... 287 Sprachkontakt und Sprachvergleich ........................................................ 305 Mechthild Habermann / Sebastian Kürschner Sprachliche Variation im Bairischen von São Bento do Sul, Brasilien ... 307 Simon Pröll / Thilo Weber Die Denaturierung oraler Varietäten. Bairisch, Niederdeutsch und Färöisch ............................................................................................. 337 Lea Schäfer Wie bairisch ist Jiddisch? Morphosyntaktische Evidenz für ein jiddisch-oberdeutsches Dialektkontinuum ............................................... 361 Sprachgeschichte und Sprachwandel........................................................ 385 Carsten Becker / Oliver Schallert Areale Variation im Bairischen des 13. Jahrhunderts. Eine Innen- und Außenperspektive..................................................................................... 387 Stephan Gaisbauer / Karl Hohensinner Vokalepenthese (Sprossvokal) in Appellativen und Namen .................... 409

Inhalt

Irmtraud Kaiser / Lars Bülow Der Dialekt der jüngsten Generation. Wandel, Remanenz und Abbau dialektaler Merkmale bei Kindern im westmittelbairischen Raum Salzburgs .................................................................................................. 437 Alexandra N. Lenz Sprachvariation und Sprachwandel in Österreich. Alte und neue Pfade in der Forschungslandschaft ..................................................................... 469

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MORPHOLOGIE

WORTSCHATZAUSBAU IM OSTFRÄNKISCHEN Wortbildung – Bedeutungsbildung – Entlehnung Christine Ganslmayer / Peter O. Müller ABSTRACT Der Beitrag bietet Ergebnisse des Erlanger Drittmittelprojekts „Produktivität und Kreativität in der Lexik des Ostfränkischen“, das den bislang stark vernachlässigten dialektalen Wortschatzausbau für die Bereiche Wortbildung, Bedeutungsbildung und Entlehnung fokussiert. Im Anschluss an eine Vorstellung der Datenbasis (primär eine Datenbank des „Fränkischen Wörterbuchs“) sowie der Methodik werden die Suffixe -ung, -ling und das verbale Fremdsuffix -ier- im Kontrast mit der Standardsprache hinsichtlich der Untersuchungsziele des Projekts analysiert. Dabei zeigen sich neben standardsprachlichen Überschneidungen in allen drei Bereichen markante Eigenheiten, die dem Dialekt ein eigenständiges Profil verleihen. Am deutlichsten wird dies im Bereich der Bedeutungsbildung, wie auch das Beispiel der metaphorischen Konzeptualisierung des Alkoholrauschs im Ostfränkischen verdeutlicht. Ein zweites dialektspezifisches Merkmal in den Bereichen Wortbildung und Entlehnung ist der Erhalt älterer Lexeme, die in der Standardsprache nicht mehr usuell sind und eine ältere Form der Produktivität indizieren. In der ausgeprägten Verwendung von Wortbildungsmustern mit pragmatisch-expressiver Funktion (Diminuierung, Augmentation) zeigt sich die nähesprachliche Dimension dialektaler Wortbildung. Im Bereich der Entlehnung werden unterschiedliche Einflüsse sichtbar. Neben fremdsprachlichen, teils dialektspezifischen Entlehnungen sind auch zahlreiche standardsprachliche Entlehnungen nachweisbar, die eine lexikalische Akkommodation und damit eine Entwicklung vom Dialekt zum Regiolekt bedingen. 1 EINLEITUNG Der Wortschatz einer Sprache bzw. einzelner Sprachvarietäten ist ein offenes System und ständig im Wandel begriffen. Auslöser jedes lexikalischen Wandels ist das Bedürfnis der Sprachbenutzer, geeignete Bezeichnungen für neue, aber auch für bekannte Sachverhalte zu finden. Grundsätzlich wird in der Lexikologie zwischen quantitativem und qualitativem Wortschatzwandel differenziert (vgl. im Überblick MUNSKE 2005: 1387). Für das Deutsche sind drei Verfahren des Wortschatzausbaus charakteristisch: Während man unter ‚Wortbildung‘ die Bildung neuer Wörter aus bestehendem Sprachmaterial versteht, führt die ‚Bedeutungsbildung‘ zur Polysemierung

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Christine Ganslmayer / Peter O. Müller

vorhandener Wörter, und zwar sowohl von Simplizia als auch von Wortbildungen; in den meisten Fällen erfolgt die Bedeutungsbildung figurativ durch metonymische und metaphorische kognitive Prozesse. Als dritte Strategie der Wortschatzerweiterung gilt die lexikalische ‚Entlehnung‘, bei der Simplizia oder Wortbildungen aus einer anderen Sprache oder Varietät übernommen und integriert werden. Bezogen auf diatopische Varietäten wird die Frage nach dem Wortschatzausbau eher selten thematisiert, ist es doch das eigentliche Anliegen der großen dialektalen Lexikprojekte, alten Kulturwortschatz zu dokumentieren. Auch beschäftigt die Öffentlichkeit und die Fachwelt eher die Frage, ob bzw. inwieweit die Dialekte aussterben (vgl. MUNSKE 2008). Ein Vergleich jüngerer Erhebungen mit jenen des „Sprachatlas des Deutschen Reiches“ vom Ende des 19. Jahrhunderts zeigt, dass die Dialekte zwei parallelen Entwicklungstendenzen ausgesetzt sind, einerseits einem quantitativen Abbau durch den rapiden Rückgang ihres Gebrauchs, andererseits einer qualitativen Verschiebung durch den Wandel lokaler Basisdialekte zu Regiolekten, in denen wesentliche strukturelle Merkmale der Dialekte abgebaut sind (vgl. LENZ 2008; HERRGEN / SCHMIDT 2011). Durch diesen Fokus auf Abbau und Verschiebung rückte jedoch die Frage des Wortschatzausbaus im Dialekt in den Hintergrund. Dieser korreliert selbstverständlich mit der Entwicklung der Dialekte zu Regiolekten, die ihrerseits aus einer anhaltenden Akkommodation an aktuelle Bedürfnisse bei der Kommunikation resultiert (vgl. schon MUNSKE 1983). Für die Untersuchung dialektalen Wortschatzausbaus ist eine diachrone Perspektive unverzichtbar, die sowohl den vor allem älteren Ausbau der Basisdialekte als auch jüngere standardsprachliche Einflüsse inkludiert. Die Frage nach dialektalem bzw. regiolektalem Wortschatzausbau unter Einbezug des Aspekts der Akkommodation ist bislang nur unzureichend thematisiert und untersucht worden. Sie steht nun im Mittelpunkt eines seit dem 1. Oktober 2018 für zwei Jahre von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Projekts „Produktivität und Kreativität in der Lexik des Ostfränkischen“.1 Die genannten drei Verfahren des Wortschatzausbaus spiegeln das Innovationspotenzial der Sprecher im Sprachgebrauch wider (vgl. Abb. 1). Im Sinne von BAUER (2001: 64) ist ‚Innovation‘ der Überbegriff für die beiden Verfahren der ‚Produktivität‘ und ‚Kreativität‘. Es ist usuell, Produktivität auf die Anwendung der Regeln der indigenen und exogenen Wortbildung bei der Bildung komplexer Wörter zu beziehen. Dagegen wird der weniger spezifisch gebrauchte Begriff ‚Kreativität‘ von BAUER (2001: 64) als Form der nicht-produktiven Innovation definiert. Wir subsumieren unter ‚Kreativität‘ die beiden Verfahren der Bedeutungsbildung sowie der Entlehnung, die sich in die Bereiche Wort- bzw. Bedeutungsentlehnung differenzieren lässt. 1

Das Projekt war an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg situiert und wurde von Christine Ganslmayer, Peter O. Müller und Horst Haider Munske geleitet. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter war Uli Ring tätig. Ihm danken wir herzlich für seine Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrags. Für eine anregende Diskussion des Beitrags sind wir Horst Haider Munske zu Dank verpflichtet. Projektskizze: ; Stand: 19.05.2020.

Wortschatzausbau im Ostfränkischen

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Abb. 1: Wortschatzausbau und Innovation

Inwieweit die beschriebenen Verfahren auch für Dialekte relevant sind, wurde bislang noch nicht systematisch untersucht. Hier schließt das Erlanger Projekt an, in dem erstmals am Beispiel des ostfränkischen Dialekts eine systematische Untersuchung der wortschatzerweiternden Verfahren vorgenommen wird. Das Projekt ist als Pilotstudie konzipiert, deren Ergebnisse längerfristig mit weiteren Dialekten korreliert werden können. Folgende Fragestellungen sind zentral: – – –

Welches sind die produktiven Muster der Dialektwortbildung und wie unterscheiden sie sich von denen der Standardsprache? Welche Rolle spielen Entlehnungen sowohl aus Fremdsprachen als auch aus dem Standard? Wie kreativ sind Dialektsprecher in puncto Bedeutungsbildung?

Das Erlanger Projekt untersucht, in welcher Weise und in welchem Umfang der Wortschatz eines Dialekts innovativ erweitert wurde. Damit werden zugleich die Akkommodationsprozesse zwischen Dialekt und Standardsprache fokussiert. Im vorliegenden Beitrag werden Aspekte des methodischen Vorgehens im Projekt vorgestellt und erste Teilergebnisse mit einem Schwerpunkt auf der Wortbildung anhand ausgewählter Beispiele präsentiert. 2 FORSCHUNGSSTAND Areale Wortbildung stand bislang nicht im Zentrum der Forschung. So stellt WEN(2018: 14) treffend fest, dass „sowohl von Seiten der Dialektologie als auch der allgemeinen Sprachwissenschaft eine systematische Bestandsaufnahme mundartlicher Gegebenheiten bisher weitgehend unterblieben ist“. Dies mag damit zusammenhängen, dass zu den bevorzugten Interessensgebieten der Dialektologie

NER

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Christine Ganslmayer / Peter O. Müller

traditionell Phonologie und Lexikologie zählen. Zuletzt profilierte sich als weiterer Forschungsschwerpunkt die Dialektsyntax, während die Wortbildungsmorphologie noch immer vernachlässigt wird (GANSLMAYER / MÜLLER 2019: 409). Bezeichnend ist, dass sich im HSK-Band „Dialektologie“ nur ein einzelner Beitrag mit Wortbildung beschäftigt, genauer mit den Diminutivsuffixen (SEEBOLD 1983). Im Nachfolgeband „Sprache und Raum: Deutsch“ ist der arealen Wortbildung überhaupt kein eigener Beitrag gewidmet. Im Überblicksartikel zur dialektalen Morphologie ist die Wortbildung lediglich auf gut einer Seite erwähnt, und zwar mit dem Hinweis, dass die Wortbildung in Sprachatlanten völlig fehle (RABANUS 2019: 627). Die Wortbildung ist in Sprachatlanten allerdings schon berücksichtigt, aber nur am Rande und in unterschiedlichem Umfang.2 Neben Beiträgen zu Einzelphänomenen liegen wenige Monographien zur arealen Wortbildung vor, die sich systembezogen mit dem Gegenstand befassen (MEYER 1960; HALDENWANG 1999; KNIPF-KOMLÓSI 2003; MOTTAUSCH 2014; WENNER 2018). Hervorzuheben ist besonders die Arbeit von WENNER (2018), die auch einen Forschungsbericht zur arealen Wortbildung bietet und sich methodisch an der aktuellen, auf Wortbildungssysteme ausgerichteten und mit Frequenzwertangaben arbeitenden Wortbildungsforschung orientiert (vgl. MÜLLER 2022). Eine umfassende, systematische Untersuchung der dialektalen Wortbildung, wie sie für die deutsche Standardsprache geleistet ist (vgl. im Überblick FLEISCHER / BARZ 2012), unter Berücksichtigung der aktuellen theoretischen Forschung (vgl. MÜLLER et al. 2015/2016) steht aber für alle Teile des deutschen Dialektgebiets noch aus. Sowohl in der synchronen als auch diachronen Wortbildungsforschung haben sich seit rund 50 Jahren bestimmte Parameter etabliert, die sich für die Erforschung von Wortbildungssystemen als zielführend erwiesen haben.3 Eine solche Analyse ist textkorpusbezogen und wertet Wortbildungen im Kontext aus, um anhand von Frequenzwerten den Anteil von Wortbildungsmustern am Wortbildungssystem bestimmen zu können. Die Auswertung erfolgt sowohl morphologisch als auch semantisch. Die morphologische Analyse integriert Aussagen zur Affixallomorphie sowie zur Struktur und Wortart der Wortbildungsbasis. Die semantische Analyse fokussiert die synchron gegebene Motiviertheit von Wortbildungen ausgehend von der Wortbildungsbasis und erschließt semantische Funktionen eines Wortbildungsmusters. Neben der semasiologischen, von einzelnen Wortbildungstypen ausgehenden Analyse erfolgt die Untersuchung auch unter onomasiologischem Aspekt, d. h. ausgehend von den semantischen Funktionen wird der quantitative Anteil einzelner Muster an den semantischen Gruppen ermittelt. Da die Analyse textbezogen ist, sind auch Angaben zu diasystematischen Eigenheiten (Autorspezifik, Textsortenbindung) möglich. Solche systembezogenen Untersuchungen erlauben auch Rückschlüsse auf die Frage, welche Bildungsmuster produktiv bzw. unproduktiv sind. 2 3

Zum „Bayerischen Sprachatlas“ und der dort berücksichtigten Wortbildung vgl. MUNSKE (2015: 9) und GANSLMAYER / MÜLLER (2019: 407–410). Wesentliche Impulse für die Erforschung der Wortbildung unter historisch-synchronem Aspekt gingen von zwei Erlanger Forschungsprojekten zur Wortbildung im Nürnberger Frühneuhochdeutsch (MÜLLER 1993a; HABERMANN 1994; THOMAS 2002) und in der mittelhochdeutschen Urkundensprache (RING 2008; GANSLMAYER 2012) aus.

Wortschatzausbau im Ostfränkischen

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Durch den diachronen Vergleich werden Aussagen zum Wandel von Wortbildungssystemen möglich (vgl. MÜLLER 1993b; 2016). Entlehnungsprozesse als sprachliche Transferenzphänomene sind – angeregt vor allem durch HAUGEN (1950) und WEINREICH (1953) – insgesamt auch übereinzelsprachlich gut dokumentiert. Jedoch fehlen Untersuchungen zur lexikalischen Entlehnung aus dem Standard in diatopische Varietäten, obwohl durch solche die Akkommodation von Dialekten und die Ausbildung von Regiolekten stark befördert wird. Mit dem Bereich der lexikalischen Bedeutungsbildung zählt ein Thema zum Untersuchungsbereich des Projekts, das in die Variationslinguistik noch nicht systematisch einbezogen worden ist. Gleichwohl existiert eine nahezu unüberschaubare Zahl an Publikationen, die sich den Themen ‚Metapher‘ und ‚Metonymie‘ widmen und eine Synthese theoretischer Forschungsansätze und empirisch fundierter Wortschatzstudien bieten. Anregende Ansätze bieten z. B. LAKOFF / JOHNSON (1980); BARCELONA (2003); GIBBS (2005); TYLER / TAKAHASHI (2011); SKIRL / SCHWARZ-FRIESEL (2013); LEFÈVRE (2014); SPIESS / KÖPCKE (2015). 3 DATENBASIS UND METHODIK Als primäre Datenbasis dient das online verfügbare Material des „Fränkischen Wörterbuchs“. Das „Fränkische Wörterbuch“ (WBF, vormals „Ostfränkisches Wörterbuch“) ist ein Projekt der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.4 Es gehört zu den Großprojekten der traditionellen Dialektologie: Mit dem Ziel, die in den fränkischen Regierungsbezirken Ober-, Unter- und Mittelfranken gesprochenen Dialekte in Form eines großlandschaftlichen Wörterbuchs zu dokumentieren, wurde es 1913 gegründet. Die Daten des WBF wurden in mehreren Serien erhoben. Zwischen 1913 und 2001 wurden verschiedene Fragebogenserien vor allem an Volksschullehrer versandt. Ein Teil des Archivmaterials besteht daher aus ca. 600.000 hand- bzw. maschinenschriftlich ausgefüllten Fragebögen. Diese indirekte Fragebogenerhebung wurde 2001 abgeschlossen. Das ursprüngliche Ziel einer mehrbändigen Buchpublikation wurde 2003 zugunsten einer digitalen Online-Datenbank aufgegeben. In den Jahren 2012 und 2013 erfolgte die Digitalisierung des größten Teils des Archivmaterials, danach setzte der Aufbau einer Datenbank ein, die seit 2017 online zugänglich ist und sukzessive ergänzt wird. Erfasst sind bislang lediglich Teile der sog. „Nachkriegsbögen“. Diese umfassen insgesamt 123 Fragebögen aus dem Zeitraum 1960 bis 2001 mit jeweils ca. 40 bis 60 Fragen, die an Gewährspersonen (meist Volksschullehrer an ländlichen Schulen) verschickt und von diesen eigenhändig ausgefüllt wurden. Der Rücklauf dieser indirekten Fragebogenerhebungen beträgt insgesamt ca. 48.000 Bögen. Der Erfassungsstand für die „Nachkriegsbögen“ im WBF zum Projektstart im Oktober 2018 kann Tab. 1 entnommen werden. 4

Allgemeine Informationen zum „Fränkischen Wörterbuch“ (WBF) sind über die Homepage des Projekts zugänglich: URL: ; Stand: 08.06.2020.

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Christine Ganslmayer / Peter O. Müller

Bogennummer 1–9 22 35, 36, 38 56, 58 74 113–116

Bogenzahl 9 1 3 2 1 4 20 Bögen (von 123 Bögen)

Versandjahr 1960–1963 1966 1969/1970 1975/1976 1982 1999–2001

Bogenrücklauf (Exemplare) 7.792 297 1.150 747 296 809 11.091 Exemplare (von 48.000 Rückläufern mit unbekannter zeitlicher Verteilung)

Tab.1: Erfasste Nachkriegsbögen in der WBF-Datenbank (Stand: 10/2018)5

Dieser skizzierte Ausschnitt aus dem WBF-Material bildet unsere primäre Datenbasis. Wie Tab. 1 zeigt, decken die erfassten Nachkriegsbögen zwar einen Zeitraum von 1960 bis 2001 ab, sind aber zeitlich sehr ungleich verteilt, mit einem Schwerpunkt auf den 1960er-Jahren. Das Erhebungsgebiet des WBF ist mit dieser Datenlage vollständig abgedeckt, wobei neben dem Ostfränkischen auch Belege für die angrenzenden Dialekte Hessisch, Thüringisch, Nordbairisch und Schwäbisch integriert sind. Dies kommt durch die Ausrichtung des WBF auf die fränkischen Regierungsbezirke zustande. Neben reinen Dialektwörtern enthält das WBF eine Reihe an regiolektalen bzw. standardsprachlichen Lexemen, was der in den 1960erJahren gegebenen inneren Mehrsprachigkeit der Informantinnen und Informanten geschuldet ist.6 Der große Vorteil des WBF als Datenbasis besteht darin, dass das Material sukzessive in elektronischer Form mittels einer Online-Datenbank zur Verfügung gestellt wird. Dies ermöglicht einen systematischen Zugriff auf Lexeme mittels Abfrage sowie Datenexport. Die Belegrecherche im WBF mit der Möglichkeit, eine Datenbasis für unser Projekt aufzubauen, ist in verschiedenen Formen möglich: Einerseits typebezogen über eine Gesamtliste der Grundformen, andererseits tokenbezogen über die Suche nach spezifischen Grundformen. Während der listenbezogene Zugang zum Aufbau von Lemmalisten genutzt werden kann und einen semasiologischen Zugang zur Wortbildungsanalyse bietet, ermöglicht die Suche nach einzelnen Grundformen die Erstellung von Wortformenlisten (Tokens). Dadurch, dass Filter gesetzt werden können, ist außerdem tokenbezogen eine Begrenzung des Materials nach einzelnen Fragebögen möglich. Eine weitere Filtermöglichkeit besteht in der Abfrage der WBF-Datenbank nach den einzelnen Fragen aus dem Fragebuch der Erhebung. Dies lässt sich in unserem Projekt für eine onomasiologische Analyseperspektive nutzen. Durch die Größe der Datenbank waren bereits zum 5 6

Für die zur Verfügung gestellten Informationen danken wir Alfred Klepsch (ehem. wiss. Redakteur am WBF) herzlich. Diese Eigenschaft moderner Dialektwörterbücher wird u. E. zumeist viel zu wenig beachtet und problematisiert.

Wortschatzausbau im Ostfränkischen

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Zeitpunkt des Projektbeginns sämtliche Wortbildungsarten signifikant belegt. Die miterfassten Kommentare von Gewährspersonen können gelegentlich die semantische Analyse unterstützen. Allerdings sind mit dem WBF als Materialbasis auch verschiedene methodische Probleme verbunden, wenn man das Material für eine wortbildungssystembezogene Erforschung heranziehen möchte (vgl. Abschnitt 2): Die Analyse der Wortbildungen erfolgt auf Basis einer onomasiologisch ausgerichteten Wörtersammlung und stellt kein Korpus im eigentlichen Sinn dar. Wie bei jedem Dialektwörterbuch zeigt sich infolge der thematischen Ausrichtung (u. a. Landwirtschaft, Haushalt, Brauchtum) eine Begrenzung auf eher konservative bzw. etablierte Lexik, darunter vor allem Substantive, so dass Okkasionalismen und Neologismen im Material eher selten vorkommen. Wortbildungsphänomene hatten bei der Fragebogenerhebung keine Priorität. Daraus resultiert, dass das Wortbildungssystem quantitativ und qualitativ nur ausschnitthaft im Material abgebildet ist. Da die Belege nur durch Fragebögen erhoben wurden, fehlen bei den Antworten häufig syntaktische Kontexte, sodass differenzierte semantische Analysen in Bezug auf die Wortbildungsbedeutung nicht immer möglich sind. Infolge fehlender Metadaten zu den Informanten sind weder Apparent-time- noch Real-time-Analysen auf Basis des WBF-Materials möglich. Auch weitere diachrone Untersuchungsaspekte sind durch die Fokussierung auf die 1960er-Jahre aktuell ausgeschlossen. Da die WBF-Datenbank sukzessive aufgebaut wird, nahm die Datenmenge während der Projektlaufzeit zu, sodass Einzelauswertungen mitunter nicht auf der gleichen Datenmenge basieren. Als Fazit ist festzuhalten, dass eine Wortbildungssystemanalyse allein auf Basis der WBF-Daten nicht möglich ist. Dies ist aber ein grundsätzliches Problem auch anderer großlandschaftlicher Dialektwörterbücher, die ebenfalls nicht auf repräsentativen, ausgewogenen Textkorpora basieren, sondern auf Erhebungen mittels onomasiologischer Fragebögen. Dennoch soll der große Wert dieser Unternehmen für eine Untersuchung dialektalen Wortschatzausbaus nicht in Frage gestellt werden. Gerade mit der Möglichkeit, unterschiedliche diachrone Wortschatzschichten aufzudecken, bieten solche Datenbasen ein bislang unterschätztes Potenzial und gewährleisten eine Profilierung dialektaler Spezifik im Kontrast zur Standardsprache. Anders als bei korpusbasierten Wortbildungsstudien dürfen die Frequenzzahlen des WBF-Materials jedoch nicht als Indikatoren für mögliche aktuelle Produktivität missverstanden werden, sondern benötigen eine sensible Interpretation, wie im Folgenden an Beispielen gezeigt wird. Unter dieser Voraussetzung sind dann auch Aussagen zur Produktivität möglich, auch wenn es sich bei dem im WBF erfassten Wortschatz im Großen und Ganzen um etablierten Alltagswortschatz handelt, der auch zahlreiche standardsprachliche Lexeme beinhaltet. Die Nachteile des WBF können darüber hinaus relativiert werden. Dies erfolgt einerseits durch den Aufbau eines kleinen Vergleichskorpus „Fränkische Dialektliteratur“,7 das eine Ausweitung der Gebrauchsdomänen des Dialekts gewährleisten 7

Um eine Vergleichbarkeit mit dem ausgewerteten WBF-Material zu gewährleisten, das vor allem aus den 1960er-Jahren stammt, wurden synchrone Texte des Nürnberger Dialektautors Fitzgerald Kusz ausgewählt (Faksimile der Komödie Schweig, Bub!, Lyrik). Ergänzt wurde die

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Christine Ganslmayer / Peter O. Müller

soll. Andererseits werden punktuelle indirekte Nacherhebungen mit einer kleinen Gruppe kompetenter Dialektsprecherinnen und -sprecher der Jahrgänge 1935 bis 1944 durchgeführt, die sowohl für die Frage der Produktivität von Wortbildungsmustern als auch die Erfassung aktueller standardsprachlicher Einflüsse aufschlussreich sein können. Um das ostfränkische Profil der WBF-Daten in Bezug auf die Bereiche Wortbildung, Bedeutungsbildung und Entlehnung herausarbeiten zu können, werden weitreichende Anschlussrecherchen durchgeführt: Sämtliche Lexeme bzw. Sememe werden auf ihr Vorkommen in der Standardsprache und weiteren Dialekten sowie in historischen Sprachstufen des Deutschen überprüft. Dies erfolgt im Projekt auf Basis von Wörterbüchern und Internetquellen. Der Abgleich mit der Standardsprache erfolgt hauptsächlich durch Recherche in den Wörterbüchern und Korpora des „Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache“ (DWDS) sowie in „DudenOnline“ bzw. „Google“ (allgemeine Recherche inklusive „Google-Books“). Um die historische Dimension des ostfränkischen Wortschatzes einschätzen zu können, wurden folgende historische Wörterbücher benutzt: „Deutsches Wörterbuch“ (GRIMM), „Deutsches Rechtswörterbuch“, „Mittelhochdeutsches Handwörterbuch“ (LEXER), „Frühneuhochdeutsches Wörterbuch“, „Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart“ (ADELUNG). Für einen Abgleich mit anderen Dialekten wurden folgende Wörterbücher systematisch einbezogen: „Schweizerisches Idiotikon“, „Rheinisches Wörterbuch“, „Pfälzisches Wörterbuch“, „Südhessisches Wörterbuch“, „Wörterbuch der elsässischen Mundarten“, „Wörterbuch der deutsch-lothringischen Mundarten“, „Luxemburger Wörterbuch“, „Wörterbuch der deutschen Winzersprache“. Die bislang genannten Wörterbücher sind alle über das Trierer Wörterbuchnetz zugänglich. Darüber hinaus wurden folgende weitere Dialektwörterbücher herangezogen: „Bayerisches Wörterbuch“ (SCHMELLER), „Schwäbisches Wörterbuch“ (FISCHER), „Thüringisches Wörterbuch“ sowie diverse ostfränkische Kleinwörterbücher. 4 BEISPIELE UND ERSTE ERGEBNISSE 4.1 Vielfalt dialektaler Wortbildung Der onomasiologische Zugriff auf das Material des WBF erlaubt einen schnellen Überblick über Wortfamilien und konkurrierende Benennungsformen. Beispielsweise enthält Nachkriegsbogen 9 als Frage 12: „Wie heißt eine flüssige Arznei zum Einreiben?“ Die Auswertung der 385 Antworten ergibt, dass 356-mal der Verbstamm einreib- involviert ist, und zwar entweder im Rahmen einer Wortbildung oder als phrasembezogene syntaktische Konversion Einreiben (vgl. Abb. 2, Belege Textauswahl durch einen weiteren Nürnberger Dialektautor, Paul Rieß (genannt „Pausala“), dessen Texte (Lyrik, Kurzgeschichten in Prosa) als Zeitungsbeilage in den Zwischenkriegsjahren erschienen sind. Damit ermöglicht die längerfristig angestrebte Auswertung auch eine kleine diachrone Komponente.

Wortschatzausbau im Ostfränkischen

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jeweils in normalisierter Form). Insgesamt zeigt sich dabei eine große Vielfalt dialektspezifischer Ausdrucksformen und Lexeme aus dem Bereich der Wortfamilie um einreib-, die sich deutlich von der Standardsprache (nur Einreib(e)mittel, Einreibung) unterscheidet. In Konkurrenz stehen die drei frequentesten Wortbildungsarten, wobei sich ein Übergewicht der Derivation (175 Belege) vor der Komposition (90 Belege) und morphologischen Konversion (1 Beleg) ergibt. Sehr häufig sind außerdem syntaktische Konversionen (82 Belege) an der Schnittstelle von Wortbildung und Syntax belegt. Besonders groß ist die dialektspezifische Variation im Bereich der Derivation, wo die standardsprachliche Form Einreibung lediglich zweimal dokumentiert ist. Die Vielfalt der belegten Suffixvarianten ist enorm, wobei sich auch areale Schwerpunktbildungen ergeben: So ist die häufigste Variante -i ausschließlich südlich des Mains mit einem Schwerpunkt im Kerngebiet von Mittelfranken belegt (z. B. Eireibi, Neustadt a. d. Aisch). Dagegen ist die zweithäufigste Form -ich für den nördlichen Bayreuther Raum charakteristisch (z. B. airaibich, Bad Steben). Auf den südlichen Teil des Untersuchungsgebiets (nordbairischer Interferenzraum) sind Belege mit -e(r)ts beschränkt (z. B. Eireibertz, Spalt), dagegen solche mit -sel auf den westlichen Teil des Untersuchungsgebiets (Aschaffenburger Raum; hessischer Interferenzraum) (z. B. Ennreibsel, Wasserlos). Auffällig ist auch, dass Derivate tendenziell im oberostfränkischen Raum in den Antworten erscheinen, dagegen Komposita einen Schwerpunkt im Unterostfränkischen haben.

Abb. 2: Lexikalische Varianz zum Verbstamm einreib-

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4.2 Verteilung von Wortbildungsmustern im Dialekt-Standard-Kontrast Die bereits im Zusammenhang mit der Wortfamilie zu einreib- erkennbare Diskrepanz zwischen Dialekt und Standardsprache bei der Nutzung von Wortbildungsmustern wird noch deutlicher, wenn man einen typebasierten Vergleich der zehn jeweils frequentesten Substantivsuffixe unternimmt (vgl. Abb. 3). Die im Standard8 höchstfrequenten abstraktbildenden Suffixe -ung und -heit sind im WBF-Material nur marginal vertreten (-ung, Rang 10). Suffixe der Fremdwortbildung (-ation, -ismus, -ität) spielen überhaupt keine Rolle. Dagegen zeigt sich anhand der Dialektdaten durch die führende Position der Diminutivsuffixe die nähesprachliche Dimension der Wortbildung. Unter den Top 10 sind drei Diminutivsuffixe vertreten: im ostfränkischen Kernbereich obd. -lein (Rang 1), gegenwartssprachlich unproduktives -el1 (Rang 3)9 und in den nördlichen Randzonen des Untersuchungsgebiets md. -chen (Rang 4).

Abb. 3: Die zehn häufigsten Substantivsuffixe (Standardsprache vs. Ostfränkisch)10

Mit -es (Rang 7) ist zudem ein Suffix hochfrequent, das in der Standardsprache fehlt. Mit -ich(t) und -ling sind im Dialekt zwei Suffixe unter den Top 10 vertreten, die standardsprachlich nur randständig sind. Die für das Ostfränkische intern stärker differierende Balkenlänge deutet zudem an, dass die Derivation im Dialekt mit -lein und -er zwei absolute Schwerpunkte aufweist, während den anderen Suffixen generell nur marginale Bedeutung zukommt. Für die Standardsprache zeigt sich dagegen ein weniger extremer Befund. Die Ergebnisse zum Ostfränkischen spiegeln natürlich auch die onomasiologische Fragemethode wider, bei der das Schwergewicht auf Personen- und Gerätebezeichnungen liegt, was beim standardsprachlichen Vergleich zu berücksichtigen ist. Dies erklärt beispielsweise den 8

Die Werte für die Standardsprache sind aus WELLMANN (1975) errechnet, dessen Korpus deutlich größer ist als das ausgewertete Material des WBF. 9 Hier sind desubstantivische -el-Bildungen mit diminuierender bzw. pleonastischer Bedeutung subsumiert. Deverbale Bildungen mit -el (vor allem Nomina Agentis und Nomina Instrumenti) sind als -el2 separat erfasst (vgl. auch WELLMANN 1975: 104). Die Scheidung ist mitunter bereits historisch unklar (vgl. WILMANNS 1899: 260–275). 10 Für diese Ergebnisse und die Übersicht danken wir Dr. Uli Ring herzlich.

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höheren Wert für -er, das in der Wortbildung vorwiegend für die Bildung deverbaler Nomina Agentis funktionalisiert ist. Im Folgenden greifen wir aus dieser Übersicht zwei Suffixe heraus, die sowohl für den Standard als auch für das Ostfränkische dokumentiert sind. Wie Abb. 4 zeigt, ist dabei die Standardnähe bei -ung deutlich ausgeprägter als bei -ling.

Abb. 4: Varietätenspezifik -ung vs. -ling

Die Ergebnisse zur Varietätenspezifik der beiden Suffixe basieren auf einem Abgleich der im WBF-Material belegten Wortbildungen mit den in Abschnitt 3 genannten Wörterbuch- und Internetquellen. Dabei zeigt sich, dass die Anzahl der ausschließlich im Ostfränkischen nachweisbaren Bildungen bei -ling prozentual deutlich höher liegt als bei -ung. Dieser Befund verstärkt sich noch, wenn man die Perspektive auf allgemein dialektal nachweisbare Bildungen erweitert. Betrachtet man den Anteil bereits historisch belegter Bildungen bei beiden Suffixen, so ist dieser jeweils auffällig hoch, bei -ung (80 %) allerdings noch ausgeprägter als bei -ling (65 %). Daran wird offensichtlich, dass im Dialekt jeweils sehr viele alte Bildungen nachweisbar sind. Korreliert man diesen Befund nun mit der größeren Standardnähe von -ung, so deutet sich an, dass bei -ung einerseits die historische Kontinuität vergleichsweise hoch ist und sich andererseits keine deutliche Wortbildungsproduktivität für -ung im Material des WBF abzeichnet. Dagegen ist bei -ling aus historischer Perspektive eine größere Diskontinuität gegeben. Dies indiziert, dass im WBF-Material vergleichsweise viele ältere -ling-Bildungen fossiliert sind, was auf eine erhöhte Produktivität des Suffixes im rezenten Dialekt rückschließen lässt, jedoch wie bei -ung keine aktuelle Produktivität widerspiegelt. Diese Varietätenspezifik wird bei der folgenden detaillierten Auswertung von -ung (vgl. 4.2.1) und -ling (vgl. 4.2.2) noch deutlicher.

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4.2.1 Das Suffix -ung im Ostfränkischen In der WBF-Datenbank sind bislang insgesamt 84 -ung-Types (650 Tokens) erfasst. Wie bereits erwähnt, ist der Anteil der nur ostfränkisch dokumentierten Bildungen mit lediglich 10 Lexemen sehr gering, während 65 der dokumentierten Wörter auch in der Standardsprache belegt sind. Allerdings befindet sich darunter auch eine Reihe von Wörtern, die im Ostfränkischen eine vom Standard abweichende Bedeutung aufweisen (Bekleidung ‘Vorrichtung zum Aufhängen von Kleidern’, Einreibung ‘flüssiges Mittel zum Einreiben’). Im Standard zählt das Suffix -ung zu den produktivsten Wortbildungsmorphemen, wobei überwiegend deverbale Bildungen vorliegen und deadjektivische bzw. desubstantivische Derivate nur Ausnahmen darstellen (vgl. WELLMANN 1975: 94–95; FLEISCHER / BARZ 2012: 225–230). In semantischer Hinsicht dominieren Abstrakta (Nomina Actionis und Nomina Acti). Durch den hohen Anteil standardsprachlicher Wörter (z. B. Abfindung, Beerdigung, Entbindung) ergeben sich hinsichtlich Basiswortart und Wortbildungssemantik für das Ostfränkische einerseits gewisse Parallelen. Andererseits zeigen sich auch dialektspezifische Eigenheiten. So ist im Material des WBF als allomorphische Variante -ing belegt (Schwärzing ‘dunkle Wolken, Gewitterwolken’, Trauing ‘Trauung’), das vor allem im Westostfränkischen häufiger auftritt (vgl. SMF 7: 137, 166–169). Hierbei handelt es sich um eine im Dialekt erhaltene historische Variante -ingō zu -ungō, die in allen germanischen Sprachen auftritt (vgl. MUNSKE 1964). Was die Basiswortart betrifft (vgl. Tab. 2), zeigt sich zwar auch im Ostfränkischen eine Dominanz an Basisverben, die allerdings mit nur ca. 75 % deutlich schwächer ausgeprägt ist als standardsprachlich (98 %). So sind im Ostfränkischen auch Basisadjektive11 belegt, und der Anteil der Basissubstantive liegt deutlich höher. Standard (DW 2) n = 2515

Basiswortart

Ostfränkisch (WBF) n = 84

Adjektiv





8

10 %

Substantiv

40

2%

12

14 %

Verb

2.475

98 %

64

76 %

Beispiel Blößing ‘Kahlschlag’ zu bloß ‘nackt, leer’ Föhring ‘Föhre’ zu Föhre Sämerung ‘Heimweh’ zu sämern ‘Heimweh haben’

Tab. 2: Basiswortarten von -ung-Derivaten im Standard und im Ostfränkischen

Dieser Befund hat auch Auswirkungen auf die Wortbildungssemantik (vgl. Tab. 3): So dominiert der Anteil an deverbalen Abstrakta im Ostfränkischen zwar ebenfalls, ist aber nur halb so hoch wie in der Standardsprache.12 Dagegen ist der Anteil an Nomina Instrumenti sowie an Nomina Loci im Material des WBF deutlich höher. 11 Diese fehlen zwar im Korpus von WELLMANN (1975, vgl. Tab. 2), sind aber standardsprachlich in geringer Menge nachweisbar (vgl. FLEISCHER / BARZ 2012: 229). 12 Unterschiede zwischen Standard und Ostfränkisch hinsichtlich Auslastung und Frequenzrang der einzelnen Bedeutungsgruppen lassen sich in Tab. 3 zusammenfassend anhand der rechten Spalte „Ranking“ ablesen.

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Wortschatzausbau im Ostfränkischen

Bedingt durch den hohen Anteil denominaler Bildungen (rund 24 %) sind nun auch desubstantivische Bildungen mit unspezifischer Modifikation sowie deadjektivische Bildungen zur Bezeichnung einer spezifischen Eigenschaft deutlich frequenter. Die nur im Material des WBF nachgewiesenen -ung-Derivate finden sich fast ausschließlich bei den desubstantivischen Bildungen (6 von 10). In semantischer Hinsicht erweisen sich gerade diese Bildungen als eigenständig, denn es handelt sich ausnahmslos um unspezifisch modifizierte, pleonastische Bildungen, deren Bedeutung sich nicht signifikant von der Bedeutung des Basissubstantivs unterscheidet. Dazu zählen z. B. Bochtung/Buchting ‘abzuschöpfender Schaum zerlassener Butter’ zu Buchti (dass.) oder Föhring ‘Kiefer’ zu Föhre. Wortbildungssemantik Abstrakta (Nomina Actionis/Acti) Nomina Patientis Nomina Instrumenti Nomina Agentis Nomina Loci Kollektiva unspezifische Modifikation spezifische Eigenschaft (qualitativ)

Basis13

Beispiel

Standard Ostfränkisch Ranking Standard (DW 2) (WBF) → Ostfränkisch

BV BV BV BV BS

Vermarkung ‘Grenzvermessung’ Ladung Verstrebung Bedienung Lichtung Kleidung

BS

Föhring

0,4 %

13,1 %

7→3

BAdj

Blößing ‘Kahlschlag’



9,5 %

/→5

BV

88,0 %

41,7 %

1→1

4,1 % 3,6 % 2,3 % 0,4 % 1,2 %

2,4 % 19,0 % 1,2 % 10,7 % 1,2 %

2→6 3→2 6→7 7→4 5→7

Tab. 3: Wortbildungssemantik von -ung-Derivaten im Standard und im Ostfränkischen

Dieser semantische Befund für das Ostfränkische ist zum Teil durch die Art der Datenerhebung für das WBF-Material geprägt. Denn die onomasiologische Frageweise ist nicht so sehr auf Abstrakta, sondern auf Konkreta ausgerichtet. Dies erklärt, warum bei den deverbalen Bildungen der Anteil an Nomina Instrumenti und Nomina Loci deutlich höher ist. Beispielsweise wurde mit Fragebogen 3, Frage 15 erhoben, wie das „Wehr“ bezeichnet wird, „mit dem das Wasser in Bächen gestaut wird“. Unter den Antworten finden sich allein fünf -ung-Derivate, die entsprechend Nomina Instrumenti darstellen: Anstauung, Dämmung, Stauung, Stemmung, Stoppung. Diese Bildungen machen rund ein Drittel dieser semantischen Gruppe im Material des WBF aus. Mit der Materialerhebung lässt sich auch erklären, dass im WBF viele ältere -ung-Bildungen erhalten sind. Dies betrifft besonders die dialektspezifischen denominalen Bildungen. Diese Typen sind auch standardsprachlich belegt, sind dort jedoch unproduktive Wortbildungsmodelle (vgl. FLEISCHER / BARZ 2012: 229).

13 Zu den Abkürzungen der Basiswortarten im Anschluss an WELLMANN (1975) hier und im Folgenden: BV = Basisverb, BS = Basissubstantiv, BAdj = Basisadjektiv, BNum = Basisnumerale.

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Betrachtet man die Produktivität von -ung, dann erweist sich dieses Muster in der Standardsprache ausschließlich für die Bildung deverbaler Abstrakta als produktiv. Die weiteren semantischen Gruppen stellen das Ergebnis einer sekundären Bedeutungsbildung dar, bei der ursprüngliche Abstrakta eine Polysemierung erfahren und auch als Konkreta verwendet werden (vgl. MÜLLER 2016). Im Ostfränkischen des 20. Jahrhunderts, wie es im untersuchten Material des WBF aufscheint, ist dagegen für -ung keine Produktivität erkennbar. Denn entweder handelt es sich bei den deverbalen Abstrakta um Bildungen, die einen älteren Sprachstand widerspiegeln (z. B. Sämerung ‘Heimweh’), oder aber ganz überwiegend um Lexeme, die auch im Standard belegt sind (z. B. Anstrengung, Einbildung, Unterhaltung). In dieser Pilotstudie muss dabei offenbleiben, ob es sich in solchen Fällen um Standard-Dialekt-Entlehnungen handelt. 4.2.2 Das Suffix -ling im Ostfränkischen Im Material des WBF sind (ohne Berücksichtigung von Komposita mit -ling-Derivat als Grundwort) 107 -ling-Bildungen belegt. Mit 13 Lexemen ist darunter der Anteil an synchron isolierten Bildungen vergleichsweise hoch. Diese sind mehrheitlich standardsprachlich nicht dokumentiert. Bildungen wie Frießling ‘Schnittlauch’ (< lat. britulla) oder Zenterling ‘ein Stück Räucherfleisch’ (ahd. zantaro ‘glühende Kohle’) zeigen, dass im Dialekt auch hier ältere Bildungen fossiliert sind. Für eine synchrone Wortbildungsanalyse ist aber nicht die etymologische Motivation, sondern eine gegenwartsbezogene Motivierbarkeit über synchron belegte Motivationsbasen maßgeblich. Dies bedeutet, dass aus dem Material des WBF für die folgende Wortbildungsanalyse nur 94 -ling-Bildungen (2.102 Tokens) berücksichtigt werden. Dabei ergeben sich sehr markante Unterschiede zur Standardsprache, die sich in folgenden Punkten zeigen: Wortbildungsbasis, Wortbildungssemantik und Bezeichnungsklassen der Wortbildungen. Betrachtet man die Basiswortarten (vgl. Tab. 4), so zeigt sich, dass das Muster seinem historischen Ursprung als sog. Zugehörigkeitssuffix entsprechend sowohl standardsprachlich als auch ostfränkisch deutlich denominal ausgerichtet ist. Die denominale Motivation ist im Ostfränkischen dabei noch etwas dominanter als in der Standardsprache (vgl. WELLMANN 1975: 86–87). Ein markanter Gegensatz zeigt sich allerdings darin, dass in der Standardsprache als Basiswortart in erster Linie Adjektive begegnen, während das Ostfränkische eine sehr deutliche desubstantivische Prägung aufweist. Auch die in der historischen Suffixentwicklung jüngeren deverbalen Bildungen sind im Standard mit 28 % weit häufiger vertreten als im Ostfränkischen (17 %). Beide Aspekte weisen indirekt darauf hin, dass die Produktivität von -ling in der Standardsprache ausgeprägter ist als im Ostfränkischen. Engt man die Perspektive auf die -ling-Bildungen ein, die nach Wörterbuchabgleich nur ostfränkisch nachweisbar sind (22 Bildungen = 23 % der untersuchten -lingBildungen, vgl. Tab. 4), so profiliert sich der Befund zur Basisaffinität deutlich. Denn von diesen 22 Bildungen sind 18 desubstantivisch (82 %), während deverbale Bildungen vollständig fehlen.

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Wortschatzausbau im Ostfränkischen

Adjektiv Substantiv

Standard (DW 2) n = 106 38 36 % 35 33 %

Ostfränkisch (WBF) n = 94 15 16 % 56 60 %

Verb

30

28 %

16

17 %

Numerale Wortgruppe (mit Subst.)

3

3%

6

6%

-

-

1

1%

Basiswortart

Beispiel Blödling zu blöd Herbstling (Pilz) zu Herbst Abstößling ‘entwöhntes Ferkel’ zu abstoßen ‘von der Muttermilch entwöhnen’ Dreiling (Maß) zu drei Rothäuptling (Pilz) zu rotes Haupt

Tab. 4: Basiswortarten von -ling-Derivaten im Standard und im Ostfränkischen

Diese Unterschiede hinsichtlich der Basiswortart haben eine Entsprechung in einer unterschiedlichen Ausprägung der Wortbildungssemantik (vgl. Tab. 5). In der Standardsprache erweist sich -ling nach dem Befund von WELLMANN (1975: 315–317) als produktives Muster, und zwar besonders im Bereich deadjektivischer Derivate zur Bezeichnung von Personen, teils mit pejorativer Konnotation, teils ohne. An zweiter Stelle rangieren desubstantivische Bildungen, bei denen eine Bezeichnung nach einem im Basissubstantiv genannten spezifischen Merkmal erfolgt (Personen- und Sachbezeichnungen). Weitere desubstantivische Modifikationen sind eher randständig (WELLMANN 1975: 125–126). Einen Anteil von knapp einem Drittel erreichen auch deverbale Bildungen (Nomina Agentis, Nomina Patientis), die laut WELLMANN (1975: 348–349, 415) schwach produktiv sind. Wortbildungssemantik spezifische Eigenschaft (qualitativ) spezifisches Merkmal Modifikation (pejorativ / diminutiv) unspezifisches Merkmal

Basis

Beispiel

Standard Ostfränkisch Ranking Standard (DW 2) (WBF) → Ostfränkisch

BAdj

Blödling

36 %

16 %

1→3

BS

Graseling

22 %

36 %

2→1

BS

Dichterling

11 %



5→/

BS

Pilzling



24 %

/→2

Nomen Agentis

BV

16 %

7%

3→5

Nomen Patientis spezifische Eigenschaft (quantitativ)

BV

Nachkömmling Abstößling

12 %

10 %

4→4

BNum

Zwilling

3%

6%

6→6

Tab. 5: Wortbildungssemantik von -ling-Derivaten im Standard und im Ostfränkischen

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Ein ganz anderer Befund zeigt sich dagegen für das Ostfränkische: Hier überwiegen eindeutig desubstantivische Bildungen, bei denen eine Bezeichnung nach einem spezifischen Merkmal erfolgt. Dabei dominieren Pflanzen-, insbesondere Pilzbezeichnungen im Vergleich zu Personen-, Sach- und Tierbezeichnungen. In semantischer Hinsicht wird das im Basissubstantiv genannte spezifische Merkmal meist in eine vergleichende Beziehung gesetzt, wie z. B. Graseling ‘Schnittlauch’ (‘Pflanze, die in Farbe und Form Gras ähnelt’), Pfifferling (‘Pilz, der im Geschmack Pfeffer ähnelt’), Rehling (‘Pilz, der in der Farbe einem Reh ähnelt’), Hundling ‘betrügerischer, durchtriebener Mensch’ (‘Person, die im Charakter einem Hund ähnelt’). Auf Pilze beschränkt ist eine Motivation über eine Teil-Ganzes-Beziehung, wie z. B. Krempling ‘Pilz, der eine (auffällige) Krempe hat’. Dagegen ist die Benennung nach einem spezifischen Tun auf Personenbezeichnungen begrenzt (z. B. Flüchtling), und allgemeine Zugehörigkeit dominiert bei Sachbezeichnungen, wie z. B. Siebenerling ‘(von einem Siebener gesetzter) Grenzstein’. Weitere Motivationen betreffen die Zeit (Herbstling ‘Pilz, der im Herbst wächst’) bzw. den Ort (Tannling ‘Pilz, der bevorzugt bei Tannen wächst’). Zu dieser Gruppe gehören auch acht der 22 nur im Ostfränkischen belegten Bildungen. Während diese semantische Gruppe auch in der Gegenwartssprache gut bezeugt ist (vgl. Tab. 5), erweist sich die hohe Zahl an desubstantivischen Bildungen mit unspezifischer Modifikation (‚pleonastisch‘) als auffälliges Charakteristikum des Ostfränkischen. Hinzu kommt, dass auch die Hälfte aller ausschließlich im Ostfränkischen dokumentierten Bildungen zu dieser semantischen Gruppe gehört. Es ist allerdings schwer, diese Klasse im Einzelnen zu konturieren. Es dominieren Sach- und Pflanzenbezeichnungen. Hier finden sich Bildungen wie Trittling ‘Türschwelle’ (zu Tritt ‘Türschwelle’), Pilzling ‘Pilz’ (zu Pilz), Ämmerling ‘Goldammer’ (zu Ammer) oder Gipfeling ‘oberster Teil des Laub- oder Nadelbaums’ (zu Gipfel ‘oberster Teil des Laubbaums’). Eventuell kann teilweise eine diminuierende, singularische oder auch partitive Bedeutung vermutet werden. Auffällig ist, dass die für die Standardsprache gut belegte Gruppe der desubstantivischen Personenbezeichnungen mit pejorativer Konnotation (Dichterling) im Material des WBF vollständig fehlt.14 Durch die Dominanz der desubstantivischen Bildungen rangieren die im Standard erstrangigen deadjektivischen Bildungen im Ostfränkischen lediglich auf Rang 3. Da WELLMANN jedoch die in Zoologie und Botanik häufig belegten -lingBildungen wie Frischling, Gelbling etc. als demotivierte Bildungen in seiner Statistik nicht berücksichtigt (vgl. WELLMANN 1975: 317), ist im Grunde die Differenz zwischen dem Ostfränkischen und der Standardsprache eigentlich noch größer. Während bei WELLMANN daher ausschließlich Personenbezeichnungen (Blödling, Feigling) dieser Klasse subsumiert sind,15 ist die Verteilung der Bezeichnungsklassen 14 Auch MOTTAUSCH (2014: 172–173) kommt für das Südhessische zu dem Ergebnis, dass nur bei -ling-Bildungen, die aus der Schriftsprache entlehnt sind, eine pejorative Konnotation vorhanden ist. 15 Der Befund von WELLMANN (1975) für die Standardsprache ist in diesem Punkt aber zu relativieren, denn die Bezeichnungsvielfalt ist auch standardsprachlich gegeben (vgl. FLEISCHER / BARZ 2012: 217–218).

Wortschatzausbau im Ostfränkischen

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im Ostfränkischen vielfältiger. Hier begegnen Personenbezeichnungen (Dummerling, Spätling ‘Nachzüglerkind’), aber ebenso Bezeichnungen für Pilze (Gelberling, Rötling), Tiere (Frischling) sowie Sachbezeichnungen (Weitling ‘Tonschüssel/Gefäß, in das gemolken wird und das oben weiter ist als am Boden’). Für den Anteil an deverbalen Bildungen ist der semantische Befund für das Ostfränkische eher unauffällig. Interessant ist aber, dass kein ausschließlich ostfränkisch belegtes -ling-Lexem deverbal ist. Die ebenso wie in der Standardsprache wenig frequenten -ling-Derivate zu einer numeralen Basis erweisen sich in semantischer Hinsicht als dialektspezifische, ältere Bildungen, die im Standard entweder nicht oder nicht in der belegten Bedeutung vorkommen (Vierling ‘Viertel, geviertelter Strang Butter’, Zweitling ‘Stalltier, das zum zweiten Mal trächtig ist’). Das Fazit zu diesem Suffix lautet: -ling ist im Ostfränkischen zwar frequenter als in der Gegenwartssprache, allerdings fehlt der in der Standardsprache besonders produktive Zweig der deadjektivischen Personenbezeichnungen. Viele der im Material des WBF dokumentierten Bildungen stellen historisches Sprachmaterial dar, vor allem im Bereich der überdurchschnittlich belegten Pilzbezeichnungen (27 %). Dies indiziert eine historische Produktivität des Suffixes. Eine Eigenständigkeit des Ostfränkischen zeigt sich bei den pleonastischen desubstantivischen Bildungen mit unspezifischer Modifikation. Neologismen i. e. S. sind bei -ling aufgrund der Spezifik des WBF-Materials (Abfrage geläufiger, traditioneller Kommunikationsbereiche) nicht dokumentiert. 4.3 Entlehnung und Fremdwortbildung Wie vor allem das Beispiel -ung gezeigt hat, spielt das Phänomen der Entlehnung aus der Standardsprache eine tragende Rolle für das Ostfränkische. Daneben begegnen aber auch eine ganze Reihe lexikalischer Entlehnungen aus anderen Sprachen, die in der Standardsprache nur zum Teil dokumentiert sind. Als Gebersprachen für das Ostfränkische fungieren dabei vor allem das Jiddische (z. B. Toches ‘Popo’ ← jidd. Tocheß) (vgl. auch KLEPSCH 2004) und das Französische (z. B. Potschamber ‘Nachttopf’). In geringerem Umfang sind auch Entlehnungen aus slawischen Sprachen (z. B. Pawlatsche ‘baufälliges Haus’), dem Italienischen (z. B. Juppe ‘Jacke’) und Englischen (z. B. Sweater ‘Frauenjacke’) belegt. Hierin spiegeln sich einerseits direkte historische Sprach- und Kulturkontakte, andererseits handelt es sich auch um durch die Standardsprache vermittelte Entlehnungen. Eine Überschneidung der Ebenen (Fremd-)Wortbildung und Entlehnung zeigt sich am Beispiel von Verben mit dem Suffix -ier-. Im Material des WBF sind 113 -ieren-Types (1.987 Tokens) erfasst. Darunter fallen einerseits Lexeme, die als Antwort bei der Fragebogenerhebung häufiger genannt wurden. Die fünf am häufigsten dokumentierten Bildungen sind: – –

emistieren/estimieren/estamieren ‘schätzen, anerkennen’ (421 Tokens) dressieren ‘jmd. etw. abbetteln; Tier abrichten; quälen’ (251 Tokens)

30 – – –

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lamentieren ‘jammern’ (161 Tokens) drainieren ‘Entwässerungsgraben ziehen’ (114 Tokens) laxieren ‘Durchfall haben’ (84 Tokens)

Andererseits gibt es auch 44 Lexeme, die im WBF-Material nur je einmal dokumentiert sind, darunter auch fünf Bildungen, die nur ostfränkisch nachweisbar sind: – – – – –

dockerieren ‘frisieren’ (Streitberg) jammerdieren ‘jammern’ (Melkendorf) kramerieren ‘in etw. kramend suchen’ (Waldsachsen) lotterieren ‘Lotto spielen’ (Eßleben) stupfelieren ‘das erste Mal nach der Ernte den Acker pflügen’ (Wollbach)

Die Type-Token-Verteilung erweist sich insgesamt also als relativ unausgeglichen: So weisen 10 Types insgesamt 1.360 Tokens auf (9 % der Types mit 68 % der Tokens), während 44 Types Hapaxe darstellen (39 % der Types mit 2 % der Tokens). Selbstverständlich kann man davon ausgehen, dass die hochfrequenten Lexeme im Dialekt usuell sind, jedoch sind die hohen Zahlenwerte zumindest teilweise Suggestivfragen geschuldet (z. B. Bogen 9, Frage 45: „Jemanden achten, hochschätzen? z. B. ästamiən, géstamiən, géstamiən“). Umgekehrt haben die im Material nur einmal dokumentierten Bildungen eher Zufallscharakter und stellen öfters Spontanantworten auf Fragen dar. Hier kann freilich eine höhere Wahrscheinlichkeit gegeben sein, dass dialektunspezifische Lexeme miterfasst sind (vgl. z. B. multiplizieren). Näheren Aufschluss hierüber gewinnt man erst durch den varietätenspezifischen Wörterbuchabgleich. Bei den ostfränkischen -ieren-Verben stellt sich insbesondere die Frage ihrer Herkunft. Prinzipiell ergeben sich drei Möglichkeiten (vgl. Abb. 5): (1) Entlehnung aus dem Französischen, (2) Entlehnung aus dem Standard, (3) dialektale Fremdwortbildung.

Abb. 5: Mögliche Herkunft ofrk. -ieren-Lexeme

Im ersten Fall (1) handelt es sich um direkte Entlehnungen in die rezente Mundart, bedingt durch historische Sprachkontakte, wie sie im ostfränkischen Sprachraum durch die hugenottischen Glaubensflüchtlinge (seit dem 17. Jh.) und französische

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Besatzungen (Dreißigjähriger Krieg, Napoleonische Zeit) bestanden.16 Entsprechende Bildungen sind nur dialektal nachweisbar und in der Standardsprache nicht belegt. Im zweiten Fall (2) können Entlehnungen aus der Standardsprache vorliegen. Dabei bilden die standardsprachlichen -ier-Bildungen eine heterogene Gruppe: Meist handelt es sich um lexikalische Entlehnungen aus einer Fremdsprache, meist dem Französischen oder Lateinischen, wobei -ier- als Integrationssuffix fungiert (z. B. logieren ← frz. loger, regieren ← lat. regere). Deutlich seltener stellen sie Fremdwortbildungen im Deutschen auf exogener Basis dar (z. B. pastorieren ‘seelsorgerisch betreuen’ ← dt. Pastor, pilotieren ← dt. Pilot). Typischerweise ist die morphologische Basis standardsprachlicher -ier-Bildungen daher fremdsprachlich geprägt. Im dritten Fall (3) handelt es sich ebenfalls um Fremdwortbildungen, die jedoch standardsprachlich weder synchron noch diachron belegt sind und somit als dialektspezifisch gelten können. Bei dieser Gruppe zeigt sich dialektale Wortbildungsaktivität i. e. S. Auf der Basis dieser Differenzierung ergibt sich für das WBF-Material, dass 88 % der -ieren-Verben (99 Types) auch in standardsprachlichen Wörterbüchern und Korpora nachweisbar sind. Rund ein Fünftel dieser Bildungen ist allerdings in den standardsprachlichen Wörterbüchern diaphasisch als ‚veraltet‘ (z. B. karessieren ‘jmd. umschmeicheln, den Hof machen’, turbieren ‘quälen’) bzw. ‚veraltend‘ (ondulieren ‘Haare mit einer Brennschere wellen’, visitieren ‘besichtigen, besuchen’) markiert, d. h. im Dialekt sind hier ältere Wortschatzschichten fossiliert. Auch weisen einige Wörter im Ostfränkischen eine Bedeutung auf, die standardsprachlich nicht belegt ist (z. B. amtieren ‘nörgeln, schimpfen’, dressieren ‘jmd. etw. abbetteln’). Der überwiegende Teil der -ieren-Verben im WBF-Material zeigt jedoch kein dialektspezifisches Profil. Lediglich 12 -ieren-Verben sind standardsprachlich nicht nachweisbar, darunter die fünf nur ostfränkisch belegten. Die morphologische Wortstruktur kann in diesem Fall indizieren, inwiefern es sich um Entlehnungen oder um im Dialekt gebildete Wörter handelt. Es zeigt sich, dass drei Bildungen (= 25 %) eine exogene Basis aufweisen, was sie als Entlehnungen auszeichnet, wie z. B. schamerieren ‘in Unordnung bringen’ ← frz. chamarrer ‘verbrämen, (kitschig) verzieren’. Bei den 9 Bildungen mit indigener Basis handelt es sich dagegen um deutsche Hybridbildungen, wie z. B. lotterieren ‘Lotto spielen’ ← dt. Lotterie oder maulieren ‘gegen jmd. aufbegehren’ ← dt. Maul. Die fünf im Ostfränkischen belegten Bildungen zählen alle zur letzten Gruppe, d. h. es handelt sich um Bildungen zu einer indigenen Basis. Der Anteil solcher Hybridbildungen liegt im Ostfränkischen deutlich höher als im Standard, auch wenn infolge der geringen Gesamtzahl auch im Ostfränkischen keine markante Produktivität erkennbar ist. Es überwiegen eindeutig Entlehnungen, weshalb auch 80 % der -ieren-Bildungen im WBF eine exogene Basis aufweisen.

16 KOSKENSALO (1984: 326) weist auch für die an Frankreich angrenzenden rheinischen Mundarten einen höheren Anteil an -ieren-Entlehnungen nach, von denen viele auf das Rheinland beschränkt geblieben sind.

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Dieser Befund wird durch eine Informantenbefragung17 bestätigt: Unter den 113 -ieren-Bildungen des WBF-Materials wurden nur ganz wenige als dialektspezifisch identifiziert. Die fünf ausschließlich ostfränkisch belegten Lexeme waren den Informanten nicht bekannt. Dies zeigt, dass es sich um Gelegenheitsbildungen bzw. Lexeme mit kleinräumiger Verbreitung handelt. Die Informanten konnten auf Grundlage ihrer eigenen Dialektkompetenz keine weiteren zusätzlichen -ieren-Bildungen nennen. Eine große Produktivität zeigt sich dagegen bei hybriden Weiterbildungen etablierter ostfränkischer -ieren-Verben mit indigenen Präfixen und Partikeln (vgl. Tab. 6). Diese Bildungen sind nur in einzelnen Fällen auch standardsprachlich dokumentiert. Präfix/Partikel abanaufausbederdurcheingeherumhinanhinaushineinverzurecht-

Types 13 8 7 7 2 3 1 5 2 7 2 1 2 5 1

Tokens 32 163 16 32 3 9 1 24 41 27 3 2 2 24 1

Beispiel abdrainieren andressieren aufdisputieren auslaxieren bekomplimentieren derlustieren durchpassieren einbalsamieren geestimieren herumflanieren hinantrappieren hinauskomplimentieren hineindividieren verspekulieren zurechtfrisieren

Tab. 6: Ostfränkische Weiterbildungen zu -ieren-Verben

4.4 Bedeutungsbildung Neben Wortbildung und Entlehnung stellt die Bedeutungsbildung einen dritten maßgeblichen Faktor für den Wortschatzausbau dar. Diese Strategie betrifft Simplizia und Wortbildungen gleichermaßen. Im Erlanger Projekt wird die Bedeutungsbildung in methodischer Hinsicht zweifach integriert: Den ersten Zugang ermöglichen die erfassten Wortbildungen, von denen einige ein im Vergleich zum Standard abweichendes Bedeutungsspektrum aufweisen. Es handelt sich dabei vorwiegend um Metaphorisierungen, wie die folgenden Beispiele einiger im WBF belegter -ling-Lexeme verdeutlichen:

17 Befragt wurden drei Informanten der Jahrgänge 1935 bis 1944 aus der Metropolregion Nürnberg. Für die Bereitschaft, an der Umfrage teilzunehmen, danken wir Lisette Ganslmayer, Walter Schwarz und Dr. Günter Vogel herzlich.

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Däumling ostfränkisch ‘Runge, die die Wagenleiter stützt; Daumenhandschuh’ vs. standardsprachlich ‘(durch ihre Winzigkeit charakterisierte) Märchengestalt’ Grünling ostfränkisch ‘Pilzart; junger Mann im heiratsfähigen Alter, der nicht viel verdient’ vs. standardsprachlich ‘Pilzart; Grünfink; luftgetrockneter, noch ungebrannter Mauerziegel’ Vierling ostfränkisch ‘Viertel, geviertelter Strang Butter’ vs. standardsprachlich ‘eines von vier gleichzeitig ausgetragenen Kindern’ Zwilling ostfränkisch ‘Gefäß für Essen auf dem Feld’ vs. standardsprachlich ‘eines von zwei gleichzeitig ausgetragenen Kindern; Tierkreiszeichen; Sternbild; Geschütz mit zwei gekoppelten, gleichzeitig feuernden Rohren; Doppelflinte’

Der zweite Zugang macht sich die onomasiologische Struktur des WBF-Materials zunutze, indem wortfeldbezogen nähesprachlich-emotionale Bereiche untersucht werden, in denen sich individuelle Sprachkreativität besonders ausgeprägt zeigt. Ein Beispiel hierfür sind die unterschiedlichen Bezeichnungen für einen (leichten) Alkoholrausch, wie man sie den Antworten auf Bogen 4, Frage 32 („Wie bezeichnet man einen leichten Rausch?“) und Bogen 4, Frage 33 („Wie würde man sagen für: Er ist betrunken?“) entnehmen kann. Aus dem äußerst vielfältigen Antwortspektrum bieten wir im Folgenden lediglich einen Ausschnitt. Berücksichtigt sind nur separat genannte Substantive (z. B. Düftl, Hetzelsdorf) bzw. Substantive im Rahmen des Syntagmas ‘(einen) X haben’ (z. B. er hod en Duft, Rothenbuch), einschließlich der genannten augmentativen und diminutiven Formen. Sonstige Vorkommen in Phraseologismen sind nicht aufgelistet (z. B. D(e)r håt n leichte Seegang, Thüngen; er hot sei Höh, Wimmelbach). Die folgende Zusammenstellung soll das kreative Potenzial der Dialektsprecherinnen und -sprecher im Ostfränkischen verdeutlichen: Affe (Äffel, Äfflein, Sauaffe), Bätzer, Bletzer, Blümlein, Bollen, Brand (Brändel, Brändlein, Saubrand), Dackel, Dampes (Dampeslein), Däwes, Dämperlein, Dampf (Dampfi, Dämpflein), Donnerer, Duft (Düftel), Dunst, Dusel, Düttlein, Fähnel, Fitzer (Fitzerlein), Friesel, Gewitter, Gorilla, Haarsack, Hacht (Hächtlein), Hammer, Hepfer, Hieb, Hiebs (Hiebslein), Horbel (Horbelein), Horbler, Hormes, Hormel, Lätterer, Lunderer, Mordsholler, Pappler, Pfiff, Pfitzer (Pfitzerlein), Plätterer, Pöpel, Preller, Rappel, Raser, Rauch, Raude, Rausch (Räuschchen, Räuschel, Räuschlein, Kanonenrausch, Saurausch), Ruß (Rußlein), Russe, Sares, Sauser (Sauserlein), Schicker (Schickerlein), Schickert, Schickores, Schieber, Schlag (Schläglein, Mordsschlag), Schlaraffe, Schlenkerer, Schlips, Schmitz, Schwärze, Schwede, Schwips (Schwipschen, Schwipsel, Schwipslein), Seiher, Sohler, Spitz (Spitzel, Spitzlein), Spitzer, Stampes

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(Stampeslein), Stich (Stichlein), Stöber, Suff (Süffchen, Sufflein), Suller, Sumser, Sumsererer, Surmelein, Surrer, Teufel, Töppslein, Treff, Türke (Türkel), Wender, Wurf, Zapfen, Zischer, Zöllein, Zug, Zünder, Zünderer, Zwick

Insgesamt sind zu rund 80 Wortstämmen unterschiedliche Simplizia bzw. Wortbildungen genannt. Darunter finden sich vor allem solche, die dialektspezifisch sind, aber auch standardsprachliche, die jedoch in anderer Bedeutung verwendet sind. Unter dem dialektspezifischen Material zeigen Sares und Schicker sowie die verwandten Bildungen den jiddischen Einfluss im Ostfränkischen. Der Aspekt der Bedeutungsbildung lässt sich besonders gut bei den auch standardsprachlich belegten Lexemen erfassen. Diesen Bedeutungsbildungen liegt als kognitiver Mechanismus eine Metaphorisierung zugrunde. Dabei fungiert als Tertium Comparationis hier ‚Abnormalität‘, die auf der Basis menschlichen Erfahrungswissens in unterschiedlichen Bereichen sichtbar wird. Alkoholrausch als körperlicher Zustand wird mit Lexemen unterschiedlicher Bezeichnungsklassen benannt, die Spenderbereiche sind ausgesprochen vielfältig, z. B. – – – – – – –

akustische Abstrakta (Sauser, Sumser, Surrer) physikalische Phänomene (Brand, Dampf, Dunst) Verhaltensabstrakta (Fitzer, Rappel, Raser) Handlungsabstrakta (Hieb, Schlag, Stich) Witterungsphänomene (Donnerer, Gewitter, Stöber) Tiere (Affe, Dackel, Gorilla) Personen (Russe, Schwede, Türke)

Für die metaphorische Konzeptualisierung des Alkoholrauschs sind verschiedene Konzepte relevant, vor allem aber ist das Körperkonzept (vgl. GIBBS 2005) der zentrale Bezugspunkt: Der Alkoholrausch wird direkt mit körperlichen Empfindungen und Zuständen im Rauschzustand korreliert, wie z. B. der eingetrübten akustischen Wahrnehmung (Sauser), dem rauschbedingten Hitzeempfinden (Brand) und dem auffälligen Verhalten im Rauschzustand (Rappel), oder aber indirekt mit der körperlichen Wahrnehmung nach äußerer Gewalteinwirkung (Hieb). Einen weiteren zentralen Bezugspunkt stellt das Wetterkonzept dar, bei dem die Umwelterfahrung extremer Wetterphänomene (Donnerer) mit dem Rausch überblendet wird. Eine eigene Kategorie bilden belebte Vergleichskonzepte, bei denen typische Verhaltensformen von Tieren bzw. Personen(gruppen) mit menschlichem Verhalten im Rauschzustand korreliert werden. Besonders im Bereich der unterschiedlichen Personenbezeichnungen nach ihrer nationalen Zugehörigkeit wird deutlich, dass die Metaphern auch Einstellungen widerspiegeln und Ergebnisse einer Stereotypisierung zeigen: Zugrunde liegen negative, im kulturellen Gedächtnis verankerte Kriegserfahrungen mit bestimmten Volksgruppen unterschiedlicher historischer Tiefe. Verglichen mit der Standardsprache erscheinen die vorgestellten Metaphern eigenständig. Ob es sich dabei um innovative Metaphern handelt, „die sich nicht auf bereits bekannte Konzeptualisierungen zurückführen lassen, sondern neue Konzeptkopplungen etablieren“ (SKIRL / SCHWARZ-FRIESEL 2013: 30), können erst

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detaillierte Untersuchungen zum Ostfränkischen zeigen. Bereits dieser vorgestellte kleine Ausschnitt offenbart das enorme Potenzial dialektspezifischer Lexik für die empirisch basierte kognitive Metaphernforschung. Aus einer soziolinguistischen und handlungspragmatischen Perspektive bieten die lexikalischen dialektspezifischen Metaphern einen Zugang zu Sprechereinstellungen, deren nähesprachlicher Charakter andere Erfahrungswelten reflektiert, als sie standardsprachlich vermittelt erscheinen. 5 RESÜMEE Wie an den skizzierten Beispielen (vgl. Abschnitt 4) ersichtlich wird, sind im Ostfränkischen auf Basis des ausgewerteten WBF-Materials in den drei untersuchten Bereichen Wortbildung, Entlehnung und Bedeutungsbildung zahlreiche interessante Phänomene greifbar, die dem Dialekt gegenüber der Standardsprache ein eigenständiges Profil verleihen. Zugleich zeigen sich aber auch zahlreiche Überschneidungen mit der Standardsprache, so dass im untersuchten Material durchgängig ein lexikalisches Spannungsfeld zwischen Dialekt und Standardsprache aufscheint. Die Eigenständigkeit des Dialekts zeigt sich am deutlichsten im Bereich der Bedeutungsbildung, wo das kreative Potenzial der Sprecherinnen und Sprecher am unmittelbarsten greifbar ist. Ein zweites dialektspezifisches Merkmal ist der Erhalt älterer Lexeme, die in der Standardsprache nicht mehr usuell sind. Dieser ist sowohl im Bereich der Wortbildung zu beobachten als auch bei Entlehnungen. Für die dialektale Wortbildung indizieren solche Lexeme eine ältere Form der Produktivität, die in der Standardsprache nicht mehr oder in anderer Ausprägung besteht. Außerdem ist im Bereich der Wortbildung eine eigenständige Nutzung von Wortbildungsmustern zu beobachten, die im Standard anders konturiert sind. Die Varianz und Konkurrenz unterschiedlicher Wortbildungstypen ist im Ostfränkischen insgesamt viel ausgeprägter als im Standard. Dies hängt sicherlich mit dem mangelnden Normierungsdruck seitens einer überregionalen Schriftnorm zusammen. Viele Varianten dürften auch nur regionale Verbreitung haben. Diese Ergebnisse betreffen sicherlich nicht nur das Ostfränkische, sondern sind ein Charakteristikum aller Dialekte. Was die Produktivität in der Wortbildung betrifft, so scheint diese bei den hier näher vorgestellten Mustern nur schwach ausgeprägt. Hier werden Bezeichnungslücken in vielen Fällen offenbar weniger durch aktive Wortneubildung geschlossen als vielmehr durch Entlehnungen vor allem aus dem Standard. Selbstverständlich gibt es aber auch in der Wortbildung eigenständige, nur im Dialekt produktive Muster, die im vorliegenden, auf einen Vergleich mit dem Standard ausgerichteten Beitrag jedoch nicht fokussiert wurden. Weiterhin zeigt sich die nähesprachliche Dimension dialektaler Wortbildung in einer ausgeprägten Verwendung von Wortbildungsmustern mit pragmatisch-expressiver Funktion (Diminuierung, Augmentation). Ein spezifisches Profil weist das Ostfränkische auch im Bereich der Entlehnung auf, wo unterschiedliche Einflüsse sichtbar werden und neben fremdsprachlichen Entlehnungen, die teils dialektspezifisch sind, auch zahlreiche standardsprachliche

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Entlehnungen nachweisbar sind. Vor allem diese bedingen eine lexikalische Akkommodation und damit eine Entwicklung vom Dialekt zum Regiolekt. LITERATUR BARCELONA, ANTONIO (Hg.) (2003): Metaphor and Metonymy at the Crossroads. A Cognitive Perspective. Berlin/New York: De Gruyter. BAUER, LAURIE (2001): Morphological Productivity. Cambridge: Cambridge University Press. Duden-Online = Duden. Wörterbuch. Bearbeitet von der Dudenredaktion. URL: ; Stand: 16.06.2020. DWDS = Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. URL: ; Stand: 16.06.2020. FLEISCHER, WOLFGANG / IRMHILD BARZ (2012): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin/Boston: De Gruyter. GANSLMAYER, CHRISTINE (2012): Adjektivderivation in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand der ältesten deutschsprachigen Originalurkunden. Berlin/Boston: De Gruyter (Studia Linguistica Germanica. 97). 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ANALOGIE IM DIASTRATUM UND VERBORGENE VERTIKALISIERUNG IM SYNSTRATUM Rüdiger Harnisch ABSTRACT Analogien werden auf der Basis von innersystemischen und insofern synstratischen proportionalen Beziehungen vorgenommen. Doch auch diastratisch bedingte Analogiebildungen, die typischerweise in Hyperkorrekturen, also Fehlern, enden, kommen vor. Die gleichen Fehler können oft auch innersystemisch und insofern synstratisch zustandekommen und stehen, wenn sie in der Standardsprache vorkommen, zunächst nicht im Verdacht, von Wertung auf der diastratischen Skala von Prestige und Stigma gesteuert zu sein. Doch gibt es Anzeichen, dass auch diese Fehler auf einer diastratischen Bewertung beruhen und Ergebnisse von – wenn auch nur versteckten – ‚Korrekturen‘ sind.1 1 AUFRISS DES PROBLEMS Als eine wesentliche Kraft, die analogische Umgestaltungen auslöst, sind von den Junggrammatikern synchrone, synsystemische proportionale Verhältnisse entdeckt worden.2 Von den diasystemischen Wirksamkeiten der Analogie interessierte hier vor allem die diachronische: Die Auflösung eines – oft dreisatzartigen – systeminternen Proportionalverhältnisses führt zu Sprachwandel. Das zeigt das folgende Beispiel,3 bei dem die alte endungslose Pluralform mhd. kint ‘Kinder’ (zu Sg. kint) analog der gleichzeitig im System befindlichen Pluralform rinder (zu Sg. rint) in die nhd. Pluralform kinder umgewandelt wird: Singular rint kint

: :

Plural rinder x x

Analog-Plural

=

kinder

Tab. 1: Sprachwandel aus synchroner Analogie

1 2 3

Zwei anonyme Gutachter haben wertvolle Hinweise zum vorliegenden Beitrag gegeben. Ihnen sei damit gedankt, dass diese Hinweise allesamt berücksichtigt wurden. OSTHOFF / BRUGMANN (1878: IV–V, XI–XIII), PAUL (1920: 106–120). Nach PAUL / WIEHL / GROSSE (1989: § 180 und Anm. 2).

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Rüdiger Harnisch

HERRGEN (1986: 155) arbeitet heraus, dass Analogie auch in einer andern als der diachronischen Weise diasystemisch wirksam sein kann, nämlich diastratisch: „Paul hat systeminterne Analogie im Auge […], doch läßt sich der Mechanismus auch systemübergreifend beobachten“, z. B. in der Herstellung von Proportionalverhältnissen zwischen Dialekt und Standardsprache. Ein Hauptfeld der Ergebnisse des angesprochenen Mechanismus ist Hyperkorrektion.4 Das zeigt das folgende Beispiel aus dem bairischen Sprachraum: (1) Einmal, als Erik, mein Sohn, auf Fliegenjagd war, sagte ich da aufm Oam [ist die Fliege] ‘da auf dem Arm’ worauf er sich noch einmal vergewisserte aufm Oaben?5

Weil eine dialektale Form wie Lem ‘Leben’ mit der standardsprachlichen Form Leben variiert, wird in offensichtlicher „Kenntnis der Struktur der Zielvarietät“ (HERRGEN 1986: 155), des Hochdeutschen, die Form Oam ‘Arm’ als vermeintliches dialektales Pendant eines standardsprachlichen *Oaben (verhochdeutscht *Arben) aufgefasst und entsprechend hyperkorrigiert: Dialekt Lem Oam

: :

Standard Leb-en x x

Analog-Stammbildung

=

Oaben

Tab. 2: Hyperkorrektur aus diastratischer Analogie

Hyperkorrekturen gelten in normativer Sicht gemeinhin als Fehler, und die „Faktoren, die Hyperkorrektion bedingen, sind […] als externe anzusehen“6 (HERRGEN 1986: 143). An gleicher Stelle weist HERRGEN aber darauf hin: „Auch sprachsystemintern gibt es Analogie […], die als ‚Fehler‘ korrigiert wird.“ Das zeigen standardsprachliche Beispiele,7 die von Jean Paul unter (2) bis zur Pressesprache der Gegenwart unter (3) reichen: (2) Tausend warme Wolken kamen und hingen sich brünstig an Himmel und Erde zugleich (JEAN PAUL 1996: 1086) (3) Auf insgesamt neun Meter Länge hing er 400 Gipsabdrücke von weiblichen Genitalien an die Wand (ROTHHAAS 2018: 51)

4 5 6 7

Mit „Hyperkorrektion“ wird hier und im Folgenden das generelle Phänomen bezeichnet, mit „Hyperkorrektur“ ein konkreter Fall von Hyperkorrektion. Vater des in Passau aufwachsenden Erik (2;6) in einer Mail an Verf. Mit „extern“ ist ‘außersprachlich’ oder ‘sozial bedingt’ gemeint. Vgl. DECAMP (1972: 87): „Hypercorrection […] refers to the social function of certain linguistic phenomena.“ Die betreffenden Beispiele in Zitaten werden hier und im Folgenden vom Verf. kursiv gesetzt.

Analogie im Diastratum und verborgene Vertikalisierung im Synstratum

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Hier wird nach dem Muster der Alternation des Präsensstamms des intransitiven Verbs (intr.) hängen1 und seines Präteritums hing1 das Präteritum hängte2 des im Präsensstamm homonymen transitiven Verbs (tr.) hängen2 fehlerhaft als *hing2 gebildet:8 Präsensstamm hängen intr. hängen tr.

: :

Präteritum hing x x

Analog-Präteritum

=

hing

Tab. 3: Fehler aus synsystemischer Variation nach Flexionsklassen

HERRGEN (1986: 143) urteilt hierzu: „Solche systeminternen Analogien werden jedoch nicht als Hyperkorrektionen bezeichnet.“9 Ihnen fehlt auf den ersten Blick der motivierende diasystemische Hintergrund, im vorliegenden Fall ein diastratischer. Das zu hinterfragen, ist Gegenstand des Kapitels 3. In Vorbereitung darauf sollen – in Kapitel 2 – Fehler vorgestellt werden, die als beides, als dia- oder synstratisch motiviert, angesehen werden können. 2 DURCH DIA- ODER SYNSYSTEMISCHE ANALOGIE BEDINGTE FEHLER Nach HARNISCH (2018: 225) „gibt es eine Unsicherheitszone, in der man nicht weiß, ob eine systemimmanente Analogie oder ein erkannter Varietätenkontrast die Ursache für die falsche Bildung ist.“ Das soll an folgendem standardsprachlichen Beispiel illustriert werden: (4) So viel beredetes Schweigen ist schwer zu ertragen (Tatort-Trailer 2004)

8

9

Weitere Beispiele sind: „Kai und Pytt hingen die Kleider an den Zweigen […] auf “ – „er […] hing die Laterne an einen Nagel“ (VEGESACK 1978: 143 bzw. 130). – „Ein Kleingärtner hing ein Schild in Richtung Nachbar auf “ (SÜSS 2013). Neben einer latent immer möglichen individuellen Verwendung lässt sich regional eine Konventionalisierung dieser Form nachweisen. Die Karte aufgehängt im Atlas zur deutschen Alltagssprache (; Stand: 01.09.2021) zeigt eine aufgehängt-aufgehangen-Variation in einem von Westsüdwest nach Ostnordost verlaufenden Streifen zwischen Luxemburg und dem ostmitteldeutschen Raum mit sich nördlich anschließenden Streubelegen auf einer Linie Münster – Hannover – Berlin sowie eine Verdichtung des aufgehangen-Vorkommens im äußersten Westen südlich von Köln. Es kann durchaus gefragt werden, ob es sich noch um Analogie handelt, wenn in einer solchen Proportionalgleichung zwei ausdrucksseitig identische Ankerformen vorkommen (hängen1 und hängen2). Im vorliegenden Fall wird aber sogar davon ausgegangen, dass diese Formenidentität die Analogiebildung noch stärker induziert als wenn, wie normalerweise, ‚nur‘ Formenähnlichkeit gegeben ist.

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Zwar könnte man mit gutem Recht annehmen, dass eine Form bered-et ‘beredt’ in Kenntnis einer diastratischen Nonstandard-Standard-Variation wie gered-t : geredet analog aus einem für falsch gehaltenen *bered-t ‚verbessert‘ worden ist. Doch kann man bered-et auch aus systeminterner Analogie zu gered-et (: red-en) umstandslos erklären. Tab. 4 stellt beide Möglichkeiten der Entstehung, die dia- und die synstratisch bedingte, synoptisch dar:

Nonstandard geredt *beredt10

Infinitiv reden *bereden11

diastratische Analogie: Partizip Perfekt (Part.Perf.) Standard analoges Part.Perf. : geredet : x x = beredet Analogie im standardsprachlichen Synstratum Part.Perf. analoges Part.Perf. : geredet : x x = beredet ‘beredt’

Tab. 4: Der Fall beredet: Analogie im Dia- und Synstratum

Ein und dieselben Fehler können also sowohl als Analogien im Diastratum Nonstandard – Standard als auch als Analogien im standardsprachlichen Synstratum interpretiert werden. Ein vergleichbarer Fall, allerdings aus einem Paradigma mit Stammvokalwechsel e/i, ist eine Umwandlung wie die von gilt in gilt-et in folgendem standardsprachlichen Beleg: (5) […] wenn sich jedoch unglücklicherweise Manifestationen der so definierten Schönheit in afrikanischen Sprachen finden lassen, dann sage ich: „Ätsch, giltet nicht!“ (GERHARDT 1986: 135)

Prinzipiell kann auch dieser Beleg als diastratisch bedingt erklärt werden: So, wie ein nonstandardsprachliches bild-t in standardsprachliches bild-et aufzulösen wäre, wird eine vermeintliche nonstandardsprachliche Verschmelzung *gilt-t zu gilt-et ‚entschmolzen‘.12 Doch kann das Beispiel giltet auch als synstratisch bedingt aufgefasst werden: als analoge Bildung zu den vielen Verben in ein und derselben standardsprachlichen Varietät, deren Stamm auf Dentalplosiv auslautet und die schwach sind wie eben bild-et oder die als starke Verben in der 3. Person Singular 10 Mit Asterisk, weil unterstellt wird, dass die Form für nonstandardsprachlich gehalten wird. 11 Mit Asterisk, weil unterstellt wird, dass die Form auf bereden in Normalbedeutung des Verbs bezogen wird. 12 Solche Prozesse (vgl. HARNISCH 2004.b: 221) sind u. a. Gegenstand des DFG-Forschungsprojekts von Verf. zur Typologie und Theorie der Remotivierung (TheoRem), in dessen Kontext vorliegender Beitrag entstanden ist.

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Präsens (3.Sg.Präs.) keinen – die Verschmelzung der Dentalplosive von Stammauslaut und Suffix tolerabel machenden – Vokalwechsel aufweisen wie findet.13 Eine solche Deutung wird dann leichter, wenn – ob nun stark oder, wahrscheinlicher, schwach flektiert – ein Verb *gilt-en zugrunde gelegt wird, das schon im Präsensstamm ein -i- aufweist, und nicht eines, das erst durch e/i-Alternation ins Paradigma kommt.14 Da das Verb sehr häufig oder sogar überwiegend in festen Wendungen der Art (es) gilt vorkommt, kann die betreffende Form leicht als 3. Person Singular eines zugrunde liegenden *gilten reanalysiert werden. Dann hat man es gleich mit synstratisch geltender -et-Suffigierung zu tun, ob auf standardsprachlicher Ebene oder, in z. B. westmitteldeutschen Dialekten ohne Synkope in …tet-Sequenzen, auch auf nonstandardsprachlicher. 3 VERTIKALISIERUNG SYNSTRATISCHER VARIATION Anschließend an den Befund einer doppelten Erklärbarkeit analogischer Fehlbildungen als dia- oder synstratisch bedingt (Kap. 2) soll hier weiter gefragt werden, ob nicht auch den – oberflächlich – als synstratisch bedingt erscheinenden Fehlern eine – versteckte – Diastratik innewohnt, die eine Bewertung auf der Skala von Stigma zu Prestige mit sich bringt und ggf. zur Wahl der Prestige-Variante führt. In den oben gegebenen Beispielen der Tab. 3 und 4 traten zwei Typen von Fehlern auf:15 (a) falsche Resegmentierung von Verschmelzungen bei beredt > beredet (b) falsche Wahl der Flexionsklasse bei hängte > hing (trv.) Als Hintergrund könnte man bei (a) eine Bewusstheit der Tücken der d-t-Verschmelzung in den diastratisch ‚niedereren‘ Nonstandardformen annehmen, die man umgehen will, bei (b) zumindest im Oberdeutschen, dem Gebiet des ‚Präteritumschwunds‘, eine Unsicherheit in der Verwendung von Präteritalformen. Doch ist zum einen beim Partizip Perfekt, das in diesem Sprachgebiet ja als Teil des Präteritum-Kompensats Perfekt sehr wohl vorkommt, die gleiche Art von Fehlern 13 Zu der Bedingung, dass Verschmelzung nur toleriert wird, wenn der Stammvokal der betreffenden Form wechselt, vgl. HARNISCH (1998: 68) und HARNISCH (2016: 88–92). 14 Es sei auf Parallelfälle wie *schmilzen, *quillen und *schwillen aus dem Belegarchiv von Verf. hingewiesen: „[Sie] ließen den Vorsprung auf drei Tore schmilzen“ (Bayerisches Fernsehen, Blickpunkt Sport, 1. März 1992, 21:30 Uhr). – „Blumenkästen, aus denen wilde Stiefmütterchen quillen“ (KINDER 1991: 213). – „Die Bälle quillten auf“ (Süddeutsche Zeitung, 28. April 2005). – „Der vorübergehende Rückgang der Schneefallgrenze […] ließ die weiße Pracht […] auf 20 Zentimeter anschwillen“ (Süddeutsche Zeitung, 1. Februar 1988). Im Deutschen Wörterbuch (18541971) sind *gilten und *schmilzen nicht gebucht, quillen (VII. 1889: 2371–2372) und schwillen (IX. 1899: 2624) – mit Verweisen auf quellen bzw. schwellen – dagegen schon. Zu vergleichen wäre noch schrillen (IX. 1899: 1751–1752), wenn es denn nicht aus schrill Adj. abgeleitet, sondern „aus älterem schrellen [...] umgebildet ist“ (KLUGE / SEEBOLD 2011: 827). 15 Das heißt natürlich nicht, dass das die einzigen möglichen Typen sind und es keine andern gäbe.

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festzustellen und stehen zum andern viele Beispiele nicht in Zusammenhang mit dem Oberdeutschen:16 (6) [Schlagzeile:] GRÜNE: Kandidatin entschuldigt sich CDU-Plakate abgehangen zu haben [Im Text:] Am 12. August hing Isabelle Pejic (GRÜNE Kandidatin zur Landtagswahl [in Mecklenburg-Vorpommern]) zwei CDU-Wahlplakate ab (Landespressedienst 2016)

Eine Fehlverwendung starker Verbformen ist auch bei der 2. und 3. Person Singular Präsens und dem Präteritum von fragen häufig zu beobachten: (7) […] die einst mich frug und jetzt mich frägt was du frägst, das kannst du nie erfahren (WAGNER 1978: 373 bzw. 363)17

Es scheint also einen Hang zu geben, (zu a) ‚Entschmelzungen‘ vorzunehmen statt Verschmelzungen hinzunehmen (beredt > beredet, gilt > giltet),18 16 Allerdings dürfte es kein Zufall sein, dass standardsprachliche Belege wie -spies ‘-speiste’ von Autoren mit alemannischem Hintergrund stammen: „Konnotationen als Implikaturen werden im allgemeinen aus enzyklopädischem Einzelwissen gespiesen“ (LÖTSCHER 1995: 453). „Dann wird das Ganze eingespiesen“ (FRANCESCHINI 2013). AMMON / BICKEL / LENZ (2016: 686) vermerken hierzu: „Das 2. Part. lautet in CH meist gespiesen, gemeindt. gespeist.“ Nicht oberdeutsch dürfte dagegen die Präteritalform verspies bei JOHANN HINRICH CLAUSSEN (2011: 22) sein: „Meinen Geschwistern ging ich dadurch auf die Nerven, dass ich den Inhalt meines Weihnachtstellers nicht so flott wie sie verspies.“ Der Autor ist „Propst und Hauptpastor in Hamburg“ (23), also wohl Norddeutscher, was auch schon sein zweiter Vorname und sein Familienname nahelegen. 17 Die Formen frägt, frägst und frug sind in den Operntexten von WAGNER (1978) Legion. Man könnte sie für gewollt archaische poetische Formen halten, doch auch in Wagners sonstigen Schriften kommen sie vor, frug z. B. in WAGNER (1888: 107). In fachlicher Literatur verwendet die Form frägt etwa SCHMELLER (1815: 20 in: „Es frägt sich demnach […]“), die Form frug verwenden etwa ESSER / PARITSCHKE (1981: 79, 81 in: „Siegfried […] frug ihn teilnahmsvoll“ bzw. „die Vertrauten Siegfrieds, die er um Rat frug“). Salient ist das -ä- für KAFKA (1910– 1923: 9), der in einem Tagebucheintrag von 1910 dazu bemerkt: „‚Wenn er mich immer frägt.‘ Das ä, losgelöst vom Satz, flog dahin wie ein Blatt auf der Wiese.“ Auch hier zeigt der Atlas zur deutschen Alltagssprache eine regionale Verdichtung der konventionalisierten starken Form der 2. Person Singular Präsens („Wenn du mich so frägst […]“) im Südwesten und im Mosel-Rhein-Main-Gebiet. Die starke Präteritalform frug hingegen ist regional asymptomatisch gestreut. Vgl. jeweils ; Stand: 01.09.2021. 18 So gesehen würden Verben wie fechten, flechten oder bersten nicht einfach nur von starker zu schwacher Flexion der 2./3.Sg.Präs. übertreten (fich(s)t/flich(s)t/birs(*s)t > fechte(s)t, flechte(s)t, berste(s)t). Vielmehr wäre der Übertritt zusätzlich oder gar hauptsächlich durch die Erhaltung bzw. Wiederherstellung des -t-Suffixes motiviert, dessen Salienz durch Schwa-

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(zu b) starke Flexionsformen den schwachen vorzuziehen, sei es bei Vorliegen homonymer Stark/schwach-Varianten (trv. hängen > hing statt hängte nach intrv. hängen – hing), sei es bei Gegebensein interparadigmatischer analoger Vorbilder (fragen – frägt – frug nach tragen – trägt – trug). Auch (und gerade?) in besonders distingierten Texten und Publikationsorten unterlaufen auffällig oft falsche starke Verbformen – hier ein Beispiel aus einem Interview des Magazins Forschung & Lehre des Deutschen Hochschulverbands mit einem Universitätsprofessor: (8)

Der Elfenbeinturm ist geschliffen (FRANKENBERG 2011: 520 [Schlagzeile] und 522 [Text])19

Stark flektierte Verbvarianten haben also offensichtlich mehr Prestige als schwach flektierte,20 und Verschmelzungen tragen offensichtlich das versteckte Stigma nonstandardsprachlicher Varianten. Folglich wären nicht nur Fälle diastratisch bedingter Fehlanalogien ‚Hyperkorrekturen‘, sondern wären auch Fälle synstratisch bedingter Fehlanalogien Versuche einer ‚Verbesserung‘ auf der vertikalen Skala vom Stigma zum Prestige. QUELLEN CLAUSSEN, JOHANN HINRICH (2011): Der Morgen danach. In: Andere Zeiten – Magazin 3/2011, 22–23. DAHESCH, KEYVAN (1989): Unverzagt schaffen in einsamer Nacht. In: Süddeutsche Zeitung vom 24./25. Juni 1989, 11. ESSER, KARL HEINZ / PARITSCHKE, WERNER (1981): Das Nibelungenlied. Zeit und Bedeutung. Worms: Stadt Worms. FRANCESCHINI, RITA (2013): Dialekte im mehrsprachigen Kontakt. Vortrag auf der 12. BayerischÖsterreichischen Dialektologentagung, Wien, 19. September 2013. Epenthese gesichert wird: -et. Belege: „Für einen Weltmeister […] blamabel – für einen, der kaum noch fechtet, indes gar nicht schlecht“ (HACKE 1991: 50). „Er flechtet auch Körbe“ (DAHESCH 1989: 11). „Ein Raum, der vor Überfüllung berstet“ (MH 2012). 19 Das verbessert WEISS (2011: 610) in einem Leserbrief mit der Überschrift „Geschliffen“ in die richtige Verbform: „Der Elfenbeinturm ist geschleift.“ 20 Das reicht bis in die Wissenschaft hinein und in die Romantik zurück. Vgl. die ästhetisch ästimierende Wertung der historischen Würde starker Flexionsformen durch JACOB GRIMM (1822: 836): „Das starke praet. muß als hauptschönheit unserer sprache, als eine mit ihrem alterthum und ihrer ganzen einrichtung tief verbundene eigenschaft betrachtet werden.“ Nach WYSS (1979: 148–149) ist für Grimm der Ablaut – „das Archaicum schlechthin“ – ein „Zauber“, dem er auch bei Auftreten eines nur „ablautähnlichen Vokalunterschieds“ verfalle und der ihn zu etymologisch nicht haltbaren „Ableitungsphantasien“ verführe. „Zu „social implications of levels of linguistic analysis“ (Themenblock in AMMON / DITTMAR / MATTHEIER / TRUDGILL 2004), hier auf der Ebene der Morphologie, s. HARNISCH (2004a), wo auf Fälle wie gilt > giltet (522), oder fragt/fragte > frägt/frug (527) aus allgemein sozialsymbolischer Perspektive eingegangen wird.

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NICHTPROTOTYPISCHE FLEXION UND DERIVATION IN LÄNDLICHEN REGIONEN ÖSTERREICHS Katharina Korecky-Kröll ABSTRACT Diese Studie untersucht die aktuelle diaphasische, diastratische und diatopische morphologische Variation bei 147 autochthonen Erwachsenen zweier Altersgruppen und Bildungshintergründe aus dreizehn ländlichen Orten Österreichs mit Hilfe zweier experimenteller Methoden (Sprachproduktionsexperimente und Übersetzungsaufgaben im Dialekt und im Standard). Da die nichtprototypische Morphologie als besonders empfänglich für Variation gilt, werden Adjektivsteigerungsformen sowie Substantivplurale für die nichtprototypische Flexion und Diminutive für die nichtprototypische Derivation untersucht. Die Altersgruppe erweist sich als relevanteste soziodemographische Variable, gefolgt vom Bildungshintergrund. Die Entfernung von Wien als Variable der Regionalität zeigt meist stärkere Effekte als Alter und Bildung, häufig in Interaktion mit dem Setting: Während der Standarddurchgang in allen untersuchten Orten sehr ähnliche Ergebnisse liefert, findet man im Dialektdurchgang in weit von Wien entfernten Orten größere Abweichungen zum Standarddurchgang als in näher von Wien gelegenen Orten. Die größte morphologische Nähe zwischen Dialekt und Standard zeigt die Adjektivsteigerung. Demgegenüber weist die Diminutivbildung die größte Distanz zwischen Dialekt und Standard auf, und die Pluralflexion nimmt eine Zwischenposition ein. Linguistische Variablen sind ebenfalls hochrelevant: Während Derivationssuffixe stark mit dem Dialekt assoziiert sind, erweisen sich Pseudosuffixe als besonders typisch für das Standardsetting. Bezüglich des Umlauts zeigen sich jedoch Unterschiede zwischen den lexikalischen Kategorien: Bei der Adjektivsteigerung ist der Umlaut mit dem Dialekt assoziiert, bei der Pluralflexion und bei der Diminutivbildung hingegen mit dem Standard. Die stärkste Korrelation zwischen den drei Kategorien findet sich zwischen Pluralen und Diminutiven, den beiden Substantivkategorien, die zweitstärkste zwischen Adjektivsteigerung und Pluralbildung, den beiden Kategorien der Flexion. 1 EINLEITUNG Das Ziel dieses Beitrags ist es, systematische quantitative Einblicke in die morphologische Variation autochthoner Erwachsener zweier Altersgruppen und Bildungshintergründe aus ländlichen Regionen Österreichs zu geben, und zwar aus areal-

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horizontaler sowie sozial-vertikaler Perspektive. Vor allem die Kombination beider Perspektiven ist in der morphologischen Forschung zum Deutschen derzeit noch wenig verbreitet. Für die areal-horizontale Perspektive wurden insgesamt 147 Personen aus 13 Orten (d. h. mindestens 10 Personen pro Ort) aus allen fünf großen Dialektregionen Österreichs befragt. Für die sozial-vertikale Perspektive wurden die Gewährspersonen explizit gebeten, diejenigen Varietäten zu verwenden, die sie selbst als ihr „bestes Hochdeutsch“ bzw. ihren „besten Dialekt“ bezeichnen (bzw. als eine vergleichbare Varietätenbezeichnung, die sie selbst im Interview gebraucht hatten). Untersucht werden sollen drei morphologische Kategorien, die einige Gemeinsamkeiten, aber auch einige Unterschiede aufweisen, die in der Folge dargelegt werden. Innerhalb der Morphologie haben die Flexion und die Derivation sehr unterschiedliche Funktionen: Während die Derivationsmorphologie in erster Linie zur lexikalischen Bereicherung der Sprache, d. h. zur Bildung neuer Wörter aus bestehenden Basisformen dient, steht die Flexionsmorphologie im Dienste der Syntax, indem sie syntaktische Konstruktionen durch passend flektierte Wortformen markiert (DRESSLER 1989: 6). Doch nicht immer ist diese Trennung zwischen Flexion und Derivation ganz eindeutig bzw. gibt es offensichtlich auch Kategorien, die Zwischenpositionen einnehmen. Der in diesem Zusammenhang wichtige Begriff der ‚nichtprototypischen Flexion und Derivation‘ wurde von DRESSLER (1989) vor dem Hintergrund der Natürlichkeitstheorie (DRESSLER et al. 1987) und der Prototypentheorie (ROSCH / LLOYD 1978) geprägt. DRESSLER geht dabei von einem Kontinuum zwischen Flexion und Derivation aus (vergleichbar mit jenem in Abb. 1), auf dem die prototypischen Kategorien jeweils die äußeren Pole besetzen, wohingegen sich die nichtprototypischen Kategorien in der Mitte befinden und einige Gemeinsamkeiten aufweisen.

Abb. 1: Kontinuum Flexion – Derivation (nach DRESSLER 1989)

Die ‚nichtprototypische Flexion‘, die von BOOIJ (1996) als „inhärente Flexion“ bezeichnet wird, zeichnet sich im Vergleich zur „prototypischen“ (DRESSLER 1989) oder „kontextuellen“ (BOOIJ 1996) Flexion durch größere semantische und pragmatische Unterschiede der flektierten Formen im Vergleich zu ihren Basisformen, durch teilweise defektive Paradigmen (BOOIJ 2000: 365), aber auch durch eine größere

Nichtprototypische Flexion und Derivation in ländlichen Regionen Österreichs

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Vielfalt an parallelen Formen (vgl. z. B. MÖRTH / DRESSLER 2014) aus. Außerdem können diese Flexionsformen sowohl als Basis für Derivation als auch für Komposition dienen (BOOIJ 1996: 6). Für den vorliegenden Beitrag stehen sowohl die Adjektivsteigerung als auch die Pluralflexion von Substantiven als Kategorien der nichtprototypischen Flexion im Fokus. Als Beispiel für größere semantische Unterschiede zu den Basisformen können etwa absolute Komparative herangezogen werden – so ist eine ‚ältere‘ Dame in der Regel jünger und nicht älter als eine ‚alte‘ Dame. Die morphosemantische Transparenz ist in diesem Fall also geringer als bei einem üblichen vergleichenden Komparativ (wie in dem Satz „Die Dame ist älter als der Herr.“), wo man die erwartete Beziehung zwischen dem Positiv als Basisform und dem Komparativ zum Ausdruck der Steigerung der Basisform findet. Als Kategorie der nichtprototypischen Derivation wird die Diminutivbildung untersucht: Diminutive stechen in vielen Sprachen der Welt durch ihre Vielfalt an parallel vorkommenden Formen innerhalb einer Zelle des Paradigmas hervor (vgl. DRESSLER / MERLINI BARBARESI 1994 für Italienisch, Deutsch und weitere Sprachen). Diese Tendenz zur Overabundance (THORNTON 2011) ist eine Eigenschaft, die Diminutive als nichtprototypische Derivationsformen mit nichtprototypischen Flexionsformen wie Pluralen und Adjektivsteigerungsformen (vgl. SCHRÖDL et al. 2015; KORECKY-KRÖLL 2020, 2022) teilen. Es handelt sich dabei zwar um eine Eigenschaft, die für Derivationsformen typischer ist als für Flexionsformen (DRESSLER 1989: 6), wie auch Beispiele wie Isol-ation vs. Isol-ierung zeigen. Bei Diminutiven ist das Nebeneinander verschiedener Formen jedoch häufig besonders ausgeprägt, wie man anhand der zahlreichen italienischen Diminutivsuffixe aus DRESSLER / MERLINI BARBARESI (1994: 94) beobachten kann (-ino, -etto, -ello, -(u)olo, -uccioiuzzo, -otto, -onzolo). Für das Deutsche trifft dies zwar nicht im selben Ausmaß wie für das Italienische zu, aber dennoch gibt es eine Konkurrenz von -chenund -lein-Formen im Standard sowie viele weitere Möglichkeiten der Diminutivbildung im Substandard bzw. in den Dialekten. Außerdem lässt sich die nichtprototypische Morphologie häufig durch ungewöhnliche Morphemserialisierungen charakterisieren, die besonders im Zusammenhang von Diminutivbildung und Pluralbildung vorkommen: So findet man selbst unter standarddeutschen Diminutiven Formen wie Kind-er-chen oder Ei-er-lein, in denen – entgegen der üblichen Anordnung – das Derivationssuffix jeweils auf das Flexionssuffix folgt (DRESSLER 1989: 9; FLEISCHER / BARZ 2012: 234). Der vorliegende Beitrag fokussiert auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den erwähnten drei nichtprototypischen Kategorien (Adjektivsteigerung, Pluralflexion, Diminutivbildung) auf der Dialekt-Standard-Achse des Deutschen in Österreich und berücksichtigt dabei sowohl linguistische als auch diatopische, diastratische und diaphasische Variablen (vgl. COSERIU 1992: 280–284, d. h. Unterschiede zwischen sozialen Gruppen, regionale Unterschiede sowie Unterschiede zwischen sprachlichen Registern). Im Vergleich zu standardnahen Varietäten zeichnen sich dialektnahe Varietäten häufig durch eine noch größere Variationsbreite innerhalb der Morphologie aus (vgl. z. B. SCHRÖDL / KORECKY-KRÖLL / DRESSLER 2015 zur Pluralbildung in einem burgenländischen Dialekt). Es ist daher zu erwarten, dass die untersuchten nichtprototypischen Kategorien aufgrund der oben

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erwähnten linguistischen Eigenschaften (Besonderheiten der semantischen und pragmatischen Bedeutung, starke Tendenz zur Overabundance, ungewöhnliche Morphemserialisierungen) eine besonders große diatopische, diastratische und diaphasische Variation aufweisen. 2 FORSCHUNGSSTAND In diesem Abschnitt soll kurz der Forschungsstand zur Adjektivsteigerung, Pluralflexion und Diminutivbildung im Standarddeutschen (lt. Duden 2016) sowie in österreichischen Dialekten beleuchtet werden. Abschließend wird begründet, warum gerade Österreich ein geeignetes Untersuchungsgebiet für diese Studie zu sein scheint. Die morphologische Struktur von Adjektivsteigerungsformen ist bereits im Standarddeutschen ziemlich empfänglich für Variation (KORECKY-KRÖLL 2020: 27–30; Duden 2016: 370–374), wie etwa im Hinblick auf den Umlaut (z. B. bei den zwei koexistierenden Komparativen röter und roter, vgl. NOWAK 2017: 89). Außerdem kann bei unbetonten Pseudosuffixen zweisilbiger Adjektive (-el, -er, -en) der e-SchwaLaut im Komparativ getilgt werden oder aber auch nicht (z. B. dunkel – dunkl-er vs. trocken – trocken-er). Auch Superlative zeigen relativ viel Variation bezüglich der eSchwa-Epenthese (am schlau-est-en oder am schlau-st-en) (KORECKY-KRÖLL 2020: 27). In den bairischen und alemannischen Dialekten Österreichs erweist sich der Umlaut bei der Adjektivsteigerung als weiter verbreitet als im Standard (vgl. z. B. PUHR 1969: hoaß – COMP heaßer – SUP heaßast ‘heiß’; MAUSER 1998: langsam – COMP längsämer; JUTZ 1925: truckhe – SUP trückhenischt ‘trocken’). Auch die e-SchwaEpenthese zeigt eine teilweise andere Verteilung als im Standard (vgl. Bsp. heaßast von PUHR 1969). Teilweise kommt es auch zu Reduplikationen von Suffixen, Einfügung von zusätzlichen Derivationssuffixen (vgl. z. B. LIPOLD 1983: schärf-ig-er ‘schärfer’) sowie Ersatz von Pseudosuffixen durch Derivationssuffixe (vgl. z. B. KORECKY-KRÖLL 2020: 46, dunk-lich-er ‘dunkler’). Auch die Pluralflexion von Substantiven erweist sich bereits im Standarddeutschen als variationsreich: Es gibt acht morphologische Pluralmarker am Substantiv (-s, -en, -e, Umlaut+-e, Null, reiner Umlaut, -er, Umlaut+-er), die in Abhängigkeit von Genus und Auslaut jeweils unterschiedlich frequent und produktiv sind (vgl. LAAHA et al. 2006; RAVID et al. 2008). Pluraldubletten mit nur geringen Unterschieden in der semantischen und pragmatischen Bedeutung (z. B. Rikscha-s als Fremdplural für die Gefährte in Asien vs. Riksch-en für jene in Deutschland, vgl. MÖRTH / DRESSLER 2014: 252) weisen auf eine gewisse Konkurrenz zwischen den verschiedenen Markern bzw. auf eine Tendenz zur Overabundance (THORNTON 2011, s. a. Abschnitt 1) hin. In oberdeutschen Dialekten scheint diese Tendenz zu parallel vorkommenden Pluralformen jedoch noch größer zu sein (s. ROWLEY 1997; MAUSER 1998; KÜHN 1980; KÜRSCHNER 2008; SCHRÖDL 2009; SCHRÖDL / KORECKYKRÖLL / DRESSLER 2015), und neben der Variation zwischen apokopierten Nullund Umlautpluralen (z. B. bouk – beik ‘Böcke’, vgl. SCHRÖDL / KORECKY-KRÖLL / DRESSLER 2015: 167) und nicht apokopierten Formen (z. B. ždeɒn-ǝ ‘Sterne’, vgl. SCHRÖDL / KORECKY-KRÖLL / DRESSLER 2015: 168) gibt es auch Formen mit

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restituierten Pluralsuffixen, die sich durch die Ausweitung des -en-Morphems aus den obliquen Kasus auf den Nominativ bei Feminina ergeben hat (z. B. Stuben – Stuben) und die in der Folge durch das Hinzufügen eines weiteren Suffixes überwunden wird, was dann z. B. den Plural Stubenen bzw. Stubener ['ʃd̥ʊˑmɐ] ergibt (vgl. MAUSER 1998: 108–109). Die Pluralmarkierung mittels Silbenschnittwechsel war vor allem bei mittelbairischen einsilbigen Substantiven verbreitet, die in der Standardsprache meist einen -e-Plural bilden und die im Singular die Struktur „Langvokal oder Diphthong + Lenis-Verschluss- oder Reibelaut“ haben (ZEHETNER 1983: 326) und im Plural entsprechend der Pfalzschen Regel (PFALZ 1913) einen Kurzvokal mit einem Fortiskonsonanten aufweisen (z. B. briɐɣ/brıɐf ‘Brief’) – inzwischen scheint dieses Phänomen jedoch ziemlich stark im Rückgang begriffen zu sein, und besonders in standardnäheren Varietäten (wie etwa die Wiener gehobenen Umgangssprache) scheint der reine Nullplural inzwischen den Status eines Default- bzw. Notplurals angenommen zu haben (KORECKY-KRÖLL 2011: 244–246). Die deutsche Diminutivbildung gilt ebenfalls als Phänomen mit starker regionaler Variation, die sich vor allem in der mündlichen Sprachproduktion zeigt (SCHIRMUNSKI 1962/2010; SEEBOLD 1983; ELSPASS 2010; LAMELI 2018; KORECKY-KRÖLL 2022). SEEBOLD (1983: 1250–1252) bringt neben Beispielen mit dem frequenten standarddeutschen Suffix -chen (wie Stückchen, Häuschen und Gärtchen) und dem wesentlich selteneren standarddeutschen Suffix -lein auch bairisches -(e)l und bairisch-alemannisches -le, ebenfalls alemannisches -li, -ji, -ggji, -ti, -si, -tschi, -dschi und -i. -i-Diminutive finden sich allerdings auch in bairischen Regionen, insbesondere in kindgerichteter Sprache (KORECKY-KRÖLL / DRESSLER 2007), ebenso wie -erl-Diminutive, die zwar im Allgemeinen nicht als standarddeutsch gelten, jedoch gerade in bairischen Regionen Österreichs auch in schriftlichen Pressetexten häufig vorkommen (vgl. z. B. SCHWAIGER et al. 2017, 2019). Oberdeutsche Dialekte gelten generell als diminutivreicher als beispielsweise niederdeutsche Varietäten (WREDE 1908; SCHIRMUNSKI 1962; 2010; ELMENTALER 2013), was durch systematische quantitative areal-vergleichende Untersuchungen allerdings noch genauer überprüft werden müsste. Doch gerade bei Übersetzungsaufgaben erweist sich die wohl weitgehend pragmatisch bedingte Verweigerung der Produktion von Diminutiven bzw. ihre Ersetzung durch Simplizia auch im Süden als forschungspraktisches Problem (KORECKY-KRÖLL 2022). Die pragmatische Funktion von Diminutiven (als Ausdruck von Verniedlichung, Abschwächung, positiver oder negativer Emotionalität inkl. Mitleid und Ironie, vgl. DRESSLER / MERLINI BARBARESI 1994: 147–148) steht gegenüber der semantischen Bedeutung der Kleinheit üblicherweise im Vordergrund (vgl. z. B. WITTENBERG / TROTZKE 2021). WEISS (2005) betont allerdings, dass gerade bairische -(e)l-Diminutivformen häufig ihre ursprüngliche Diminutivbedeutung und damit auch ihre emotional-expressive Färbung verloren haben. Dies kommt zwar auch im Standard bzw. in anderen Varietäten wie beispielsweise im Alemannischen gelegentlich vor, im Bairischen scheint es jedoch besonders frequent zu sein. In vielen Fällen existiert zu den formalen Diminutiven auch kein Simplex mehr, wie z. B. für Beiddl ‘Bild’ (WEISS 2005: 218). WEISS bezeichnet diese Formen als unechte Diminutive, wenngleich

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auch der Begriff der festen Diminutive in der Literatur verbreitet ist (z. B. BRANDSTETTER 1963; MOSER 1969). ROWLEY (1997) sieht das Diminutivsuffix in diesen Fällen als reines „Stammbildungselement“ an, wobei WEISS (2005) dieses Stammbildungselement jedoch als „silbenstrukturell motiviert“ interpretiert, weil zweisilbige Wörter im Bairischen gegenüber einsilbigen generell präferiert werden. Doch auch -(e)l-Diminutive tragen die relevante pragmatische Bedeutung [+ informell] (vgl. DRESSLER / MERLINI BARBARESI 1994: 214), weshalb sie auch im vorliegenden Beitrag als Diminutive behandelt werden (vgl. auch KORECKY-KRÖLL 2022). Strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den drei Phänomenen wurden allerdings bislang kaum untersucht. Die Diskussion der phonologischen Umlautfeindlichkeit, aber morphologischen Umlautfreundlichkeit der oberdeutschen Varietäten (ANTONSEN 1969; NÜBLING 2013: 36–39; NÜBLING et al. 2017: 70–72) geht allerdings in diese Richtung: So war der phonologisch bedingte Umlaut (vor iund j-haltigen Silben, vgl. NÜBLING et al. 2017: 40) ursprünglich im Norden des deutschen Sprachraums weiter verbreitet als im Süden, wo vor allem umlauthindernde Velarkonsonanten stärker wirksam waren (IVERSON / SALMONS 2000; NÜBLING 2013: 37). Hingegen wurde der Umlaut im Süden, insbesondere im Alemannischen, durch die starke Tendenz zur -e- und -n-Apokope als morphologischer Marker stärker funktionalisiert (NÜBLING et al. 2017: 70–72). Österreich scheint nicht nur aufgrund der zu erwartenden großen Variation bei diesen morphologischen Phänomenen ein besonders geeignetes Untersuchungsgebiet für die vorliegende Studie zu sein, sondern auch aufgrund der soziolinguistischen Situation: Österreich lässt sich im Gegensatz zu Deutschland durch eine hohe Dialektloyalität und -kompetenz bei vergleichsweise vielen Sprecher*innen sowie einen häufigen Dialektgebrauch, insbesondere in den ländlichen Regionen, charakterisieren (vgl. LENZ 2019: 338–339, 348). Im Gegensatz zur diglossischen Schweiz wird zumindest für das bairischsprachige Österreich eine diaglossische Situation (AUER 2005) bzw. ein Dialekt-Standard-Kontinuum (AMMON 2003) mit „emisch und etisch fassbare[n] Varietäten oder zumindest Verdichtungsbereiche[n]“ (LENZ 2019: 352) angenommen. Das vormals diglossische Vorarlberg scheint sich allerdings ebenfalls in Richtung Diaglossie zu entwickeln, ist aber in dieser Entwicklung noch weniger weit fortgeschritten als der bairische Raum (vgl. SCHÖNHERR 2016; LENZ 2019: 352). Alter, Gender und Bildungsgrad spielen als soziodemographische Variablen in Bezug auf den Dialektgebrauch, die Dialektkompetenz bzw. -präferenz eine wichtige Rolle (STEINEGGER 1998; WIESINGER 2009; LENZ 2019) eine wichtige Rolle. So zeigen vor allem jüngere Frauen mit höherer Bildung in Städten eine besonders starke Hinwendung zum Standardsprachgebrauch sowie ausgeprägte Tendenzen der Dialektaufgabe (LENZ 2019: 342), wohingegen NORMs (CHAMBERS / TRUDGILL 1998: 29, für nonmobile, older, rural males) als besonders dialektloyal gelten. In Wien ist die österreichische Standardsprache aufgrund des niedrigen Prestiges des lokalen Dialekts besonders beliebt und weit verbreitet (vgl. MOOSMÜLLER 1991; STEINEGGER 1998), und als einzige Millionenstadt Österreichs übt Wien auch sprachlich einen großen Einfluss auf seine umliegenden Regionen aus (MOOSMÜLLER 1991; WIESINGER 1992; LENZ 2019).

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3 FORSCHUNGSFRAGEN Die folgenden Forschungsfragen stehen im Zentrum dieses Beitrags: –



– –

Welche diatopischen bzw. areal-horizontalen Unterschiede findet man bei der Adjektivsteigerung, der Pluralbildung und der Diminutivbildung bezüglich der linguistischen Variablen der (1) Standardkonformität sowie der Präsenz/Absenz von (2) Umlaut, (3) Derivationssuffix und (4) Pseudosuffix? Welche diastratischen bzw. soziodemographischen Unterschiede findet man bei diesen Kategorien der nichtprototypischen Morphologie? Produzieren jüngere Gewährspersonen mit höherer Bildung häufiger standardkonforme Komparative, Superlative, Plurale und Diminutive als ältere Gewährspersonen bzw. Gewährspersonen mit niedrigerer Bildung? Gibt es Gendereffekte? Welche diaphasischen Unterschiede in Bezug auf Standard- vs. Dialektsetting treten auf? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den drei Kategorien lassen sich feststellen? Gibt es statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen Adjektivsteigerung, Pluralflexion und Diminutivbildung bei denselben Gewährspersonen? 4 METHODE 4.1 Projektkontext

Diese Studie ist Teil des Spezialforschungsbereichs „Deutsch in Österreich. Variation – Kontakt – Perzeption“ (FWF F60), Projektteil PP03 „Sprachrepertoires und Varietätenspektren“ (vgl. LENZ 2018). Das Hauptziel dieses Projektteils ist die Untersuchung der Sprachproduktion Erwachsener aus ländlichen Regionen Österreichs auf der Dialekt-Standard-Achse. Die Datenerhebung fand von November 2016 bis Februar 2019 statt. Um verschiedene Varietäten ihres vertikalen Spektrums zu elizitieren, wurden die Gewährspersonen mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen konfrontiert, und zwar mit mündlichen Übersetzungsaufgaben aus dem Dialekt in das Standarddeutsche und umgekehrt sowie mit Sprachproduktionsexperimenten im Standard und im Dialekt. Formelle Interviews mit zuvor unbekannten Forscherinnen und Forschern von der Universität Wien wurden geführt, um den standardnahen spontanen Sprachgebrauch zu erheben, wohingegen informelle Freundesgespräche mit einer gut bekannten Person aus dem Heimatort der Gewährsperson auf den dialektnahen Spontansprachgebrauch abzielten. Zusätzlich wurden noch Bildbenennungs- und Vorleseaufgaben erhoben. Die vorliegende Studie beschränkt sich allerdings auf die Übersetzungsaufgaben und die Sprachproduktionsexperimente, weil diese für eine große Personenzahl gut vergleichbare Ergebnisse liefern und somit für einen Gesamtüberblick zur nichtprototypischen Flexion und Derivation auf der Dialekt-Standard-Achse geeignet erscheinen. Sie können als experimentell in einem weiteren Sinne bzw. als quasi-experimentell (vgl. BÜLOW / BREUER 2019: 255)

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angesehen werden, da zumindest eine Variable (in diesem Fall Dialekt- vs. Standardsetting) systematisch manipuliert worden ist, wenngleich nicht alle möglichen relevanten Variablen systematisch kontrolliert werden konnten. Im Vergleich zu den Interviews und Freundesgesprächen stellen die Übersetzungsaufgaben und die Sprachproduktionsexperimente allerdings stark kontrollierte Settings dar. Freie Gesprächsdaten werden im vorliegenden Beitrag nicht untersucht, weil die wesentlich aufwendigere Transkription, Kodierung und Analyse der Interviews und Freundesgespräche derzeit noch nicht weit genug fortgeschritten ist, um für alle Orte aussagekräftige Ergebnisse liefern zu können. 4.2 Orte und Gewährspersonen

Das Ziel der Ortsselektion war es, eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Erhebungsorte auf das gesamte Gebiet Österreichs zu gewährleisten (vgl. Abb. 2). Dreizehn Orte wurden schlussendlich ausgewählt, und zwar Raggal, Tarrenz, Tux, Hüttschlag, Weißbriach, Taufkirchen/Pram, Steyrling, Oberwölz, Neumarkt/Ybbs, Allentsteig, Passail, Neckenmarkt und Gaweinstal. Dabei musste auch die Größe der jeweiligen Dialektregion berücksichtigt werden: Da die alemannischsprachige Region nur einen kleinen Teil der Fläche Österreichs ausmacht, liegt hier nur ein einziger Erhebungsort (Raggal), wohingegen die mittelbairische Region einen großen Teil Österreichs umfasst und somit fünf Erhebungsorte beinhaltet (Taufkirchen/Pram, Steyrling, Neumarkt/Ybbs, Allentsteig und Gaweinstal).

Abb. 2: Die dreizehn Erhebungsorte innerhalb der Dialektregionen Österreichs und ihre Lage im Verhältnis zu den sechs größten Städten Österreichs (Wien, Graz, Linz, Salzburg, Innsbruck, Klagenfurt)

Die Gewährspersonen waren 147 Erwachsene (82 Frauen, 65 Männer) aus zwei verschiedenen Altersgruppen (jung: 18–35 Jahre, alt: 60+). Die junge Altersgruppe war dabei auch durch zwei unterschiedliche Bildungshintergründe (+/– Hochschulreife) vertreten, wohingegen die älteren Gewährspersonen ausschließlich der Gruppe ohne Hochschulreife angehörten. Alle Personen waren autochthone Bewohner eines der dreizehn oben erwähnten kleinen ländlichen Orte mit 500 bis 2.000 Ein-

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wohnern, d. h. sie hatten mehr als die Hälfte ihres Lebens in dem jeweiligen Ort verbracht und mindestens einer ihrer Elternteile stammte ebenfalls aus dem Ort. Tab. 1 zeigt die Verteilung der Gewährspersonen in jedem Ort hinsichtlich ihrer soziodemographischen Variablen. Altersgruppe Bildung Gender Raggal Tarrenz Tux Hüttschlag Weißbriach Taufkirchen/Pram Steyrling Oberwölz Neumarkt/Ybbs Allentsteig Passail Neckenmarkt Gaweinstal Total

alt –Hochschulreife f m 2 1 3 1 4 1 1 1 1 1 1 2 1 1 2 1 2 1 1 1 1 2 4 1 1 1 24 15

jung –Hochschulreife +Hochschulreife f m f m 2 1 4 2 5 1 2 3 2 2 1 3 3 2 1 1 3 2 3 1 2 4 2 3 2 2 1 1 6 1 1 2 3 2 4 4 2 2 3 1 2 2 3 1 4 4 21 20 37 30

Summe 12 12 13 11 11 10 11 12 11 10 11 12 11 147

Tab.1: Orte (von Westen nach Osten nach den Längengraden geordnet) und Gewährspersonen

Da mehr Frauen als Männer für eine Projektteilnahme gewonnen werden konnten, ist die Gendervariable nicht ganz ausgewogen verteilt. Dennoch sind beide Geschlechter in jedem Ort mit mindestens drei Personen vertreten, was bereits ein ausgewogeneres Verhältnis als in vielen früheren Erhebungen1 darstellt. Eine Erhebung von genügend älteren Gewährspersonen mit Hochschulreife wäre im Rahmen des Projekts realistischerweise nicht möglich gewesen, da deren Anteil im Durchschnitt bei unter 10 % an der Bevölkerung dieser Altersgruppe in den politischen Bezirken2 der Erhebungsorte liegt (s. Statistik Austria 2020). Während die ältere Gewährspersonengruppe zwar annähernd gleich über die Regionen und Orte verteilt ist (mit einer besonders hohen Teilnahmebereitschaft in Tux und Neckenmarkt), konnten trotz aller Bemühungen des Projektteams in den östlichen Orten (Steyrling bis Gaweinstal) weniger junge Personen ohne Hochschulreife zur 1

2

So wurden beispielsweise in den Erhebungen für den Deutschen Sprachatlas von Wenker 44.251 Bögen für 40.736 Orte (d. h. 1.086 Bögen pro Ort) zurückgesandt (vgl. URL: ; Stand: 03.01.2021), Für die meisten Orte wurden also die Daten einer einzigen Person eines Geschlechts erhoben. Die Bandbreite reicht für das Jahr 2018 von 8,07 % im Bezirk Schärding, wo Taufkirchen/Pram liegt, bis 11,21 % im Bezirk Hermagor, wo Weißbriach liegt. In allen dreizehn Bezirken zusammen liegt der Anteil von Personen mit Hochschulreife in der Altersgruppe 60+ bei 9,88 %. Es ist jedoch zu erwarten, dass dieser Anteil in den tatsächlich untersuchten ländlichen Erhebungsorten noch geringer ist, weil die Werte auf Bezirksebene auch Bezirkshauptstädte bzw. sonstige größere Städte umfassen, in denen das Bildungsniveau vermutlich höher ist.

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Teilnahme an der Erhebung motiviert werden (nämlich 17) als in den westlichen Orten (Raggal bis Taufkirchen/Pram: 24). Umgekehrt erklärten sich im Osten mehr junge Personen mit Hochschulreife (41) zu einer Teilnahme bereit als im Westen (26). Das lässt sich teilweise mit dem unterschiedlichen Bildungsniveau in den verschiedenen Regionen erklären: Summiert man die absoluten Zahlen aller Bildungsabschlüsse 2018 in den Altersgruppen 20–24 und 25–29 (die großteils der jüngeren Altersgruppe der Gewährspersonen entsprechen) nach politischen Bezirken (vgl. STATISTIK AUSTRIA 2020) und berechnet daraus die mittleren Prozentsätze pro Bezirk an der Gesamtzahl der Personen für diese Altersgruppen, ergibt sich ein durchschnittlicher Anteil von 66,01 % Personen ohne Hochschulreife für die Bezirke der westlichen Orte und ein Anteil von 61,94 % Personen ohne Hochschulreife für die Bezirke der östlichen Orte. Demnach scheint das Bildungsniveau im Osten etwas höher als im Westen zu sein. Die mangelnde Teilnahmebereitschaft junger Personen ohne Hochschulreife aus dem Osten lässt sich jedoch nicht nur durch ihren geringeren Anteil an der Gesamtbevölkerung dieser Altersgruppe erklären, sondern auch durch das geringere Prestige der Dialekte im Osten, das diese Gruppe offensichtlich besonders stark davon abhält, an solchen Erhebungen teilzunehmen. Junge Leute mit Hochschulreife aus dem Osten waren zwar ebenfalls schwer zu motivieren, sie ließen sich jedoch häufiger überzeugen, nachdem das Projektteam sie auf die große Bedeutung dieser Erhebung für die Forschung hingewiesen hatte. Um das Problem der partiellen Unausgewogenheit der soziodemographischen Gewährspersonenvariablen zu minimieren, wurden generalized linear mixed-effects models als statistische Methode gewählt (vgl. Abschnitt 4.5), da diese auch für unausgewogene Daten gut geeignet sind (vgl. z. B. LINCK / CUNNINGS 2015: 189). 4.3 Materialien und Erhebungsmethode Zwei verschiedene Erhebungsmethoden wurden in dieser Studie angewandt, und zwar Übersetzungsexperimente und Sprachproduktionsexperimente.

4.3.1 Übersetzungsexperimente Um Plurale und Diminutive zu erheben, wurden Übersetzungsexperimente vom Dialekt in den Standard sowie vom Standard in den Dialekt durchgeführt. Dabei kamen die in der traditionellen Dialektologie häufig verwendeten „Wenkersätze“ aus dem „Deutschen Sprachatlas“ (DSA 1927–1956) als Stimuli zum Einsatz. Im Gegensatz zu der schriftlichen indirekten Fragebogenerhebung GEORG WENKERS (für Details vgl. FLEISCHER 2017), in der die Gewährspersonen die standarddeutschen Sätze in den jeweiligen Ortsdialekt übersetzen sollten, wurde in der aktuellen Untersuchung auf direkte Erhebungen der mündlichen Produktion der Gewährspersonen fokussiert (wie das auch im Projekt „Sprachvariation in Norddeutschland“ der Fall war, vgl. z. B. ELMENTALER 2013). Im Vorfeld der Erhebungen war eine Audioaufnahme einer autochthonen Dialektsprecherin/eines

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autochthonen Dialektsprechers aus dem jeweiligen Ort beim Sprechen der Dialektsätze bzw. eine Audioaufnahme eines Nachrichtensprechers des Österreichischen Rundfunks (ORF) beim Sprechen der Sätze im Standarddeutschen erstellt worden, die den Gewährspersonen bei der Erhebung vorgespielt wurde. Die Gewährspersonen wurden im Standarddurchgang explizit darum gebeten, die Sätze im Dialekt in ihr „bestes Hochdeutsch“ (oder eine vergleichbare Varietätenbezeichnung, die sie selbst im Interview verwendet hatten) zu übersetzen. Im Dialektdurchgang sollten sie hingegen die Sätze im Standard in ihren „besten Dialekt“ (oder eine entsprechende Varietätenbezeichnung aus dem Interview) übersetzen (vgl. a. KORECKYKRÖLL 2022). Die folgenden 19 Wenkersätze (hier in ihrer standarddeutschen Version) dienten als Stimuli zur Erhebung der insgesamt 24 Plurale und Diminutive (Formatierung der 16 Plurale von Simplex-Nomina im Fettdruck, Kursivsetzung der 4 Diminutive im Singular, Fett- und Kursivsetzung der 4 Diminutive im Plural sowie Anpassung an die aktuelle Rechtschreibung durch mich, KKK, Nummerierung der Sätze nach dem DSA in eckigen Klammern): – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

3

[1] Im Winter fliegen die trockenen Blätter in der Luft herum. [3] Tu Kohlen in den Ofen, dass die Milch bald an zu kochen fängt. [5] Er ist vor vier oder sechs Wochen gestorben. [6] Das Feuer war zu stark, die Kuchen sind ja unten ganz schwarz gebrannt. [7] Er isst die Eier immer ohne Salz und Pfeffer. [8] Die Füße tun mir sehr weh, ich glaube, ich habe sie durchgelaufen. [11] Ich schlage dich gleich mit dem Kochlöffel um die Ohren, du Affe. [13] Es sind schlechte Zeiten. [14] Mein liebes Kind, bleib hier unten stehen, die bösen Gänse beißen Dich tot. [17] Geh, sei so gut und sag deiner Schwester, sie soll die Kleider für eure Mutter fertig nähen und mit der Bürste rein machen. [26] Hinter unserm Hause stehen drei schöne Apfelbäumchen mit roten Äpfelchen. [27] Könnt ihr nicht noch ein Augenblickchen auf uns warten, dann gehen wir mit euch. [28] Ihr dürft nicht solche Kindereien treiben! [29] Unsere Berge sind nicht sehr hoch, die euren sind viel höher. [31] Ich verstehe euch nicht, ihr müsst ein bisschen lauter sprechen.3 [32] Habt ihr kein Stückchen weiße Seife für mich auf meinem Tische gefunden? [33] Sein Bruder will sich zwei schöne neue Häuser in eurem Garten bauen. [36] Was sitzen da für Vögelchen oben auf dem Mäuerchen? [37] Die Bauern hatten fünf Ochsen und neun Kühe und zwölf Schäfchen vor das Dorf gebracht, die wollten sie verkaufen.

Auch wenn bisschen aus synchroner Perspektive kein Nomen, sondern ein Pronomen und außerdem eine sehr stark lexikalisierte Diminutivform ist, so verhält es sich bezüglich der arealen Variation trotzdem sehr ähnlich wie typische nominale Diminutive. Daher wurde es in die vorliegenden Analysen zu Diminutiven miteinbezogen.

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4.3.2 Sprachproduktionsexperimente Da die Wenkersätze nur sehr wenige4 Komparative und Superlative enthalten und die Adjektivsteigerung des Deutschen in Österreich auf der Dialekt-StandardAchse vor dem Beginn des SFB „Deutsch in Österreich“ noch sehr wenig erforscht war, wurde ein eigenes Sprachproduktionsexperiment zur Erhebung der Adjektivsteigerung erstellt (vgl. KORECKY-KRÖLL 2020). Davon gab es ebenfalls jeweils eine standarddeutsche und eine dialektale Version. Allerdings ging es hier nicht um die Übersetzung von einer Varietät in die andere, sondern die Experimente wurden komplett im Standard bzw. im Dialekt durchgeführt. In der Standardversion sprach der Nachrichtensprecher zu einem passenden Bild einen Satz, der das Adjektiv im Positiv enthielt. Dann begann er einen zweiten Satz, in dem die Gewährsperson den Komparativ ergänzen sollte. Und schließlich begann er einen dritten Satz, den die Gewährsperson mit einem Superlativ vervollständigen sollte. Das lief folgendermaßen ab: (1) Nachrichtensprecher: Gewährsperson 0033: Nachrichtensprecher: Gewährsperson 0033:

die haare sind dunkel. die haare sind noch? dunkler. und die haare sind am? dunkelsten.

Der Dialektdurchgang lief genauso ab; nur wurden die Sätze wiederum von einem Dialektsprecher oder einer Dialektsprecherin aus dem jeweiligen Erhebungsort vorgesprochen. Wie bei den Übersetzungsexperimenten wurden die Gewährspersonen wieder explizit darum gebeten, ihr „bestes Hochdeutsch“ bzw. ihren „besten Dialekt“ zu verwenden. Die folgenden fünf Adjektivklassen wurden untersucht, die jeweils drei Stimuli pro Klasse, also insgesamt fünfzehn Stimuli, enthielten: – – – – –

4

einsilbig, ohne umlautfähigen Stammvokal im Standard: heiß, tief, hell einsilbig, mit umlautfähigem Stammvokal, aber ohne Umlaut im Standard: flach, voll, rund einsilbig, mit umlautfähigem Stammvokal und Umlaut im Standard: kalt, kurz, stark mehrsilbig mit Derivationssuffix (im Standard nie umgelautet): stachelig, lustig, eckig mehrsilbig und monomorphemisch (d. h. mit finalem Pseudosuffix, im Standard ebenfalls ohne Umlaut): dunkel, trocken, sauer

Selbst wenn man Adverbien hinzurechnet, kommt man nur auf sechs Komparative und einen Superlativ, wobei es kein Adjektivlemma gibt, von dem sowohl Komparativ als auch Superlativ abgefragt werden.

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4.4 Datenbasis Irrelevante Antworten, die das vorgegebene Substantiv oder Adjektiv nicht enthielten, sowie Metakommentare wurden aus der Analyse ausgeschlossen. Ebenso wurden relevante Mehrfachantworten derselben Gewährspersonen in die Analyse eingeschlossen, wenn sie das vorgegebene Lemma bezeichneten. Spezielle Dialektlemmata (z. B. die südbairische Form Hap für Schaf) wurden ebenfalls miteinbezogen. Singulare, die an Stelle von Pluralen vorkamen, wurden aus den Pluralanalysen ausgeschlossen, aber sofern sie diminuiert waren, in die Diminutivanalysen miteinbezogen (z. B. was sitzt da für ein Vögelchen statt was sitzen da für Vögelchen). Ebenso wurden Simplizia, die an Stelle von Diminutiven produziert worden waren, aus den Diminutivanalysen ausgeschlossen, aber falls sie im Plural vorkamen, in die Pluralanalysen miteinbezogen (z. B. mit roten Äpfeln statt mit roten Äpfelchen). Als Quelle für die Festlegung der präferierten standarddeutschen5 Form wurde für alle drei Phänomene die aktuelle Duden-Grammatik (Duden 2016) herangezogen. Bei den Diminutiven wurden sowohl -chen- als auch -lein-Formen als standardkonform gewertet (LAMELI 2018). Bei den Pluralen wurden die in den Wenkersätzen [1] bis [37] angeführten Formen (vgl. Abschnitt 4.3.1) als standardkonform kodiert, ebenso Nullplurale von Diminutiven mit -lein oder Schwasilbe (-erl, -el, -erle). Weitere Nullplurale oder Umlautplurale (z. B. solche mit -e-Apokope wie unsere Berg oder die Fiaß) zählten hingegen zu den nicht standardkonformen Formen. Die finale Datenbasis bestand aus insgesamt 17.410 relevanten Antworten, wobei nur 1.877 Antworten auf Wenkersätze mit Diminutiven (bedingt durch die häufige Ersetzung von Diminutiven durch Simplizia, vgl. KORECKY-KRÖLL 2022), 6.558 Antworten auf Wenkersätze mit Pluralen und 8.975 Antworten auf das Sprachproduktionsexperiment zur Adjektivsteigerung entfielen. 1.131 Formen waren pluralisierte Diminutive, die sowohl für die Pluralflexion als auch für die Diminutivbildung ausgewertet und daher bei der Gesamtzahl der Antworten doppelt gezählt wurden. 4.5 Statistische Auswertung Mit Hilfe des lme4-Pakets (BATES et al. 2015) von R (R CORE TEAM 2018) wurden verallgemeinerte lineare gemischte Regressionsanalysen (generalized linear mixedeffects models oder glmer) durchgeführt, um die Beziehung zwischen besonders relevanten Eigenschaften der von den untersuchten Gewährspersonen produzierten 5

Bei den in den Experimenten untersuchten Stimuli gab es keine Zweifelsfälle, welche die präferierte Standardform war, da alle im Duden überhaupt erwähnten Abweichungen mit „regional“ gekennzeichnet waren (z. B. -el-, -erl-, und -erle-Diminutive oder der Superlativ trocknesten im Gegensatz zur Standardform trockensten); im Duden gar nicht erwähnte Abweichungen (z. B. -lan-Diminutive) wurden ebenfalls als nicht standardkonform gewertet. Relevant ist die Festlegung der präferierten Duden-Standardform innerhalb des Projekts also vor allem für die freien Gespräche, in denen auch weitere Formen mit konkurrierenden Standardformen vorkommen können (z. B. ist der Komparativ roter laut Duden 2016: 373 seltener als der Komparativ röter, und Letzterer entspräche somit der präferierten Standardform).

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Wortformen (d. h. Komparativen, Superlativen, Substantivpluralen, Diminutiven) als abhängigen Variablen und verschiedenen unabhängigen Variablen, die sich auf die Gewährspersonen, die Stimuli, die Regionen und das Experiment beziehen, zu berechnen. Die abhängigen Variablen sind in allen Analysen binär definiert: Eine Kodierung mit 1 entspricht dabei dem Vorhandensein einer Eigenschaft (z. B. der Übereinstimmung mit der vom Duden präferierten Standardform in der ersten Analyse, vgl. 5.1), während eine Kodierung mit 0 darauf hinweist, dass diese Eigenschaft nicht vorhanden ist (z. B., dass die Form nicht mit der präferierten DudenStandardform übereinstimmte). In der zweiten Analyse wird die Präsenz bzw. Absenz eines Umlauts (vgl. 5.2) untersucht, in der dritten Analyse das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein eines Derivationssuffixes (vgl. 5.3) und in der vierten Analyse die Präsenz bzw. Absenz eines Pseudosuffixes (vgl. 5.4). Die finalen Analysen (vgl. 5.5) untersuchen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Phänomenen innerhalb derselben Gewährspersonen. Fixe Gewährspersonenvariablen sind Altersgruppe, Bildungshintergrund und Gender. Der regionale Aspekt wird durch die logarithmisch normalisierte Entfernung (in Kilometern) des jeweiligen Ortes zur Hauptstadt Wien operationalisiert, wo österreichisches Standarddeutsch sehr verbreitet ist und der lokale Dialekt ein besonders niedriges Prestige hat (MOOSMÜLLER 1991; STEINEGGER 1998). Diese Vorgangsweise hat sich bereits bei einigen anderen Untersuchungen derselben Gewährspersonen bewährt (KORECKY-KRÖLL 2020; KORECKY-KRÖLL 2022). Linguistische Variablen umfassen für alle drei Phänomene die Präsenz/Absenz eines Umlauts, Derivationssuffixes und Pseudosuffixes, bei Substantiven außerdem das Genus der Substantivwortform, Diminutiv ja/nein, Singular/Plural. Eine fixe Experimentvariable ist das Setting (Standarddurchgang vs. Dialektdurchgang). Die IDs der Gewährspersonen sowie die standarddeutschen Wortformen der Stimuli wurden den Modellen als zufällige Variablen (random variables) vorgegeben. Für alle Fragestellungen der Abschnitte 5.1 bis 5.4 wurden mittels bidirektionaler Variablenselektion (LEVSHINA 2015: 149) viele unterschiedliche Modelle gerechnet. Die Modelle wurden anhand ihrer AIC-Werte (Akaike Information Criterion) verglichen: je kleiner der AIC-Wert eines bestimmten Modells ist, desto besser ist die Anpassung des Modells (LEVSHINA 2015: 149). Einfachere Modelle mit weniger Variablen werden dabei gegenüber komplexeren Modellen bevorzugt; Modelle sollten also nur jene Variablen enthalten, die maßgeblich zur Erklärung der Varianz beitragen, und komplexe Modelle mit zu vielen wenig relevanten Variablen werden durch hohe AIC-Werte „bestraft“ (LEVSHINA 2015: 149). Im Text werden vorrangig die Ergebnisse der jeweils besten Modelle beschrieben. Für die Zusammenhänge zwischen den Phänomenen auf Gewährspersonenebene (vgl. Abschnitt 5.5) wurden Pearson-Korrelationen mit Hilfe der Funktion cor.test berechnet. In allen Analysen wurden die folgenden Signifikanzniveaus herangezogen: *** p < 0,001, ** p < 0,01, * p < 0,05, p < 0,1 (nichtsignifikanter Trend).

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5 ERGEBNISSE 5.1 Standardkonformität Bezüglich der soziodemographischen Variablen, der Regionalität und der Settingvariablen sehen die Ergebnisse zur Standardkonformität, d. h. zur morphologischen Übereinstimmung der von der Gewährsperson produzierten Form mit der präferierten Duden-Standardform, folgendermaßen aus: Für die Adjektivsteigerung6 (R2 (conditional) = 0,489, R2 (marginal) = 0,107) finden wir einen signifikanten Effekt der Altersgruppe, der zeigt, dass jüngere Gewährspersonen mehr standardkonforme Komparative und Superlative produzieren (β = 0,600, SE = 0,161, z = 3,716, p < 0,001***). Die Entfernung von Wien liefert ebenfalls einen signifikanten negativen Effekt, der darauf hinweist, dass in weit von Wien entfernten Orten besonders wenige standardkonforme Steigerungsformen zu finden sind (β = -1,057, SE = 0,224, z = -4,728, p < 0,001***). Das Setting ‚Dialekt vs. Standard‘ allein zeigt zwar keinen signifikanten Effekt; dennoch gibt es zwei signifikante Interaktionseffekte, die die Settingvariable involvieren, und zwar einen Interaktionseffekt zwischen dem Setting und der Entfernung von Wien (β = 0,852, SE = 0,227, z = 3,759, p < 0,001***) und einen Interaktionseffekt zwischen dem Setting und der Altersgruppe (β = 0,381, SE = 0,160, z = -2,377, p = 0,017*). Der erste Interaktionseffekt illustriert, dass in weit von Wien entfernten Orten im Dialektsetting besonders wenige standardkonforme Komparative und Superlative produziert werden (vgl. Abb. 3a). Der zweite Interaktionseffekt zeigt, dass ältere Gewährspersonen im Dialektsetting weniger standardkonforme Steigerungsformen verwenden als jüngere Gewährspersonen. Im Gegensatz zur Adjektivsteigerung gibt es bei der Pluralflexion der Substantive (R2 (conditional) = 0,706, R2 (marginal) = 0,439) keinen Effekt der Altersgruppe und auch die Modellgüte verbessert sich, wenn die Altersgruppe nicht berücksichtigt wird. Doch man findet – wie bei der Adjektivsteigerung – einen signifikanten Effekt der Entfernung von Wien (β = -1,668, SE = 0,216, z = -7,728, p < 0,001***), der unterstreicht, dass in weit von Wien entfernten Orten weniger standardkonforme Plurale produziert werden. Diesmal zeigt sich jedoch nur ein nichtsignifikanter Trend zwischen der Entfernung von Wien und dem Setting (β = 0,733, SE = 0,387, z = 1,895, p = 0,058., vgl. Abb. 3b). Dafür zeigt die Settingvariable allein einen signifikanten Effekt, der darauf hinweist, dass – wie

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Umfangreiche Detailanalysen zur Adjektivsteigerung in demselben Gewährspersonensample sind in KORECKY-KRÖLL (2020) zu finden; der vorliegende Beitrag beschränkt sich nur auf einige ausgewählte Ergebnisse bzw. die jeweils besten Modelle daraus. Zur Bestimmung der Effektstärken der Modelle werden die R2-Werte (also die durch das jeweilige Modell erklärte Varianz als Anteil der Gesamtvarianz, Werte immer zwischen 0 und 1) angegeben (vgl. NAKAGAWA / SCHIELZETH 2013). R2 (conditional) gibt die Varianz an, die sowohl durch die fixen als auch durch die zufälligen Variablen erklärt wird, R2 (marginal) gibt hingegen die Varianz an, die nur durch die fixen Variablen erklärt wird.

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erwartbar – im Standardsetting signifikant mehr standardkonforme Plurale produziert werden (β = 2,705, SE = 0,904, z = 2,994, p = 0,003**).

Abb. 3a: Standardkonformität bei der Adjektivsteigerung: Interaktionseffekt zwischen Entfernung von Wien und Setting7

Abb. 3b: Standardkonformität bei der Pluralflexion: Trend einer Interaktion zwischen Entfernung von Wien und Setting

Abb. 3c: Standardkonformität bei der Diminutivbildung: Interaktionseffekt zwischen Entfernung von Wien und Setting

Die Diminutivbildung (R2 (conditional) = 0,875, R2 (marginal) = 0,695) zeigt wiederum einen signifikanten Effekt der Altersgruppe (β = 1,452, SE = 0,441, z = 3,292, p < 0,001***), dem zufolge jüngere Gewährspersonen mehr standardkonforme Diminutive produzieren. Wie bereits bei der Adjektivsteigerung und der Pluralflexion findet man auch bei der Diminutivbildung einen signifikanten Effekt der Entfernung von Wien (β = -2,631, SE = 0,663, z = -3,971, p < 0,001***) – wiederum treten in größerer Entfernung von Wien weniger standardkonforme Diminutive auf. Ein signifikanter Interaktionseffekt zwischen der Entfernung von Wien und dem Setting (β = 2,458, SE = 1,0361, z = 2,373, p = 0,018*) deutet darauf hin, dass in weit von Wien entfernten Orten im Dialektsetting besonders wenige standardkonforme Diminutive verwendet werden (vgl. Abb. 3c). Die Abb. 3a–3c, die jeweils die Interaktionseffekte bzw. -trends zwischen der Entfernung von Wien und dem Setting für alle drei Phänomene abbilden, illustrieren außerdem, dass bei der Adjektivsteigerung auch im Dialektsetting vergleichsweise viele Formen mit standardkonformer Morphologie verwendet werden, wohingegen dies bei der Diminutivbildung nur sehr selten der Fall ist und die Pluralflexion eine Zwischenposition einnimmt.

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In Abb. 3a–c ist auf der x-Achse die logarithmisch normalisierte Entfernung von Wien (von Ost nach West) abgebildet. Auf der y-Achse wird der Anteil (von 0–1, d. h. von 0–100 %) der standardkonformen Formen dargestellt. Die gestrichelte Linie zeigt den Anteil der standardkonformen Formen im Standarddurchgang an (bei allen drei Phänomenen nahe bei 100 %) und die durchgezogene Linie den Anteil der standardkonformen Formen im Dialektdurchgang.

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Das Gender der Gewährspersonen zeigt bei keinem der drei Phänomene einen signifikanten Effekt und auch die Modellgüte sinkt, sobald man die Gendervariable inkludiert. Der Bildungshintergrund scheint hingegen relevant zu sein; allerdings korreliert er stark mit der Altersvariablen, da nur ältere Gewährspersonen mit niedriger Bildung untersucht wurden. Und sowohl bei der Adjektivsteigerung als auch bei der Diminutivbildung zeigt die Altersvariable einen stärker signifikanten Effekt als der Bildungshintergrund, und auch die Modellgüte steigt, wenn die Altersgruppe an Stelle des Bildungshintergrundes inkludiert wird. Bei der Pluralflexion scheinen hingegen weder Alter noch Bildung relevant zu sein. Werden nun auch linguistische Eigenschaften der Stimuli miteinbezogen, kommt es zu einer weiteren Verbesserung der Modellgüte: Bei der Adjektivsteigerung (R2 (conditional) = 0,595, R2 (marginal) = 0,230) erweist sich die Präsenz eines Derivationssuffixes als besonders relevante linguistische Eigenschaft im Hinblick auf die Standardkonformität, wobei es sich allerdings um einen negativen Effekt handelt: Komparative und Superlative mit Derivationssuffix werden signifikant seltener standardkonform produziert (β = 1,081, SE = 0,361, z = -2,997, p = 0,003**). Wie bereits in Abschnitt 2 erwähnt, werden in den österreichischen Dialekten bei der Adjektivsteigerung häufig zusätzliche Derivationssuffixe eingefügt (LIPOLD 1983: 1234), entweder direkt an die Basisform (wie im Tarrenzer Superlativ rund-igschte) oder als Ersatz für ein Pseudosuffix (wie im Steyrlinger Komparativ dunklich-er, vgl. KORECKY-KRÖLL 2020: 46). Bei der Pluralflexion (R2 (conditional) = 0,837, R2 (marginal) = 0,603) scheinen hingegen sowohl das grammatische Genus der Substantivwortform als auch die Präsenz eines Pseudosuffixes eine wesentliche Rolle zu spielen: So werden Plurale von Neutra signifikant häufiger standardkonform produziert (β = 3,431, SE = 0,728, z = 4,714, p < 0,001***), was u. a. daran liegen könnte, dass 4 von 9 neutralen Pluralstimuli Diminutive sind (vgl. Abschnitt 4.3.1), die sowohl im Standard als auch in den meisten Dialekten einen standardkonformen Nullplural bilden – dennoch zeigt ein Modell, das anstelle des Genus die Variable Diminutiv +/– enthält, eine etwas schlechtere Anpassung als das Modell mit der Genusvariablen. Außerdem werden Plurale von Substantiven mit Pseudosuffix signifikant häufiger standardkonform produziert (β = 5,184, SE = 0,387, z = 13,403, p = 0,001***), wohl weil Pseudosuffixe im Dialektsetting generell seltener vorkommen (wie man z. B. am standarddeutschen Plural Bauern – mit -er-Pseudosuffix – im Vergleich zum westmittelbairischen Plural Bau-n und zum alemannischen Plural Buur-e, die keine Pseudosuffixe enthalten, sehen kann). Bei der Diminutivbildung (R2 (conditional) = 0,975, R2 (marginal) = 0,711) erweisen sich die Präsenz eines Umlauts und – wie schon bei der Pluralflexion – auch die Präsenz eines Pseudosuffixes als besonders relevante linguistische Variablen: Diminutive, die einen Umlaut enthalten, werden signifikant häufiger standardkonform produziert (β = 12,269, SE = 1,788, z = 6,860, p < 0,001***), was vermutlich an der „Umlautfeindlichkeit“ (vgl. NÜBLING 2013) der überwiegend aus bairischen Regionen stammenden dialektalen -erl- und -(e)l-Diminutive liegt. Und auch Diminutive von Substantiven mit Pseudosuffix werden signifikant häufiger standardkonform produziert (β = 8,518, SE = 1,201, z = 7,095, p < 0,001***), weil in dialektalen

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Diminutiven das Pseudosuffix häufig getilgt wird (wie etwa in der mittelbairischen Diminutivform Vog-erl, die kein Pseudosuffix hat, im Vergleich zur Standardform Vögel-chen, die ein -el-Pseudosuffix enthält). Bei der Frage der Standardkonformität spielen also vor allem die soziodemographische Altersvariable (allerdings nur bei der Adjektivsteigerung und der Diminutivbildung), die regionale Variable der Entfernung von Wien, das Setting (Dialekt vs. Standard) und je nach Phänomen unterschiedliche linguistische Variablen, wie etwa die Präsenz oder Absenz von Derivationssuffix, Pseudosuffix oder Umlaut, eine Rolle. 5.2 Mehr oder weniger Umlaut im Dialekt? Auf die Frage, ob der Umlautgebrauch in den dialektalen oder den standardsprachlichen nichtprototypischen morphologischen Formen des Deutschen in Österreich frequenter oder weniger frequent ist, gibt die Literatur widersprüchliche Antworten. Einerseits wird vielfach auf die phonologische Umlautfeindlichkeit des Oberdeutschen hingewiesen, die in gewissem Widerspruch zu einer morphologischen Umlautfreundlichkeit steht (vgl. NÜBLING 2013), andererseits findet man jedoch insbesondere bei der Adjektivsteigerung sehr wohl spezielle dialektale Formen mit Umlaut, wie sie im Standarddeutschen nicht vorkommen (vgl. KORECKY-KRÖLL 2020: 31, mit Beispielen aus PUHR 1969; MAUSER 1998; JUTZ 1925). Tatsächlich zeigt die Adjektivsteigerung (R2 (conditional) = 0,893, R2 (marginal) = 0,035) wiederum einen Effekt der Altersgruppe (d. h. junge Gewährspersonen verwenden Umlaut signifikant seltener als ältere, β = -0,661, SE = 0,209, z = -3,157, p = 0,002**), einen positiven Effekt der Entfernung von Wien (d. h. in weiter von Wien entfernten Orten wird signifikant mehr Umlaut verwendet, β = 1,494, SE = 0,308, z = 4,856, p < 0,001***) und einen Interaktionseffekt zwischen der Entfernung von Wien und dem Setting (d. h. Umlaut wird in weit von Wien entfernten Regionen im Dialektsetting besonders häufig verwendet, wohingegen der Umlautgebrauch im Standardsetting überall sehr ähnlich ist, β = -1,356, SE = 0,312, z = -4,353, p < 0,001***, vgl. Abb. 4a). Obwohl die Settingvariable allein nur einen nichtsignifikanten Trend zeigt (β = 1,194, SE = 0,714, z = 1,673, p = 0.094.), weisen diese Ergebnisse dennoch deutlich darauf hin, dass der Umlautgebrauch in den Dialekten höher als im Standard ist (vgl. KORECKY-KRÖLL 2020: 45–46). Bei der Pluralflexion (R2 (conditional) = 0,984, R2 (marginal) = 0,662) ist allerdings das Gegenteil der Fall: Im Standarddurchgang wird signifikant mehr Umlaut verwendet als im Dialektdurchgang (β = 1,808, SE = 0,533, z = 3,391, p < 0,001***). Außerdem finden wir einen signifikanten Genuseffekt: Neutrale Substantive erhalten signifikant seltener einen umgelauteten Plural (β = 6,228, SE = 2,235, z = -2,786, p < 0,005**). Die Variable, die die Präsenz/Absenz eines Derivationssuffixes anzeigt, sowie eine Interaktion zwischen Setting und Genus der Substantivwortform sind zwar nicht signifikant, tragen aber zur Verbesserung der Modellgüte bei. Abb. 4b zeigt ebenfalls keine signifikante Interaktion (zwischen

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Entfernung von Wien und Setting); sie dient in erster Linie dem Vergleich mit den anderen beiden Phänomenen.

Abb. 4a: Umlautgebrauch bei Adjektivsteigerung: Signifikanter Interaktionseffekt zwischen Entfernung von Wien und Setting8

Abb. 4b: Umlautgebrauch bei der Pluralflexion: Interaktion zwischen Entfernung von Wien und Setting (nicht signifikant)

Abb. 4c: Umlautgebrauch bei der Diminutivbildung: Interaktion zwischen Entfernung von Wien und Setting (nicht signifikant)

Die Diminutivbildung zeigt mehr Parallelen zur Pluralflexion als zur Adjektivsteigerung: Ein sehr einfaches Modell, das nur die Settingvariable beinhaltet, liefert das Ergebnis, dass Diminutive mit Umlaut im Standarddurchgang signifikant häufiger als im Dialektdurchgang auftreten (β = 4,301, SE = 0,370, z = 11,614, p < 0,001***; für eine nicht signifikante Interaktion zwischen Setting und Entfernung von Wien s. Abb. 4c). Das beste Modell zum Umlaut in der Diminutivbildung (R2 (conditional) = 0,905, R2 (marginal) = 0,378) schließt zwar wiederum das Setting mit ein, das sich hier allerdings nicht mehr als signifikant erweist, sondern nur in einer signifikanten Interaktion mit der Numerusvariablen steht, die selbst wiederum nicht signifikant ist. Dieser Interaktionseffekt zwischen Setting und Numerus besagt, dass im Standarddurchgang signifikant mehr pluralisierte Diminutive mit Umlaut vorkommen (β = 6,516, SE = 0,949, z = 6,869, p < 0,001***). Als weitere relevante Variable erweist sich die Präsenz/Absenz eines Pseudosuffixes: Wenn die Diminutivform ein Pseudosuffix beinhaltet, beinhaltet sie auch signifikant häufiger einen Umlaut (β = 3,653, SE = 0,737, z = 4,954, p < 0,001***). Und schließlich ist hier erstmals der Bildungshintergrund die einzig signifikante soziodemographische Variable: Gewährspersonen ohne Hochschulreife verwenden signifikant seltener Umlaut bei der Diminutivbildung (β = -0,993, SE = 0,3546, z = -2,801, p = 0,005**).

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In Abb. 4a–c ist auf der x-Achse die logarithmisch normalisierte Entfernung von Wien (von Ost nach West) abgebildet. Auf der y-Achse wird der Anteil (von 0–1, d. h. von 0–100 %) der umgelauteten Formen dargestellt. Die gestrichelte Linie zeigt den Anteil umgelauteten Formen im Standarddurchgang und die durchgezogene Linie den Anteil der umgelauteten Formen im Dialektdurchgang.

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Die Abb. 4a–4c, die jeweils die Interaktionen zwischen der Entfernung von Wien und dem Setting für alle drei Phänomene abbilden (wobei allerdings nur die Adjektivsteigerung einen signifikanten Interaktionseffekt aufweist), zeigen außerdem, dass ein häufiger Umlautgebrauch nur bei der Adjektivsteigerung ganz klar mit dem Dialektdurchgang assoziiert ist, wohingegen bei der Pluralflexion und besonders bei der Diminutivbildung die umgelauteten Formen im Standarddurchgang häufiger sind. 5.3 Mehr Derivation im Dialekt? Bei der Frage, ob Derivationssuffixe im Standard oder in den Dialekten häufiger sind, beschränken wir uns auf die Adjektivsteigerung und die Pluralflexion, da Diminutive per definitionem ein Derivationssuffix enthalten und diesbezüglich somit keinerlei Variation zu erwarten ist. Bei der Adjektivsteigerung (R2 (conditional) = 0,986, R2 (marginal) = 0,012) zeigt sich insofern ein Effekt der Altersgruppe, als jüngere Gewährspersonen signifikant weniger Derivationssuffixe verwenden als ältere (β = -0,986, SE = 0,473, z = -2,086, p = 0,037*). Außerdem findet man einen Settingeffekt (β = -4,982, SE = 0,924, z = 5,395, p < 0,001***), der darauf hinweist, dass im Standarddurchgang signifikant weniger Derivationssuffixe auftreten (bzw. im Dialektdurchgang entsprechend mehr). Dazu passend gibt es noch einen signifikanten positiven Effekt der Entfernung von Wien, der besagt, dass Derivationssuffixe in weit von Wien entfernten Orten häufiger auftreten (β = 1,903, SE = 0,684, z = 2,782, p = 0,005**). Und schließlich weist noch ein Interaktionseffekt zwischen Setting und Altersgruppe darauf hin, dass ältere Gewährspersonen im Dialektsetting signifikant mehr Derivationssuffixe verwenden (β = 2,726, SE = 0,8692, z = 3,136, p = 0,002**). Bei der Adjektivsteigerung weisen also alle Ergebnisse darauf hin, dass Derivationssuffixe tatsächlich im Dialekt häufiger sind. Ähnliches trifft auf die Pluralflexion (R2 (conditional) = 0,992, R2 (marginal) = 0,500) zu: Wir finden ebenfalls einen signifikanten Settingeffekt, der illustriert, dass im Standarddurchgang weniger Derivationssuffixe verwendet werden (β = -1,482, SE = 0,155, z = -9,557, p < 0,001***). Wie schon bei der Standardkonformität und beim Umlaut ist das Genus der Substantivwortform wiederum relevant: Neutra enthalten signifikant häufiger ein Derivationssuffix (β = 21,102, SE = 5,661, z = 3,728, p < 0,001***), was wohl an den innerhalb der Wenkersätze relativ zahlreichen pluralisierten Diminutiven liegt, die alle neutrales Genus haben. Außerdem enthalten Plurale mit Pseudosuffix signifikant seltener ein Derivationssuffix (β = -11,021, SE = 3,918, z = -2,813, p = 0,005**). 5.4 Mehr Pseudosuffixe im Standard? Da Pseudosuffixe in den Dialekten häufig getilgt bzw. durch Derivationssuffixe ersetzt werden, könnte man annehmen, dass Pseudosuffixe im Standard häufiger sind.

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Tatsächlich finden wir für die Adjektivsteigerung, die Pluralflexion und die Diminutivbildung in den jeweils einfachsten Modellen, die nur die Settingvariable als fixe unabhängige Variable haben, signifikante positive Settingeffekte (Adjektivsteigerung: β = 0,563, SE = 0,221, z = 7,091, p < 0,001***; Pluralflexion: β = 6,026, SE = 0,465, z = 12,953, p < 0,001***; Diminutivbildung: β = 10,793, SE = 1,272, z = 8,485, p < 0,001***), die darauf hinweisen, dass diese Hypothese auf alle drei Phänomene zutrifft und dass Pseudosuffixe somit stark mit dem Standardsetting assoziiert sind. Die jeweils besten Modelle sind allerdings komplexer und beinhalten noch weitere Variablen, die abhängig vom Phänomen teilweise ähnlich, teilweise jedoch auch unterschiedlich aussehen. Bei der Adjektivsteigerung (R2 (conditional) = 0,969, R2 (marginal) = 0,006) zeigt sich ein signifikanter negativer Effekt der Entfernung von Wien, der besagt, dass in weit von Wien entfernten Orten weniger Pseudosuffixe verwendet werden (β = -1,187, SE = 0,436, z = -2,725, p = 0,006**). Außerdem finden wir einen positiven Trend einer Interaktion zwischen der Entfernung von Wien und dem Setting (β = 1,059, SE = 0,624, z = 1,697, p = 0,090), wohingegen die Settingvariable allein in diesem Modell keinen signifikanten Effekt liefert. Der Interaktionstrend weist darauf hin, dass Gewährspersonen aus den weit von Wien entfernten Orten Österreichs in ihren Dialekten etwas weniger Pseudosuffixe verwenden als Gewährspersonen in Orten in der Nähe von Wien. Die Pluralflexion (R2 (conditional) = 0,989, R2 (marginal) = 0,055) verhält sich ähnlich wie die Adjektivsteigerung, wenngleich die identifizierten Effekte etwas stärker sind: Ein signifikanter negativer Effekt der Entfernung von Wien weist wiederum darauf hin, dass in weit von Wien entfernten Orten weniger Pseudosuffixe zu finden sind (β = -2,379, SE = 0,425, z = -5,598, p < 0,001***). Und es gibt insofern einen signifikanten Interaktionseffekt zwischen der Entfernung von Wien und dem Setting (β = 1,992, SE = 0,888, z = 2,245, p = 0,025*), als in den Dialekten weiter von Wien entfernter Orte wiederum weniger Pseudosuffixe auftreten als in den Dialekten nahegelegener Orte. Außerdem trägt es zur Verbesserung der Modellgüte bei, wenn das Genus der Substantivwortform in das Modell inkludiert wird, obwohl die Genusvariable selbst keinen signifikanten Effekt zeigt. Auch die Diminutivbildung (R2 (conditional) = 0,996, R2 (marginal) = 0,087) weist gewisse Parallelen zu den beiden anderen Phänomenen auf: Ein signifikanter negativer Effekt der Entfernung von Wien zeigt abermals, dass in weit von Wien entfernten Orten weniger Pseudosuffixe produziert werden (β = -10,505, SE = 3,848, z = -2,730, p = 0,006**). Und wiederum gibt es auch einen signifikanten Interaktionseffekt zwischen der Entfernung von Wien und dem Setting (β = 11,133, SE = 4,610, z = 2,415, p = 0,016*), der illustriert, dass Gewährspersonen aus weit von Wien entfernten Orten Österreichs in ihren Dialekten weniger Pseudosuffixe gebrauchen als Gewährspersonen aus Orten in der Nähe von Wien. Einen weiteren Effekt liefert die Variable der Präsenz bzw. Absenz eines Umlauts: Diminutive mit Umlaut enthalten auch signifikant häufiger ein Pseudosuffix (β = 7,362, SE = 1,869, z = 3,939, p < 0,001***).

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5.5 Zusammenhänge zwischen den Phänomenen Einige generelle Zusammenhänge zwischen den drei Phänomenen konnten zwar bereits aufgezeigt werden (z. B. der in 5.2 beschriebene Interaktionseffekt zwischen Setting und Numerus bei den Diminutiven, der darauf hinweist, dass im Standarddurchgang signifikant mehr pluralisierte Diminutive mit Umlaut vorkommen); dennoch stellt sich die Frage, ob nicht auch auf der individuellen Ebene der Gewährspersonen gewisse Zusammenhänge zu finden sind: Verwenden etwa Gewährspersonen, die häufig standardkonforme Adjektivsteigerungsformen produzieren, auch häufiger standardkonforme Plurale und Diminutive? Oder findet man einen erhöhten Gebrauch von Umlaut, Derivationssuffixen und Pseudosuffixen bei denselben Personen für alle drei Phänomene? Um diese Fragen zu beantworten, wurden Pearson-Korrelationen durchgeführt. Bezüglich der Standardkonformität ergaben sich ausschließlich signifikante positive Korrelationen (Adjektivsteigerung und Pluralflexion: r (145) = 0,286, p < 0,001***; Adjektivsteigerung und Diminutivbildung: r (145) = 0,201, p = 0,015*; Pluralflexion und Diminutivbildung: r (145) = 0,464, p < 0,001***). Dabei ist die Korrelation zwischen Wörtern derselben lexikalischen Kategorie am stärksten,9 gefolgt von der Korrelation zwischen den beiden Kategorien der nichtprototypischen Flexion (d. h. Adjektivsteigerung und Pluralflexion). Am schwächsten ist die Korrelation zwischen den lexikalisch und morphologisch am weitesten voneinander entfernten Phänomenen der Adjektivsteigerung und der Diminutivbildung. Was den Umlautgebrauch betrifft, so findet man hingegen keine signifikanten Korrelationen, nur zwei negative Trends zwischen den zwei jeweils „verwandteren“ Phänomenen (Adjektivsteigerung und Pluralflexion: r (145) = -0,149, p = 0,072; Pluralflexion und Diminutivbildung: r (145) = -0,145, p = 0,079.). Das Vorhandensein von Derivationssuffixen konnte wiederum nur für die Pluralflexion und die Adjektivsteigerung untersucht werden, weil Diminutive per definitionem Derivationssuffixe enthalten. Es konnte allerdings keine signifikante Korrelation zwischen Pluralflexion und Adjektivsteigerung auf der Ebene der Gewährspersonen gefunden werden. Demgegenüber steht das Vorhandensein von Pseudosuffixen, für das eine signifikante Korrelation zwischen Pluralflexion und Diminutivbildung (r (145) = 0,298, p < 0,001***), nicht aber zwischen Pluralflexion und Adjektivsteigerung und ebenso wenig zwischen Adjektivsteigerung und Diminutivbildung gefunden werden konnte. 6 DISKUSSION In diesem Beitrag wurde der Einfluss verschiedener Variablen auf die mündliche Produktion dreier Kategorien der nichtprototypischen Morphologie (und zwar von 9

Alle Plurale und fast alle Diminutive (mit Ausnahme des Pronomens bisschen) gehören zu den Substantiven.

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Adjektivsteigerungsformen sowie Substantivpluralen für die nichtprototypische Flexion und von Diminutiven für die nichtprototypische Derivation) bei autochthonen Erwachsenen aus ländlichen Regionen Österreichs sowohl in der areal-horizontalen als auch in der vertikal-sozialen Variationsdimension untersucht. Die Erhebungsmethoden waren (quasi-)experimentell: Adjektivsteigerungsformen wurden im Rahmen eines Satzvervollständigungsexperiments erhoben, wohingegen Plurale und Diminutive mit Hilfe von Wenkersatz-Übersetzungsaufgaben erfragt wurden. Die Variable der Regionalität wurde durch die geographische Entfernung von der Hauptstadt Wien, die als besonders standardaffin bekannt ist, operationalisiert. Sie zeigte in fast allen Analysen signifikante Effekte oder Trends, häufig besonders in Interaktion mit dem Setting: Während der Standarddurchgang in allen untersuchten Orten sehr ähnliche Ergebnisse lieferte, zeigten sich im Dialektdurchgang insofern größere regionale Unterschiede, als in weit von Wien entfernten Orten wesentlich größere Abweichungen zum Standarddurchgang zu finden waren als in nahe von Wien gelegenen Orten. Die Settingvariable (Dialekt- vs. Standardexperiment) war für die vertikale Variationsdimension besonders relevant. Auffallend groß waren die Unterschiede zwischen den beiden Settings in Bezug auf die Standardkonformität bei der Diminutivbildung, am geringsten waren sie bei der Adjektivsteigerung, und die Pluralflexion nahm eine Zwischenposition ein. Dieses Ergebnis lässt sich wohl damit erklären, dass die beiden standardkonformen Diminutivsuffixe -chen und -lein sehr stark mit der Standardsprache assoziiert werden, weil sie in den österreichischen Dialekten tatsächlich kaum verwendet werden (und wenn, dann vorwiegend in den standardaffineren Regionen nahe Wiens). Bei der Pluralflexion und bei der Adjektivsteigerung gibt es zwar bei den unterschiedlichen Arten von Flexionsmarkern durchaus Frequenzunterschiede zwischen Dialekt und Standard, aber es gibt keine Flexionsmarker, die ausschließlich im Standard oder im Dialekt verwendet werden. Die morphologische Nähe zwischen den bairischen und alemannischen Basisdialekten einerseits und dem Standarddeutschen andererseits scheint bei der Adjektivsteigerung also tatsächlich am größten zu sein, wohingegen sie bei der Diminutivbildung am geringsten ist (vgl. implizit LIPOLD 1983 vs. SEEBOLD 1983). Dies ist sicherlich eine wesentliche Ursache für die Ergebnisse zur Settingvariablen innerhalb der vorliegenden Untersuchung. Als soziodemographische Gewährspersonenvariablen wurden die Altersgruppe (jünger: 18–35, älter: 60+), der Bildungshintergrund (+/– Hochschulreife) und die Gendervariable (männlich, weiblich) untersucht. Die Altersgruppe stellte sich dabei in den meisten Analysen als wichtigste soziodemographische Variable heraus (bei der Adjektivsteigerung in Bezug auf Standardkonformität, Umlautgebrauch und Gebrauch von Derivationssuffixen, bei der Diminutivbildung ebenfalls in Bezug auf Standardkonformität); nur bei der Frage des Umlautgebrauchs bei der Diminutivbildung war der Bildungshintergrund insofern relevanter als die Altersgruppe, als Gewährspersonen ohne Hochschulreife seltener Umlaut bei der Diminutivbildung verwendeten. Die Gendervariable stellte sich in keiner der Analysen als signifikant heraus: Obwohl junge urbane Frauen mit höherer Bildung der Literatur zufolge eine Vorreiterrolle bei der Hinwendung zum Standard sowie bei der Dialektaufgabe

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spielen, konnten vergleichbare Ergebnisse für die jungen ruralen Frauen in unserem Sample also nicht festgestellt werden. Ob dies auch für spontansprachliche Daten gilt, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beantwortet werden, stellt aber eine wichtige Forschungsfrage für zukünftige Analysen dar (vgl. Abschnitt 7). Bei der Pluralflexion zeigte allerdings überhaupt keine der soziodemographischen Variablen signifikante Effekte, sondern die strukturellen bzw. linguistischen Variablen der Substantive standen hierbei ganz klar im Vordergrund. Zu den strukturellen Variablen der untersuchten Wörter zählten die Präsenz bzw. Absenz von Umlaut, Derivationssuffixen und Pseudosuffixen sowie Genus und Numerus der Substantivwortform. Meistens enthielten die jeweils besten Modelle mindestens eine strukturelle Variable, was auf die besondere Relevanz dieser Variablen hinweist. Bezüglich der Standardkonformität erwies sich bei der Adjektivsteigerung die Präsenz eines Derivationssuffixes als besonders wichtige Variable, und zwar mit einem negativen Effekt: Komparative und Superlative mit Derivationssuffix wurden signifikant seltener standardkonform produziert, wie auch durch mehrere Beispiele hinzugefügter Derivationssuffixe bzw. durch Derivationssuffixe ersetzter Pseudosuffixe aus der Literatur und aus den Daten der vorliegenden Studie (vgl. auch KORECKY-KRÖLL 2020) belegt wird. Bei der Pluralflexion spielte hingegen sowohl das grammatische Genus als auch die Präsenz eines Pseudosuffixes eine besondere Rolle: Plurale von Neutra wurden signifikant häufiger standardkonform produziert, was wohl durch den relativ hohen Anteil von stets neutralen Diminutiven bedingt sein könnte, die im Standard und auch in den meisten Dialekten einen standardkonformen Nullplural bilden. Außerdem wurden Plurale von Substantiven mit Pseudosuffix häufiger standardkonform produziert, weil Pseudosuffixe in den Dialekten generell seltener vorkommen. Einen vergleichbaren Effekt findet man auch für Pseudosuffixe bei der Diminutivbildung. Bei der Diminutivbildung ist außerdem noch die Präsenz eines Umlauts relevant: Diminutive, die einen Umlaut enthalten, werden ebenfalls signifikant häufiger standardkonform produziert. Die Frage der Präsenz bzw. Absenz eines Umlauts lieferte für die drei Phänomene interessanterweise sehr unterschiedliche Ergebnisse: Bei der Adjektivsteigerung war der Umlaut stark mit dem Dialekt assoziiert, was auch die Ergebnisse aus der Literatur widerspiegelt (ANTONSEN 1969; NÜBLING 2013; NÜBLING et al. 2017), die von morphologischer Umlautfreundlichkeit des Oberdeutschen spricht. Bei der Pluralflexion und bei der Diminutivbildung war der Umlaut hingegen mit dem Standard assoziiert, was auf den ersten Blick überraschend erscheint, bei näherer Betrachtung jedoch nachvollziehbar ist: Die festgestellte morphologische Umlautfreundlichkeit gilt ganz besonders für das Alemannische (NÜBLING et al. 2017: 71), doch die bairischen Daten, die aufgrund der ungleichen Aufteilung Österreichs auf die beiden Dialektregionen aus zwölf Orten stammen, sind im vorliegenden Korpus wesentlich stärker vertreten als die alemannischen Daten, die aus nur einem Ort stammen. Und die dialektalen -erl- und -(e)l-Diminutive aus den bairischen Regionen weisen im Gegensatz zu den Standardformen auf -chen und -lein nur selten einen Umlaut auf. Ähnliches zeigt sich bei den Pluralen, bei denen im Dialektdurchgang

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gelegentlich Simplizia mit Umlaut durch umlautlose Diminutive ersetzt10 werden (z. B. Blätter –> Blattel11). Bei der Adjektivsteigerung erwiesen sich hingegen auch die bairischen Orte als morphologisch umlautfreundlich. Bezüglich der Präsenz bzw. Absenz eines Derivationssuffixes wurden nur Adjektivsteigerungsformen und Plurale untersucht und bei beiden Phänomenen zeigte sich eine signifikante Assoziation zwischen Derivationssuffixen und Dialekt. Bei den Pseudosuffixen war hingegen genau das Gegenteil der Fall: Es zeigte sich eine signifikante Assoziation zwischen dem Vorhandensein von Pseudosuffixen und dem Standardsetting. Was die Zusammenhänge auf Gewährspersonenebene betrifft, wurden im Hinblick auf die Standardkonformität ausschließlich signifikante Korrelationen gefunden, wobei die Korrelation zwischen Pluralen und Diminutiven (die mit einer einzigen Ausnahme allesamt derselben lexikalischen Kategorie angehörten) am stärksten war, gefolgt von der Korrelation zwischen Adjektivsteigerungsformen und Pluralen, den beiden Kategorien der nichtprototypischen Flexion. Beim Umlautgebrauch fanden sich hingegen keine signifikanten Effekte, sondern nur zwei negative Trends zwischen den zwei jeweils morphologisch enger verwandten Phänomenen: Der erste negative Trend zwischen Adjektivsteigerung und Pluralflexion bildet wohl wieder die Tatsache ab, dass der Umlaut bei der Adjektivsteigerung stärker mit dem dialektalen Gebrauch assoziiert ist, wohingegen der Umlaut bei der Pluralflexion im Standard frequenter ist, und so verwenden stärker dialektal geprägte Gewährspersonen offensichtlich mehr umgelautete Adjektivsteigerungsformen, aber weniger umgelautete Plurale. Der zweite negative Trend zwischen Pluralflexion und Diminutivbildung ist hingegen wohl dadurch bedingt, dass Diminutive mit Umlaut (wie z. B. Vögelchen), in der Regel einen Nullplural und keinen umgelauteten Plural bilden. Bezüglich des Vorhandenseins von Derivationssuffixen konnte zwischen Pluralflexion und Adjektivsteigerung hingegen weder eine signifikante Korrelation noch ein Trend auf der Gewährspersonenebene gefunden werden. Für Pseudosuffixe zeigte sich hingegen nur eine signifikante Korrelation zwischen Pluralflexion und Diminutivbildung, die insofern plausibel erscheint, als zwei der vier der untersuchten pluralisierten Diminutivstimuli (Äpfelchen, Vögelchen) ein Pseudosuffix enthielten, das somit für beide Kategorien ausgewertet wurde. Eine Methodenreflexion ist an dieser Stelle auch angebracht: Sprachproduktionsexperimente und insbesondere Übersetzungsexperimente sind zwar grundsätzlich praktisch, um in kurzer Zeit viele Antworten zu elizitieren und um relativ schnell gewisse Einblicke in die areal-horizontale Variation erhalten, sie weisen jedoch einige Probleme auf: Vor allem Diminutive wurden in den Wenker-Über10 Details zu dieser „Diminutivhinzufügung“, die im südmittelbairischen Übergangsgebiet ihren Schwerpunkt hat, werden in KORECKY-KRÖLL (i. Dr.) beschrieben. 11 Im Gegensatz zu früheren dialektologischen Arbeiten (z. B. KRANZMAYER 1956), aber in Anlehnung an GLAUNINGER (2005: 232–234), der die Varietäten von Graz aus einer vertikalen Perspektive untersucht, werden auch im vorliegenden Beitrag Diminutive mit unverdumpftem a wie Apferl wie im Standard als umlautlose Formen behandelt und nicht als umgelautete Formen ihrer Simplizia, die im Dialektsetting zwar häufig, aber keinesfalls immer ein verdumpftes a (wie Opfel) aufweisen.

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setzungsaufgaben in etwa einem Drittel der Fälle entweder explizit verweigert oder zumindest vermieden sowie bei etwa 13 % der Antworten im Dialektdurchgang durch Standardformen ersetzt, eine Strategie, die vor allem bei jungen Gewährspersonen sowie bei Personen aus Regionen nahe Wiens verbreitet ist (KORECKYKRÖLL, 2022). Begründen lässt sich diese Tatsache dadurch, dass sich Diminutive als Schnittstellenphänomen zwischen Flexion und Derivation sowie zwischen Morphologie, Semantik und Pragmatik durch eine hohe strukturelle Komplexität in Verbindung mit einer starken emotionalen Aufladung auszeichnen, wobei der adäquate situative Gebrauch in Übersetzungsexperimenten kaum simuliert werden kann (KORECKY-KRÖLL 2022). Die Elizitation von Pluralen in den Übersetzungsexperimenten funktionierte zwar grundsätzlich besser; dennoch treten in Übersetzungsexperimenten generell viele unsystematische Primingeffekte auf, die idealerweise vermieden werden sollten (WIRRER 2011; KORECKY-KRÖLL 2022). Als geeigneter erwies sich in dieser Hinsicht das Adjektivsteigerungsexperiment, das nicht auf Übersetzungen aufbaute und somit eine bessere Trennung der beiden Varietäten (ausschließliche Vorgabe des Standarddeutschen und erwartete Antwort im Standard bzw. ausschließliche Vorgabe des Dialekts und erwartete Antwort im Dialekt) ermöglichte. Dennoch war auch hier bei vielen Gewährspersonen durch das experimentelle Setting eine hohe Sprachbewusstheit wirksam, die zu vielen Unsicherheiten und zahlreichen Mehrfachantworten führte. Experimente sollten demnach idealerweise durch spontansprachliche Untersuchungen ergänzt werden. 7 FAZIT UND AUSBLICK Die Untersuchung dreier vergleichbarer morphologischer Phänomene auf vertikalsozialer sowie areal-horizontaler Ebene hat sich als vielversprechend erwiesen: Einige Besonderheiten der oberdeutschen Morphologie, die bereits aus verschiedenen Ortsmonographien sowie dialektologischen Überblickswerken bekannt waren, konnten für die bairischen und alemannischen Dialekte Österreichs sowie für das in Österreich verwendete Standarddeutsch bestätigt und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Die Altersgruppe war die relevanteste soziodemographische Variable, gefolgt vom Bildungshintergrund. Die Entfernung von Wien als Variable der Regionalität zeigte in den meisten Analysen stärkere Effekte als die soziodemographischen Variablen, häufig in Interaktion mit dem Setting: Während der Standarddurchgang in allen untersuchten Orten sehr ähnliche Ergebnisse lieferte, zeigten sich im Dialektdurchgang in weit von Wien entfernten Orten größere Abweichungen zum Standarddurchgang als in näher von Wien gelegenen Orten. Die größte morphologische Nähe zwischen Dialekt und Standard wurde für die Adjektivsteigerung gefunden. Demgegenüber wies die Diminutivbildung die größte Distanz zwischen Dialekt und Standard auf und die Pluralflexion nahm eine Zwischenposition ein. Die folgenden linguistischen Variablen waren besonders relevant: Während Derivationssuffixe stark mit dem Dialekt assoziiert waren, stellten sich Pseudosuffixe als besonders typisch für das Standardsetting heraus. Bezüglich des Umlauts

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zeigten sich jedoch Unterschiede zwischen den lexikalischen Kategorien: Bei der Adjektivsteigerung war der Umlaut mit dem Dialekt assoziiert, bei der Pluralflexion und bei der Diminutivbildung hingegen mit dem Standard, weil sich diese beiden Kategorien der Substantivmorphologie in den stark vertretenen bairischen Dialekten als weniger ‚umlautfreundlich‘ erwiesen als die Adjektivsteigerung. Bei der Pluralbildung spielte außerdem das Genus des Nomens eine Rolle: Plurale von Neutra, zu denen auch die Diminutive gehören, wurden häufiger standardkonform produziert. Die stärkste Korrelation auf Gewährspersonenebene fand sich bei Diminutiven und Pluralen, den beiden Substantivkategorien, die zweitstärkste zwischen Adjektivsteigerung und Pluralbildung, den beiden Kategorien der Flexion. Tatsächlich wurde bei den drei untersuchten Kategorien der nichtprototypischen Morphologie die erwartete große Variation gefunden. Dennoch sollten in Zukunft auch einige Kategorien der prototypischen Flexion und Derivation mit derselben Methodik untersucht werden, um zu überprüfen, ob die nichtprototypische Morphologie tatsächlich variationsreicher ist. Ein wichtiges Desiderat für die nähere Zukunft besteht außerdem darin, den authentischen spontansprachlichen Gebrauch aller drei Phänomene bei denselben Gewährspersonen auch anhand der bereits teilweise transkribierten, aber bisher nur zu einem kleinen Teil morphologisch getaggten Interviews und Freundesgespräche aus dem SFB „Deutsch in Österreich. Variation – Kontakt – Perzeption“ zu untersuchen. DANKSAGUNG Ich danke Alexandra N. Lenz, der Projektleiterin des Spezialforschungsbereichs „Deutsch in Österreich. Variation – Kontakt – Perzeption“, sehr herzlich für ihre Unterstützung und ihre Erlaubnis, die innerhalb dieses Projekts gesammelten und aufbereiteten Daten für diese Untersuchung zu verwenden. Außerdem danke ich meiner Kollegin Anja Wittibschlager für die Erstellung der Österreichkarte in Abb. 2 sowie unserer früheren studentischen Hilfskraft Pamela Goryczka für die Transkription der experimentellen Daten. Auch dem österreichischen Wissenschaftsfonds FWF möchte ich für die Förderung des Spezialforschungsbereichs FWF F60 meinen Dank aussprechen. Stephan Elspaß, Philip C. Vergeiner und Dominik Wallner, den Organisatoren der BÖDT und Herausgebern dieses Tagungsbandes, danke ich ebenfalls sehr herzlich für die spannende Tagung und ihre Mühen mit dem Band. LITERATUR AMMON, ULRICH (2003): Dialektschwund, Dialekt-Standard-Kontinuum, Diglossie. Drei Typen des Verhältnisses Dialekt – Standardvarietät im deutschen Sprachgebiet. In: ANDROUTSOPOULOS,

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ZWISCHEN UNGEBÄNDIGTER ALLOMORPHIE UND GESTEUERTEM DEKLINATIONSKLASSENWANDEL Intra- und interindividuelle Variation in der Pluralmarkierung bayerischer und thüringischer Dialekte Grit Nickel / Alexander Werth ABSTRACT Im Beitrag werden die Ergebnisse einer rezenten Fragebogenstudie zur nominalen Pluralallomorphie in bayerischen und thüringischen Dialekten vorgestellt. Ziel der Studie ist es, zu untersuchen, inwieweit das Ordnungsprinzip „Deklinationsklasse“ intra- und interindividuelle Variation in der dialektalen Pluralbildung erklärt. Außerdem wird untersucht, inwiefern Plurale im isolierten Wort anders markiert werden als im (selbst den Plural anzeigenden) Satzkontext. Die Daten weisen aus, dass die untersuchten Dialekte hinsichtlich ihres Deklinationsklassenverhaltens variieren. Einzelne Dialekte tradieren das historische Deklinationsklassensystem, andere Dialekte weisen Restrukturierungen und teilweise dialektspezifische Konditionierungsprinzipien der Deklinationsklassenzugehörigkeit auf. Zudem kann der morphosyntaktische Kontext die Pluralmarkierung am Substantiv beeinflussen. Abschließend werden die Befunde mit Blick auf die dialektologische und sprachhistorische Forschung diskutiert. 1 EINLEITUNG Der vorliegende Beitrag behandelt den Zusammenhang von Phonologie, Morphologie und Semantik in Dialekten des Deutschen. Am Beispiel der Pluralmarkierung am Nomen soll untersucht werden, inwiefern morphophonologische Prozesse wie die Apokope und die Zugehörigkeit von Lexemen zu (semantisch gesteuerten) Deklinationsklassen (alternativ: Flexionsklassen) Auswirkungen auf die Ausgestaltung der Pluralallomorphie haben. Hierzu untersuchen wir auf empirischer Grundlage die Numerusflexion in bayerischen und thüringischen Dialekten. Außerdem wollen wir untersuchen, ob nominale Plurale im isolierten Wort häufiger bzw. seltener flektieren als im Satzkontext (in Kontexten, in denen der Numerus auch über das kongruierende finite Verb oder über den kongruierenden Determinierer angezeigt wird). Unser Beitrag versucht damit u. a. eine Forschungslücke zu füllen, die in NÜBLING (2008) wie folgt benannt wird und u. E. so auch heute noch Bestand hat: „Selbst kleinräumig variieren die Dialekte bezüglich ihres Umgangs mit FK [Flexionsklassen, G. N. / A. W.], das heißt eine flächendeckende Untersuchung wäre noch ein

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äußerst lohnendes, bislang brachliegendes Forschungsprojekt. Arbeiten zum Phänomen dialektaler FKn gibt es kaum“ (NÜBLING 2008: 312). Unsere Forschungsfragen lassen sich wie folgt benennen: – –



Gibt es zwischen bayerischen und thüringischen Dialekten Variation hinsichtlich der nominalen Pluralallomorphie? Lässt sich die mögliche diatopische Variation dadurch erklären, dass für die Ausgestaltung der nominalen Pluralallomorphie das Ordnungsprinzip „Deklinationsklasse“ (im Folgenden kurz: DK) unterschiedlich stark wirkt? Werden nominale Plurale im isolierten Wort anders markiert als im (Satz-) Kontext?

Der Beitrag ist folgendermaßen gegliedert: In Abschnitt 2 werden verschiedene Steuerungsfaktoren der Pluralallomorphie im Deutschen vorgestellt und anhand von dialektalen Beispielen illustriert. Abschnitt 3 skizziert das methodische Vorgehen, Abschnitt 4 dient der Präsentation der Ergebnisse. Der Beitrag schließt mit einem Fazit und Ausblick auf mögliche Folgestudien in Abschnitt 5. 2 STEUERUNGSFAKTOREN DER PLURALALLOMORPHIE In diesem Abschnitt werden – ausgehend von unseren Forschungsfragen – drei mögliche Steuerungsfaktoren im Überblick kurz vorgestellt. 2.1 Pluralmarkierung zwischen Phonologie und Morphologie Die formale Realisierung der Markierung flexivischer Information ist in den deutschen Dialekten in hohem Maße vom Eintreten (oder Nicht-Eintreten) phonologischer Prozesse abhängig. Phonologische Prozesse steuern das zur Verfügung stehende Inventar flexivischer Marker, wie anhand zweier historischer phonologischer Prozesse, Schwa-Apokope und Zentralisierung von mhd. ë, exemplarisch gezeigt wird. Im Fall der Schwa-Apokope wird das Pluralmarkerinventar um ein Allomorph, das Schwa-Suffix (Sg. Berg – Pl. Berge),1 reduziert. Während in den Dialekten mit Schwa-Erhalt (vgl. Abb. 1) der phonologische Prozess keine Auswirkung auf die Form der Pluralmarkierung mit Schwa-Suffix hat (z. B. Berch – Berche im thüring. Unterwellenborn), führt der Wegfall dieses additiven Markers in den apokopierenden Dialekten entweder zu einem Nullplural (z. B. Berch – Berch im ofr. Marktschorgast), zu einem anderen additiven Marker (z. B. – mit Nasalsuffix und Elision 1

Die Darstellung von (Dialekt-)Beispielen folgt fortan dieser Form: Zuerst genannt wird die Singularform und danach die Pluralform, ggf. folgt eine standardsprachliche Übersetzung in einfachen Anführungszeichen. Die Transkription entspricht bei Beispielen aus der Fragebogenerhebung denen der Gewährspersonen.

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des stammauslautenden Plosivs – mittelbair. bêαg – bêαŋ in den Daten des „Sprachatlas von Oberbayern“) oder er wird durch ein stammaffizierendes Verfahren kompensiert. In jenen Dialekten, in denen der Stammvokal von Berg (mhd. ë) ebenfalls durch einen Palatalvokal realisiert wird, schließt die phonologische Umgebung einen analogen Umlaut (d. h. die Palatalisierung eines hinteren Vokals) aus. In einem Teil der untersuchten Dialekte, im Thüringischen und im Unterostfränkischen, ist diachron eine Zentralisierung von mhd. ë zu einer a-Variante erfolgt (vgl. WenkerKarten 405 „Berge“, 524 „Felde“), weshalb sich hier teilweise analoge Umlaute finden lassen, z. B. Barch – Berch im unterofr. Krum und – in Kombination mit dem Schwa-Suffix – als Barch – Bärche im thüring. Unterwellenborn.2

Abb. 1: Ausschnitt aus Wenker-Karte 406 „Berge“ mit Apokope-Grenze und Leitformen (erstellt mit REDE SprachGIS, SCHMIDT / HERRGEN / KEHREIN 2008ff.)

Anhand dieses Beispiels zeigt sich, in welchem Maße sich Phonologie und Morphologie in der dialektalen Pluralmarkierung bedingen, indem 1. das flexivische Inventar durch die historischen phonologischen Prozesse verändert wird und 2. morphologische Bedürfnisse die (teilweise neu entstandenen) phonologischen Voraussetzungen ausnutzen und vormals phonologisch konditionierte Alternationen morphologisch funktionalisiert werden oder 3. durch analoge Markierung (z. B. in Form des Umlauts) hergestellt werden. 2.2 Deklinationsklasse DKn stellen eine abstrakte Klassifikation von Substantiven dar, die sich dieselben Flexive teilen. Während DK im Indogermanischen noch overt am Substantiv 2

Die zweite Formenvariante für Berg im thüring. Unterwellenborn ergibt sich durch interindividuelle Variation in den uns vorliegenden Daten.

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markiert wurde, manifestiert sie sich seit dem Germanischen im Flexionsverhalten der Substantive, d. h. in Form von Numerus- und Kasusallomorphie sowie in spezifischen Paradigmenkonstellationen (dazu RAMAT 1981: 64–67). In Folge des weitgehenden Abbaus der Kasusmarkierung am Substantiv stellt die Pluralallomorphie in den Dialekten des Deutschen „die letzte Rückzugsdomäne“ (NÜBLING 2008: 308) der DKn dar. In den rezenten Dialekten handelt es sich also vielmehr um „Pluralbildungsklassen“ (ROWLEY 1997: 170) als um DKn, wie sie historisch in den Sprachstufen des Deutschen zu finden waren. Inwiefern stellt DK nun nicht nur ein Klassifikationssystem für Substantive dar, sondern steuert auch Pluralallomorphie? Einen Zugriff bilden einerseits die Konditionierungsfaktoren der DK-Zugehörigkeit und andererseits Type- und Tokenfrequenz sowie Produktivität, d. h. Geschlossenheit oder Offenheit einer Klasse (vgl. NÜBLING 2008: 286). Die Zusammensetzung von DKn ist nicht idiosynkratisch, sondern sie sind durch verschiedene außerflexivische Zuweisungsprinzipien, sog. Konditionierungsfaktoren, gesteuert, die genauso Sprachwandel unterliegen können wie die DKn selbst (vgl. KÜRSCHNER 2008a: 28). Zu diesen Zuweisungsprinzipien zählen Genus (als weiteres inhärentes Klassifikationssystem), semantische Merkmale (allen voran Belebtheit, aber auch z. B. Kollektivität und Verwandtschaft) sowie formale Faktoren (prosodische Merkmale, Stammauslaut, Derivationssuffixe; SCHIRMUNSKI 1962: 441–445; NEEF 2000a; 2000b; KÜRSCHNER 2008a: 56–65; KÜRSCHNER 2008b). NÜBLING (2008) zeigt anhand eines Vergleichs verschiedener dialektaler Deklinationssysteme, wie die deutschen Dialekte hinsichtlich der Strukturierung und Konditionierung der DKn variieren. Eine Restrukturierung der historischen DKn wird hierbei häufig durch einen phonologischen Prozess, etwa durch die Schwa-Apokope, ausgelöst: Der Wegfall eines Pluralallomorphs triggert Klassenwechsel, bspw. von Lexemen der maskulinen a-Stämme in die Umlaut-Klasse, z. B. mhd. barte > bært im Alemannischen (vgl. NÜBLING 2008: 313). Bemerkenswert ist dabei, dass ein Umbau (und häufig Ausbau) des Pluralmarkerinventars infolge von phonologischem Wandel nicht notwendigerweise zu DKWechsel führen muss. Ein Beispiel aus den Daten unserer Erhebung (vgl. Abschnitte 3 und 4) illustriert, dass formale Variation in der Pluralmarkierung der rezenten Dialekte keinen DK-Wechsel abbilden muss, sondern einer Fortsetzung der historischen DK mit lautgesetzlich begründbaren morphophonologischen Markierungsstrategien entspricht: a) b) c) d)

Fisch – Fische im thüring. Unterwellenborn Fisch – Fisch im ofr. Marktschorgast Fiesch – Fisch im bair. Bernhardswald Fuusch – Füsch im ofr. Gemünden am Main

Der additive Plural in (a) ist eine Fortsetzung der mhd. Markierung mit SchwaSuffix der maskulinen a-Stämme, der Nullplural in (b) ist das Ergebnis der Apokope des Schwa-Suffix, der stammaffizierende Plural in Form eines Quantitätskontrasts in (c) ist das Ergebnis der lautgesetzlich erfolgten Einsilblerdehnung im Singular und der Apokope des Schwa-Suffix im Plural. Die Beispiele (a–d) bilden

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somit trotz synchron unterschiedlicher Pluralmarkierungsstrategien jeweils eine direkte Fortsetzung der historischen Klassenzuhörigkeit ab. Nur der analoge Umlaut in (d) konstituiert diachron tatsächlich einen DK-Wechsel. Um festzustellen, inwiefern DKn die Pluralallomorphie in einzelnen Dialekten steuern und welche Konditionierungsfaktoren in welcher Reihenfolge wirksam sind, braucht es 1. eine Inventarisierung der dialektspezifischen Pluralallomorphe und 2. Daten zur Type- und Tokenfrequenz sowie zur Produktivität der Klassen in den Dialekten. Diese Daten stellen, wie in Abschnitt 1 bereits festgestellt wurde, noch weitestgehend ein Desiderat dar. 2.3 Syntaktischer Kontext Die Pluralinformation wird flexivisch am Substantiv markiert und gleichzeitig auch durch Kongruenz in der Nominalphrase (NP) kodiert. RONNEBERGER-SIBOLD (1994) charakterisiert dieses sog. klammernde Prinzip als ein strukturelles Merkmal des Neuhochdeutschen. Erscheint die NP in der syntaktischen Funktion als Subjekt, besteht zudem Kongruenz zwischen Subjekt-NP und finitem Verb (Das Kind spielt vs. Die Kinder spielen). Neben der Kodierung der Numerusinformation am Substantiv und am/an den Substantivbegleiter(n) kann auch die Kasusinformation am Substantiv und – kongruenzbedingt – in der NP markiert werden (des Kindes, den Kindern). Die diachrone Entwicklung des Deutschen und – in noch stärkerem Maße – der Dialekte zeigt aber, dass ein massiver Abbau der Markierung der Kasusinformation am Substantiv stattgefunden hat; die Kasusmarkierung ist in die NP ausgelagert, die Substantivformen sind mitunter hochgradig synkretisch. Mit Blick auf die Numerusmarkierung am Substantiv und in der NP ergeben sich folgende Forschungsfragen, die dialektübergreifend ein Desiderat darstellen: Wo und in welchem Umfang wird die Numerusinformation in der NP markiert? Welche funktionale Rolle spielen die Kongruenz in der NP und die mit dem finiten Verb? In welchem Umfang werden Synkretismen im Sprachsystem toleriert oder evtl. sogar geschaffen, wenn die Numeruskodierung durch Kongruenz abgesichert ist? Eine interessante Forschungsperspektive eröffnet hier RABANUS’ (2008) Konzept eines morphologischen Minimums: In den hochdeutschen Dialekten wird im Minimalsatz (bei RABANUS bestehend aus einem transitiven Verb und den obligatorischen, pronominal realisierten Ergänzungen) ein Minimum morphologischer Distinktionen eingehalten, um den Ausdruck grammatischer Kategorien (Genus, Kasus, Numerus, Person) abzusichern. Zu fragen ist, inwiefern ein solches morphologisches Minimum für die Dialekte auch in der nominalen Pluralkodierung am Substantiv und innerhalb der NP besteht?

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3 METHODISCHES VORGEHEN Mit dem Ziel, ein definiertes Set an Substantiven systematisch als isolierte Flexionsformen und als definite NPn im Satzkontext zu erheben, wurde eine indirekte Fragebogenerhebung mit Übersetzungsaufgaben in insgesamt zehn bayerischen und thüringischen Orten durchgeführt.3 Das Substantiv-Set besteht aus jeweils zwei Vertretern der größeren germanischen Deklinationsklassen (ohne Subklassen) sowie der mhd./nhd. Null-Klasse,4 wobei die Lexeme so gewählt wurden, dass in den untersuchten Dialekten das Auftreten von Heteronymie möglichst ausgeschlossen ist (vgl. Tab. 1).5 Die germanischen Deklinationsklassen als „gemeinsame Vorform des Nhd. und seiner Dialekte“ (NÜBLING 2008: 295) bilden das Tertium comparationis, da 1. zum Mittelhochdeutschen hin eine Verringerung der Deklinationsklassen und des Klassenzusammenfalls zu beobachten ist (vgl. KÜRSCHNER 2008a: 93) und 2. im Mittelhochdeutschen Variation in der Klassenzugehörigkeit belegt ist. Erhobene Deklinationsklassen Fem. germ. n-Klasse X germ. a-Klasse germ. ō-Klasse X germ. i-Klasse X germ. er-Klasse X germ. iz/az-Klasse mhd. Ø-Klasse mhd. UL + Ø-Klasse

Mhd. Pluralmarker Mask X X

Neutr. X X

X

X X

X X X

-n mask -(e), neutr. Ø Ø mask. -(e) + UL, fem. e + (UL) UL -er + (UL) Ø Ø + UL

Tab. 1: Erhobene Deklinationsklassen mit Pluralmarkierung im Mhd. (vgl. KLEIN / SOLMS / WEGERA 2018: 71–76, KÜRSCHNER 2008a: 94)

Dieses Set an 28 Substantiven wurde zweimal, einmal als isolierte Singular- und Pluralformen und einmal als definite NP im Satzkontext, erhoben, wobei der Fragebogen für alle GPn gleich war. Die isolierten Lexeme wurden in einer Wortliste zu Beginn des Fragebogens präsentiert, die NPn in der Nominativ-Singular- und Nominativ-Plural-Form wurden im zweiten Teil des Fragebogens erhoben. Durch die Aufteilung der beiden Vorkommenskontexte (isoliert vs. Satzkontext) auf zwei aufeinanderfolgende Übersetzungsaufgaben sollten mögliche Wiederholungs3

4 5

Die Erhebung wurde 2017 im Rahmen unserer Tätigkeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt. Wir danken allen Gewährspersonen für ihre Teilnahme. Oliver Regn danken wir für Unterstützung bei der Durchführung der Erhebung und bei der Auswertung der Daten. Diese Null-Klasse besteht aus Zweisilbern auf die Reduktionssilben -el, -en-, -er. Sie bildet sich im Mhd. heraus und bleibt im Nhd. bestehen (KÜRSCHNER 2008a: 96). Jeweils im Sing. und Pl. abgefragt wurden die Lexeme Ohr, Fell, Jahr, Haus, Wald, Fenster, Messer, Tasche, Kirche, Kuh, Hand, Zahl, Farbe, Tochter, Mutter, Vater, Bruder, Bauer, Name, Fisch, Berg, Graben, Ofen, Bach, Fuß, Schlüssel, Haufen und Ei.

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effekte vermieden werden. Die NPn wurden den GPn dabei in der syntaktischen Funktion als Subjekt in einem Beispielsatz mit einem schwachen Verb als Prädikat vorgegeben, um auch systematisch die Verbkongruenz analysieren zu können (z. B. Die Tochter füttert den Hund – Die Töchter füttern den Hund.). Die Dialektfestigkeit der insgesamt 34 GPn wurde zudem über phonologische Kompetenzabfragen in Form von Übersetzungsaufgaben überprüft und nur dialektfeste GPn wurden für die weiteren Auswertungen berücksichtigt.

Abb. 2: Erhebungsorte in Thüringen und Bayern und WIESINGERs Dialekteinteilung (WIESINGER 1983: Karte 47.4; Karte erstellt mit REDE SprachGIS, SCHMIDT / HERRGEN / KEHREIN 2008ff.)

Methodisch besteht eine Schwierigkeit bei dieser Form der Datenerhebung darin, dass die Daten nicht in Form einer standardisierten, phonetischen Transkription vorliegen, sondern dass die GPn ihre Antworten auf Basis des lateinischen Alphabets verschriftlichen. Für eine flexionsmorphologische Fragestellung ist diese Einschränkung vor dem Hintergrund eines erheblichen Mehraufwands einer direkten Datenerhebung hinnehmbar, wenngleich einzelne morphophonologische Marker wie Kontraste der Vokalquantität oder Alternationen zwischen Lenis- und Fortis-Obstruenten im Bairischen mitunter nicht verschriftlicht werden (vgl. zur Problematik auch KLEINER 2006). Diese methodische Einschränkung muss bei der Auswertung intraund inter-individueller Variation berücksichtigt werden.

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Da eine unserer Forschungsfragen die dialektspezifischen Unterschiede in der Pluralallomorphie betrifft, haben wir Erhebungspunkte in zwei Dialekträumen gewählt, die hinsichtlich der Pluralmarkierung unterschiedliche phonologische Voraussetzungen aufweisen: die ostoberdeutschen Dialekte Bayerns, die die Apokope durchgeführt haben, und die ostmitteldeutschen Dialekte Thüringens, in denen Schwa zu einem Großteil erhalten ist. Innerhalb der bayerischen und thüringischen Dialekte haben wir Ortspunkte gewählt, für die zum einen Wenker-Formulare (basierend auf der Erhebung des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ um 1880) vorliegen und wo die Dialekte neben dem Merkmal „Schwa-Erhalt vs. Apokope“ ein möglichst differentes phonologisches Profil aufweisen, um Pluralmarkierung und -allophonie vor dem Hintergrund möglichst verschiedener historischer phonologischer Prozesse kontrastieren zu können. So wurden beispielsweise das ostfränkische Krum und das thüringische Unterwellenborn gewählt, weil in beiden Ortsdialekten Zentralisierung von mhd. ë durchgeführt wurde, Krum aber zu den apokopierenden Dialekten und Unterwellenborn zu den ostmitteldeutschen Dialekten mit Schwa-Erhalt zählen (vgl. Abschnitt 2.1). Zu den relevanten phonologischen Variablen zählen außerdem etwa die Rundung vs. Entrundung von Palatalvokalen6 oder der lautgesetzlich entstandene Vokalwechsel von mhd. ei in historischen Ein- und Mehrsilbern (bairischer Erhebungsort Bernhardswald). Neben diesen phonologischen Variablen sollten die Erhebungsorte nicht mehr als 500–1.500 Einwohner haben, um eine Anzahl von ca. fünf Gewährspersonen (GP(n)) mit basisdialektaler Kompetenz akquirieren zu können (vgl. FLEISCHER / KASPER / LENZ 2012: 5). Die Fragebogenerhebung wurde schließlich in sechs bayerischen (vier ostfränkische und zwei bairische) und vier thüringischen Orten durchgeführt (vgl. Abb. 2).7 4 ERGEBNISSE 4.1 Diatopische Variation der Pluralmarkierungsstrategien Für die untersuchten Ortsdialekte lassen sich insgesamt vier Strategien zur Markierung der Pluralinformation („Leittypen“) feststellen: additive Markierung, stammaffizierende Markierung, additive Markierung in Kombination mit einem stammaffizierenden Verfahren sowie Nullmarkierung. Additive Pluralmarkierung besteht in der Verkettung von Stamm und Suffix, das die flexivische Information (hier die Pluralinformation) trägt, während stammaffizierende Markierungsverfahren die lautliche Form des Stammes verändern. Nullmarkierung umfasst Singular- und Pluralformen, die keine formale Differenzierung aufweisen. 6

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Die Rundung bei Palatalvokal ist erhalten in den ostfränkischen Erhebungsorten Gemünden, Krum und Stadtschwarzach sowie im thüringischen Kleinschmalkalden und Brotterode, Entrundung findet sich im thüringischen Langula und Unterwellenborn sowie im ostfränkischen Marktschorgast und im bairischen Bernhardswald und Ramsau (vgl. Wenker-Karte 465 „Häuser“). Anzahl der GPn pro Erhebungsort: Bernhardswald (5), Gemünden (4), Ramsau (4), Brotterode (4), Goßwitz (5), Kleinschmalkalden (5), Langula (7).

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Unterhalb der Ebene dieser Leittypen finden sich dialektspezifische Markierungsstrategien. Im Bereich der additiven Markierung variiert das Vorkommen (bzw. die Vorkommenshäufigkeit) der Allomorphe: Das Suffix -er (bzw. dessen vokalische Realisierungen als Schwa und Tiefschwa) findet sich in allen untersuchten Dialekten, das Schwa-Suffix ist vor allem in den nicht-apokopierenden Dialekten Thüringens belegt, während im Ostfränkischen und Bairischen vor allem Nasalsuffix bzw. dessen vokalische Realisierung als Tiefschwa vorkommen (vgl. Farb – Farm ‘Farbe’ im ostfränkischen Stadtschwarzach vs. Foab – Foama ‘Farbe’ im bairischen Ramsau).8 Unter dem Leittyp der stammaffizierenden Markierung werden verschiedene dialektspezifische Verfahren subsumiert, hierzu zählt aber auch der Umlaut als ausgesprochen frequenter morphophonologischer Marker im Deutschen. Während der Umlaut in allen untersuchten Ortsdialekten belegt ist, findet sich der „umlautähnliche“ (ROWLEY 1997: 66) Vokalwechsel von mhd. ei nur im Nordbairischen (z. B. Oa – Oia ‘Ei’ im bairischen Bernhardswald). Neben diesen beiden Alternationen, die die Qualität des Stammvokals betreffen, finden sich Kontraste der Vokalquantität (z. B. Baach – Bäch ‘Bach’ im ostfränkischen Gemünden) sowie Kontraste des stammauslautenden Konsonantismus (z. B. Bäg – Bärche ‘Berg’ im thüringischen Kleinschmalkalden). Außerdem sind im ostfränkischen Gemünden am Main und im thüringischen Kleinschmalkalden subtraktive Pluralformen belegt, z. B. Haand – Henn ‘Hand’ in Gemünden. Abb. 3 zeigt, dass nicht nur das Vorkommen einzelner Markierungsverfahren dialektspezifisch ist, sondern dass auch die Häufigkeitsverteilung der Leittypen diatopisch variiert. Um die Häufigkeitsverteilung zu ermitteln, wurde für jeden Ortsdialekt das Vorkommen der Leittypen in den isolierten Flexionsformen ausgezählt. Gezählt wurde jeweils der Leittyp, der über alle GPn hinweg am häufigsten genannt wurde. Es zeigt sich, dass in den ostfränkischen und bairischen Dialekten der Anteil von Nullpluralen sowie von stammaffizierenden Verfahren in der Tendenz höher ist als in den thüringischen Erhebungsorten, wo vor allem additive Markierungen sowie kumulierte Markierungen aus additivem und stammaffizierendem Verfahren frequent sind, z. B. Of – Öfe ‘Ofen’ im thüringischen Brotterode oder Haand – Hänge ‘Hand’ im thüringischen Langula (hier finden sich Kontraste der Vokalqualität und -quantität sowie Konsonantismuskontraste). Dieser Befund spiegelt den Einfluss phonologischer Prozesse auf die Flexionsmorphologie wider: In den apokopierenden oberdeutschen Dialekten fällt ein additives Markierungsverfahren (das Schwa-Suffix) weg, während durch diverse phonologische Prozesse morphophonologische Marker entstehen (z. B. Quantitätskontraste in Folge der Einsilblerdehnung), die z. T. auch kombiniert auftreten. Daneben erfolgt analoge Ausdehnung des Umlauts, z. B. Fuusch – Füsch ‘Fisch/Fische’ im ostfränkischen Gemünden am Main oder Barch – Berch ‘Berg/Berge’ im ostfränkischen Krum. In den thürin8

Die Bezeichnung der Suffixe bezieht sich hier auf eine abstrakte Klassifikation als er-, Schwaoder Nasalsuffix. Die Realisierung von er- und Nasalsuffix variiert in den untersuchten Dialekten, sodass für die Allomorphe unterschiedliche konkrete Realisierungen bestehen, deren Distribution für die einzelnen Dialekte berücksichtigt werden muss (vgl. zur Problematik auch ROWLEY 1997: 126–129).

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gischen Dialekten gibt es ein ebenso ausdifferenziertes Inventar stammaffizierender Verfahren, nur treten diese häufiger in Form kumulierter Markierungen mit einem Suffix auf.

Abb. 3: Häufigkeitsverteilung der Leittypen der Pluralmarkierung in den Erhebungsorten (erstellt mit REDE SprachGIS, SCHMIDT / HERRGEN / KEHREIN 2008ff.)

4.2 Intra-individuelle Variation zwischen isolierter Flexionsform und Satzkontext Während sich die bisherigen Analysen zu Inventar und Distribution der einzelnen Pluralmarkierungsstrategien nur auf die isolierten Flexionsformen bezogen, ermöglichen die erhobenen NPn einen Vergleich der Pluralmarkierung zwischen isolierter Form und Satzkontext. Um Variation auf der intra-individuellen Ebene, d. h. im Sprachgebrauch der einzelnen GPn, abbilden zu können, wurden die Flexionsformen im isolierten Kontext vs. im Satzkontext für jedes abgefragte Lexem und für jede GP pro Ort verglichen. Unsere Ausgangshypothese lautet, dass in der isolierten Flexionsform mehr formale Markierung (d. h. Nicht-Null) zu finden ist als in der NP im Satzkontext, da die Numerusinformation hier auch durch die Substantivbegleiter (durch den Definitartikel) und die Verbkongruenz markiert wird. Abb. 4 zeigt, dass 1. der Anteil intra-individueller Variation in den Daten relativ gering ist (9,7 %, n =133 von insgesamt 1.374 Items, jeweils bestehend aus isolierter Form und NP) und 2. es einen leicht höheren und schwach signifikanten Anteil intra-individueller Variation in den

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bayerischen Daten (11,1 %, n = 90) im Vergleich zu den thüringischen Daten gibt (7,7 %, n = 43) (χ2 (1, n = 1.374) = 4,5, p < ,05).9

Abb. 4: Intra-individuelle Variation zwischen isolierter Flexionsform und NP im Satzkontext

Wir unterscheiden zwei verschiedene Formen von intra-individueller Variation: Sie besteht entweder hinsichtlich des Pluralmarkierungsverfahren (also auf der Ebene der Pluralallomorphie) oder sie besteht zwischen formaler Markierung (Nicht-Null) und Nullmarkierung. Die Variation auf der Allomorphie-Ebene wird an dieser Stelle ausgeklammert, der Fokus liegt auf intra-individueller Variation zwischen formaler Markierung und Null-Markierung. Unsere Ausgangshypothese lautet, dass die Pluralinformation eher in der isolierten Form und weniger im Satzkontext markiert wird. Im Vergleich von Null vs. Nicht-Null im isolierten Kontext zwischen bayerischen und thüringischen Daten gibt es einen leicht höheren, aber nicht-signifikanten Anteil von markierten Formen in den bayerischen Erhebungsorten gegenüber den thüringischen (χ2 (1, n = 90) = 1,9, p < ,05)). Der inter-dialektale Vergleich der markierten vs. null-markierten NP-Formen in Bayern und Thüringen weist einen höheren, aber wiederum nicht-signifikanten Anteil von Nullmarkierungen in den bayerischen Daten aus (χ2 (1, n = 90) = 1,9, p < ,05). Bestätigt dieser Befund von mehr Markierung im isolierten Kontext und mehr Nullmarkierung in der NP nun tatsächlich die Ausgangshypothese? Ist formale Markierung vs. Nicht-Markierung der Pluralinformation, die sich stärker in den bayerischen als den thüringischen Dialekten findet, primär durch den morphosyntaktischen Kontext bedingt? Oder ist intra-individuelle Variation hier genauso auf der Allomorphie-Ebene zu verorten wie bspw. die Variation zwischen additivem und stammaffizierendem Verfahren? Schaut man sich die Häufigkeit von intra-

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FIELD / MILES / FIELD (2012: 826) zufolge besteht Signifikanz bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 0,1 % ab einem Residuum von +/–3,29, für 1 % Irrtumswahrscheinlichkeit muss das Residuum mindestens den Wert +/–2,58 haben und für 5 % sind es +/–1,96. An diesen Werten haben wir uns für die folgenden Signifikanzberechnungen orientiert.

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individueller Variation für die einzelnen Lexeme bzw. Lexemklassen in den bayerischen Daten an, ergibt sich ein klareres Bild: Elf der 41 Belege mit Nullmarkierung im NP-Kontext entstammen der neutr. und mask. Ø- bzw. UL + Ø-Klasse (Fenster, Haufen, Schlüssel, Ofen, Graben). Nimmt man noch die acht Belege für Name (mask. n-Klasse) sowie die Einzelbelege für die Feminina Tochter und Tasche hinzu, weisen 51,2 % der Fälle eine zweisilbige Struktur auf Reduktionssilbe auf. Diesen Befund bestätigt ROWLEY (1997: 147) für das südliche Nordbairische, wo Zweisilber auf Reduktionssilbe -a oder -l Nullmarkierung aufweisen oder fakultativ (d. h. in Abhängigkeit von der Numerusmarkierung im Kontext) formal markiert werden können. Diese Form einer fakultativen Markierung findet sich im südlichen Nordbairischen und im Mittelbairischen vor allem bei mhd. schwachen Feminina, die im Nom. Sg. ein Nasalsuffix aufweisen (Daschn ‘Tasche’), so z. B. im bairischen Bernhardswald: In der isolierten Flexionsform wird der Plural dort additiv gebildet (Daschn – Daschna), im Satzkontext erscheint Nullmarkierung: De Taschn passt net zu dene Schoa – De Taschn passn net zu dene Schoa ‘Die Tasche passt nicht zu den Schuhen’.10 Flexion ist hier an der Schnittstelle zwischen Morphologie, Syntax und Kontext zu verorten: Wird die Numerusinformation nicht durch den morphosyntaktischen Kontext disambiguiert, nehmen „Kommunikationserfordernisse auf die Morphologie Einfluss“ (STEININGER 1994: 124) und die flexivische Information wird am Substantiv markiert; ist die Numerusinformation durch den Kontext markiert, erscheint Nullmarkierung am Substantiv (vgl. NICKEL 2021; ROWLEY 1997: 158–163). Daneben führt ROWLEY (1997: 168–169) einzelne Substantive, auf, die im Ostfränkischen und Bairischen mehreren Deklinationsklassen angehören können, und zwar in der Regel einer formal markierten Klasse und der Klasse mit Nullmarkierung, z. B. bam – bama/bam ‘Baum’ im Ofr. oder dōg – dāg/dōg ‘Tag’ (Bsp. aus NICKEL 2021). Es handelt sich um Einzelfälle, die regional stark schwanken können, doch besteht der systematische Unterschied zwischen Dialekt und nhd. Standard hier darin, dass die Pluralform im Bairischen und Ostfränkischen zwischen Null und Nicht-Null wechselt, während es im nhd. Standard semantische Unterschiede sind, die sich in unterschiedlicher formaler Pluralmarkierung (und Deklinationsklassenzugehörigkeit) wie in Wort – Worte/Wörter manifestieren (vgl. NÜBLING 2008: 292–293). Die Substantive in den Erhebungsdaten, die neben jenen der Klasse der Zweisilber auf Reduktionssilbe intra-individuelle Variation zwischen Null und Nicht-Null aufweisen, sind zudem relativ heterogen hinsichtlich ihrer historischen Klassenzugehörigkeit und ihrer Vorkommenshäufigkeit: Jeweils einfach belegt sind Kuh, Fisch, Bach; Hand und Jahr weisen je vier Fälle von intra-individueller Variation auf und Berg acht. Ob die Variation im Einzelfall durch eine dialektspezifische doppelte Deklinationsklassenzugehörigkeit begründet ist (dies liegt bei Jahr nahe, vgl. ROWLEY 1997: 105, 154) oder ob die intra-individuelle Variation durch Variation auf der Dialekt-Standard-Achse bedingt ist (vgl. Abschnitt 4.4), kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden, hierzu braucht es weitere 10 Die Belege der Gewährsperson als isolierte Flexionsform und im Satzkontext variieren hier außerdem in der Graphie des Anlauts von Tasche.

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Daten zu den einzelnen Ortsdialekten und zu den jeweiligen Flexionssystemen. Zentral zu setzen ist an dieser Stelle aber der Befund, dass im Ostfränkischen und im Bairischen Pluralmarkierung (nämlich Null vs. Nicht-Null) vom morphosyntaktischen Kontext abhängig sein kann und dass sich dieses Prinzip in den erhobenen Daten widerspiegelt. 4.3 Deklinationsklassen-Index Die Frage, inwiefern die Pluralallomorphie von der DK gesteuert wird, wollen wir über die Ermittlung eines Deklinationsklassenindex beantworten. Ausgehend von den in Abschnitt 3 vorgestellten DKn vergeben wir jeweils einen Indexwert eins, wenn sich die beiden Lexeme, die für eine DK abgefragt wurden, hinsichtlich ihrer Pluralallomorphe gleichen. Eine Null hingegen wird vergeben, wenn sich die beiden Lexeme einer DK hinsichtlich ihrer Flexive unterscheiden. Was heißt in diesem Zusammenhang gleichen bzw. unterscheiden? Für jedes Lexem werden aus den Antworten der GPn zunächst für jedes Lexem eine gewährspersonenübergreifende Leitform und ein Leittyp bestimmt. Leitform meint die Variante eines Lexems, die über alle GPn hinweg am häufigsten genannt wurde, Leittyp das entsprechende Kodierungsverfahren, z. B. Nullflexion, additives Verfahren, Umlaut usw. Dazu ein Beispiel: In Gemünden in Bayern flektieren für die neutrale n-Klasse vier von vier GPn den Plural von Hemd mit -er (z. B. Höm – Hömmer) und drei von vier den Plural von Ohr mit -n (Ohr – Ohrn; bei Nennung einer Nullflexion: Oahr – Oahr). Die Leitform für das Pluralflexiv von Hemd ist damit -er, die für Ohr lautet -n. Die Leitform innerhalb der DK (Hemd vs. Ohr) unterscheidet sich aber (-er vs. -n), weshalb Gemünden für die Leitform der neutralen n-Klasse einen Indexwert von null zugewiesen bekommt. Der Leittyp zwischen den beiden Lexemen ist jedoch gleich, die neutrale n-Klasse erhält dafür den Wert eins. nach Leitform 14 12 10 8 6 4 2 0

match

mismatch

Abb. 5: Deklinationsklassen-Index nach Leitform für alle Erhebungsorte

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nach Leittyp 14 12 10 8 6 4 2 0

match

mismatch

Abb. 6: Deklinationsklassen-Index nach Leittyp für alle Erhebungsorte

Ergebnisse: Wir wenden den DK-Index auf alle Erhebungsorte und alle DKn an und erhalten die summierten Werte, wie sie in den Abb. 5 und 6 dargestellt sind. Die schwarzen Balken geben jeweils die Werte wieder, in denen die beiden abgefragten Lexeme einer DK am Untersuchungsort die gleichen Leitformen bzw. Leittypen aufweisen, die grauen Balken repräsentieren bezogen auf die beiden Lexeme einer DK unterschiedliche Leitformen bzw. Leittypen. Insgesamt wurden 28 Lexeme aus 14 DKn abgefragt (vgl. Abschnitt 3), der maximal zu erreichende Wert im DKn-Index liegt damit bei 14, der minimale Wert liegt bei null.11 Es zeigt sich, dass in allen Untersuchungsorten der Faktor „Deklinationsklasse“ zumindest in Teilen die Ausprägung der Pluralallomorphie erklären kann, es aber auch eine große Variation gibt, sowohl was die Einhaltung der DKn innerhalb des Dialektes anbelangt als auch die Variation des DK-Verhaltens im interdialektalen Vergleich. Die Indexwerte liegen für die Leitformen minimal bei fünf (für Ramsau) und maximal bei 14 (für Unterwellenborn), für die Leittypen minimal bei sechs (für Kleinschmalkalden) und maximal ebenfalls bei 14 (für Unterwellenborn). Anders gesagt: In Unterwellenborn verhalten sich die zwei Lexeme einer DK über alle DKn hinweg vollständig konsistent hinsichtlich der Ausprägung der Pluralallomorphie, in Kleinschmalkalden ist dies in sechs von 14 DKn der Fall usw. Hinsichtlich der arealen Verteilung von tendenziell die DK einhaltenden und nicht einhaltenden Dialekten lassen sich allenfalls Tendenzen erkennen. Die beiden Untersuchungsorte mit der stärksten Berücksichtigung der DK liegen im Thüringischen (Langula) bzw. im thüringisch-ostfränkischen Übergangsgebiet (Unterwellenborn), die mit der geringsten Berücksichtigung – zumindest was die Leitform 11 Zu beachten ist, dass match und mismatch zusammen für einen Ort (bzw. im Weiteren für eine DK) hier wie im Folgenden nicht immer den gleichen Wert ergeben. Das rührt daher, dass die abgefragten Lexeme von den GPn mitunter durch Heteronyme übersetzt wurden, z. B. Pfoad für ‘Hemd’ im bair. Ramsau und diese dann nicht weiter ausgewertet werden konnten.

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betrifft – sind die beiden südlichsten Untersuchungsorte unseres Erhebungsgebiets, nämlich bairisch Bernhardswald und Ramsau. Aus morphophonologischer Perspektive stimmen diese Befunde mit unseren in Abschnitt 2.1 formulierten Erwartungen überein, wir waren ja insgesamt davon ausgegangen, dass thüringische Dialekte aufgrund dessen, dass sie konsistenten Schwa-Erhalt aufweisen, deutlich regulärer hinsichtlich der Lizenzierung der Pluralallomorphie sein sollten als z. B. die bairischen Dialekte mit stark durchgeführter Apokope. Was sich darüber hinaus besonders in Bernhardswald und Ramsau zeigt: Während die Leitformen einen hohen Grad an Inkonsistenz bzgl. der jeweiligen DKn aufweisen, sind die Leittypen doch deutlich konsistenter. Dies deutet darauf hin, dass die Phonologie hier zwar auf der Formebene in die Pluralallomorphie eingreift, dass die DK auf der Typenebene (additiv, stammaffizierend etc.) aber doch auch weiterhin steuernd im Sinne einer Deklinationsklassenhomogenität wirkt. nach Leitform 10 8 6 4 2 0

match

mismatch

Abb. 7: Deklinationsklassen-Index nach Leitform für alle DKn

nach Leittyp 10 8 6 4 2 0

match

mismatch

Abb. 8: Deklinationsklassen-Index nach Leittyp für alle DKn

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Wir wechseln die Perspektive und betrachten nun den DK-Index in Bezug auf die einzelnen DKn. In den Abb. 7 und 8 sind wiederum nach Leitform und Leittyp getrennt die über die zehn Untersuchungsorte summierten Indizes pro DK dargestellt. Für die mask. Ø-Klasse z. B. beträgt der Leitformen-Index sechs, d. h. in sechs von zehn erhobenen Dialekten verhalten sich die beiden getesteten Lexeme dieser DK hinsichtlich der Pluralallomorphie konsistent usw. Abb. 7 und 8 weisen aus, dass bezogen auf die Leitform die Pluralallomorphie in manchen DKn über die Dialekte hinweg überhaupt nicht konsistent ist, z. B. bei den neutralen und maskulinen n-Stämmen, in anderen DKn aber wiederum ein hohes Maß an Einheitlichkeit vorherrscht, z. B. bei den neutralen o-, den femininen n- und den maskulinen UL + Ø-Stämmen. Leitform und Leittyp können sich diesbezüglich mitunter beträchtlich unterscheiden, z. B. bei den neutralen n-Stämmen, die ein hohes Maß an Heterogenität bzgl. der Leitform aufweisen, aber ein hohes Maß an Homogenität bzgl. des Leittyps. Die beiden neutralen n-Stämme Hemd und Ohr variieren hinsichtlich des konkreten Pluralsuffixes (hier -er und -n), sie weisen in den Dialekten aber den gleichen Typus des Pluralkodierungsverfahren auf (hier additiv). Diesen Befund für die n-Stämme Hemd und Ohr bestätigen andere Untersuchungen, die zeigen, dass Genus stark prägend für die DK-Zugehörigkeit ist und die Pluralallomorphie steuert. Im Fall der Neutra stellt das er-Suffix ein frequentes und genusspezifisches Verfahren dar (neben dem kumulativen Verfahren er + UL), das viele Neutra aus der historischen n-Klasse anzieht, z. B. ofr./bair. Better ‘Betten’, Herzer ‘Herzen’ (vgl. NICKEL / KÜRSCHNER 2019: 380; ROWLEY 1997: 195; SCHIRMUNSKI 1962: 425–429). Dass neben Genus auch semantische Merkmale Deklinationsklassenzugehörigkeit steuern können, zeigen die mask. er-Stämme (Bruder, Vater), die im bairischen Bernhardswald und Ramsau hinsichtlich ihrer Leitform jeweils nicht konsistent sind: Die Pluralform von Bruder wird mit Umlaut markiert, die von Vater hingegen mit Nasalsuffix, z. B. Vådda – Våddan ‘Vater’ in Ramsau. Für die mask. und fem. er-Stämme ist hier diachron ein dialektspezifischer Wandel der Deklinationsklassenzugehörigkeit anzusetzen, der (zumindest für die mask. er-Stämme) die – relativ zu den anderen Dialekten – abweichenden Werte für die bairischen Ortspunkte Bernhardswald und Ramsau erklärt. Für das südliche Nordbairische und das Mittelbairische setzt ROWLEY (1997: 137) eine eigene, semantisch konditionierte Deklinationsklasse ‚enge Verwandtschaftsbezeichnungen‘ an, die nach dem Muster der schwachen Deklination flektiert. Zu dieser DK zählen (zumindest im Basisdialekt) u. a. auch Mutter, Tochter, Schwester sowie Bruder und Vater. Anders als die übrigen Verwandtschaftsbezeichnungen wird die Pluralform von Tochter und Bruder in diesem Dialektraum mit Umlaut markiert (und fakultativ mit Nasalsuffix, vgl. ROWLEY 1997: 137 und Fn. 246), Mutter und Vater markieren den Plural additiv mit Nasalsuffix. In unseren Daten ist die fem. er-Klasse in Ramsau und Bernhardswald konsistent (d. h. sowohl Tochter als auch Mutter weisen UL-Plural auf), doch scheint dies durch Dialektwandel, nämlich den Abbau des Dialektmerkmals einer eigenen DK ‚enge Verwandtschaftsbezeichnungen‘, bedingt zu sein. Ein Reflex der historischen schwachen Deklination findet sich in Ramsau mehrfach in der Singularform mit Nasalsuffix in den NP-Belegen (D’Muadan macht a Mamelad

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‘Die Mutter macht Marmelade’), in Bernhardswald ist die schwache Pluralform mit Nasalsuffix in den isolierten Pluralformen als intra-individuelle Variation belegt: Mutter – Mitter / Muttern (GP2). Neben Genus und einzelnen semantischen Konditionierungsfaktoren können auch phonologische Faktoren unseren Befund von stärker und schwächer die DK einhaltenden und nicht einhaltenden Dialekten in der Detailanalyse erklären. Abb. 7 und 8 zeigen, dass die mask. Ø-Klasse (anders als die mask. Ø + UL-Klasse und die neutrale Ø-Klasse) sowohl nach Leitform und Leittyp nicht konsistent sind. Eine Erklärung für diesen Befund findet sich wiederum in den bairischen Ortspunkten Bernhardswald und Ramsau, außerdem im ostfränkischen Gemünden und im thüringischen Kleinschmalkalden und Brotterode. In diesen Dialekten verhält sich Schlüssel deklinationsklassenkonform (d. h. mit Nullmarkierung), das Mask. Haufen hingegen variiert hinsichtlich des konkreten Pluralmarkierungsverfahrens in den Dialekten, und zwar in Form verschiedener Pluralmarkierungstypen: –





Im thüringisch-ostfränkischen Übergangsgebiet (Kleinschmalkalden, Brotterode) wird die Singularform ohne das Nasalsuffix realisiert, die Pluralform wird durch Schwa-Suffix markiert (z. B. Houf – Houfe in Kleinschmalkalden). Im bairischen Bernhardswald wird der Plural additiv mit Nasalsuffix gebildet (Haufa – Haufan). In der Singularform wird die Reduktionssilbe mhd. en vokalisch als Tiefschwa realisiert, die additive Form stellt damit eine Art Doppelsuffigierung aus Nasalsuffix + n dar, die eine spezifische Pluralstruktur des Bairischen ist (vgl. ROWLEY 1997: 160). Im ostfränkischen Gemünden erscheint die Reduktionssilbe ebenfalls als Tiefschwa, doch wird die Pluralinformation hier nicht in Form einer Doppelsuffigierung, sondern durch Umlaut markiert (Haufa – Haüfa). Umlautplural gilt auch im bair. Ramsau.

Insgesamt zeigen diese Analysen – sowohl die DK-Indizes als auch die Detailanalysen einzelner DKn –, dass die Dialekte 1. hinsichtlich der Zusammensetzung der DK synchron und auch diachron variieren, 2. die Konditionierungsfaktoren dialektspezifisch sein können und 3. sich die (morpho)phonologischen Voraussetzungen und flexionsmorphologischen Strategien der Pluralkodierung unterscheiden. 4.4 Inter-individuelle Variation am Ort Durch die Bestimmung von Leitformen und Leittypen wie auch durch die Generalisierung der Pluralkodierungsverfahren über einzelne Dialekte hinweg blieben die Antworten der einzelnen GPn bislang weitgehend unberücksichtigt. Doch lassen sich auch aus der Konsistenz bzw. Inkonsistenz im Antwortverhalten pro DK Rückschlüsse auf deren Erklärungswert für die Ausprägung der Pluralallomorphie ziehen. Hierzu zwei Beispiele: In Krum lauten die Übersetzungen der fünf GPn für die Lexeme Tasche und Kirche in der femininen n-Klasse wie folgt:

98  

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Für Tasche: GP1: Sg. Taschn/Pl. Taschn; GP2: Toschn/Toschn; GP3: Taschn/ Taschn; GP4: Daschn/Daschn; GP5: Doschn/Doschn Für Kirche: GP1: Kerng/Kerng; GP2: Kerng/Kerng; GP3: Kerng/Kerng; GP4: Kerch/Kerchn; GP5: Kerng/Kerng

Mit Ausnahme von GP4, die lediglich für Tasche einen Nullplural verwendet, Kirche aber additiv flektiert (Sg. Kerch, Pl. Kerchn), gebrauchen alle anderen GPn für beide Lexeme in dieser DK als Pluralmarkierungsverfahren konsistent den Nullplural. Das Antwortverhalten hinsichtlich der Kodierungsstrategien für die feminine nKlasse ist damit in Krum überaus konsistent. Anders sieht es hingegen z. B. bei der maskulinen a-Klasse aus, wo die zugehörigen Lexeme von den GPn in Gemünden deutlich heterogener flektiert werden:  

Für Name: GP1 Sg. Nomme/Pl. Nömme; GP2 Nomme/Nomme; GP3 Nomma/Nömma; GP4 Nomma/Nömma Für Fisch: GP1 Fisch/Fisch; GP2 Fusch/Füsch; GP3 Fusch/Füsch; GP4 Fuusch/Füsch

Hier sind die Verhältnisse insbesondere für die Pluralmarkierung von Fisch komplex. Während GP2 und GP3 den Plural übereinstimmend mit Umlaut bilden, gebraucht GP1 einen Nullplural und GP4 eine Kombination aus Umlaut und Vokalkürzung. Wir haben es hier also für Fisch mit drei unterschiedlichen Pluralkodierungsverfahren zu tun, Umlaut, Null und Umlaut + Kürzung. Dieses Vorgehen stimmt dann auch nur bedingt mit den Befunden zu Name überein, wo von drei GPn der Plural mit Umlaut gebildet wird, von einer aber mit Null. Was beide Lexeme aber wiederum eint, ist, dass in Gemünden die maskuline a-Klasse den Plural dominant mit Umlaut bildet. Inter-individuelle Variation am Ort 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0

Variation Abb. 9: Inter-individuelle Variation am Ort

keine Variation

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Die inter-individuelle Variation bzgl. der Pluralkodierung pro DK ist in Abb. 9 dargestellt. Ein Punkt wurde jeweils vergeben, sofern sich der Verfahrenstyp bezogen auf dasselbe Lexem zwischen den GP nicht unterschied, kein Punkt bekamen die Lexeme, für die die GPn uneinheitlich hinsichtlich der Pluralkodierung antworteten. Die vergebenen Werte wurden dann auf ganze DKn hochgerechnet. Es zeigt sich, dass in bestimmten DKn ein hohes Maß an inter-individueller Variation vorherrscht, z. B. in der femininen und maskulinen er-Klasse, in anderen wie der neutralen a- und der maskulinen UL + Ø-Klasse die GPn aber jeweils in hohem Maße dieselben Kodierungsverfahren verwendet haben. Bezogen auf alle 280 erhobenen Lexeme tritt in 148 Fällen (= 53 %) inter-individuelle Variation auf, d. h. in über der Hälfte aller abgefragten Lexeme variiert der Typ Pluralkodierung am Ort. Wie lässt sich die inter-individuelle Variation hier erklären? Einen großen Einfluss scheinen das Flexionssystem der Standardsprache und damit mögliche Interferenzeffekte zu haben. So ist bei den oben genannten 148 Fällen inter-individueller Variation in 137 Fällen (= 93 %) einer der beiden Typen konform mit dem Kodierungsverfahren der Standardsprache. Dies zeigt sich z. B. für Unterwellenborn im Thüringischen, wo vier von fünf GPn den Plural von Fenster (neutrale Ø-Klasse) standardkonform mit Nullplural angeben, eine GP ihn aber additiv mit -n markiert hat. Wir hätten hier also einen Gegensatz zwischen einer dialektalen und einer standardsprachlichen Variante an Pluralmarkierung vorliegen, die die inter-individuelle Variation in den Daten in einem hohen Maße erklären kann. Darüber hinaus sind aber insbesondere die Fälle interessant, die sich nicht alle über den Einfluss der Standardsprache erklären lassen (= 7 % der entsprechenden Daten inter-individueller Variation). All diese Fälle inter-individueller Variation zeichnen sich dadurch aus, dass über die GPn hinweg drei verschiedene Kodierungsverfahren verwendet werden, zwei dialektale(re) und eines, das mit der Standardsprache konform ist. So verhält es sich z. B. bei Ofen (maskuline Umlaut + 0-Klasse), wo die GPn in Gemünden additiv, Null und Umlaut für die Pluralmarkierung verwendet haben. Umlaut ist standardkonform, die Alternation zwischen den beiden anderen Verfahren hingegen ist nicht über den Standardeinfluss erklärbar und weist auf mögliche (im Sinne von: den Dialektsprechern zur Verfügung stehende) dialektale Pluralmarkierungsstrategien und dialektalen Deklinationsklassenwechsel hin. 5 FAZIT UND AUSBLICK Was lässt sich aus den Befunden nun schließen? Unsere Ergebnisse bestätigen zunächst NÜBLINGs (2008: 312) Befund: Dialekte variieren hinsichtlich ihres Deklinationsklassenverhaltens. Einzelne (in unserem Fall thüringische) Dialekte „tradieren“ das historische DK-System, andere Dialekte weisen Restrukturierungen und zum Teil dialektspezifische Konditionierungsprinzipien auf (hier besonders die bairischen Dialekte). Die Detailanalysen zeigen, dass diachron einerseits Deklinationsklassenwechsel in andere Pluralmarkierungsverfahren stattgefunden hat, die teilweise auch dialektspezifisch sind (etwa additive Markierungen des Typs

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Daschn – Daschna ‘Tasche’ im Bairischen). Andererseits ist durch (wiederum dialektspezifische) phonologische Prozesse ein Wandel des Pluralmarkierungsverfahrens erfolgt, die historische Deklinationsklassenzugehörigkeit ist hier aber bewahrt, so z. B. bei dem alten i-Femininum Hand mit subtraktiver Pluralform im Thüringischen und Teilen des Ostfränkischen oder beim umlautähnlichen Vokalwechsel bei mhd. ei in Oa – Oia ‘Ei’ im Nordbairischen. Hier zeigt der Vergleich ostoberdeutscher und ostmitteldeutscher Dialekte, in welchem Umfang das phonologische System die dialektalen Flexionssysteme (hierin vor allem die zur Verfügung stehenden Markierungsverfahren) steuert und vorhandene synchrone Variation vor der Folie der historischen DKn erklären kann (vgl. z. B. die mask. Ø + UL-Klasse). Damit lässt sich die erste unserer Forschungsfragen eindeutig beantworten: Ja, es gibt Variation zwischen bayerischen und thüringischen Dialekten hinsichtlich der nominalen Pluralallomorphie, wobei es hier noch einer weiteren Differenzierung innerhalb dieses Untersuchungsraumes in Thüringisch, Ostfränkisch und innerhalb des Bairischen bedarf. Gleichzeitig zeigt die inter-individuelle Variation in den einzelnen Ortsdialekten, dass hier zum einen Variation innerhalb der dialektalen Pluralmarkierungsverfahren (und damit Deklinationsklassenzugehörigkeit), zum anderen aber auch Interferenzeffekte mit dem standarddeutschen System anzunehmen sind. Mit Blick auf die zweite Forschungsfrage nach dem Ordnungsprinzip „Deklinationsklasse“ zeigt sich, dass die untersuchten Dialekte im Vergleich zum Standard insgesamt radikaler im genusbasierten Umbau der historischen DKn sind: In den oberdeutschen Dialekten ist die rein stammaffizierende Markierung in Folge der Apokope des Schwa-Suffix der historischen a- und i-Klasse synchron ein Merkmal der Maskulina (hierin v. a. analoge Umlautplurale), er-Plural und er + Umlaut sind hingegen genusspezifische Verfahren der Neutra. Mehrere Zufallsbelege12 aus dem Thüringischen zeigen, dass diese DK für die Neutra produktiv und – anders als im Standard – nicht „geschlossen“ ist (vgl. NÜBLING 2008: 299): Die Vaeter potze die Autöer ‘Die Väter putzen die Autos’ in Kleinschmalkalden mit er + Umlaut und De Vöhr potze de Autoer mit er-Plural in Brotterode. In unseren Studien haben wir pro DK zwei Lexeme erhoben; je größer das zu erhebende Set pro historischer DK, desto detaillierter können Konditionierungsfaktoren der rezenten Deklinationsklassenzusammensetzung, die Type- und Tokenfrequenz und auch die Produktivität von DKn für einzelne Dialekte ausgearbeitet werden. Wir konnten im Hinblick auf unsere dritte Forschungsfrage außerdem zeigen, dass in den bayerischen Dialekten neben den DKn auch der syntaktische Kontext Pluralmarkierung (Null vs. Nicht-Null) steuern kann. Wenn der (morphosyntaktische) Kontext die Numerusinformation nicht disambiguiert, wird Plural formal am Substantiv durch einen distinkten Marker kodiert; wird Numerus in der NP und/oder durch Verbkongruenz disambiguiert, erscheint Nullmarkierung am Substantiv. Damit ist RABANUS’ (2008) Konzept eines morphologischen Minimums 12 Die Gewährspersonen haben bei der Übersetzung des vorgegebenen Satzkontextes (‘Der Vater wäscht das Auto’ – ‘Die Väter waschen das Auto.’) nicht nur die Subjekt-NP, sondern auch die Objekt-NP in den Plural übersetzt.

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allgemein auch auf die Pluralflexion anwendbar, wobei noch zu klären wäre, welche Kontextfaktoren Numerus wie stark disambiguieren. ABKÜRZUNGEN DK = Deklinationsklasse GP = Gewährsperson fem. = feminin bair. = bairisch mask. = maskulin mhd. = mittelhochdeutsch neutr. = neutrum

nhd. = neuhochdeutsch NP = Nominalphrase ofr. = ostfränkisch omd. = ostmitteldeutsch thüring. = thüringisch UL = Umlaut LITERATUR

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SYNTAX

EINGEBETTETE W-INFINITIVE IN DEUTSCHEN VARIETÄTEN IN SÜDTIROL Alexander Glück ABSTRACT In vorliegender Studie wird einerseits die Grammatikalität eingebetteter w-Infinitive hinsichtlich ihrer syntaktischen Funktion(en), etwaiger Selektionsbeschränkungen und Satzmodusbindungen sowie der (In-)Kohärenz solcher Konstruktionen geprüft. Andererseits wird ihre Bezeugung in synchron-rezenten und synchron-historischen deutschen Varietäten in Südtirol im Vergleich zu anderen Teilen des deutschen Sprachraums beschrieben, um gegen einen in der Literatur vermuteten Sprachkontakteinfluss aus dem Italienischen auf deutsche Varietäten in Südtirol zu argumentieren. 1 EINLEITUNG Eingebettete w-Infinitive als Komplemente des Matrixprädikats wissen (vgl. (1)), die „sich häufiger in der gesprochenen Sprache Ostbelgiens und Südtirols beobachten [lassen], im Schriftlichen […] [jedoch] auf wenige Einzelfälle beschränkt [bleiben]“ (RIEHL 2001: 256), werden in RIEHL (2001: 256) auf Sprachkontakteinfluss aus dem Französischen bzw. Italienischen zurückgeführt.1 (1)

Als sich diese [eine Traube, A. G.] vom Ast löst und zu Boden fällt weiß er [ein Fuchs, A. G.] nicht was tun. (RIEHL 2001: 256, ergänzt aus dem Anhang [1994])

Nun ist einerseits zutreffend, dass im Italienischen von den Verben sapere ‘wissen’, chiedere ‘fragen’ und dire ‘sagen’ Infinitivkonstruktionen aus Interrogativum und Infinitiv selegiert werden (vgl. SCHWARZE 1995: 208–209, 433; BIANCHI 2007: 35– 36), andererseits scheinen native Sprecher des Deutschen solche Infinitivkonstruktionen im Deutschen als ungrammatisch zu empfinden. Die Userin Astrid schreibt dazu in einem Eintrag in einem Internetforum: Hallo, ich würde gern wissen, ob ihr den Satz

1

Ich habe mich dieser Ansicht jüngst angeschlossen (vgl. GLÜCK / LEONARDI / RIEHL 2019: 260– 261), was vor dem Hintergrund der folgenden Ausführungen eindeutig zu revidieren ist.

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„Ich weiss2 nicht, was machen“ für richtig oder falsch haltet Für meine Ohren klingt er falsch, richtig müsste es heissen: „Ich weiss nicht, was ich machen soll.“ Aber hat sich diese erste Form inzwischen eingebürgert? Da ich selbst im Ausland lebe, bekomme ich diese Veänderungen [sic] in der Sprache nicht mehr wirklich mit. Vielen Dank Astrid3

Trotz dieser Einzelbeobachtungen erfordert eine systematische Prüfung eines möglichen Sprachkontakteinflusses jedoch zumindest – – – – – – –

eine Skizzierung des Kontaktraums (vgl. Kap. 2), eine Skizzierung der (potenziellen) Kontaktvarietät(en) (vgl. Kap. 2), eine Prüfung der Grammatikalität eines Phänomens (vgl. Kap. 3), eine Darstellung der syntopisch-rezenten Bezeugung eines Phänomens (vgl. Kap. 3), eine Darstellung der syntopisch-historischen Bezeugung eines Phänomens (vgl. Kap. 3), eine Beschreibung der Produzenten eines Phänomens (vgl. Kap. 4) und eine Darstellung der diatopischen Bezeugung eines Phänomens (vgl. Kap. 5).

Dabei wird im Folgenden von der Überzeugung ausgegangen, dass sich Sprachkontakteinfluss im Rahmen von „pattern replication“ (vgl. MATRAS / SAKEL 2007: 829– 830), also der kontaktinduzierten Replizierung von grammatischer Funktion, von semantischer Bedeutung und von Serialisierungsgesetzmäßigkeiten, das heißt von allem, das nicht die reine phonetische und/oder morphologische Ausdrucksseite umfasst, letztendlich nicht nachweisbar, sondern allenfalls glaubhaft oder unglaubhaft zu machen ist. Für ein solches Vorgehen sind folgende Grundsätze leitend: –





2

3

Je homogener ein Phänomen rezent im Kontaktraum geographisch bezeugt ist, desto unwahrscheinlicher ist rezenter Sprachkontakteinfluss im Kontaktraum. Dies betrifft vor allem Kontakträume, in denen rezent keine territoriale Mehrsprachigkeit gegeben ist. Je homogener ein Phänomen rezent im Kontaktraum sozial bezeugt ist, desto unwahrscheinlicher ist rezenter Sprachkontakteinfluss im Kontaktraum. Dies betrifft vor allem Kontakträume, in denen rezent keine gesellschaftliche Mehrsprachigkeit gegeben ist. Je homogener ein Phänomen historisch im Kontaktraum geographisch und/oder sozial bezeugt ist, desto unwahrscheinlicher ist rezenter Sprachkontakteinfluss

Astrid entschuldigt sich in einem späteren Eintrag für die prinzipielle Verwendung der Graphie, die auf ihren „ausländischen Laptop“ zurückzuführen sei. Die Verwendung dieser Graphie lässt somit nicht den Schluss zu, dass es sich bei Astrid um eine Schweizerin handelt. URL: ; Stand: 31.05.2020.

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im Kontaktraum. Dies betrifft vor allem Kontakträume, in denen historisch keine territoriale und/oder gesellschaftliche Mehrsprachigkeit gegeben ist.4 Je homogener ein Phänomen rezent und/oder historisch außerhalb des Kontaktraums geographisch und/oder sozial bezeugt ist, desto unwahrscheinlicher ist rezenter und historischer Sprachkontakteinfluss im Kontaktraum.

Eine entsprechende Prüfung soll in den folgenden Kapiteln unternommen werden, bevor die Ergebnisse in einem Fazit zusammengefasst werden (vgl. Kap. 6). 2 KONTAKTRAUM UND KONTAKTVARIETÄT(EN) Die italienische Provinz Südtirol ist eine offiziell zwei- bzw. dreisprachige Provinz, in der Deutsch und – beschränkt auf Gröden und das Gadertal – Ladinisch neben der nationalen Amtssprache Italienisch als regionale Amtssprachen anerkannt sind und auf Behörden und in Bildungseinrichtungen verwendet werden (können) (vgl. GLÜCK / LEONARDI / RIEHL 2019: 250–252). Neben dieser institutionellen Mehrsprachigkeit herrscht eine weitgehende gesellschaftliche Mehrsprachigkeit vor, da Südtirol zwar ein nach Einzelsprachen getrenntes Schulsystem aufweist, Deutsch aber nicht nur in Schulen mit deutscher Unterrichtssprache als Erstsprache, sondern auch in Schulen mit italienischer Unterrichtssprache spätestens ab der zweiten Klasse der Grundschule als Zweitsprache unterrichtet wird.5 Gleiches gilt für Italienisch in der umgekehrten Konstellation, weswegen Menschen, die das Südtiroler Schulsystem durchlaufen haben, über Kenntnisse der jeweiligen Zweitsprache verfügen, wenn auch in individuell sehr unterschiedlichem Ausmaß (vgl. GLÜCK / LEONARDI / RIEHL 2019: 251–252). Ein Nachweis dieser Kenntnisse durch einen sog. Zwei- bzw. Dreisprachigkeitsnachweis ist nur bei einer Bewerbung um eine Stelle im öffentlichen Dienst vorgeschrieben (vgl. GLÜCK / LEONARDI / RIEHL 2019: 251), wiewohl auch in Handwerk und Industrie, vor allem aber im wirtschaftlich bedeutenden Tourismussektor Kenntnisse der Zweitsprache meist unerlässlich sind (vgl. GLÜCK / LEONARDI / RIEHL 2019: 249). Jedoch sind die einzelnen Sprachgruppen ungleich über die Provinz verteilt, ist die territoriale Mehrsprachigkeit also von den lokalen Gegebenheiten abhängig 4

5

Den historischen terminus ante quem für Südtirol bildet dabei das Jahr 1919, als das Gebiet als Folge des Ersten Weltkriegs Italien angegliedert wurde. Durch das Verbot des Deutschen in Bildungseinrichtungen und die Einführung des Italienischen als alleiniger Unterrichtssprache (vgl. GLÜCK / LEONARDI / RIEHL 2019: 247–248) im italienischen Faschismus ist erst ab diesem Zeitpunkt mit einem Kontakt aller deutschsprachigen Südtiroler mit dem Italienischen zu rechnen. Die Termini ‚Erstsprache (L1)‘ und ‚Zweitsprache (L2)‘ werden im Folgenden auf historische Einzelsprachen bezogen, ohne die Varietäten genauer zu unterscheiden. Während für die allermeisten nativ deutschsprachigen Südtiroler ein südbairischer Dialekt die L1 darstellt, ist sie für die meisten nativ italienischsprachigen Südtiroler ein (regionales?) Standarditalienisch, wiewohl Kenntnisse einer italo-romanischen Varietät bei einer Minderheit durchaus vorhanden zu sein scheinen (vgl. GLÜCK / LEONARDI / RIEHL 2019: 255–256).

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(vgl. GLÜCK / LEONARDI / RIEHL 2019: 246–247). Während in Bozen und einigen Gemeinden des südlich davon gelegenen Unterlands6 nativ italienischsprachige Südtiroler die Mehrheit der Bevölkerung stellen7 sowie in Meran nativ italienisch- und nativ deutschsprachige Südtiroler fast paritätisch verteilt sind, entfallen gerade in den Gebieten abseits der Hauptverkehrswege zwischen Bozen und Meran8 sowie zwischen Bozen und Brixen9 meist 90 % der Bevölkerung auf nativ deutschsprachige Südtiroler10. Ladinisch bleibt in seiner Verwendung auf die Ortschaften in Gröden und im Gadertal11 sowie – in bedeutend geringerem Maße – direkt an diese Gebiete anschließende Ortschaften12 beschränkt (vgl. ISTAT/ASTAT 2013: 36–38). Hinsichtlich der individuellen Mehrsprachigkeit ist die überwiegende Mehrheit der Südtiroler als durch gesteuerten Spracherwerb sukzessive bilingual mit asymmetrischen Kompetenzen in L1 und L2 zu betrachten. Die Zahl durch ungesteuerten Spracherwerb simultan bilingualer Südtiroler mit symmetrische(re)n Kompetenzen in L1 und L2 ist unbekannt, da die im Zuge der allgemeinen Volkszählung durchgeführte Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung auch simultan bilinguale Südtiroler dazu verpflichtet, sich nur einer einzigen Sprachgruppe zugehörig zu erklären (vgl. GLÜCK / LEONARDI 2019: 446–447). In einer nach eigener Aussage repräsentativen Umfrage des Südtiroler Landesinstituts für Statistik, in der mehr als eine „Muttersprache“ angeben werden konnte, nennen jedoch nur 3,8 % der Befragten Italienisch und Deutsch gleichermaßen als ihre Muttersprachen (vgl. ASTAT 2015: 22). 6

Im direkt an das Trentino grenzenden Unterland wurden und werden mit trentinischen Varietäten auch italo-romanische Varietäten gesprochen, die zumindest in ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung wohl auf dieses Gebiet beschränkt sind. 7 Im Rahmen der sog. Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung (vgl. GLÜCK / LEONARDI / RIEHL 2019: 246–247) erklärt sich in den Gemeinden Bozen (70,80 %), Branzoll (62,01 %), Leifers (71,50 %), Pfatten (61,50 %) und Salurn (61,85 %) die Mehrheit der Bevölkerung als nativ italienischsprachig, in den Gemeinden Altrei (12,20 %), Auer (29,59 %), Kurtinig (31,15 %), Margreid (15,22 %), Neumarkt (36,89 %) und Truden (25,42 %) sowie in den nicht zum Unterland gehörenden, aber direkt an Bozen angrenzenden Gemeinden Eppan (13,29 %) und Karneid (10,64 %) zumindest ein gesamtgesellschaftlich relevanter Teil der Bevölkerung. 8 Im Etschtal weisen zumindest die Gemeinden Algund (14,58 %), Burgstall (22,78 %), Gargazon (20,33 %), Marling (13,41 %) und Terlan (16,07 %) einen nennenswerten Anteil nativ italienischsprachiger Bevölkerung auf. 9 Im Eisacktal weisen zumindest die Gemeinden Brixen (25,84 %), Waidbruck (13,37 %) und Vahrn (11,18 %) einen nennenswerten Anteil nativ italienischsprachiger Bevölkerung auf. Sonstige nennenswerte Anteile nativ italienischsprachiger Bevölkerung in den Gemeinden Brenner (18,64 %) und Sterzing (25,95 %), Bruneck (15,24 %), Innichen (14,64 %) und Toblach (15,58 %) sowie Franzensfeste (38,51 %) dürften auf deren Grenznähe und/oder die dortige Stationierung von Militäreinheiten zurückzuführen sein. 10 In der Gemeinde Martell erklärten sich im Rahmen der letzten Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung 2011 sogar 100 % der Einwohner als nativ deutschsprachig. 11 In den Gemeinden Abtei (94,07 %), Corvara (89,70 %), Enneberg (92,09 %), St. Martin in Thurn (96,71 %) und Wengen (97,66 %) im Gadertal sowie St. Christina in Gröden (91,40 %), St. Ulrich (84,19 %) und Wolkenstein (89,74 %) in Gröden und im daran angrenzenden Kastelruth (15,37 %) erklärt sich die Mehrheit der Bevölkerung als nativ ladinischsprachig. 12 Lediglich in den Gemeinden Lajen (6,14 %) und Waidbruck (5,23 %) am Talausgang von Gröden sowie Bruneck (2,29 %) am Talausgang des Gadertals lassen sich Werte feststellen, die deutlich über 1 % liegen.

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Als potenzielle Kontaktvarietät von gesamtgesellschaftlicher Relevanz kommt somit für nativ deutschsprachige Südtiroler nur Standarditalienisch in Frage, da die ladinischen Varietäten auf Gröden und das Gadertal sowie die trentinischen Varietäten auf das Unterland beschränkt sind. 3 GRAMMATIKALITÄT, VARIETÄT(EN) UND DIACHRONE BEZEUGUNG Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die Forschungsliteratur zu eingebetteten w-Infinitiven gegeben (vgl. 3.1), um daraus Forschungsfragen abzuleiten (vgl. 3.2), die anhand von Belegen aus unterschiedlichen Quellen (vgl. 3.3) geprüft werden (vgl. 3.4). 3.1 Literaturüberblick Die erste Erwähnung eingebetteter w-Infinitive im Standarddeutschen scheint in FRIES (1983: 225) vorzuliegen (vgl. (2)), wobei aus der Darstellung nicht klar hervorgeht, ob es sich hierbei um einen Quellenbeleg handelt oder der Autor ein Beispiel aus seiner eigenen Kompetenz schöpft: (2)

Ich frage mich, was tun. (FRIES 1983: 225)

Daran anknüpfend betrachtet REIS (1985: 307) eingebettete w-Infinitive teils – im Falle eines Matrixprädikats fragen – als „Wurzelstrukturen“ (REIS 1985: 307), teils – im Falle eines Matrixprädikats wissen – als „Quasi-Idiome […] mit eher analogischer, sehr begrenzter Produktivität“ (REIS 1985: 307) bzw. in einer späteren Publikation (REIS 2003: 174–175) – mit einer nunmehrigen Beschränkung auf das Matrixprädikat wissen und den eingebetteten w-Infinitiv was tun – als „fixed expression“ (REIS 2003: 174): Yet the sole example to be judged completely acceptable when embedding wh-infinitivals is nicht wissen ‘not know’, and this only when combined with the embedded wh-infinitival was tun ‘what (to) do’ […]. Other cases deemed marginally acceptable almost invariably contain either the same matrix predicate […] or the same embedded wh-infinitival […], but there is no free productivity whatsoever […]. […] In other words, embedding wh-infinitives is not licensed by the grammar of German[.] (REIS 2003: 174–175)13

Dieser Sichtweise haben sich BRANDNER (2004: 27) und SABEL (2006: 245) weitgehend angeschlossen. Auch für sie stellen eingebettete w-Infinitive des Typs

13 Zu einer detaillierten Auflistung von nach REIS (2003: 174) grammatischen, fraglichen und ungrammatischen Konstruktionen vgl. 3.4.1.

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wissen was tun14 „idiomatic or ‚frozen‘ expressions“ (BRANDNER 2004: 27) dar,15 da „[t]he construction […] is not productive in German“ (SABEL 2006: 245), weswegen „S[tandard]G[erman] lacks productive wh-infinitives“ (BRANDNER 2004: 27). Ebenso betrachtet GÄRTNER (2013: 206) w-Infinitive als „nicht regulär einbettbar“ und „[s]cheinbare Ausnahmen […] als ‚eingebettete Wurzelphänomene‘“ (GÄRTNER 2013: 206),16 für LOHNSTEIN (2013: 63–64) sind w-Infinitive jedoch „auch eingebettet möglich“ (LOHNSTEIN 2013: 64).17 In der Duden-Grammatik18 schließlich werden eingebettete w-Infinitive als elliptische „Nebensatzäquivalente“ (Duden 2016: 906) betrachtet.19 3.2 Forschungsfragen Im Folgenden soll zunächst auf die syntaktische(n) Funktion(en) eingebetteter wInfinitive, dann auf etwaige Selektionsbeschränkungen und Satzmodusbindungen und schließlich die (In-)Kohärenz solcher Konstruktionen eingegangen werden. Hinsichtlich der Funktion ist zu klären, in welchen syntaktischen Funktionen eingebettete w-Infinitive bezeugt sind, hinsichtlich der Selektionsbeschränkungen, von welchen Verben eingebettete w-Infinitive und welche Typen eingebetteter w-Infinitive dabei selegiert werden. Zudem ist zu fragen, ob das Auftreten eingebetteter w-Infinitive an deklarativen Satzmodus gebunden ist. Schließlich ist die Topologie eingebetteter w-Infinitive zu berücksichtigen und dabei insbesondere die Frage, ob eingebettete w-Infinitive nur inkohärent realisiert werden und damit satzwertig sind oder auch kohärent realisiert werden (können) und dann nicht satzwertig sind. Neben der Prüfung der Grammatikalität eingebetteter w-Infinitive wird dabei implizit 14 Lediglich REIS (2003: 174–175) geht explizit von einer obligatorischen Negation des Matrixprädikats wissen mittels der Negationspartikel nicht aus. Abgesehen von Belegen, in denen ein Wissensdefizit durch beispielsweise interrogativen Satzmodus (vgl. (3)), ohne zu-Infinitivkonstruktion (vgl. (6)), negatives Quantifikativum (vgl. (44)) oder teils als abschwächende Intensitätspartikel (vgl. BREINDL 2007: 401, 408), teils als graduierendes Adverb (vgl. ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997: 1200) – jedoch auch als einschränkende Partikel (vgl. ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997: 1277) – klassifiziertes kaum (vgl. (52)) zum Ausdruck kommt, scheinen jedoch auch Belege auf, in denen kein Wissensdefizit vorliegt (vgl. (9) und (19)), sodass dieser Punkt im Folgenden unberücksichtigt bleibt. 15 Vgl. zu einer gänzlich anderen Einschätzung für das Bodenseealemannische Anm. 47. 16 GÄRTNER bietet neben Ich weiß nicht, was tun. mit Es fragt sich, wem vertrauen in so einem Streitfall. (GÄRTNER 2013: 206) ein Beispiel, das nach REIS (2003: 174) ungrammatisch ist (vgl. 3.4.1). 17 LOHNSTEIN bietet mit Fritz weiß nicht [wo anfangen und aufhören]. (LOHNSTEIN 2013: 64) ein Beispiel, das nach REIS (2003: 174) fraglich ist (vgl. 3.4.1). 18 In anderen grammatischen Darstellungen des Deutschen scheint das Phänomen nicht behandelt zu werden. 19 In der 9. Auflage der Duden-Grammatik wird vor dem w-Infinitiv ein Komma gesetzt (Ich wusste nicht, wohin gehen.) (Duden 2016: 906), in der 8. Auflage ist das Komma hingegen eingeklammert (Ich wusste nicht(,) wohin gehen.) (Duden 2009: 895). Jedoch fehlt in der (angeblich) nicht elliptischen Konstruktion mit Subjekt und finitem Verb in beiden Auflagen ein Komma (Ich wusste nicht wohin ich gehen sollte.) (Duden 2009: 895; Duden 2016: 906), sodass diese Beobachtung wohl nicht überbewertet werden darf.

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auf die syntopisch-rezente und syntopisch-historische Bezeugung in verschiedenen Varietäten eingegangen. 3.3 Quellen Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen wird auf mehrere Datensätze für verschiedene Varietäten zurückgegriffen, wobei für Südtirol für die rezente Zeit (Ende 20. Jh./Anfang 21. Jh.) zwischen gesprochenem und geschriebenem Dialekt sowie zwischen gesprochenem und geschriebenem Standard unterschieden wird, für die historische Zeit (Ende 19. Jh./Anfang 20. Jh.) vor dem terminus ante quem (vgl. Anm. 4) lediglich zwischen geschriebenem Dialekt und geschriebenem Standard, da für diese Zeit keinerlei gesprochensprachliche Daten vorliegen.20 Für den diatopischen Vergleich von Südtirol mit Deutschland, Österreich und der Schweiz wird ausschließlich historischer geschriebener Standard berücksichtigt. Belege für rezenten gesprochenen Standard in Südtirol entstammen einem Korpus mit Interviews mit Maturakandidaten („KOMMA“) (vgl. GLÜCK / LEONARDI 2019: 449, 451), Belege für rezenten geschriebenen Standard in Südtirol einerseits zwei Korpora mit Schulaufsätzen von Maturakandidaten („KOMMA“) (vgl. GLÜCK / LEONARDI 2019: 448, 450) und Oberschülern (vgl. RIEHL 2001: 111–112, 119–124), andererseits einem Korpus mit Zeitungsartikeln aus der regionalen Tageszeitung „Dolomiten“ (vgl. ABEL / ANSTEIN / PETRAKIS 2009: 6). Rezenter gesprochener Dialekt in Südtirol ist in einem Korpus mit Dialektgesprächen bezeugt, an denen dieselben Maturakandidaten beteiligt waren, mit denen die bereits erwähnten Interviews geführt wurden („KOMMA“), rezenter geschriebener Dialekt in Südtirol in einem Korpus mit Facebook-Texten („DiDi“) (vgl. GLÜCK / GLAZNIEKS 2009: 81). Belege für historischen geschriebenen Standard und Dialekt in Südtirol sind belletristischer Literatur und Zeitungsartikeln sowie Tagebüchern und Briefen entnommen, Belege für historischen geschriebenen Standard in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz ebenfalls belletristischer Literatur und Zeitungsartikeln, die jeweils an entsprechender Stelle nachgewiesen werden.21 20 Die Existenz einer Varietät zwischen Dialekt und Standard, die nicht durch ad hoc-Ausgleich während der Kommunikation entsteht und somit von Kommunikationssituation zu Kommunikationssituation verschieden ist, sondern auf die Sprecher in einer Kommunikationssituation bewusst zugreifen, ist für Südtirol – auch aufgrund fehlender umfassender Studien – umstritten. Die wenigen vorliegenden Studien legen nahe, dass lediglich mit einem ad hoc-Ausgleich zu rechnen ist (vgl. GLÜCK / LEONARDI / RIEHL 2019: 257–258). 21 Historische Belege aus Belletristik und Zeitungsartikeln wurden für Deutschland und (teils) Österreich den Textkorpora des „DWDS“ (URL: https://www.dwds.de/d/korpora; Stand: 31.05.2020), für die Schweiz dem „Schweizer Textkorpus“ (URL: ; Stand: 31.05.2020) sowie für Südtirol und (teils) Österreich den digitalen Textsammlungen der „Landesbibliothek/Biblioteca Provinciale Dr. Friedrich Tessmann“ (URL: [Stand: 31.05. 2020]) entnommen, jedoch allesamt am Original überprüft, weshalb sie im Folgenden auch nach dem Original zitiert werden.

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Im Falle rezenter Korpusbelege, bei denen das Jahr der Text- bzw. Diskursproduktion nicht unmittelbar aus dem Quellenverweis hervorgeht, erfolgt jeweils eine zusätzliche Angabe des Produktionsjahres. Auf die Herkunft der anonymisierten Produzenten wird in Kap. 4 genauer eingegangen. Im Falle historischer Literaturbelege aus belletristischer Literatur und in Zeitungen abgedruckten Erzählungen oder Fortsetzungsromanen, bei denen sich das Veröffentlichungsjahr ohnehin aus dem Quellenverweis ergibt, erfolgt nur ein zusätzlicher Verweis auf die Autorenherkunft. 3.4 Syntopisch-rezente und syntopisch-historische Bezeugung Zur Prüfung der syntopisch-rezenten und syntopisch-historischen Bezeugung eingebetteter w-Infinitive in Südtirol wird primär danach unterschieden, in welchen syntaktischen Funktionen sie auftreten, im Falle eingebetteter w-Infinitive in Komplementfunktion zudem, inwieweit Selektionsbeschränkungen und Satzmodusbindungen bestehen sowie ob eingebettete w-Infinitive kohärent oder inkohärent realisiert werden.

3.4.1 w-Infinitive als Komplemente Hinsichtlich der Selektion eingebetteter w-Infinitive durch bestimmte Matrixprädikate und der Kombination von w-Interrogativum und Infinitiv werden von REIS (2003: 174–175) folgende Varianten diskutiert und im Hinblick auf ihre Grammatikalität bewertet: (a) Matrixprädikat wissen + w-Infinitiv was tun, die mit deklarativem Satzmodus als grammatisch (vgl. REIS 2003: 174, Beispiel (36a): X weiß / wusste nicht, was tun.), mit interrogativem Satzmodus hingegen als fraglich (vgl. REIS 2003: 174, Beispiel (36d): ?Wusste X (nicht), was tun? / ??Wer von euch weiß, was tun, …) eingestuft wird,22 (b) Matrixprädikat wissen + w-Infinitiv außer was tun, die als fraglich eingestuft wird (vgl. REIS 2003: 174, Beispiel (36c): ??X wusste nicht, wem noch trauen / wohin sich jetzt wenden / wozu nach Paris fahren /…), (c) Matrixprädikat außer wissen + w-Infinitiv was tun, die als fraglich eingestuft wird (vgl. REIS 2003: 174, Beispiel (36b): ?X war unsicher / fragte sich / überlegte sich, was tun.),

22 Die Unterscheidung von deklarativem und interrogativem Satzmodus wird von REIS (2003: 174–175) nicht explizit ausgeführt, ergibt sich aber aus der Gegenüberstellung eines grammatischen Beispiels (X weiß / wusste nicht, was tun.) und zweier fraglicher Beispiele (?Wusste X (nicht), was tun? / ??Wer von euch weiß, was tun, …) mit identischem Matrixprädikat und identischem w-Infinitiv, die sich lediglich im Satzmodus unterscheiden.

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(d) Matrixprädikat außer wissen + w-Infinitiv außer was tun, die unabhängig von deklarativem (vgl. REIS 2003: 174, Beispiel (36f): *Wenn X sich überlegt, wozu nach Paris fahren / wohin gehen /…) oder interrogativem (vgl. REIS 2003: 174, Beispiel (36e): *Ist X unsicher, wem noch trauen / wohin sich jetzt wenden?) Satzmodus als ungrammatisch eingestuft wird. Als grammatisch werden demnach Konstruktionen betrachtet, bei denen das Matrixprädikat wissen und der w-Infinitiv was tun lautet. Ist lediglich eine der beiden Bedingungen erfüllt, werden Beispiele als fraglich betrachtet und allenfalls auf analogische Übertragung zurückgeführt. Liegt weder das Matrixprädikat wissen noch der w-Infinitiv was tun vor, wird die Konstruktion als ungrammatisch gewertet. Die Möglichkeit einer Kombination des w-Interrogativums was und eines Infinitivs außer tun bzw. eines w-Interrogativums außer was und dem Infinitiv tun wird von REIS (2003: 174–175) nicht in Betracht gezogen, wohl da wissen was tun als „fixed expression“ (REIS 2003: 174) angesehen wird. Die als grammatisch betrachtete Variante (a) (Matrixprädikat wissen + w-Infinitiv was tun) ist dann auch in allen hier unterschiedenen Varietäten bezeugt. (3) (4) (5)

(6) (7) (8)

Gesprochener Dialekt, rezent, Südtirol: woasch scho wos tian (KOMMA_D39 [2012]) Geschriebener Dialekt, rezent, Südtirol: er woaß lei nit, wos tian (DiDi 54625_px0642_c2391 [2013]) Gesprochener Standard, rezent, Südtirol: „Im Augenblick des Unvorhergesehenen, das urplötzlich über einen hereinbricht, weiß man nicht recht, was tun. […]“, sagt Karl Werth. (Dolomiten [Bozen] 12.12.1996: 33)23 Geschriebener Standard, rezent, Südtirol: Natürlich würden im Jahr 2000 keine Zwerge Schneewittchen tragen u. im Sarg lassen, ohne zu wissen was tun. (RIEHL 2001: Anhang [1994]) Geschriebener Dialekt, historisch, Südtirol: Jetzt woaß i nit, was tian, wenn Alarm ischt. (Brixener Chronik24 12.10.1915: 5) Geschriebener Standard, historisch, Südtirol: Das kann ich nicht dulden; aber ich weiß nicht, was tun – grob sein mag ich dem armen Ding auch nicht. (Tiroler Volks-Bote [Brixen]25 10.06.1906: 3)

23 Da es sich bei diesem Beleg um ein Zitat handelt, wird er als Beleg für rezenten gesprochenen Standard in Anspruch genommen, obwohl er medial schriftlich überliefert ist. 24 Richard Huldschiner, * 11.07.1872 in Gleiwitz/Gliwice (Schlesien, Polen), aufgewachsen in Bozen/Bolzano (Südtirol, Italien), † 22.05.1931 in Innsbruck (Tirol, Österreich) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 25 Sebastian Rieger unter dem Pseudonym Regeir, * 28.05.1867 in St. Veit in Defereggen (Tirol, Österreich), Gymnasium in Brixen/Bressanone (Südtirol, Italien), † 02.12.1953 Heiligkreuz (Tirol, Österreich) (URL: ; Stand: 31.05.2020).

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Doch auch die als fraglich gewertete Variante (b) (Matrixprädikat wissen + w-Infinitiv außer was tun) ist rezent wie historisch bezeugt, wenn auch nur im Standard. (9)

Gesprochener Standard, rezent, Südtirol: wenn wir richtig schreiben müssen dann sind wir genau gleich gut oder schlecht wie (-) leute aus österreich oder deutschland weil da da wissen wir schon wie schreiben (KOMMA_B40 [2012]) (10) Geschriebener Standard, rezent, Südtirol: Aber Wohnbau-Landesrat Luigi Cigolla steht schon jetzt mit leerer Tasche da und selbst der Landeshauptmann weiß nicht, woher das Geld nehmen. (Dolomiten [Bozen] 02.12.200126) (11) Geschriebener Dialekt, historisch, Südtirol: I woaß nit, wo anfangen. (Der Tiroler [Bozen]27 11.08.1921: 2) (12) Geschriebener Standard, historisch, Südtirol: Man weiß jetzt völlig nicht wie den Tag herumbringen, arbeiten tut man auch nicht gern[.] (WISTHALER28 2011: 115 [1915])

Die ebenfalls als fraglich gewertete Variante (c) (Matrixprädikat außer wissen + wInfinitiv was tun) ist in den Datensätzen nicht bezeugt. Für die als ungrammatisch betrachtete Variante (d) (Matrixprädikat außer wissen + w-Infinitiv außer was tun) liegen jedoch Belege für historischen geschriebenen Standard vor. (13) Geschriebener Standard, historisch, Südtirol: [W]enn die Kinder beten, wird Gott uns auch zeigen, woher das Geld nehmen. (Tiroler Volks-Bote [Brixen]29 29.08.1909: 13)

Daneben ist – mit Ausnahme von Belegen für rezenten geschriebenen Dialekt – auch die bei REIS (2003: 174–175) nicht erwogene Kombination des w-Interrogativums was mit einem Infinitiv außer tun gut bezeugt. (14) Gesprochener Dialekt, rezent, Südtirol: jo guat (.) wissmer net wos redn (KOMMA_D17 [2015]) (15) Gesprochener Standard, rezent, Südtirol: auf der anderen seite ist der italiener und man (-) weiß nicht so recht was sagen weil man ja nicht viel gelernt hat zum sprechen (KOMMA_B32 [2012]) (16) Geschriebener Standard, rezent, Südtirol: Wir chatten anstatt zu reden und wissen […] plötzlich, bei einer Konfrontation im realen Leben, nicht, mehr was sagen. (KOMMA_S05a [2015])30 26 Im „Dolomiten-Korpus“ werden Belege ohne Angabe der Seitenzahl aufgeführt. Da Ausgaben ab 2001 auch nicht in digitalisierter Form vorliegen, konnte der Beleg ausnahmsweise nicht am Original geprüft werden und wird daher hier ohne Angabe der Seitenzahl angeführt. 27 Unbekannter Autor. 28 Karl Außerhofer, * 03.11.1880 oder 04.11.1880 in Luttach/Lutago (Südtirol, Italien), aufgewachsen in Luttach/Lutago (Südtirol, Italien), † 16.01.1965 in Luttach/Lutago (Südtirol, Italien) (vgl. WISTHALER 2011: 21, 40). 29 Unbekannter Autor mit dem Kürzel R. K. 30 Die Zeichensetzung entspricht hier dem Originaltext.

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(17) Geschriebener Dialekt, historisch, Südtirol: Jiatz sein mr noh afn Kalvariberg außi spozieren gongen, ah lei aso per Zuefoll mit n groaßn Leutschub, de ah nit hobn gwißt wos unfongen, Hearische und Bäurische, Mandr und Weibrleut, Deutsche und Walsche, oder wos es gwesn sein. (RUDL31 1912: 86) (18) Geschriebener Standard, historisch, Südtirol: Baldus wurde verlegen. Er wußte nun nicht mehr, was reden. (TRENTINI32 1911: 86)

W-Interrogativa und Infinitive scheinen entgegen REIS (2003: 174–175) somit ohne Selektionsbeschränkungen frei kombinierbar zu sein. Dafür spricht auch, dass innerhalb eines w-Infinitivs zwei w-Interrogativa koordiniert (vgl. (19)) und unkoordiniert (vgl. (20)) sowie zwei Infinitive koordiniert (vgl. (21)) – jedoch nicht unkoordiniert – bezeugt sind. (19) Trainer Fabio Capello ist der Beste, er weiß immer wen und wo aufstellen. (Dolomiten [Bozen] 25.09.200533) (20) meistens überlegt man ja und durch das überlegen wird man unsicher und dann (-) weiß man nicht mehr wie was sagen (KOMMA_B27 [2015]) (21) Man „erthuts“ kaum mehr; nämlich über alle Festlichkeiten zu berichten, die uns der heurige Fasching in solcher Menge bringt, daß man oft nicht weiß, wo anfangen und aufhören. (Bozner Nachrichten 10.02.1909: 5)

Außerdem sind koordinierte w-Infinitive mit identischen (vgl. (22)) und verschiedenen (vgl. (23)) w-Interrogativa sowie unkoordinierte w-Infinitive mit identischen w-Interrogativa (vgl. (24)) – jedoch nicht mit verschiedenen w-Interrogativa – bezeugt. (22) Wenn i davon erzählen soll, weiß i nit, wo anfangen und wo aufhören … (Tiroler Volks-Bote [Brixen]34 12.08.1897: 10) (23) In seinem Schrecken wußte der Professor nicht, was anfangen und wie dem Uebel abhelfen. (Tiroler Volksbote [Innsbruck]35 16.06.1911: 10) (24) Die Fülle des hierin Gebotenen ist so überaus reich, daß man nicht weiß, wo anfangen, wo enden. (Bozner Nachrichten 31.07.1913: 9)

31 Otto Rudl, * 12.12.1870 in Brünn/Brno (Mähren, Tschechien), Gymnasium in Meran/Merano (Südtirol, Italien), † 23.03.1951 in Bozen/Bolzano (Südtirol, Italien) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 32 Albert von Trentini, * 10.10.1878 in Bozen/Bolzano (Südtirol, Italien), Gymnasium in Bozen/ Bolzano (Südtirol, Italien), † 18.10.1933 in Wien (Wien, Österreich) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 33 Im „Dolomiten-Korpus“ werden Belege ohne Angabe der Seitenzahl aufgeführt. Da Ausgaben ab 2001 auch nicht in digitalisierter Form vorliegen, konnte der Beleg ausnahmsweise nicht am Original geprüft werden und wird daher hier ohne Angabe der Seitenzahl angeführt. 34 Sebastian Rieger unter dem Pseudonym Reinmichl, * 28.05.1867 in St. Veit in Defereggen (Tirol, Österreich), Gymnasium in Brixen/Bressanone (Südtirol, Italien), † 02.12.1953 Heiligkreuz (Tirol, Österreich) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 35 Wie Anm. 34.

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Eine Satzmodusbindung an deklarativen Satzmodus kann ebenfalls nicht bestätigt werden, da eingebettete w-Infinitive auch in Konstruktionen mit interrogativem Satzmodus auftreten (vgl. (25)).36 (25) woasch scho wos tian (KOMMA_D39 [2012])

Zur Beschreibung der Topologie eingebetteter w-Infinitive und damit zur Klärung der Frage nach der (In-)Kohärenz solcher Konstruktion wird auf Kriterien zurückgegriffen, die von RAPP / WÖLLSTEIN (2013: 339–340, 342–343) auf zu-Infinitive angewendet werden. Sie werten einerseits „Extraposition des zu-Infinitivs“ (RAPP / WÖLLSTEIN 2013: 343) als Kennzeichen einer inkohärenten, satzwertigen Konstruktion, andererseits „Verflechtung von Elementen des zu-Infinitivs und Elementen des Matrixsatzes“ (RAPP / WÖLLSTEIN 2013: 343) hingegen als Kennzeichen einer kohärenten, nicht satzwertigen Konstruktion. Hinsichtlich des ersten Kennzeichens werden auch eingebettete w-Infinitive in Komplementfunktion in (fast) allen Fällen extraponiert realisiert (vgl. (26)), in lediglich einem Fall ist auch eine nicht extraponierte Realisierung bezeugt (vgl. (27)). (26) Wer sich aber trotz alldem noch nicht auskennt und nicht zu helfen weiß, oder wenn etwas fehlt, daß er nimmer weiß, was anfangen, so soll er halt in Gottesnamen an einen der beiden „Boten“-Schreiber in Gries oder in Fulpmes schreiben[.] (Tiroler Volks-Bote [Brixen] 27.12.1900: 5) (27) Als sie vor Muthwillen nicht mehr was anfangen wußten, giengen sie auf den Freithof, holten das Grabkreuz der Kellnerin und tanzten mit demselben in der Schenke herum. (ZINGERLE37 1891: 277)

In (27) werden jedoch für einen eingebetteten w-Infinitiv zwei der drei Sonderbedingungen erfüllt, unter denen bei zu-Infinitiven auch kohärente Konstruktionen als möglich erachtet werden (vgl. RAPP / WÖLLSTEIN 2013: 339–340, 342–344). Dazu „muss der zu-Infinitiv die Stelle des direkten Objekts füllen, […] unmittelbar linksadjazent zum Verb auftreten und […] [das] einbettende Verb modal sein“ (RAPP / WÖLLSTEIN 2013: 340). Zumindest die ersten beiden Sonderbedingungen treffen in (27) zu. Dies spricht hier für eine im Kern inkohärente und nur unter Sonderbedingungen kohärente Konstruktion. Hinsichtlich des zweiten Kennzeichens sind Kasuskomplemente des Infinitivs ausschließlich linksadjazent zum Infinitiv bezeugt (vgl. (28)), Präpositionalkomplemente des Infinitivs sowohl – zumindest als Pronominaladverb – linksadjazent 36 Ein anonymer Reviewer betrachtet (25) als „(nicht unproblematisches) Beispiel“, denn es „könnte auch ein Verb-Erst-Deklarativ [wohl: Satz] sein“. Um eine solche Fehlinterpretation zu vermeiden, wird in den Ausführungen davor jedoch darauf hingewiesen, dass interrogativer Satzmodus vorliegt. Sollte dies trotz alledem bezweifelt werden, kann gerne die entsprechende Audiodatei zugänglich gemacht werden. 37 Ignaz Zingerle, * 06.06.1825 in Meran/Merano (Südtirol, Italien), Gymnasium in Meran/Merano (Südtirol, Italien), † 17.09.1892 in Innsbruck (Tirol, Österreich) (URL: ; Stand: 31.05.2020).

Eingebettete w-Infinitive in deutschen Varietäten in Südtirol

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(vgl. (29)) als auch rechtsadjazent zum Infinitiv, letzteres unabhängig davon, ob sie durch Pronominaladverb (vgl. (30)) oder durch PP (vgl. (31)) realisiert werden, in allen Fällen aber innerhalb des eingebetteten w-Infinitivs. (28) Heute, nachdem die Christsozialen in der Mehrheit im Landtage sind und die Verantwortung tragen müssen, wissen sie ebensowenig, woher das Geld nehmen, wie es früher die Konservativen wußten. (Der Burggräfler [Meran] 14.07.1909: 2) (29) Dort weiß ich im Grunde auch nicht, was damit anfangen, weil ich ja das Haus zu verkaufen gedenke ... (DiDi 57040_t0065_m01847 [2013]) (30) Die Zeit des Herbstes, für den Südtiroler sonst einst die schönste im Jahre, ist ihm jetzt zur Zeit schwerster Sorgen geworden. In den Kellern stehen die Fässer voll Wein, eins am andern. Man weiß nicht recht, was anfangen damit. (Tiroler Volksbote [Innsbruck] 20.11.1919: 10) (31) Der Bauer wußte nicht recht, was anfangen mit dem bunten Grase, aber sie schütteten es in seinen Schoß[.] (SCHROTT38 1910: 174)

Jedoch können Präpositionalkomplemente des Infinitivs auch im Matrixsatz erscheinen, und zwar sowohl in PPs mit Substantiv (vgl. (32)) als auch in PPs mit (Relativ-)Pronomen (vgl. (33)). (32) Wenn die Stadtler das ewige Bergkraxeln und Turnen und Wettspringen verleidet, merken sie, daß sie mit ihrer Kraft nöt mehr wissen, was anfangen. (PÖLTNORDHEIM39 1914: 11–12) (33) So bringt man andere um die kostbare Arbeitszeit, um die seine, mit der man nicht weiß was anfangen, herumzubringen. (Volksbote [Bozen] 03.03.1921: 6)

Satzwertige Supplemente des Infinitivs werden – wie erwartbar – extraponiert realisiert, unabhängig davon, ob es sich um Nebensätze (vgl. (34)) oder um Infinitivkonstruktionen (vgl. (35)) handelt. (34) Jetzt woaß i nit, was tian, wenn Alarm ischt. (Brixener Chronik40 12.10.1915: 5) (35) Der Wirt auf dem Lande, der Hotelier in der Stadt, sie alle wissen nicht mehr, was tun, um den Fremden etwas zu bieten[.] (Bozner Zeitung (Südtiroler Tagblatt) 18.07.1913: 2)

38 Henriette Pelzel unter dem Pseudonym Henriette Schrott, * 24.07.1877 in Innsbruck (Tirol, Österreich), aufgewachsen in Algund/Lagundo (Südtirol, Italien) und Eppan an der Weinstraße/Appiano sulla Strada del Vino (Südtirol, Italien), † 10.02.1962 in Obermais/Maia Alta (Südtirol, Italien) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 39 Klara Pölt-Nordheim, * 01.05.1862 in Sarnthein/Sarentino (Südtirol, Italien), aufgewachsen in Sarnthein/Sarentino (Südtirol, Italien), † 16.11.1926 in Innsbruck (Tirol, Österreich) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 40 Wie Anm. 24.

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In Kombination erscheinen dann auch Kasuskomplemente des Infinitivs linksadjazent zum Infinitiv und satzwertige Supplemente des Infinitivs extraponiert. (vgl. (36)). (36) Der Viehbauer weiß fast nicht mehr, woher das Geld nehmen, um die Auslagen zu bestreiten. (Volksbote [Bozen] 14.10.1926: 6)

Die Möglichkeit der Realisierung von (Präpositional-)Komplementen des Infinitivs im Matrixsatz spricht hier für eine kohärente Konstruktion.41

3.4.2 w-Infinitive als Prädikative Neben der häufig bezeugten Funktion als Komplement des Matrixprädikats scheinen eingebettete w-Infinitive vereinzelt auch als Prädikativ auf (vgl. (37)). (37) Die Frage ist nur, woher das Geld nehmen, da es mit der gegenseitigen Aushilfe sehr windig aussieht[.] (Lienzer Zeitung 12.01.1889: 18)

3.4.3 w-Infinitive als Attribute Da eingebettete w-Interrogativsätze, also satzförmige Konstruktionen, nicht nur als Komplemente (und Prädikative), sondern auch als Attribute fungieren können, ist nicht erstaunlich, dass dies auch für eingebettete w-Infinitive, also satzwertige Konstruktionen, zutrifft, auch wenn Belege dafür bedeutend seltener bezeugt sind (vgl. (38)42 für rezenten gesprochenen und (39) für rezenten geschriebenen Standard). 41 Auf das dritte von RAPP / WÖLLSTEIN (2013: 343) genannte Kennzeichen, den „Bezug eines Negationselements des Matrixsatzes auf die zu-Infinitivkonstruktionen“ (RAPP / WÖLLSTEIN 2013: 343) als Merkmal kohärenter Konstruktionen, wird nicht näher eingegangen, da für entsprechende w-Infinitive in den Datensätzen kein Fall bezeugt ist, was wiederum für eine inkohärente Konstruktion spricht. 42 Ein anonymer Reviewer betrachtet (38) als „zumindest ambig“, denn „[d]ie Pronomen-Lesart ‚etwas‘ liegt nahe – und so wird der Satz ja auch weitergeführt“. Ambig wäre hier jedoch lediglich eine kotextlose Betrachtung von was. Eine Interpretation von was als Indefinitum müsste zusätzlich erklären, warum die erste Infinitivkonstruktion keine Infinitivpartikel enthält, die in der zweiten Infinitivkonstruktion dann aufscheint – zusammen mit dem eindeutigen Indefinitum etwas. Bei einer Interpretation von was als Interrogativum ergibt sich hingegen ein wohlgeformter w-Infinitiv, der keinerlei zusätzlicher Erklärungen bedarf. Eine Interpretation von was als Indefinitum erscheint vor diesem Hintergrund in keiner Weise naheliegend. Zudem ist zu fragen, was in diesem Zusammenhang unter ‚Weiterführung‘ zu verstehen ist, insbesondere da zwei voneinander unabhängige attributive Infinitivkonstruktionen zu zwei unterschiedlichen Bezugsausdrücken vorliegen. Eine Weiterführung im Sinne einer thematischen Progression kommt nicht in Betracht, da Indefinita nur bei einem eindeutigen und vorerwähnten Bezugsausdruck zur Weiterführung verwendet werden können, der in diesem Fall jedoch nicht gegeben ist. Es wäre somit allenfalls eine Weiterführung im Sinne einer textuellen Verknüpfung durch Wortwiederholung denkbar, die jedoch aufgrund der verschiedenen Formen des – in dieser Sichtweise – selben Indefinitums nicht vorliegt.

Eingebettete w-Infinitive in deutschen Varietäten in Südtirol

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(38) Proband: aber außerhalb von der schule schreibe ich eigentlich nicht (-) obwohl ich es (-) mir schon vorstellen könnte Interviewer: fehlt die zeit dazu die lust Proband: vielleicht die idee (.) was schreiben (-) oder die (.) der grund etwas zu schreiben (KOMMA_B42 [2012]) (39) Denn, es stellt sich mir die Frage, warum eine neue Sprache erfinden, wenn doch schon genügend Sprachen existieren, die uns zur Auswahl stehen. (RIEHL 2001: Anhang [1994])

Außerdem wird in der Literatur bisweilen auf die Formgleichheit von w-Interrogativa und w-Relativa (vgl. PITTNER 2007: 727, 729) bzw. von eingebetteten w-Interrogativsätzen und eingebetteten w-Relativsätzen (vgl. PITTNER 2007: 240) verwiesen. Dies hat zur Folge, dass sie von manchen Autoren – vor allem nach formalen Kriterien – zu einer Klasse zusammengefasst (vgl. ALTMANN / HOFMANN 2008: 44, 46; ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997: 2263–2275), von anderen hingegen – vor allem nach semantischen Kriterien – unterschieden werden (vgl. HOLLER 2007: 470–471; PITTNER 2007: 748–752; HOLLER 2013: 298–299). Gleiches trifft nun auch auf eingebettete w-Infinitive zu, die nicht nur – wie w-Interrogativsätze – als interrogative Attribute (vgl. 3.4.3), sondern – wie w-Relativsätze – auch als relative Attribute, hier in Extraposition, bezeugt sind (vgl. (40)). (40) ist khein Zeit Bestimbt, wan zallen (OBERHOFER43 2008: 129 [1802])44

4 PRODUZENTEN Systematisch erhobene Korpora der rezenten Zeit enthalten meist umfassende Metadaten zu den Produzenten und bieten daher unter anderem die Möglichkeit, Aussagen über ihre Herkunft zu treffen. Dies trifft im Rahmen der hier verwendeten Datensätze auf Dialektgespräche, Facebook-Texte,45 Maturanteninterviews, Maturantentexte und Schülertexte46 zu. –

Dialektgespräche: 2 Belege in 2 Diskursen von 2 Sprechern aus dem Burggrafenamt und aus dem Eisacktal: nach Selbstaussage monolingual deutschsprachig und mit monolingual deutschsprachigen Eltern.

43 Andreas Hofer, * 22.11.1767 in St. Leonhard in Passeier/San Leonardo in Passiria (Südtirol, Italien), aufgewachsen in St. Leonhard in Passeier/San Leonardo in Passiria (Südtirol, Italien), † 20.02.1810 in Mantova (Lombardei, Italien) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 44 Von Andreas Hofer sind daneben auch eingebettete w-Infinitive in Komplementfunktion bezeugt: ich wisset nit wass ßagen oder Thuen (OBERHOFER 2008: 151 [1808]). 45 Die geographische Zuordnung erfolgt hier durch eine Selbstzuordnung zu (dialekt-)geographischen Räumen. 46 Die genaue Herkunft der Schreiber ist unbekannt; im Rahmen der Darstellung wird lediglich auf die Schulorte verwiesen, die in Südtirol in den seltensten Fällen mit den Herkunftsorten übereinstimmen.

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Facebook-Texte: 3 Belege in 3 Texten von 3 Schreibern aus Meran und aus Bozen: nach Selbstaussage monolingual deutschsprachig. Maturanteninterviews: 13 Belege in 11 Diskursen von 11 Sprechern aus dem Vinschgau, aus dem Burggrafenamt, aus dem Überetsch, aus Salten-Schlern und aus dem Pustertal: nach Selbstaussage monolingual deutsch und mit monolingual deutschsprachigen Eltern. Maturantentexte: 1 Beleg in 1 Text von 1 Schreiber aus dem Burggrafenamt: nach Selbstaussage monolingual deutschsprachig mit monolingual deutschsprachigen Eltern. Schülertexte: 4 Belege in 4 Texten von 4 Schreibern mit den Schulorten Meran und Bozen: nach Selbstaussage mit monolingual deutschsprachigen Eltern.

Die Zusammenschau zeigt, dass eingebettete w-Infinitive von Sprechern/ Schreibern aus allen Teilen Südtirols bezeugt sind, nicht nur von solchen, die aus Gebieten stammen, in denen mit intensivem alltäglichem Kontakt mit dem Italienischen zu rechnen ist, auch wenn persönliche Beziehungen zu nativen Sprechern des Italienischen selbstverständlich in keinem Fall ausgeschlossen werden können. Außerdem bezeichnen sich alle Sprecher/Schreiber selbst als monolingual deutschsprachig mit monolingual deutschsprachigen Eltern. 5 DIATOPISCHE BEZEUGUNG Die Prüfung der diatopischen Bezeugung wird auf eingebettete w-Infinitive in Komplementfunktion und auf Belege für historischen geschriebenen Standard beschränkt.47 Unterschieden wird dabei – um das Vorliegen eines nationalen Phänomens ausschließen zu können – in Belege aus der Schweiz, aus Österreich (unter Einschluss ehemals österreichisch-ungarischer Gebiete) und aus Deutschland, innerhalb Deutschlands zusätzlich – um das Vorliegen eines dialektal-basierten Phänomens ausschließen zu können – in Belege aus dem süddeutschen (oberdeutschen) und aus einem nicht näher spezifizierten norddeutschen (mittel- und niederdeutschen) Raum. Wie in Südtirol ist auch in allen anderen Teilen des deutschen Sprachraums die als grammatisch betrachtete Variante (a) (Matrixprädikat wissen + w-Infinitiv was tun) bezeugt (vgl. (41) bis (44)). (41) Geschriebener Standard, historisch, Schweiz: Balbine stand da und wußte nicht, was tun. (BINDSCHEDLER48 1937 [1906]: 210) 47 Auf Belege für gesprochenen und/oder geschriebenen Dialekt wird im Folgenden verzichtet, da sie nicht für den gesamten deutschen Sprachraum vorliegen und daher keinen diatopischen Vergleich ermöglichen. BRANDNER (2004: 27) bringt Beispiele für das Bodenseealemannische (I zoag dir schnell [welle Socke schtopfe]), in denen das Interrogativum aber zusätzlich als Determinierer fungiert, wofür sich in den hier berücksichtigten Datensätzen keine Belege finden lassen. 48 Ida Bindschedler, * 06.07.1854 in Zürich (Zürich, Schweiz), † 28.06.1919 in Zürich (Zürich, Schweiz) (URL: ; Stand: 31.05.2020).

Eingebettete w-Infinitive in deutschen Varietäten in Südtirol

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(42) Geschriebener Standard, historisch, Österreich: Die Deutschen schossen zwei englische Flieger ab, die eine Botschaft des Generals French mit der Bitte um sofortige Munitionssendung bringen sollten, da sonst seine Truppen nicht wüßten, was tun. (Lienzer Zeitung 10.11.1914: 2) (43) Geschriebener Standard, historisch, Süddeutschland: Wie nun der Theaterkassier sie ihm zur Nachbarin gab, begrüßte er sie beiläufig, fand nicht seine gewohnte Keckheit, wußte nicht recht, was tun, machte ab und zu kleine ironische Anmerkungen zu ihr über das, was auf der Bühne geschah. (FEUCHTWANGER49 1993 [1930]: 464) (44) In der Ungewißheit über das Schicksal des Bruders wußte keiner, was tun; sie sahen einander ratlos an, blickten scheu auf den Vater, die Mutter, die älteste Schwester. (KLEPPER50 1962 [1937]: 542)

Gleiches gilt für die als fraglich gewertete Variante (b) (Matrixprädikat wissen + wInfinitiv außer was tun, (vgl. (45) bis (48)). (45) Geschriebener Standard, historisch, Schweiz: So wußte sein schnaubender Zorn nicht, wen aufspießen. (SPITTELER51 1915 [1910]: 89) (46) Geschriebener Standard, historisch, Österreich: Suchet Ihr wieder Händel? Seid in Eure alten bis an den Hals verstrickt, wisset nicht, wie herausgelangen! (PERUTZ52 1915: 182) (47) Geschriebener Standard, historisch, Süddeutschland: Er kannte die Tücken solcher Blasinstrumente, wenn man falsch ansetzt, kommt kein Ton heraus, aber er wußte nicht wie ansetzen. (SAPPER53 1913 [1910]: 242) (48) Geschriebener Standard, historisch, Norddeutschland: Und dann saßen sie wieder stumm da, die Lampe brannte still weiter, und sie wußten wieder nicht, wovon reden. (FALLADA54 1934: 353)

49 Lion Feuchtwanger, * 07.07.1884 in München (Bayern, Deutschland), † 23.12.1958 in Los Angeles (Kalifornien, USA) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 50 Jochen Klepper, * 22.03.1903 in Beuthen/Bytom (Schlesien, Polen), † 11.12.1942 in Berlin (Berlin, Deutschland) (URL: ; Stand: 31.12.2020). 51 Carl Spitteler, * 24.04.1845 in Liestal (Basel-Landschaft, Schweiz), † 29.12.1924 in Luzern (Luzern, Schweiz) (URL: ; Stand: 31.03.2020). 52 Leo Perutz, * 02.11.1882 in Prag/Praha (Böhmen, Tschechien), † 25.08.1957 in Bad Ischl (Oberösterreich, Österreich) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 53 Agnes Sapper, * 12.04.1852 in München (Bayern, Deutschland), † 10.03.1929 in Würzburg (Bayern, Deutschland) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 54 Rudolf Ditzen unter dem Pseudonym Hans Fallada, * 21.07.1893 in Greifswald (MecklenburgVorpommern, Deutschland), † 06.02.1947 in Berlin (Berlin, Deutschland) (URL: ; Stand: 31.05.2020).

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Für die in Südtirol unbezeugte und ebenfalls als fraglich gewertete Variante (c) (Matrixprädikat außer wissen + w-Infinitiv was tun) finden sich Belege zumindest aus der Schweiz und aus Norddeutschland (vgl. (49) bis (50)). (49) Geschriebener Standard, historisch, Schweiz: Kaum rasteten wir hier ein Weilchen, so steckten wir im dichtesten Nebel drin. Wir rieten, was tun. (JENNY55 1913: 301) (50) Geschriebener Standard, historisch, Norddeutschland: Nun hatte der Verteidiger sich wohl überlegt, wie anfangen, doch die Taktik seines Angriffs wurde umgeworfen, indem Herr Nägeli sich völlig anders gab, als erwartet werden konnte. (OMPTEDA56 1931: 271)

Die in Südtirol bezeugte und als ungrammatisch betrachtete Variante (d) (Matrixprädikat außer wissen + w-Infinitiv außer was tun) ist außerhalb Südtirols in den Datensätzen unbezeugt. Dagegen ist wie in Südtirol auch in allen anderen Teilen des deutschen Sprachraums die bei REIS (2003: 174–175) nicht erwogene Kombination des w-Interrogativums was mit einem Infinitiv außer tun gut bezeugt, was wiederum gegen eine Wertung von wissen was tun als „fixed expression“ (REIS 2003: 174) spricht (vgl. (51) bis (54)). (51) Geschriebener Standard, historisch, Schweiz: Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich aus, denn er sah lauter Mißgeschick vor sich: einmal wußte er vor Langerweile nun gar nicht mehr was anfangen, wenn Heidi nicht bei ihm war[.] (SPYRI57 1880: 51) (52) Geschriebener Standard, historisch, Österreich: Er wußte kaum, was antworten. (SCHNITZLER58 1926: 34) (53) Geschriebener Standard, historisch, Süddeutschland: Da fing der Mann an zu schelten, und ich stand traurig da und wußte nicht, was anfangen. (CHRIST59 1912: 20)

55 Heinrich Ernst Jenny, * 17.11.1876 in Liedertswil (Basel-Landschaft, Schweiz), † 09.04.1940 in Zofingen (Aargau, Schweiz) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 56 Georg von Ompteda, * 29.03.1863 in Hannover (Niedersachsen, Deutschland), † 10.12.1931 in München (Bayern, Deutschland) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 57 Johanna Spyri, * 12.06.1827 in Hirzel (Zürich, Schweiz), † 07.07.1901 in Zürich (Zürich, Schweiz) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 58 Arthur Schnitzler, * 15.05.1862 in Wien (Wien, Österreich), † 21.10.1931 in Wien (Wien, Österreich) (URL:; Stand: 31. 05.2020). 59 Lena Christ, * 30.10.1881 in Glonn (Bayern, Deutschland), † 30.06.1920 in München (Bayern, Deutschland) (URL: ; Stand: 31.05.2020).

Eingebettete w-Infinitive in deutschen Varietäten in Südtirol

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(54) Geschriebener Standard, historisch, Norddeutschland: Ein kleines Heer unbefriedigter, verärgerter, deklassierter und menschlich degradierter Männer war nach Hause zurückgekehrt und wußte nicht, was beginnen. (TUCHOLSKY60 1921: 238)

Der älteste in den Datensätzen eruierbare Beleg stammt in diesem Zusammenhang aus der Schweiz und ist der als fraglich betrachteten Variante (b) zuzuordnen (vgl. (55)). (55) [D]ie Seelen-Flecken sind so tieff eingebacken, die Suͤnden-Wunden so gifftig, vermodert und unzaͤhlich, und der gantze Acker des Hertzens mit so vielem Gstruͤpp und Unkraut uͤberwachsen, daß sie nicht wissen wo anfangen? (LUTZ61 1736: 14)

Hier eine Nachbemerkung: Ein anonymer Reviewer betrachtet (51)–(54) „aber vielleicht doch lediglich [sic] als entsprechende Analogie-Fälle mit begrenzter Produktivität“, denn „mit einer Ausnahme sind alle hier angeführten Beispiele mit (nicht) wissen was anfangen/beginnen anstelle des kanonischen [sic] (nicht) wissen was tun gebildet“. Obwohl aus dieser Einlassung nicht hervorgeht, wie bei Annahme von Analogie für diesen einen Typ die Typen (b), (c) und (d) zu erklären wären, seien hier – neben dem ohnehin für Österreich zitierten was antworten (vgl. (52)) und den ohnehin für Südtirol zitierten was reden (vgl. (14) und (18)) und was sagen (vgl. (15) und (16)) – Belege für die Schweiz sowie Süd- und Norddeutschland nachgetragen, in denen der Infinitiv nicht anfangen/beginnen lautet. (56) Geschriebener Standard, historisch, Schweiz: Die Alten verstummten und die Kinder huben ein Zettergeschrey an, und lange wußte niemand was rathen, was helfen. (PESTALOZZI 1820 [1787]: 404)62 (57) Geschriebener Standard, historisch, Süddeutschland: François wußte nicht, was antworten. (FEUCHTWANGER 1997 [1933]: 186)63 (58) Geschriebener Standard, historisch, Norddeutschland: „Sie wissen nicht, was wählen, und trauen den Gelehrten nicht, da sie glauben, diese verstehen mehr was gelehrt, als was verkaufbar sei.“ (GOLDFRIEDRICH 1908: 32)64

60 Kurt Tucholsky, * 09.01.1890 in Berlin (Berlin, Deutschland), † 21.12.1935 in Göteborg (Västra Götalands län, Schweden) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 61 Samuel Lutz, * 10.08.1674 in Biglen (Bern, Schweiz), † 28.05.1750 in Oberdiessbach (Bern, Schweiz) (URL: ; Stand: 31.05.2020). 62 Johann Heinrich Pestalozzi, * 12.01.1746 in Zürich (Zürich, Schweiz), † 17.02.1827 in Brugg (Aargau, Schweiz) (URL: ; Stand: 01.03.2021). 63 Wie Anm. 50. 64 Johann Goldfriedrich, * 21.07.1870 in Bautzen (Sachsen, Deutschland), † 21.12.1945 in Leipzig (Sachsen, Deutschland) (URL: ; Stand: 01.03.2021).

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6 FAZIT In vorliegender Studie wird einerseits die Grammatikalität eingebetteter w-Infinitive in deutschen Varietäten in Südtirol und in anderen Teilen des deutschen Sprachraums geprüft. Andererseits wird der Frage nachgegangen, ob ihr Vorkommen in Südtirol auf Sprachkontakteinfluss zurückzuführen sein könnte. Die Ergebnisse dieser Studie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Eingebettete w-Infinitive sind in deutschen Varietäten in Südtirol im gesprochenen wie im geschriebenen Dialekt, im gesprochenen wie im geschriebenen Standard bezeugt. 2. Eingebettete w-Infinitive sind in deutschen Varietäten in Südtirol synchronrezent wie synchron-historisch bezeugt. 3. Eingebettete w-Infinitive sind in deutschen Varietäten in Südtirol als Komplemente, als Prädikative sowie als interrogative und relative Attribute bezeugt. 4. Eingebettete w-Infinitive weisen in deutschen Varietäten in Südtirol keine Beschränkung des Matrixprädikats auf wissen65 oder des w-Infinitivs auf was tun auf. 5. Eingebettete w-Infinitive weisen in deutschen Varietäten in Südtirol keine Bindung an deklarativen Satzmodus auf. 6. Eingebettete w-Infinitive können in deutschen Varietäten in Südtirol inkohärent wie kohärent realisiert werden. 7. Eingebettete w-Infinitive sind in deutschen Varietäten in Südtirol nicht nur in Gebieten mit intensivem alltäglichem Kontakt mit dem Italienischen bezeugt. 8. Eingebettete w-Infinitive sind in deutschen Varietäten in Südtirol ausschließlich bei Sprechern/Schreibern mit Deutsch als alleiniger Erstsprache bezeugt. 9. Eingebettete w-Infinitive sind ebenso in deutschen Varietäten in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz bezeugt. Dies spricht für eine prinzipielle Grammatikalität eingebetteter w-Infinitive in deutschen Varietäten in allen Teilen des deutschen Sprachraums,66 gegen das Vorliegen eines italienischen Sprachkontakteinflusses auf deutsche Varietäten in Südtirol und

65 Dennoch besteht natürlich eine Beschränkung auf Verben – und Substantive –, die auch wInterrogativsätze einbetten können. 66 REMIGIUS GEISER (Salzburg) weist mich darauf hin, dass eingebettete w-Infinitive auch in den deutschbasierten zimbrischen Varietäten aufscheinen, die als Minderheitensprache in der an Südtirol angrenzenden italienischen Provinz Trentino gesprochen werden (toat dar mann, de arme muutar böösste net, bia spaisan abe de khindar, URL: ; Stand: 31.05.2020). Da man sich damit aber nicht vom Sprachkontaktraum entfernt, sondern sich tiefer in ihn hineinbegibt, entkräftet dies nicht die obige Sprachkontakthypothese, sondern ergänzt lediglich die Beleglage.

Eingebettete w-Infinitive in deutschen Varietäten in Südtirol

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beantwortet damit auch die Frage der Userin Astrid in einem an ihren ursprünglichen Eintrag (vgl. Kap. 1) anknüpfenden späteren Eintrag: Hallo, vielen Dank für eure Antworten. […] Ich stimme Michael zu, dass „Was nun?“ sehr gebräuchlich ist und das klingt für mich auch richtig, doch ich glaube nicht, dass man es mit „was tun“ gleichsetzen kann. Bei „Was nun“ steht ja kein Verb im Infinitiv. Sind dann auch Sätze wie „Ich weiss nicht, wohin gehen“ oder „Sag mir, wo arbeiten“ akzeptabel? Die wüden [sic] ja dem gleichen Schema folgen. Schöne Grüsse Astrid67

Astrids Frage ist mit Ja zu beantworten.68 QUELLEN BINDSCHEDLER, IDA (1937 [1906]): Die Turnachkinder im Winter. Frauenfeld: Huber. CHRIST, LENA (1912): Erinnerungen einer Überflüssigen. München: Langen. FALLADA, HANS (1934): Wer einmal aus dem Blechnapf frißt. Berlin: Rowohlt. FEUCHTWANGER, LION (1930): Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Berlin: Kiepenheuer. Wiederabdruck: FEUCHTWANGER, LION (1993): Gesammelte Werke in Einzelbänden. Band 6. Berlin: Aufbau-Verlag. FEUCHTWANGER, LION (1997 [1933]): Die Geschwister Oppermann. Berlin: Aufbau-Verlag. GOLDFRIEDRICH, JOHANN (1908): Geschichte des Deutschen Buchhandels vom Westfälischen Frieden bis zum Beginn des klassischen Literaturperiode. (1648–1740). Leipzig: Börsenverein des Deutschen Buchhandels. JENNY, ERNST (1913): „Die letzte Fahrt“. In: FISCHER, ANDREAS (Hg.): Hochgebirgswanderungen in den Alpen und im Kaukasus. Mit Lebensbild und Bericht der letzten Fahrt versehen v. Ernst Jenny. Frauenfeld: Huber, 298–311. KLEPPER, JOCHEN (1962 [1937]): Der Vater. Roman eines Königs. Gütersloh: Bertelsmann. LUTZ, SAMUEL (1736): Ein Wohlriechender Straus Von schönen und gesunden Himmels-Blumen. Basel: Rudolff. OBERHOFER, ANDREAS (2008): Weltbild eines „Helden“. Andreas Hofers schriftliche Hinterlassenschaft. Innsbruck: Wagner. OMPTEDA, GEORG V. (1931): Die kleine Zinne. Roman aus den Bergen. Berlin: Ullstein. PERUTZ, LEO (1915): Die dritte Kugel. München: Langen.

67 URL: (05.08. 2007); Stand: 31.05.2020. 68 Nur am Rande sei darauf verwiesen, dass auch Linguisten keine Bedenken zu haben scheinen, eingebettete w-Infinitive zu verwenden. So schreibt Johann Baptist Schöpf in seinem ‚Tirolischen Idiotikon‘ unter dem Lemma hupfen zum Phraseologismus aus der Haut hupfen: „in grosser Angst nicht wissen was anfangen“ (SCHÖPF 1866: 282). Und Wilhelm Wackernagel führt aus: „Um so weniger aber der Verstand: er will die Sache von sich aus beschauen und hat dafür doch in sich keinen ganz sicheren Standpunct; er will ein System bauen, und ihm fehlt von sich aus der feste Grund dazu; er will deducieren und weiss nicht, wo anfangen.“ (WACKERNAGEL 1873: 166).

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Eingebettete w-Infinitive in deutschen Varietäten in Südtirol

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ZUR MEHRFACHNEGATION IN DEN DIALEKTEN ÖSTERREICHS Außer- und innersprachliche Faktoren Philip C. Vergeiner / Marlene Hartinger ABSTRACT Auch wenn negative concord (= NC) im Standarddeutschen als ungrammatisch gilt, ist es in den deutschen Dialekten durchaus verbreitet. Der vorliegende Beitrag untersucht, ob NC innerhalb der österreichischen Dialekte noch vorkommt und wenn ja, von welchen intra- und extralinguistischen Faktoren dieses Vorkommen abhängt. Dazu werden Standard-zu-Dialekt-Übersetzungen von 163 Dialektsprechern aus vierzig über ganz Österreich verteilten Ortschaften analysiert. Belegt wird, dass NC im Untersuchungsraum noch erhalten ist, wenngleich apparent-time-Effekte insgesamt einen Rückgang andeuten. Zudem gibt es signifikante Unterschiede beim NC-Gebrauch nach dem Geschlecht: Frauen nutzen NC seltener, womöglich aus Gründen der normativen Stigmatisierung von NC. In räumlicher Hinsicht kristallisieren sich zwei Zentren von NC heraus – eines im Alemannischen und eines im Westmittelbairischen. Räumliche Unterschiede bestehen auch beim Vorkommen der beiden wesentlichen NC-Typen: Während negative spread (= NS) vermehrt im Westen (Vorarlberg, Tirol) anzutreffen ist, tritt negative doubling (= ND) hauptsächlich im Westmittelbairischen (Salzburg, Oberösterreich) auf. Insgesamt erweisen sich beide NC-Typen als weitgehend unabhängig voneinander. Genauere Analysen belegen dabei, dass ND auf kein + nicht beschränkt ist, wohingegen NS mehr Kombinationsmöglichkeiten zulässt. 1 EINLEITUNG Während die Negation im Standarddeutschen nur mit einem Ausdruck markiert wird, können basisdialektal mehrere negative Elemente in einem Satz stehen, ohne sich gegenseitig aufzuheben, was als Mehrfachnegation bzw. negative concord (= NC) bezeichnet wird. Häufig belegt ist NC im Oberdeutschen, v. a. im Bairischen (vgl. bspw. MOSER 2021; WEISS 1998, 2017), wo NC auch alltagssprachlich dokumentiert ist (AdA 2003ff., Fragerunde 3). Zu unterscheiden sind gewisse NC-Typen, je nachdem, welche Negationsausdrücke kombiniert werden. Zusätzlich zum Standardnegator nicht kommen dafür nIndefinita in Frage, also kein, niemand und nichts, außerdem lokales nirgends/nirgendwo sowie temporales nie(mals) (WEISS 1998: 183–184; JÄGER 2008: 178). In

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Philip C. Vergeiner / Marlene Hartinger

der Standardsprache können weder mehrere n-Indefinita pro Elementarsatz auftreten, noch kann die Partikel nicht mit n-Indefinita kombiniert werden, ohne eine positive Lesart zu bewirken. Dialektal ist dagegen beides möglich, wie sich an folgenden Äußerungen von Gewährspersonen (= GPs) aus dem hier untersuchten Korpus (vgl. Kap. 3) illustrieren lässt (vgl. zur Terminologie bspw. WEISS 2017: 450): – –

Negative spread (= NS), d. h. mehrere n-Indefinita ohne nicht: [ma hɔd̥ nɪ͜ɐŋs kɔ͜ɐ ʁʊ͜ɐ] (= ‚Man hat nirgends keine Ruhe‘; GP: RB_MA) Negative doubling (= ND), d. h. n-Indefinitum mit Standardnegator nicht: [iː hɔb̥ kɔ͜ɐ g̥ød̥ nɛd̥ d̥ab̥æ] (= ‚Ich habe kein Geld nicht dabei‘; GP: KA_MJ)

Oft wird davon ausgegangen, dass die Verwendung von NC bzw. der NC-Typen nicht frei ist, sondern von syntaktischen, semantischen und/oder pragmatischen Faktoren abhängt – so tritt NC etwa bei unterschiedlichen n-Indefinita unterschiedlich oft auf (vgl. zur Diskussion etwa WEISS 2017; MOSER 2021). Daneben scheint die NC-Verwendung auch mit außersprachlichen Parametern zu korrelieren – herausgearbeitet wurden räumliche Schwerpunkte (bspw. bei LENZ / AHLERS / WERNER 2014; EROMS / SPANNBAUER-POLLMANN 2006; MOSER 2021), aber auch Altersdifferenzen, die im Sinne der apparent-time-Hypothese auf einen Abbau des Phänomens hindeuten (vgl. z. B. LENZ / AHLERS / WERNER 2014; SCHEUTZ 2016; WEISS 2017). Umfassendere, aktuelle empirische Daten zu NC liegen allerdings erst seit Kurzem und nur für Teilräume des Deutschen vor (z. B. für das Hessische; vgl. WEISS 2017), sodass über die Relevanz der jeweiligen Faktoren noch Klärungsbedarf herrscht. Viele Hypothesen zum Phänomen NC wurden auf Basis von Introspektion formuliert (bspw. bei WEISS 1998), anhand weniger Kontexte (bspw. bei LENZ / AHLERS / WERNER 2014; SCHEUTZ 2016; AdA 2003ff.) oder fast ausschließlich älterer Datenquellen (bspw. MOSER 2021). Dadurch besteht noch immer ein empirisches Defizit bei der Erforschung von NC – gerade für Österreich –, dem wir uns im vorliegenden Beitrag annehmen. Analysiert wird, wovon die NC-Verwendung – sowohl in Bezug auf inner- als auch außersprachliche Faktoren – in den österreichischen Dialekten abhängt. Dazu werden aktuelle Daten herangezogen, die im Rahmen eines Teilprojekts des FWFgeförderten SFB „Deutsch in Österreich“ (DiÖ) erhoben wurden.1 Untersucht werden 163 GPs unterschiedlichen Alters und Geschlechts aus 40 Orten in allen Dialektgebieten Österreichs. Die Daten entstammen einer Dialektbefragung mit Fragebuch – untersucht werden daraus 23 Stimulussätze, die in den Dialekt zu übersetzen waren und Möglichkeit zu NC boten. Untersucht wird, welche Unterschiede es beim Vorkommen von NC bei den GPs je nach Alter, Geschlecht und Herkunftsregion gibt und welche NC-Arten bei welchen Kontexten in welchem Ausmaß realisiert werden. 1

Es handelt sich um das Projekt „Variation und Wandel dialektaler Varietäten in Österreich (in real und apparent time)“ (F 6002-G23), das an der Universität Salzburg angesiedelt ist und von STEPHAN ELSPASS geleitet wird. URL: ; Stand: 20.10.2021.

Zur Mehrfachnegation in den Dialekten Österreichs

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In der Folge wird zunächst der Forschungsstand zu NC ausführlicher dargestellt (Kap. 2), bevor das Datenmaterial der Untersuchung vorgestellt wird (Kap. 3). Daran anschließend wird auf die Ergebnisse eingegangen (Kap. 4). Es folgt eine Diskussion mit Fazit (Kap. 5).2 2 FORSCHUNGSSTAND NC ist in den Sprachen der Welt weit verbreitet – insbesondere in den indoeuropäischen Sprachen (vgl. zur Diskussion etwa VAN DER AUWERA / VAN ALSENOY 2016: 480–487) –, wobei sich diese verschiedenen Typen zuweisen lassen (vgl. zum Folgenden HASPELMATH 2013; VAN DER AUWERA / VAN ALSENOY 2016). So gibt es –





Sprachen und Varietäten ohne NC (z. B. Standarddeutsch), wo das Auftreten mehrerer n-Elemente zu veränderten Wahrheitswerten führt (im Sinne eines duplex negatio affirmat), „strict-NC“-Sprachen (z. B. Standardrussisch), in denen die Kookkurrenz des Standardnegators mit n-Indefinita für grammatikalisch korrekte Aussagen notwendig ist, sowie „non-strict-NC“-Sprachen, in denen NC bisweilen realisiert wird, bisweilen aber nicht. NC kann bspw. an bestimmte syntaktische Kontexte geknüpft sein, wie im Standarditalienischen, wo n-Indefinita präverbal ohne Negationspartikel, postverbal dagegen nur mit Negationspartikel auftreten. In anderen Sprachen hängt die NC-Verwendung von semantischen oder pragmatischen Faktoren ab (z. B. Emphase im Jiddischen; vgl. VAN DER AUWERA / VAN ALSENOY 2016: 504). Auch die oberdeutschen Dialekte, die NC erlauben, haben „nonstrict-NC“-Eigenschaften (WEISS 2017: 450), wobei zur Frage, was das Auftreten von NC bedingt, verschiedene Hypothesen bestehen (s. u.).

Voraussetzung für NC ist das Vorhandensein von n-Indefinita. Abzugrenzen sind von diesen bloße negative polarity items, d. h. Elemente, die auf spezielle Kontexte beschränkt sind, u. a. negative Kontexte, die jedoch nicht zur semantischen Negation beitragen, wie etwa engl. any (vgl. VAN DER AUWERA / VAN ALSENOY 2016: 474–475). Zwischen solchen Items und n-Indefinita können allerdings historische Kontinuitäten bestehen, wie etwa bei kein im Deutschen (JÄGER 2008: 260–265; vgl. zum Folgenden bspw. PFEIFER 1993): Während nie(mals), niemand, nirgends/nirgendwo als Negativpartikel + Adverb bzw. Pronomen gebildet wurden und es sich bei nichts um einen erstarrten Genitiv des ursprünglichen Pronominalsubstantives niht/niwiht handelt (vgl. JÄGER 2008: 198–201), entwickelte sich kein ausgehend von dehein mit der ursprünglichen Bedeutung ‘irgendein’. Dehein trat zwar bereits im Althochdeutschen in negativen Kontexten auf, aber auch in anderen affektiven Kontexten (bspw. nach āna ‘ohne’). Es konnte auch noch nicht alleine 2

Für ihre hilfreichen Anmerkungen und Änderungsvorschläge beim Verfassen dieses Artikels wollen wir Lars Bülow, Stephan Elspaß, Ann-Marie Moser und Simon Pickl herzlich danken.

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die negative Interpretation eines Satzes hervorrufen – JÄGER (2008: 192) zufolge war seine Funktion vielmehr „to ‚strengthen‘ negation just as little as any does in present-day English“. Erst im Mittelhochdeutschen wurde es immer stärker auf negative Kontexte beschränkt und dadurch als n-Indefinitum reanalysiert (JÄGER 2007: 260–266). Dass kein häufiger als andere n-Indefinita in NC-Kontexten auftritt, wird bisweilen mit dieser Entstehungsweise als negative polarity item in Verbindung gebracht (WEISS 2017: 452). Überhaupt bestehen im Deutschen historische Kontinuitäten hinsichtlich NC: So sind – nach JÄGER (2008) sowie JÄGER / PENKA (2012) – für das Althochdeutsche teilweise NC-Eigenschaften anzunehmen. Als Hauptnegationspartikel fungierte proklitisches ni, das u. a. zur Verstärkung gemeinsam mit n-Indefinita erscheinen konnte, aber nicht musste (JÄGER 2008: 60, 93). Dieser Zustand entspricht einer frühen Phase im „Jespersen-Zyklus“,3 in dessen weiterem Verlauf die Negationspartikel ni (mhd. ne/en) immer stärker durch das anfangs als Emphasemarker fungierende niwiht ergänzt und schließlich ersetzt wurde. Durch Reanalyse übernahm niwiht immer stärker die Rolle als Negationsmarker, worin es die klitische Partikel schließlich ablöste. Anders als vom Jespersen-Zyklus vorhergesagt, gab es allerdings nie eine Phase, in welcher im Deutschen die klitische Partikel und niwiht obligatorisch kookkurrierten (PICKL 2017; FLEISCHER / SCHALLERT 2011: 234). Während die klitische Partikel im gesamten deutschen Sprachraum abgebaut wurde (allenfalls mit Ausnahme des westmitteldeutschen Raums; vgl. FLEISCHER / SCHALLERT 2011: 232), gilt dies weder generell für NS noch für ND, die gleichfalls seit althochdeutscher Zeit belegt sind. Zwar schwanden sie immer mehr aus der Schriftlichkeit (JÄGER 2008), lassen sich aber noch im 19. Jh. in konzeptionell mündlich geprägten Texten nachweisen (ELSPASS 2005: 280). Fraglich ist, was den Schwund auslöste: Während ihn JÄGER (2008) als natürlichen Prozess begreift, werden oft Normierungsbestrebungen durch neuhochdeutsche Grammatiker als Ursache genannt (WEISS 1998: 171; FLEISCHER / SCHALLERT 2011: 238, 249–250; ELSPASS / LANGER 2012: 285). Da der Abbau im Deutschen bereits vor der normgrammatischen Stigmatisierung einsetzte, ist auch ein Zusammenhang mit der Entwicklung einer konzeptionellen Schriftlichkeit unter lateinischem Vorbild plausibel (MOSER 2020; 2021). Von der Schriftlichkeit ausgehend dürfte der Abbau dann die Mündlichkeit und sogar die Dialekte erreicht haben: So weisen LENZ / AHLERS / WEBER (2014: 17– 18) für das Bairische auf einen Schwund der kein + nicht-Konstruktion hin. Ihrer apparent-time-Analyse folgend wird sie von einer jüngeren, besser gebildeten und mobileren Generation als deutlich weniger natürlich eingeschätzt als noch von klassischen NORM/Fs. Einen Rückbau von NC konstatiert auch SCHEUTZ (2016: 111– 112) für Südtirol und der SNiB (EROMS / SPANNBAUER-POLLMANN 2006: 204) für Niederbayern, wobei vermutet wird, dass der Schwund mit „standardsprachliche[n] normative[n] Ansichten“ in Zusammenhang steht (vgl. auch SCHEUTZ 2016: 112; WEISS 2017: 453). WEISS (2017) stellt dabei für das Hessische ebenso wie der SNiB 3

Angenommen wird dabei eine zyklische Entwicklung der Negation durch aufeinanderfolgende Abschwächungs- und Stärkungsprozesse (vgl. JESPERSEN 1917: 4).

Zur Mehrfachnegation in den Dialekten Österreichs

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(EROMS / SPANNBAUER-POLLMANN 2006) für das Bairische fest, dass der Rückgang von NC einer „Abbauhierarchie“ folgt, „wonach sich negative spread länger hält als doubling“ (WEISS 2017: 453; vgl. jedoch die Befunde im AdA 2003ff., der alltagssprachlich eine gegenteilige Tendenz dokumentiert). WEISS (2017: 452) beobachtet zudem eine Hierarchie je nach n-Indefinitum: Wird NC in einem Dialekt abgebaut, dann sind zuerst echte n-Wörter betroffen, also diejenigen, die einen Bestandteil enthalten, der etymologisch auf einen Negationsausdruck zurückgeht. Innerhalb dieser kann man aber nochmals eine Abbauhierarchie erkennen, insofern als NC mit n-Adverbien (nie, nirgends) stabiler zu sein scheint als mit n-Pronomen (niemand, nichts).

Nachfolgend soll u. a. überprüft werden, ob sich auch in den österreichischen Dialekten ein Abbau von NC zeigt, und falls ja, ob er den postulierten Hierarchien folgt. Was die Grammatik von NC betrifft, so werden v. a. zwei Fragen diskutiert (WEISS 2017: 450–451), nämlich der Status der n-Indefinita und die syntaktische Verankerung von NC, womit auch die Frage nach der Funktion von NC verbunden ist. Was die n-Indefinita betrifft, so werden diese meist als schwache (nicht-quantifizierende) Indefinita interpretiert – ihre Aufgabe sei die Einführung einer Variablen und deren existentieller Abschluss (WEISS 2002: 312). Entgegen früheren Annahmen (vgl. z. B. GIANNAKIDOU 2000; 2006) werden sie damit nicht mehr als negative Quantoren verstanden, die logisch zur Negation des Existenzquantors führen. Das zeigt sich etwa in split-scope reading-Kontexten wie in (1) (PENKA 2012): (1) Abends muss keine Babysitterin mehr aufpassen. (a) ‘Es ist nicht mehr notwendig, dass abends eine Babysitterin aufpasst.ʼ (b) ?‘Es gibt keine Babysitterin mehr, bei der es notwendig ist, dass sie abends aufpasst.ʼ (c) *‘Es ist notwendig, dass abends keine Babysitterin mehr aufpasst.ʼ

(1) lässt sich eher mit (a) paraphrasieren als mit (b) oder gar (c). Was bei (a) beobachtbar ist, ist die „Aufsplittung“ der Bedeutungskomponenten von kein „into a negation and an indefinite, which take scope from different positions“ (PENKA 2012: 517–518). So steht das Modalverb in der Lesart (a) unter dem Skopus der Negation, während sich der indefinite Ausdruck unter dem des Modalverbs befindet. Dies wäre unmöglich, würde kein als inhärent negative Einheit, also als negativer Quantor verstanden – (a) wäre dann ausgeschlossen und nur (b) oder (c) möglich (PENKA 2012). Folgt man dieser Argumentation, ist klar, wieso mehrere Negationsausdrücke in vielen Sprachen keine positive Lesart bewirken, wie etwa PENKA (2012: 521–522) ausführt: Whereas split readings in negative concord languages are expressed transparently, i. e. the negative marker occupying a higher position is present in addition to the negative indefinite […], the semantic negation in non-negative concord languages is obligatorily covert and only the negative indefinite is pronounced. The underlying structure is assumed to be the same, but the morpho-phonetic realisation to be different.

NC lässt sich damit als syntaktisches Kongruenzphänomen verstehen, wie es z. B. ZEIJLSTRA (2004) im Rahmen des minimalistischen Programms modelliert. Wie

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jedoch MOSER (2019; 2021: 118–136) darlegt, kann damit der empirischen Realität nur bedingt Rechnung getragen werden. Dem liegt die Beobachtung zugrunde, dass – anders als oft vorausgesetzt wird (z. B. bei HASPELMATH 1997; ZEIJLSTRA 2004; WEISS 2017) – NS und ND kein einheitliches Phänomen, sondern vielmehr „voneinander verschiedene Negationsstrategien darstellen“ (MOSER 2021: 134). NS und ND können zwar bei denselben Sprecher/inne/n vorkommen, MOSER (2021) stellt aber fest, dass die meisten Sprecher/innen nur eine Form wählen – in vielen Fällen auch nur optional neben der Einfachnegation. MOSER (2021) differenziert dabei regional verortbare Sprecher/innen-Grammatiken, nämlich: –



einen alemannischen Typ, der durch NS gekennzeichnet sei, wobei n-Indefinita fast ausschließlich nebeneinander im Mittelfeld vorkommen. Dieser Typ weise als Strukturoption im grammatischen System freie Variation mit der Einfachnegation auf.4 einen bairischen Typ, der durch ND (i. a. R. mit kein) gekennzeichnet sei, was entweder auftrete, wenn nicht und das n-Indefinitum nebeneinander im Mittelfeld stehen oder – häufiger – wenn das n-Indefinitum topikalisiert ist und sich nicht in der rechten Satzklammer befindet. ND sei dabei zumindest in der nichttopikalisierten Form pragmatisch motiviert (z. B. durch die Präsupposition eines positiven Erwartungshorizonts).5

Auch, dass beide Formen von derselben Person verwendet werden, kann MOSER (2021) belegen, jedoch nur im Übergangsbereich zwischen dem Alemannischen und Bairischen im Schwäbischen. Um diese komplexe Datenlage zu modellieren, bedient sich MOSER (2021) eines optimalitätstheoretischen Ansatzes, in welchem sie die verschiedenen Sprecher/innen-Grammatiken über unterschiedliche Hierarchien beim constraint-ranking erklärt. Nachfolgend soll u. a. geprüft werden, ob sich der Unterschied zwischen NS und ND und deren räumliche Verortung tatsächlich erhärten lassen. Zuvor werden allerdings die Daten und Methoden der Untersuchung genauer beschrieben. 3 DATEN UND METHODE Die vorliegende Untersuchung basiert auf Daten, die mittels einer direkten Dialektbefragung mit Fragebuch erhoben wurden, welches u. a. Übersetzungsaufgaben beinhaltet.6 Für die vorliegende Studie wurden 23 Stimuli ausgewählt, die aufgrund der vorkommenden n-Indefinita NC erlauben. Es handelt sich dabei jeweils um standardsprachliche Sätze mit Einfachnegation, die von den GPs in ihren Dialekt 4 5 6

Vgl. z. B. (nach MOSER 2021: 106): Ich ha dinära chatz nu niä nid gä. (= ‘Ich habe deiner Katze noch nie nichts gegeben’.) Vgl. z. B. (nach MOSER 2021: 107): Dea liest koa Buch ned. (= ‘Der liest kein Buch nicht’.) Dabei ist Dominik Wallner, Yvonne Rusch und Jan Luttenberger zu danken, die die Daten erhoben haben.

Zur Mehrfachnegation in den Dialekten Österreichs

135

zu übersetzen waren.7 Die Stimuli wurden den GPs vom Explorator vorgelesen, wobei die GPs sie in eine Form zu übertragen hatten, in der sie sie auch tatsächlich in ihrem Dialekt realisieren würden. Damit sollte die aktive Dialektkompetenz der GPs erhoben werden. Zu berücksichtigen ist dabei freilich, dass direkte Dialektbefragungen – etwa im Vergleich zur Analyse natürlicher Gesprächsdaten – alleine aufgrund der GP-Auswahl (s. u.) dazu tendieren, einen besonders archaischen Dialektstand zu dokumentieren (AUER 2010). Ich habe nie jemandem etwas Böses getan. Mir hat noch nie jemand etwas geschenkt. Die kriegt doch eh nie einen Mann. Die Gesellen haben sich nie etwas dabei gedacht. Die Lehrer haben eh niemals (eine) Zeit.

(15)

Man hat eben nirgends seine Ruhe.

(18)

Sie musste noch nie etwas arbeiten. Ich spiele nie um (ein) Geld. Ich habe auch kein Geld bei mir Ich habe kein Geld dabei. Ich habe nämlich morgen keine (11) Schule. (12) ...ich habe aber leider keine Zeit.

(19) (20) (21) (22)

Die Oma konnte dieses Jahr keine Kekse backen. ...so einer wie der Hans gibt einfach keine Ruhe. Ich habe kein Geld. Die Katze, die da liegt, hat keine Angst vor unserem Hund. Bei uns herüben ist kein Platz zum Spielen Die Kinder durften sich nie im Bach waschen. Also ich kenne keinen… ...der noch nie krank war. Sie war noch nie in Italien. Ihr spielt nie mit uns!

(23)

...niemand hat das verstanden.

(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10)

(13) (14)

(16) (17)

Tab. 1: Stimulus-Sätze aus dem Fragebuch

Tab. 1 zeigt die für die vorliegende Untersuchung verwendeten Stimuli. Die dunkel unterlegten Sätze (1) – (8) sind diejenigen, die (zumindest theoretisch) NS erlauben, da sich zusätzlich zu den im Stimulus vorgegebenen n-Indefinita (unterstrichen) ‚Leerstellen‘ für weitere n-Indefinita finden lassen (kursiv) – es handelt sich dabei um pronominale Kontexte, die bei einer Übersetzung mit NS mit n-Indefinita ‚gefüllt‘ werden können.8 Bei den übrigen Stimuli (9) – (23) ist dagegen nur ND möglich, da keine solchen ‚Leerstellen‘ vorhanden sind und zum n-Indefinitum nur

7

8

Dies bedingte Abweichungen vom standardsprachlichen Stimulus auf allen sprachlichen Ebenen. Gelegentlich wurden auch recht freie Übersetzungen realisiert, bei welchen im Stimulus nicht vorhandene Elemente eingefügt oder im Stimulus vorhandene Elemente ausgelassen wurden. Wobei bei (5) und (8) die Indefinitartikel bei den Kontinuativa nicht vorgegeben waren – allerdings entsprechen diese dem erwartbaren Formengebrauch in vielen deutschen Dialekten, u. a. im Bairischen (GLASER 1996).

136

Philip C. Vergeiner / Marlene Hartinger

nicht treten kann. Nicht kann aber auch in den dunkel unterlegten Sätzen realisiert werden, wobei hier ND auch mit NS kombinierbar ist. Nachfolgend wird primär untersucht, inwiefern die GPs spontan und „gegen“ die standardsprachlichen Stimuli NC realisieren. Da die Dialekte im süddeutschen Raum ausschließlich „non-strict-NC“-Eigenschaften aufweisen (vgl. Kap. 2), kann im Sinne positiver Evidenz damit zunächst nur auf die Möglichkeit, aufgrund des Fehlens negativer Evidenz aber nicht unbedingt auf die Unmöglichkeit von NC geschlossen werden (vgl. zu den methodischen Problemen auch EROMS / SPANNBAUER-POLLMANN 2006: 197). Der Untersuchung liegt die Prämisse zugrunde, dass NC bei GPs, die es häufiger spontan realisieren, verbreiteter ist – dasselbe gilt für die NC-Verwendung bei den einzelnen Items. Eine solche Vorgehensweise hat sich schon bei vergleichbaren Untersuchungen bewährt, etwa im Rahmen des SNiB(EROMS / SPANNBAUER-POLLMANN 2006: 204) und SyHD-Projektes (vgl. WEISS 2017),9 aber auch bei SCHEUTZ (2016). Mittelbairisch

Bairisch-Alemannisch Südmittelbairisch Alemannisch

Südbairisch

Abb. 1: Untersuchungsorte

Untersucht werden Daten von 163 GPs aus 40 Ortschaften. Pro Ort wurden vier GPs befragt:10 je zwei ältere (> 65 Jahre) und zwei jüngere (18–35 Jahre), wobei pro Altersgruppe eine GP männlich und eine weiblich ist. Die GP-Auswahl erfolgte anhand üblicher dialektologischer Kriterien (vgl. z. B. CHAMBERS / TRUDGILL 1998: 29–30): Herkunft der GP und mindestens eines Elternteils im Untersuchungsort, außerdem Ortsfestigkeit, geringe formale Schulbildung sowie eine manuelle, i. a. R. 9

Dort wurden zusätzlich zu den spontanen Antworten der GPs allerdings auch Akzeptabilitätswertungen suggeriert – auf die Hereinnahme solcher Wertungen musste in der vorliegenden Untersuchung verzichtet werden, da Akzeptabilitätswertungen im Rahmen der zugrundeliegenden Dialekterhebung nicht systematisch elizitiert wurden, u. a. aufgrund des Umfangs der Befragung, die bis zu fünf Stunden dauerte und Phänomene aller Systemebenen einschloss. 10 In einem Ort (Ulrichsberg in OÖ) wurden 7 GPs befragt, da hier ein Erhebungsschwerpunkt des Projektes liegt (vgl. z. B. VERGEINER et al. 2020).

Zur Mehrfachnegation in den Dialekten Österreichs

137

bäuerliche Tätigkeit. Die Untersuchungsorte und deren dialektgeographische Lage (nach WIESINGER 1983) zeigt Abb. 1. Berücksichtigt wurden GPs aus allen Dialektregionen Österreichs (inkl. Übergangsgebieten), wodurch sich allfällige räumliche Unterschiede rekonstruieren lassen. Um Wandeltendenzen freizulegen, erfolgt ein Vergleich jüngerer mit älteren GPs – im Sinne des apparent-time-Ansatzes (CHAMBERS / TRUDGILL 1998; zu Problemen der Methode vgl. z. B. VERGEINER et al. 2020). Als klassisch soziolinguistische Variable werden außerdem Unterschiede nach dem Geschlecht der GPs analysiert. 4 ERGEBNISSE In der Folge wird zuerst auf das Vorkommen von NC insgesamt, mit Fokus auf die außersprachlichen Faktoren, eingegangen (Kap. 4.1). Anschließend erfolgt eine Untersuchung allfälliger Unterschiede zwischen den NC-Typen (Kap. 4.2) sowie weiterer innersprachlicher Faktoren (Kap. 4.3). 4.1 Negative concord im Untersuchungsraum NC ist in den untersuchten Dialekten nicht obligatorisch. Dennoch tritt NC in den Dialektübersetzungen auf – wie in Kap. 3 problematisiert, gegen die standardsprachliche Vorlage. Die Realisierungshäufigkeit ist aber wohl deshalb insgesamt nicht allzu hoch: So wird 149-mal NC realisiert (= 4 %), allerdings wird NC immerhin von 67 GPs (= 41 %) aus 32 Orten (= 80 %) genutzt. Es handelt sich also noch immer um eine syntaktische Variante, die in den (meisten) österreichischen Dialekten existiert. Wie in Kap. 3 erwähnt, folgt daraus nicht, dass in den Orten, in denen es nicht spontan erscheint, NC unmöglich ist – nimmt man die Realisierungshäufigkeiten von NC bei den Befragungen jedoch als Ausdruck der Gebräuchlichkeit von NC, werden räumliche Schwerpunkte beim NC-Gebrauch sichtbar – vgl. dazu Abb. 2, wo (in absoluten Zahlen) dargestellt ist, wie häufig NC in den untersuchten Orten begegnet. Die Karte zeigt ein deutliches Zentrum beim NC-Gebrauch im Westmittelbairischen bzw. im anschließenden Südmittelbairischen (analog zur Studie von LENZ / AHLERS / WERNER 2014: 16). Besonders auffällig ist der Ort Rußbach in Salzburg, wo immerhin 25-mal (= 27 %) NC realisiert wird (wobei alle vier GPs NC nutzen, mit jeweils überdurchschnittlichen Werten). Eine zweite, allerdings deutlich schwächere Bündelung von NC-Belegen zeichnet sich im Westen ab, im Alemannischen bzw. im bairisch-alemannischen Übergangsbereich. Im Südbairischen ist NC dagegen (deutlich) seltener belegt, dasselbe gilt für das Ostmittelbairische, inklusive dem südlich daran anschließenden Übergangsbereich. Hier befindet sich auch ein zusammenhängendes Gebiet aus acht Orten, in denen NC überhaupt nicht spontan

138

Philip C. Vergeiner / Marlene Hartinger

realisiert wird. Dass es zwischen den einzelnen Dialektregionen statistisch signifikante Differenzen beim Vorkommen von NC gibt, zeigt auch Tab. 2.11

0

1-2

3-5

6-9

10+

Abb. 2: Vorkommen von NC in den Untersuchungsorten

Alemannisch (= Al) Bairisch-Alemannisch (= B-Al) Südbairisch (= Sb) Südmittelbairisch (= Smb) Westmittelbairisch (= Wmb) Ostmittelbairisch (= Omb)

B-Al n.s. -

Sb 0,003** 0,014* -

Smb n.s. n.s. n.s. -

Wmb n.s. n.s. 0,005** 0,021* -

Omb 0,018* 0,02* n.s. n.s. 0,018* -

Tab. 2: Signifikante Unterschiede zwischen den Dialektregionen beim Vorkommen von NC

Signifikante Unterschiede bestehen vor allem zwischen dem Ostmittel- bzw. Südbairischen auf der einen Seite und dem Westmittelbairischen bzw. Alemannischen (inkl. bairisch-alemannischem Übergangsbereich) auf der anderen Seite. Als weiterer außersprachlicher Faktor, der beim NC-Vorkommen zu berücksichtigen ist, kommt das Alter der GPs in Frage. Viele Studien legen einen Abbau von NC nahe (bspw. EROMS / SPANNBAUER-POLLMANN 2006; LENZ / AHLERS / WERNER 2014; SCHEUTZ 2016; WEISS 2017). Im Sinne eines apparent-time-Effekts müsste sich dies in intergenerationellen Differenzen bei der NC-Verwendung bemerkbar machen. Tatsächlich bestehen solche Unterschiede zwischen alten und jungen GPs: So lässt sich feststellen, dass alte GPs etwas häufiger NC verwenden – sie realisieren NC spontan 84-mal (= 5 %), während jüngere GPs dies nur 65-mal 11 Aufgrund der nicht normalverteilten Daten wird hier und in der Folge die Signifikanz der Unterschiede parameterfrei über Mann-Whitney-U-Tests getestet. Berechnungsgrundlage sind die relativen Anteile, mit denen NC seitens der GPs Verwendung findet.

Zur Mehrfachnegation in den Dialekten Österreichs

139

tun (= 3 %). Dabei verwenden ältere GPs NC nicht nur öfter, sondern es verwenden auch mehr ältere GPs NC: Von den 81 älteren GPs gebrauchen insgesamt 38 NC (= 47 %), während dies nur bei 29 von 82 jüngeren GPs (= 35 %) der Fall ist. Die Verwendung von NC korreliert positiv mit dem Alter der GPs12: ρ = 0,172, p = 0,029*. Allerdings ist die Korrelation nicht sonderlich stark ausgeprägt.13 Soweit sich dies in Anbetracht der geringen Belegdichte für NC im Korpus sagen lässt, deuten die apparent-time-Unterschiede einen – gleichwohl moderaten – Abbau von NC in Österreich an. Als dritte außersprachliche Größe soll ein möglicher Zusammenhang mit dem Geschlecht der GPs untersucht werden – sein Einfluss auf die NC-Verwendung wurde im deutschen Sprachraum (unseres Wissens) noch nicht untersucht (anders als etwa im Englischen, vgl. bspw. LABOV 2001: 261–293). In den vorliegenden Daten zeigt sich, dass ein solcher Einfluss zu bestehen scheint, wobei Männer mehr NC gebrauchen: Sie übersetzen die Stimuli 94-mal mit NC (= 5 %), während weibliche GPs dies nur 55-mal tun (= 3 %). Wiederum unterscheidet sich auch die Anzahl der GPs beim NC-Gebrauch: Verwendet immerhin die Hälfte der männlichen GPs NC (41 von 82), ist dies nur bei rund einem Drittel der weiblichen GPs der Fall (26 von 81). Die Unterschiede sind auch signifikant (p = 0,013*). Auf allfällige Ursachen für diese geschlechterbezogenen Differenzen wird in Kap. 5 eingegangen. 4.2 Negative spread vs. negative doubling Oben wurde NC ohne weitere Subdifferenzierungen analysiert – allerdings legen einige Untersuchungen nahe, dass die NC-Typen NS und ND gesondert betrachtet werden sollten (vgl. Kap. 2). Dabei wurde auf eine Abbauhierarchie hingewiesen (WEISS 2017), aber auch auf einen fehlenden Zusammenhang beider NC-Formen (MOSER 2019; 2021). Diesen Hypothesen soll im vorliegenden Abschnitt nachgegangen werden. Grundsätzlich lassen sich im Datenmaterial beide NC-Formen belegen. NS ist in den Stimuli (1) – (8) möglich und erscheint dort recht häufig, nämlich 90-mal (= 7 % der Fälle). ND hingegen könnte in allen Stimuli umgesetzt werden – allerdings tritt es nur 58-mal auf (= 2 %). Insgesamt herrscht also eine gewisse Präferenz für NS im Untersuchungsraum. Dies scheint zunächst die Hypothese zu stützen, wonach es eine Abbauhierarchie mit Präferenz für NS gegenüber ND gibt (WEISS 2017: 451, 453; s. o. Kap. 2) – allerdings muss berücksichtigt werden, wo und v. a. von wem welche NC-Varianten verwendet werden: So ist zunächst feststellbar, dass NS und ND kaum im selben Satz vorkommen – erlauben würden dies prinzipiell die Stimuli (1) – (8). Tatsächlich belegbar ist eine solche Kombination allerdings nur einmal bei Stimulus (1): [iː hɔb̥ nɪ͜ɐ nɪk͜s 12 Auch Zusammenhänge werden hier und in der Folge parameterfrei mittels Spearman’schen Rangkorrelationskoeffizienten berechnet – wiederum anhand der relativen Anteile, mit denen NC seitens der GPs gebraucht wird. 13 Ein Test auf Unterschiede zwischen beiden Altersgruppen ist nicht signifikant.

140

Philip C. Vergeiner / Marlene Hartinger

b̥ɛːs nɛ̥ d ̥dɔ̃ː] (= ‘Ich habe nie nichts Böses nicht getan’; GP: BD_MJ). Ansonsten werden NS und ND nicht kombiniert. Das könnte aber auch damit zusammenhängen, dass eine Dreifachnegation insgesamt selten ist (was nicht weiter überrascht, vgl. z. B. WEISS 2017: 459; EROMS / SPANNBAUER-POLLMANN 2006). Sie kommt nur noch zwei Mal bei (1) und zwei Mal bei (3) vor (jeweils mit drei n-Indefinita). Eine Vierfachnegation, die bei (1) und (2) möglich wäre, lässt sich nicht belegen. Für eine Trennung von NS und ND spricht allerdings, dass nicht nur im selben Satz, sondern auch bei derselben GP in unterschiedlichen Sätzen beide NC-Formen selten kombiniert werden: So nutzen 37 GPs nur NS (= 27 %), während 20 GPs ausschließlich ND verwenden (= 12 %). Lediglich 10 GPs gebrauchen beides (= 6 %). Die NS und ND-Verwendung gehen somit nicht unbedingt miteinander einher, auch wenn sie sich nicht ausschließen. Statistisch sind der NS- und NDGebrauch unkorreliert (ρ = 0,05, p = 0,486), was MOSER (2021) bestätigt, die ND und NS als verschiedene, unzusammenhängende Negationstypen betrachtet. MOSER (2021) beobachtet auch, dass ND und NS in unterschiedlichen Regionen des Deutschen Verwendung finden (NS im Alemannischen, ND im Bairischen). Dass dies mit den vorliegenden Daten in Einklang gebracht werden kann, zeigt Abb. 3, wo für jene Orte, in denen NC erscheint, der relative Anteil eingetragen ist, mit dem die beiden NC-Formen vorkommen.

Negative spread

Negative doubling

Abb. 3: Relative Anteile der beiden NC-Typen in den Untersuchungsorten

Deutlich wird, dass ND vorrangig im Mittelbairischen und im südlich daran anschließenden Übergangsbereich begegnet. NS hingegen ist die ausschließliche Variante im Alemannischen und Südbairischen und tritt auch im bairisch-alemannischen sowie südmittelbairischen Übergangsbereich häufig auf. Dabei ist aber gerade im Südmittel- und Westmittelbairischen ein breiter Übergangsbereich festzustellen, wo beide Formen belegbar sind (ähnlich wie es MOSER 2021 für das Schwäbische konstatiert). Welche Unterschiede signifikant sind, zeigt Tab. 3 (die dunkel unterlegten Werte gelten für NS, die hell unterlegten für ND). Deutlich wird, dass sich v. a. das Alemannische und das Südbairische von den nordöstlich gelegenen Regionen signifikant unterscheiden, v. a. beim ND.

141

Zur Mehrfachnegation in den Dialekten Österreichs

Al B-Al Sb Smb Wmb Omb

Al n.s. n.s. 0,028* 0,047* 0,000***

B-Al n.s. n.s. n.s. n.s. n.s.

Sb n.s. n.s. 0,002** 0,002** 0,030*

Smb 0,002** 0,005** n.s. n.s. n.s.

Wmb n.s. n.s. n.s. n.s. n.s.

Omb 0,028* n.s. 0,041* n.s. n.s. -

Tab. 3: Signifikante Unterschiede zwischen den Dialektregionen bei den NC-Typen (dunkel bei NS, hell bei ND)

4.3 Weitere innersprachliche Faktoren Nachdem in Kap. 4.2 die prinzipielle Unabhängigkeit beider NC-Typen gezeigt wurde, wird nachfolgend ihr Vorkommen in den einzelnen Stimuli und damit einhergehend das Verhalten verschiedener n-Indefinita thematisiert. Wie oft bei den Stimuli welche Form von NC in den spontanen Dialektübersetzungen erscheint, zeigt Tab. 4. Deutlich wird, dass NC nicht bei allen Stimuli gleich häufig realisiert wird: Am häufigsten ist NC bei (1), (3) und (2), wobei jeweils fast nur NS vorkommt. ND ist am häufigsten in (9), während es bei (18) – (23) überhaupt nicht realisiert wird. Diese Unterschiede können zunächst mit der Struktur der Stimuli in Verbindung gebracht werden. Wie in Kap. 3 bereits kurz erwähnt wurde, bieten sie in unterschiedlichem Ausmaß ‚Leerstellen‘ für n-Indefinita. Bei (3) – (8) gibt es jeweils – neben dem bereits vorhandenen n-Indefinitum (in Tab. 4 unterstrichen) – eine Leerstelle (kursiv), in (1) und (2) sogar zwei. Deutlich wird, dass (mehr) Leerstellen mehr NC-Realisierungen hervorrufen. Das betrifft vorrangig die NS-Verwendung – die im Untersuchungsraum bei mehr GPs und Orten auftritt (vgl. Kap. 4.2) –, während ND bei diesen Stimuli kaum begegnet. Dies kann auch mit einer anderen Tendenz in Zusammenhang gebracht werden, nämlich damit, dass ND fast nur mit kein auftritt (s. u.). Von (1) – (8) eröffnen zwar (3), (5), (6) und (8) eine Leerstelle für kein, allerdings ist dort jeweils bereits ein anderes n-Indefinitum realisiert. Wenn nicht vom Stimulus abgewichen wird, indem das n-Indefinitum bei der Übersetzung ausgespart bleibt, ist ND mit kein in diesen Stimuli nur möglich, wenn zugleich NS umgesetzt wird. Wie in Kap. 4.2 gezeigt, ist aber nicht nur Dreifachnegation sehr selten, sondern es erweisen sich auch NS und ND als „unabhängig voneinander auftreten[de]“ Negationsstrategien (MOSER 2021: 108).

142

(1) (3) (2) (9) (4)

(5) (6) (10)

(11) (12) (7) (13) (14) (8) (15)

(16) (17) (18) (19) (20) (21) (22)

(23)

Philip C. Vergeiner / Marlene Hartinger

Stimulus … nie jemandem etwas Böses getan. Die kriegt doch eh nie einen Mann. … noch nie jemand etwas geschenkt. Ich habe auch kein Geld bei mir … nie etwas dabei gedacht. … haben eh niemals (eine) Zeit. Man hat eben nirgends seine Ruhe. Ich habe kein Geld dabei. … nämlich morgen keine Schule. ...ich habe aber leider keine Zeit. Sie musste noch nie etwas arbeiten. … dieses Jahr keine Kekse backen. ... gibt einfach keine Ruhe. Ich spiele nie um (ein) Geld. Ich habe kein Geld. … keine Angst vor unserem Hund. … herüben ist kein Platz zum Spielen … durften sich nie im Bach waschen. Also ich kenne keinen… ...der noch nie krank war. Sie war noch nie in Italien. Ihr spielt nie mit uns! ...niemand hat das verstanden.

Einfachnegation

ND

NS

84 %

1%

15 %

88 %

2%

10 %

90 %

0%

10 %

92 %

8%

-

94 %

0%

6%

94 %

1%

5%

94 %

0%

6%

94 %

6%

-

94 %

6%

-

94 %

6%

-

96 %

0%

4%

97 %

3%

-

98 % 99 % 99 %

2% 0% 1%

1% -

99 %

1%

-

99 %

1%

-

100 %

0%

-

100 % 100 % 100 % 100 %

0% 0% 0% 0%

-

100 %

0%

-

Tab. 4: Unterschiede bei der NC-Realisierung bei den Stimulussätzen

Dass ND vor allem auf kein beschränkt ist, könnte (mit-)erklären, wieso es auch in (18) – (23) nicht vorkommt; bis auf (19)14 müsste ND hier mit nie oder niemand

14 Dass bei (19) kein ND vorkommt, könnte damit zu tun haben, dass kein hier pronominal gebraucht wird, während es ansonsten als Determinator auftritt. Allerdings sind die Unterschiede in den

Zur Mehrfachnegation in den Dialekten Österreichs

143

gebildet werden. Dass diese Kombinationen (fast) nicht belegbar sind und ND weitgehend auf kein beschränkt ist, zeigt Tab. 5 deutlich. Dort ist eingetragen, welche Kombinationen von n-Indefinita untereinander bzw. mit nicht realisiert werden. Dabei ist zu bedenken, dass die Kombinationsmöglichkeiten (auch) durch die Stimuli vorgegeben sind, weshalb in Tab. 5 der Anteil der Kombinationen bezogen auf die insgesamt möglichen Kontexte (nach den ‚Leerstellen‘ in den Stimuli) angegeben ist. Kombination

Realisiert

nie + niemand nie + kein(e/en/er) nie + nichts

29 26 18

Anteil / mögliche Kontexte 9% 4% 3%

kein(e/en/er) + nicht

59

3%

kein(e/en/er) + nirgends nichts + niemand niemand + nie + nichts nie + nirgends nie + nicht nie + nichts + nicht

5 5 4 1 1 1

3% 2% 1% 1% 0% 0%

Realisierung / Stimulus (1), (2), (6) (2), (3), (5), (6), (8) (2), (4), (7) (3), (5), (9), (10), (11), (12), (13), (14), (15), (16), (17) (6) (1), (2) (1), (2) (6) (5) (1)

Tab. 5: Unterschiede bei der NC-Realisierung bei den Stimulussätzen

Nur zwei Mal erscheint ND ohne die Beteiligung von kein; dieses Sonderverhalten wird oft durch die Entstehung von kein als negative polarity item erklärt (vgl. Kap. 2 sowie WEISS 2017: 452). Deutlich ist jedoch, dass diese Entstehungsweise beim NS kein so deutliches Sonderverhalten von kein bedingt. Hier treten öfters auch andere Kombinationen auf, v. a. nie + niemand, aber auch nie + nichts. Auch für die von WEISS (2017: 452) postulierte Hierarchie, dass neben kein-Kontexten NC mit n-Adverbien (nie, nirgends) häufiger sei als mit n-Pronomen (niemand, nichts), ergeben sich nur wenige Hinweise. Zwar sind Kombinationen mit nie häufig (was auch durch die Stimuli vorgegeben ist), aber nicht unbedingt mit nirgends, während sowohl niemand als auch nichts insgesamt recht oft in NC-Konstruktionen begegnen. Bei weiteren Unterschieden zwischen den Stimuli ist zu bedenken, dass die Differenzen weniger deutlich sind, sodass ein zufälliges Zustandekommen nicht auszuschließen ist. Ein interessanter Fall ist jedoch Stimulus (23). WEISS (1998: 119) folgend dürfte NC hier nicht möglich sein, da niemand in (23) nicht als schwacher, sondern starker Quantor fungiert. Eine Kombination mit nicht würde deshalb mit einer positiven Lesart einhergehen (niemand hat das nicht verstanden ‘alle haben das

Daten zwischen (19) und (15), (16) und (17) so gering, dass eine Klärung dieser Frage hier nicht möglich scheint.

144

Philip C. Vergeiner / Marlene Hartinger

verstanden’). Auffällig ist, dass dennoch zwei GPs auf eine hier erfolgte Nachfrage des Explorators eine suggerierte Übersetzung mit ND akzeptieren. 5 DISKUSSION UND FAZIT Ziel dieses Beitrages war es, inner- und außersprachliche Faktoren freizulegen, die den NC-Gebrauch in den österreichischen Dialekten steuern. Dies geschah nicht zuletzt, um bereits bestehende Hypothesen auf ihre empirische Plausibilität zu überprüfen. Gezeigt wurde, dass NC im Untersuchungsraum belegbar ist, wenn auch eher selten. Dabei legen die aufgezeigten apparent-time-Unterschiede nahe, dass NC im Untersuchungsraum rückläufig ist, was sich mit den Beobachtungen anderer Untersuchungen deckt (bspw. EROMS / SPANNBAUER-POLLMANN 2006; LENZ / AHLERS / WERNER 2014; SCHEUTZ 2016; WEISS 2017). Dabei gilt es natürlich zu beachten, dass die vorliegenden Daten über eine direkte Dialektbefragung elizitiert wurden, in welcher ein standardsprachlicher Stimulus vorgelegt wurde. Aufgrund dieses methodischen Zugangs lässt sich nur auf Schwerpunkte der Verwendung, nicht aber die prinzipielle (Un-)Möglichkeit von NC in einzelnen Dialekten schließen. Festzuhalten ist, dass NC in der Sprachkompetenz vieler untersuchter GPs noch verankert ist, schließlich können sie die Form noch spontan realisieren. Dabei ist insgesamt eher NS als ND belegbar. Das stützt nur auf den ersten Blick die von WEISS (2017: 453) postulierte „Abbauhierarchie“, „wonach sich negative spread länger hält als doubling“. Dieses Bild täuscht, da sich die These von MOSER (2021) bestätigen lässt, dass – entgegen früheren Annahmen (HASPELMATH 1997: 219; ZEIJLSTRA 2004: 63; WEISS 2017) – NS und ND weitgehend unabhängig voneinander sind und bei jeweils unterschiedlichen Sprecher/innen-Gruppen Verwendung finden. Bestätigt werden konnte auch, dass beim ND fast ausschließlich Kombinationen mit kein gebraucht werden (WEISS 2017: 452; MOSER 2021: 110) – diese Beschränkung auf kein gilt für NS jedoch nicht im selben Maß. Diese Differenz lässt sich nur schwer erklären. Die häufig vorgebrachte Begründung, das Sonderverhalten von kein läge an seiner Entstehung als negative polarity item (WEISS 2017: 452), könnte eine Rolle spielen. Dann wäre aber zu erklären, wieso das Sonderverhalten von kein geographisch auf den Osten und sprachlich auf die Kombination mit nicht beschränkt bleibt. Insgesamt scheint NS in mehr Kombinationen möglich, wobei sich für eine vermeintlich häufigere NC-Verwendung mit n-Adverbien verglichen mit n-Pronomen (vgl. WEISS 2017: 452) kaum Hinweise finden lassen. Was die Häufigkeit von NC in den einzelnen syntaktischen Kontexten betrifft, kommt NC erwartungsgemäß vor allem dann häufig vor, wenn (mehr) Leerstellen für n-Indefinita bestehen. Zugleich ist aber die NC-Realisierung mit drei negativen Elementen selten (vgl. auch WEISS 2017: 459; EROMS / SPANNBAUER-POLLMANN 2006). Das hängt aber wohl auch damit zusammen, dass eine solche Realisierung in den vorliegenden Daten meist eine Kombination aus NS und ND erfordern würde, was, wie erwähnt, besonders selten ist. Da in der vorliegenden Studie die syntaktischen Kontexte über

Zur Mehrfachnegation in den Dialekten Österreichs

145

das Fragebuch (weitgehend) vorgegeben wurden, bedürfte es zur Freilegung weiterer Beschränkungen eines größeren Korpus, das idealerweise spontansprachliches Material beinhaltet. Dies würde es auch erlauben, allfällige semantische und/oder pragmatische Faktoren beim NC-Gebrauch zu fokussieren, die hier nicht weiter untersucht werden konnten. Analysiert werden konnte aber die räumliche Verbreitung von NC in Österreich. Dabei bestehen zwei Schwerpunkte: ein westlicher im Alemannischen und im daran anschließenden Übergangsbereich zum Südbairischen sowie einer weiter im Osten im Westmittelbairischen inklusive dem südmittelbairischen Übergangsbereich (vgl. zu Letzterem auch LENZ / AHLERS / WERNER 2014: 16). Während im Alemannischen und dem benachbarten Südbairischen NS dominiert, gilt dies im Westmittelbairischen stärker für ND. Dieses Raumbild bestätigt grundsätzlich MOSER (2021), wonach ND für das Bairische, NS dagegen für das Alemannische charakteristisch ist. Einschränkend muss jedoch bemerkt werden, dass zwar im Alemannischen nur NS, im Bairischen aber nicht nur ND, sondern auch NS oft belegbar ist. Dabei besteht ein breiter Übergangsbereich, ähnlich wie ihn MOSER (2021) für das Schwäbische beobachtet. In Österreich ist davon in erster Linie das Südmittelbairische betroffen. Auch in räumlicher Hinsicht sind beide NC-Formen letztlich zwar prinzipiell unabhängig voneinander, sie schließen sich aber zumindest in den hier betrachteten Regionen auch nicht aus. Der Abbau von NC wird insgesamt häufig auf „standardsprachliche normative Ansichten“ zurückgeführt (EROMS / SPANNBAUER-POLLMANN 2006: 204; vgl. auch SCHEUTZ 2016: 112; WEISS 2017: 453) – dieses Motiv dürfte mit dem insgesamt beobachtbaren Rückgang von NC in Verbindung stehen. Darauf, dass NC durch eine normative Stigmatisierung gekennzeichnet ist, könnte auch die geschlechterbezogene Variation hinweisen. V. a. in der englischsprachigen Variationslinguistik wird häufig konstatiert, dass Frauen – aus verschiedenen Gründen, die hier nicht weiter beleuchtet werden können – einen geringeren Anteil normativ stigmatisierter Formen verwenden (vgl. z. B. CHAMBERS / TRUDGILL 1998; LABOV 2001). Dass Frauen insgesamt weniger NC nutzen, ließe sich mit diesem Befund in Einklang bringen. Die genauen Ursachen für die geschlechterbezogene Differenzen können hier jedoch nicht vollends geklärt werden, denn auch dazu bräuchte es weitere, auch auf Attitüden abgestellte Untersuchungen. Eine auf weitere Gruppenunterschiede fokussierte Untersuchung – z. B. Stadt vs. Land, schichtspezifische Differenzen –, scheint angesichts der vorliegenden Befunde ebenfalls fruchtbringend. LITERATUR AdA = Atlas zur deutschen Alltagssprache. Bearbeitet von STEPHAN ELSPASS und ROBERT MÖLLER (2003ff.). URL: ; Stand: 02.01.2020. AUER, PETER (2010): Der Grunddialekt als Konstrukt. Wie Gewährspersonen und Erheber in der direkten Befragung die Daten der Atlasdialektologie konstituieren. In: HUCK, DOMINIQUE / THIRESIA CHOREMI (Hg.): Parole(s) et langue(s), espaces et temps – Mélanges offerts à Arlette Bothorel-Witz. Strasbourg: Presse universitaire de Strasbourg, 23–36. CHAMBERS, JACK K. / PETER TRUDGILL (1998): Dialectology. 2. Auflage. Cambridge: CUP.

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ARTIKELSYNTAX DEUTSCHER DIALEKTE Ein erster Vergleich1 Helmut Weiß ABSTRACT Deutsche Dialekte zeigen im Vergleich zum Standarddeutschen eine differenziertere Artikelsyntax, da sie in der Regel über zwei morphologische Paradigmen (nämlich reduzierte und volle Artikel – DETR und DETF) verfügen, die beide eine klar unterschiedliche syntaktische und pragmatische Distribution aufweisen. Ein Artikelsystem mit reduzierten und vollen Formen findet sich in den meisten deutschen Dialekten. Was die funktionale Distribution betrifft, lässt sich eine große Übereinstimmung beobachten, aber auch eine gewisse Variation, so v.a. wenn ein Adjektivattribut oder ein restriktiver Relativsatz vorhanden ist. Neben diesen 2-DET-Dialekten gibt es Dialekte wie das Zahrische (Bairisch, Norditalien, Provinz Udine), die nur mehr reduzierte Artikel haben, diese aber in bestimmten Kontexten mit den deiktischen Ausdrücken do/sel verstärken (vur de do/se gelenikhat ‘für die(se) Gelegenheit’). Solche DET-da-Dialekte sind bisher weitgehend unerforscht und werden hier erstmalig systematisch am Beispiel des Zahrischen beschrieben. 1 EINLEITUNG Hinsichtlich des definiten Artikels zeigen deutsche Dialekte im Vergleich zum Standarddeutschen eine differenziertere Syntax, da sie in der Regel über zwei morphologische Paradigmen (hauptsächlich reduzierte und volle Artikel – DETR und DETF) verfügen, die beide eine klar unterschiedliche syntaktische und semantischpragmatische Distribution aufweisen (vgl. DIRANI 2020 und die darin zitierte Forschungsliteratur). Das zeigt der Vergleich zwischen (1) und (2): Dem (vollen)

1

Für wertvolle Hinweise und Anregungen danke ich dem Auditorium der BÖDT, drei anonymen Gutachtern sowie Seyna Maria Dirani, Astrid Gößwein, Melanie Hobich und Thomas Strobel.

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Helmut Weiß

Artikel des Standarddeutschen2 (1) stehen im Bairischen (2) volle und reduzierte Artikel gegenüber – je nach Art der anaphorischen Beziehung zum Antezedens.3 (1) Heute besuchen wir eine Bäuerin im Nachbardorf. Die Bäuerin besitzt eine Ziege und ein Schaf. Die Ziege liefert Milch und das Schaf Wolle. (2) Heind bsuach’ma a Baieren im Nochbordorf. De[DETF] Baieren hod a Goaß und a Schof. D’[DETR] Goaß gibt a Mil und s’[DETR] Schof a Woi.

Dialekte mit zwei morphologisch distinkten Paradigmen des definiten Artikels sind die Regel (im Folgenden 2-DET-Dialekte genannt). Verschiedene dieser Dialekte sind auch schon Gegenstand linguistischer Untersuchungen gewesen: das Bairische (WEISS 1998), das Bairisch-Österreichische (BRUGGER / PRINZHORN 1995; WILTSCHKO 2013), das Friesische (EBERT 1971a; 1971b), Hessische (SCHMITT 2006; DIRANI 2020), Ripuarische (HIMMELMANN 1997; 2001) sowie das Schweizerdeutsche (MEIER 2012; 2019; STUDLER 2011). Was bisher allerdings fehlt, ist eine komparative Studie, die zudem auch Dialekte miteinbezieht, die ein anderes System aufweisen. Bisher weitgehend unbemerkt ist nämlich geblieben, dass es vereinzelt Dialekte gibt, die ein anderes System aufweisen. Als Beispiel eines solchen Dialektes wird hier erstmals das Artikelsystem des Zahrischen beschrieben. Der Aufsatz ist folgendermaßen aufgebaut: Abschnitt 2 erläutert das morphologische und syntaktische System der 2-DET-Dialekte und beschreibt anhand dieser den Forschungsstand. Abschnitt 3 stellt mit dem Zahrischen erstmals einen sog. DET-da-Dialekt vor. Abschnitt 4 geht etwas näher auf einen problematischen Kontext (restriktive Relativsätze) ein und Abschnitt 5 gibt eine Zusammenfassung und einen Ausblick. 2 2-DET-DIALEKTE UND DER FORSCHUNGSSTAND 2-DET-Dialekte sind im Deutschen die Regel. Im Folgenden werden als Beispiele dafür die entsprechenden Paradigmen aus dem Südhessischen und Mittelbairischen vorgestellt und an ihrem Beispiel die grundlegende Distribution beider Artikelformen erläutert, wie sie die bisherige Forschung herausgearbeitet hat.

2

3

Die Situation im Standarddeutschen ist etwas differenzierter als im Haupttext dargestellt. Ein Gutachter weist darauf hin, dass es im Standarddeutschen schwache Artikelformen zumindest im Bereich der Aussprache gebe und verweist dabei auf den Ausspracheduden (Duden 2015: 75). Die Dudengrammatik (Duden 2016: 292f.) erwähnt, dass der definite Artikel „normalerweise unbetont“ sei und bei Verschmelzungen mit Präpositionen in reduzierter Form auftrete, es daneben aber auch betonte Verwendungsweisen gäbe, z. B. „bei Verweis auf ein einschränkendes Attribut“. Man sieht, dass im Standarddeutschen ansatzweise ebenfalls ein Zweiersystem vorliegt, das zumindest partiell Übereinstimmung mit den dialektalen Systemen aufweist. Aus Platzgründen kann darauf nicht näher eingegangen werden. Die bairischen Belege sind, soweit nicht anders vermerkt, konstruierte Belege basierend auf der nativen Kompetenz des Verfassers. Die entsprechende Varietät ist Mittelbairisch (Landkreis Deggendorf, Niederbayern).

151

Artikelsyntax deutscher Dialekte

2.1 Formen Beginnen wir mit dem Südhessischen: Tab. 1 und 2 enthalten die reduzierten und vollen Artikelformen (nach DIRANI 2020). Sing. Nom. Akk. Dat.

Mask. de de (e)m

Fem. di di de

Neutr. (e)s (e)s (e)m

Pl. (alle) di di de

Tab. 1: Paradigma des reduzierten definiten Artikels im Südhessischen

Sing. Nom. Akk. Dat.

Mask. der den dem

Fem. di di dere

Neutr. des des dem

Pl. (alle) di di dene

Tab. 2: Paradigma des vollen definiten Artikels im Südhessischen

Ein weiteres Beispiel eines 2-DET-Dialektes ist das Bairische. Tab. 3 und 4 enthalten die jeweiligen Formen aus dem Mittelbairischen (der nativen Kompetenz des Autors entsprechend). Sing. Nom. Akk. Dat.

Mask. da (a)n (a)m

Fem. d d da

Neutr. s s (a)m

Pl. (alle) d d (a)n/de

Tab. 3: Paradigma des reduzierten definiten Artikels im Mittelbairischen

Sing. Nom. Akk. Dat.

Mask. dea den dem

Fem. de de dea

Neutr. des des dem

Pl. (alle) de de den

Tab. 4: Paradigma des vollen definiten Artikels im Mittelbairischen

Die reduzierten Formen treten in zwei Ausprägungen auf. Formen wie hess. de/di oder bair. da/de sind gegenüber den Vollformen zwar reduziert, aber immerhin noch silbisch. Dagegen sind Formen wie hess./bair. s/m noch weiter reduziert, haben ihre prosodische Selbständigkeit in Gänze verloren und treten nur noch klitisch auf. Dass nicht-volle Formen unterschiedliche Ausprägungen haben, begegnet auch bei Personalpronomen. Bei Pronomen gibt es davon sogar drei Ausprägungen, nämlich reduzierte, klitische und Nullpronomen (WEISS 2015; 2016). Die syntaktische und semantisch-pragmatische Distribution bei Definitartikeln und Pronomen

152

Helmut Weiß

unterliegt jedoch teilweise unterschiedlichen Bedingungen (so erfordern Kontrastfokus und -topik bei Pronomen immer die volle Form, beim Definitartikel jedoch nicht, vgl. WEISS / DIRANI 2019 und Abschnitt 2.3). Vergleicht man die DETR-Paradigmen beider Dialekte, sieht man, dass klitische Formen im Bairischen stärker ausgeprägt sind als im Hessischen. Im Hessischen gibt es zudem bei allen klitischen Formen noch silbische Alternativformen, im Bairischen nur für m/n.4 Wir werden später sehen, dass der morphologische Unterschied zwischen reduziert und klitisch auch oberflächensyntaktische Konsequenzen hat. Die DETR-Paradigmen beider Dialekte zeigen noch eine weitere Besonderheit. Einige reduzierte Formen haben den dentalen Anlaut beibehalten, realisieren aber die Flexionsendung nicht (z. B. bair. d ‘die’), während andere umgekehrt den dentalen Anlaut verloren haben und auf die Flexionsendung reduziert sind (z. B. hess./bair. s ‘das’). In der syntaktischen Forschung werden Definitartikel seit WILTSCHKO (1998) dekomponiert und in zwei Teile zerlegt – in den dentalen Anlaut und die Flexionsendung. Übertragen in das übliche DP-Format, ergibt sich für der eine Struktur wie in (3): (3) [DP [D°d- ] [Agr er]]

Interessant sind die Nom. Sg.-Formen im Bairischen, denn die Formen bestehen im Femininum aus dem dentalen Anlaut (d), im Neutrum aus einem Teil der Flexion (s) und im Maskulinum aus beidem (d + a). Ein ähnlicher Kontrast zwischen dhaltigen und d-losen Formen existiert im Germanischen auch bei dass-Komplementierern. Z. B. haben Deutsch oder Niederländisch d-haltige Formen (dass bzw. dat), Dänisch oder Jiddisch dagegen d-lose Formen (at bzw. az). Dieser Kontrast bei Komplementierern geht nach der Analyse von LEU (2015) mit weiteren systematischen Unterschieden einher (insbesondere der (Un-)Möglichkeit von V2-Strukturen in dass-Sätzen). Bei Artikeln scheint es sich weitgehend um einen Spell-outUnterschied zu handeln, also welcher Teil der Struktur (3) ausgesprochen wird, der aber mit keinen weitreichenden syntaktischen Konsequenzen verbunden ist (vgl. auch WILTSCHKO 2013; DIRANI 2020).5

4

5

Wie ein Gutachter zurecht bemerkt, wird bei ZEHETNER (1985: 111) neben der klitischen Form s auch eine reduzierte Form as angegeben. Eine reduzierte Form zusätzlich zur klitischen nennen auch KOLLMER (1987: 275), SCHIEPEK (1899/1908: 420) und SCHMELLER (1985: 544). Bei SCHMELLER wird diese Form als Bamberger Form ausgewiesen und auch bei SCHIEPEK als regional begrenzt. ZEHETNER basiert sehr stark auf MERKLE (1975), der den Münchner Dialekt beschreibt. In meinem Idiolekt existiert eine solche reduzierte Form nicht. CONIGLIO / SCHLACHTER (2014: 168, Fn. 29) sehen im dentalen Onset bei DETR ein „dummy element“, dessen alleinige Aufgabe es ist, einen geeigneten Träger für die klitische Flexionsendung bereitzustellen. Das ist zwar eine attraktive Idee, Formen wie bair. d ‘die’ zeigen aber, dass sie nicht unproblematisch ist, außer man postuliert eine klitische Nullflexion.

Artikelsyntax deutscher Dialekte

153

2.2 Strukturanalyse Wie eingangs erwähnt, sind dialektale Artikelsysteme schon mehrfach Gegenstand syntaktischer Untersuchungen gewesen. Dabei wurde festgestellt, dass DETF und DETR in unterschiedlichen syntaktischen Kontexten mit jeweils spezifischen semantisch-pragmatischen Funktionen auftreten. Der volle Artikel DETF wird in deiktischen und anaphorischen Kontexten verwendet sowie bei Vorhandensein eines restriktiven Relativsatzes, d. h. in Kontexten, in denen die Referenz des nominalen Ausdrucks noch nicht eindeutig ist und daher zusätzlicher Informationen aus dem Kontext bedarf. Er ist im Grunde also anaphorischer Natur (SCHWARZ 2009). Der reduzierte Artikel DETR findet dagegen bei unikalen Ausdrücken in einem weiteren Sinne Verwendung, d. h. bei absoluten oder situativen Unika, Superlativen, Idiomen, generischen Ausdrücken oder bei Bridging bzw. Subsektion (s. u.). DETR wird also verwendet, wenn der Referent inhärent identifiziert ist und es keiner weiteren Information aus dem Ko- oder Kontext für die Referenzfestlegung bedarf. DETF geht also mit pragmatischer und DETR mit semantischer Definitheit (LÖBNER 1985) einher. Der Hauptunterschied zwischen DETF und DETR liegt nach Ansicht der Forschung in der Diskurskontextabhängigkeit bzw. -unabhängigkeit. Für eine DP mit DETF hat WILTSCHKO (2013) daher die Struktur in (4) vorgeschlagen:6 DP

(4) D

nP C

nP n

NP N

Der volle Artikel DETF selegiert eine Kontextvariable C in SpecnP: „C provides the basis for the dependence on discourse context observed with DETF, such as domain restriction, anaphora, and sets of alternatives“ (WILTSCHKO 2013: 179). Der Unterschied zu DETR besteht darin, dass Letzterer keine Kontextvariable selegiert, weil der Referent in diesem Fall bereits inhärent spezifiziert ist und daher nicht auf den Diskurskontext zurückgegriffen werden muss, um die Referenz festzulegen.

6

Wie an der nP erkennbar ist, ist die DP-Struktur (4) parallel zur CP-Struktur konzipiert, da diese das Analogon zur little vP darstellt. Im Folgenden wird jedoch eine andere DP-Struktur (vgl. 5) angenommen, weswegen nicht näher auf (4) eingegangen wird.

154

Helmut Weiß

DIRANI (2020) hat eine alternative Struktur vorgeschlagen, in der DETF nicht eine Kontextvariable selegiert, sondern eine Fokusphrase FocP (5a),7 während bei DETR diese DP-interne Fokusphrase fehlt (5b).8 (5a) DETF: [DP [FocP] [NP [DemP]]] (5b) DETR: [DP [NP]]

Ihrer Analyse der südhessischen Daten nach besteht die Leistung von DETF nämlich nicht (nur) darin, den DP-Referenten anhand von Kontextinformation zu identifizieren, sondern in erster Linie darin, dass bei Vorliegen von DETF eine Alternativmenge zum Referenten auf der nominalen Ebene hervorgerufen wird. Die Evozierung einer Menge von Alternativen entspricht nun der Definition von Fokus im Sinne der Alternativsemantik von ROOTH (1992) und KRIFKA (2008). Empirische Evidenz für diese Analyse liefert auch eine Beobachtung, die bereits EBERT (1971b: 165) gemacht hat, vgl. (6): (6)

Üüb’t markels wul’s mi an kü an an hingst üübdrei. Di/A hingst haa ik natüürelk ei keeft. Wi haa jo al trii stak. Man det/at kü fing´k dan dach me. ‘Auf dem Jahrmarkt wollten sie mir eine Kuh und ein Pferd andrehen. Das (DETF/DETR) Pferd hab ich natürlich nicht genommen. Wir haben ja schon 3 Stück. Aber die (DETF/DETR) Kuh kriegte ich dann doch mit.’

Das nordfries. Fering verfügt über zwei Reihen des Definitartikels, die als A- und D-Artikel bezeichnet werden (EBERT 1971a; 1971b; ARFSTEN / PAULSENSCHWARZ / TERHART 2019) und die mit DETR und DETF gleichgesetzt werden können. In einer Äußerung wie (6), in der es um ein Pferd und eine Kuh geht, die dem Sprecher auf einem Markt angeboten werden, können im Prinzip beide Formen verwendet werden, verbunden jedoch mit unterschiedlichen Lesarten. Der A-Artikel (DETR) involviert eine Lesart mit kontrastiven Topiks, in der das Pferd mit der Kuh kontrastiert wird, während der D-Artikel (DETF) das Pferd mit anderen Pferden kontrastiert (vgl. auch LYONS 1999: 163; DIRANI 2020: 57–58). Obwohl in beiden Fällen eine anaphorische Relation vorliegt, wird nur dann DETF verwendet, wenn ein Kontrast zu „anderen Exemplaren derselben Gattung“ (STUDLER 2011: 55) 7

8

Die Ansetzung einer FocP innerhalb der DP ist als solche nicht neu, sondern wurde, wie ein Gutachter zurecht bemerkt, bereits in den 1990er-Jahren vorgeschlagen (z. B. von GIUSTI 1996 oder DIMITROVA-VULCHANOVA / GIUSTI 1998) und in der Folge verschiedentlich aufgegriffen (HAEGEMAN 2004 u. v. a.). Neu an DIRANIS Analyse ist, dass die Prä-/Absenz einer FocP von der Artikelform (DETF oder DETR) gesteuert wird. Ein weiterer Unterschied liegt im Vorhandensein oder Fehlen einer DemP. Vermutlich spielen auch noch weitere Merkmale wie [+/– spez], [+/– bekannt] eine Rolle für den Unterschied der beiden Artikelformen auf struktureller Ebene. Die Strukturen in (5a, b) verzeichnen außerdem nur die absolut notwendigen Kategorien, was andere Kategorien aber nicht ausschließt. Im Gegenteil, die Existenz weiterer Phrasen (nP, NumP, etc.) ist äußerst plausibel. Da sie aber für die vorläufige Distinktion zwischen DETF und DETR nicht relevant sind, wurden sie der Einfachheit halber weggelassen.

Artikelsyntax deutscher Dialekte

155

aufgerufen wird. Die Menge der Alternativen wird in diesem Fall auf der DP-Ebene berechnet, im Fall von DETR dagegen auf der Satzebene. Außerdem handelt es sich je nach Artikelform um Alternativmengen verschiedener Denotate. Anaphorische Kontexte erzwingen also nicht automatisch die Verwendung des vollen Artikels, worauf auch schon WILTSCHKO (2013) und STUDLER (2011) hingewiesen haben. Für DIRANI (2020) sind solche anaphorischen Kontexte wie bspw. in (6) Anlass, eine DPinterne Fokusprojektion bei Vorliegen von DETF anzusetzen, weil damit dessen Leistung – die Evozierung einer Alternativmenge zum Referenten auf der nominalen Ebene – am angemessensten erfasst werden kann. Als Generalisierung kann man also festhalten, dass ausschließlich DETF ein Set an alternativen Referenten innerhalb der DP evoziert, wodurch eine Menge an potentiellen Referenten verfügbar ist, was bei der Verwendung von DETR eben nicht der Fall ist. DETR zeigt dagegen an, dass der Referent schon identifiziert ist. 2.3 Distribution Im Folgenden werde ich nun angelehnt an DIRANI (2020) (vgl. auch WEISS / DIRANI 2019) das Verhalten des Definitartikels in den verschiedenen Kontexten darstellen. Tab. 5 gibt eine Übersicht über die relevanten Kontexte inklusive der Distribution der beiden Artikelformen im Südhessischen (basierend auf DIRANI 2020) und Bairischen (basierend auf der nativen Kompetenz des Verfassers). Die Kontexte werden im Anschluss daran erläutert und mit einschlägigen Beispielen illustriert.9 Wie Tab. 5 zu entnehmen ist, sind es drei Kontexte, in denen DETF Verwendung findet. Zunächst, nicht verwunderlich, ist es der deiktische Kontext, in dem seine Verwendung mit der des standarddeutschen Demonstrativpronomens dieser äquivalent zu sein scheint (7a vs. b).10 9

In der Literatur finden sich auch andere Vorschläge für die relevanten Kontexte, z. B. der weitverbreitete von HIMMELMANN (1997; 2001). HIMMELMANN (2001: 833) unterscheidet vier Kontexte, in denen das Demonstrativpronomen dies- verwendet werden kann, sowie zwei ‚nicht-demonstrative‘. Von diesen sechs Kontexten ist nur einer, in dem DETR verwendet werden kann, nämlich bei „larger situation use“ (HIMMELMANN 2001: 833 – entspricht unikalen Ausdrücken in Tab. 5), während der assoziativ-anaphorische Gebrauch DETF erfordert. Die Einteilung in HIMMELMANN (1997: 36) ist eine etwas andere: hier wird zwischen (i) unmittelbar-situativ, (ii) assoziativ-anaphorisch, (iii) abstrakt-situativ, (iv) anaphorisch sowie (v) nichtfamiliären Verwendungsweisen unterschieden, worunter das Vorhandensein unterschiedlicher Arten von Modifizierung verstanden wird (z. B. Relativsätze oder Genitivattribute). Laut HIMMELMANN (1997: 39) sind (i) und (iv) im Sinne von LÖBNER (1985) pragmatisch-definit und (ii) und (iii) semantisch-definit, wobei er pragmatisch-definit als demonstrativ und nicht eigentlich als definit auffasst. Daher sind für ihn die ausschließlich pragmatisch-definit verwendeten DETF Demonstrativa und keine Definitartikel (HIMMELMANN 1997: 55). Diese Ansicht ist m. E. zumindest empirisch problematisch, da, wie wir sehen werden, unter bestimmten Bedingungen volle und reduzierte Artikel austauschbar sind oder reduzierte Formen auch in pragmatischdefiniten Kontexten verwendet werden. 10 Die dialektalen Beispiele stammen, soweit nicht anders vermerkt, aus dem Südhessischen (SH) und sind DIRANI (2020) und/oder WEISS / DIRANI (2019) entnommen. Die bairischen Beispiele (B) entsprechen der nativen Kompetenz des Verfassers.

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Helmut Weiß

(7a) Es beschde is, mer hocke uns unner den (DETF) Baam do! (SH) ‘Es ist das Beste, wir setzen uns unter diesen Baum hier!’

In dem hier verwendeten theoretischen Rahmen greift DETF genau einen Referenten aus der Menge alternativer Referenten derselben Kategorie heraus. Eine Äußerung wie (7a) macht schließlich nur dann Sinn, wenn es in der konkreten Äußerungssituation mehrere Bäume gibt, aus denen ein bestimmter als Referent ausgewählt wird. Daher entspricht die Leistung von DETF in deiktischen Kontexten exakt der oben gegebenen Bestimmung: Er evoziert eine Alternativmenge zum Referenten auf der nominalen Ebene. Existiert nur ein Baum in der Äußerungssituation oder der Aspekt der Auswahl unter mehreren Bäumen spielt keine Rolle, dann ist auch DETR möglich (7b): (7b) Am bestn, mia hockma uns do unta’n (DETR) Baam! (B) ‘Am besten, wir setzen uns da unter den Baum!’ SüdHESS

Bair

DETF

DETF

DETF DETF DETF

DETF DETF DETF

DETR DETR DETR

DETR DETR DETR

DETR DETR DETR/DETF

DETR DETR DETR/DETF

Kontrastfokus

DETR

DETR

Kontrasttopik

DETR

DETR

Deiktisch Anaphorisch 1: Identitätsanapher Hyperonym/Summe Restriktive RS (RRS) Unikale Ausdrücke: Absolute (z. B. Eigennamen) Situative Generische Anaphorisch 2: Hyperonym-Hyponym-Relation Subsektion Restriktive Adjektive (RAdj)

Tab. 5: Distribution von DETF/DETR über verschiedene Kontexte

Der zweite Verwendungskontext für DETF ist durch eine anaphorische Beziehung zu einem Antezedens charakterisiert. Hierbei handelt es sich also um die prototypische Verwendung nach Ansicht vieler (s. o.). Eine Form ist die sog. Identitätsanapher: ein kurz vorher indefinit eingeführter Referent wird definit wieder aufgenommen und in diesem Fall obligatorisch durch eine definite DP mit DETF (8a, b):11 11 In HIMMELMANNs (1997) System entspricht die Identitätsanapher dem anaphorischen Gebrauch, der zu den Kontexten gehört, in denen (auch) Demonstrativpronomen verwendet werden können (vgl. auch HIMMELMANN 2001: 833). Das in RAUTH / SPEYER (2018) angeführte Beispiel (Ein Mann und eine Frau gehen eine Straße entlang. Diese Straße ist sehr stark

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(8a) Heind bsuach’ma a Baieren im Nochbordorf. (B) ‘Heute besuchen wir eine Bäuerin im Nachbardorf.’ (8b) De[DETF] Baieren hod a Goaß und a Schof. ‘Die Bäuerin hat eine Ziege und ein Schaf.’

Neben dieser Standardform fällt eine weitere anaphorische Relation unter diese Kategorie, nämlich, wenn zwischen Antezedens und anaphorischer DP eine Hyponym-Hyperonym-Relation besteht, wie dies in (9a, b) der Fall ist: (9a) De Rasiere wolld Hochzeed mache. (SH) (9b) Fer den[DETF] Ouloß horr=e sich beim Schneire en neije Ouzug oumesse losse. ‘Der Barbier wollte Hochzeit machen. Für den Anlass hat er sich beim Schneider einen neuen Anzug machen lassen.’

Das Hyperonym Anlass wird durch die anaphorische Beziehung zu einem seiner Hyponyme – im konkreten Fall Hochzeit – referentiell auf diese eine Möglichkeit begrenzt. Als Oberbegriff präsupponiert Anlass allerdings die Existenz anderer Formen von Anlässen (z. B. Geburtstagsfeier, Taufe etc.) – also eine Menge an alternativen Referenten innerhalb der definiten DP den Anlass. Ein weiterer Kontext, in dem DETF verwendet wird, sind DPs mit restriktiven Relativsätzen (RRS), vgl. (10a, b):12 (10a) Sälli hot ner wisse wolle, ob waos bassierd wär bei dem (DETF) Krach, wou se gehäijet hot. (SH) (10b) De hod nur wissn wolln, ob wos bassierd is bei dem (DETF) Krach, wo‘s ghejrt hod. (B) ‘Diese hat nur wissen wollen, ob was passiert ist bei dem (DETF) Krach, den sie gehört hat.’

RRS enthalten eine Information, durch die der Referent identifizierbar wird – er ist also nicht inhärent unikal. Hinzu kommt, dass der RRS die Existenz von Entitäten präsupponiert, auf die die Beschreibung innerhalb des RRS nicht zutrifft (BACH 1974). RRSe implizieren also die Präsenz von alternativen Referenten innerhalb der DP, deshalb wird DETF verwendet. Wie später diskutiert werden wird, ist die Situation bei RRS etwas differenzierter als hier dargestellt (vgl. Abschnitt 4). befahren.) klingt etwas künstlich, man würde eher eine Wiederaufnahme mit die Straße erwarten. Er eignet sich also weniger als Demonstrativkontext, obwohl er in 2-DET-Dialekten den vollen Artikel verlangt. Im Zahrischen (vgl. Abschnitt 3), einem DET-da-Dialekt, kann hier allerdings auch der reduzierte Artikel alleine verwendet werden. 12 Ein Gutachter zweifelt den Status des RS in (10) – wie auch später bei (19) – als RRS an. Wie in Abschnitt 4 diskutiert wird, gibt es tatsächlich verschiedene Arten von RS, die weder weiterführend noch appositiv sind und die daher in der traditionellen Terminologie als RRS bezeichnet werden. Für die Problematisierung des Status von RS in (10) und (19) sei daher auf Abschnitt 4 verwiesen.

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Helmut Weiß

Wenden wir uns nun den DETR-Kontexten zu. Unikale Referenten sind der prototypische Verwendungskontext reduzierter Formen, denn diese Kontexte sind inhärent definit. Es werden üblicherweise vier Subkontexte unterschieden (vgl. DIRANI 2020; WEISS / DIRANI 2019 und die dort zitierte Literatur): absolut- (11a) und situativ-unikale Referenten (11b), assoziativ-anaphorische13 (11c) sowie generische Kontexte (11d). (11a) De (DETR) Deiwel soll’se holle! (SH) ‘Der Teufel soll sie holen!’ (11b) D’ (DETF) Braut woar ganz in weiß (B) ‘Die Braut war ganz in Weiß.’ (11c) I han a nais Wohnzimma. D’ (DETR) Couch is in rod (B) ‘Ich habe ein neues Wohnzimmer. Die Couch ist in Rot.’ (11d) Da (DETR) Wal is koa Fisch (B) ‘Der Wal ist kein Fisch.’

Assoziativ-anaphorische Kontexte verlangen obligatorisch DETR, obwohl sie anaphorisch sind. Im Unterschied zu den anaphorischen Kontexten, die DETF verlangen (s. o.), wird hier aber keine Menge an alternativen Referenten auf nominaler Ebene evoziert. DETR fehlt diese Fähigkeit, weil sie keine DP-interne FocP selegieren. Wie oben ausgeführt wurde, liegt darin der relevante Unterschied zwischen DETF und DETR. Das zeigt sich auch in einem weiteren anaphorischen Kontext, in dem obligatorisch DETR auftreten. Wir haben bereits einen Kontext kennengelernt, in dem Antezedens und anaphorische DP in einer Hyponym-Hyperonym-Relation stehen und der die Verwendung von DETF erfordert (vgl. (9a, b)). Ist die Abfolge jedoch umgekehrt und das Hyperonym bildet das Antezedens, das durch ein Hyponym wiederaufgenommen wird, dann ist nur DETR möglich, vgl. (12a, b). (12a) Isch woar letschde Samstag erscht im Seegmüller und hoab mir en poar fesche Möbel gekaaft. Die sehe rischdisch stoark aus. (SH) ‘Ich war letzte Woche erst beim Segmüller und habe mir ein paar hübsche Möbel gekauft. Die sehen richtig gut aus.’ (12b) Es (DETR) Regoal hoat bunde Dubbe iwweroal. (SH) ‘Das Regal hat lauter bunte Punkte.’

Das Antezedens Möbel in (12a) wird in (12b) durch sein Hyponym (Regal) wiederaufgenommen. In (13a, b) liegt ein etwas anderes Verhältnis vor, das sich mit MEIER (2012) als Subsektion bezeichnen lässt (vgl. auch DIRANI 2020). Der Referent der anaphorischen DP (Mann) ist ein Teil der Referenz des Antezedens (Nachbarn). (13a) Moi neije Noachbern sinn wohl goanz nett. (SH) ‘Meine neuen Nachbarn sind wohl ganz nett.’ 13 Man spricht hier auch von Bridging-Kontexten (vgl. ABBOTT 2004; MEIER 2019 et al.).

Artikelsyntax deutscher Dialekte

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(13b) De (DETR) Moann schafft bei de Polizei. ‘Der Mann arbeitet bei der Polizei.’

In beiden Fällen wird jedoch DETR verwendet. Ein weiterer anaphorischer Kontext mit DETR ergibt sich bei Kontrasttopiks. In (14a) werden zwei Referenten (Meerschweinchen, Kaninchen) indefinit eingeführt, die in (14b) definit wiederaufgenommen werden. Aber anstelle von DETF wie bei einer Identitätsanapher findet bei Kontrasttopiks DETR Verwendung. (14a) Letschd Woch hoab isch mer en Meerschwoansche un en Kannikel gekaaft. ‘Letzte Woche habe ich mir ein Meerschweinchen und ein Kaninchen gekauft.’ (14b) Es (DETR) Meerschwoansche is gonz scheij fresch, soach isch der, awwer dodefär is es (DETR) Kannikel bsonners broav! (SH) ‘Das Meerschweinchen ist ganz schön frech, sag ich dir, aber das Kaninchen ist dafür besonders brav.’

Bei Kontrasttopiks werden zwei Entitäten mit unterschiedlichen Eigenschaften miteinander kontrastiert, ohne dass damit Alternativen für die Denotate der beiden kontrastierten Nomina evoziert werden würden (DIRANI 2020). Aus diesem Grund wird DETR verwendet. Vergleichbar damit ist der Fall bei Kontrastfokus (15a, b). (15a) A: Woas? Hoschd du schunn wirrer di Roulad beschdelld? (SH) ‘Was? Du hast dir schon wieder die Roulade bestellt?’ (15b) B: No, hoaww‘isch net! Heid nemm isch emol de (DETR) Flaaschkees. ‘Nein, habe ich nicht! Heute nehme ich einmal den Fleischkäse.’

Auch hier geht es um den Kontrast zweier Entitäten auf Satzebene – in (15a, b) Roulade und Fleischkäse – und eine Alternativmenge des Denotats von Fleischkäse wird nicht evoziert, woraus sich die Verwendung von DETR erklärt. Ein letzter relevanter Kontext (in Tab. 5) wird dadurch gebildet, dass ein Nomen durch ein Adjektiv modifiziert wird. Handelt es sich um ein restriktives Adjektiv, würde man erwarten, dass das die Verwendung von DETF nach sich zieht. Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Im Südhessischen (DIRANI 2020) hat das Adjektiv keine Auswirkungen auf die Artikelwahl, d. h. die Art des Adjektivs (restriktiv vs. nicht-restriktiv) legt nicht fest, ob DETF oder DETR verwendet wird. In DIRANIs Daten treten restriktive Adjektive immer mit DETR auf (was Zufall sein kann), während nicht-restriktive mit DETR und DETF belegt sind, je nachdem, ob Fokus auf DP-Ebene vorhanden ist oder nicht. Dass restriktive Adjektive nicht DETF erfordern, ist unerwartet, da sie semantisch die gleiche Funktion haben wie RRS. STUDLER (2011), die dasselbe Verhalten für das Schweizerdeutsche beschreibt, vermutet, dass das auf die enge Fügung zwischen modifizierendem Adjektiv und modifiziertem Nomen zurückzuführen ist, die zusammen als unikale Ausdrücke interpretiert werden – daher ist die Verwendung von DETR erwartbar. Im Bairischen scheint die Präsenz eines Adjektivs zumindest einen PF-Effekt zu haben (WEISS 1998). Wie oben bereits dargelegt, gibt es zwei Arten von DETR, nämliche

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klitische und (nur) reduzierte Formen. Im Fall des klitischen DETR d ‘die’ erzwingt die Präsenz eines Attributs die Substitution durch den entsprechenden DETF (de in 15, zit. nach WEISS 1998: 73), während bei den übrigen klitischen Formen höchstens eine Tendenz dazu besteht und die silbische Form da ‘der’ nie durch DETF ersetzt wird. (16) de kloane Frau hod da oidn Baiaren de waiss Kua gschtoin ‘die kleine Frau hat der alten Bäuerin die weiße Kuh gestohlen’

Man beachte, dass der DETF de in (16) nicht die mit der Verwendung von DETF übliche Wirkung hat, eine Menge alternativer Referenten zur Denotation von Frau oder Kuh hervorzurufen. Insofern handelt es sich um einen reinen PF-Effekt, der mit keinem funktionalen Wechsel verbunden ist. Ob dieser Effekt auch in anderen Dialekten zu beobachten ist, bleibt zu untersuchen. 3 DET-DA-DIALEKTE Zahrisch ist ein südbairischer Sprachinseldialekt, der in Nordostitalien (Provinz Udine, Region Friaul) gesprochen wird (DENISON 1997; BIDESE 2019; BIDESE et al., i. V.).14 In einer Beschreibung der Zahrischen Grammatik (SCHNEIDER 1999) werden auch die Formen der Artikel angeführt: Sing. Nom. Akk. Dat.

Mask. der in ime

Fem. de de inder

Neutr. s s ime

Pl. (alle) de de in

Tab. 6: Artikelformen im Zahrischen (SCHNEIDER 1999: 19f.)15

Die in Tab. 6 aufgelisteten Artikel sind alles Formen von DETR, Formen von DETF scheinen nicht mehr existent zu sein. Betrachtet man allerdings die einzelnen Kontexte, bestätigt sich zum einen das Fehlen von DETF, zum anderen ergibt sich trotzdem ein unterschiedliches Bild. Zunächst zur Identitätsanapher: In 2-DET-Dialekten wird DETF verwendet, in DET-da-Dialekten dagegen entweder DetR alleine (17a) oder verstärkt durch ein deiktisches Element, das do ‘do’ oder sel ‘selb’ sein kann (17b): 14 Die Daten aus dem Zahrischen wurden im November 2017 erhoben. Das Projekt – Beteiligte: Alessandra Tomaselli (Universität Verona), Ermenegildo Bidese (Universität Trento), Thomas Strobel, Helmut Weiß (beide Universität Frankfurt a. M.) – wurde finanziert durch die autonome Region Trentino-Südtirol (Entscheidung Nr. 177, 24. Juni 2017). Unser Dank gilt den Informanten LAR (35 Jahre), ERM (51 Jahre), FER (53 Jahre), ARM (70 Jahre), AUG (71 Jahre), GRA (76 Jahre), ART (76 Jahre) sowie LUCIA PROTTO für ihre Unterstützung bei der Kontaktierung der Informanten und bei der Erhebung und Transkription der Daten. Zusätzlich wurden Daten aus Textsammlungen und Lehrbüchern ausgewertet. 15 Man beachte, dass Zahrisch über einen präpositional markierten Dativ verfügt – zu dem Phänomen vgl. SEILER (2003).

Artikelsyntax deutscher Dialekte

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(17a) A vuks, gejoget van jeger, ot an hölzhokhar pageignt unt otn gepitet za varsteikkhanen. Der hölzhokhar otn gelodet inin za gean … (SCHNEIDER 2004: 37) ‘Ein Fuchs, gejagt von einem Jäger, ist einem Holzhacker begegnet und hat ihn gebeten, ihn zu verstecken. Der Holzhacker hat ihn eingeladen, hineinzugehen …’ (17b) unt drin seint plibn ana mueter mit irme diernlan. S do diernle ist geben recht schean […]. S sel diernle ot gehot an nome a … (SCHNEIDER 2004: 37) ‘und drinnen sind geblieben eine Mutter mit ihrem Mädchen. Das Mädchen ist sehr schön gewesen […]. Das Mädchen hat auch einen Namen gehabt …’

Wie (17b) zeigt, entspricht DETF im Zahrischen einer Kombination aus DETR plus einem deiktischen Element – do oder sel – wobei diese deiktischen Elemente DPintern zwischen Artikel und Nomen auftreten und auch flektiert werden, wenn ein Nomen fehlt (z. B. s done ‘das da-ne’ in 18b unten). DP-internes da begegnet auch in binnendeutschen Dialekten (vgl. dazu RAUTH / SPEYER 2018) und sel scheint in südwestdeutschen Dialekten weitverbreitet zu sein (z. B. im Stahringer Alemannischen, vgl. STAEDELE 1927: 24–25). Im Zahrischen ist da proximal und sel distal – vgl. (17b), wo die erste Wiederaufnahme mit da geschieht und die zweite mit sel. Auch in weiteren DETF-Kontexten verwendet das Zahrische diese Kombination, nämlich bei Deixis (unter de se tasse ‘unter diese Fichte’, unterme sel pame sel ‘unter diesen Baum dort’) oder bei der Hyponym-Hyperonym-Relation. In (18) wird ein im ersten Teilsatz erwähntes Ereignis (Vermählung) im zweiten Teilsatz mit DET-da/sel-(N) anaphorisch wiederaufgenommen:16 (18a) Il maestro (sindaco) voleva sposarsi e per questa occasione si è fatto fare un abito nuovo dal sarto (18b) FER: Der learar otsi gebilt mehln unt vur ʼs done otarsi gemochet mochn a naies gebont (18c) ART: Der sindikh otsi gebilt varmehln, vur de se gelenikhat otarsi gemochet a naies gebont (18d) GRA: Der sindikh otsi gebölt mehln, in der do gelenikhat otarsi gemochet mochn a naies gebont pame schnaidar ‘Der Lehrer (Bürgermeister) wollte sich vermählen und für diese Gelegenheit hat er sich ein neues Gewand (beim Schneider) machen lassen.’

Es gibt jedoch einen DETF-Kontext, in dem das Zahrische auf den ersten Blick nur DETR verwendet – bei RRS, vgl. (19) und (20): (19a) Si è vergognata un po’ a causa della confusione che ha creato (19b) ART: D’otsi geschomet adingele beign der konfusion as d’ot gemochet ‘Sie hat sich ein bisschen geniert wegen dem Durcheinander, das sie fabriziert hat.’

16 Hier wie in den folgenden Belegen ist die italienische Version in (a) jeweils der Stimulussatz, den die angegebenen Informanten ins Zahrische übersetzt haben.

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(20a) (20b) (20c) (20d) (20e)

Il dolce che ha fatto la nonna è buonissimo LAR: De vledlan as ot gemochet de nona seint schie guet FER: De torta as ot gekhouchet de none ist abesn guet AUG: De fojacia as de none ot gemochet ist schie guet ART: De torta as ot gemochet de none ist schie guet ‘Die Torte, die die Oma gemacht hat, ist sehr gut (gewesen).’

(19) ist das Zahrische Gegenstück zu (10a, b) aus dem Südhessischen bzw. Bairischen, in denen jeweils DETF verwendet wird. Auch in (20) liegt ein RRS vor, ohne dass das die Verwendung von DETR unterbinden würde. Es scheint also, dass das Zahrische sich bei RRS konträr zu binnendeutschen Dialekten wie Südhessisch oder Bairisch verhält. Allerdings ist die Datenlage hinsichtlich RRS in binnendeutschen Dialekten nicht eindeutig und einige von ihnen erlauben auch in diesem Kontext DETR (vgl. Abschnitt 4). Außerdem gibt es im Zahrischen einen bestimmten RRSKontext, in dem DETR alleine nicht möglich zu sein scheint, vgl. (21): (21a) Gianni si è vergognato molto per quello che aveva fatto (21b) FER: … der Gianni otsi geschomet vame seln as ar ot geton (21c) AUG: Der Gianni otsi schie geschomet vame seln as ar ot geton ‘Hans hat sich ein bisschen geniert wegen dem, was er gemacht hat.’

Im Unterschied zu (19) liegt in (21) eine nominale Ellipse vor, d. h. es fehlt ein overtes Kopfnomen, dessen Extension durch den RRS restringiert wird. Traditionell spricht man in diesen Fällen von pronominaler Verwendung des Artikels bzw. von d-Pronomen und diese können nur Vollformen sein – daher ist in diesem syntaktischen Kontext die Verwendung von DETR alleine ausgeschlossen. Bei nominaler Ellipse wird unabhängig vom Vorhandensein eines RRS immer DETR + da/sel verwendet (vgl. 18b oben oder ’s sele van der none ‘das von der Großmutter’). Nun zu den DETR-Kontexten: Hier gibt es naturgemäß kaum Unterschiede zu 2-DET-Dialekten (auch, wenn noch nicht für alle Kontexte ausreichend bzw. eindeutige Daten vorliegen, vgl. Tab. 9 unten). Inhärent definite Ausdrücke wie Eigennamen (der Gianni, de Maria) oder unikale Ausdrücke (der nono/neine, de none ‘Großvater/-mutter’) sind auch im Zahrischen prototypische DETR-Kontexte. Darüber hinaus wird DetR bei Subsektion (Nachbarn – der Mann) in (22) oder bei Kontrasttopiks wie in (23) verwendet: (22a) I miei nuovi vicini sono abbastanza gentili. Il marito lavora nella polizia (22b) LAR: Maina naia nochpars seint beldeichter nutze. Der mon tuet orbatn in der polizia (22c) FER: Maina naia nochpars seint guet. Der mon tuet orbatn in der polizia (22d) ERM: De naien nochpar/maina naia nochpar seint beldeichter guet unt der mon tuet orbatn in der polizia

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Artikelsyntax deutscher Dialekte

(22e) GRA: Maina naia nochpars seint böldeichter brafes/guets völkh unt der mon tuet orbatn in der polizia ‘Meine neuen Nachbarn sind ganz nett. Der Mann arbeitet bei der Polizei.’ (23a) Settimana scorsa ho comprato un porcellino d’India e un coniglio. Il porcellino è tranquillo, ma il coniglio ne combina di tutti i colori (23b) FER: De vargeante bouche oni gekhafet a vekhle (unt an kunin). ʼS vekhle ist vrum, der kunin mingar. (23c) ART: De vargeante bouche oni gekhafet a vekhle unt an kunin. ʼS vekhle ist bödeichter guet, ma der kunin beisst net bo za plaiban ‘Letzte Woche habe ich mir ein Meerschweinchen und einen Hasen gekauft. Das Meerschweinchen ist ganz brav, aber der Hase stellt alles Mögliche an.’

Betrachtet man nun, welche Artikelformen in den jeweiligen relevanten Kontexten vorkommen, kann man feststellen, dass es auch im Zahrischen zwei unterschiedliche Artikelparadigmen gibt, vgl. Tab. 7 und 8. Die DETF entsprechenden Formen sind allerdings morpho-syntaktisch komplex: sie setzen sich zusammen aus DETR plus einem deiktischen Element da oder sel. Sing.

Mask.

Fem.

Neutr.

Pl. (alle)

Nom. Akk. Dat.

der in ime

de de inder

s s ime

de de in

Fem.

Neutr.

Pl. (alle)

Tab. 7: DETR-Formen im Zahrischen

Sing.

Mask.

Nom.

der do/sel

de do/sel

s do/sel

de do/sel

Akk.

in do/sel

de do/sel

s do/sel

de do/sel

Dat.

ime do/sel

inder do/sel

ime do/sel

in do/sel

Tab. 8: DETF-Formen im Zahrischen

Tab. 9 fasst die Distribution der beiden Artikeltypen im Zahrischen im Vergleich zum Südhessischen zusammen. Diejenigen Kontexte, für die noch keine oder keine eindeutigen Daten im Zahrischen vorliegen, enthalten ein Fragezeichen. Hervorgehoben sind die beiden Kontexte, in denen das Zahrische vom Südhessischen abweicht (bzw. DET-da-Dialekte von 2-DET-Dialekten). Bisher fehlen systematische Untersuchungen zu DET-da-Dialekten, aber man kann sagen, dass es außer Zahrisch noch weitere Vertreter dieses Typs gibt. ROWLEY (2003) erwähnt in seiner Grammatik des Fersentalerischen (Mòcheno) – gesprochen südlich von Trento – ebenfalls zwei Paradigmen, die er terminologisch als

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Helmut Weiß

Artikel und Demonstrativ unterscheidet und die völlig analog zu den beiden Artikelparadigmen des Zahrischen sind (vgl. Tab. 10 und 11). Ob sie funktional auch dieselbe Distribution aufweisen, muss die zukünftige Forschung zeigen. SüdHESS

Zahrisch

DETF

DETR do/sel

DETF DETF DETF

DETR (do/sel) DETR do/sel DETR

DETR DETR DETR

DETR ? DETR

DETR DETR DETR

? DETR ?

Kontrastfokus

DETR

?

Kontrasttopik

DETR

DETR

Deiktisch Anaphorisch 1 Identitätsanapher Hyperonym/Summe Restriktive RS (RRS) Unikale Ausdrücke Absolute (z. B. Eigennamen) Situative Generische Anaphorisch 2 Hyperonym-Hyponym-Relation Subsektion Restriktive Adjective (RAdj)

Tab. 9: Distribution von DETR/DETR + da/sel über verschiedene Kontexte

Mask.

Fem.

Neut.

Plural

Nom.

der

de

(e)s

de

Akk.

der

de

(e)s

de

Dat.

en/-n

de

en/-n

de/-n

Tab. 10: DETR-Formen im Fersentalerischen (ROWLEY 2003: 149)

Mask.

Fem.

Neut.

Plural

Nom.

der doi/sèll

de doi/sèll

(e)S doi/sèll

de doin/sèlln

Akk.

der doi/sèll

de doi/sèll

(e)S doi/sèll

de doin/sèlln

Dat.

en/-n doi/sèll

de doi/sèll

en/-n doi/sèll

de/-n doin/sèlln

Tab. 11: DETF-Formen im Fersentalerischen (ROWLEY 2003: 157)17

Deiktisch verstärkte Formen des Artikels finden sich, wie oben erwähnt, auch in binnendeutschen Dialekten. RAUTH / SPEYER (2018) haben ein solches System für das Rhein- und Moselfränkische des Saarlandes untersucht. Da sie ihrer Untersuchung aber HIMMELMANNs (1997) System zugrunde legen, sind ihre Ergebnisse 17 ROWLEY (2003) gibt nur die Formen im Nominativ an, Akkusativ und Dativ wurden von mir ergänzt.

Artikelsyntax deutscher Dialekte

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nicht unmittelbar mit den hier präsentierten Ergebnissen vergleichbar – daher wird auch auf einen Vergleich verzichtet. Interessant ist aber ihr Befund, dass es sich um eine relativ junge Entwicklung zu handeln scheint, da eine Auswertung von Texten aus dem frühen 20. Jh. nur einen Beleg für das westliche Rheinfränkische ergab und für das Moselfränkische überhaupt keinen. In entsprechenden Ortsgrammatiken aus diesem Dialektbereich sind teilweise drei Paradigmen angegeben. So differenziert STEITZ (1981) für die Saarbrücker Mundart zwischen Artikel (= DETR), Determinativpronomen (= DETF) und Demonstrativpronomen (= DET-da).18 Diachron ließe sich das vielleicht so interpretieren, dass sich diese Mundarten auf dem Entwicklungsweg von 2-DET-Dialekten zu DET-da-Dialekten befinden. Ob das tatsächlich so ist und wenn ja, wieweit diese Dialekte inzwischen auf ihrem Entwicklungsweg sind, bleibt für die Zukunft zu erforschen. 4 EIN BEISPIEL FÜR EINEN PROBLEMATISCHEN KONTEXT: RRS Tab. 5 (in Abschnitt 2.3) erweckt den Eindruck, dass sich alle 2-DET-Dialekte hinsichtlich der Verwendung der Artikelformen gleich verhalten. Das scheint im Großen und Ganzen auch zuzutreffen. Trotzdem gibt es klare Evidenz für Unterschiede zwischen den Dialekten. Als Beispiel soll hier kurz auf einen bestimmten Kontext eingegangen werden, nämlich auf RRS, und wie widersprüchlich sich ein bestimmter Dialektraum – das Alemannische – hier zu verhalten scheint. Wie an den Beispielen (10a, b) oben – hier als (24a, b) wiederholt – gezeigt, erfordern DPs mit einem RRS im Südhessischen und Bairischen die Verwendung von DETF. (24a) Sälli hot ner wisse wolle, ob waos bassierd wär bei dem (DETF) Krach, wou se gehäijet hot. (SH) (24b) De hod nur wissn wolln, ob wos bassierd is bei dem (DETF) Krach, wo‘s ghejrt hod. ‘Diese hat nur wissen wollen, ob was passiert ist, bei dem (DETF) Krach, den sie gehört hat.’

Wie CABREDO HOFHERR (2014) gezeigt hat, gibt es mehrere Subtypen von RRS und nur einer davon ist mit DETR inkompatibel (vgl. dazu auch BRÄUNING 2019: 201–202). Der RRS liefert Informationen, die helfen, die Denotation des Kopfnomens einzugrenzen – in der Regel durch Intersektion. In (25) – aus BRÄUNING (2019: 201, Ex. 224) – ist die Denotation der DP (das Haus, das Ina geerbt hat) die Schnittmenge aus den Denotationen von das Haus und des RRS das Ina geerbt hat.

18 Manche 2-DET-Dialekte weisen noch ein anderes Dreiersystem auf, in dem zusätzlich zu DETF und DETR noch ein demonstrativer Artikel unterschieden wird wie etwa im Schweizerdeutschen (s. STUDLER 2011) – ähnlich auch Bairisch mit den Dativformen dera ‘der’ und dẽnan ‘denen’ (KOLLMER 1987: 273). Auffällig ist, dass diese demonstrativen Artikel häufig auf den Dativ beschränkt zu sein scheinen.

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(25) Anna hat das Haus gekauft, das Ina geerbt hat.

Von der Denotation der komplexen DP ausgeschlossen werden dadurch alle Häuser, die Ina nicht geerbt hat, aber deren Existenz wird präsupponiert und sie bilden sozusagen die Menge der alternativen Referenten, mit der der DP-Referent kontrastiert wird (BACH 1974). CABREDO HOFHERR (2014) unterscheidet bei RRS nun eine identifizierende und eine kontrastierende Funktion und letztere entspricht genau dem, was hier mit DIRANI (2020) als Fokus verstanden wird. Die Form des Artikels richtet sich danach, welche Funktion im Vordergrund steht: DETR bei reiner Identifikation und DETF bei Kontrast (also bei Fokus). Eine etwas andere Subdifferenzierung von RRS hat WILTSCHKO (2013) vorgeschlagen. Sie unterscheidet zwischen restriktiven (26) und deskriptiven RS (27). (26a) Kontext der Äußerung: A und B unterhalten sich über das Renteneintrittsalter von Briefträgern und anderen Angestellten des öffentlichen Dienstes. (26b) Die Briaftroaga und die Leid vo da Mühobfua gengan vü z‘ boid in Pension. Zum Beispü, dea (DETF) Briaftroga, dea wos bei uns austrogn hot, is jetz in Pension. ‘Die Briefträger und die Leute von der Müllabfuhr gehen viel zu früh in Pension. Zum Beispiel, der Briefträger, der bei uns ausgetragen hat, ist jetzt in Pension.’ (27a) Kontext der Äußerung: Der Postbote eines bestimmten Bezirks, der jedem bekannt war, ist in den Ruhestand gegangen. Sprecher A und B unterhalten sich, beide kennen den Postboten gut. (27b) Woasst eh, da (DETR) Briaftroga (wos bei uns austrogn hot), is jetz in Pension. ‘Weißt eh, der Briefträger (der bei uns ausgetragen hat) ist jetzt in Pension.’

Deskriptive RS erlauben die Verwendung von DETR, weil in Äußerungskontexten wie (27a) der DP-Referent auch ohne die vom RS gelieferte Information eindeutig ist. Insofern liegt hier ein unikaler Ausdruck vor und die Verwendung von DETR ist daher verständlich. Deskriptive RS unterscheiden sich jedoch auch in bestimmten Aspekten von appositiven RS und sind daher vergleichbar mit RRS.19 CABREDO HOFHERR (2014) geht aber davon aus, dass ihre Differenzierung zweier Subtypen von RRS die Annahme von deskriptiven RS als eigenen Typ überflüssig mache (vgl. dazu auch BRÄUNING 2019: 202). Im Alemannischen, so das Ergebnis von BRÄUNINGs Untersuchung auf der Basis der SynAlm-Daten, hat „die Überprüfung dieser Daten [ … gezeigt], dass die genauen Selektionsbedingungen der starken und schwachen Determinierer [DETF vs. DETR], zumindest im Alemannischen, einer intensiven Studie bedürfen, die hier nicht vorgenommen werden kann“ (BRÄUNING 2019: 198). Aus den SynAlm-Daten selbst scheinen sich nämlich die genauen Distributionsbedingungen nicht ablesen zu lassen. BRÄUNING (2019) weist zurecht darauf hin, dass es äußerst schwierig ist, die 19 WILTSCHKO (2013) diskutiert einige Aspekte wie die Inkompatibilität mit sprecherorientierten Adverbien (z. B. übrigens) oder die Möglichkeit, gebundene Variablen zu enthalten, bei denen deskriptive RS sich wie RRS verhalten.

Artikelsyntax deutscher Dialekte

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manchmal sehr subtilen Bedeutungsnuancen, die mit den einzelnen Kontexten verbunden sind, bei linguistischen Laien abzufragen. Das könnte ein Grund sein für den vorläufigen Eindruck, dass DETF und DETR in DPs mit RRS in freier Variation zueinander stehen, aber es ist sicher nicht der einzige Grund dafür. 5 AUSBLICK UND ZUSAMMENFASSUNG Zusammenfassend kann man sagen, dass es hinsichtlich der Artikelsyntax zwei Typen von deutschen Dialekten gibt: – –

2-DET-Dialekte: DETF vs. DETR DET-da-Dialekte: DETR + da vs. DETR

Die Distribution der Artikelformen in beiden Typen ist weitgehend, aber nicht vollständig parallel. Im Vorhergehenden besprochene Ausnahmen sind die Identitätsanapher und RRS, wobei letzterer Kontext zumindest auch im Alemannischen sich widersprüchlich zu verhalten scheint. Es ist zu vermuten, dass es weitere 2-DETDialekte mit vergleichbarem Verhalten gibt. Eingangs wurde erwähnt, dass es Spezialstudien zur Artikelsyntax in einzelnen Dialekten gibt, wobei mit den Studien zum Schweizerdeutschen und Bairischen der Schwerpunkt eindeutig auf dem Oberdeutschen liegt. Insgesamt ist die Forschungssituation noch wenig befriedigend und weist große Lücken auf. Beispielsweise fehlen Tiefenstudien zu DET-da-Dialekten so gut wie ganz (Ausnahmen sind RAUTH / SPEYER 2018 und der vorliegende Beitrag) und für 2-DET-Dialekte gibt es ebenfalls noch viele weiße Flecken (z. B. Untersuchungen zum Niederdeutschen oder generell zu nicht-oberdeutschen Dialekten). Angebracht wäre eine groß angelegte vergleichende Studie, die im Stile dialektsyntaktischer Projekte wie SyHD (FLEISCHER / LENZ / WEISS 2015) oder SynAlm (BRANDNER 2015) möglichst flächendeckend eine Basiserhebung durchführt, deren Daten dann einen systematischen Vergleich zwischen den Dialekten erlauben würden. Erst mit einer solchen Basiserhebung könnte das tatsächliche Ausmaß an Variation untersucht werden, ebenso wie die Frage, welche zusätzlichen Faktoren noch für die Distribution der jeweiligen Artikelformen relevant sind.20

20 Ein Gutachter regt an, alternativ oder zusätzlich zu einer Fragebogenerhebung Gesprächskorpora zu untersuchen, um „den vielfältigen pragmatischen / semantischen Einflüssen“ womöglich besser Rechnung tragen zu können. Das ist sicher eine erfolgversprechende Vorgehensweise und die Daten zum Südhessischen wurden zum Teil auch durch eine Korpusstudie gewonnen (vgl. DIRANI 2020). Die Datenerhebung qua Fragebögen hat allerdings den Vorteil, dass sich auf diese Weise relativ ökonomisch eine große Datenmenge generieren lässt. Bei Fragebogenstudien werden gewöhnlich Kontexte für die Stimulussätze vorgegeben, sodass sich darüber die pragmatischen Aspekte der syntaktischen Distribution durchaus steuern lassen (vgl. FLEISCHER / LENZ / WEISS 2015) – auch wenn das, wie wir am Beispiel der RSS in Abschnitt 4 gesehen haben, eine diffizile Aufgabe sein kann.

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Neben und im Zuge einer solchen komparativen Studie ließen sich dann auch ganz spezifische Fragestellungen oder Beobachtungen überprüfen. So hat z. B. MEIER (2019) für das Schweizerdeutsche die interessante Beobachtung gemacht, dass sich DPs mit DETF und mit DETR hinsichtlich ihrer zeitlichen Verankerung unterschiedlich verhalten. In (28) geht DETR mit einer Lesart einher, in der die Erfinderin der Zeitmaschine zum Zeitpunkt der Erfindung Studentin war (das Studentinsein ist also an die Ereigniszeit gebunden). DETF erlaubt dagegen auch eine ungebundene Lesart, d. h. die Erfindung kann nach dem Studium erst erfolgt sein, als die Erfinderin keine Studentin mehr war.21 (28) Die (DETF) / D‘ (DETR) studäntin hät ä Ziitreisemaschine-n erfunde ‘Die Studentin hat eine Zeitreisemaschine erfunden.’

Für das Bairische lässt sich der Befund zwar nicht exakt in derselben Art replizieren, aber Beispiele wie (29) (angelehnt an entsprechende schweizerdeutsche Beispiele in MEIER 2019) zeigen, dass auch im Bairischen ein analoger Unterschied erkennbar ist: (29) De (DETF) / D‘ (DETR) Frau is gestarn higfoin ‘Die Frau ist gestern hingefallen.’

Der Unterschied zwischen DETF und DETR ist, dass die Frau im ersteren Fall zur Sprechzeit in der Äußerungssituation anwesend ist, während das bei DETR nicht der Fall ist. Ließe sich diese Intuition empirisch auch für andere Dialekte substantiieren, hätte man neben der Fokusmarkierung i. S. v. DIRANI (2020) eine weitere Funktion oder Eigenschaft von DETF, die bei DETR fehlt. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die vergleichende Untersuchung der Artikelsyntax deutscher Dialekte ein Desiderat darstellt. Sie würde eine umfassende empirische Grundlage ergeben, auf deren Basis eine verlässliche theoretische Analyse möglich wäre. LITERATUR ABBOTT, BARBARA (2004): Definiteness and indefiniteness. In: HORN, LAURENCE R. / GREGORY WARD (Hg.): Handbook of Pragmatics. Oxford: Blackwell, 122–149. ARFSTEN, ANTJE / ANNE PAULSEN-SCHWARZ / LENA TERHART (2019): Friesische Gebrauchsgrammatik Fering. Bräist/Bredstedt: Nordfriisk Instituut. BACH, EMMON (1974): Syntactic theory. New York: Holt, Rinehart and Winston. BIDESE, ERMENEGILDO (2019): Complementation in Cimbrian and in Saurian. Some comparative notes. In: COSTANTINI, FRANCESCO (Hg.): Syntactic Variation. The View from the GermanLanguage Islands in Northeastern Italy. Udine: Forum, 61–80. BIDESE, ERMENEGILDO / THOMAS STROBEL / ALESSANDRA TOMASELLI / HELMUT WEISS (i. V.): Syntax des Zahrischen.

21 Für die technischen und theoretischen Details der Analyse sei auf MEIER (2019) verwiesen.

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SPRACHWAHRNEHMUNGEN UND SPRACHEINSTELLUNGEN

METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN UND BEOBACHTUNGEN ZUR ERHEBUNG STANDARDNAHER SPRECHLAGEN IM LÄNDLICHEN RAUM Carina Auzinger / Stephan Gaisbauer / Barbara Gusenbauer ABSTRACT Wie die Erfahrungen von Projekten zur Untersuchung der „vertikalen“ Sprachvariation in Süddeutschland und Österreich zeigen, ist es nicht immer einfach, bei den Sprecher/inne/n standardnahe Register zu aktivieren, auch wenn diese grundsätzlich über entsprechende sprachliche Kompetenzen verfügen. So führt auch der Versuch von Explorator/inn/en, durch sichtbares Positionieren eines Aufnahmegerätes, die Verwendung der Standardsprache und das Tragen eleganter Kleidung eine formelle Situation zu erzeugen, bei den Gewährspersonen oft nicht zur erwarteten Verschiebung der Sprechlage in Richtung Standardvarietät. Im Rahmen einer variationslinguistischen Studie in der oberösterreichischen Landgemeinde Weibern wurde daher versucht, Gesprächssituationen (leitfadengestützte Interviews) in einem möglichst formellen Setting zu arrangieren. Die Gespräche wurden im Anschluss von den Teilnehmer/inne/n evaluiert, und die Bedeutung einzelner Situationsparameter (Ort, Fremdheit und Förmlichkeit der Situation, Auftreten und Sprechweise der Interviewenden, Gesprächsthema usw.) bezüglich ihres Formalitätsgrades bewertet. Damit sollte festgestellt werden, ob die Interviews von den Studienteilnehmer/inne/n als formell genug wahrgenommen werden, um die eigene Sprechlage in Richtung Standardsprache zu verändern. Wie der Vergleich zwischen subjektiven Bewertungen und objektiven Gesprächsdaten zeigt, waren die meisten Proband/inn/en durchaus bereit und in der Lage, sich sprachlich an bestimmte Situationen und/oder Personen anzupassen. Art und Ausmaß der Akkommodation unterliegen aber einem komplexen Zusammenspiel weiterer Faktoren (spontane Beurteilung der Situation, Spracheinstellungen, Wahrung der gegenseitigen Verständigung usw.), in das der vorliegende Text nur ansatzweise Einblick zu geben vermag. 1 EINLEITUNG In Untersuchungen zu individuellen Varietäten- bzw. Sprechlagenspektren wurden im deutschen Sprachraum seit den 1970er-Jahren unterschiedliche extralinguistische Faktoren ins Blickfeld gerückt, von denen angenommen wurde, dass sie das sprachliche Verhalten determinieren bzw. steuern würden. Neben der Zugehörig-

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keit zu einer bestimmten sozialen Gruppe wurde vor allem dem Faktor der Situativität eine entscheidende Rolle beigemessen, der seinerseits von zwei konkurrierenden Auffassungen geprägt war, nämlich dem Domänenkonzept einerseits und dem Formalitätskonzept andererseits (vgl. MATTHEIER 1980: 102–106; MACHA 1991: 11–15). Während beim Domänenmodell soziale Lebensbereiche wie Familie, Schule, Beruf, Verwaltung, Religion usw. mit Sprachgebrauchssituationen gleichgesetzt und als solche oft generalisiert werden, ordnet das Formalitätskonzept alle Situationen, die sich im privaten und öffentlichen Alltag zutragen, den dichotomischen Kategorien formell oder informell zu, wobei die Zuordnung wiederum aufgrund verschiedener Situationsparameter (Ort, Thema, Partner/in eines Gesprächs usw.) erfolgt. An beiden Modellen wurde deutlich, dass individueller Sprachgebrauch stets mit makrosozialen Kategorien korrelierbar ist, allerdings haben sich diese für die Erklärung sprachlicher Variationsphänomene teilweise als zu grobmaschig und unflexibel erwiesen (vgl. unter anderem die Kritik bei SCHEUTZ 1985: 237; MACHA 1991: 15). Demgegenüber rücken Konzepte aus dem angelsächsischen Raum vor allem das wechselseitige Verhältnis der an der Kommunikation Beteiligten in den Mittelpunkt. Dies gilt etwa für die „Communication Accommodation Theory“ (vgl. GILES / COUPLAND / COUPLAND 1991; GILES / OGAY 2007), nach der Kommunizierende ihr sprachliches Verhalten auf die jeweiligen Gesprächspartner/innen abstimmen und durch Anpassung (Konvergenz) oder Abweichung (Divergenz) sozialen oder kommunikativen Erfolg anstreben. Auch im Modell des „Audience Design“ (vgl. BELL 1984; 2001) richtet sich die Wahl des sprachlichen Stils nach den (möglichen) Adressaten und ihrer sozialen Bewertung. Die in der neueren Regionalsprachenforschung entwickelte Sprachdynamik-Theorie (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011) erklärt Sprachvariation und Sprachwandel durch unterschiedlich weitreichende sprachliche Synchronisierungsakte. Als ausschlaggebender Faktor für die individuelle Varietätenwahl wird hier insbesondere „die wahrgenommene oder vermutete Varietätenkompetenz bzw. -präferenz des Gesprächspartners“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011: 318) angesehen. Trotz mancher theoretischer und methodischer Schwächen hat das erwähnte Konzept der Formalität Eingang in den Methodenkanon der modernen Regionalsprachenforschung gefunden, sodass nahezu alle neueren empirischen Studien gezielt mit der Herstellung informeller und formeller Kommunikationssituationen operieren. Dies gilt in Deutschland für das Erp-Projekt (vgl. BESCH 1981) ebenso wie für die Wittlich-Studie (LENZ 2003) oder das aktuelle REDE-Projekt (vgl. GANSWINDT / KEHREIN / LAMELI 2015), in Österreich unter anderem für das Ulrichsberg-Projekt (vgl. SCHEUTZ 1985; WALLNER i. V.) und das gegenwärtige SFBProjekt „Deutsch in Österreich“ (vgl. LENZ 2019). In allen genannten Unternehmen wird ein leitfadengestütztes Interview dazu eingesetzt, den Varietätengebrauch in einem formellen Kontext zu studieren. Für SCHEUTZ (1985: 55–60) gilt das Interview überhaupt als Prototyp einer formellen Situation. Dazu beschreibt er die Faktoren, die einen möglichst hohen Grad an Formalität garantieren sollen: unter anderem die Betonung der Aufnahmeprozedur, die Unbekanntheit des Interviewers, die asymmetrische Beziehung zwischen den Gesprächspartnern und die standardnahe

Methodische Überlegungen zur Erhebung standardnaher Sprechlagen

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Sprechweise des Interviewers. LENZ (2003: 57–58) nennt als weitere Situationsparameter die konsequente Verwendung der Anredeform „Sie“, die vorgegebene Thematik und die standardisierte Form der Befragung. Eines der expliziten Ziele des Interviews ist in ihrer Untersuchung „die Evozierung möglichst standardsprachnaher Sprachdaten […]“ (LENZ 2003: 57). Auch nach MACHA (1991: 119) sind Gewährspersonen in formellen Gesprächssituationen nur teilweise in der Lage, auf „internalisierte Strategien“ zurückzugreifen, mit denen sie normalerweise „Routine-Situationen“ bewältigen. Die Situation des Interviews sei „eine Erscheinung sui generis, die im Leben einer Gewährsperson höchst selten und ungewöhnlich, ja exotisch ist“ (MACHA 1991: 119). Als voreilige Konsequenz daraus tut MACHA (1991) allerdings etwas, das auch in anderen Projekten als Teil der Versuchsanordnung a priori angenommen wird. Er unterstellt nämlich, „daß der Erhebungstyp [des Tiefeninterviews] bei den Informanten intentionale Standardsprache (ISS) evoziert“ (MACHA 1991: 121). Diese Grundannahme, dass formelle Interviews per se die Aktivierung standardsprachlicher Sprechlagen bedingen, durchzieht letztlich auch die Untersuchungsanlage des REDE-Projekts: Durch die Verwendung des Standarddeutschen und ein Auftreten als Vertreter/-in einer Forschungseinrichtung sowie durch die gut sichtbare Aufnahmeeinrichtung soll die Situation so gestaltet werden, dass sie von den Informanten als formelle Kommunikationssituation mit einem Sprecher, der hohes Sozialprestige hat, wahrgenommen wird. Dadurch soll das Anstreben des individuell „besten Hochdeutsch“ in einem freien Gespräch erreicht werden. (KEHREIN 2012: 76)

Aus der Sicht der Autor/inn/en dieses Beitrags sollte die Annahme einer kausalen Beziehung zwischen Formalität und Standardsprachverwendung nicht von vornherein als fixer Baustein der Forschungsmethode verwendet werden, sondern zunächst einmal selbst Gegenstand der Fragestellung sein. Das Konzept der Formalität wird daher in dieser Studie keineswegs verworfen, vielmehr soll es in seinen Auswirkungen auf die Sprechlagen- bzw. Varietätenwahl näher untersucht und evaluiert werden. Da an dieser Stelle eine ausführliche Diskussion der verwendeten Termini und der damit verbundenen Konzepte nicht möglich ist, seien die wichtigsten Grundbegriffe wenigstens kurz umrissen. Unter Sprechlagen verstehen wir variable, nicht distinkte Ausschnitte aus dem variativen Kontinuum, die in der Regel „mit sozialen, situativen und arealen Faktoren korrelieren“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011: 68) und innerhalb dieses Kontinuums Verdichtungsbereiche bilden können (vgl. BERRUTO 1987: 265; LENZ 2003: 250–252, 388–389). Als Varietäten bezeichnen wir Realisierungsformen des sprachlichen Wissens, die sich (1) linguistisch durch „eigenständige prosodisch-phonologische und morpho-syntaktische Strukturen“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011: 68) auszeichnen und sich (2) als sprachliche Entitäten im Wissen der Sprecher/innen kognitiv verankern lassen (vgl. MAITZ 2010: 15–18). Bei den äußeren Polen des linguistischen Spektrums, Standardsprache und Basisdialekt, ist eine solche Verankerung im individuellen und kollektiven Bewusstsein noch am ehesten anzunehmen, während sich – sowohl für linguistische Laien als auch für wissenschaftlich Analysierende – die Abgrenzung und Benennung der

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variablen Bereiche zwischen diesen Polen weitaus schwieriger gestaltet. Im weiteren Rahmen der hier vorgestellten Studie spielen beide Dimensionen, die linguistische Beschreibung der Varietäten und deren Konzeptualisierung durch Sprecher/innen bzw. Hörer/innen, eine wichtige Rolle. Standardsprache wird im Folgenden als überregionale Varietät begriffen, die die areal gebundenen vernakulären Varianten überdacht und in ihren landschaftlichen (nationalen) Oralisierungsnormen keine salienten Merkmale aufweist (vgl. HERRGEN 2015: 139–140). Hinsichtlich der Aussprachenorm folgt die Studie – nicht zuletzt aus forschungspraktischen Gründen1 – dem Duden-Aussprachewörterbuch, das sich in der letzten Auflage (KLEINER / KNÖBL 2015) noch stärker auf empirische Quellen stützt und dabei auch die österreichische Oralisierungsnorm systematisch berücksichtigt.2 Am anderen Ende des sprachlichen Spektrums befindet sich der Basisdialekt, der einfach als jene Varietät aufgefasst wird, die linguistisch am weitesten von der Standardsprache entfernt ist (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011: 59). In der Kommunikation mit den Proband/inn/en werden Begriffe wie „Basisdialekt“ und „Standardsprache“ allerdings vermieden und dafür geläufigere Termini wie „Dialekt“ und „Hochdeutsch“ eingesetzt. In Interviews zu Spracheinstellungen und zur Verwendung und Bewertung von Varietäten zeigt sich, dass diese Begriffe von den Proband/inn/en auch noch genauer differenziert werden können, indem einerseits zwischen dem „alten, ortstypischen Dialekt“ und dem „heute üblichen Dialekt“ unterschieden wird und andererseits dem „(in Österreich) üblichen Hochdeutsch“ ein „besonders reines Hochdeutsch“ gegenübergestellt wird. Mit dem in Befragungen und Gesprächen ebenfalls verwendeten Terminus Alltagssprache ist die durchschnittliche individuelle Sprechweise gemeint, wie sie vornehmlich im privaten Lebensbereich verwendet wird. 2 FRAGESTELLUNG UND ANLAGE DER STUDIE Im Folgenden soll anhand sprachlicher Daten aus Oberösterreich etwas eingehender diskutiert werden, inwieweit das formelle Leitfadeninterview tatsächlich geeignet ist, die Verwendung standardnaher Sprechlagen zu evozieren. Dabei soll zweierlei gezeigt werden: Erstens sollen die Teilnehmer/innen selbst darüber Auskunft geben, wie sie die Interviewsituation empfunden haben, wie sie die eigene Sprachverwendung im Vergleich zu ihrer Alltagssprache einschätzen und mit welchen Argumenten sie die (mögliche) Anpassung an die Sprache der Interviewenden begründen. Zweitens soll untersucht werden, welche Varietäten bzw. Sprechlagen die Proband/inn/en in einer (intendiert) formellen Interview-Situation verwenden und ob

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Im Rahmen des Projekts werden auch Dialektalitätsmessungen durchgeführt, bei denen grundsätzlich eine Vergleichbarkeit mit den Ergebnissen anderer Projekte angestrebt wird (vgl. HERRGEN / LAMELI / RABANUS / SCHMIDT 2001). Zu den komplexen und zugleich dynamischen Bewertungen der Standardsprache in Österreich vgl. KOPPENSTEINER / LENZ (2020).

Methodische Überlegungen zur Erhebung standardnaher Sprechlagen

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bzw. in welchem Ausmaß diese von der Varietätenverwendung im privaten Alltag abweichen. Die Daten wurden im Rahmen einer variationslinguistischen Studie erhoben, die vom Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich seit 2015 in der oberösterreichischen Landgemeinde Weibern durchgeführt wird. Die Studie steht im Kontext des „Sprachatlas von Oberösterreich“ (SAO) und bildet quasi eine Tiefenbohrung, mit der das variative Kontinuum zwischen Dialekt und Standardsprache bei ausgewählten Personen in Abhängigkeit von Faktoren wie Alter, Geschlecht, Art des Berufs und bestimmter vorgegebener Situationen erfasst werden soll. Über das – vom deutschen REDE-Projekt her bekannte – klassische Standardrepertoire an Befragungen und Beobachtungen (u. a. Erhebung der Dialekt- und Standardkompetenz mittels Übersetzung, Vorleseaussprache, Erhebung von „subjektiven“ Daten zu Sprachgebrauch und Spracheinstellung, Beobachtung des informellen Sprachgebrauchs in privater Kommunikation) hinaus enthält das „Weibern-Projekt“ auch einige spezifische Fragestellungen, etwa den Varietätengebrauch in der Öffentlichkeit (bei Gemeinderatssitzungen, Trauungsansprachen usw.), die kindgerichtete Sprache Erwachsener (KGS) oder die Kommunikation mit Standardsprecher/inne/n aus Österreich und Deutschland. Der Studie ging im Jahr 2015 auch eine schriftliche Fragebogenaktion zum Varietätengebrauch im Alltag voraus, an der rund ein Viertel der insgesamt rund 1.600 Einwohner/innen von Weibern teilgenommen hat. Die bisherigen Befragungen und Erhebungen zeigen, dass Proband/inn/en aller Altersgruppen grundsätzlich in der Lage sind, Texte, die ihnen im oberösterreichischen Dialekt vorgelegt wurden, in die Standardsprache oder eine standardnahe Sprechweise zu übersetzen. Obwohl für einen Großteil der Weiberner Bevölkerung der Dialekt die dominierende Alltagssprache ist, ergibt sich aus den Befragungsdaten, dass in der Kommunikation mit unbekannten, standarddeutsch sprechenden Personen in bestimmten Fällen auch eine Anpassung an deren Sprechweise erfolgen kann. Dass allerdings die Herstellung eines formellen Settings – zumal in Süddeutschland und Österreich – nicht immer zwangsläufig dazu führt, dass Gewährspersonen ihre Sprechlage in Richtung Standardnähe verschieben, wird unter anderem an Erhebungen des REDE-Projekts in Bayern deutlich. Zur Aufnahme in der oberbayerischen Gemeinde Trostberg bemerkt KEHREIN (2012: 265): Dass alle Sprecher außer TSJUNG1 allerdings nicht unbedingt automatisch in den Regiolekt wechseln, wenn sie mit Menschen sprechen, die von außerhalb des Radius der angegebenen Dialektreichweite kommen, zeigt sich im Interview mit dem nicht dialektkompetenten Explorator.

Auch in einer jüngst durchgeführten Folgestudie zum Ulrichsberg-Projekt (vgl. WALLNER i. V.; VERGEINER et al. 2020) wurde deutlich, dass das Verhältnis zwischen äußerer Situation und Varietätenwahl nicht unbedingt von einem Automatismus beherrscht wird. Demnach waren die Ulrichsberger Informant/inn/en offenbar vor 40 Jahren eher dazu bereit, in standardnahe Register zu wechseln, als heute,

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obwohl die Studie unter vergleichbaren Bedingungen und zum Teil wieder bei denselben Informant/inn/en durchgeführt wurde.3 Diese Ergebnisse waren bei der Vorbereitung der Weibern-Studie mit ein Grund, sich noch einmal genauer mit dem Faktor „Formalität“ auseinanderzusetzen und zum Teil altbekannte Fragen wieder neu zu stellen: – – – –

Von welchen außersprachlichen Faktoren ist tatsächlich die Wahl einer bestimmten Sprechlage bzw. Varietät abhängig? Wird die Varietäten- bzw. Sprechlagenwahl (auch) vom Grad der Formalität gesteuert? Wird ein Setting, das von Linguist/inn/en als formelle Situation intendiert und inszeniert wird, auch von den Gewährspersonen als solches empfunden? Welche sind die spezifischen Situationsparameter, die ein standardnäheres Sprechverhalten triggern?

Um diese Fragen beantworten zu können, war es zunächst nötig, die Erhebung methodisch stringent unter möglichst exakter Beachtung der situativen Parameter durchzuführen. Die Proband/inn/en wurden jeweils zu zwei (vermeintlichen) Expert/inn/eninterviews gebeten, die von einer österreichischen Interviewerin und einem deutschen Interviewer geführt wurden.4 Die österreichische Interviewerin („Int_A“), die sich auch in ihrem Alltag der Standardsprache bedient, ist von Beruf Slawistin und Germanistin und lebt in Wien. Den Proband/inn/en wurde sie als Angehörige einer Universität vorgestellt, die gerade an ihrer Dissertation zum Thema „Digitalisierung“ arbeite. Für das Interview wurde daher auch das Thema „Digitalisierung im Berufsleben und im Alltag“ gewählt. Der deutsche Interviewer („Int_D“) ist von Beruf Architekturhistoriker, stammt ursprünglich aus der Umgebung von Köln und lebt und arbeitet heute in Linz. Den Proband/inn/en wurde er als Experte für Architektur vorgestellt, der zurzeit eine Studie über Dorfentwicklung durchführe. Das Thema seiner Interviews war folgerichtig das „Leben, Wohnen und Bauen im ländlichen Raum“. Die Gespräche wurden im Frühsommer 2019 am Gemeindeamt Weibern geführt und dauerten jeweils rund 20 Minuten. An der ersten von zwei geplanten Aufnahmerunden haben 19 unserer insgesamt 32 Proband/inn/en im Alter von 16 bis 73 Jahren teilgenommen.

3 4

Ergebnisse dieser Panelstudie wurden bei einem Vortrag von Lars Bülow, Hannes Scheutz und Dominik Wallner bei der IGDD-Tagung in Marburg a. d. Lahn im September 2018 vorgestellt. Wichtigster Grund für den Einsatz zweier Interviewender mit österreichischer und bundesdeutscher Herkunft waren die Ergebnisse der oben erwähnten Fragebogen-Aktion im Jahr 2015, bei der mehr als zwei Drittel der Befragten angaben, dann Hochdeutsch (oder ein gemäßigtes Hochdeutsch) zu verwenden, wenn sie mit Menschen aus Norddeutschland kommunizieren. Um die situativen Parameter möglichst konstant zu halten, wurden die beiden Interviewenden vor Beginn der Gespräche ausführlich instruiert (vgl. Anm. 7). Für einen möglichen Vergleich der Interviewserien wäre es methodisch jedoch stringenter gewesen, auch auf Gendergleichheit der Interviewenden zu achten.

Methodische Überlegungen zur Erhebung standardnaher Sprechlagen

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Bei der praktischen Umsetzung der Interviews wurden zahlreiche Anstrengungen unternommen, um die Situation für die Teilnehmer/innen so formell wie möglich zu gestalten: –











Die Gewährspersonen erhielten eine schriftliche Einladung auf dem Briefpapier der oberösterreichischen Landesregierung zu einer Besprechung in den Räumen des örtlichen Gemeindeamtes. Die genauen Gesprächstermine wurden kurz zuvor telefonisch vereinbart. Die beiden Interviewenden waren den Gewährspersonen unbekannt; sie stellten sich als Universitätsangestellte bzw. als Mitarbeiter des Architekturforums Oberösterreich vor; damit waren sie als Expertin/Experte ihres Faches ausgewiesen. Als Anlass der Gespräche wurden Kooperationsprojekte mit dem AdalbertStifter-Institut angegeben, wodurch die Interviews von den im Ort bereits seit Längerem durchgeführten Spracherhebungen entkoppelt waren. Die Themen der Gespräche waren möglichst sachbezogen und bei allen Gesprächen inhaltlich ähnlich. Persönliche Fragen wurden vermieden, auf metasprachliche Diskurse wurde verzichtet. Die Interviewenden bedienten sich in den Gesprächen konsequent der Standardsprache, wobei die Aussprache von Int_A weitestgehend interferenzfrei (nach dem Verfahren von HERRGEN et al. 2001) war, während Int_D teilweise einen leichten Regionalakzent westmitteldeutscher Prägung erkennen ließ. Die förmliche Atmosphäre wurde durch elegantes Auftreten, durch die Wahl der Kleidung und durch die Verwendung der Anredeform „Sie“ betont, die auch beibehalten wurde, wenn die Weiberner Gewährspersonen einfach zum DuWort übergegangen sind. 3 EVALUATION DER INTERVIEWS DURCH DIE TEILNEHMER/INNEN

Unmittelbar nach Abschluss der beiden Interviews wurden die Teilnehmer/innen von den Projektleiter/inne/n der Studie gebeten, einen Fragebogen auszufüllen, der Fragen zur allgemeinen Gesprächssituation, zur Person, Sprache und Herkunft der Interviewenden, zur eigenen Sprachverwendung während des Interviews und im normalen Alltag sowie – im gegebenen Fall – zur eigenen sprachlichen Anpassung und zu möglichen Ursachen enthielt. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Evaluation durch die Teilnehmer/innen seien im Folgenden präsentiert. Zunächst sollte die Interviewsituation bewertet werden, die auf dem Fragebogen mit den Adjektivpaaren fremd – vertraut, unangenehm – angenehm, förmlich – familiär auf einer 5-stufigen Likert-Skala beschrieben ist. Wie die Ergebnisse (vgl. Abb. 1) zeigen, wurden die Gespräche trotz der ungewohnten Interviewsituation mehrheitlich als „vertraut“ bzw. „eher vertraut“ wahrgenommen. Bestätigt wird dies durch die Bewertung der Skala „unangenehm“ – „angenehm“, die ebenfalls deutlich positiv ausgefallen ist. Gleichzeitig wurde die Interviewsituation aber tendenziell als förmlich wahrgenommen, wobei kleine Unterschiede zwischen den beiden Interviewserien festzustellen sind: Das Gespräch mit der österreichischen

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Interviewerin (Int_A) wurde von mehr Personen als „eher förmlich“ empfunden als jenes mit dem deutschen Kollegen (Int_D). Bemerkenswert ist aber die Tatsache, dass kein/e Teilnehmer/in die Interviews auf der fünfstufigen Skala als absolut förmlich bewertete.

Abb. 1: Bewertung der Interviewsituation mit der österreichischen und dem deutschen Interviewenden anhand der Adjektivpaare „fremd – vertraut“, „unangenehm – angenehm“ und „förmlich – familiär“

Die überraschend positive Einschätzung der Gesamtsituation könnte einerseits dadurch bedingt sein, dass die Proband/inn/en im Rahmen des Projekts schon mehrere Interviews absolviert hatten und daher mit der Situation zum Teil vertraut waren, andererseits aber auch damit zusammenhängen, dass die Beantwortung der Fragebögen in Anwesenheit der Projektleiter/innen stattfand, mit denen sie bereits von den früheren Interviews her bekannt waren. Es ist daher vorstellbar, dass die Proband/inn/en keine negative Bewertung abgeben und durch ihre Antwort zeigen wollten, dass die Situation für sie erträglich war. Um auszuschließen, dass in den Antworten solche Zugeständnisse mitschwingen, wäre es sinnvoller gewesen, eine rein schriftliche Befragung durchzuführen und so eine mögliche Beeinflussung durch die Anwesenheit vertrauter Personen zu minimieren.5 5

Um solche Effekte noch mehr zu reduzieren, wäre es nötig, die Befragung schriftlich und anonym durchzuführen. Ein Vergleich zwischen den subjektiven Daten zur Selbsteinschätzung und den objektiven Sprachdaten wäre dann allerdings unmöglich.

Methodische Überlegungen zur Erhebung standardnaher Sprechlagen

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Abb. 2: Bewertung des Auftretens der österreichischen und des deutschen Interviewenden anhand der Adjektivpaare „sachkundig – nicht sachkundig“, „förmlich – locker“, „elegant – leger“

In etwas abgeschwächter Form dürften diese Zugeständnisse auch in die Bewertung der Interviewenden eingeflossen sein (vgl. Abb. 2). Diese wurde anhand der Adjektivpaare „sachkundig – nicht sachkundig“, „unsympathisch – sympathisch“, „förmlich – locker“, „elegant – leger“ abgefragt. Das Auftreten der Interviewenden als Expertin/Experte („sachkundig“), das in der Versuchsanordnung einen wichtigen Parameter für die Erzeugung einer formellen Situation darstellt, wurde von den Teilnehmer/inne/n zum Großteil bestätigt. Interessant ist die Beurteilung der weiteren Kriterien: Nur wenige empfanden das Verhalten der Interviewenden als „förmlich“. Allerdings wurden gewisse Unterschiede zwischen den Interviewenden festgestellt: Drei Personen stuften das Auftreten von Int_A als „förmlich“ oder „eher förmlich“ ein, sechs Personen entschieden sich für den mittleren Wert zwischen „förmlich“ und „locker“. Int_D wurde dagegen überwiegend als „eher locker“ bzw. „sehr locker“ wahrgenommen. Dieser Unterschied setzt sich auch bei Beurteilung der Kriterien „elegant“ oder „leger“ fort: Int_A wurde als „eleganter“ als ihr deutscher Kollege wahrgenommen, der auf die Hälfte aller Proband/inn/en „eher leger“ wirkte. Hier nicht dargestellt sind die Ergebnisse zu den Eigenschaften „unsympathisch – sympathisch“, die ganz eindeutig positiv ausgefallen sind („sympathisch“ + „eher sympathisch“ bei Int_A: 17+1, bei Int_D: 16+2).

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Ein förmliches, reserviertes und elegantes Auftreten seitens der Interviewenden galt im Untersuchungsdesign als wesentlicher Parameter für die Erzeugung einer formellen Situation. Wie die Ergebnisse zeigen, wurde die Gesamtsituation zwar als „eher förmlich“ wahrgenommen, die Interviewenden persönlich allerdings nicht. Auch hier finden sich wieder Unterschiede in der Bewertung der beiden Interviewenden, die vor allem auf das legere bis joviale Auftreten von Int_D zurückzuführen sind, wodurch offenbar eine relativ lockere Atmosphäre geschaffen wurde.

Abb. 3: Bewertung der Sprechweise der Interviewenden anhand der Frage „Wie hat die Interviewerin / der Interviewer gesprochen?“

Als entscheidendes Merkmal einer formellen Situation wurde die Standardsprachlichkeit der Interviewenden angenommen. Die diesbezüglichen Einschätzungen zeigen ein durchaus interessantes Ergebnis (vgl. Abb. 3). Die Sprechweise der österreichischen Interviewerin aus Wien wurde eindeutig als näher am Hochdeutschen bewertet als jene des deutschen Interviewers aus Köln: Während 14 Proband/inn/en die Sprechlage von Int_A auf der 5-stufigen Likert-Skala am äußersten Pol „hochdeutsch“ einstuften, waren es bei Int_D nur zehn; alle restlichen Bewertungen liegen bei Stufe 2. Die seltenere Bewertung der Sprechlage von Int_D als „hochdeutsch“ könnte entweder daran liegen, dass dessen westmitteldeutscher Akzent tatsächlich als Regionalakzent wahrgenommen wurde, oder daran, dass sich in der Bewertung auch der Kontrast zur hochgradig interferenzfreien Standardsprache von Int_A deutlich niederschlug.6 Insgesamt scheint die Wahrnehmung der Sprechweise nicht ein isolierter (linguistischer) Vorgang zu sein, sondern ein Prozess, der mit anderen situativen und attitudinalen Faktoren eng verwoben ist. So verbindet sich bei Int_D mit einem leichten westmitteldeutschen Akzent ein „eher lockeres“, 6

Wie eine phonetische Analyse (Dialektalitätsmessung nach HERRGEN et al. 2011) der Sprechtexte der Interviewenden zeigt, korrelieren die hier vorgestellten Perzeptionsdaten weitgehend mit den Ergebnissen der Dialektalitätsmessung.

Methodische Überlegungen zur Erhebung standardnaher Sprechlagen

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joviales Auftreten sowie ein Gesprächsthema, das vermutlich mehr Schnittpunkte zum privaten Lebensbereich aufweist als das Thema von Int_A (Näheres dazu weiter unten). Als Lehre sollte daraus gezogen werden, dass auf eine gewissenhafte Auswahl und eine eingehende Instruktion der Interviewenden ein besonderes Augenmerk zu richten ist, um die Vergleichbarkeit der Situationen möglichst gut zu gewährleisten.7 Die Bewertungen und die Aufzeichnungen der Interviews machen allerdings den Eindruck, dass Int_D die Instruktionen nicht so streng ausgelegt haben dürfte. Das daraus resultierende Bündel an situativen und linguistischen Faktoren dürfte zu den unterschiedlichen Bewertungen geführt haben. Im Fragebogen wurden die Teilnehmer/innen auch um eine Einschätzung der Herkunft der Interviewenden aufgrund ihrer Sprache gebeten, die auch mittels einer Landkarte („draw-a-map“) festgehalten werden konnte. Wie das – hier nicht grafisch dargestellte – Ergebnis zeigt, wurde Int_A meist treffsicherer lokalisiert als Int_D: Nur drei Personen dachten, Int_A sei aus Deutschland, alle anderen meinten, sie komme aus Wien bzw. aus der Umgebung Wiens. Die geografische Einordnung von Int_D war dagegen von einer gewissen Unsicherheit begleitet und zeigte auch größere Divergenzen: Von zwölf Personen wurde er in Deutschland verortet, von vier in Österreich, zwei Personen schwankten zwischen Österreich und Deutschland, eine überlegte, ob Int_D überhaupt Deutsch als Muttersprache habe.8 Die bisher dargestellten Ergebnisse aus der Evaluation zeigen, dass das Setting, das als formelle Situation intendiert war, nur zum Teil als formell wahrgenommen wurde: Das Auftreten der Interviewenden als Expertin/Experte wurde durchaus anerkannt und die „hochdeutsche“ Interviewsprache von den Proband/inn/en als solche wahrgenommen. Ein elegantes und förmliches Auftreten der Interviewenden war zwar intendiert, wurde aber nur teilweise als solches beschrieben. Immerhin wurde die Gesamtsituation allgemein als relativ formell bzw. förmlich eingestuft. Nach dem ersten Fragebogenabschnitt, der der Frage gewidmet war, ob das Untersuchungsdesign von den Proband/inn/en als formelle Situation wahrgenommen wurde, sollten weitere Fragen klären, von welchen spezifischen Faktoren die Sprechweise der Proband/inn/en – laut Selbsteinschätzung – beeinflusst wurde. Dazu gehört zunächst die Frage, ob und in welchem Ausmaß sich die Proband/inn/en an die Sprechweise der Interviewenden angepasst haben (vgl. Abb. 4). Auf einer 5-stufigen Likert-Skala (von „ja, sehr“ bis „nein, gar nicht“), gaben fünf Personen beim Gespräch mit Int_A an, sich sprachlich gar nicht angepasst zu haben; bei Int_D war es eine Person weniger. Die übrigen Proband/inn/en wählten mittlere Skalenwerte (von 2 bis 4), um ihre Anpassung zu beschreiben, und nur eine Person 7

8

Bei der Auswahl der Interviewenden wurde nicht nur auf deren Herkunft, sondern auch auf Eigenheiten des Charakters und des Temperaments Bedacht genommen, wobei versucht wurde, zwei eher extrovertierte Personen für die Aufgabe zu gewinnen. Durch ihr Verhalten sollten sich die Interviewenden bemühen, eine möglichst formelle Situation zu erzeugen. Der Gebrauch der Standardsprache, die Verwendung der Anredeform „Sie“, das Tragen eleganter Kleidung gehören dazu ebenso wie die Wahrung von Distanz, die Sachbezogenheit der Gespräche, die Vermeidung persönlicher Fragen und der Verzicht auf metasprachliche Diskurse. Diese Einschätzung ist angesichts der vorliegenden Gesprächsdaten nicht ganz nachvollziehbar und kann nur durch eine gewisse Ironie seitens der Evaluierenden erklärt werden.

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gab an, sich an beide Interviewende sehr angepasst zu haben. Die Frage war dabei bewusst so offen gestellt, da es nicht das Ziel dieser Untersuchung war, festzustellen, ob es sprachliche Akkommodation auf lexikalischer oder phonetischer Ebene gab, sondern ob eine solcherart formelle Interviewsituation überhaupt sprachliche Anpassung bei den Untersuchungspersonen triggert.

Abb. 4: Ergebnisse zur Frage: „Hast du dich an die Sprechweise der Interviewerin / des Interviewers angepasst?“9

Um auch die Richtung der sprachlichen Anpassung feststellen zu können, wurde zunächst gefragt, wie die Proband/inn/en ihre durchschnittliche Alltagssprache (anhand einer fünfstufigen Skala zwischen Hochdeutsch und Dialekt) einschätzen, und sodann die Frage gestellt, wie sie ihre eigene Sprechweise während des Interviews einstufen würden. Aus der Gegenüberstellung der Ergebnisse zu beiden Fragen ergibt sich, dass rund ein Viertel der Proband/inn/en (6 Personen bei Int_A, 5 Personen bei Int_D) nach eigener Einschätzung im Interview dieselbe Sprechlage verwendet hat wie im Alltag. Alle anderen meinen sich einer Sprechlage bedient zu haben, die – meist im Bereich von ein bis zwei Stufen – näher beim Hochdeutschen liegt. Mit der Frage „Warum hast du im Interview anders gesprochen als im Alltag?“ wurde nach Gründen gesucht, die im Zuge des Interviews eine Akkommodation bzw. ein standardnäheres Sprechverhalten evoziert haben. Die Frage wurde all jenen Proband/inn/en gestellt, die angegeben hatten, im Interview anders als im Alltag gesprochen zu haben (13 Personen bei Int_A, 14 Personen bei Int_D). Um herauszufinden, welche spezifischen Parameter der formell intendierten Situation in der Wahrnehmung der Proband/inn/en eine Akkommodation bzw. ein standard9

Im Fragebogen wurde die Anredeform „du“ gewählt, da die Projektleiter/innen im Lauf der Studie mit den Proband/inn/en gut bekannt wurden und die Du-Form in Weibern häufig auch Fremden gegenüber verwendet wird. Bei den formellen Interviews wurde dagegen die Anredeform „Sie“ durch die Interviewenden konsequent beibehalten.

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näheres Sprechverhalten evoziert haben, wurden acht mögliche Gründe für die Veränderung der Sprechweise abgefragt und auch die Möglichkeit gegeben, selbst noch weitere Faktoren hinzuzufügen (vgl. Abb. 5).10 Die abgefragten Gründe entsprechen den Parametern der formell intendierten Situation, die möglicherweise eine Annäherung in Richtung Standardsprache triggern.

Abb. 5: Aufgliederung der spezifischen Merkmale der formell intendierten Situation, die nach Einschätzung der Proband/inn/en ihre Sprechweise beeinflussen.

Die Sprechweise der/des Interviewenden war der am häufigsten genannte Faktor für eine Anpassung der eigenen Sprechweise. Fast alle Personen, die angegeben haben, dass sie sich im Interview sprachlich angepasst hätten, haben als Begründung dafür die Sprechweise des Gegenübers genannt. Die ungewohnte Interviewsituation und die Unbekanntheit der Interviewenden waren in der Häufigkeit der Nennungen die nächsten Parameter, die von den Proband/inn/en angeführt wurden. Für mehr als die Hälfte der Personen, die sich laut Selbsteinschätzung sprachlich angepasst haben, waren diese drei Faktoren entscheidend für die Akkommodation der eigenen Sprechweise. Etwas seltener wurden das Auftreten als Expertin/Experte und die Förmlichkeit der Interviewenden als mögliche Gründe für die Wahl einer standardnäheren Sprechlage genannt. Der Faktor „elegantes Auftreten“ der Interviewenden spielte für die Teilnehmer/innen offenkundig nur eine geringe Rolle. Interessanterweise wurde die Örtlichkeit von niemandem als Faktor sprachlicher Akkommodation genannt. Der Versuch, durch die Amtsräume des Gemeindeamtes und die schriftliche Einladung einer Landesinstitution einen formellen Rahmen für das Interview zu schaffen, dürfte nicht geglückt sein. Möglicherweise wurde dieser Faktor von den Teilnehmer/inne/n aber auch dem Punkt „ungewohnte Situation“ zugerechnet. 10 Der Fragebogen stellte hier die Antwortmöglichkeiten „ja“, „vielleicht“, „nein“ und „weiß nicht“ bereit. Im Diagramm sind die „Ja“-Angaben und die „Vielleicht“-Angaben zusammengefasst, sodass gezeigt wird, dass die Proband/inn/en diese Faktoren für eine mögliche Anpassung nicht ausschließen wollten.

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Das Gesprächsthema ist der einzige Faktor, der in den beiden Interviewserien deutlich unterschiedlich bewertet wurde. Dies dürfte an den unterschiedlichen Themenstellungen der Interviews liegen. Während das Thema „Digitalisierung im Berufsleben und im Alltag“ (Int_A) eher dem beruflichen Alltag zugeordnet wurde, eröffnete das Thema „Leben, Wohnen und Bauen im ländlichen Raum“ (Int_D) die Möglichkeit, über privatere Lebensbereiche zu sprechen. Tatsächlich ging es in diesen Gesprächen häufig um die Lebensqualität in der Gemeinde, die Begegnungsmöglichkeiten im Ortszentrum, die Lebendigkeit der Vereine usw. Offenbar verbanden die Proband/inn/en mit dem Thema „Digitalisierung“ eine stärkere Notwendigkeit (5 Meldungen), in höhere Register zu wechseln, als mit dem Thema „Lebensraum“ (2 Meldungen). Dieses Ergebnis unterstreicht die Erkenntnis von KLEIN (1981: 129–131), dass dem Interviewthema eine entscheidende Rolle zukommt und persönliche Themen wie die eigene Sprachbiografie oder subjektive Angaben zu Sprachgebrauch und Spracheinstellung für ein formales Gespräch nur bedingt geeignet sind.

Abb. 6: Ergebnisse auf die Frage „Hätte dich die Interviewerin / der Interviewer auch in deiner Alltagssprache verstanden?“

Inwieweit das gegenseitige Verstehen in den Gesprächen eine Rolle für die eigene Sprechlagenwahl gespielt hat, wurde mit der Frage „Hätte dich die Interviewerin / der Interviewer auch in deiner Alltagssprache verstanden?“ nachgegangen. Wie aus Abb. 6 zu ersehen ist, haben fast alle Befragten angegeben, dass sie annahmen, sowohl von der österreichischen Interviewerin als auch vom deutschen Interviewer in ihrer Alltagssprache sehr gut oder gut verstanden zu werden. Obwohl nach Meinung der Proband/inn/en ein Verharren in der normalen Alltagssprache das gegenseitige Verstehen nicht gefährdet hätte, passten sich viele an die Sprechweise des Gegenübers an. Eine standardnähere Varietät wurde daher in den Interviews nicht unbedingt aus Verständnisgründen gewählt. Allerdings haben drei Personen im freien Feld unter „sonstige Gründe“ den Anpassungsgrund

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„Verständnis“ noch einmal explizit genannt. Vielleicht können die Ergebnisse zum Thema „Verständnis“ auch so interpretiert werden, dass die Akkommodation dem Gesprächspartner als höfliche Geste entgegengebracht wurde, um mögliche Verständnisschwierigkeiten gleich im Vorfeld auszuräumen. Allerdings wurde von einem Teilnehmer auch die umgekehrte Strategie verfolgt, indem er meinte, er hätte sich spätestens dann sprachlich angepasst, wenn ihn der Interviewende nicht verstanden und ihm das auch so angezeigt hätte. 4 EINZELANALYSEN Im letzten Teil dieses Beitrags werden exemplarisch einige Ergebnisse aus den Gesprächen und Interviews mit fünf ausgewählten Sprecher/inne/n vorgestellt. Die Gesprächsdaten stammen von drei Frauen und zwei Männern, die unterschiedlichen Alters- und Berufsgruppen angehören. Die Auswertung besteht aus einer linguistischen Analyse eines informellen Gesprächs (mit einem/einer Freund/in oder dem/der Partner/in) und der intendiert formellen Interviews mit der Interviewerin aus Österreich (Int_A) und dem Interviewer aus Deutschland (Int_D). Diesen „objektiven“ Sprachdaten werden schließlich die „subjektiven“ Einschätzungen der Teilnehmer/innen aus der Evaluation der Interviews gegenübergestellt.11 Die linguistische Auswertung beruht auf einer exemplarischen Variablenanalyse der Gespräche. Für den Zweck dieser Untersuchung wurden vier Variablen ausgewählt, nämlich: – –





die Realisierung von a, das entweder dialektal als mittel-offenes velares /ɔ/ („aVerdumpfung“) oder standardsprachlich als palatales /a/ ausgesprochen wird; die Realisierung von postvokalischem l vor Konsonanz oder im Auslaut, das entweder dialektal durch Vokalisierung (z. B. holen > hoin) oder Koaleszenz (z. B. zählen > tsön) in einem Vokal aufgeht oder standardsprachlich als Liquid erhalten bleibt; die Realisierung von mhd. ei, das entweder als dialektaler Diphthong /oɐ/ oder als regiolektaler Monophthong /a/ oder als standardsprachlicher Diphthong /ae/ erscheint; schließlich die Realisierung der Vorsilbe ge- im Partizip II mit dialektalem bzw. regiolektalem Schwund (z. B. paod ‘gebaut’) oder Synkope des Vokals (goɐwɐt ‘gearbeitet’) oder mit standardsprachlicher Bewahrung des Präfixes (z. B. gebaut, gearbeitet).

11 Die hier getroffene Auswahl kann nur einen ersten Eindruck zur (möglichen) sprachlichen Anpassung bzw. Nicht-Anpassung in Abhängigkeit von verschiedenen sozialen und situativen Parametern vermitteln. Dies gilt sowohl für die hier ausgewählten Proband/inn/en als auch für die herangezogenen linguistischen Variablen. Eine eingehende Analyse der vorliegenden sprachlichen Daten (und ihrer perzeptiven Einschätzung) bleibt einer umfangreicheren Untersuchung vorbehalten.

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Abb. 7: Variablenanalyse zu den Gesprächsdaten eines 73-jährigen pensionierten Landwirts (Spr_1)

Im ersten Beispiel (Abb. 7) werden die Gesprächsdaten eines pensionierten 73-jährigen Landwirts (Spr_1) analysiert, der in Weibern geboren und aufgewachsen ist. Wie zu erwarten, erweist sich Spr_1 im privaten Gespräch als ausgesprochen basisdialektal. Bei den ausgewählten Variablen a, l und ge- verwendet er nahezu ausschließlich die dialektalen Varianten, bei der Variable ei findet sich ein paarmal die standardsprachliche /ae/-Variante, und zwar in der Partikel einfach [ˈa͜emˌfɔx], wo sie aber jeweils mit der dialektalen a-Verdumpfung in der zweiten Silbe kookkurriert. Je nach untersuchter Variable beträgt der Anteil der standardabweichenden Varianten zwischen 94 und 99 %.12 Den Daten des privaten Gesprächs (Abb. 7, oben) stehen die beiden Interviews mit Int_A (links) und Int_D (rechts) gegenüber. 12 Die relative Häufigkeit standardabweichender (dialektaler, regiolektaler usw.) Varianten wird im Folgenden nach LENZ (2003: 67) kurz als „Standarddifferenz“ bezeichnet.

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Auch in der Kommunikation mit den beiden Interviewenden bedient sich Spr_1 einer recht einheitlich dialektalen Sprechlage, soweit sich dies aus den herangezogenen Variablen ablesen lässt (Standarddifferenz bei Int_A: 71–100 %; bei Int_D: 89–99 %). Lediglich bei der l-Variable ist im Gespräch mit Int_A mehrmals die standardsprachliche Variante festzustellen. Diese ist aber meist lexikalisch gebunden (vor allem an Wörter wie Rolle, Vorteil und Nachteil) und kann in Fällen, wo dies möglich ist, auch zusammen mit standarddivergenten Merkmalen (z. B. a-Verdumpfung in [ˈnɔxˌd̥a͜el]) auftreten. In seiner eigenen Wahrnehmung schätzt Spr_1 die eigene Alltagssprache als „eher dialektal“ ein (Stufe 4 auf der 5-stufigen Skala), da seiner Meinung nach eine Einstufung als richtiger Basisdialekt („altväterischer Dialekt“) den ältesten Menschen in Weibern vorbehalten ist. Nach seiner Einschätzung spricht Int_A ein „reines Hochdeutsch“, das nur schwer einer Gegend zuzuordnen ist, Int_D spreche dagegen ein „Hochdeutsch mit Einschlag“, das er der Gegend um Koblenz, Trier, Mainz und Saarbrücken zuordnet – womit er geografisch beinahe ins Schwarze trifft. Es entspricht dem ungezwungenen und weltoffenen Naturell von Spr_1, dass er die Situation in beiden Interviews als „angenehm“, „vertraut“ und „familiär“ und die Interviewenden als „sachkundig“, „locker“ und „sympathisch“ (in allen Fällen Stufe 1 auf der 5-teiligen Skala) einschätzt und dabei mit allen sofort per „Du“ ist. An die Sprechweise der Interviewenden hat er sich nach eigener Einschätzung „gar nicht“ angepasst, obwohl Int_A aufgrund von Verständnisproblemen des Öfteren nachfragen musste. Wenn ihn allerdings Int_D nicht verstanden hätte, dann wäre er bereit gewesen, seine Sprechweise umzustellen. Das folgende Diagramm-Set (Abb. 8) zeigt die Auswertung von Gesprächsdaten einer 72-jährigen Frau (Spr_2), die zusammen mit ihrem Mann ein Lebensmittelgeschäft im Ort betrieben hat. In einem 20-minütigen Gespräch mit ihrem Mann (obere Grafik) verwendet sie bei den untersuchten Variablen mehrheitlich dialektale Varianten: die Standarddifferenz der – wegen der Kürze des Gesprächs teilweise nur sehr schwach besetzten – Variablen liegt hier bei 83–96 %. Die Entsprechungen von mhd. a/â sind durchwegs verdumpft (93 %), werden aber meist offener realisiert als bei Spr_1, was insgesamt den Eindruck einer etwas „feineren“ Sprechweise erweckt. Anders sieht das Bild zu den Daten der beiden Interviews aus (Abb. 8, unten). Zwar dominieren auch hier die Varianten mit a-Verdumpfung, haben aber im Gespräch mit Int_A (64 %) einen deutlich geringeren Anteil als in jenem mit Int_D (81 %). Noch geringer ist der Anteil dialektaler Formen mit l-Vokalisierung, der in beiden Interviews bei rund einem Drittel liegt. Praktisch nicht mehr vorhanden sind dialektale Realisierungen von mhd. ei als fallender Diphthong /oɐ/. Formen mit e-Synkope beim Präfix ge- treten dagegen etwas häufiger auf (ca. 48 bzw. 82 %), diese sind aber nicht unbedingt als dialektspezifisches Merkmal zu werten, da sie im Allgemeinen auch in standardnäheren Bereichen vorkommen.

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Abb. 8: Variablenanalyse zu den Gesprächsdaten einer 72-jährigen (pensionierten) Lebensmittelkauffrau (Spr_2)

Was die eigene Einschätzung betrifft, gehört Spr_2 zu jenen Personen, bei denen subjektive Wahrnehmung und objektive Datenlage relativ weit auseinanderliegen. Die eigene Alltagssprache – also die durchschnittliche Sprechweise im privaten Lebensbereich – verortet Spr_2 genau in der Mitte zwischen Hochdeutsch und Dialekt, das Gleiche gilt ihrer Meinung nach aber auch für ihre Sprechlage in den Interviews. Die Interviewsituation stellte sich für Spr_2 als eher durchschnittlich dar: Die Bewertungen zwischen „angenehm – unangenehm“, „vertraut – fremd“, „familiär – förmlich/formell“ liegen im Gespräch mit Int_A jeweils auf Stufe 3 und bei Int_D jeweils auf Stufe 4 (auf der 5-teiligen Likert-Skala). Die Interviewenden beurteilt sie als „eher sachkundig“ und „locker“ (Stufe 2), beide erhalten aber nur mittlere Sympathiewerte (Stufe 3). Die Sprechweise von Int_A liegt ihrem Urteil nach bei „reinem Hochdeutsch“, jene von Int_D bei „gemäßigtem Hochdeutsch“ (Stufe 2 auf der 5-teiligen Skala). Die Frage

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nach der sprachlichen Anpassung an die Interviewenden beantwortet Spr_2 in beiden Fällen mit „nein, eher nicht“. Im Sinne der Communication Accomodation Theory könnte man diese Kluft zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit als „Diverging as Convergence“ (BELL 2001: 195–196) bezeichnen.

Abb. 9: Variablenanalyse zu den Gesprächsdaten einer 38-jährigen Juristin (Spr_3)

Im dritten Diagramm (Abb. 9) werden die Gesprächsdaten einer 38-jährigen Frau (Spr_3) vorgestellt, die als Juristin in einer Anwaltskanzlei in der Bezirkshauptstadt Grieskirchen tätig ist. Im privaten Gespräch mit ihrem Mann verwendet sie überwiegend dialektale Varianten. Das gilt vor allem für die a-Verdumpfung und die eSynkope beim ge-Präfix (Standarddifferenz: 95 bzw. 99 %), im Wesentlichen aber auch für die l-Vokalisierung (88 %). Bei den Entsprechungen von mhd. ei finden sich neben der dialektalen Variante /oɐ/ (56,5 %) auch die als umgangssprachlich

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geltende monophthongische Variante /a/ (26,5 %) sowie einige Beispiele mit standardsprachlichem /ae/ (17 %). In den beiden formellen Situationen (Abb. 9) zeigt Spr_3 nicht nur die Bereitschaft, sondern offenkundig auch die Fähigkeit zur sprachlichen Akkommodation, insbesondere im Interview mit Int_A (Standarddifferenz: 7–23 %). Im Gespräch mit Int_D liegt der Anteil standarddifferenter Varianten teilweise etwas höher als bei Int_A (Standarddifferenz: 5–40 %), was sowohl mit dem Thema als auch mit der Atmosphäre des Gesprächs zu tun haben könnte. In ihrer subjektiven Wahrnehmung verwendet Spr_3 im Alltag eine Sprechweise, die in der Mitte zwischen „Hochdeutsch“ und „Dialekt“ liegt. In den beiden Interviews habe sie ihre Sprechlage jeweils um eine Stufe in Richtung „Hochdeutsch“ verschoben. Damit habe sie sich auch ein wenig an die Sprache der Interviewenden angepasst, die sie jeweils als „reines Hochdeutsch“ einstuft. Als wesentliche Gründe für die sprachliche Annäherung gibt Spr_3 die ungewohnte Situation, die Unbekanntheit der Gesprächspartner und deren Sprechweise an, als „vielleicht“ relevant folgen die Förmlichkeit und der Status der Interviewenden als Experte bzw. Expertin. Nicht relevant sind für sie das örtliche Umfeld des Interviews, die Gesprächsthemen und das „elegante Auftreten“. In einem weiteren Diagramm (Abb. 10) werden die Gesprächsdaten eines 15jährigen Schülers (Spr_4) visualisiert. Die hier ausgewerteten Daten des jüngsten Probanden zeichnen interessanterweise ein Bild, das jenem des pensionierten Landwirts (Spr_1) beinahe haargenau entspricht. Im privaten Gespräch liegt die Standarddifferenz der Varianten bei 96–100 % und auch bei den formell intendierten Interviews liegt sie immer noch bei 75–98 % (Int_A) bzw. bei 82–96 % (Int_D). Bei der a-Verdumpfung finden sich auch in den Interviews kaum Zugeständnisse an die Standardlautung (Standarddifferenz: 98 bzw. 96 %), die wenigen Standardentsprechungen treten in Phraseologismen (z. B. „aus dem Jahre Schnee“ oder „in die Jahre gekommen“) auf. Die etwas häufiger begegnenden Fälle von l-Bewahrung (Standarddifferenz: 84 bzw. 83 %) beschränken sich auf die Konjunktion weil, die wenigen standardkonformen Entsprechungen von mhd. ei sind auf die Adverbien einfach und einzig verteilt. Nach seiner eigenen Einschätzung bedient sich Spr_4 einer einheitlichen Alltagssprache, die er als „eher dialektal“ einstuft (Stufe 4 auf der 5-stufigen Skala), womit er auch in der subjektiven Wahrnehmung mit Spr_1 übereinstimmt. Die Sprechweise der beiden Interviewenden hält er für ein „reines Hochdeutsch“ und lokalisiert sie – der Sprache nach zu urteilen – beide in Norddeutschland. Die Interviewsituation empfindet er zwar als „vertraut“ und „angenehm“, aufgrund des sehr förmlichen Auftretens der Interviewenden aber als „eher formell“. Trotz dieser Einschätzung hat er in den Interviews seine Alltagssprache beibehalten und sich „gar nicht“ an die Sprechweise der Interviewenden angepasst.

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Abb. 10: Variablenanalyse zu den Gesprächsdaten eines 15-jährigen Schülers (Spr_4)

Das letzte Diagramm (Abb. 11) zeigt die Gesprächsdaten einer 38-jährigen Gemeindebediensteten (Spr_5). Da von der Probandin leider noch keine Aufnahme eines privaten Gesprächs vorliegt, sind die Ergebnisse mit den zuvor dargestellten Daten kaum vergleichbar. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Ergebnisse der beiden (intendiert) formellen Interviews, die ein sehr interessantes, weil stark divergierendes Bild bieten (vgl. Abb. 11). Während sich Spr_5 im Gespräch mit Int_A durchaus dialektnah bis umgangssprachlich gibt, schwenkt sie im Interview mit Int_D sehr konsequent auf eine standardnahe Varietät um. Diese Anpassung wird allerdings nicht nur bei den hier gezeigten Variablen vollzogen, die natürlich nur einen kleinen linguistischen Ausschnitt bieten. Die Akkommodation erfolgt auch bei einer Reihe von nord- bzw. mitteldeutschen Regionalismen wie nee ‘nein’, nich ‘nicht’, kucken ‘schauen’ und iss nich so ‘ist nicht so’ oder beim Wortakzent in Káffee, die auch fest im Regionalakzent des Interviewers verankert sind.

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Abb. 11: Variablenanalyse zu den Gesprächsdaten einer 38-jährigen Gemeindebediensteten (Spr_5)

Nach ihrer eigenen Wahrnehmung bedient sich Spr_5 im Alltag einer Sprechweise, die genau in der Mitte zwischen „Hochdeutsch“ und „Dialekt“ liegt. Diese verwendet sie nach eigener Einschätzung auch im Gespräch mit Int_A, und zwar ohne jegliche Anpassung. Die Interviewsituation bezeichnet sie als sehr „angenehm“ und einigermaßen „vertraut“ bzw. „familiär“; die Interviewerin hält sie für sehr „sachkundig“ und „sympathisch“, ihr Auftreten hat auf sie einen „eher lockeren“ Eindruck gemacht und sich in der Mitte zwischen „elegant“ und „leger“ befunden. Sprachlich wird die Interviewerin auf „eher hochdeutsch“ eingestuft (Stufe 2 auf der 5-stufigen Skala) und in der Umgebung von Wien lokalisiert. Mit Ausnahme dieser Lokalisierung werden die Interviewsituation und das Auftreten des Interviewers im Gespräch mit Int_D von Spr_5 völlig gleich evaluiert; der Interviewer wird von seiner Sprache her als Deutscher erkannt und der Gegend um Nürnberg zugeordnet. Als einzig triftigen Grund für die – recht weitreichende – Akkommodation ihrer Sprechlage gibt Spr_5 an: „wegen der Sprechweise des Interviewers“; daneben sei „vielleicht“ auch noch das etwas förmliche Auftreten des Interviewers relevant gewesen. Alle anderen Faktoren (ungewohnte Situation, örtliches Umfeld, elegantes Auftreten, Unbekanntheit und sachliche Kompetenz des Gesprächspartners) waren laut Einschätzung von Spr_5 für die sprachliche Anpassung unwichtig. Die teilweise große Bereitschaft und Fähigkeit zur Akkommodation mag bei Spr_5 auch biografische Gründe haben: Sie war beruflich vor ihrer Tätigkeit am Gemeindeamt Weibern in verschiedenen Leitungsfunktionen tätig und ist beruflich viel herumgekommen – vor allem in Österreich, aber auch in Deutschland, wo sie über mehrere Monate hinweg in Nürnberg tätig war.

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5 FAZIT Das in den 1970er-Jahren zur Beschreibung des situationsspezifischen Varietätengebrauchs entwickelte Formalitätskonzept wird – theoretisch stärker fundiert – auch in aktuellen soziolinguistischen Untersuchungen methodisch dazu verwendet, Menschen mit bi- oder multivarietärer Sprachkompetenz zur Verwendung standardsprachlicher oder standardnaher Sprechlagen zu bewegen. Dafür reicht es häufig aus, wenn sich Angehörige einer Universität, in Anzug und Krawatte bzw. Kostüm gekleidet, bei einer Gewährsperson vorstellen und mit dieser ein Interview in der Standardsprache führen. Erhebungen in Süddeutschland und Österreich haben jedoch gezeigt, dass die Herstellung einer solchen „formellen“ Situation oft nicht genügt, um bei den Informant/inn/en die intendierte Standardsprache zu evozieren. Dies kann theoretisch mehrere Gründe haben: (1) Die Informant/inn/en sind der Standardsprache nicht mächtig. (2) Der Gebrauch der Standardvarietät ist so selten und ungewohnt, dass große Hürden vorhanden sind, sie zu verwenden. (3) In einer bestimmten Region ist die Dialektverwendung (noch) nahezu ubiquitär; Formalität ist daher nicht das Konzept, das einen Wechsel in standardnähere Sprechlagen auszulösen vermag. (4) Eine als formell inszenierte Situation wird von den Proband/inn/en nicht als solche wahrgenommen, weil wesentliche Parameter entweder fehlen oder nicht deutlich genug ausgeprägt sind. (5) Die Verwendung standardnaher Varietäten ist in erster Linie an kommunikative Bedingungen geknüpft: „Hochdeutsch“ wird vor allem dann gebraucht, wenn es für das gegenseitige Verständnis erforderlich ist. Die Untersuchungen zum vertikalen linguistischen Spektrum, zum Sprachgebrauch und zu den Spracheinstellungen von insgesamt 32 Frauen und Männern in der Gemeinde Weibern haben ergeben, dass die Bewohner/innen der oberösterreichischen Landgemeinde durchaus bereit und in der Lage sind, sich an bestimmte Situationen oder Personen sprachlich anzupassen. Im Einzelnen kann dazu Folgendes festgestellt werden: Die Menschen aller Altersgruppen in der Gemeinde Weibern verfügen über ausreichende Kompetenzen in der hochdeutschen Schriftsprache; sie sind jedenfalls in der Lage, Texte, die ihnen im oberösterreichischen Dialekt präsentiert werden, in die Standardsprache oder eine standardnahe Sprechweise zu übersetzen. Was die Verwendungshäufigkeit des Standarddeutschen betrifft, kann die Situation je nach Alter, Beruf und sozialer Stellung stark variieren. Der oben erwähnte 74-jährige Spr_1 sagt etwa von sich, dass er Hochdeutsch nur ein paar Mal im Jahr benötige. Ähnliches gilt aber auch für jugendliche Sprecher/innen wie Spr_4, die angeben, nur dann Hochdeutsch zu verwenden, wenn sie beispielsweise im Schulunterricht ein Referat halten müssen. Dagegen sind Menschen, die in kommunikativen Berufen arbeiten (vgl. Spr_2, Spr_3, Spr_5), im Gebrauch der Standardsprache meist versierter und in der Lage, innerhalb des Dialekt-Standard-Kontinuums mühelos hin- und herzugleiten. Der Dialekt ist im Allgemeinen für einen Großteil der Weiberner Bevölkerung die dominierende Alltagssprache, die allerdings bei guten (oder triftigen) Gründen auch verlassen werden kann. Wenn unbekannte, ortsfremde Personen in die private

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oder dörfliche Sphäre eintreten, kann eine Anpassung an deren Sprechweise auch „dosiert“ erfolgen, d. h. im Sinne einer partiellen – und nicht einer vollständigen – Konvergenz. Im Zentrum dieses Beitrags stand die Frage, ob eine Situation, die im Untersuchungsdesign als formell intendiert ist, von den Teilnehmer/inne/n an der Studie auch als formell wahrgenommen wird – und zwar formell genug, um die eigene Sprechlage in Richtung Standardsprache zu verändern. Die Frage ist differenziert zu beantworten: Von den 19 Personen, die an den Interviews teilgenommen haben, wurden die Situationen mehrheitlich als relativ förmlich bzw. formell eingestuft; zugleich aber waren sie für viele durchaus angenehm und vertraut. Die Interviewenden wirkten auf die meisten locker und sympathisch, daneben aber auch sachkundig und einigermaßen elegant. Diese Eigenschaften waren aber für die meisten kaum ein Grund, ihre Sprechlage zu verändern; ausschlaggebend hierfür waren vor allem die Sprechweise und die Unbekanntheit der Interviewenden sowie die ungewohnte Situation. Das gegenseitige Verstehen war im Wesentlichen bei allen Interviews gesichert. Die Interviewenden bedienten sich konsequent der Standardsprache, erweckten aber dabei den Eindruck, die Alltagssprache der an der Studie Teilnehmenden einigermaßen gut zu verstehen. Gleichwohl hat sich ein Großteil der Interviewten bemüht, den beiden Gästen sprachlich entgegenzukommen und damit das gegenseitige Verständnis abzusichern. In einem Fall (Spr_5) kam es zu einer auffälligen Anpassung an den mitteldeutschen Regionalakzent des Interviewers, die als „overaccommodating“ (GILES / OGAY 2007: 298) bezeichnet werden könnte. Aus dem oben Dargestellten mag vielleicht auch deutlich geworden sein, dass bei der Interaktion von Personen, die sprachliche „Kompetenzdifferenzen“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011: 28) aufweisen, nicht immer mit einfachen Automatismen zu rechnen ist: Nicht alle Informant/inn/en trachten in der (vermeintlich) formellen Situation des soziolinguistischen Tiefeninterviews nach der „intentionalen Standardsprache“ (vgl. MACHA 1991: 121). Dass hier viele soziale, psychologische und linguistische Faktoren eine Rolle spielen, die es bei der Erklärung sprachlichen Verhaltens zu berücksichtigen gilt, hat KLAUS J. MATTHEIER (1980: 106) treffend festgestellt: „Hier zeichnen sich sehr komplexe Beziehungssysteme ab zwischen den verschiedenen für die situative Steuerung der Sprachvarietätenwahl verantwortlichen Komponenten.“ LITERATUR BELL, ALLAN (1984): Language style as audience design. In: Language in Society 13, 145–204. BELL, ALLAN (2001): Back in style. Reworking Audience Design. In: ECKERT, PENELOPE / JOHN R. RICKFORD (Hg.): Style and Sociolinguistic Variation. Cambridge: Cambridge University Press, 139–169. BESCH, WERNER (Hg.) (1981): Sprachverhalten in ländlichen Gemeinden. Ansätze zur Theorie und Methode. Forschungsbericht Erp-Projekt. Band 1. Berlin: Erich Schmidt. GANSWINDT, BRIGITTE / ROLAND KEHREIN / ALFRED LAMELI (2015): Regionalsprache.de (REDE). In: KEHREIN, ROLAND / ALFRED LAMELI / STEFAN RABANUS (Hg.): Regionale Variation des Deutschen. Projekte und Perspektiven. Berlin/Boston: De Gruyter, 425–457.

Methodische Überlegungen zur Erhebung standardnaher Sprechlagen

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VARIETÄTEN IM TIROLER TOURISMUS Ein USP oder doch nur ein „Ups!“? Monika Dannerer ABSTRACT Tourismus bedeutet temporäre Mobilität über mehr oder weniger große Räume – auch Sprach- und Varietätenräume – hinweg und Tourismus bedeutet die Kommodifizierung von (sozialem) Raum. Die Bedeutung von Fremdsprachen ist dabei unbestritten (vgl. z. B. AMMON / COSTA 2018), ebenso können bestimmte Orte über Sprachen inszeniert (vgl. z. B. PERRINO 2015) oder über Minderheitensprachen kommodifiziert werden (vgl. z. B. PIETIKÄINEN / KELLY-HOLMES 2011; HELLER / JAWORSKI / THURLOW 2014; LONARDI i. V.). Wie verhält es sich aber mit Varietäten des Deutschen im ruralen Tourismus in Österreich? Sind sie Teil des touristischen Angebots (vgl. DANNERER / FRANZ / ORTNER 2017) und machen sie den Anbieter vertrauenswürdiger (vgl. HEBLICH / LAMELI / RIENER 2015), oder werden sie als potenzielle Barriere für Verständigung nach Möglichkeit vermieden? Der Beitrag widmet sich der Frage, ob Varietäten gezielt als USP (unique selling point) für die Vermarktung einer Destination eingesetzt werden, oder ob der Gebrauch von Nonstandard-Varietäten vermieden wird oder aber mehr oder weniger unreflektiert „passiert“. Er stützt sich dabei auf ein Korpus von 29 Interviews mit BeherbergerInnen und anderen DienstleisterInnen sowie lokalen Tourismusverantwortlichen in Tirol und differenziert nach Betriebstypen sowie nach Region und Alter der Befragten. Tirol eignet sich dabei besonders gut als Untersuchungsgebiet, da es sich um eine seit langem äußerst tourismusintensive Region handelt, in der deutschsprachige Gäste eine dominante Rolle spielen. Insgesamt zeigen sich dabei aber auch Phänomene, die keineswegs auf Tirol, Österreich oder den deutschsprachigen Raum beschränkt sind, sondern ähnlich auch von Lappland bis Neuseeland zu finden sind. 1 MOBILITÄT, RAUM UND KOMMODIFIZIERBARE SPRACHLICHE ERWARTUNGEN Tourismus ist ein Wirtschaftszweig, der sui generis mit Mobilität zu tun hat und damit für Sprach- und Varietätenkontakt – für Tirol v. a. seit der starken Intensivierung des Tourismus seit den 1960er-Jahren – ein vielversprechendes Forschungsfeld darstellt.

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Bereits mit dem Wort „Tourismus“ wird auf Bewegung referiert, allerdings nur auf die der Reisenden, nicht auf die Bewegungen, die deren Reisen möglicherweise bei anderen auslösen. Reisen in die alpine Landschaft und aufs Land treten vermehrt seit dem 18./19. Jahrhundert auf (vgl. z. B. SANDGRUBER 2003). Damit verbunden kommt es zu einer raum- und schichtübergreifenden Bewegung von der Stadt aufs Land und von höherer zu niederer Schicht und letztlich zu einer (in Art, Ort und Umfang oft klar definierten) Begegnung zwischen diesen. Neben der damals sozial verhältnismäßig homogenen Reisegesellschaft (Mitreisende wie auch andere Gäste vor Ort) ist es die Begegnung mit denjenigen, die die Infrastruktur des Reisens bereitstellen (z. B. BesitzerInnen von Gasthöfen und Wirtshäusern bzw. ihre MitarbeiterInnen), über die in der sehr umfangreichen Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts regelmäßig und ausführlich geklagt wird. Darüber hinaus sind es die Bereisten (DANN 2012), denen man begegnet. Sie sind diejenigen, die gleichsam als Staffage die Sehnsuchtsorte „bevölkern“ und als „einfache“, „naturnahe“ und zumindest teilweise bäuerliche Gesellschaft einen Kontrast zu den reichen (bürgerlichen) Reisenden bilden und Teil des romantisch verklärten Reiseziels darstellen. Konzepte des Reisens aus dem 19. Jahrhundert haben sich – in modifizierter Form – im alpin-ruralen Tourismus neben u. a. Formen des modernen Eventtourismus erhalten, die Tourismuswerbung bedient sich ihrer und die Tourismusindustrie von der Architektur bis hin zur Arbeitskleidung von im alpinen Tourismus (zumindest im deutschsprachigen Raum) Beschäftigten hält damit verbundene Stereotype aufrecht. Neben der Mobilität von TouristInnen kommt es durch Tourismus v. a. im ländlichen Raum aber auch zu einer weiteren Form individueller Mobilität, nämlich der Mobilität von MitarbeiterInnen in touristischen Betrieben (zur historischen Dimension vgl. z. B. RESO 2019). Die sprachliche Situation eines Ortes, einer Region oder eines Landes kann in der Tourismuswerbung, in Reiseführern wie auch in der Wahrnehmung der Reisenden und Bereisten unterschiedlich dargestellt werden/sein. Dabei ist es ebenso denkbar, dass standardsprachlicher Monolingualismus im Mittelpunkt steht (z. B. für Paris1), die lokale/regionale Varietät (z. B. schottisches oder australisches Englisch, Schweizerdeutsch) oder aber die Existenz von sprachlichen Minderheiten – z. B. Maori in Neuseeland (vgl. HELLER / JAWORSKI / THURLOW 2014) oder Sami in Finnland (vgl. KELLY-HOLMES / PIETIKÄINEN 2014). In der Regel wird lediglich die autochthone Mehrsprachigkeit hervorgehoben. Allochthone Mehrsprachigkeit, die auf jüngerer Zuwanderung beruht, scheint nur dann von touristischer Relevanz, wenn sie in das positive Image des touristischen Ziels integriert ist (z. B. der melting pot New York).2 Selbst die an sich positiv konnotierte Mehrsprachigkeit in der Schweiz wird je nach touristischem Markt, den man bewerben möchte, unterschied1

2

Dies konterkariert die äußerst vielfältige sprachliche Situation in Paris und beruht einerseits auf dem Stereotyp, in Frankreich würde man keine andere Sprache als Französisch sprechen (wollen), als auch auf dem Ausblenden der durch Migration gegebenen Mehrsprachigkeit. Die individuelle Mehrsprachigkeit – sei sie durch Migration oder durch das Erlernen von Fremdsprachen bedingt – wird darüber hinaus bei Bedarf selbstverständlich geschätzt und genutzt (vgl. DUCHÊNE / PILLER 2011).

Varietäten im Tiroler Tourismus

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lich ausgelegt bzw. ggf. sogar eher nicht erwähnt (vgl. SCHEDEL 2018 am Beispiel des zweisprachigen Murten/Morat). Welcher der genannten Aspekte auch immer relevant gesetzt wird, TouristInnen erwarten, das im Reiseführer/Reiseblog oder an anderer Stelle Angekündigte dann auch tatsächlich anzutreffen oder das, was man in einem vorbereitenden Sprachkurs ggf. erworben hat, auch nutzen zu können. In diesem Sinne gibt es nicht nur den „tourist gaze“, den bereits vor Antritt der Reise vorgeprägten touristischen Blick (URRY / LARSEN 2011), sondern auch das „tourist ear“ (DANNERER 2021), d. h. mehr oder weniger klar ausgeprägte Hörerwartungen. Auch sie werden durch die Tourismuswerbung teilweise bedient – z. B. das Servus! in der Österreich-Werbung, ein auf Homepages oder Zusatztafeln zu Ortsschildern oder bei Almhütten in Tirol anzutreffendes Griaß enk! oder ein Kia ora z. B. auf der Homepage des Flughafens Auckland (NZ).3 Optische wie akustische Erwartungen setzen also auf ein gewisses Maß an „Andersheit“, um zur Stilisierung der Destination als begehrenswertes Reiseziel beizutragen und Region und Sprache damit kommodifizierbar zu machen. Sie werden in Medienberichten, Reiseführern, Blogs, Instagram-Posts etc. vom Marketing des Ortes/der Region tradiert, überformt und geprägt, ausgehandelt bzw. verfestigt. Diese Erwartung stabiler Andersheit (EPPLE 2013: 16) schafft gleichzeitig eine „begrenzte Identität“ (OSTERHAMMEL 2010: 156, zit. n. EPPLE 2013: 19), die nur einen geringen Spielraum für die ansonsten übliche Identitätsaushandlung zulässt.4 Die Identität der Bereisten darf nicht individuell sein, sondern sie wird kollektiv und v. a. stabil und räumlich definiert bzw. begrenzt („der Tiroler“, „der Schweizer“, „der Same“, „der Maori“). In Kontrast zu Herkunft, Kultur und Bedürfnissen von TouristInnen können dabei bis zu einem gewissen Grad auch unterschiedliche Merkmale hervorgehoben werden, um sie als „different“ zu stilisieren, als „Besonderheit“. Ein hoher Wiedererkennungswert kann dabei insgesamt aber nur erreicht werden, wenn diese (sprachliche) Identität stark reduziert wird (vgl. dazu u. a. HELLER 2003; HELLER / JAWORSKI / THURLOW 2014; KELLY-HOLMES / PIETIKÄINEN 2014). HELLER / JAWORSKI / THURLOW weisen dabei besonders auf die variable Verwendung zur Differentsetzung von Reisenden und Bereisten hin: […] languages are everywhere (stage-) managed as fixed, stable, and bounded, in order to satisfy performances of difference and distinction. Multilingualism thus becomes a resource for stance-taking such as the appropriation of a local identity, the anticipation of a possible, casual sexual or fictive kin relationship, or the distancing of local people from visiting tourists (HELLER / JAWORSKI / THURLOW 2014: 449).

Die Räume, in denen die Begegnungen stattfinden, sind nicht nur als naturräumliche geographisch-physikalische Räume im Sinne eines Containers aufzufassen,5 sondern ebenso als soziale Räume (vgl. APPADURAI 1996) oder als „dritter Raum“ (third space), in dem kulturelle Identität verhandelt wird (z. B. BHABHA 1994). Diese räumliche Dimension ist nicht nur im Hinblick auf Mobilität von Bedeutung, 3 4 5

Auckland Airport. URL: ; Stand: 01.12.2020. Zu aktuellen Identitätskonzepten, die Identität demgegenüber als dynamisch und als interaktiv auszuhandeln modellieren, vgl. z. B. PREECE (2016). Einen guten interdisziplinären Überblick über Raumkonzepte seit der Antike bietet z. B. RAU (2013).

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sondern auch im Hinblick auf die Rolle von diatopischen Varietäten und ihre Verbindung zu „Identität“ bzw. Differenz und „Authentizität“.6 In gängigen Alltagsvorstellungen sind Sprache und Raum ganz klar und eindeutig miteinander verbunden. Dies gilt sowohl im Sinne von monolingual und standardsprachlich geprägten (nationalstaatlich definierten) Räumen als auch im Hinblick auf kleinräumige dialektale Gliederungen und der entsprechenden Wahrnehmung von Sprachgrenzen und Zuordenbarkeit von BewohnerInnen (vgl. z. B. AUER 2004; CHRISTEN 2014). Daher ist es nicht abwegig anzunehmen, dass Sprachen und regionale Varietäten – sofern sie in ihrer Differenz zur Standardsprache wahrgenommen werden können – im Sinne eines USP kommodifizierbar sind. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Sprachen an sich für eine größere Gruppe von Reisenden Hauptmotiv für eine Reise werden, allerdings könnten sie zum Wiedererkennungswert einer Region beitragen und ihn zusätzlich z. B. als „rural“, „gemütlich“, „vital“, „ursprünglich“ oder aber auch (z. B. im Falle von Städtetourismus) als „gehoben“, „weltoffen“, „erotisch aufgeladen“ etc. charakterisieren. Während es für das Verkaufen von Gebrauchsgütern oder Immobilien offenbar vorteilhaft ist, wenn VerkäuferInnen ähnliche sprachliche Varietäten sprechen wie KundInnen, da das dadurch erzielbare größere Vertrauen den Verkaufserfolg erhöht (vgl. LAMELI / NITSCH / SÜDEKUM 2015; RÁKÓCZY 2014), ist es für die Etablierung von Differenz, „Authentizität“ und ggf. Exotik möglicherweise eher abträglich, wenn sich nicht auch die erwartete Differenz in den sprachlichen Varietäten erkennen lässt. In einer Region wie Tirol, in der regionale Varietäten im Alltag noch eine große Rolle spielen, stellen sich in dieser Hinsicht interessante Fragen: Dort, wo die Identität der Bereisten als „authentisch“ im Sinne von „ursprünglich“ und „unverfälscht“ dargestellt werden soll, ist es möglicherweise der ausgeprägte, evtl. sogar unverständliche Dialekt, der als Nachweis dieser Ursprünglichkeit angesehen wird. Wenn er von den TouristInnen aber nicht verstanden wird, weil er zu stark vom Standard bzw. der Varietät der Gäste abweicht, eröffnet sich ein Dilemma: Das gewünschte „exotische Flair“ bzw. die hohe Authentizität ist für die Verständlichkeit nicht zielführend, die eigentlich erwartbare Akkommodation (vgl. u. a. DANNERER / FRANZ / ORTNER 2017) widerspricht dem statisch-kommodifizierbaren Bild der sprachlichen „Authentizität“ der Region. Langfristig stellt sich darüber hinaus die Frage, ob Tourismus durch intensivierten Sprachkontakt zur Veränderung der Sprache / des lokalen Dialekts beiträgt (vgl. z. B. MAUSER 1998), oder ob durch die Entwicklung eingeschränkter Konzepte darüber, was traditionell oder authentisch ist, der Varietätenabbau in eine Rekonstruktion bzw. Konstruktion eines bestimmten status quo übergeführt wird (vgl. AMOAMO 2011). Unabhängig von der Sprechweise dialektkompetenter SprecherInnen stellt sich darüber hinaus auch die Frage, welche Erwartungen an 6

Insgesamt geht man zunehmend davon aus, dass „Authentizität“ nicht klar umrissen werden kann oder als „staged authenticity“ (vgl. MACCANNELL 1976; JAWORSKA 2013) für TouristInnen hergestellt wird, sondern dass es ein relationales und fluides Konzept ist, das ausgehandelt (vgl. LACOSTE / LEIMGRUBER / BREYER 2014: 1, 18), d. h. hergestellt wird („authentication“). Einige wenige, aber saliente Merkmale genügen somit, damit etwas als „authentisch“ wahrgenommen wird (vgl. BLOMMAERT / VARIS 2011: 6, LACOSTE / LEIMGRUBER / BREYER 2014: 8).

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MitarbeiterInnen herangetragen werden, die aus anderen Regionen kommen und andere Varietäten sprechen. Im Rahmen des Beitrags wird der Frage nachgegangen, wie bewusst die Verwendung von Sprachen und Varietäten im Tirol-Tourismus erfolgt bzw. welcher Grad der Bewusstheit in Gesprächen darüber dargestellt wird. Werden Varietäten gezielt als USP (unique selling point) für die Vermarktung der Destination eingesetzt oder wird der Gebrauch von Nonstandard-Varietäten vermieden oder aber „passiert“ er mehr oder weniger unreflektiert? Die folgenden vier Hypothesen über den (berichteten) Varietäteneinsatz in der Interaktion mit deutschsprechenden TouristInnen sollen dabei überprüft werden: H1: Varietäten werden bewusst eingesetzt und nicht nur im privaten Alltag, sondern auch in der Interaktion mit TouristInnen verwendet. H2: Verstehen ist in der Regel wichtiger als die Authentifizierung über Sprache, daher werden Varietäten bewusst weggelassen oder modifiziert, wenn die Verständlichkeit von Äußerungen in Gefahr ist. Es wird als Teil professioneller Sprachkompetenz gesehen, Varietäten problemlos wechseln, sich also sprachlich an das Gegenüber anpassen zu können. H3: Da umgekehrt auch Situationen des Nicht-Verstehens den exotischen Reiz eines touristischen Produkts ausmachen können, ist anzunehmen, dass die Verwendung von Dialekt nicht immer vermieden wird, sobald er Verständigungshindernis ist, sondern dass Situationen des Nicht-Verstehens auch bewusst herbeigeführt oder zumindest bewusst nicht vermieden werden. H4: MitarbeiterInnen im Tourismus, die aus anderen Regionen des deutschsprachigen Raumes kommen und/oder Deutsch erkennbar nicht als Erstsprache sprechen, werden tendenziell als Gefahr für das erfolgreiche Branding angesehen bzw. dargestellt, da sie die Kommodifizierung Tirols mit der gewünschten Varietät nicht herstellen können. 2 DATENMATERIAL Dem Beitrag liegt ein Interviewkorpus mit Tiroler Tourismusbetrieben zugrunde, das im Rahmen des Projekts „SPIRIT Tirol“ („Sprachen und Varietäten in Regionen mit intensivem Tourismus am Beispiel Tirols“)“ erstellt wurde.7 Tirol eignet sich hier als Untersuchungsgebiet aus drei Gründen in ganz besonderem Maß: Zum einen hat Tirol eine lange Tourismusgeschichte, es hat sich also eine Tradition im Umgang mit Gästen herausgebildet. Zum zweiten ist die Tourismusintensität hier besonders hoch: 33 % der österreichischen Nächtigungen entfallen auf das Bundesland, das 8 % der österreichischen Bevölkerung stellt. Und zum 7

ProjektantragstellerInnen waren Monika Dannerer, Marianne Franz, Yvonne Kathrein, Heike Ortner und Thomas Schröder. Mitgearbeitet haben Lisa Hofer, Julia Schönnach und Julia Töchterle-Dablander, die beiden letztgenannten führten auch alle Interviews. Die Förderung erfolgte durch die Aktion D. Swarovski KG 2015. Einen sehr guten Einblick in das Datenmaterial bietet SCHÖNNACH (2017).

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dritten ist der Anteil der deutschsprachigen Gäste sehr hoch (s. u.), der Varietätenkontakt ist also besonders ausgeprägt. Die 29 Leitfaden-Interviews mit einer Gesamtlänge von mehr als 26 Stunden wurden 2016 mit PrivatzimmervermieterInnen, HotelbesitzerInnen und DienstleistungsunternehmerInnen (Sportgeschäft, Schischule/Schiverleih) an drei verschiedenen Orten – Neustift im Stubaital, Seefeld und Wildschönau – geführt, die sich in ihren Tourismuskonzepten und Schwerpunkten deutlich voneinander unterscheiden. Dies betrifft sowohl die Verteilung von Winter- und Sommertourismus als auch die Anteile der Gästegruppen: Auch wenn in allen drei Gemeinden TouristInnen aus Deutschland die größte Gruppe darstellen, schwankt ihr Anteil zwischen 31 % (Seefeld) und knapp 59 % (Neustift und Wildschönau). Mit 3.400 bis 4.700 Einwohnern, ca. doppelt so vielen Gästebetten (6.300–7.800) und 690.000 bis 1,2 Mio. Nächtigungen (2014) gehören alle drei zu den 20 tourismusstärksten Gemeinden in Tirol (vgl. DANNERER / FRANZ / ORTNER 2017: 124). Pro Unternehmenstyp und Ort stammen die InterviewpartnerInnen jeweils aus drei unterschiedlichen Generationen eines Familienunternehmens – die Altersspanne erstreckt sich von 16 bis 91 Jahren. Zusätzlich wurden die Verantwortlichen der jeweiligen Tourismusbüros der drei Gemeinden befragt. Fast alle Interviewten sind seit Geburt oder zumindest seit vielen Jahren in Tirol ansässig und selbst DialektsprecherInnen. Auch die Interviewerinnen sind Tiroler Dialektsprecherinnen. Sie haben die Gespräche überwiegend mehr oder weniger dialektnah geführt. Aufgrund der sehr hohen Dialektkompetenz von weiten Teilen der Bevölkerung (und jedenfalls über die Grenzen sozialer Schichten hinweg) und der weiten Verbreitung der Dialektverwendung in sehr vielen – auch öffentlichen – Kontexten sowie seiner durchgehend positiven Bewertung (vgl. z. B. KOPPENSTEINER / BREUER 2020) ist dies nicht weiter verwunderlich. Es ist allerdings anzunehmen, dass der geteilte dialektale Hintergrund Einfluss auf die Gesprächsführung insgesamt wie auch auf die Antworten der Interviewten hat. Bei der Interpretation des Datenmaterials ist zu berücksichtigen, dass es sich um in der Interaktion mit der Interviewerin entstandene Aussagen über das eigene Sprachverhalten sowie das Sprachverhalten und die sprachlichen Präferenzen von Gästen und MitarbeiterInnen handelt, nicht um interaktionale Daten oder um direkte Elizitierungen bei TouristInnen, MitarbeiterInnen oder Verantwortlichen der Tirol-Werbung. Auf der einen Seite ist bei der Interpretation der Daten zu bedenken, dass der diaglossische Varietätenraum im Südbairischen bzw. in der Übergangszone zwischen dem Süd- und Mittelbairischen sowie der unklare Status der Standardsprache in Österreich8 klare Aussagen über den Grad der Dialektalität des (eigenen) Sprechens erschweren. Zudem werden die in der Region (aber auch weit darüber hinaus) üblichen Varianten der Standardsprache (z. B. Gespritzter Apfelsaft, Knödel, Semmel, Polster und Leintuch vs. Apfelschorle, Kloß, Brötchen, Kissen und Bettlaken) nicht selten als „Dialekt“ bezeichnet, zumal sie eben nicht 8

Die Unsicherheit, ob die Standardvarietät des Deutschen in Österreich gleichberechtigt mit einer/„der“ Standardvarietät in Deutschland ist, zieht sich durch viele Interviews. Vgl. zu diesem Thema z. B. DE CILLIA / RANSMAYR (2019) oder auch KOPPENSTEINER / LENZ (2021).

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uneingeschränkt überregional verständlich sind – die Interviewten verwenden Termini also oft nicht in dem in der Linguistik üblichen Bedeutungsumfang. Auf der anderen Seite ist jedoch die starke Verankerung von Dialekt im Alltag der Befragten und der intensive Varietätenkontakt durch den Tourismus förderlich für ein hohes Maß an Variationsbewusstheit und Sprachaufmerksamkeit, was die Interviews zu einer interessanten und ergiebigen Datenquelle werden lässt. 3 ERGEBNISSE Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass TouristInnen aus Deutschland die Mehrheit der Gäste an den drei untersuchten Orten bilden. Im Tiroler Durchschnitt verhält es sich ähnlich: 51,4 % kommen aus Deutschland. Gemeinsam mit TouristInnen aus Österreich (8,5 %) sowie aus der Schweiz und Liechtenstein (5,8 %),9 von denen anzunehmen ist, dass sie in der überwiegenden Mehrheit ebenfalls Deutsch sprechen, bedeutet es, dass annähernd zwei Drittel der in Tirol übernachtenden Reisenden Deutsch als Erstsprache mitbringen. Dies ist insofern von Bedeutung,10 als bei ihnen davon ausgegangen werden kann, dass sie die lokalen/regionalen Varietäten eher als vom Standard abweichend erkennen und somit als lokalspezifisch wahrnehmen können. Zum Varietätenkontakt tragen allerdings nicht nur die TouristInnen bei, sondern auch die aus Deutschland kommenden TourismusmitarbeiterInnen. Im Jahr 2017 waren es österreichweit mehr als 6.200 Personen, d. h. 7,3 % aller unselbständigen Beschäftigten im Tourismus.11 Indem viele von ihnen nicht aus dem benachbarten Bayern, sondern aus Thüringen und Sachsen kommen, unterscheiden sich ihre Varietäten deutlich von den in Tirol gesprochenen, sie sind also für die Kommodifikation der Region über die regionalen Varietäten nicht „einsetzbar“. In den Interviews stellen sich die befragten TouristikerInnen insgesamt als sehr bewusst in ihrer Varietätenverwendung dar, viele von ihnen messen dem Dialekt überdies eine große Bedeutung bei. Entsprechend der Häufigkeit, in der sie Dialekt verwenden oder die Dialektverwendung bei anderen befürworten, kann man die Haltungen jedoch abstufen (vgl. die Abschnitte 3.1 bis 3.7): 3.1 Prononciertes Plädoyer für die Verwendung von Dialekt Für eine (möglichst) durchgehende Verwendung des Dialekts tritt beispielsweise der Seniorchef eines Neustifter 4-Sterne-Hotels ein. Anders als die meisten Inter9

Quelle: Amt der Tiroler Landesregierung, Sg. Landesstatistik und tiris. URL: ; Stand: 01.12.2020. 10 Die Statistiken erlauben nur ungefähre Einschätzungen der Situation. Zum einen fehlen hier die zahlreichen TagestouristInnen, zum anderen sind Nationalität und Erstsprache nicht gleichzusetzen. 11 Quelle: AMS Österreich, Arbeitsmarktforschung und Berufsinformation; Sonderauswertung auf Anfrage vom 24.09.2018 (vgl. DANNERER / FRANZ 2019: 266).

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viewten aus dieser Hotelkategorie spricht er sich dafür aus, sich sprachlich nicht an die Gäste aus Deutschland anzupassen, „nit [...] deitschilan unfångn“ (min 15:59), wie er es nennt, und nicht Hochdeutsch zu reden und auf jedes Wort aufzupassen, sondern den Dialekt beizubehalten. Er steht damit für eine Gruppe von Interviewten, die keine automatische Akkommodation kennt oder wünscht, sondern auf die Bewahrung und Verwendung des Dialekts besteht, der nicht versteckt werden solle. Dialekt ist in seinen Augen das natürliche Kommunikationsmittel, Anpassung ein „Verkaufen“ der Identität. Eine 91-jährige Privatzimmervermieterin aus Seefeld meint überdies, dass Dialektverwendung einen wichtigen Lerneffekt bei den Gästen auslöse, auch im Sinne eines „USP“: nja sie sind ja in einem (.) tiroler ORT, (--) und da solln sie schon (merken) ((lacht)) was wir für SPRAche håbn (min 10:42–10:50)

Einzelne Interviewaussagen sind dabei teilweise sehr apodiktisch formuliert und lassen eine sehr starke Identifikation mit dem Dialekt erkennen, die oft Hand in Hand geht mit der Abwertung anderer Varietäten. Die eigene Varietät wird als lokal gebunden und etwas Besonderes dargestellt, sodass sie als wichtiges Merkmal der eigenen Identität interpretiert wird. Ihre Verwendung wird gleichzeitig als von TouristInnen gewünscht dargestellt. Eine 55-jährige Dienstleisterin aus Seefeld12 vertritt die Verwendung von Dialekt im Gespräch mit den TouristInnen explizit mit dem Argument, die Gäste wollen „des ganze paKET“, zu dem für sie auch die lokale/regionale Varietät gehöre, und nicht Varietäten aus Thüringen oder gebrochenes Deutsch von Gastarbeitern. In einer stark rhythmisch akzentuierten Coda fasst sie ihre Meinung abschließend zusammen: Beispiel 1: „des ganze paKET“ DL_M_Seefeld (min 13:00–13:14)13 032 033 034 035 036 037 038

DNI: sie WÖLln, (--) leid vo DO, (-) und die SPROCH vo [do; ] IV1: [mhm, ] DNI: des SUAchn sie eigentlich. (0.9) weil des åndere hobm sie EH da [hoam;] (0.7) IV1: [mhm; ]

12 Der Transkriptkopf enthält Angaben zum Betriebstyp (DL = Dienstleistungsunternehmen, PZV = Privatzimmervermietung, H3–H5 = Hotel (+ Sterne-Kategorie), TVB = Tourismusverband), zur Generation (AE = ältere, M = mittlere, J = jüngere) und zum Ort. 13 Die Transkription der Interviews folgt den Richtlinien eines GAT-2 Minimaltranskripts bzw. z. T. dem des Basistranskripts (vgl. SELTING et al. 2009). Teilweise wird aus Platzgründen auf eine zeilenweise Segmentierung der Intonationsphrasen verzichtet und stattdessen entsprechend den GAT-Konventionen der senkrechte Strich „|“ verwendet.

Varietäten im Tiroler Tourismus

039 040 041 042

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DNI: des BRAUchn_s nit, (.) sie WÖLln, (.) °h (-) wenn sie do nach tiROL kemmen,= =na wölln sie des ganze paKET.

Im Sinne einer solchen Kommodifizierung der lokalen Varietät, die von den zahlenden Gästen offenbar legitimerweise beansprucht werden kann, stellt jegliche abweichende Varietät – sei es eine diatopisch anders zuzuordnende Varietät, sei es die Varietät eines Mitarbeiters/einer Mitarbeiterin, für den/die Deutsch nicht Erstsprache ist – eine Wertminderung des versprochenen touristischen Pakets dar. Beide MitarbeiterInnen „versagen“ hier sozusagen gleichermaßen. Trotz solcher Formulierungen behauptet aber keine/r der Interviewten von sich, dass er/sie durchgehend Dialekt verwenden würde, wenn TouristInnen ihn/sie dann nicht mehr verstehen würden (s. u. Kap. 3.2). Eine solch konsequente Dialektverwendung wird lediglich (überwiegend bewundernd) von anderen berichtet (s. u. Kap. 3.7). 3.2 Starke, aber abgestufte Verwendung aufgrund des Wunsches der Gäste Verhältnismäßig viele der Interviewten setzen den Dialekt häufig ein, geben aber an, ihn nach der rezeptiven Dialektkompetenz der TouristInnen abzustufen, so auch der 80-jährige Seniorchef einer Schischule in der Wildschönau: Beispiel 2: „a bissl NÅchhöfn“ DL_AE_Wildschönau (min 02:30–02:56) 001 002 003 004 005 006 007 008 009 010 011 012

PVS: ja:- (.) HOCHdeitsch reden wir eigentlich wenig; (.) ne, wir reden a mit de:-(.) mit de eigentlich mehr im dialekt; IV1: ((lacht)) PVS: aber die vastengan des; (.) net, IV1: mhm, PVS: und wenn- (.) wenn net; (.) ºhh | dann muss man halt donn a bissl NÅchhöfn, ºh =na aber ºh der dialekt ist nach wie VOR, ºh (0.6) des WOIN a de leit a bissl; IV1: mhm, PVS: net dass ma gonz (.) HOCHgstochen oder wos äh:- ºh und des LIEGT uns net so;

Der Interviewte macht deutlich, dass es nicht seine Intention ist, sich sprachlich anzupassen: „wir wir reden a mit de:-(.) mit de eigentlich mehr im dialekt“; (Z. 2f.). Er betont, dass der Dialekt verstanden würde bzw. dass man widrigenfalls „a bissl NÅchhöfn“, d. h. unterstützen würde (Z. 7). Die Dialektverwendung begründet er zweifach – einerseits damit, dass das

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„de leit a bissl“ wollen würden (Z. 9), d. h. mit dem Wunsch der Gäste,14 aber auch damit, dass ihm/ihnen die Verwendung der Standardsprache „net so“ liegen würde (Z. 11f.). Etwas später betont er noch einmal, dass er einen Mix spreche (min 07:52), eine Position, die sich – allerdings mit anderen Bezeichnungen – durch das Interview durchzieht. Den Dialekt nennt er, wenn er explizit danach gefragt wird, nie als Hindernis für die Kommunikation, in manchen von ihm geschilderten Situationen wird aber dennoch klar, dass es sein kann, dass der Gast den Schilehrer wegen seines Dialekts nicht versteht – in diesen Fällen setzt er offenbar eher auf das Vor- und Nachmachen als auf sprachliche Akkommodation. Auch die in Beispiel (1) zitierte Seefelder Dienstleisterin sagt in anderen Passagen des Interviews, dass sie selbst nicht durchgehend Dialekt verwende. So meint sie etwa, dass es dem Gast gegenüber respektvoller sei, ihn mit Grüß Gott zu begrüßen als mit dem regional üblichen Griaß di (min 01:00–01:17). Dort, wo es aber nicht um Höflichkeit geht, präferiere sie zunächst die lokale Variante – so beispielsweise auch auf Speisekarten – und bei Bedarf eine Übersetzung bzw. Erläuterung durch das Personal (min 17:51–19:23). Auch an anderen Stellen aber betont sie den Wunsch der Gäste, Dialekt zu hören. Beispiel 3: „ich HÖR die sprache so gern“ DL_M_Seefeld (min 07:38–07:55) 001 002 003 004 005 006 007 008

DNI: IV1: DNI: IV1: DNI:

jå; i (.) wea net ein (.) R:EInes hochdeutsch sprechen, mhm, (1.05) sondern (---) ma schaut dass ma verSTÄNDlich spricht; ja, fertig. åba, (--) | IMma no mit am tiroler dialekt. (--) und des is a EPpas was mir jetzt gråd vorhin a dame gsågt håt, ;

Sehr ähnlich argumentiert beispielsweise auch der 20-jährige Juniorchef eines Wildschönauer 3-Sterne-Hotels, wenn er meint, dass Dialekt auch für den Gast etwas kulturell Wertvolles sei und dass ein Großteil der Gäste nach Tirol komme, weil ihnen die Dialektverwendung taugt (‘gefällt’), ansonsten könnten sie ja irgendwo anders hinfahren (min 12:25–12:58). Nicht alle, die im Tourismus tätig sind, sehen den Dialekt an sich als uneingeschränkt positiv. Ein 32-jähriger Dienstleister aus Neustift etwa schildert ausgehend von seinen Erfahrungen in einer landwirtschaftlichen Berufsschule mit großem Einzugsgebiet, dass es dort SchülerInnen aus Tux gab, die von den anderen, die nicht aus dem Zillertal kamen, nicht bzw. nur schwer verstanden wurden. Er selbst meint dann abschließend, dass er, möglicherweise aufgrund dieser Erfahrungen, keinen so ausgeprägten Dialekt spreche. 14 An anderer Stelle im Interview nimmt er von diesem Wunsch explizit die Gäste in 4- und 5Sterne-Hotels aus – sie seien abgehobener und würden eher Standardsprache erwarten.

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Beispiel 4: „dialekt PASST, (-) | bis zu an gewissen MÅß“ DL_J_Neustift (min 19:47–20:18) 008 009 010 011 012 013 014 015 016 017 018 019 020

DVI: des wor eigentlich für MI donn eigentlich scho immer so der dings wo i gsog hob; okay- (-) dialekt PASST, (-) | bis zu an gwissen MÅß, IV2: mhm, DVI: ober oanfoch SO, | dass i mi scho irgend(wie) no verständigen kun; IV2: [mhm;] DVI: [und ] net wenn i jetzt noch innschbruck kim=und (.) na muas (.) ma_s do irgend(wia) (1.4) der am ÅMT (.) sechsmal nochfrogen wos i überhaupt will, (0.9) IV2: ja, (0.9) DVI: isch vielleicht eh:m (0.9) aus DER kombination aussa a des kemmendass da dialekt jetzt (.) bei MIA, =kimb hoit mia zumindest so vor, ned so exTREM- (0.7) ah:m (1.0) isch (--) ingesomt;

Bereits an einer früheren Stelle hat er im Interview ganz ähnlich argumentiert, dort aber im Hinblick auf die Dialektverwendung in der Kommunikation mit dem Gast – auch in diesem Kontext lehnt er einen zu ausgeprägten Dialekt als Verständigungshindernis ab: Beispiel 5: „nochand dakombiNIER i=s“ DL_J_Neustift (min 09:04–09:32) 007 008 009 010 011 012 013 014 015 016 017 018 019 020

DVI: h° jo i glab i für (.) im sinne des goschtes isch wenn a mi vaSTEHT; also: nit wenn e:r noch jedem sotz überlegen muas, wos hod der jetzt eigentlich zu mir GSOG; (0.7) des wert sicherlich im dialekt ober- öh:: wenn i heit bei oan sotz ochtzg prozent net vaSTEH, (.) donn dareim i=s ma nit zomm; wenn i ober heit h° lei zwanzg prozent net davasteh, nochand dakombiNIER i=s, und woaß oanfoch wos (a) gMOAND isch (.) oder, IV2: ja; DVI: des is halt (-) f=mi da UNterschied; | wo i oanfoch sog okay; (.) so viel dialekt dass er mi no vaSTEHT; (---) IV2: okay; DVI: hatt i gsog;

Dass er Dialektverwendung aber nicht nur vor dem Hintergrund der Verständlichkeit sieht, wird kurz darauf deutlich, wenn er die prinzipielle Verwendung von Dialekt verteidigt als etwas, das von den Gästen erwartet würde wie Kaiserschmarren oder Schnaps in der Gastronomie Tirols und auch ganz generell wie anderes, das als typisch mit einer bestimmten Tourismusregion verbunden wird – als Beispiel nennt er den Raki in der Türkei. Bekanntes und damit auch Erwartbares dient dazu,

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dass damit eine Region für die TouristInnen authentifiziert werden kann (vgl. auch DANNERER 2021). 3.3 Offenheit – orientiert an ökonomischen Ergebnissen Während man beim oben zitierten Neustifter Dienstleister insgesamt im Interview eine starke Identifikation mit dem Dialekt feststellt, legt die Chefin eines 4-SterneHotels in Seefeld eine sehr emotionslose, nüchterne Haltung an den Tag: Man müsse die Wirkung von Dialektverwendung auf der Homepage sehr genau und zielgruppenspezifisch (auch die Bundesländer differenzierend) überprüfen – ob er auf der Homepage Traffic bringt – nur dann kann man feststellen, wo Dialektverwendung Sinn mache: Beispiel 6: „tja wenn_s traffic bringt“ H4_M_Seefeld (min 42:18–42:48) 010 011 012 013 014 015 016 017 018 019 020 021 022 023 024 025 026 027

IV1: sinsch wird jo (.) o mit diaLEKT im tourismus geworbn; HNG: mhm, IV1: wie stehn SIE eigentlich da dazu; (1.3) HNG: tja wenn_s TRAFfic bringt, | und die GÄSte anlockt, | GERne; IV1: hmhm HNG: es kommt drauf an wie gsagt WO ma wirbt, und WIE ma wirbt, IV1: mhm, HNG: (--) a::h (1.4)des: macht an (.) eNORmen un[terschied;] IV1: [mhm ] (0.33) HNG: also mAnche springen drauf auf manche NET; wenn hh wenn di die c/ (.) die conversion rates (.) äh ordentlich geMESsen wern, [und ] pro bundesland olles richtig eingsetzt wird wo's GREIft, IV1: [mhm] m[hmh,] HNG: [donn ] mocht_s sicherlich SINN; IV1: mhm,

Dass hier die Varietätenverwendung tatsächlich sehr bewusst gesteuert wird, zeigt auch ihre Schilderung kurz vor diesem Ausschnitt: Man habe im Hotel eine Zeitlang Griaß Di auf der Homepage und auch im Hotel den Gästen gegenüber verwendet, davon aber – aufgrund der Reaktionen einzelner Gäste, die das offenbar unpassend empfanden15 – wieder Abstand genommen. Etwas widersprüchlich verhält sich 15 Sie zieht den Vergleich – man sei ja nicht auf einer Almhütte –, den auch ihr Sohn verwendet (s. u.). An dieser Stelle lässt sie allerdings offen, ob das Griaß di aufgrund der Dialektverwendung oder des Duzens als unpassend empfunden wurde. Generell hält sie jedoch mehrfach fest, dass Gäste im Hause selbstverständlich gesiezt werden. Da bei der Verwendung von Dialekt

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dazu ihre Antwort auf die Frage, welche Varietät sie in der Kommunikation mit neuen MitarbeiterInnen verwende, denn dort gibt sie den sehr schönen Dialekt an: Beispiel 7: „mit sehr sehr schönem dialekt“ H4_M_Seefeld (min 56:55–57:26) 029 030 031 032 033 034 035 036 037 038 039 040 041 042 043 044 045 046 047 048 049 050 051 052

IV1: und in welchen sprachen sprechen SIE eigentlich mit die mitaweiter, HNG: DEUtsch. IV1: DEUtsch. (--) NUR deutsch, HNG: NUR deutsch. IV1: okay. (1.23) HNG: konn_s ondas A, | oba es nutzt mi [jo nix=;] | [weil wonn=a] IV1: [mhm, ] [natürlich. ] HNG: mit MIR net deutsch sprechen [kann,] | kann er_s mit die ONdan A net. IV1: [ja; ] ((lacht leise)) HNG: ((2.42)) IV1: und was verWENdet man da, verWENdet man dann=etz eher (0.56) | dialekt umgangssprache HOCHdeutsch, (0.68)[( ) da] HNG: [ma äh ] ma probiert_s mit diaLEKT, al[so ] mit sehr sehr SCHÖnem dialekt, IV1: [mhm,] ((lacht kurz und leise)) HNG: wenn er des net versteht mit HOCHdeutsch, und wenn_s mit HOCHdeutsch und lAngsam net geht, dann hat_s keine zukunft. IV1: okay. HNG: ( 1.19) leider. (1.60)

Leider wurde im Interview nicht nachgefragt, weshalb die Sprachwahl zuallererst auf den „sehr sehr SCHÖne[n] dialekt“ fällt und damit eine rezeptive regiolektale oder dialektale Kompetenz erkundet wird. Es wäre möglich, dass eine solche Kompetenz im Kontakt mit aus Tirol stammenden MitarbeiterInnen als wichtig erachtet wird. Die Interviewte selbst spricht im Interview umgangssprachlich bis standardnah, nicht dialektal und meint bezüglich der im Hotel mit den Gästen verwendeten Varietät: „also GRUNDsätzlich (.) reden wir so hAlb hochdeutsch HALB dialekt

das Siezen völlig unüblich wäre, liegt also schon aus diesem Grund die Dialektverwendung nicht unbedingt nahe. Interessant ist in diesem Fall auch der Vergleich mit den Antworten der Seniorchefin des Hauses. Sie meint zwar ebenfalls, ein Griaß di sei nicht angemessen, das würden die Gäste nicht mögen, dazu sei man zu international (min 01:25), stellt aber auch fest, sie alle hätten immer einen Dialekteinschlag (min 15:30) und würden immer mit ein bisschen dialekt sprechen (min 01:10). In diesem Sinne bejaht sie auch, dass der Dialekt in der Kommunikation mit dem Gast Platz habe (min 19:10).

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((lacht)) aber so dass=s natürlich die gäste verstehn=also EHER hOchdeutsch“ (min 01:34–01:44). 3.4 Tendenzielle Dialektvermeidung Für eine tendenzielle Vermeidung von Dialekt plädiert der Leiter des Tourismusverbandes Neustift. Er sieht in der durchgehenden Verwendung von Dialekt nicht den Ausdruck von sprachlicher Identität, wie er sonst von vielen Interviewten hervorgehoben wird, sondern eine Vorspiegelung von „Einfältigkeit“ und „ländlicher Abgeschiedenheit“: Beispiel 8: „so à la bauerntheater“ TVB Neustift (min 01:06:12–01:07:17) 001 002 003 004 005 006 007 008 009 010 011 012 013 014 015 016 017 018 019 020 021

IV2: hat ma früher mi_m gascht anders GREdet, (.) | als heute, TVJ: des glab i SCHON, (-) also i glab ah mmm (1.27) auch ah (.) von seite der (.) ANbieter, der EINheimischen (0.74) | auch der einheimische hat a gewisse reiseerfahrung GSAmmlt (1.04) und möchte jetzt auch net zum BEStn geben dass er der (2.15) EINförmige oder (0.78) etwas (1.38) | einfältige GASTgeber ist und äh jetzt also irgendwo den DUMMen (1.18) einheimischen spielen so a la BAUerntheater- (1.25) i glab äh des=is auch nimma ZEITgemäß; IV2: ja (.) ja TVJ: do wo_s äh meinetwegn so ISCH, | also es gibt schon (.) FÄLle, wo also da des auch auTHENtisch wirkt, und da: (0.63) vermieter ganz unumwunden darauf POCHT, dass er nie aus_dm tal RAUSgeht, oder aus (1.05) gründen weil=er LÅNDwirtschaft betreut, oder irgendwie aus den gründen wo des an gewissen CHARme versprüht, hh (0.3) aber wo_s dann AUFgesetzt wirkt, (-) dann glaub ich is es sehr KONtraproduktiv; und wird a net erWARtet; IV2: ja; (.) ja;

Der Interviewte spricht in dieser Passage eher langsam und überlegt mit vielen, auch längeren Pausen. Im Kontrast zu anderen Interviews ist es erstaunlich, dass er den Dialekt als Ausdruck von Einfalt und (räumlicher) Beschränktheit bzw. mangelnder Mobilität darstellt und als etwas, das auf der Bühne des Bauerntheaters, aber nicht mehr im Alltag verankert sei. Er selbst spricht im Interview, das über eine Stunde dauert, durchgehend standardnah bis umgangssprachlich, auch wenn die Interviewerin ihre Fragen fallweise stärker dialektal stellt. Er äußert sich insgesamt sehr differenziert und reflektiert und kommt zum Schluss, dass der Dialekt dem Gast nicht zumutbar sei, weil er ihn nicht verstehe (wobei er diesbezüglich

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zwischen Gästen aus Wien und aus Norddeutschland explizit keinen Unterschied macht). TouristInnen würden bereits Umgangssprache oder auch eine dialektale Färbung der Standardsprache (auch von MitarbeiterInnen, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, die Deutsch aber informell vor Ort erworben haben) oftmals schon als Dialekt interpretieren. Zwischen KollegInnen oder auch allgemein im Tal wird Dialekt jedoch – so Äußerungen an anderer Stelle im Interview – sehr wohl verwendet. Dies verdeutlicht, dass der Leiter des TVBs offenbar nicht die Dialektverwendung an sich als etwas, was nur für den Gast „aufgeführt“ würde, ansieht, sondern die etwaige Selbstinszenierung als „ausschließlich dialektsprechend“. Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, dass die Aussagen in den Interviews nicht punktuell interpretierbar sind, sondern der unmittelbare interaktionale Kontext im Interview wie auch Antworten an anderen Stellen einbezogen werden müssen. 3.5 Dialektvermeidung Schließlich gibt es im Datenkorpus auch das klare Votum, Dialekt gar nicht zu verwenden, sondern sich einer (regional „gefärbten“) Standardsprache zu bedienen. Der Juniorchef des oben bereits erwähnten 4-Sterne-Hotels in Seefeld (vgl. Beispiele 6 und 7), argumentiert wie seine Mutter: Man rede im Hotel „nach der schrift“, die Gäste würden das erwarten, weil man ja „net auf da ÅLM“ sei: Beispiel 9: „nach der schrift redn“ H4_J_Seefeld (min 01:45–02:18) 004 005 006 007 008 009 010 011 012 013 014 015 016 017 018 019 020 021 022 023

HKG: ja wir bemühn uns SCHON dass ma (.) in da in: nach der schrift redn,= =also wir sind jetzt net (.) draMAtisch, (1.08) s HOCHdeutsch, IV1: hmh, (-) HKG: aber (1.2) die gäschte SCHÄtzn_s wenn ma uns also (--) oder (.) verSTEHN uns a sunst net so; IV1: okay HKG: wie ma_s gern HÄTTN ((lacht)) IV1: und is des da GRUND warum ma da net griaß di sogt oda, [hot_s do ondare gründe,] HKG: [genau richtig ja, ] mia mia (.) hh mei VÅta hot des a scho a poa mol gsagt, wia sin net auf da ÅLM, (.) und grad bei UNS im viersternehaus äh (.) erwartet er sich dass ma irgendwo a bissl an (1.67) | an: an LEvel hat, IV1: mhm, HKG: i me[cht do]jetzt gor net arrogant WIRkn aba, IV1: [ja, ] HKG: (1.33) dass ma mit ah (.) HOCHdeutsch, (0.6) | mit den gäschn redet. IV1: mhm,

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Es kann angenommen werden, dass sich die Einschränkung, dass das Hochdeutsch „net […] draMAtisch“ sei (d. h. kein ‚reines‘ Standarddeutsch gesprochen würde), auf eine österreichische Standardlautung mit einer gewissen westösterreichischen Prägung bezieht.16 Argumentiert wird mit dem Wunsch des Gastes bzw. der Verständlichkeit, in weiterer Folge aber auch mit dem „gehobenen Level“ eines 4Sterne-Betriebs und dem Wunsch, sich von der Sprachverwendung auf einer Almhütte abzusetzen. Die Argumentation ähnelt damit der des Leiters des Tourismusbüros (Beispiel 8): Es geht um eine rasche Informationsweitergabe und ungehinderte Verständigung, die Markierung oder Inszenierung des Lokalen über die Sprache werde nicht erwartet. Dieser Kontrast zwischen 3-Sterne-Hotels auf der einen Seite und 4- und 5Sterne-Häusern auf der anderen zieht sich durch viele Interviews mit diesen Hotelkategorien. Abweichend davon äußern sich eher Interviewte aus der älteren Generation (vgl. Beispiel 1). Dies passt auch in Berichte der jüngeren Generationen aus anderen Betrieben, dass die Älteren stärker Dialekt verwenden würden (vgl. z. B. eine junge Privatzimmervermieterin aus der Wildschönau (min 42:54–42:13)). 3.6 Vermeidung und Verwendung von Varietäten in der geschriebenen Sprache In der geschriebenen Sprache ist die Verwendung von Varietäten in der Regel nicht dem Zufall überlassen17 und wird möglicherweise noch stärker reflektiert. Die schriftliche Verwendung von Nonstandardvarietäten und auch von Standardvarianten, die in Tirol üblich, aber nicht im gesamten deutschen Sprachraum bzw. in Mittel- und Norddeutschland, wo viele der Gäste beheimatet sind, verbreitet sind, wurde im Datenkorpus ebenfalls erhoben, v. a. im Hinblick auf ihre Verwendung auf Speisekarten und Homepages. Die Antworten lassen sich im Wesentlichen in drei Gruppen einteilen: Die einen verwenden Dialekt und regionale Standardvarianten gerne und in bestimmten Fällen ausschließlich. Sie setzen darauf, dass das, was nicht verstanden wird, auf Nachfrage erklärt werden sollte, und argumentieren damit, dass die entsprechenden Lexeme regionaltypisch sind und auch erlernt werden können/sollten. Auf Speisekarten sind das z. B. Tiroler Knödel vs. Klöße, Gespritzter Apfelsaft vs. Apfelschorle, Für’n kloan Hunger vs. Für Zwischendurch/Snacks18. Die zweite Gruppe plädiert für die parallele Verwendung von stärker überregionalen oder mittel- und norddeutschen Standardvarianten, damit der Gast sich 16 Welche Varietät tatsächlich gesprochen wird, wo im Rahmen eines Dialekt-Standard-Kontinuums sie eingeordnet werden könnte, kann anhand der Interviews nicht beurteilt werden und ist auch nicht Gegenstand des Beitrags. Es lassen sich – wie bereits vorher gezeigt – lediglich aus dem Kontext heraus vorsichtige Annahmen treffen. 17 Eine Ausnahme sind z. B. Schibboleth-Varianten wie beispielsweise heuer, die unwissentlich verwendet werden. Dies betrifft v. a. Variation in der Standardsprache. 18 Das Beispiel stammt vom bereits zitierten Juniorchef eines Wildschönauer 3-Sterne-Hotels (min 26:00). Gliedernde Überschriften von Speisekarten haben wie auch Begrüßungsformeln den Vorteil, durch den Kontext leicht interpretierbar zu sein.

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selbst orientieren kann. Die dritte Gruppe schließlich verwendet ausschließlich andere, aber eben in Tirol ansonsten nicht übliche Varianten (z .B. Brötchen oder auch Brötchenservice), um das ständige Erklären zu vermeiden. Eine umfangreiche Verwendung von Dialekt und regionalen Standardvarietäten auf Homepages wird hingegen von allen eher skeptisch gesehen. Begrüßungsformeln können verwendet werden (z. B. Griaß di, Griaß enk, Grüß Gott, Servus), um aber die Verständlichkeit zu sichern und um die Auffindbarkeit durch Suchmaschinen nicht zu gefährden, wird darüber hinaus ein Abgehen von Standardvarianten nicht befürwortet. 3.7 „Automatisierte“ Varietätenverwendung Die bisherigen Beispiele haben alle eine sehr bewusst gesteuerte und reflektierte Varietätenverwendung gezeigt, auch wenn aus den gleichen Umständen (Varietätenkontakt, der ein Hindernis in der Verständigung darstellt) unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen und mit unterschiedlichem sprachlichem Verhalten reagiert wird. Der folgende Ausschnitt aus einem Interview mit einer 44-jährigen Privatzimmervermieterin aus Seefeld zeigt zwei Varianten von „automatisierter“ Varietätenverwendung: Sie beschreibt, dass sie – ohne es zu wollen – im Kontakt mit dem Gast aus Deutschland „einirutsch[t] und DEUTSCH red mit ihm.“ (Z. 10), d. h. dass sie statt der von ihr angestrebten Umgangssprache standardnah (Deutsch, d. h. Hochdeutsch) spricht. Ihren Mann hingegen bewundere sie für seine Konsequenz, ausschließlich Dialekt mit den Gästen zu sprechen (Z. 24–28), auch wenn sie schildert, dass die Gäste ihn gar nicht verstehen (und dann wohl zu ihr kommen): Beispiel 10: „es passiert ma imma wieder dass i einirutsch“ PZV_M_Seefeld (min 04:15–04:59)19 001 002 003 004 005 006 007 008 009 010 011 012 013

IV1: jetzt hamma an DEUtschen gascht da, PSM: mhm, IV1: also der (--) spricht DEUtsch, (.) und wie passen sie sich passt_du_di denn jetzt an den AN. (---) redest du mit dem jetzt eher diaLEKT? = = oder tuasch_jetzt mit ihm UMgangssprache [reden (.) oder hoch,] PSM: [des_is schwierig; ] also i i proBIER eigentlich umgangs[sprache] zu sprechen, IV2: [ja:, ] PSM: aber es passiert ma imma wieder dass i einirutsch und DEUTSCH red mit [ihm. ] IV2: [mhm–] PSM: un_des MÖCHT i eigentlich aber gar net. IV1: was heißt DEUTSCH für di?

19 Vgl. auch DANNERER / FRANZ / ORTNER (2017: 137–138).

216 014 015 016 017 018 019 020 021 022 023 024 025 026 027 028 029 030 031 032 033 034 035

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ischt_des, = PSM: = hoch[deutsch;] IV1: [hoch ]deutsch. okay [mhm– ] PSM: [ja, also] dass i wIrklich (0.5) nach der SCHRIFT [fast schon.] IV1: [((lacht)) ] PSM: und dann denk i mir; = = !NA?:: des muass jetzt EIgentlich gar [nit sein; ] = IV1: [((lacht))] PSM: = er verSTEHT mi schon. und eben mein mann ist da NO: viel besser, = = weil der spricht !WIR!klich dialekt [mit ihnen.] IV1: [mhm ] PSM: und dann sagn_sie oft– ≪norddeutschen standard imitierend> AH! ich verSTEH sie gar nicht; > und dann (.) ≪:-) > Eben, und des find i eigentlich viel TOLler; > [((lacht))] IV1: [((lacht))] PSM: [≪lachend > aber mir passiert_s OFT > leider dass i mi] IV1: [((lacht)) ] PSM: (.) dass i mi ≪:-) > [ANpass.] > IV1: [mhm ]

Während die Interviewte die Sprachverwendung ihres Mannes „eigentlich viel TOLler“ (Z. 30) findet und abschließend noch einmal bedauernd zusammenfasst „aber mir passiert_s OFT leider dass i mi (…) ANpass.“ (Z. 32–34), lässt sie offen, ob ihr Mann nicht anders kann (d. h. über keine hohe Standardsprachenkompetenz verfügt), und auch, ob er bewusst oder automatisch den Dialekt verwendet. Sie ist jedenfalls nicht die einzige, die von einer „automatisierten“ Varietätenwahl berichtet. Eigene Nicht-Akkommodation, die ebenfalls von manchen geschildert wird, wird allerdings nicht mit einem Automatismus begründet, sondern mit persönlichem Unvermögen, länger in der Standardsprache zu bleiben – zum Ausdruck gebracht wird dies mit unterschiedlichen Metaphern des „Abrutschens“ in den Dialekt. 4 DISKUSSION Insgesamt stellen die Interviewten sich so dar, dass sie in ihrer Varietätenverwendung sehr bewusst vorgehen. Die Beispiele in den Abschnitten 3.1 bis 3.7 lassen sich wie in Abb. 1 zusammenfassen: In der linken Spalte sind die Abstufungen der bewussten Dialektverwendung / Nicht-Verwendung zu finden, wobei die Dialektverwendung jeweils als Wunsch des Gastes und damit als unique selling point (USP) präsentiert wird, darüber hinaus aber auch als Ausdruck der eigenen Identität und gleichzeitig als das Besondere der Region. Je mehr der Dialekt vermieden wird, desto weniger kann mit der Sprache als USP argumentiert werden (daher auch die Abstufung der Grauschattierungen in den äußeren Balken).

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Die rechte Spalte fasst die Beispiele zur „automatischen“ Varietätenverwendung zusammen, die ebenfalls zwischen einer automatischen Verwendung und einer automatischen Nichtverwendung von Dialekt liegen können. Mit Fragezeichen sind die Fälle markiert, die nicht oder nicht eindeutig im Datenkorpus aufgefunden bzw. als solche interpretiert werden konnten.

Abb. 1: Abstufung der bewussten und unbewussten Dialektverwendung

Für die bewusste wie für die unbewusste Dialektverwendung gilt, dass es aufgrund der Datenbasis nur Aussagen sind über die Selbstinszenierung als bewusst bzw. unbewusst/automatisch entscheidendeR SprecherIn, nicht darüber, ob die Wahl tatsächlich auch in jeder Kommunikationssituation so bewusst getroffen wird. Dies ist unabhängig davon, dass die Art, wie in den Interviews über den Varietätengebrauch gesprochen wird, teilweise eine hohe Bewusstheit für Varietätendifferenzen und ein großes Interesse für diese Frage erkennen lässt. Im Hinblick auf die eingangs aufgestellten vier Hypothesen ergeben sich folgende Ergebnisse: Insgesamt bestätigen die Angaben in den Interviews, dass Varietäten tatsächlich nicht nur im Alltag abseits des Tourismus Bedeutung haben, sondern dass sie auch in der Interaktion mit TouristInnen, aber auch mit den MitarbeiterInnen im Tourismus verwendet werden (H1). In der Darstellung der Interviewten ist die räumliche Bezugnahme und die Kontrastierung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit immer wieder im Mittelpunkt: „da bei uns“ wird mit der Dialektverwendung gleichgesetzt, die die varietäre bzw. sprachliche Vielfalt, die auch im ländlichen Raum anzutreffen ist, ausblendet. Von der überwiegenden Mehrheit der Befragten wird das Verstehen in der Kommunikation als so wichtig erachtet, dass bewusste oder auch automatisierte Akkommodation einsetzt, wenn sie sich mit TouristInnen unterhalten, von denen sie annehmen, dass sie sie nicht (leicht) verstehen (H2). Hinsichtlich der Frage, wer sie nicht versteht, gehen allerdings die Meinungen weit auseinander: Von manchen

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werden nur SprecherInnen aus Mittel- und Norddeutschland dazu gerechnet und z. B. Gäste aus Österreich, Bayern und der Schweiz ausgenommen. Andere wiederum betonen, dass man auch mit TouristInnen aus Wien in die Standardsprache wechseln muss. Der Grad der Akkommodation scheint jedenfalls spezifisch zugeschnitten zu werden, sodass der jeweilige Gast den Gastgeber in ausreichendem Maß versteht. Die Interviewten schildern sich als erfahren und varietätenkompetent, um im nötigen Ausmaß variieren zu können. Als Pendant zum „tourist gaze“ (URRY / LARSEN 2011) und dem „tourist ear“ (DANNERER 2021) könnte man die grundsätzliche Haltung als „touree speak“ bezeichnen – eine Bemühung, möglichst viel des eigenen Dialekts beizubehalten, um „Exotik“ zu erzeugen, jedoch den Hörer nicht völlig zu überfordern.20 Im Schriftlichen (Homepage, Speisekarte) wird der Dialekt nicht verwendet oder auf einige saliente Phraseologismen reduziert, die kommodifizierbar scheinen, ohne die Verständlichkeit zu gefährden (Grußformeln). Dort, wo die Akkommodation tatsächlich zu einer individuellen Abstimmung auf die TouristInnen und ihre Hörgewohnheiten und Möglichkeiten des Verstehens führt, soll hier vorgeschlagen werden, dieses Register analog zum „Motherese“ als „Toureese“ zu bezeichnen. Obwohl der „exotische Reiz“ des Nichtverstehens (H3) in den Interviews mehrfach thematisiert wurde, ist Hypothese 3 dennoch differenziert zu beurteilen, zumal dieser Effekt überwiegend im Dienstleistungsbereich, in der Privatzimmervermietung, der einfachen Gastronomie bzw. den 3-Sterne-Hotels auftritt. Gehobene Häuser wie auch Tourismusbüros sehen sich in der Pflicht, auf Authentifizierung über Sprache weitgehend zu verzichten, allerdings thematisieren auch sie, dass es sich in ihrer Standardverwendung um ein „dialektal gefärbtes Hochdeutsch“ handeln würde. Begründet wird sprachliche Akkommodation wie auch Nicht-Akkommodation mit dem Wunsch des Gastes, dem man sich unterordnet und dessen Bedürfnissen man erfüllen möchte – es scheint also eine bestimmte Hörerwartung vorzuliegen – „tourist ear“ ist zumindest teilweise auf Dialektrezeption eingestellt. Die Nicht-Akkommodation wird daneben aber auch mit dem Selbstverständnis als TirolerIn begründet und damit, dass der Gast ruhig merken solle, wo er sich befindet. In diesem Kontext wird es von der überwiegenden Mehrheit der Befragten, wenn auch nicht von allen, als Teil professioneller Sprachkompetenz gesehen, zwischen Varietäten problemlos wechseln zu können. Auch wenn im Korpus sehr apodiktische Formulierungen zur Bedeutung des Tiroler Dialekts für die Tiroler Identität zu finden sind,21 fühlen sich die meisten Interviewten veranlasst zu betonen, dass sie natürlich dem Gast sprachlich entgegenkommen. Das Nicht-Wechseln vom Dialekt in die Standardsprache wird teilweise aber auch eher bei anderen beobachtet

20 Dass dahinter nicht nur der Wunsch der Gäste, sondern auch der eigene Wunsch stehen könnte, die „eigene Sprache“ nutzen zu können bzw. sich nicht anstrengen zu müssen, ist relativ naheliegend. 21 Auch sie stützen die Annahme, dass die referierten Erwartungen von „tourist ear“ den eigenen Wunschvorstellungen entgegenkommen.

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und als selbstbewusst bzw. als Anzeichen goutiert, dass man nicht die eigene Identität verleugne. Die Situation von MitarbeiterInnen, die aus anderen Regionen Österreichs oder des deutschen Sprachraums kommen und entweder eine andere Varietät des Deutschen oder eine andere Erstsprache sprechen, kollidiert mit dem Bedürfnis der Kommodifizierung durch Tiroler Dialekt (H4). Andere regionale Varietäten wie auch unvollkommene Deutschkenntnisse (oder auch fehlende Kenntnisse in anderen Sprachen) werden häufig kritisiert, allerdings wird in den Interviews auch betont, dass der Arbeitskräftemangel im Tourismus hier keinen Spielraum lasse und man im Zweifelsfall MitarbeiterInnen mit fachlicher Kompetenz denen mit sprachlicher Kompetenz vorziehe. Fleiß und Zuverlässigkeit der MitarbeiterInnen aus Ungarn oder Kroatien werden immer wieder betont. Das Beispiel aus der gehobenen Hotellerie, wo Dialektverwendung mit dem Gast nicht üblich ist, MitarbeiterInnen zunächst aber trotzdem einmal mit „sehr schönem“ Dialekt angesprochen werden, lässt sich unterschiedlich interpretieren: Entweder als Versuch herauszufinden, ob Verständigung mit den lokalen MitarbeiterInnen ohne weiteres möglich sein wird, oder als Versuch, die MitarbeiterInnen nicht generell auszuschließen und ihnen nicht vorschnell mangelnde rezeptive Varietätenkompetenz zu unterstellen, nur weil sie selbst eine andere Varietät sprechen. Insgesamt entsteht allerdings sehr deutlich eine Hierarchie „idealer“ MitarbeiterInnen entlang von Sprachen- und Varietätenkompetenzen: Am besten wären Tiroler MitarbeiterInnen (unterstellend, dass sie Deutsch als Erstsprache und auch den lokalen Dialekt sprechen), danach andere MitarbeiterInnen mit Deutsch als Erstsprache und danach andere – noch einmal abgestuft nach ihren Kompetenzen im Deutschen und ggf. in weiteren Sprachen, die im Tiroler Tourismus von Bedeutung sind. Es wird also auch über die MitarbeiterInnen lokale Zugehörigkeit inszeniert (vgl. u. a. DUCHÊNE / PILLER 2011: 136, 139; PILLER 2012; DANNERER / FRANZ / ORTNER 2017: 119). 5 FAZIT Es ist deutlich geworden, dass der Tiroler Dialekt aus der Sicht von Tiroler TourismusanbieterInnen insgesamt eine wichtige Rolle bei der Kommunikation mit dem Gast, der Authentifizierung der Region, aber auch in ihrer Kommodifizierung spielt. Dies gilt v. a. in den „einfacheren“ Betrieben und den Dienstleistungsunternehmen, nicht aber in Tourismusbüros oder der gehobenen Hotellerie. Zwischen den drei Orten sind trotz deutlicher Unterschiede in den Schwerpunkten der Tourismuskonzepte keine erkennbaren Unterschiede aufgetreten, zwischen den drei Generationen hingegen sind tendenzielle Unterschiede bemerkbar: Die ältere Generation scheint dem Gast gegenüber noch stärker den Dialekt zu verwenden, die mittlere Generation argumentiert in den Interviews besonders stark in Richtung Dialekt als Ausdrucksmittel der eigenen regionalen Identität, während die jüngere Generation tendenziell eine weniger starke emotionale Koppelung zwischen Varietät und regionaler Identität zum Ausdruck bringt.

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Das Bedürfnis, den eigenen Dialekt im Gespräch mit den TouristInnen wie auch sonst im Alltag zu verwenden, sowie das Gefühl, die Standardsprache ohnehin nicht ausreichend gut zu beherrschen, wird in vielen Interviews argumentativ gekoppelt mit dem „tourist ear“, der (vermeintlichen) Hörerwartung der TouristInnen, die den Dialekt zu einem USP macht – weniger weil TouristInnen wegen des Dialekts an sich nach Tirol kommen, sondern vielmehr, weil Dialekt die Region authentifizieren und Tiroler Identität markieren soll und somit einen Aufenthalt in der „ursprünglichen“ Gegend vielversprechend erscheint. Die Interviewten präsentieren Tirol dabei durchgehend als monovarietär, indem sie explizit oder auch implizit davon ausgehen, dass alle „Ansässigen“ in ihrem (privaten) Alltag selbstverständlich Tiroler Dialekt sprechen würden22 – ein Umstand, der schon lange nicht mehr zutreffend ist (wenn er es überhaupt je war). Sowohl Identität als auch Authentizität werden in den Interviews als raumgebundene feste Größen wahrgenommen, nicht als interaktionales Konstrukt. Diese Gleichsetzung geht bis hin zur Forderung, dass die Gäste die Varietät der Region tolerieren „müssen“ und dass man die eigene Varietät nicht aufgeben dürfe. Diese Einstellung deutet allerdings nicht auf eine bewusste Entscheidung für die Dialektverwendung im Hinblick auf die Kommodifizierung der Varietät hin (d. h. auf die Nutzung von Dialekt als USP), sondern ist eher Ausdruck einer traditionalistisch-regionalen Überzeugung, die Dialekt unabhängig vom touristischen Kontext als Ausdruck der eigenen, räumlich definierten Identität „bewahren“ möchte. Eine durchgängige Verwendung von Dialekt wird allerdings in kaum einem Interview geschildert, denn die Interviewten sind der Meinung, dass dieser ohne ein Shifting in Richtung Standardvarietät für TouristInnen nicht zumutbar scheint. Überdies ist er auch mit MitarbeiterInnen, die nicht aus der Region kommen und/oder Deutsch nicht als Erstsprache sprechen, häufig nicht verwendbar. Der insgesamt durch den Tourismus entstehende Varietätenkontakt wird z. T. als Bedrohung für den Dialekt wahrgenommen, die durch den Kontakt erhöhte Varietätenkompetenz wird allerdings auch als professionelle Kompetenz betont. LITERATUR AMMON, ULRICH / MARCELLA COSTA (Hg.) (2018): Sprachwahl im Tourismus – mit Schwerpunkt Europa. Berlin/Boston: De Gruyter. AMOAMO, MARIA (2011): Tourism and hybridity. Re-visiting Bhabha’s third space. In: Annals of Tourism Research 38(4), 1254–1273. APPADURAI, ARJUN (1996): Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis: University of Minnesota Press. AUER, PETER (2004): Sprache, Grenze, Raum. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 23, 149–179. BHABHA, HOMI K. (1994): The location of culture. London: Routledge. BLOMMAERT, JAN / PIIA VARIS (2011): Enough is enough. The heuristics of authenticity in Superdiversity. London: King’s College.

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WAHRNEHMUNGEN UND EINSTELLUNGEN ÄLTERER UNGARNDEUTSCHER ZUR DEUTSCHEN SPRACHE Elisabeth Knipf-Komlósi / Márta Müller ABSTRACT Spracheinstellungserhebungen haben in der Erforschung von Sprachminderheiten in Mittelosteuropa – im Gegensatz zu Forschungen in den deutschsprachigen Ländern – noch keine lange Tradition. Der Erkenntnisgewinn solcher Forschung ist dennoch groß, denn er erlaubt uns einen Einblick in jene Reflexionen, wie Sprecher/innen der deutschen Minderheit (hier: in Ungarn) zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der deutschen Sprache (ihr Sprachgebrauch, ihre Sprachwahl, den Sprachverlust im Land und bei den einzelnen Minderheitenangehörigen) denken, diese Sprache wahrnehmen und auch beurteilen. Der vorliegende Beitrag behandelt die Wahrnehmungsäußerungen der erlebten individuellen Zweisprachigkeit der Sprecher/innen der deutschen Minderheit und fokussiert auf die affektiven und konativen Dimensionen von Einstellungen der älteren Generation gegenüber den von ihnen bekannten nationalen und regionalen Varietäten des Deutschen und ihrer eigenen deutschen Sprachvarietät. 1 EINLEITUNG: FRAGESTELLUNGEN UND ZIELSETZUNG Im Zuge der Erforschung des Deutschen als Minderheitensprache kam es auch in Ungarn – durch Einfluss der internationalen Forschungstradition seit den 1990erJahren – zu einer Perspektivenerweiterung in diesem Bereich: Die Forschungsfragen zur deutschen Varietät des in Ungarn gesprochenen Deutsch als Minderheitensprache bezogen sich nicht mehr auf die objektiven Sprachdaten erwachsener (vor allem älterer) Sprecher/innen der Ungarndeutschen, sondern man richtete das Augenmerk allmählich auch auf die Erfassung von subjektiven Sprachdaten der Sprecher/innen. Zur Erhebung subjektiver Sprachdaten konnte es jedoch erst viele Jahre nach der Wende der 1990er-Jahre kommen, denn in der Zeit davor war man als Angehöriger dieser Minderheit äußerst vorsichtig und zurückhaltend in der Beantwortung derartiger Fragen. Angesichts des soziopolitischen Umfelds dieser Minderheit bis Anfang der 1970er-Jahre wurden nämlich in den primären Sozialisationsprozessen im engen Familienkreis die deutschen Ortsdialekte als Kommunikationsmittel teilweise nur noch von der Großelterngeneration gesprochen, doch an die jungen Generationen nicht mehr weitertradiert. Im engen Familienkreis wurde die Landessprache zur funktional wichtigeren Sprache. Das hatte zur Folge, dass

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die Ortsdialekte – eigentlich bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts, doch insbesondere von den 1970er-Jahren an – im Alltagsleben (Einkauf, Arztbesuch, Behördengang) und selbst im Freundes- und Bekanntenkreis ihre kommunikativen und damit zum Großteil auch ihre sozialen Funktionen im voranschreitenden Assimilationsprozess der Minderheit eingebüßt haben. Diese Tatsache ist u. a. auch dem Umstand geschuldet, dass die deutsche Sprache in Ungarn (nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung der Ungarndeutschen) lange Zeit stigmatisiert und in der Mehrheitsbevölkerung unbeliebt war. So erwies sich die Landessprache als das wichtigste Kommunikationsmittel im sozialen Leben dieser Minderheit, gleichzeitig galt sie auch als wichtigster Garant für den sozialen Aufstieg in der Gesellschaft Ungarns. Erst mit der allmählichen Zulassung des Deutschunterrichts als Fremdsprache seit dem Ende der 1960er-, doch eher Anfang der 1970er-Jahre veränderte sich allmählich die ausgesprochen negative Sicht auf die deutsche Sprache und somit auch auf die deutsche Minderheit in Ungarn. Der Umstand, dass die staatlich anerkannten Minderheiten in Ungarn nach der Wende die Möglichkeit hatten, in ihren Wohnorten Minderheitenselbstverwaltungen ins Leben zu rufen und somit Pflege, Unterricht und die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Sprache und Kultur zu gewährleisten, bedeutete einen gewaltigen Fortschritt in ihrem Leben. Damit verbunden entwickelte sich allmählich auch das Selbstbewusstsein der Minderheitsangehörigen: Nun brachte man den Mut auf, die eigene wie auch die durch andere wahrgenommene Identität und damit verbundene Reflexionen zum Minderheitendasein anzusprechen, sie sogar offen zu thematisieren, sich zum eigenen Sprachrepertoire (zu den beherrschten und verwendeten Sprachen: Muttersprache, Landessprache) sowie zum alltäglichen Sprachgebrauch in der Familie und in der Öffentlichkeit offen zu äußern sowie diese sogar zu beurteilen. In diesem Beitrag soll im Rahmen einer Pilotstudie1 zur Spracheinstellung unter deutschstämmigen Gewährspersonen (= GP) in Ungarn exemplarisch gezeigt werden, welcher Erkenntnisgewinn aus den subjektiven Meinungsäußerungen und Wahrnehmungen erwachsener Minderheitsangehöriger zu ihrer Situierung als Ungarndeutsche – rückblickend und gegenwärtig – abzuleiten ist. Bei der Auswertung der Einstellungserhebung wurden auch jene ergänzenden Bemerkungen und Reflexionen miteinbezogen, die die Proband/inn/en ihren Antworten spontan hinzufügten, indem sie die Veränderungen ihrer eigenen Sicht (in der Vergangenheit vs. Gegenwart) selbstreflexiv betrachteten und kommentierten. Unser Beitrag gliedert sich in folgende thematische Einheiten: Nach der Einleitung folgt ein kurzer Überblick zum sprachlichen und gesellschaftspolitischen Hintergrund der Gewährspersonen sowie zur theoretischen Grundlegung der vorliegenden Studie samt methodischer Vorgehensweise. Im Hauptteil wird die Datengrundlage der Erhebung erläutert, zuletzt werden die ausgewählten Schwerpunkte der Spracheinstellungserhebung diskutiert. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Ausblick auf weitere Desiderate dieser Forschung.

1

Eine Studie mithilfe einer kombinierten Methode wurde bei der deutschen Minderheit noch nicht durchgeführt.

Wahrnehmungen und Einstellungen älterer Ungarndeutscher zur deutschen Sprache

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2 ZUM SPRACHLICHEN UND GESELLSCHAFTSPOLITISCHEN HINTERGRUND DER DEUTSCHEN MINDERHEIT IN DER GEGENWART Die deutsche Minderheit ist in Ungarn die zweitgrößte staatlich anerkannte nationale Minderheit neben zwölf weiteren anerkannten Minderheitengruppen.2 Die Existenz einer Minderheitensprache ist immer in ein Gefüge von oft mehreren Sprachen, aber mindestens einer, der überdachenden Landessprache, eingebettet. Beim Erhalt sowie bei den Veränderungen und Entwicklungen der Minderheitensprache spielen über die generationellen, geografischen und wirtschaftlichen Faktoren hinaus auch noch weitere Umstände eine Rolle. Bei der Erfassung der Minderheitensprache sind teils die jeweilige Sprachenpolitik des Landes, die juristisch garantierten Bildungsmöglichkeiten in der betreffenden Sprache, aber auch die selbst initiierten Aktivitäten und die Intensität der persönlichen wie offiziellen Kontakte der Sprecher/innen (das sprachliche, soziale, kulturelle, biografische, berufliche etc. Umfeld) zum Gebiet der Bezugssprache und deren Gemeinschaften und Individuen ausschlaggebend. Die genannten Faktoren beeinflussen somit in hohem Maße die Gestaltung des Sprachgebrauchs in der Minderheitensprache. Bezogen auf die deutsche Minderheit in Ungarn können seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – um nur einige wichtige Umstände hervorzuheben – schwindende Sprachgebrauchsdomänen, ein generationsbedingter zunehmender Funktionsverlust der ursprünglichen Ortsdialekte sowie das Fehlen einer zweisprachigen familiären Spracherwerbssozialisation bei bereits drei bis vier Generationen der Ungarndeutschen als relevante Faktoren in der Veränderung der Sprachsituation dieser Minderheit konstatiert werden. So nimmt es nicht wunder, dass es zu einer grundlegenden Umstrukturierung der Sprachkompetenzdominanz gekommen ist: Die Landessprache ist – selbst im privaten Bereich – das funktional wichtigste Kommunikationsmittel bei allen Generationen. Doch bei der mittleren und jüngeren Generation wächst die Erkenntnis des ökonomischen Vorteils solider Deutschkenntnisse, weshalb bei diesen Generationen das eindeutige Bestreben nach einer ungarisch-deutschen Zweisprachigkeit (z. B. durch bessere Aussichten auf dem europäischen Arbeitsmarkt) sichtbar wird. In soziolinguistischen Untersuchungen zum Sprachgebrauch, zu Varietäten und Spracheinstellungen wird Sprache nicht nur in ihrer Funktion als Kommunikationsmittel, sondern – wie auch in diesem Aufsatz – als eines der wichtigsten symbolischen Merkmale des sozialen Lebens, als wesentlicher Ausdruck von Identität und Zugehörigkeit zu größeren und kleineren Gemeinschaften (hier: der Dorfgemeinschaft, der Gemeinschaft der Ungarndeutschen, der Ungarn oder eben der Deutschen)3 betrachtet. Diese Gruppenzugehörigkeit wird in der Gegenwart durch jenen 2

3

Vgl. die Zensusdaten der deutschen Minderheit 2011: Gesamtbevölkerung Ungarns: 9.937.628, davon mit Muttersprache Deutsch: 38.248, deutsche Nationalität: 131.951; 95.661 Personen gaben an, die deutsche Sprache im Familien- und Freundeskreis (gelegentlich) zu gebrauchen (vgl. KSH [Ungarisches Statistisches Amt] 2011:16). Der nächste Zensus findet 2021 statt. Im Falle der Ungarndeutschen scheint dies eine relevante Frage zu sein: Die in den südlichen, mehrheitlich in kleinen Ortschaften lebenden Minderheitangehörigen und die in einer urbanen

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soziokulturellen Kontext mitbestimmt und unterstützt, der durch die nach der Wende ins Leben gerufenen Minderheiten-Selbstverwaltungen besonders im Kreis der deutschen Minderheit zum Vorschein gekommen ist. Die lokalen Selbstverwaltungen in den einzelnen Regionen4 üben in allen Generationen aktive traditionspflegende und kulturelle Tätigkeiten aus, die im sozialen Leben dieser Minderheit eine wichtige Rolle einnehmen. Gleichzeitig sind auch der Ausbau und das Erstarken des Minderheitenschulwesens (vgl. dazu KNIPF-KOMLÓSI / MÜLLER 2019b: 483–500) der deutschen Minderheit vom Kindergarten bis zum Hochschulwesen wichtige Meilensteine, die maßgebend zum Selbstbewusstsein und zur Partizipation der Minderheitenangehörigen in der Öffentlichkeit beigetragen haben5. Die in den 1970er- und 1980er-Jahren durchgeführten Erhebungen unter den Angehörigen der deutschen Minderheit in Ungarn beschränkten sich überwiegend auf die Dokumentation und das Registrieren der vielfaltigen Ortsdialekte, wobei in den Erzählungen und Interviews der Gewährspersonen subjektive Meinungsäußerungen offensichtlich gemieden wurden6. Erfreulicherweise werden in der Gegenwart jedoch auch persönliche Betrachtungsweisen, subjektive Meinungen, die gesammelten Wahrnehmungen und Beurteilungen zu früheren Tabuthemen wie Muttersprache, Stigmatisierung des deutschen Sprachgebrauchs, Sprachwahl, allmählicher Sprachverlust etc. offen angesprochen. Angesichts der Thematisierung dieser früheren Tabuthemen erhalten diese Äußerungen eine wichtige Bedeutung, denn „sprachreflexive, normenpräskriptive Äußerungen geben natürlich nicht die objektiven sprachlichen Gegebenheiten wieder, sondern deren zeitgenössische Konzeptualisierungen, die den Sprachgebrauch regelten und somit Einfluss auf den Sprachwandel auf bestimmten Ebenen haben“ (SCHARLOTH 2005: 120). Zu erwähnen ist auch, dass die deutsche Sprache in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten im ungarischen Bildungs-, Medien-, und Fremdenverkehrssektor einen beachtlichen Prestigezuwachs erfahren hat und Deutsch nach Englisch in der Fremdsprachwahl einen noblen zweiten Platz einnimmt, was v. a. auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführen ist. Große und mittelständische Unternehmen und Niederlassungen von Konzernen aus deutschsprachigen Staaten nehmen im Wirtschaftssektor Ungarns eine maßgebliche Rolle ein7. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ungarn und den deutschsprachigen Ländern haben sich insbesondere in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten außerordentlich intensiv und dynamisch

4 5

6 7

Umgebung in den nördlichen Regionen (Agglomerationszentren Budapest, Győr, Sopron) lebenden Ungarndeutschen zeigen unterschiedliche Wahrnehmungen. Z. Z. sind bei der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen 400 Selbstverwaltungen in den einzelnen Regionen, Städten und Dörfern Ungarns registriert und vor Ort tätig (DOBOS 2020: 281). Seit 2018 gibt es im ungarischen Parlament einen Abgeordneten der Ungarndeutschen. Von den 13 historischen Minderheiten Ungarns konnte nur die Landesselbstverwaltung der Deutschen ausreichend Stimmen für ein gültiges Mandat sammeln (vgl. [Webseite des Büros für Wahlen und Volksentscheide in Ungarn]; Stand: 28. 01.2021). Vgl. dazu detaillierter KNIPF-KOMLÓSI / MÜLLER 2019a: 533–540; KNIPF-KOMLÓSI / MÜLLER 2019b: 483–500; KNIPF-KOMLÓSI / MÜLLER 2018: 51–67. Es geht um große Konzerne und Firmen vor allem aus der Automobilindustrie (Audi, Mercedes, Knorr-Bremse, Bosch, Siemens etc.).

Wahrnehmungen und Einstellungen älterer Ungarndeutscher zur deutschen Sprache

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entwickelt. Die Deutsch-Ungarische Industrie- und Handelskammer (DUIHK) in Budapest ist Interessensvertreter für die enge Kooperation von 900 deutschen und ungarischen Unternehmen. Minderheitensprachen können aus mehreren Dimensionen8 betrachtet werden (vgl. FÖLDES 2005: 30–32): So können sie in der Sprachforschung als Musterbeispiel für den Sprachwandel in einer spezifischen Situation genutzt werden, sie gelten in soziolinguistischen Forschungen als Ort der dynamischen Veränderungen im Sprachgebrauch und in der Sprachwahl. Für eine umfangreiche Darstellung der deutschen Minderheitensprache in Ungarn unserer Tage müssen über die objektiven Daten hinaus auch subjektive Daten der Sprechergemeinschaft, d. h. der komplexe Hintergrund sowie die Bedingungen der Sprachverhaltensweisen, Einstellungen, Meinungen und Sichtweisen der Sprecher/innen erforscht werden, um einen aktuellen Überblick zu erhalten. Der Fokus unserer Untersuchung richtet sich teils auf die noch gesprochenen deutschen Varietäten (vgl. NÉMETH 2010: 189–193), aber auch auf das Verhältnis zum deutschen Sprachgebiet und seinen Sprecher/innen. Außerdem wurden Fragen zu Erwartungen und Zukunftsperspektiven der Minderheit bzgl. des Deutschen gestellt. Diese Überlegungen veranlassten uns zur Durchführung der hier vorgestellten Studie, von der wir in einem ersten Anlauf interessante Erkenntnisse erwarten. 3 THEORETISCHE GRUNDLAGEN DER PILOTSTUDIE Innerhalb der quantitativ-inhaltlichen Dimension unseres Fragebogens haben wir auch sozio-demographische Daten erhoben, um sprachbiographische Informationen zu den Gewährspersonen zu gewinnen. Unsere Methodentriangulation setzt sich zusammen aus einem quantitativ auswertbaren (geschlossenen) Fragebogen, aus aufgrund der darin enthaltenen offenen Fragen qualitativen Daten und aus den zusätzlich geführten sprachbiographischen Interviews. Zum Zweck der Durchführung unserer Pilotstudie haben wir uns für den Ansatz der diskursiven Spracheinstellungsforschung (CUONZ 2014) entschieden, da dieser Ansatz eine Reihe von Elementen enthält, die in unserer Erhebung auch einen wichtigen Platz erhalten. In diesem Ansatz geht es um spontane Spracheinstellungsäußerungen von Sprecher/inne/n in geschriebener und gesprochener Form, wie sie auch in unseren Interviews geäußert wurden. Der Begriff wird beschrieben wie folgt: „Spracheinstellungsäußerungen können wahlweise als evaluative metasprachliche Äußerungen oder Meinungen zu Sprachen verstanden werden“ (CUONZ 2014: 34). Wir haben selbst die Erfahrung gemacht, dass metasprachliche Äußerungen in freien Gesprächen häufiger, spontaner und auch offener formuliert werden als in Fragebogenerhebungen. Zudem ist auch ein wichtiges Moment, dass diese metasprachlichen und evaluativen Meinungen immer begleitet sind von para- und 8

Mehrdimensionalität bezieht sich hier einerseits auf die Diglossie (Kompetenz im Dialekt und der wie auch immer gearteten deutschen Umgangssprache/Hochsprache), andererseits darauf, dass die Sprecher/innen zweisprachig sind (mit ungarischer und deutscher Sprachkompetenz).

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nonverbalen sprachlichen Mitteln (vgl. CUONZ 2014: 34), nachdem die Frage nach der Muttersprache und das vielleicht auch wandelbare Verhältnis zu ihr eine äußerst persönliche ist. Es handelt sich wie gesagt um Fragen, die man vor 30 bis 40 Jahren nicht hätte stellen können, und selbst wenn, hätte man darauf sicher keine Antwort erhalten. Wir fassen unsere Erhebung als Teil eines auch von ungarndeutschen Sprecher/inne/n oft geführten Diskurses bezüglich ihrer deutschen Varietät auf. Im Zuge mehrerer empirischer Erhebungen haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Sprecher/innen heutzutage bereit sind, dieses Thema in einem Gespräch weiterzuführen und uns Explorator/inn/en ihre dabei spontan entstandenen Gedanken und Meinungen mitzuteilen. In diesem Kontext kamen häufig wichtige Bemerkungen zu den Lebenssituationen von Gewährspersonen zum Vorschein. Diese Bemerkungen wurden inhaltsanalytisch ausgewertet und den entsprechenden FrageAntwort-Rubriken zugeordnet, als Ergänzung zu diesen und als besseres Verstehen ihrer Antworten. Das verlangsamte zwar die Auswertung der Fragebögen erheblich, doch waren diese „Gespräche“ durchaus eine Bereicherung, mithilfe deren zudem einige Antworten besser gedeutet werden konnten. Bezüglich der Spracheinstellungskomponenten konzentrierten wir uns bei der älteren Generation auf das Abfragen von affektiven und konativen Komponenten. Die Ausklammerung der kognitiven Komponente im vorliegenden Beitrag ist damit zu erklären, dass Daten zum persönlichen und beruflichen Werdegang (Bildungswege, die politisch bedingte sozial-kulturelle Isolation) der älteren Generation durch die damals gegebenen Umstände mit den Biografien der mittleren und jüngeren Generation nur schwer vergleichbar sind. Aus diesem Grund antworten ältere GPen auf Fragen mit kognitiven Komponenten oft ungern und zögerlich. 4 ANLAGE DER DATENERHEBUNG 4.1 Erhebungsorte, Proband/inn/en, Erhebungsinstrument Die Erhebung, die im Jahr 2019 durchgeführt wurde, summiert die Einstellungsdaten älterer ungarndeutscher Sprecher/innen aus drei Ortschaften, die von HUTTERER (1963) als ostmittelbairische Siedlungen beschrieben und eingeordnet wurden: in Wetschesch/Vecsés, Werischwar/Pilisvörösvár in der Nähe von Budapest und in Ödenburg/Sopron an der österreichisch-ungarischen Grenze (auf Abb. 1 durch graue Kreise gekennzeichnet). Als GPen wurden in erster Linie Mitglieder der lokalen deutschen Stammtische und Chöre sowie Heimatvereine ausgewählt. Sie wurden ersucht, ihre Ansichten bezüglich Sprach- und Sprechereinstellungen mitzuteilen (in Form von direkten Fragebogenerhebungen, insgesamt 26 Fragen).9 73 % der 124 GPen waren weiblichen, 27 % männlichen Geschlechts. 9

Eine Auswahl mittels der Volkszählungsdaten und der Wahlregister der deutschen Minderheit ist angesichts der Anonymität der Befragten bzw. der Wähler nicht möglich, auch das Telefonbuch

Wahrnehmungen und Einstellungen älterer Ungarndeutscher zur deutschen Sprache

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Abb. 1: Erhebungsorte (von Westen nach Osten): Ödenburg/Sopron, Werischwar/Pilis-vörösvár, Wetschesch/Vecsés

Durch die bewusste Auswahl der Erhebungsorte konnte erreicht werden, dass auch der Siedlungstyp – die Hälfte der GP ist wohnhaft in einem Dorf, die andere Hälfte in einer Stadt – Berücksichtigung fand. Das Alter der GPen lag bei allen Beteiligten über 60 Jahre, die älteste Person unter ihnen war 92 Jahre alt. Hinsichtlich der sozialen Stratifikation ist die überwiegende Mehrheit der GPen vor dem Ruhestand schriftfernen Berufen10 nachgegangen. Spracheinstellungen involvieren laiensprachliches Wissen über die situativ-pragmatischen Umstände, die das Sprachverhalten steuern (LENZ 2003: 236), ferner positive und negative Meinungen und Urteile über Sprachen und Varietäten sowie Verhaltensintentionen, die sich aus diesen ergeben (SCHOEL / ECK / ROESSEL / STAHLBERG 2012) und auch Wissen über SprecherInnen und Sprachstrukturen.

bietet kein eindeutiges Bild über die ethnische Zusammensetzung einer Siedlung. Die von den Trägern teils erzwungene oder zumindest in bestimmten Berufen mit Nachdruck erwartete Madjarisierung der deutschen Familiennamen sowie die Ablegung deutscher Familiennamen durch Eheschließungen führten dazu, dass gegenwärtig viele Deutschstämmige heute einen ungarischen Familiennamen tragen (zu den historischen und rezenten Aspekten der Familiennamenänderungen in Ungarn vgl. die Beiträge von JUHÁSZ 2007: 164–175; MAITZ / FARKAS 2008: 163–196 sowie die Bibliographie von FARKAS 2009: 397–404). Deshalb entschlossen wir uns, Stammtisch- und Vereinsmitglieder zu bitten, an der Erhebung freiwillig teilzunehmen. Bei der Vorbereitung der direkten Erhebung wurde ausdrücklich darum gebeten, den Fragebogen nur dann auszufüllen, wenn man sich der deutschen Minderheit zugehörig fühlt. Ein wesentlicher Aspekt bei der Auswahl der GPen war also nicht die a priori-Annahme, sie würden ein positives Verhältnis zur deutschen Sprache pflegen, sondern die Selbstdeklaration, dass sie sich selbst als Bürger/innen mit deutscher Herkunft und Identität ansehen. 10 Viele der Befragten arbeiteten in ihrem aktiven Berufsleben als Handwerker oder als (Fabrik-) Arbeiter/innen.

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Spracheinstellungen werden im Laufe des Lebens in primären und sekundären Sozialisationsprozessen erworben, gesammelt und weitergegeben. Deshalb hängen die (objektsprachliche) Verwendung von Sprachen und Varietäten, die metasprachlichen Sprachideologie- und Sprachnormdiskurse sowie Sprach- und Sprechereinstellungen eng miteinander zusammen, ja, sie bedingen einander sogar. Die theoretischen und konzeptuellen Grundlagen der Einstellungsforschung wie auch die breitgefächerten Erklärungsgrundlagen blicken auf eine reiche Tradition zurück, auf die wir hier nicht im Detail eingehen können. Wir betrachten Einstellungen als kognitive Gebilde mit einer komplexen internen Struktur, d. h. als Gesamtbewertungen eines Einstellungsobjektes, die sich aus kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Informationen ableiten (HADDOCK / MAIO 2014: 200). Am Beginn unserer Fragebogenerhebung wurde der Untersuchungsgegenstand, also die Einstellung der Proband/inn/en zur deutschen Sprache und zu den Varietäten des Deutschen, offengelegt, d. h. die Proband/inn/en wussten genau, zu welchem Thema sie befragt werden. Der Fragebogen bestand aus 34 geschlossenen und offenen Fragen, die sich auf Gefühle, Meinungen und auf die daraus resultierenden (intendierten) Handlungen im Zusammenhang mit den Einstellungsobjekten (deutsche Sprache und ihre Sprecher) bezogen. Jene Fragen, die Urteile und Wertungen ermittelten, wurden in Form von Likert-Tests formuliert. Die GPen mussten sich äußern, wie sehr ihnen die nationalen und regionalen Varietäten des Deutschen und ihre Sprecher zusagen, inwieweit bestimmte Attribute11 auf sie zutreffen, welche positiven und negativen Eigenschaften sie den typischen Bundesdeutschen, Österreichern und Deutschschweizern zuschreiben, wie sie sie darüber hinaus charakterisieren können, was sie mit den Begriffen ‚deutsche Sprache‘ und ‚Kultur‘ verbinden, warum ihrer Meinung nach ihre Kinder und Enkelkinder Deutsch lernen und wie sie die Zukunft der deutschen Sprache als europäische Verkehrssprache sehen. Die direkte Abfragung erwies sich bereits in der Testphase als einzig gangbarer Weg, da manche GPen mit den eine Abstrahierung erfordernden Fragen sowie mit der Handhabung der Likert-Skalen Schwierigkeiten hatten.12 11 Z. B. für wie „fein / grob“, „verständlich / unverständlich“, „zeitgemäß / veraltet“, „anpassungsfähig / starr Deutsch“ von den GPen gehalten wird. 12 Die direkt durchgeführte Fragebogen-Erhebung wurde in der Aufnahmesituation noch um spontan geäußerte Meinungen und Kommentare der GPen ergänzt. Die Rückfragen und Kommentare, die während des Ausfüllens der Fragebögen geäußert wurden, waren erstens hilfreich für das Erklären der Fragen, mit denen die älteren GPen nicht zurechtkamen. Häufig bedurfte z. B. jene Frage einer Erläuterung, durch welche die subjektiv eingeschätzte „Grobheit / Feinheit“ des Deutschen ermittelt werden sollte. Zweitens trugen die Rückfragen und Kommentare der GPen auch dazu bei, den Leitfaden der autobiographischen Interviews, die auf die Fragebogen-Befragungen folgten, differenzierter bzw. sensibler (z. B. in der Hinsicht der Stigmatisierungserfahrungen) zu gestalten. (Im Zusammenhang mit der „Grobheit / Feinheit“ des Deutschen wurde der Leitfaden des sprachbiographischen Interviews z. B. um die Bewertung der Ästhetik der deutschen Standardsprache, die den GPen im Deutschunterricht vermittelt wurde, um die lokale deutsche Ortsmundart und um die ungarische Standardsprache erweitert.) Drittens haben sich die GPen in den freien Kommentaren während der direkten Erhebungen und durch die Reaktionen der Explorator/inn/en auf diese Kommentare in den anschließend

Wahrnehmungen und Einstellungen älterer Ungarndeutscher zur deutschen Sprache

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4.2 Sprachbewusstsein als Voraussetzung für Sprachreflexion Einstellungsforschungen setzen das Vorhandensein einer bestimmten Sprachbewusstheit der GPen voraus. So ist bekannt, dass durch vielfältige Sprachkontakte und durch zwei- oder mehrsprachige Milieus, denen auch unsere GPen im Laufe ihres Lebens ausgesetzt waren, die Entwicklung der Sprachbewusstheit gefördert und unterstützt wird (vgl. HÄCKI BUHOFER 2002: 20). Hier geht es um die Fähigkeit, das eigene Sprachwissen wie auch jenes von anderen Sprecher/inne/n als ein Objekt zu betrachten und dieses metasprachlich zu thematisieren, zu beurteilen sowie sich eine Meinung dazu zu bilden. Aufgrund der Äußerungen der GPen ist anzunehmen, dass dem Erkennen und Verstehen der unterschiedlichen Varietäten des Ungarndeutschen sowie des Ungarischen ein entwickeltes Sprachwissen vorausgehen muss, denn die von den GPen formulierten Kenntnisse über die Sprachwahl, die Sprachmischungen oder gar die Angemessenheit von eigenen und fremden sprachlichen Ausdrucksweisen zeugen von einem reflektierten Umgang mit Sprache(n) und Varietäten. Dieses Sprachbewusstsein verweist über die mehrsprachige Umgebung hinaus auch auf Erfahrungen mit der deutschen Sprache und Kultur, z. B. durch den Schulunterricht, durch Reisen in deutschsprachige Länder, durch Verwandtenkontakte und den Konsum deutschsprachiger Medien. Je älter die GP, desto ausgeprägter ist auch ihre Reflexionsroutine, selbst bei einer Sozialisation unter bildungsfernen Umständen: Die deutsche Schriftsprache haben 25 % der GPen weniger als vier Jahre lang gelernt, 43 % vier bis acht Jahre lang,13 24 % neun bis 12 Jahre lang, 8 % länger als 12 Jahre (z. B. in Form von Zusatzstudien, Fernstudien, Deutschkursen). Im Laufe der Erhebungssituation hat sich erwiesen, dass GPen, die in Minderheitenvereinen aktiv sind und sich für die Traditionspflege und -kultur der Minderheiten engagieren, ein ausgeprägteres Sprachbewusstsein zeigen und auch viel häufiger die eigenen Sprachkenntnisse und den Sprachgebrauch ihrer Mitmenschen reflektieren. Dies kommt sowohl in den Interviews als auch in frei geführten Begleitgesprächen sehr gut zum Vorschein: „ich meine das so, das habe ich noch von meinen Eltern so gehört / dafür kenne ich kein anderes Wort / das ist jetzt nicht gut gesagt, aber anders weiß ich es nicht / das übersetze ich jetzt aus dem Ungarischen / na, wie soll ich mich jetzt ausdrücken, das ist nicht richtig deutsch gesagt“. Diese Reflexionen zeugen insofern von Sprachbewusstsein, als sie jene Selbstkritik deutlich machen, mit der die Sprecher/innen ihren Sprachgebrauch wegen ihrer

geführten Interviews offener über ihre negativen Erlebnisse und Ansichten hinsichtlich ihrer Dialektkompetenz oder ungarisch-deutschen Zweisprachigkeit geäußert. Die subjektiven, untersuchungsgegenstandsbezogenen Kommentare der GPen haben die Verbalisierung ihrer Einstellungen während der Interviews gerade durch die Interaktionen, die während der direkten Fragebogenerhebung stattfanden, erleichtert (vgl. STUDLER 2014: 173ff.). 13 Die aus acht Jahrgängen bestehende Grundschule wurde im Jahre 1940 durch das Gesetz Nr. 20 in Ungarn vorgeschrieben, ihre Einführung verschob sich wegen des Krieges auf 1945 (KATONA 2016).

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Nominationslücken in der Mundart tadeln (vgl. dazu BEHRENS 2015: 2).14 Diese und ähnliche metasprachliche Formulierungen der GPen unterstützen unsere Annahme, dass durch die Analyse der Sprachreflexionen von Laien ein tieferer Einblick in sprachliche Zusammenhänge und die Sprachbewusstheit der GPen erzielt werden kann. Die Feststellung eigener Mängel in Bezug auf die Dialektkompetenz und das sprachliche Handlungswissen (oder eben -unwissen) verbinden sich in den Narrativen der GPen mit negativen oder positiven individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungen. Als ein weiterer Aspekt ist hervorzuheben, dass durch diese metasprachlichen Reflexionen auch die Wahrnehmung der Sprecher/innen gesteuert wird, denn die verbalisierten metasprachlichen Beobachtungen wirken zugleich auf ihre individuelle Sichtweise zurück. Mehr noch: Durch einzelne Individuen wirken sie auch auf jene Gemeinschaften, für die diese individuellen metasprachlichen Reflexionen relevant sind und in denen sie als diskutabel erscheinen. In den folgenden Kapiteln zur Auswertung der Studie werden exemplarisch einige thematische Schwerpunkte der Erhebung – d. h. die sprachliche Selbsteinschätzung der GPen und ihre affektiven und konativen Einstellungen zur deutschen Sprache – näher erläutert und analysiert. Dabei handelt es sich um jene Bereiche, die für die meisten Deutsch sprechenden Minderheitenangehörigen als grundlegend gelten und daher von besonderem Interesse sind. 5 AUSWERTUNG DER ERHEBUNG 5.1 Sprachliche Selbsteinschätzung der Proband/inn/en 5.1.1 Sukzessive äußere Zweisprachigkeit 75 % der GPen gaben an, Ungarisch sei ihre Erstsprache, ein Viertel wurde entweder in der jeweiligen Ortsmundart (12 %), oder zweisprachig (13 %) erzogen. Die GPen haben den Umstand, dass ihre funktionale Erstsprache die bairische Ortsmundart war, folgenderweise kommentiert:15 (1) Mia haam nua Schwowisch [Bezeichnung für die ostdonaubairische Ortsmundart des Probanden] krait tahaam. ‘Wir haben nur Schwäbisch geredet daheim.’ (Mann, 75 J.) (2) Es is kaa ungarisch Woat voorkuma. Söödjn. ‘Es ist kein ungarisches Wort vorgekommen [zu Hause]. Selten.’ (Mann, 84 J.) 14 „Die Definition von Sprachbewusstsein ist doppelgesichtig: Einerseits beschreibt es quasi wertneutral das Wissen und die Reflexion über Sprache. Sprachbewusstsein führt also zu differenzierten Urteilen über Sprache und idealerweise auch zu einem differenzierten und angemessenen Sprachgebrauch. Oft wird Sprachbewusstsein vermengt mit der normativ ausgerichteten Sprachpflege oder Sprachkritik“ (BEHRENS 2015: 2). 15 Die ostdonaubairischen Anmerkungen wurden während der direkten Erhebung geäußert und durch die Explorator/inn/en notiert. Die standarddeutschen wurden den anonymen Antworten in einem Fragebogen entnommen.

Wahrnehmungen und Einstellungen älterer Ungarndeutscher zur deutschen Sprache

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Die Bezugspersonen, die ihnen beim Erwerb der ungarischen Sprache als sprachliche Orientierung dienten und die für sie als Referenzsprecher des Ungarischen galten, fanden sich nicht nur in der Familie, sondern auch im nahen Umfeld: (3) Mein älterer Bruder wurde zuerst im Dialekt erzogen. Als er in den Kindergarten ging, bat er Mutter, dass sie nur ungarisch reden sollen, weil im Kindergarten alle nur diese Sprache sprechen. Meine Mutter war nicht genug stark und gab nach. (4) Bis ich 6 Jahre alt geworden bin, habe ich gar nicht Ungarisch können, nur Schwobisch und dann bin ich in die Schule gekommen und das ist sehr schwer gewesen, dass ich nicht alles verstanden habe. (5) Mit drei Jahren bin ich in den Kindergarten gegangen. Da habe ich schon Ungarisch reden können. Ich habe es von den aus der Slowakei vertriebenen [ungarischen] Ansiedlern gelernt. Zu Hause haben wir kein Ungarisch gesprochen. Die Ansiedler [ungarische Familien aus dem slowakischen Oberland] kamen 1946 rein [in das Dorf, in die unmittelbare Nachbarschaft, manchmal sogar in das eigene Haus], damals war ich 2 Jahre alt, schnell habe ich Ungarisch von ihnen gelernt.

Manche der Proband/inn/en haben Ungarisch als Erstsprache erworben, aber die Ortsmundart war nach wie vor in ihrem familiären (Spracherwerbs-)Horizont präsent: (6) Unsere Sprache in der Familie ist Ungarisch, weil wir aus gemischter Ehe sind. Schwäbisch habe ich von den Großeltern gelernt.

Die Frage nach der Erstsprache eröffnete den Fragebogen. Aus den später erfolgten Interviews geht aber hervor, dass die GPen unterschiedliche Konzepte über die ‚Muttersprache‘ haben, manche bezeichnen jene Sprache als Muttersprache, in der sie zum Zeitpunkt der Befragung die höchste Eloquenz besitzen (d. h. das Ungarische), und nicht jene Sprache, in der ihre primäre Sozialisation erfolgte oder welche sie als Familiensprache mit den Ehepartnern oder Geschwistern verwende(te)n (d. h. die Ortsmundart). Zur Verzerrung dieser (autodeklarativen) Fragebogendaten kommt es bei der älteren Generation wegen der bis Ende der 1960er-Jahre selbst oder in der Familie erlebten Angst vor Verachtung, Stigmatisierung, böswilligen Quälereien oder Ausgrenzung aufgrund der deutschen Muttersprache bzw. Dialektkenntnissen, der deutschen Mikrokultur und Herkunft. Diese Erfahrungen erklären, warum sich 66 % der GPen bei einer nachfolgenden Frage während der direkten Erhebung dennoch als zweisprachig einschätzten (im Gegensatz zu 27 %, die sich als einsprachig betrachteten, 7 % der GPen konnten sich nicht entscheiden). Unsere Annahme, dass von den GPen mehr in der jeweiligen ostdonaubairischen Ortsmundart sozialisiert wurden als bei der ersten Antwort angegeben, wurde durch die anschließenden sprachbiographischen Interviews verifiziert. Die größtenteils durch den individuellen Bildungsweg angeeignete ungarische Sprache und die angestammte Ortsmundart zeigen im Falle der Sprachverwendung der in die Städte gezogenen Proband/inn/en eine diatopische bzw. diastratische Verteilung:

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(7) Wir sind aus dem Dorf in die Stadt gezogen als ich 6 war, weil uns mit der Schließung der Grundschule gedroht wurde. Ab dann wurde nur auf Ungarisch gesprochen, wenn wir im Dorf waren, dann im Dialekt. (8) Meistens reden wir Ungarisch, aber wegen unserer Arbeit verwendeten wir die deutsche Sprache tagtäglich.

5.1.2. Sukzessive innere Zweisprachigkeit Einer inneren Zweisprachigkeit (i. S. v. diglossischer Situation) wurden sich die GPen der (Vor-)Kriegsgeneration in ihrer Kindheit und Jugendzeit durch Kontakte mit anderen Ungarndeutschen aus ihrer nahen und ferneren Umgebung bewusst. Bei den später Geborenen geschah dies durch die älteren Verwandten und den Deutschunterricht in der Grundschule.16 Jene Befragten, deren Volksschulzeit gerade auf das letzte Kriegsjahr (in welchem von zehn Schulmonaten nur in fünf Unterricht erteilt wurde) und die nachfolgenden Jahre fiel, als kein Deutschunterricht stattfand, lernten die deutsche Schriftsprache erst Mitte der 1950er-Jahre kennen: (9) [Hochdeutsch habe ich] vielläächt nochn Forradalom [1956er-Revolution] kheat. ‘Vielleicht nach der Revolution gehört.’ (Mann, 84 J.)

Die Alphabetisierung und die Betreuung der ungarndeutschen Kinder in den ungarischen staatlichen Schulen verlief nach 1945 überall im Lande auf Ungarisch, auch in den Siedlungen mit einem hohen Anteil an Ungarndeutschen. Durch die ungarische Unterrichtssprache wurden die bis dahin überwiegend in der Ortsmundart sozialisierten Kinder vor eine große kognitive Herausforderung gestellt, die durch den Verlust der Familiensprache, d. h. den Übergang von der Ortsmundart zum Ungarischen zu Hause, zusätzlich affektiv erschwert wurde.

5.1.3. Inter- und intragenerationale Zweisprachigkeit Mithilfe eines weiteren Fragenkomplexes wurde ermittelt, welche Sprache bzw. Varietät am häufigsten im Alltagsgespräch zwischen den Generationen benutzt wurde. Die innerhalb von und zwischen den Generationen präferierten Sprachen („In welcher Sprache rede[te]n Sie in der Familie mit Ihrer/m/n Mutter, Vater, Geschwistern, Kindern und Enkelkindern?“) werden in der folgenden Tabelle veranschaulicht: 16 Zwischen den zwei Weltkriegen wurde an den staatlichen Schulen, deren Unterrichtssprache Ungarisch war, mit dem Unterricht der deutschen Sprache erst in der dritten Volksschulklasse begonnen. In manchen Siedlungen (z. B. in der Umgebung von Budapest bzw. in der österreichisch-ungarischen Grenzregion) gab es vereinzelt auch Schulen, deren Unterrichtssprache durchgehend Deutsch oder Deutsch und Ungarisch war. Zur Lage des Bildungswesens der Deutschen zwischen 1919 und 1945 in Ungarn vgl. SOMLAI 2020: 87–125.

Wahrnehmungen und Einstellungen älterer Ungarndeutscher zur deutschen Sprache

Mutter Vater Geschwister Kinder Enkelkinder

Ungarisch

Ortsma.

69 75 70 35 62

7 10 4 2 0

Hochdt. (Schriftdt.) 2 3 2 2 0

Ung. + Ortsma. od. Hochdt. 22 12 19 47 34

235

keine Angaben 5 14 4

Tab. 1: „In welcher Sprache rede(te)n Sie in der Familie mit Ihrer/m/n…?“ (Höchstwerte grau hervorgehoben. Angaben in %)

Der Verwendung der Sprachen und Varietäten gestaltete sich innerhalb einer Familie unterschiedlich: Am häufigsten gebraucht wurde die ungarische Sprache in der Interaktion mit dem Vater und den Geschwistern. Da in den Familien die Männer (d. h. die in den 1910er- und 1920er-Jahren geborenen Väter) geografisch und sozial mobiler waren als die Mütter, wiesen sie höhere Ungarisch-Kompetenzen auf, und aus ihrer Sicht war die Notwendigkeit wichtiger, die Staatssprache zu erwerben, als aus jener der Mütter. Konsequent in der Ortsmundart sprachen nach Selbstangaben insgesamt nur 10 % der Proband/inn/en mit ihren Vätern und 7 % mit ihren Müttern. Die bilinguale Redeweise (Ortsmundart und Ungarisch) ist zwischen den Proband/inn/en und ihren Kindern stark repräsentiert (47 %). Etwa ein Drittel der Proband/inn/en hat die Kinder monolingual auf Ungarisch erzogen. Die grafische Darstellung der deklarierten Erstsprache und der Sprachen und Varietäten, die innerhalb der eigenen Altersgruppe sowie gegenüber anderen Generationen in der Familie praktiziert wurden, zeigt grundsätzlich dasselbe Bild (Abb. 2). Die Werte zur selbst deklarierten Erstsprache stimmen am meisten mit den Angaben zum Sprachgebrauch mit dem Vater überein. Entgegen der Laienbezeichnung „Muttersprache“ scheinen die Proband/inn/en jene Sprache als Erstsprache zu betrachten, die sie im Umgang mit ihren Vätern am häufigsten pflegten. Dies setzt voraus, dass die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborenen Väter über eine relativ hohe Ungarischkompetenz verfügt haben müssen. Bei der Selbstdeklaration der Erstsprache unter den älteren Ungarndeutschen scheint das sprachliche Muster, das Vorbild und das gesellschaftliche Ansehen des Vaters eine eminente Rolle gespielt zu haben. Bemerkenswert sind die Angaben der Proband/inn/en über die verwendeten Sprachen gegenüber den eigenen Kindern: 69 % der Proband/inn/en (vgl. dazu Abb. 2) meinten, mit ihren Müttern, 75 % gaben an, mit ihrem Vater nur auf Ungarisch geredet zu haben. Dennoch haben nur 35 % derselben Proband/inn/en ihre Nachkommen ausschließlich auf Ungarisch erzogen. Auch wenn die Geburt der Kinder in die 1960er-Jahre fiel, als der nach dem Zweiten Weltkrieg stigmatisierte und (de jure und de facto) diskriminierte Status der Ungarndeutschen sich zu rehabilitieren begann, sodass man wegen des Mundartgebrauchs nicht mehr öffentlich schikaniert oder angezeigt werden konnte, ist es unwahrscheinlich, dass nur etwa ein Drittel der Befragten Ungarisch und beinahe die Hälfte der Proband/inn/en mit ihren Kindern in der jeweiligen Ortsmundart und auf Ungarisch gesprochen haben sollte. Gerade die in den 1960ern geborenen Ungarndeutschen gelten als die

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„stumme Generation“ (Generationsmodell s. KNIPF-KOMLÓSI 2011: 45–115), da die Tradierung des Ortsdialektes durch die autochthonen Sprecher verdrängt oder verweigert wurde und die Ortsmundart höchstens passiv rezipiert werden konnte. 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Erstsprache Spache gegenüber Vater Sprache gegenüber Mutter Sprache gegenüber Geschwistern Sprache gegenüber Kindern Sprache gegenüber Enkeln

Ungarisch

Ortsmundart

75 75 69

12 10 7

Ungarisch + Ortsmundart 13 12 22

70

4

19

2

35 62

2 0

47 34

2 0

Schriftdeutsch 0 3 2

Abb. 2: Selbstdeklarierte Erstsprache sowie trans- und intragenerationaler Sprachgebrauch der Proband/-innen

Wie erklärt sich nun dieser Widerspruch in der sprachlichen Selbsteinschätzung der Proband/inn/en? Zu der Zeit ihrer primären und sekundären Sozialisation besaß die ungarische Sprache mehr Geltung und Prestige als die deutsche Mundart oder die deutsche Schriftsprache. Dieser Umstand, gestützt durch die (von Familienmitgliedern oder Verwandten) vermittelte Furcht vor Repressalien wegen des öffentlichen Mundartgebrauchs, ja sogar wegen der Vertreibung17 1946–1947, verleitete die GPen dazu, sich zum Ungarischen als Muttersprache zu bekennen. Seit der Jahrtausendwende ist nun die Tendenz zu sehen, dass Ungarndeutsche nach der Etablierung, Wiederherstellung oder Revitalisierung ihrer gegenständlichen oder nichtsprachlichen Kultur (Gründung von Heimatvereinen und -museen, von Chören, Kapellen und Tanzgruppen) sich immer häufiger der Archivierung ihrer Ortsmundart (in Form von Dialektreimbüchern, Dialektsprachbüchern und Ortswörterverzeichnissen) zuwenden. Durch die laikale Dokumentation des dialektalen Wortschatzes sowie folklorisierter Dialekttexte und der Umstand, dass an Minderheitenschulen in den 17 Jene Deutschen, die bei der Volkszählung im Jahre 1941 in Ungarn als Muttersprache Deutsch angegeben haben, wurden systematisch vertrieben (MÁRKUS 2019: 141–161).

Wahrnehmungen und Einstellungen älterer Ungarndeutscher zur deutschen Sprache

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Schulfächern „Landes- und Volkskunde der Ungarndeutschen“ und „Deutsch als Minderheitensprache“ die ungarndeutschen Dialekte als Themenkreis mindestens einmal im Schuljahr angesprochen werden, ist die dialektale Vielfalt des Deutschen auch auf lokaler Ebene in allen Generationen der Ungarndeutschen bekannter und bewusster geworden. Das Prestige der ungarndeutschen Dialekte ist in den letzten zwei Jahrzehnten eindeutig gewachsen. Es ist wahrscheinlich, dass die Behauptung, man habe sich in den 1940er- bis 1960er- Jahren der eigenen Ortsmundart nicht entledigen wollen,18 das ansonsten durch die Verschleppung, Vertreibung, Enteignung, Kollektivierung und durch die zu befürchtende Stigmatisierung gepeinigte Selbstwertgefühl der älteren Generation stärkt. Die durch das Ablegen der deutschen Mundart entstandene kognitive Dissonanz wird dadurch aufgelöst, dass man einerseits beginnt, in der Familie offen über die nach dem Zweiten Weltkrieg und im Sozialismus herrschenden Verhältnisse zu reden, andererseits werden Erinnerungen verschönert dargestellt (etwa daran, man habe mit den Kindern gerade in der Nachkriegszeit häufiger in der Mundart geredet als in der eigenen Kindheit – was unwahrscheinlich ist). Aus den an die Fragebogen-Erhebung anschließenden sprachbiografischen Interviews geht hervor, dass ältere Ungarndeutsche auf die Frage, warum sie ihren Kindern die Mundart nicht weitergegeben haben, nicht selten mit Scham reagieren. Die Reue über die versäumte Tradierung der deutschen Mundart lässt sich u. E. auf folgende Weise erklären: Die GPen stufen ihre Mundartkompetenz als sehr niedrig ein und stellen auch die Nützlichkeit dieser Varietät (Ortsmundart) in Frage (nur „Küchensprache, kein richtiges Deutsch“). Die retrospektive sprachliche Selbsteinschätzung der Proband/inn/en ist äußerst niedrig. Die Selbstentlastung in Bezug auf das Versäumnis, die eigenen Kinder nicht in der Mundart sozialisiert zu haben, erfolgt in der Gegenwart durch die Hinwendung zu den Enkelkindern. Doch diese kommunikative Situation wird von den GPen stark überbewertet: Unsere Umfragen und Interviews zeigen, dass es in Kommunikationssituationen zwischen Großeltern und Enkeln so gut wie nie zu tatsächlich in der Mundart geführten Gesprächen kommt. Der von den Proband/inn/en vermutete bilinguale Sprachmodus ist entweder einseitig bilingual oder nicht einmal bilingual, denn die durchgehend ungarisch geführte Interaktion wird höchstens mit dialektalen Insertionen (Code-Switching-Phänomenen) kurzer Dauer durchsetzt, die von den älteren Befragten als bilingual empfunden werden.19 Man versucht, die durch Verlust und Nichthandeln gekennzeichnete sprachliche Vergangenheit nun in ein positives Narrativ umzuwenden. An dieser Stelle lohnt es sich, eine psychologische Erklärung heranzuziehen: In der Wissensbasis des autobiografischen Gedächtnisses verbinden sich das semantische und das episodische Gedächtnis miteinander (vgl. CABEZA / ST. JAQUES 2007). Bekannt ist auch, dass mit steigendem Alter in 18 Dies wird damit begründet, dass man die Mundart an die Kinder weitergegeben hätte, wobei diese Überzeugung allerdings nicht im Einklang mit unseren eigenen Kenntnissen und Erfahrungen steht. 19 Großeltern sprechen in der Mundart mit dem Enkel, der Enkel antwortet auf Ungarisch und nach ein paar Repliken wechselt man – zum Zweck eines erfolgreichen Gesprächs – beidseitig ins Ungarische.

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autobiografischen Erinnerungen (z. B. im Laufe einer Erhebungssituation, in der die Proband/inn/en ihre Erinnerungen über ihre früheren Lebensphasen abrufen müssen) immer häufiger semantische Erinnerungen erscheinen. Die Anzahl der semantischen Erinnerungen (d. h. unsere reflektierten Kenntnisse über die Welt, inkl. reflektierten Sprachwissens) ist im Vergleich zu den episodischen Erinnerungen (z. B. wann man das erste Mal Fahrrad gefahren ist) höher, je weiter die befragte Person in ihre Vergangenheit zurückblickt. Die Erinnerung an das sprachliche Milieu in der Kindheit ist ein Beispiel für die ältesten individuellen Erinnerungen.20 5.2 Einstellungen zu den nationalen und lokalen Varietäten des Deutschen Spracheinstellungen sollen vor der Folie der soziokulturellen und historisch-politischen Zusammenhänge wie auch der konkreten Interaktion der Befragung gedeutet werden (vgl. TOPHINKE / ZIEGLER 2006: 187). Bezogen auf die Ungarndeutschen wies die Wandlung ihrer Beurteilung (auch hinsichtlich des Sprachverhaltens) durch Institutionen (Bildungswesen, Medien, öffentlicher Diskurs) und einzelne Vertreter der ungarischen Mehrheitsnation im Laufe des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart ein breites Spektrum auf. Da die GPen im Gefüge der ungarischen Gesamtgesellschaft leb(t)en, finden dort vorhandene Normen, Beurteilungen und Wissensbestände auch in ihre Einstellungen und Narrative Eingang. Informationen und subjektive Eindrücke über die DACH-Länder, ihre Sprachen und ihre Sprecher erhielten die Proband/inn/en in ihrer Kindheit und Jugendzeit (d. h. vor langer Zeit) im Geographie- und Geschichtsunterricht, ab den 1980erJahren auch durch Austauschprogramme (Tanzgruppen, Chöre), Verwandte, Bekannte und Arbeitskollegen (die meisten stammten aus den südlichen Regionen Deutschlands und den östlichen Regionen Österreichs) bzw. durch die Möglichkeit zum Auslandsurlaub,21 in der Gegenwart aus Nachrichtenportalen und durch traditionelle Medien. Nur 19 % der Befragten haben länger als drei Monate im deutschen Sprachraum (9 % in Österreich, 10 % in Deutschland) gelebt. Die Schweiz war unter den Reisezielen nur marginal vertreten. Keinem der Proband/inn/en war bekannt, dass in der Deutschschweiz und in Vorarlberg Alemannisch gesprochen wird. Der Erfahrungshorizont der befragten älteren Generation sowie ihr soziales Umfeld beeinflussen maßgebend ihre Einstellungen, d. h. bei Spracheinstellungsanalysen kommt dem sozialen Kontext der Sprachen eine wichtige Bedeutung zu (ROMAINE 1995: 289–290). Die Schweiz und Norddeutschland sind für diese Generation meist unbekannte „fremde Länder, Regionen“, die man höchstens vom 20 Aus diesem Grund sollte man mit selbstdeklarativen Daten bei älteren Generationen behutsam umgehen und sie durch qualitative Daten, z. B. um sprachbiografische Interviews bzw. Dokumente (z. B. Zeugnisse, Statistiken) ergänzen. 21 Bis zur politischen Wende von 1989/90 durfte man nur einmal in drei Jahren in kapitalistische Länder reisen. Die Beantragung der Pässe und Visa war sehr umständlich, man musste vom Arbeitgeber eine Erlaubnis einholen und es durften höchstens 70$ Bargeld ausgegeben werden. Die beliebtesten Reiseziele waren ab den 1970erJahren Österreich, die Tschechoslowakei, die DDR sowie die BRD (TÓTH-PÉTER 2018).

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Hörensagen kennt, aber nie selbst gesehen hat. Dagegen sind die geografisch südlichen Bundesländer und Österreich bekannter, weshalb man ihnen auch positiver gegenübersteht als den unbekannten Regionen. 6 5 4 3 2 1 0 udt. Ma. Dt. in CH Dt. in A Dt. in SD. Dt. in MD. Dt. in ND udt. Ma.

20 1 62,3 0 18,4 23,1 22 8 Dt. in CH

40 2 7,5 0 26,5 28,8 20 6 Dt. in A

60

3 17 0 24,5 32,7 10 10 Dt. in SD.

4 3,8 14,3 12,2 5,8 34 16

80 5 0 18,4 14,3 3,8 10 36 Dt. in MD.

100 6 9,4 67,3 4,1 5,8 4 24 Dt. in ND

Abb. 3: Antworten auf die Frage „Welches Deutsch verstehen Sie am besten?“ (1 = sehr, 6 = überhaupt nicht. Angaben in %)

Die Antworten auf die Frage, welches Deutsch die Proband/inn/en am besten verstehen, ergaben folgendes Bild (Abb. 3): Die Mehrheit der Proband/inn/en hat mit der Rezeption der ungarndeutschen Mundarten keine Probleme. Durch die Institutionen der Ungarndeutschen (lokale Selbstverwaltungen, Wochenzeitungen, Medien) besitzt man Kenntnisse über die Regionen in Ungarn, in denen andere Ungarndeutsche leben, die eine andere, aber dennoch verständliche Mundart sprechen. Am wenigsten verstehen die Proband/inn/en das Deutsche in Norddeutschland. Die Angaben für das Deutsche in Süddeutschland und Österreich stimmen beinahe überein; dies ist insofern nicht verwunderlich, als alle Proband/inn/en aus ostdonaubairischen Siedlungen stammen. Eindeutig als nicht kompetent beurteilten sich die Gewährspersonen hinsichtlich des Deutschen in der Schweiz und in Norddeutschland. Norddeutschland wurde von den Proband/inn/en nördlich der Linie Hannover-Berlin verortet, Mitteldeutschland zwischen Hannover und Frankfurt. Manche gaben bei diesem Fragenkomplex an, in Hannover werde das reinste Deutsch gesprochen.

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5.3 Beurteilung der Schönheit, Feinheit, Aktualität und des guten Eindrucks Die regionale Vielfalt des Deutschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz wird aus der Perspektive der Ungarndeutschen nicht differenziert wahrgenommen (übrigens aus der Perspektive der Ungarn noch weniger). Weder der Schulunterricht noch die 45 Jahre hinter dem Eisernen Vorhang haben es begünstigt, das breite Varietätenrepertoire des Deutschen in seiner feineren Gliederung zu erleben. Mit zunehmender geographischer Distanz zum deutschen Sprachraum vereinfacht sich der Blick darauf und daraus folgend auch das Wissen darüber. Österreich wird, genauso wie die deutschsprachige Schweiz, von der älteren Generation für relativ homogen gehalten. Die Kenntnisse der regionalen Vielfalt des Deutschen in Deutschland beschränken sich darauf, dass im Norden „ganz merkwürdig“ gesprochen werde, und in Bayern und Baden-Württemberg uadentlich ‘ordentlich’ (Anmerkung eines Probanden während der direkten Fragebogenerhebung). Durch die Frage „Wo spricht man das schönste Deutsch?“ wollten wir in Erfahrung bringen, wie Proband/inn/en die aus ihrer Sicht kompakte sprachliche Situation in den deutschsprachigen Ländern beurteilen. Es gab während der direkten Fragebogenerhebungen keine Schwierigkeiten oder Rückfragen in Bezug auf die Deutung dieser Frage, was darauf hindeutet, die GPen sehr wohl imstande waren, dazu eine eindeutige Position einzunehmen. Das hinsichtlich Klang und Eloquenz schönste Deutsch wird nach Angabe von 91 % der Proband/inn/en in Deutschland gesprochen. Nur ein Zehntel der Befragten stufte das Deutsch in Österreich als die schönste Sprachform ein. Das Deutsch in der Schweiz bildete in Bezug auf diesen Aspekt eindeutig das Schlusslicht (vgl. Abb. 4).

noch weniger schönes Dt. weniger schönes Dt. schönstes Dt. 0 CH A D

schönstes Dt. 0 10 91

20

40

weniger schönes Dt. 14 78 9

60

80

100

noch weniger schönes Dt. 86 12 0

Abb. 4: „Wo spricht man das schönste Deutsch?“ (Angaben in %)

Die Auswertung der affektiven Attribute, die der deutschen Sprache in den DACHLändern zugeschrieben werden, ergab ein relativ distanziert-diplomatisches Bild: In Bezug auf Feinheit und Aktualität haben die Proband/inn/en größtenteils die Mittelwerte der Likert-Skala („teils – teils“) markiert. Dies kann vermutlich auf ihre spärlichen Kenntnisse darüber zurückgeführt werden. Davon weichen nur drei Be-

Wahrnehmungen und Einstellungen älterer Ungarndeutscher zur deutschen Sprache

241

urteilungen ab: Die deutsche Sprache in Österreich wurde von der älteren Generation feiner als das Deutsch in Deutschland empfunden, und sowohl die österreichische als auch die bundesdeutsche Sprache übt einen positiven Eindruck auf die Zuhörer aus (vgl. Tab. 2). grob D A CH veraltet D A CH kein guter Eindruck D A CH

7

6

5

4

3

2

1

0 3,5 3,9

3,5 7 17,6

5,3 10,5 9,8

49,1 28,1 51

17,5 5,3 9,8

17,5 31,6 3,9

7 14 3,9

0 0 0

5,7 3,7 5,8

7,5 11,1 13,5

41,5 33,3 65,4

5,7 9,3 9,6

20,8 29,6 1,9

18,9 13 3,8

fein

zeitgemäß

guter Eindruck

0 3,4 3,9

1,7 3,4 5,9

3,3 5,2 3,9

25 13,8 52,9

15 20,7 11,8

28,3 32,8 17,6

26,7 20,7 3,9

Tab. 2: Antworten der Proband/-innen auf die Frage „Wie stark treffen folgende Eigenschaften auf die deutsche Sprache in den DACH-Ländern zu?“ (1 = sehr, 7 = überhaupt nicht. Höchstwerte grau hervorgehoben. Angaben in %)

Am häufigsten wurde die „Grobheit/Feinheit“ des Deutschen in der Schweiz negativ beurteilt, während am seltensten angegeben wurde, dass die bundesdeutsche Sprache einen schlechten Eindruck erwecken würde. 5.4 Sympathiewerte gegenüber den Sprechern des Deutschen Die Vorstellung vom prototypischen Sprecher des Deutschen ist in allen DACHLändern eindeutig positiv besetzt (vgl. Abb. 5). Im Falle der Österreicher und der Deutschschweizer wird die Freundlichkeit der Sprecher höher eingeschätzt als ihr Bildungsniveau. Die Bundesdeutschen wurden gleichermaßen als freundlich und gebildet beurteilt (jeweils von insgesamt 53 %). Mehr als die Hälfte der Proband/inn/en empfand die Bundesdeutschen und die Österreicher als freundlich bis sehr freundlich. Die Deutschschweizer wurden in Ermangelung relevanter Erfahrungen von der Mehrheit nicht bewertet (weiß nicht). Am häufigsten enthielt man sich der Einschätzung hinsichtlich des Bildungsniveaus der Deutschschweizer.

242

Elisabeth Knipf-Komlósi / Márta Müller

100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 D - Freundlichkeit D - Gebildetheit A - Freundlichkeit A - Gebildetheit CH - Freundlichkeit CH - Gebildetheit

1

2

3

4

5

14 12 17 2 5 4

39 41 37 41 16 29

44 32 34 28 23 7

0 0 5 1 2 0

2 0 0 0 0 0

weiß nicht 1 15 7 28 54 60

Abb. 5: „Wie freundlich und gebildet finden Sie die Sprecher der DACH-Länder?“ (1 = sehr, 5 = überhaupt nicht. Angaben in %)

5.5 Stellenwert des Deutschen in der Zukunft Spracheinstellungen innerhalb einer Sprachminderheit erlauben es, Hypothesen über den voraussichtlichen Verlauf des Sprachgebrauchs aufzustellen: Positive Einstellungen signalisieren eine prestigeträchtige Sprache bzw. Varietät, die von den Individuen eher respektiert, verwendet und gefördert wird, als wenn eine Sprache negativ oder neutral beurteilt würde. Nach Angaben der Proband/inn/en lernen Kinder und Enkelkinder deshalb Deutsch, weil es im Studium bzw. im Berufsleben (sehr) wichtig ist. Die reibungslose produktive und rezeptive Sprachverwendung des Deutschen als Lernziel (vgl. die Werte in der Kategorie Lesen, Unterhaltung) wird hingegen als weniger wichtig erachtet (vgl. Abb. 6). In den Kommentaren wurde von den Proband/innen öfters darauf hingewiesen, dass Deutsch ihre Herkunftssprache sei und es deswegen angebracht sei, diese zu erwerben bzw. zu erlernen. Nach Ansicht der älteren Generation wird Deutsch in Zukunft für die jüngeren Generationen während des Studiums und im späteren Berufsleben von Belang sein. Während Deutsch vor der politischen Wende (1989/1990) im ungarischen Schulwesen neben der Pflichtfremdsprache Russisch die am häufigsten gewählte Fremdsprache war, steht es heutzutage an Position der zweiten Fremdsprache (nach Englisch). Dieser Sachverhalt ist auch der älteren Generation bekannt. In den Bereichen Berufsleben und Tourismus wird dem Deutschen von den Proband/innen hingegen weiterhin ein hoher Stellenwert vorhergesagt. (vgl. Tab. 3).

Wahrnehmungen und Einstellungen älterer Ungarndeutscher zur deutschen Sprache

243

Trotz der starken Präsenz und Konkurrenz des Englischen in Ungarn und allgemein im Mittelosteuropa der Gegenwart wird das Deutsche von etwa 90 % der Proband/inn/en für eine Weltsprache gehalten, die in Europa nach wie vor zu den wichtigsten Sprachen zählt. am wenigsten wichtig weniger wichtig teils-teils wichtig sehr wichtig 0

20

40

60

80

sehr wichtig

wichtig

teils-teils

weniger wichtig

8,3 14,6 56,9 38,9

8,3 20,8 25,5 38,9

10,4 56,3 15,7 11,1

70,8 6,3 2 11,1

Lesen, Unterhaltung Konversation, Reisen Studium Berufsleben Lesen, Unterhaltung

Konversation, Reisen

Studium

100 am wenigsten wichtig 2,1 2,1 0 0

Berufsleben

Abb. 6: Antworten auf die Frage „Warum lernen Ihre Kinder und Enkelkinder Deutsch?“ (1 = sehr wichtig, 5 = am wenigsten wichtig. Angaben in %)

Deutsch Englisch

mehr weniger mehr weniger

Schulwesen 86 14 92 8

Berufsleben 88,9 11,1 88,2 11,8

Tourismus 96,3 3,7 86 14

Medien 77,4 22,6 91,7 8,3

Tab. 3: Antworten auf die Frage „Wird die deutsche Sprache in Zukunft in Ungarn mehr oder weniger Bedeutung haben?“ (Höchstwerte grau hervorgehoben. Angaben in %)

6 ZUSAMMENFASSUNG Subjektive Daten bei Spracheinstellungserhebungen unter Minderheitensprecher/inne/n haben ein hohes Informationspotenzial für die Soziolinguistik. Die Ergänzung von objektiven Sprachdaten um subjektive bedeuteten insbesondere in der Minderheitenforschung einen großen Erkenntnisgewinn, da ihre Kombination Einblicke in die soziopsychische Disposition der Sprecher/innen gewähren kann.

244

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Summierend lässt sich Folgendes feststellen: Die befragten älteren Ungarndeutschen, die allesamt in ostdonaubairischen Siedlungen in Ungarn leben, empfinden das Deutsch in Deutschland als das schönste. Aus den sprachbiographischen Interviews ging hervor, dass für sie diese Varietät als Maßstab einer elaborierten Redeweise dient. Als zweitschönste wurde das Deutsch in Österreich empfunden, wobei der österreichischen Varietät im Gegensatz zum Bundesdeutschen mehr Feinheit zugesprochen wurde. Die Vertrautheit und die Häufigkeit des Auftretens (in den Mediennachrichten und durch die Präsenz der hier niedergelassenen Firmen bzw. Betriebe) des österreichischen Deutsch und des Bundesdeutschen begünstigen vermutlich deren sehr positive Bewertung. Deutsch in der Schweiz wurde als die „am wenigsten schöne“ deutsche Sprache eingestuft, weil es auch am wenigsten bekannt und keinesfalls vertraut ist. Dieses Ergebnis bestätigt die Annahme, dass die Gewährspersonen fremde Varietäten (und deren Sprecher) eher negativ bewerten (vgl. HETTLER 2018: 48), wohingegen die ihrem eigenen Dialekt (Ostdonaubairisch) nahestehenden und gut verständlichen Varietäten als vertrauter und sehr positiv empfunden werden. In Bezug auf die Sprecher/innen fallen die Beurteilungen für Freundlichkeit in beiden Gruppen sehr ähnlich aus: Bundesdeutsche und Österreicher sind eindeutig (sehr) freundlich. Die bundesdeutschen Institutionen und Firmen sind in der Gegenwart im öffentlichen Diskurs und in der Wirtschaft, sogar in den Medien in Ungarn stark vertreten, auch an den Schulen wird – trotz der jahrhundertelangen österreichisch-ungarischen historischen Beziehungen – ein deutschlandorientiertes Deutsch unterrichtet. In der Einschätzung der Proband/inn/en zum Erlernen der deutschen Sprache durch die jüngeren Generationen in Ungarn überwiegt der Pragmatismus: Gute Deutschkenntnisse erhöhen den Wert des Arbeitssuchenden auf dem ungarischen (übrigens auch auf dem deutschen und österreichischen) Arbeitsmarkt. So wie die ungarische Sprache für unsere Gewährspersonen eine Bedingung zur Chancengleichheit mit den Ungarn, zum Erreichen eines höheren sozialen Status, zur individuellen gesellschaftlichen Mobilität und der Partizipation in der Öffentlichkeit war, so wird in der Gegenwart Deutsch auch für die jüngere Generation als eine unabdingbare Voraussetzung in ihrem Vorwärtskommen eingeschätzt. Erfreulicherweise gibt es immer mehr Forschungsprojekte zu Einstellungsfragen von deutschen Minderheiten (vgl. NÉMETH 2010; DÜCK 2020), denn es zeigt sich, wie wichtig die subjektiven Daten dieser Sprecher/innen zu ihrer Situierung als deutsche Minderheit und zu ihrer Meinung und Betrachtung der deutschen Sprache in ihren Ländern und Gemeinschaften sind. LITERATUR AZ (1940). XX. tc. Az iskolai kötelezettségről és a nyolcosztályos népiskoláról [Gesetz Nr. 20 aus dem Jahre 1940 über die Schulpflicht und die achtjährige Grundschule]. Országos Törvénytár. 1940(11), 110–114.

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VARIETÄTENGEBRAUCH UND SPRACHEINSTELLUNGEN Eine qualitative Untersuchung sprachbiographischer Interviews mit Maturant/inn/en an deutschsprachigen Oberschulen in Südtirol Mara Maya Victoria Leonardi

ABSTRACT Gekennzeichnet durch eine innere und äußere Mehrsprachigkeit, weist der Großteil der deutschsprachigen Bevölkerung in der offiziell dreisprachigen Autonomen Provinz Bozen/Südtirol – neben dem deutschen Dialekt als Erstsprache – auch Kenntnisse im Standarddeutschen und Standarditalienischen auf. Auf der Grundlage von semi-strukturierten Interviews mit 65 mehrsprachigen Maturant/inn/en werden der Varietätengebrauch von Schüler/inne/n und Lehrpersonen sowie die Spracheinstellungen gegenüber der Verwendung des Standarddeutschen und/oder des Dialekts an deutschsprachigen Schulen untersucht. Die Untersuchungsperspektive erfolgt ausschließlich aus der Selbsteinschätzung der Proband/inn/en. 1 EINFÜHRUNG Bei der Erfassung von Spracheinstellungen unterscheidet man zwischen einem quantitativ und einem qualitativ orientierten Zugang. Ersterer sieht eine Vielzahl an Proband/inn/en und Daten vor, wodurch Muster entstehen und Vergleiche gezogen werden können (vgl. ADLER / PLEWNIA 2019). Der qualitative Ansatz ist zwar methodisch sehr aufwendig, allerdings kann man damit viele und komplexe Einzeldaten untersuchen und analysieren. Mittlerweile hat sich die qualitative Sprachbiographieforschung zu einem eigenen Bereich innerhalb der Mehrsprachigkeitsforschung entwickelt (BUSCH 2013). Das sprachbiographische Interview eignet sich bestens, um die verschiedenen Dimensionen von Mehrsprachigkeit, unterschiedliche Erfahrungen, Wahrnehmungen und vielschichtige (Sprach-)Einstellungen einzelner Individuen zu beleuchten. Ebenso interessant ist die Frage, wie Spracheinstellungen das Identitätsbewusstsein sowie wichtige Entscheidungen (z. B. in Bezug auf Schule, Wohnort, Partnerwahl) beeinflussen können (vgl. CASPER 2002; FRANCESCHINI / MIECZNIKOWSKI 2004; PAVLENKO 2008). Es handelt sich hierbei um subjektive Daten, die als Erfahrungsberichte verstanden und analysiert werden sollten, und nicht um objektive Sachverhalte. Gerade für die Erfassung und Analyse von (oft unbewussten) Spracheinstellungen eignen sich qualitative Untersuchungen besonders gut, da sich der/die

248

Mara Maya Victoria Leonardi

Sprecher/in bewusst mit sprachbiographischen Ereignissen (wie etwa Sprachkompetenzen und Sprachverhalten) auseinandersetzt. Außerdem können die qualitativen Informationen aus den Interviews nicht nur als Ergänzung zu quantitativen Einstellungstests (z. B. Likert-Skala) herangezogen, sondern auch für die Interpretation bestimmter quantitativer Ergebnisse verwendet werden (CASPER 2002). Im Rahmen des Forschungsprojekts KOMMA1 („Sprachkompetenzen von Maturantinnen und Maturanten: Schulsprache Deutsch und Kontaktphänomene im mehrsprachigen Kontext“) wurden in den sprachbiographischen Interviews u. a. sprachliches Umfeld der Proband/inn/en, Sprachverwendung in verschiedenen situativen Kontexten,2 Selbsteinschätzung von Sprachkompetenzen und persönliche Einstellungen zur (Südtiroler) Mehrsprachigkeit thematisiert. Im vorliegenden Beitrag sollen die Ergebnisse einer qualitativen Auswertung zum Varietätengebrauch im Südtiroler Schulkontext und zu den Spracheinstellungen gegenüber den deutschen Varietäten präsentiert werden. Ziel dieser Untersuchung ist nicht die Überprüfung des tatsächlichen Sprachgebrauchs mit Hilfe objektiver Messinstrumente, sondern die Erfassung subjektiver Sprachdaten durch die Befragung der Oberschüler/innen selbst. Ausgehend von einer kurzen Beschreibung des soziolinguistischen Hintergrunds in Südtirol (vgl. Abschnitt 2) folgt ein kurzer Literaturüberblick zum Sprachgebrauch an Südtirols Schulen und zu den Einstellungen gegenüber der Varietätenverwendung im schulischen Kontext (vgl. Abschnitt 2.1). In Abschnitt 3 wird das KOMMA-Korpus vorgestellt, bevor die wichtigsten Ergebnisse der Studie präsentiert (vgl. Abschnitt 4) und abschließend reflektiert und diskutiert werden (vgl. Abschnitt 5). 2 SOZIOLINGUISTISCHE SITUATION IN SÜDTIROL Neben dem Italienischen sowie dem Ladinischen stellt Deutsch in Südtirol eine kooffizielle Amtssprache dar. Bei der letzten Sprachgruppenzugehörigkeitserhebung, die im Jahr 2011 im Rahmen der letzten Volkszählung durchgeführt wurde, erklärten sich 69,6 % der deutschen, 25,8 % der italienischen und 4,6 % der ladinischen Sprachgruppe zugehörig (ASTAT 2021: 15). Allerdings scheinen in dieser Statistik Personen aus gemischtsprachigen Familien3 sowie Personen, die mit einer anderen Sprache als Deutsch, Italienisch oder Ladinisch sozialisiert worden sind, nicht auf. Aufgrund der politischen und schulischen Situation in Südtirol ist die deutschsprachige Bevölkerung nicht nur durch eine innere, sondern auch durch eine äußere Mehrsprachigkeit gekennzeichnet. Die innere Mehrsprachigkeit bezeichnet dabei die Beherrschung und Verwendung verschiedener Varietäten innerhalb derselben Sprache, während das Konzept der äußeren Mehrsprachigkeit den Gebrauch und die Kenntnis verschiedener Einzelsprachen bezeichnet (WANDRUSZKA 1979). Für 1 2 3

Projektleitung: Rita Franceschini (Freie Universität Bozen). Zur Sprachverwendung der MaturantInnen im privaten Kontext vgl. LEONARDI (2020a). Zur soziolinguistischen Situation und zum Sprachgebrauch in gemischtsprachigen Familien in Südtirol vgl. EGGER (1985), WEBER EGLI (1992) und LEONARDI (2020b).

Varietätengebrauch und Spracheinstellungen

249

den Südtiroler Kontext bedeutet dies, dass ein deutschsprachiger Sprecher über mindestens zwei Varietäten der deutschen Sprache, die Standardsprache und den Dialekt, und mindestens zwei Einzelsprachen, das Deutsche und das Italienische, verfügt (LANTHALER 2012: 140–143, 149–151; GLÜCK / LEONARDI / RIEHL 2019: 254–261). Die deutsche Standardsprache wird überwiegend in distanzsprachlichen Situationen (z. B. in der Schule, in den Medien, in der Kirche, vor Gericht, bei offiziellen Ansprachen) und vor allem als Schriftsprache verwendet. Fast alleiniges Kommunikationsmittel in der alltäglichen, informellen Kommunikation ist hingegen der Tiroler Dialekt, der zum bairischen Dialektgebiet gehört. 2.1 Varietätengebrauch und Spracheinstellungen im Bildungskontext Umfassende empirische Studien zur aktuellen Varietätenwahl bzw. zum -gebrauch im Südtiroler Bildungskontext4 sind immer noch ausständig. Eine Ausnahme bilden, neben einigen älteren Untersuchungen aus den 70er-, 80er- und 90er-Jahren (EISERMANN 1981; RIEHL 1999; SAXALBER-TETTER 1982; STEINEGGER 1998), die jüngste Erhebung vom Landesinstitut für Statistik aus dem Jahr 2014 (ASTAT, 2015). Im Unterschied zur vorliegenden qualitativen Untersuchung handelt es sich bei den eben erwähnten Studien um quantitative Untersuchungen (Fragebogenerhebungen). Im Folgenden sollen die Ergebnisse von SAXALBER-TETTER (1982), RIEHL (1999; 2007) und ASTAT (2015) kurz vorgestellt werden. In ihrer Fragebogenerhebung aus dem Jahr 1981 befragte SAXALBER-TETTER (1982) deutschsprachige Lehrpersonen nach der im Unterricht am häufigsten verwendeten Varietät. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass 61,6 % der Grundschullehrpersonen und 50 % der Mittelschullehrpersonen angaben, „meistens Hochdeutsch“5 zu sprechen, während 23,1 % der Grundschullehrpersonen und 33,3 % der Mittelschullehrpersonen angaben, „immer Hochdeutsch“ zu sprechen. Die übrigen Lehrpersonen (15,3 % in der Grundschule und 16,7 % in der Mittelschule) verwendeten die Umgangssprache6 als Unterrichtssprache. Von keiner einzigen Lehrperson wurde hingegen der Dialekt als Unterrichtssprache genannt (SAXALBER-TETTER 1982: 55–57). In einer weiteren Studie wurden 1994 insgesamt 270 Schüler/innen an deutschsprachigen Bozner Oberschulen ebenso mittels Fragebogen zu ihrem Sprachgebrauch mit Lehrpersonen befragt (RIEHL 1999; 2007). Laut der Befragung gaben 63 % der Schüler/innen an, in der Interaktion mit einer Lehrperson „manchmal“ Dialekt zu sprechen, 2 % tun dies „oft“ und 35 % behaupteten, in einer solchen 4

5 6

Im Unterschied zum restlichen Italien sieht das Südtiroler Schulsystem seit dem zweiten Autonomiestatut von 1972 eine Dreiteilung der Schulverwaltung vor: Deutsch, Italienisch und Ladinisch. An den deutschsprachigen Schulen ist Standarddeutsch allgemeine Unterrichtssprache, während Italienisch als Zweitsprache (L2) ab der Grundschule unterrichtet wird (vgl. GLÜCK / LEONARDI / RIEHL 2019: 251–252). Werden in der vorliegenden Arbeit die Begriffe Hochdeutsch oder Hochsprache verwendet, so repräsentiert dies das Konzept Standardsprache. Eine Definition findet sich in GLÜCK / LEONARDI / RIEHL (2019: 257–258).

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Situation „nie“ den Dialekt zu verwenden (RIEHL 2007: 108–110). Dieselben Schüler/innen wurden auch nach ihrer Sprachwahl innerhalb der Familie befragt. Dabei gebrauchten 80 % der Befragten „immer“, 10 % „oft“, 6 % „manchmal“ und 4 % „nie“ den Dialekt (RIEHL 2007: 108–110). Das Landesinstitut für Statistik (ASTAT) befragte 2014 über 1.500 Südtiroler/innen mittels eines Fragebogens. 45,3 % der Personen, die zur deutschen Sprachgruppe gehören, gaben an, dass sie in der Kommunikation mit den Lehrpersonen im muttersprachlichen Unterricht vorwiegend die deutsche Standardsprache verwendeten, während 17,3 % der Befragten angaben, einen deutschen Dialekt zu sprechen. Ein deutlich höherer Prozentsatz zeigte sich hingegen in der Interaktion mit Schulfreunden. In diesem Kontext sprach die überwiegende Mehrheit (71,2 %) der deutschsprachigen Befragten nach eigenen Angaben einen deutschen Dialekt, 2,8 % Standarddeutsch und 2,6 % Standarditalienisch (ASTAT 2015: 151–153). Im privaten Bereich, also im Freundes- und Bekanntenkreis, zeigte sich ein sehr ähnliches Bild wie bei RIEHL (2007): 84,7 % der deutschsprachigen Proband/innen verwendeten einen deutschen Dialekt, 4,3 % Standarddeutsch und 3,4 % Standarditalienisch (ASTAT 2015: 143–144). Der Kommunikationskontext hat also einen enormen Einfluss auf die Varietätenwahl in Südtirol: Wie aus RIEHL (2007) und der ASTAT-Studie (2015) deutlich ersichtlich wird, wird die deutsche Standardsprache vorwiegend im schulischen Kontext verwendet. Im Gegensatz dazu spielt der Dialekt in informellen Situationen, wie z. B. innerhalb der Familie und im Freundeskreis, die wichtigere Rolle. Er genießt hohes Ansehen, wird oft als etwas Positives beschrieben, als Sprache des Privaten, als Nähesprache, die als ein wichtiges Identitätsmerkmal angesehen wird (vgl. ABEL 2007; RIEHL 2001; 2007). 3 DATENMATERIAL UND METHODIK Die Datengrundlage für die folgende empirische Untersuchung bildet das KOMMAKorpus, das schriftliche und mündliche Sprachdaten von Südtiroler Maturant/inn/en deutschsprachiger Oberschulen, die in verschiedenen Schuljahren (von 2009/2010 bis 2014/2015) erhoben wurden, umfasst. Für die vorliegende Analyse werden ausschließlich die mündlichen Sprachbiographien herangezogen. Eine umfassende Darstellung des gesamten Korpus7 bieten GLÜCK / LEONARDI (2019: 448–451). Die Erhebung der Sprachbiographien wurde anhand von strukturierten Leitfadeninterviews durchgeführt, die jeweils eine Länge zwischen 13 und 50 Minuten aufweisen. Insgesamt umfassen die Sprachbiographien, die eigens für das Forschungsprojekt KOMMA erhoben wurden, etwas mehr als 25 Stunden Audiomaterial (Ø 24 Minuten; 260.822 Tokens). Alle mündlichen Daten wurden im Transkriptionsprogramm ELAN8 (SLOETJES / WITTENBURG 2008) entsprechend der 7 8

S. auch ; Stand: 31.12.2020. ELAN ist eine vom Max-Planck-Institut entwickelte Software für Audio- und Videoannotationen: ; Stand: 31.12.2020.

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deutschen Rechtschreibung, allerdings in Kleinschreibung transkribiert, manuell normalisiert, automatisch lemmatisiert und PoS-getaggt.9 Die Transkriptionen (s. Anhang) umfassen Pausen, Parasprachliches wie Lachen oder Husten, unverständliche Passagen und Wortabbrüche, aber keine Informationen zu Intonation oder Lautstärke. Im Mittelpunkt des strukturierten Leitfadeninterviews10 standen verschiedene Themenbereiche, u. a. Sprachgebrauch im familiären Kontext und im unmittelbaren Umfeld (Nachbarschaft), Sprach(lern)erfahrungen an der Schule, Fragen in Bezug auf die Sprachkompetenzen und sprachspezifische Fragen (z. B. Einstellungen zur Mehrsprachigkeit in Südtirol). 3.1 Proband/inn/en Das Subkorpus der vorliegenden quantitativen Untersuchung besteht ausschließlich aus den sprachbiographischen Interviews mit Südtiroler Oberschüler/inne/n. An der mündlichen Erhebung nahmen insgesamt 65 junge Erwachsene zwischen 19 und 22 Jahren (Ø 19,3 Jahre) teil, die zum Zeitpunkt der Datenerhebung in der 5. und somit letzten Klasse der Sekundarstufe II (das sog. Maturajahr) waren (vgl. Tab. 1).

N Erhebungsort Geschlecht Alter L1 (Fragebogen)

ProbandInnen 65 n = 13 Bozen, n = 13 Brixen, n = 6 Bruneck, n = 17 Meran, n = 16 Schlanders n = 41 weiblich, n = 24 männlich 19–22 Jahre11 (Ø 19,3 Jahre) n = 61 Deutsch, n = 2 Italienisch, n = 1 Deutsch/Italienisch, n = 1 Deutsch/Spanisch

Tab. 1: Übersicht der Proband/inn/en.

Von den 65 Proband/inn/en besuchten 65 % ein Gymnasium, 29 % eine Fachoberschule und 6 % eine Waldorfschule, wobei 26 % der Schüler/innen in Meran befragt wurden, 25 % in Schlanders, jeweils 20 % in Bozen und Brixen und 9 % in Bruneck.12 In einem kurzen schriftlichen Fragebogen,13 den die Proband/inn/en vor dem 9 Hierfür wurde das PoS-Tagset STTS 2.0 (WESTPFAHL / SCHMIDT 2016) verwendet. 10 Der detaillierte Interviewleitfaden kann online abgerufen werden: ; Stand: 31.12.2020. 11 Alter der ProbandInnen: n=50 (19 Jahre); n=10 (20 Jahre); n=4 (21 Jahre); n=1 (22 Jahre). 12 Es ist anzumerken, dass sich der Schulort nicht zwingend mit dem Wohnort decken muss, da einige Schüler/innen aus Dörfern des ländlichen Umlandes kommen. 13 Im Fragebogen wurden folgende Informationen erhoben: Geburtsjahr der Proband/inn/en, eigene Erstsprache (L1), L1 der Mutter und des Vaters und die prozentuale Verwendung von Deutsch und Italienisch im Gespräch mit Freunden. Zur L1 der Eltern und zum Sprachgebrauch

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Interview ausfüllten und der als Einstieg ins sprachbiographische Interview diente, gaben 94 % an, eine deutsche Varietät als alleinige Erstsprache zu sprechen, und jeweils 3 % gaben entweder Italienisch oder zwei Sprachen als L1 an (vgl. Tab. 1). Wie sich anschließend während der sprachbiographischen Interviews herausstellte, wuchsen 18,5 % (n = 12) der 65 Schüler/innen simultan bilingual auf. LEONARDI (2020b) zeigt auf, wie im familiären Kontext mehr als eine Sprache aktiv verwendet wird. 4 ERGEBNISSE In diesem Abschnitt sollen die qualitativen Ergebnisse der Selbsteinschätzung zur Varietätenverwendung und zu den Spracheinstellungen im Südtiroler Unterrichtsalltag vorgestellt werden, wobei ausschließlich aus der Perspektive der Schüler/innen berichtet wird. Da im Rahmen des Projekts KOMMA keine Beobachtungen während der Unterrichtszeit sowie keine Befragung der Lehrkräfte vorgesehen waren, geht es ausschließlich um die Befragung der Proband/inn/en selbst. Im Hinblick auf die Varietätenverwendung wird situationsangemessen kommuniziert: Der Dialekt ist fast ausschließliches Kommunikationsmittel in der alltäglichen Interaktion und wird im informellen, familiären Umfeld und im Freundeskreis verwendet (Beispiel (1)). In formellen Situationen, wie etwa in der institutionellen Kommunikation, wird standardnah gesprochen und, da die meisten Schüler/innen nur im schulischen Kontext die Möglichkeit haben, den Standard aktiv zu sprechen, auch präferiert, wie Schülerin B3314 in (2) betont. (1) B29: jeder hat einen anderen dialekt und den spricht man ja in der familie und mit freunden und so weiter (-) und (-) die hochsprache ist halt trotzdem eine offizielle sprache und wenn man nach deutschland geht dann (.) kann man sich halt verständigen und ich glaube unseren dialekt versteht nicht jeder [Erhebungsort: Bruneck, Geschlecht: weiblich] (2) B33: [Es] ist ja auch richtig [an der Schule Standarddeutsch zu sprechen] ich mein dialekt ist jetzt keine offizielle sprache und wir sind hier an der schule um (-) die form einer sprache zu lernen und das hochdeutsche und äh (-) wenn wir schon sonst nicht so viel möglichkeiten dazu haben (-) dann ist es schon gut find ich schon gut wenn wir in der schule deu/ äh hochdeutsch sprechen [Meran, weiblich]

Die beiden Zitate beinhalten noch weitere interessante Aspekte. Schülerin B29 beschreibt in (1) mögliche Kommunikationsschwierigkeiten mit Sprecher/inne/n aus dem deutschsprachigen Ausland, da sie befürchtet, dass sie aufgrund ihres Dialekts nicht überall verstanden wird. Sprachkenntnisse in der deutschen Standardsprache ermöglichten ihr hingegen eine größere kommunikative Reichweite. In solchen mit Freunden, vgl. LEONARDI (2020a: 86–88). Der Erhebungsbogen kann online abgerufen werden: ; Stand: 31.12.2020. 14 Die Sprechersiglen setzen sich durch eine Kürzelkombination aus Textart (B = Sprachbiographie) und Probanden-ID zusammen.

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Kommunikationssituationen, also mit Nicht-Südtiroler/inne/n, wird der Dialekt als restringiert, als Verständigungshindernis bzw. als Kommunikationsbarriere wahrgenommen. Gleichzeitig assoziieren manche Schüler/innen mit dem Standard eine „offizielle Sprache“ (Beispiel (1)), während der Dialekt „keine offizielle Sprache“ (Beispiel (2)) ist, was impliziert, dass der standardsprachlichen Varietät in dieser Hinsicht mehr Prestige zugeschrieben wird. In den sprachbiographischen Interviews wurden von den Proband/inn/en sowohl die Varietätenverwendung der Lehrpersonen als auch der eigene Sprachgebrauch während des Unterrichts und im Alltag thematisiert. Befragt nach dem Varietätengebrauch im Unterricht geben die meisten Schüler/innen an, dass („prinzipiell“, „eigentlich“) die Standardsprache gesprochen wird, wie man Beispiel (3), (4) und (5) entnehmen kann, wobei es allerdings auch Ausnahmen gibt, wie Beispiel (6) und (7) aufzeigen. In (6) erwähnt der Schüler B52 lediglich nebenbei, dass „eigentlich viele Lehrer Dialekt“ sprechen. Allerdings wird von Seiten des Interviewers nicht näher darauf eingegangen. (3) B02: im unterricht wird die hochsprache gesprochen […] aber dialekt wird nicht gesprochen also zumindest die lehrer sprechen es nicht [Bozen, weiblich] (4) B14: also es ist prinzipiell hochdeutsch erwünscht und es wird sich eigentlich auch dran gehalten […] es ist nicht schlimm wenn man hin und wieder einen begriff einen dialektbegriff so benutzt oder so aber man könn/ darf jetzt nicht anfangen bei einer präsentation da in dialekt vorzureden oder so das geht natürlich nicht oder den lehrer auf dialekt ansprechen [Brixen, männlich] (5) B53: also die lehrer versuchen schon (.) so gut wie möglich ähm hochdeutsch zu reden aber man merkt eben auch (-) dass sie von hier sind und es ihnen ein bisschen schwer fällt (.) also es gibt lehrer die können besser hochdeutsch reden als andere (-) und a/ manche bemühen sich auch mehr und (-) ja aber a/ es versuchen eigentlich schon fast alle hochdeutsch zu reden [Schlanders, männlich] (6) B52: die frau NAME15 die spricht also ziemlich immer (.) hochdeutsch aber sonst (-) reden eigentlich viele lehrer dialekt [Schlanders, männlich]

In (4) spricht der Schüler B14 von einer angemessenen und unangemessenen Dialektverwendung in gewissen Unterrichtssituationen. Aus dem Beispiel geht hervor, dass die Schüler/innen hin und wieder „einen Dialektbegriff“ verwenden, was von Seiten der Lehrpersonen auch akzeptiert wird, allerdings meint der Schüler weiter, dass Referate nicht im Dialekt gehalten werden dürfen bzw. darf eine Lehrperson im Unterricht auch nicht im Dialekt angesprochen werden. Es wird also Wert auf eine standardsprachliche Ausdrucksweise während des Unterrichts gelegt, v. a. auf Seiten der Lehrkraft bzw. auch in der Kommunikation mit der Lehrkraft. Sobald die Schüler/innen vom Standard abweichen, werden sie „gebeten also zurückzukehren zu der hochdeutschen Sprache“, wie Schülerin B33 in (7) berichtet. Der

15 Um keine Hinweise auf die Identität einer Person zu geben, wurden sensible Daten anonymisiert.

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Dialektgebrauch der Schüler/innen wird also nicht sanktioniert, aber es wird zumindest darauf hingewiesen, wieder die Standardsprache zu verwenden. Anhand der Äußerungen wird ersichtlich, dass sich in Bezug auf die Unterrichtssprache durch die Lehrpersonen kein einheitliches Bild erkennen lässt: Einerseits erklären Schüler/innen, dass Lehrpersonen im Unterricht keinen Dialekt verwenden (Beispiel (3)), andererseits wird der Dialektgebrauch im Unterricht (Beispiel (6)) sowie bei außerschulischen Aktivitäten (Beispiel (7)) bestätigt. So berichtet B33 in (7), dass die Lehrpersonen „aus demselben Umfeld sind“ wie die Schüler/innen selbst, daher wurde „bei der Maturareise […] nur Dialekt gesprochen mit den Lehrpersonen“. In (8) und (9) wird ebenso die Dialektverwendung im Unterricht thematisiert. In (8) beschreibt Schülerin B08, dass Lehrpersonen, „wenn sie etwas erklären oder nur mit einem einzelnen Schüler sprechen“, manchmal den Dialekt verwenden. In (9) betont Schülerin B57 zwar, dass Lehrkräfte „mit uns Hochdeutsch sprechen [müssen]“, dass allerdings, abhängig von der regionalen Herkunft der Lehrperson (z. B. Österreich) oder aufgrund einer persönlichen Präferenz von Seiten der Lehrperson (z. B. Mathematiklehrer), der Dialekt als Unterrichtssprache bevorzugt wird. (7) B33: bei der maturareise zum beispiel heuer haben wir (-) auch nur dialekt gesprochen mit den lehrpersonen weil wir einfach aus demselben umfeld sind (-) und wir gewöhnlich dialekt miteinander sprechen (-) aber wir (-) sind müssen uns an die amtssprache halten in der schule sprechen wir hochdeutsch (-) und wir werden auch ähm aufgefordert das (-) sobald wir irgendwie abweichen we/ werden wir gebeten also zurückzukehren zu der hochdeutschen sprache [Meran, weiblich] (8) B08: es ist manchmal so dass halt lehrer wenn sie etwas erklären oder nur mit einem einzelnen schüler sprechen weil der etwas fragt manchmal so ganz ganz leicht in den dialekt überspringen aber das (-) passiert vielleicht bei zwei lehrern oder drei und das nur ganz ganz selten (-) weil es einfach irgendwie halt persönlicher ist [Bozen, weiblich] (9) B57: die lehrer müssen mit uns hochdeutsch sprechen (-) aber es gibt einige lehrer die das nicht interessiert (-) die wollen das auch nicht wie zum beispiel hier der mathematiklehrer spricht immer dialekt (-) und (-) ähm dur/ dadurch dass die biologielehrerin aus österreich kommt spricht sie ja auch ihren dialekt (-) und dann kann man auch manchmal dialekt sprechen das geht dann schon [Schlanders, weiblich]

Durch die verwendeten Adjektive mit Intensitätspartikeln („ganz ganz leicht“, „ganz ganz selten“) und durch die längeren Pausen scheint die Schülerin B08 in (8) ihre eigene Aussage zu relativieren, möglicherweise aufgrund der Tatsache, dass die sozial erwünschte Antwort auf die Frage nach dem Sprachgebrauch im Unterricht die deutsche Standardsprache ist. Im selben Abschnitt erwähnt sie aber weiter, dass die Verwendung des Dialekts „einfach irgendwie halt persönlicher“ ist, wodurch Nähe ausgedrückt wird. Für einige Proband/innen stellt die Umstellung vom Dialekt in die Standardsprache keine Schwierigkeiten bzw. nichts Ungewöhnliches dar, es fühlt „sich jetzt nicht unangenehm oder so an“, wie in (10) erkennbar ist. Allerdings können die eingeschränkte Verwendung und die daraus resultierende mangelnde Praxis in der

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Alltagskommunikation bei einigen Sprecher/inne/n zu sprachlichen Unsicherheiten in Bezug auf die eigenen standardsprachlichen Kompetenzen führen, wie man den Beispielen (11) und (12) entnehmen kann. (10) B60: [Es ist] nicht ungewöhnlich [Standarddeutsch zu hören oder zu sprechen] nein (.) a/ ich spreche es nur in der schule aber trotzdem (-) fühlt es sich jetzt nicht unangenehm oder so an [Schlanders, weiblich] (11) B52: [Die Verwendung der deutschen Standardsprache in der Schule ist] ganz normal eigentlich halt höchstens ein bisschen unsicher bei manchen ausdrücken die einem nicht vielleicht sofort einfallen [Schlanders, männlich] (12) B04: daheim spricht man nicht auf hochdeutsch und dann in der schule muss man sich halt dann anstrengen und damit auseinandersetzen (-) ja also ich tu mich schwer auf hochdeutsch zu reden (-) ((lacht)) [Bozen, weiblich]

Die letzten beiden Ausschnitte weisen darauf hin, dass der Gebrauch der Standardsprache in der Schule zwar irgendwie „ganz normal“ (Beispiel (11)) sei, aber dann doch nicht immer problemlos erfolgt, da es einer bewussten Anstrengung der Sprecher/innen bedarf, man fühle sich „ein bisschen unsicher bei manchen Ausdrücken“ (Beispiel (11)) und muss sich „in der Schule […] halt dann anstrengen und [sich] damit auseinandersetzen“ (Beispiel (12)). Nach Aussagen einiger Oberschüler/innen erfordert die standardsprachliche Interaktion demnach viel Mühe und Konzentration und impliziert dadurch, dass diese Sprechweise für manche unserer Proband/inn/en nicht ‚natürlich‘ ist. Schülerin B04 beschreibt in (12) wie im familiären Umfeld der Dialekt gesprochen wird, der somit die natürlichere Sprachvarietät darstellt. „In der Schule muss man sich halt dann anstrengen“, so B04 weiter, womit sie zum Ausdruck bringt, dass es sich um eine weniger familiäre Sprachvarietät handelt. 5 DISKUSSION UND FAZIT Im vorliegenden Beitrag sollten neben der Frage zur Varietätenverwendung im Unterricht auch die Einstellungen zum Varietätengebrauch während und außerhalb des regulären Unterrichts durch die Sprecher/innen selbst thematisiert werden. Wie bereits mehrfach verdeutlicht, spielt bei der deutschsprachigen Bevölkerung die innere Mehrsprachigkeit eine bedeutende Rolle: Die Varietät Dialekt wird intensiv verwendet und ist in fast allen Domänen vorherrschend, während die Verwendung der Standardsprache v. a. in formellen Kommunikationssituationen, wie etwa im Schulunterricht, als angemessen erachtet wird.

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5.1 Varietätengebrauch In den sprachbiographischen Interviews sollte eruiert werden, welche Sprachvarietät(en) in einem spezifischen Kontext, nämlich im muttersprachlichen Unterricht, als situationsadäquat erachtet wird/werden. An den deutschsprachigen Schulen in Südtirol ist die deutsche Standardsprache allgemeine Unterrichtssprache. Die sprachliche Realität im Klassenzimmer ist aber wesentlich komplexer, wie u. a. SAXALBER-TETTER (1982), RIEHL (1999; 2007) und ASTAT (2015) aufgezeigt haben (vgl. 2.1). Im vorliegenden Beitrag wurde ausschließlich die innere Mehrsprachigkeit thematisiert und alle übrigen Sprachvarietäten, Fremd- oder Herkunftssprachen, die im (schulischen) Alltag vorkommen, wurden nicht berücksichtigt, vgl. hierfür ASTAT (2015; 2021), COLOMBO / STOPFNER (2018), ENGEL / PLATZGUMMER / ZANASI (2020). Die Interviews haben gezeigt, dass die hier untersuchte Sprechergruppe über ein hohes Sprach(gebrauchs)bewusstsein verfügt: Die Oberschüler/innen verfügen über ein Wissen darüber, dass ein (gesprochener und geschriebener) Standard existiert sowie ein Wissen darüber, wann die Verwendung des Standards angemessen ist und wann nicht. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, erfolgt eine Korrektur bzw. Ermahnung von Seiten der Lehrperson (Beispiel (7)). Allerdings zeigen einige Ausschnitte, dass sogar in einem formellen Kontext, wie etwa im Schulunterricht, dialektale Ausdrücke manchmal akzeptiert bzw. auch als angemessen erachtet werden (Beispiel (4), (7) und (8)). Gleichzeitig wird der Dialekt in gewissen Unterrichtssituationen, wie etwa bei einem Referat, stark stigmatisiert und vehement abgelehnt (Beispiel (4)). Neben dem Kontext spielt auch die Lehrperson selbst eine entscheidende Rolle, wie in (9) beschrieben wird, denn abhängig von der regionalen Herkunft der Lehrperson oder der persönlichen Präferenz der Lehrperson wird der Dialekt als Unterrichtssprache bevorzugt. Anhand der Äußerungen der Proband/inn/en wird also ersichtlich, dass Sprachvariation nicht nur situationsspezifisch, sondern auch vom/von der Kommunikationspartner/in abhängig ist. 5.2 Spracheinstellungen Der Dialekt ist diejenige Sprachvarietät, die im alltäglich-privaten Bereich verwendet wird, während die Standardsprache v. a. mit dem öffentlich-formellen Bereich assoziiert wird. Die Nonstandardvarietät fungiert als „Symbol der Südtiroler Identität“ (RIEHL 2001: 23), genießt folglich ein sehr hohes Prestige und hat einen hohen Stellenwert. In den alltäglichen, informellen Gesprächssituationen innerhalb der Familie oder im Freundeskreis wird hingegen die Standardvarietät als inadäquat wahrgenommen. Lediglich in der Kommunikation mit Nicht-Südtiroler/inne/n erwähnt Probandin B29 (Beispiel (1)) die kleinräumigere Verständlichkeit ihres Dialekts und die damit verbundenen Verständigungshindernisse mit Sprecher/inne/n aus dem deutschsprachigen Ausland. In Bezug auf den deutschen Standard sind die Spracheinstellungen unserer Proband/inn/en sehr ambivalent. Die Standardsprache wird – im Gegensatz zu den

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Nonstandardvarietäten – als „offizielle Sprache“ (Beispiel (1)), als „Amtssprache“ (Beispiel (7)) bezeichnet. Im Hinblick auf formelle Kommunikationssituationen wie z. B. die Schule wird die deutsche Standardsprache als korrektere, geeignetere Sprachvarietät perzipiert. Des Weiteren wird der Standard in Verbindung mit überregionaler Verständlichkeit gebracht, hat dadurch eine größere kommunikative Reichweite und wird somit ebenso als prestigeträchtig wahrgenommen und mit positiven Attributen assoziiert. Trotz des Gefühls, dass die deutsche Standardsprache „nicht das Gewohnte ist“ (Schülerin B08), genießt sie also ein hohes Ansehen, und der Großteil der hier untersuchten Sprechergruppe weist positive Einstellungen auf. Die Beherrschung und die Verwendung des Standarddeutschen in der Schule werden von einigen Schüler/inne/n als normal und unproblematisch empfunden, als „nichts außergewöhnliches“ (Schülerin B61). Gleichzeitig berichten einige MaturantInnen, dass sie in der Schule Schwierigkeiten haben, standardnah zu interagieren, sich „unsicher“ fühlen, wie der Schüler B52 betont (Beispiel (11)). SAXALBERTETTER / LANTHALER (1994: 82) schreiben dazu, dass neben denjenigen Schüler/inne/n, die den durch die Standardsprache gewonnenen „neuen Erlebniszugriff als positiv, anregend“ erleben, andere „den schulischen Zwang zur Hochsprache als innere Bedrohung“ empfinden. LANTHALER (1990: 75) spricht von „Hemmungen beim Gebrauch der deutschen Standardsprache“, da der/die Südtiroler Sprecher/in „wenig Übung im Umgang mit der Standardsprache“ hat. Dies deckt sich mit den Aussagen in ABEL (2007) und RIEHL (1999), denn aufgrund des geringen „Kontakts mit Sprechern aus anderen deutschsprachigen Gegenden [kommt] der Schule in der Vermittlung des Standards eine bedeutende Rolle zu“ (RIEHL 1999: 136–137). Bereits frühere Studien haben gezeigt, dass Südtiroler/innen oft ein gespaltenes, ambivalentes Verhältnis zum deutschen Standard haben (vgl. ABEL 2007; LEONARDI 2020a; SAXALBER-TETTER / LANTHALER 1994). ABEL (2007: 10) stellte in einer qualitativen Untersuchung16 fest, dass Südtiroler Schüler/innen der Sekundarstufe II den Dialekt als „gefühlsbetont“ und „flüssiger“ beschreiben, als Sprache des Privaten, als Nähesprache, während die Standardsprache als Distanzsprache wahrgenommen wird, die vor allem mit dem schulischen Kontext in Zusammenhang gebracht wird (vgl. auch RIEHL 2001). Dies konnte in unseren qualitativen Interviews bestätigt werden. Wie aus Beispiel (8) hervorgeht, wird bei emotionalen Äußerungen eher die nähesprachliche Varietät, also der Dialekt, verwendet, da er als „persönlicher“ beschrieben wird. Ähnliche Befunde zum Varietätenwechsel während des Unterrichts konnten auch bei DE CILLIA (2018) und DE CILLIA / RANSMAYR (2019) in ihrer Studie zum Varietätengebrauch an österreichischen Schulen beobachtet werden. Sie schreiben, „[d]ass viele LehrerInnen in die Umgangssprache oder den Dialekt wechseln, sobald persönliche oder emotionale Angelegenheiten zur Sprache kommen“ (DE CILLIA / RANSMAYR 2019: 202). 16 Im Rahmen von Fokusgruppendiskussionen wurden in ABEL (2007) u. a. sprachliche und außersprachliche Faktoren ermittelt, die die Sprachkenntnisse, die Wahrnehmung der (Zweit-) Sprachkompetenzen und die Verwendung der Zweitsprache von deutsch- und italienischsprachigen Schüler/innen der 4. Klasse der Sekundarstufe II beeinflussen. In den Diskussionen wurden dabei auch Einstellungen und Überzeugungen gegenüber der deutschen und italienischen Sprache geäußert.

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Bei den Daten der vorliegenden empirischen Studie handelt es sich um Selbstauskünfte der Maturant/inn/en, die nicht mit dem tatsächlichen Sprachverhalten der Schüler/innen und/oder Lehrpersonen übereinstimmen müssen. Wünschenswert wäre ein Vergleich von subjektiven und objektiven Daten: Stimmt die subjektive Einschätzung der Oberschüler/innen mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch der Lehrpersonen überein? Daher sind weitere empirische Erhebungen (i) zum tatsächlichen Sprachgebrauch mit Hilfe von objektiven Messinstrumenten (z. B. teilnehmende Beobachtungen in den Klassenzimmern und im Raum Schule), (ii) zur Varietätenverwendung aus Sicht der Schüler/innen sowie der Lehrkräfte und (iii) zu den vorherrschenden Grundsätzen und Einstellungen gegenüber den deutschen Varietäten mit Hilfe quantitativer Messinstrumente notwendig, um ein vollständigeres Bild erhalten zu können. Des Weiteren wären eine Sensibilisierung, eine explizite Thematisierung und Reflexion der unterschiedlichen Varietäten in den Lehrplänen, im Deutschunterricht sowie in der Lehreraus- und -fortbildung wünschenswert, was schlussendlich zu einem bewussten, reflektierten und selbstbewussten Umgang mit den sprachlichen Varietäten in Südtirol führen sollte (vgl. LEONARDI / HOFER 2020; SAXALBERTETTER / LANTHALER 1994). SAXALBER-TETTER / LANTHALER (1994: 89), stellten bereits vor über 25 Jahren fest, dass „Lehrer ohne linguistische und sprachdidaktische Grundausbildung […] mit der Problematik der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit nicht zurecht[kommen]“. Im Hinblick auf ein explizites Wissen über die verschiedenen Varietäten und Register profitieren Lehrpersonen, da es ihnen erlaubt, ein positives Bild von sprachlicher Vielfalt zu vermitteln sowie einen selbstbewussten Umgang mit den sprachlichen Repertoires der Schüler/innen zu fördern. Im Hinblick auf ein Wissen über sprachliche Variation und die vielschichtige Sprachsituation in Südtirol profitieren insbesondere aber die Schüler/innen selbst, da sie lernen, die eigenen Sprachkompetenzen einzuschätzen und wertzuschätzen sowie das Sprachverhalten kritisch zu hinterfragen. ANHANG Transkriptionskonventionen: (.) kurze Pause (-) lange Pause a/ könn/ dur/ Wortabbruch ((lacht)) Para- und außersprachliche Handlungen LITERATUR ABEL, ANDREA (2007): Werkstattbericht über das Projekt „Die Südtiroler SchülerInnen und die Zweitsprache: eine linguistische und sozialpsychologische Untersuchung“. In: Linguistik Online 32(3), 3–14. URL: ; Stand: 31.12. 2020.

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ZUR SOZIALEN BEDEUTUNG DES BAIRISCHEN IN BAYERN Das indexikalische Feld einer Dialektgruppe Konstantin Niehaus ABSTRACT Dieser Beitrag untersucht die Bedeutung des Bairischen für die regionale Identitätskonstruktion seiner SprecherInnen. Mit den Konzepten des Enregisterment und des indexikalischen Feldes werden kulturelle und linguistische Stereotype sowie eine charakterologische Sprecherfigur durch eine Inhaltsanalyse episodischer Interviews herausgearbeitet. Insbesondere Vergleiche mit bairischsprechenden ÖsterreicherInnen sowie norddeutschen SprecherInnen bilden zentrale Ankerpunkte im Bedeutungsfeld, die sich als Prototypen verstehen lassen. Abschließend werden sprachpolitische Implikaturen kurz diskutiert. 1 ZUR SOZIALEN BEDEUTUNG VON DIALEKTEN: FORSCHUNGSLAGE UND FRAGESTELLUNG Fragt man Laien spontan nach der sozialen Bedeutung von Dialekten im deutschsprachigen Raum, bekommt man in der Regel Antworten, die auf ‚Identität‘, ‚Wurzeln‘, ‚Ortsverbundenheit‘, ‚Heimat‘, ‚Wohlfühlfaktor‘, aber auch ‚Authentizität‘ und ‚Bodenständigkeit‘ verweisen. In der bestehenden Forschung sind diese Bedeutungen zwar zuweilen Erklärungen für strukturellen oder interaktiven Sprachgebrauch (vgl. hierzu z. B. KÖNIG 2014), jedoch ist ebenjene Soziosemantik selten das zentrale Untersuchungsobjekt (Ausnahmen sind v. a. derzeit laufende Forschungen zum Niederdeutschen, z. B. NEUMANN 2019; SCHRÖDER 2019). Der folgende Beitrag möchte deshalb im Anschluss an neuere Ansätze zum Zusammenhang von Variation und Identität (vgl. z. B. den Band von LENZ / PLEWNIA 2018) die soziale Bedeutung von Dialekten für ihre SprecherInnen behandeln, und zwar beispielhaft am Bairischen in Bayern. Die Analyse konzentriert sich dabei auf die gedankliche Basis solcher Bedeutungszuschreibungen sowie die soziale Funktion des Dialekts (bzw. des Dialektsprechens) für regionale, in diesem Fall ‚bayerische‘1, Identität. Wie Nationen sind auch Regionen ‚imagined communities‘ (ANDERSON 1988), deren soziale Bedeutung sich aus 1

Wie noch zu sehen sein wird, machen BairischsprecherInnen nicht den Unterschied zwischen ‘bairischsprachig’ und ‘der politischen Einheit Bayern zugehörig’, wie er in der Dialektologie üblich ist.

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einem aus der „(schulischen, politischen, medialen, sportlichen, alltagspraktischen) Sozialisation verinnerlichten Komplex von gemeinsamen und ähnlichen Vorstellungen, von gemeinsamen und ähnlichen emotionalen Einstellungen und Haltungen und von gemeinsamen und ähnlichen Verhaltensdispositionen“ (DE CILLIA 2015: 151) speist. Freilich wird dabei für die Interpretation zu berücksichtigen sein, wie ‚Dialekt‘ und ‚Bairisch‘ von den SprecherInnen als Bestandteil ihres Sprachrepertoires konzeptualisiert werden (konkret in Abgrenzung zu den von mir benützten Triggern ‚Umgangssprache‘ und ‚Hochdeutsch‘), auch wenn diese Frage nicht im Zentrum der Betrachtung gestanden hat. Als empirische Indizien dafür dienen Narrative über Sprache und Sprachgebrauch sowie subjektive Einstellungen der SprecherInnen gegenüber ihrem Dialekt und davon abzugrenzenden Varietäten (und deren SprecherInnen). Dazu werden einschlägige Ergebnisse aus dem Projekt „regionale Sprache und Identität in Altbayern. Das Enregisterment bairischer Dialekte“2 vorgestellt. Als theoretisches Grundgerüst wird das „indexikalische Feld“ (ECKERT 2008) von Sprecherrepertoires oder Teilen davon präsentiert: Sprachliche Zeichen (z. B. Dialektmerkmale) können soziale Qualitäten anzeigen (indexikalisieren). Relevant für die Analyse sind die soziale Bedeutung sowohl des gesamten Repertoires (z. B. aus Dialekt, Regiolekt und Standard) als auch des Dialekts oder sogar nur einzelner dialektaler Merkmale. Ich werde anschließend die Methodik des Projekts vorstellen, die auf ethnografischen Zugängen aufbaut und längere episodische Einzelinterviews als Datengrundlage verwendet. Hiernach folgt eine qualitative Inhaltsanalyse von Aspekten, die sich im Laufe der Interviews als sozial bedeutsam erwiesen haben. Zuletzt folgen eine Zusammenfassung und ein Ausblick auf die weitere Erforschung im Rahmen des Projekts und darüber hinaus. 2 INDEXIKALITÄT UND INDEXIKALISCHES FELD Sprachliche Formen können mit sozialer Bedeutung aufgeladen werden. Semiotisch gesehen ist dabei entscheidend, dass die sprachlichen Zeichen eine indexikalische Funktion für Soziales erfüllen. So, wie also beispielsweise Rauch als Anzeichen (Index) für Feuer gewertet wird, können (je nach SprecherIn oder Sprechergruppe) einzelne linguistische Varianten oder ganze Varietäten/Sprachen ein Index für soziale Qualitäten (oder ganze Personae3) sein, z. B. ‚Höflichkeit‘, ‚Verständlichkeit‘, ‚Bodenständigkeit‘ usw. (und damit indirekt auch für demografische 2

3

Das Projekt ist an das Bayerische Wörterbuch (BWB) angeschlossen und wurde ermöglicht durch ein Forschungsstipendium der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (München). Für die großzügige Förderung sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. An dieser Stelle sei auch allen TeilnehmerInnen der Studie herzlich gedankt – ohne ihr Interesse für das Projekt, ihre bereitwillige Unterstützung und den offenen Austausch mit ihnen wäre die vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen. Ähnlich auch ‚charakterologische Figur‘ (vgl. AGHA 2003: 243). Im deutschsprachigen Kontext denke man bspw. an regionale Klischees wie die rheinische Frohnatur, die Berliner Schnauze oder den Münchner Grantler.

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soziale Kategorien, die SprecherInnen mit solchen Bedeutungen assoziieren, vgl. SILVERSTEIN 1985). Die Grundlage dafür, dass SprecherInnen überhaupt soziale Indexikalität über Sprache ausdrücken können, sind ihre jeweiligen Wertvorstellungen über Sprache. SILVERSTEIN (1979: 193) definiert diese sprachlichen Ideologien als „a set of beliefs about language articulated by users as a rationalization or justification of perceived language structure and use“. Insbesondere die Authentizitätsideologie hat in den letzten Jahrzehnten vermehrte Aufmerksamkeit erfahren (vgl. LACOSTE / LEIMGRUBER / BREYER 2014), die Wertvorstellung also, dass manche SprecherInnen einer Sprechergruppe ‚echter‘ (d. h. bspw. ‚ursprünglicher‘, ‚natürlicher‘ oder ‚repräsentativer‘) seien als andere. Nicht nur wird linguistische Inauthentizität als Argument benutzt, SprecherInnen zu deligitimieren und aus einer sozialen Gruppe auszuschließen, umgekehrt gilt sprachliche Authentizität als Autoritäts- und Inklusionsmerkmal (hierzu WOOLARD 1985). Soziale Bedeutungen sind die empirische Basis, um solche Ideologien zu identifizieren (vgl. BLOMMAERT 2018: 22). Um diese Bedeutungen zu erfassen, schlägt Eckert das Modell des indexikalischen Feldes vor (ECKERT 2008). Ein indexikalisches Feld ist eine „constellation of ideologically related meanings, any one of which can be activated in the situated use of the variable“ (ECKERT 2008: 454).4 In dieses ‚Feld‘ schreiben die SprecherInnen gedanklich all diejenigen sozialen Bedeutungen hinein, die über sprachliche Zeichen indexikalisiert werden. Hierbei findet Enregisterment (AGHA 2003) statt, d. h. metasprachliche Prozesse, in welchen SprecherInnen ein künstliches Register aus sprachlich-sozialen Stereotypen erstellen, das für die Identität ihrer eigenen Gruppe steht. Stereotype sind dabei geprägt von „erasure“, „recursivity“ und „iconicity“ (IRVINE / GAL 2000).5 Ein Vorteil des indexikalischen Feldes ist, dass damit auch ‚doppelte Stereotypisierungen‘ – also nicht nur relevante soziale Autostereotype (Selbstbilder), sondern auch semantisch-paradigmatisch korrespondierende6 Heterostereotype (Fremdbilder), d. h. Stereotype über die von der eigenen Gruppe abzugrenzende Sprache anderer sozialer Gruppen – im wahrsten Sinne des Wortes abgebildet werden können (ähnlich den gegenüber gestellten Bedeutungen der (ING)-Varianten in Abb. 17). 4

5

6 7

JAFFE (2016: 95) unterscheidet „indexical field“ und „field of indexicalization“: “[…] if indexical fields map the varied social indexicalities associated with a particular linguistic (or other semiotic) variable, fields of indexicalities map the linguistic and semiotic variables associated with a particular social object”. Diese Unterscheidung kann hier aus Platzgründen nicht weiterverfolgt werden. „Erasure“ meint das Auslöschen/-blenden der Gemeinsamkeiten mit anderen Gruppen und der Unterschiede innerhalb der eigenen Gruppe, „recursivity“ das Übertragen einer einzelnen Zeichen-Soziales-Ähnlichkeit auf andere Zeichen, z. B. von sprachlicher auf allgemein kulturelle Ähnlichkeit, und „iconicity“ schließlich die (Re-)Interpretation der Ähnlichkeit als ikonisch, d. h. als naturgegebene Eigenschaft der eigenen Gruppe. Z. B. Antonyme zu Bedeutungen der Autostereotype. Dies dient nur zur Veranschaulichung; freilich können die gezeigten (ING)-Varianten nicht nur Sprechertypen, sondern auch schlicht unterschiedliche Kontexte indexikalisieren.

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Ein wesentlicher Nachteil des Modells ist, dass die Fähigkeit der SprecherInnen, die sozialen Bedeutungen metasprachlich zu kommentieren, nicht nach Bewusstheitsgrad klassifiziert werden kann (oder gar beurteilt werden kann, ob die Fähigkeit diachron abnimmt oder zunimmt), obwohl eine Hierarchisierung in vielen Fällen evident ist (vgl. JAFFE 2016: 97). In diesem Zuge wird der Stance-takingProzess (‚fielding‘) durch die Konzentration auf ‚statische‘ Bedeutungen vernachlässigt (vgl. JAFFE 2016: 109–110). Insofern betont die Felddarstellung semantische und diskursive Möglichkeiten, nicht Tendenzen. Die Analyse versteht sich einerseits als Pilotstudie, um überhaupt zu feldrelevanten Kategorien zu gelangen, andererseits muss sie die Darstellung sinnvollerweise auf paradigmatische Bedeutungsrelationen beschränken, vornehmlich solche, für die eine klare Paarbildung möglich ist.

Abb. 1: indexikalisches Feld von (ING)-Formen im Englischen, z. B. going/goin’ (aus ECKERT 2008: 466) (schwarz = Bedeutungen der velaren Variante -ing; grau = Bedeutungen der apikalen Variante -in’)

In die Analyse des Bairischen müssen einerseits einzelne linguistische Merkmale und ihre sozialen Bedeutungen, andererseits auch die Praxis des Bairischsprechens und seiner Indexikalität einbezogen werden. Um außerdem nicht zu viele Vorannahmen über die ‚Authentizität‘ der ProbandInnen zu tätigen, sollte in der vorliegenden Untersuchung als Kriterium zur ProbandInnenauswahl lediglich dienen, dass alle Personen in einer bairischsprechenden Umgebung in Bayern mindestens 15 Jahre lang wohnhaft gewesen sind (idealerweise die ersten 15 Lebensjahre). Dies soll gewährleisten, dass die ProbandInnen genügend zur metasprachlichen Reflexion über das Bairische befähigt sind. Soziodemografische Unterschiede betreffend Geschlecht, Alter, Mobilität und Bildungsgrad der ProbandInnen wurden für die Interpretation genauso berücksichtigt wie die womöglich unterschiedliche Konzeptualisierung von Varietäten, insbesondere bezüglich ‚Hochdeutsch‘, ‚Dialekt‘ und ‚Umgangssprache‘. Es kann jedoch vorweggenommen werden, dass der Einfluss des Geschlechts, des Alters und des Bildungsgrads überraschend gering gewesen

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ist. Auf die übrigen genannten Faktoren wird an geeigneter Stelle eingegangen. ‚Umgangssprache‘ erschien fast allen ProbandInnen problematisch, wurde nur zögerlich oder gar nicht verwendet und scheint – trotz sonst weitläufiger Verbreitung im tatsächlichen Sprachgebrauch – gegenüber der Dichotomie ‚Hochdeutsch – Dialekt‘ von untergeordneter sozialer Bedeutung im vorliegenden indexikalischen Feld. 3 METHODIK: EPISODISCHE INTERVIEWS UND PROBANDiNNEN Im qualitativ-soziolinguistisch angelegten Projekt „regionale Sprache und Identität in Altbayern“ wurden SprecherInnen aus den laienlinguistisch als ‚altbayerisch‘ bezeichneten Regierungsbezirken Oberbayern, Niederbayern und der Oberpfalz in episodischen Einzelgesprächen interviewt. Die Interviews dauerten ca. eine Stunde und wurden bei den GesprächspartnerInnen zu Hause (bei SchülerInnen: in der Schule) oder per Telefon/Skype durchgeführt. Die Interviews wurden in literarischer Umschrift und zum Teil nach GAT2 transkribiert; die Auswertung erfolgte inhaltsanalytisch („Kontextanalyse“ in Anlehnung an MAYRING 2015: 90–93) und konzentriert sich dabei darauf, diejenigen Bedeutungsrelationen herauszuarbeiten, die das indexikalische Feld des Bairischen in Bayern durch das Enregisterment bestimmter sprachlicher oder sozialer Merkmale füllen. Die Ergebnisse wurden mit einem Member Check validiert, d. h. die Interpretationen der Selbstaussagen (des/der ProbandIn) wie auch anonymisierter Fremdaussagen (anderer ProbandInnen) wurden den ProbandInnen anhand der inhaltsanalytischen Kodierungen präsentiert und mit ihnen in jeweils 30-minütigen Einzelgesprächen diskutiert. So wurde etwa erst in diesen Gesprächen deutlich, dass das unter 4.4 angesprochene Double Stereotyping für alle ProbandInnen (und nicht nur für ‚AkademikerInnen‘) durchaus metalinguistisch kommentierbar und kritisch reflektierbar ist, das Österreicher-Stereotyp (4.3) bestätigte sich hingegen bei allen (also auch bei ‚AkademikerInnen‘) als implizit ideologisch. Ethnografische Zugänge haben den Nachteil, nicht replizierbar zu sein, die individuellen Member Checks bieten daher eine essenzielle Rückversicherung, die es den Mitgliedern einer Community erlaubt, ohne Einflüsse anderer befragter Mitglieder in der direkten Interaktion (d. h. z. B. abseits von Macht- und Meinungsführungskonstellationen eines Gruppengesprächs) die Interpretation zu korrigieren8. Dies betrifft etwa die offensichtliche Irrelevanz, die SprecherInnen anderer in Bayern gesprochener Dialekte für das indexikalische Feld der ProbandInnen hatten, die im Interview für mich überraschend war, aber in unabhängigen Member Checks von allen TeilnehmerInnen bestätigt wurde.9 Ein episodisches Interview meint ein Gespräch aus narrativen und leitfadengestützten Teilen (vgl. HELFFERICH 2011: 36, 178–189). Der Leitfaden hierzu (s. 8

9

Freilich hat der/die Forschende weiterhin interaktiven Einfluss (vgl. z. B. KÖNIG 2017). Im Rahmen des Projekts konnte jedoch schnell und unkompliziert eine vertrauensvolle (und in Anbetracht der flüchtigen Bekanntschaft überraschend offene) Basis mit den ProbandInnen erreicht werden. Entsprechend bildet dieser innerbayerische Vergleich entgegen der ursprünglichen Planung auch keinen größeren Block in der Inhaltsanalyse mehr.

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Anhang) orientierte sich an den theoretischen Überlegungen zu einem „identity questionnaire“ (vgl. LLAMAS 2017). Im konkreten Fall wurde er angereichert durch die Interviewkonzepte des SiN-Projekts („Sprachvariation in Norddeutschland“, vgl. z. B. SCHARIOTH 2015) sowie konkret für den bairischen Kontext mit Fragen aus FISCHER (2019). Jedes Interview gliedert sich in insgesamt sechs thematische Teilbereiche10 und umfasst narrative (meist anekdotische) Teile genauso wie (offene und geschlossene) Leitfadenfragen. Auch geschlossene Leitfadenfragen wurden zusätzlich als Gesprächsinitiation verwendet, um narrative Passagen zu elizitieren oder um den ProbandInnen eine individuelle Begründung ihrer Antwort zu ermöglichen. Dass die ProbandInnen sozial (oder ihres Erachtens vom Interviewer) erwünschte Antworten liefern, wurde stets bedacht – konkret führte dies zum Phänomen, verpönte Meinungen nicht als eigene, sondern als fremde Aussagen zu zitieren (ob die ProbandInnen selbst der Aussage zustimmen, wird allenfalls von ihnen impliziert und kann daher im Folgenden nicht umfassend analysiert werden). Insgesamt habe ich mit 13 Personen gesprochen. Die GesprächspartnerInnen sind (mit Ausnahme Richards, der aus Hessen stammt) in den jeweiligen Regionen geboren, sozialisiert und meist immer noch wohnhaft.11 Die ProbandInnen verteilen sich breit über Altersgruppen, das Geschlechterverhältnis ist ausgewogen. Diese Faktoren scheinen für die folgenden Analysepunkte jedoch nicht mehr relevant. Allenfalls lässt sich eine stärker ‚partikularisierte‘ regionale Identität bei älteren ProbandInnen bemerken, die oft zusätzlich zu Bayern noch kleinere Teilgebiete nennen, die sie dann selbst unbekannten, offensichtlich ortsunkundigen Personen gegenüber als ihre Herkunft darstellen würden. Die ProbandInnen sollten bei der Angabe autobiografischer Informationen auf einer Skala von 1 (schwach) bis 4 (stark) evaluieren, wie stark „regional“ sie sprechen (implizit hieß das übrigens für alle ProbandInnen: wie stark dialektal sie sprechen). Nicht überraschend geben selbstbewusste ProbandInnen wie Resi, Richard und Franz hohe Wertungen ab, die auch meinem Höreindruck entsprechen, zurückhaltende Personen wie Simon und Alex geben relativ niedrige Werte an, die sich im Höreindruck eindeutig nicht bestätigen. Diese Diskrepanz (die auch bei weiteren ProbandInnen feststellbar ist) zeigt bereits ein Bescheidenheitstopos gegenüber dem stereotypen alten, nicht mobilen Bauern vom Land, dem die ProbandInnen in einem oder mehreren Merkmalen nicht entsprechen und dies auch explizit so in ihren Antworten auf die skalare Einschätzung vermerkt wissen wollen (zum Stereotyp vgl. 4.2). Für weitere Details zu den Personen s. „Quellen“. Die Probandin Sophia ist in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme: Sie spricht als Einzige während des Interviews durchgehend Standarddeutsch und identifiziert 10 1. Allgemeine Angaben zu Person, Lebenslauf und Region 2. Allgemeine Angaben zur Sprache der Region 3. Autobiographisches zum Spracherwerb 4. Sprache und eigene Identität 5. Sprache und Identität in der Region 6. Vergleich mit umliegenden Regionen. 11 Entweder wurden Gewährspersonen des Bayerischen Wörterbuchs (BWB) akquiriert oder Personen mittels ‚Schneeballsystem‘ über KollegInnen und gemeinsame Freunde angesprochen. Allen UnterstützerInnen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Keine Person ist mir persönlich bekannt gewesen; dass manche ProbandInnen sich persönlich kennen, z. B. die SchülerInnen über das Schulinternat, wurde bei der Interpretation berücksichtigt.

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sich ebenso als Einzige nicht als ‚Bayerin‘. Ich inkludiere sie als Kontrollprobandin, um zum einen die Autostereotype mit einem Heterostereotyp über BairischsprecherInnen kontrastieren zu können, zum anderen, weil sich Sophia trotz Geburt und Sozialisation in einem bairischsprachigen Gebiet aus der SprecherInnengruppe hinausdefiniert und auch ihre Gründe für diesen Prozess relevant sind für das Gesamtbild (oder die Konstruktionsprozesse) der sozialen Bedeutung des Bairischen. Alle übrigen ProbandInnen, die sich auf meinen Aufruf hin gemeldet haben, sind dialektaffin12 und haben ein stark auf Bayern bezogenes Zugehörigkeitsgefühl, wobei Bayern stets mit Altbayern gleichgesetzt wird. Ihre (z. T. durchaus erhebliche) Mobilität sehen sie stets als ‚fremdbestimmt‘ (durch Ausbildung oder Beruf bedingt), sie beschreiben Bayern (und teilweise zusätzlich Teilgebiete davon) als die Region, mit der sie sich identifizieren; Bayern (oder, im Falle Richards, das bayerisch-salzburgische Grenzgebiet) künftig zu verlassen, wäre ihnen unangenehm, meist unvorstellbar.13 Während des Interviews habe ich meinen eigenen Regiolekt aus dem ostschwäbisch-bairischen Übergangsgebiet (Lechfeld) verwendet. Für die ProbandInnen stellte mein Sprachgebrauch interessanterweise keinen ausschlaggebenden Einfluss dar: Wer ‚Dialekt‘ sprechen wollte, tat dies auch von Beginn an sehr selbstbewusst (entspricht bei Leonie, Hubert und Franziska eher einem standardnahen Regiolekt14). 4 ANALYSE: BAIRISCH ALS ZEICHEN PERSÖNLICHER UND REGIONALER IDENTITÄT Die Antworten der ProbandInnen wurden nach Themenkomplexen selektiert und kodiert: Gebrauch von Bairisch (aus ProbandInnensicht synonym: Bayerisch/Boarisch),15 sprachliche Ideologien, Stereotype über SprecherInnengruppen und deren Beziehungen. Für die Interpretation wurden die Passagen hierarchisiert, und zwar wurden solche Aussagen der ProbandInnen präferiert, die a) nicht elizitiert wurden (und möglichst zu unerwarteten Zeitpunkten im Interview statt auf konkrete Leitfadenfragen getätigt wurden) oder b) unerwartete ‚rich points‘ (vgl. HORNER / WEBER 2018: 18–19) darstellen, für die bereits während des Interviews direkter (oder in Member Checks folgender) Nachfragebedarf notiert wurde. Anschließend fand eine 12 Obwohl zunächst nicht explizit ‚Dialekt‘ als Identifikationssprache im Leitfaden erwähnt war (sondern erst in spezifischen Abschnitten), folgerten doch alle TeilnehmerInnen aus der Bezeichnung ‚regionale Sprache‘ bereits vor oder zu Interviewbeginn, dass es um ‚Dialekt‘ gehen müsse. 13 Dies wurde mittels „Umzugsfrage“ (vgl. AUER 2018) elizitiert, d. h. ob die ProbandInnen sich einen Umzug in ein anderes Sprachgebiet (Dialektgebiet) vorstellen könnten und/oder ob sie vorhätten, in der Region zu bleiben oder nach berufsbedingtem Umzug wieder dorthin zurückzuziehen. 14 Als Indizien für Standardnähe werte ich bei diesen ProbandInnen ich und i, nicht/nich statt ned/net, auxiliares werden statt tun in modalen Konstruktionen, sind/sin statt san/han, ei statt oa (aus mhd. ei) und Realisierung des Pronomens (kannst du) statt PRO-drop bei unbetonten Pronomen der 2. Sg. (kannst). 15 Transkribiert wurde dennoch etisch, d. h. bairisch und bayerisch sind in Zitaten unterschieden.

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Kontextanalyse statt, bei der die Argumentationen und Assoziationsketten der ProbandInnen nachvollzogen (und unerwünschte Interferenzen zwischen einzelnen Antworten ausgeschlossen16) wurden und die konkrete interaktive Einflussnahme des Interviewers festgestellt wurde (zustimmende verbale, paraverbale oder nonverbale Reaktionen17 des Interviewers wurden als akzeptabler Eingriff gewertet, anders als Schweigen und Abbrüche [Letzteres v. a. bei Abschweifungen angewandt]). Die folgenden Analysekapitel verstehen sich als Interpretation, die bereits durch Member Checks validiert wurde und versucht, möglichst längere, anekdotische Narrative als Beispiele zu liefern. 4.1 Indexikalität des Bairischen und des Bairischsprechens In den Gesprächen tritt deutlich eine Authentizitätsideologie hervor: ‚Echte‘ Bayern sprächen Bairisch. Die bairische Sprechergruppe wird damit allgemein (und i. d. R. implizit) gegenüber anderen DialektsprecherInnen – auch denjenigen innerhalb Bayerns – abgegrenzt, besonders (und i. d. R. explizit) aber gegenüber ‚hochdeutschen‘ SprecherInnen. Sehr anschaulich sind etwa Kommentare wie „mei, wenn man halt kein Bairisch spricht, ist man halt kein Bayer“ (Simon, 28:14-28:18) oder „wenn du halt nicht Bairisch redest, dann weißt du eigentlich gleich, dass er nicht von da ist, sag ich jetzt einmal, sagt man halt bei uns, wenn du einen Hochdeutschen – also, wenn der halt Hochdeutsch redet, dann ist er halt nicht von Bayern.“ (Michael, 31:42–31:52) (Weiteres unter 4.4). Die Interviews bestätigen außerdem, dass es innerhalb des Bairischen grob eine perzeptuelle Zweiteilung gibt, nämlich in „(Alt)Bayerisch“ und „Oberpfälzisch“ (vgl. auch NIEHAUS 2021: 67–68). Die spontane Bezeichnung des eigenen Dialekts ist jedoch stets Bayerisch/Bairisch oder Boarisch, ohne weitergehende Spezifizierung nach Landschaften oder einzelnen Orten. Dies spiegelt den ‚erasure‘-Prozess hin zu einer monolithischen Vorstellung wider, d. h. eines ‚allgemeinbairischen‘ einheitlichen Dialektraums in Ober- und Niederbayern (vgl. auch NIEHAUS 2021: 65). Dass Bairisch jedoch eine eigenständige Sprache sei, verneinen alle bis auf den Rentner Franz, der im „Förderverein Bairische Sprache und Dialekte“ aktiv ist (und damit auf Vereinslinie liegt).18 Nur ein Merkmal wird tatsächlich von allen ProbandInnen als typisch bayerisch/bairisch benannt: der Diphthong oa [ɔa] für mhd. ei.19 Dieser ist das 16 Solche traten besonders im letzten Abschnitt, und zwar während des Vergleichs der Regionen innerhalb Bayerns, zutage, sodass dieser Teil kaum inhaltsanalytisch berücksichtigt werden konnte. 17 Freilich waren diese nur bei Videoaufnahmen zu bestimmen. 18 Der Förderverein beruft sich dabei u. a. die Einstufung der UNESCO. Förderverein Bairische Sprache und Dialekte e. V. (2020). URL: ; Stand: 24.03.2020. Kritisch zur Vorgehensweise der UNESCO ist z. B. ROWLEY (2009). 19 Selten auch Schibboleths, die als ‚typisch bairisch‘ bewusst die Seltenheit, Kreativität und ‚Zungenbrecher‘-Qualitäten für Außenstehende herausstreichen, wie „Saustalltürscharnierl“ (Markus, 44:27–44:29) oder „oobrochener Kanapeehaxn“ (‘abgebrochenes Couchbein’, Paul, 25:33–25:35).

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stereotype Zeichen für bayerisches Bairisch im vorliegenden indexikalischen Feld (und auch im öffentlichen Diskurs, vgl. NIEHAUS 2021: 66); seine soziale Funktion wird noch näherer Analyse bedürfen (vgl. 4.3 und 4.4). Zu ihren Repertoires erwähnen einige GesprächspartnerInnen, des „Hochdeutschen“ zwar durchaus mächtig zu sein oder es zumindest annäherungsweise sprechen zu können, allerdings ‚passe‘ das nicht zu ihnen, sie hätten das Gefühl, sie müssten sich dann beim Sprechen „verstellen“: Leonie: Regensburg an sich ist jetzt noch gar nicht so, wo jeder auch wieder versucht, irgendwie Hochdeutsch zu sprechen und zu versuchen, seine Identität irgendwie, äh, niederzulegen, also das find ich zum Beispiel immer ganz schlimm. Auch an der Uni merkt man, wenn man quasi mit irgendwie, ähm, Menschen aus, also, sagen wir mal, irgendwie ein Frankfurter studiert in Passau, dass du dann sofort als Einheimischer versucht da wird, […] Hochdeutsch zu sprechen […]. Also dieses „ich versuche, mich umzustellen“, damit der Andere besser mit mir klarkommt. Oder besser mit meiner Sprache klarkommt. KN: Ok, ähm, hab – also, hab ich das aber richtig verstanden, das findest du eigentlich nicht gut? Leonie: Nein, das find ich eigentlich nicht so – gut. Irgendwie. KN: Ok. Öh, w-warum genau? Leonie: Äh, weil’s für mich ein Identitätsverlust ist. Also, ich stell mich gern um, nicht nicht falsch verstehen, aber es ist irgendwie so: „Ich verstell mich“. (20:12–21:15)

SprecherInnen wie Resi, die sich – anders als Leonie – selbst als sehr dialektkompetent einstufen, berichten hingegen von ihrer hohen Sprachloyalität: Auch im Gespräch mit Nicht-BairischsprecherInnen würde zumindest zum Einstieg Bairischsprechen versucht, d. h. ausgetestet, „wie weit ich gehen kann“ (Resi, 40:15–40:18). Leitend ist die Vorstellung, dass die regionale Identität durch Bairischsprechen performt wird, wobei sich aus den Interviews keine valide Liste enregisterter Einzelmerkmale erstellen ließ. Wie zu erwarten (vgl. allgemein MÆHLUM 2010: 25; zum Bairischen ROWLEY 2012: 45), berufen sich die GesprächspartnerInnen auf ihre positiven Assoziationen des Bairischen mit Ländlichkeit und Traditionspflege: „Das Münchnerische Bairisch, das ist ein wenig das gehobenere, das salonfähigere, und wir sind mehr […] das Wilde, das Ländliche“, meint die oberpfälzische Probandin (Franziska, 22:50– 23:05), was als ‚ursprünglicher‘ und ‚natürlicher‘ Gegensatz zum ‚künstlichen‘ städtischen München zu verstehen ist (vgl. ähnlich zu den Städten Regensburg und Passau Leonies Aussagen, oben). Bestätigt werden diese Assoziationen auch durch das negative „Hinterwäldler“Heterostereotyp, das die standard- und stadtaffine Sophia von ‚bayerischer Identität‘ hat: KN: Ok. Hm. Bringt dir da [bei einer Nachfrage zur regionalen Herkunft] die Bezeichnung „Bayer“ oder „Bayerin“ irgendwas – würdest du das benutzen? Sophia: Nee. ((lachen)) eigentlich nicht. KN: Öh – schon mal drüber nachgedacht, warum man das eigentlich nicht nimmt, also warum du dann sagst: ich bin aus München und Umgebung?

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Konstantin Niehaus Sophia: Ja, ich, ich glaub, äh, dass Bayern, klingt halt, wenn man sagt, man ist aus Bayern, dann denkt halt jeder wahrscheinlich eher, man kommt so aus irgend ‘nem kleinen Kaff irgendwo. München ist ja schon halt auch ‘ne internationalere Stadt oder wo mehr … viele Leute auch von außerhalb, äh, herkommen, und dann denkt man sich halt: Dann denken die anderen, andere Personen nicht gleich, dass man irgendwie Hinterwäldler ist oder so. ((lachen)) (30:00–30:36)

Innerhalb des indexikalischen Feldes bilden die gezeigten Bedeutungen offenbar prototypische Ankerpunkte, da die ProbandInnen bei weiteren Indexikalisierungen immer wieder auf sie zurückgreifen (was letztlich zyklische Argumentationen befördert). 4.2 Dialektethnizismus und Purismus Das Authentizitätskonzept zeigt zumindest partiell Züge von „Sprachethnizismus“ (NIEHAUS 2021: 62–63) – man könnte auch von „Regionalismus“ (NIEHAUS 2018) oder ‚Dialektethnizismus‘ sprechen.20 Alle ProbandInnen kennen z. B. die Einteilung Bayerns in ‚Stämme‘ (Franken, Schwaben, Altbayern) und rechtfertigen diese emotional, sobald ich sie anzweifle. Diese Legitimierung geschieht auch unter der Vorstellung, dass es in Bayern (und überhaupt im deutschsprachigen Raum) feste und unveränderliche Dialektgebiete mit jeweiligen lokalen und regionalen Identitäten gäbe, worauf Aussagen deuten wie „also, das ganze Dorf spricht schon gleich“ (Franziska, 15:32–15:34) oder „der richtige [sic] Dialekt hat sich eigentlich nicht verändert, aber nur wird er halt immer weniger gesprochen.“ (Franz, 24:56-25:00). DialektsprecherInnen sollten idealerweise keine (salienten) Anzeichen von sprachlichem „Mischmasch“ (Richard, 1:00:30–1:00:48; Franziska, 31:41–31:44; Resi, 12:14) aufweisen: Jeder Dialekt sollte bleiben, wo er „hingehört“, die Unterschiede sollten „gepflegt“ werden, meint sogar der erst spät aus Hessen migrierte, aber bairischsprechende und bayernpatriotische Richard (1:00:30–1:00:36). In diesen Aussagen zeigen sich also auch puristische und sprachkonservative Ideologien. Sehr treffend hierfür sind im Folgenden drei Beispiele. Das erste Beispiel ist die Meinung Huberts, innerhalb Bayerns seien ohnehin alle ‚Stämme‘ stolz auf ihre Dialekte. Insofern sei es auch gerechtfertigt, den ‚eigenen‘ Dialekt zu behalten (56:43–57:00). Von den möglichen sprachlichen ‚Minderwertigkeitsgefühlen‘ in Bayerisch-Schwaben (vgl. NIEHAUS 2021: 71–72), die durch die Gleichsetzung von bairisch und bayerisch und das resultierende Prestige des Bairischen entstehen, erfährt Hubert erst im Gespräch mit mir und zeigt sich darüber sehr verwundert. Dieser Gesprächsverlauf ist typisch für alle Interviews. Im zweiten Beispiel erzählt Paul, nach einem möglichen Dialektwechsel innerhalb Bayerns gefragt, folgende Anekdote: KN: Ok. ((lachen)) Ähm, kann eigentlich ein bayerischer Schwabe so, also, sagen wir mal, zum Oberbayer oder zum Niederbayer werden, wenn er den Dialekt von dort lernt? 20 Die Termini bezeichnen die Ideologie, dass eine natürlich gegebene Zuordnung von Sprachen oder Dialekten zu Ethnien bzw. eine nach Ethnien vorzunehmende Trennung von Sprachen oder Dialekten existiere.

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Paul: ((Pause, 3 Sek.)) Da hab ich auch mal, da war auch mal, kann ich mal erzählen, was das angeht, hat auch irgendein, ja, Zugereister bei uns herunten hat irgendeinen Alteingesessenen gefragt und er ist jetzt schon so lang da, wann wird man denn zum Bayern, wie lang man da ist? Und dann hat der ältere Herr halt irgendwie zurückgesagt – das geht bei uns im Ort auch immer rum –: „Man kann a Sau in den Kuastall zehn Jåhr stäjn, åba deswegen wird’s koa Kua nedda!“ (28:13–29:48)

Zugereiste könnten sich also noch so viel Mühe im Dialekterwerb geben, sie würden nach Meinung dieses Dorfbewohners nie zu ‚echten‘ Einheimischen. Auch Richard, selbst zugewandert (aus Hessen), bayernpatriotisch und nach eigener Einschätzung hochgradig dialektkompetent,21 kommentiert ironisch, er schäme sich zwar nicht, kein „Geburtsbayer“ zu sein, gebe aber seine Herkunft aus Hessen nur auf Nachfrage an – seine Eltern hätten letztlich das für seine regionale Identität „falsche Bundesland gewählt damals“ (46:12–46:30). Als drittes Beispiel schließlich findet Leonie Dialektkurse für Nicht-DialektsprecherInnen nur sinnvoll, wenn diese SprecherInnen bayerischer Abstammung sind – Zugereiste, z. B. aus der Pfalz oder Hessen, sollten dagegen ‚ihre‘ Identität pflegen. Leonie: Sagen wir ja, ja, es [Dialektlernen in Dialektkursen, K. N.] macht Sinn, aber wenn halt jetzt dieser jenige vielleicht auch bayerischer Abstammung ist oder irgendwie so zu – also, ich möchte jetzt da auch nicht so rechts oder irgendwie so, aber irgendwie – nein, es ist jetzt irgendwie schwierig zu beantworten. Aber es würde eigentlich schon Sinn machen und auch in den Großstädten anzufangen, weil da – ja. ((unverständlich)) KN: Was ist mit, ähm, also weil du gesagt hast, wenn jemand wirklich bayerischer Herkunft ist, schon, ähm, in München gibt’s ja viele Zugereiste, die schicken ihre Kinder teilweise auch in solche Dialektkurse. Ähm – was meinst du zu sowas dann? Also … Leonie: Also, das find ich, das find ich irgendwie affig. Also, weil, ich mein, die Eltern, die ja dann nach München gezogen sind, die haben auch eine Identität, die haben auch Hintergrund, und dann, also dann find’s eigentlich, find ich’s richtiger, wenn die zu Hause, irgendwie keine Ahnung, Pfälzisch sprechen oder Hessisch oder so, weil ja das quasi die Identität der Eltern ist, äh, und ich ja meinem Kind jetzt ankünsteln, also künstlich aneignen muss, wenn ja das quasi dem Ganzen nicht entspricht. (35:10–36:30)

Neben den puristischen Vorstellungen von Dialektgruppen ist hier die doppelte Stereotypisierung von authentischen, weil ‚ländlichen‘ DialektsprecherInnen und inauthentischen, ‚künstlichen‘ DialektsprecherInnen in Großstädten zu finden. Dieses Authentizitätskonzept führt dazu, dass die ProbandInnen den Gebrauch des Bairischen aus kommerziellen Interessen (z. B. während des Oktoberfests oder im Rundfunk) als Ausdruck eines ‚künstlichen‘ degenerierten Münchnerischen interpretieren, das womöglich durch Sprachkontakt mit den „Breissn“ bedingt ist (vgl. 4.4). So erzählt etwa Maria über die MünchnerInnen, sie seien ‚Möchtegern-Bayern‘: Maria: Also, beim Bayerischen Rundfunk, da gibt’s – ein paar meinen, Bairisch zum Reden, aber das ist, pff, naja, so Münchnerisch schon. ((lachen)) „Isarbreissn“. Ja, so wie halt dann

21 Mein eigener Höreindruck als Explorator bestätigt dies. Auch von GeschäftspartnerInnen wird Richard aufgrund seines Dialekts – zuweilen zu seinem eigenen Amüsement – oft für einen gebürtigen Bayern gehalten (1:03:44–1:04:10).

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Konstantin Niehaus auch die Sendungen gemacht sind, damit’s halt – ((räuspern)), die „Breissn“ verstehen, ((lachen)), ja – ja, es ist leider Gottes so. Und wenn man dann irgendwann einmal Beiträge sieht, also vom Bayerischen Fernsehen, wenn’s halt auch irgendwie – pff, einen alten Bauern interviewen oder so, dann gibt’s halt Untertitel, und das find ich dann immer recht lustig. (lachen)) (36:27–37:04)

Der populäre Ausdruck „Isarbreissn“ bezeichnet Personen aus München ohne hinreichende Bairischkompetenzen, sowohl aus dem Norden zugezogene als auch autochthone MünchnerInnen. Maria meint hier eindeutig letztere (sie unterscheidet in „Isarbreissn“ und „Breissn“). Hinzu tritt die oben angesprochene Indexikalisierung von ‚Ländlichkeit‘ des Bairischen, der der Metropolraum München naturgemäß nicht entsprechen könne. Der von Maria erwähnte, für Außenstehende ohne Untertitel nicht zu verstehende „alte Bauer“ erscheint in diesem Zusammenhang geradezu als charakterologische Figur des Bairischen – und auch die Member Checks mit den übrigen ProbandInnen bestätigen dieses Stereotyp durchwegs. 4.3 Same but different: Österreichische SprecherInnen Oftmals, ohne dass es in den Gesprächen bereits zur Sprache gekommen wäre (auch wenn der Vergleich im letzten Teil des Leitfadens enthalten war, vgl. Anhang), ziehen die ProbandInnen österreichische SprecherInnen heran, um ihre eigene sprachliche Identität zu verdeutlichen. Dies versteht sich im folgenden Sinne: ‚Ich zeige dir, wer ich (sprachlich) bin, indem ich sage, wer mir (sprachlich) ähnelt‘. Die nationale Grenze zwischen bayerischem Deutschland und Österreich sowie die tatsächlichen sprachlichen Unterschiede, die sie erzeugt (hat),22 werden dabei ausgeblendet („erasure“) und kaum als maßgeblicher Faktor begriffen. Vielmehr werden im Sinne einer „recursivity“ sprachliche und kulturelle Ähnlichkeiten zirkulär als auseinander folgend erklärt. Hier hinein gehört etwa das Stereotyp, BayerInnen und ÖsterreicherInnen seien ‚Bergvölker‘ mit ähnlichen Dialekten. Diese Ansicht findet sich auch außerhalb bayerischer Bergregionen, bspw. bei Franziska aus der hügeligen Oberpfalz: Franziska: Ja, also, was mich – also, zu Österreich sind ja wir eigentlich schon, also die Bayern und die Österreicher, die können sich eigentlich schon gut unterhalten. So zumindest. Also, da ist ja das auch immer noch sehr ähnlich. Also, vor allem, wenn wir mal, also, wir schauen auch immer gern dieses ServusTV an, und wenn da so Dokumentationen, so aus Österreich, und von den Bergen und so das kommt, ähm, und: die sind auch stolz auf ihren Dialekt, und dann, äh, also, da hab ich jetzt eigentlich kein Problem, dass ich jetzt so den nicht verstehen täte (52:47– 53:21)

An späterer Stelle beschreibt Franziska zudem spontan – eigentlich nach sprachlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden gefragt – Ähnlichkeiten in der „Kultur“, „vom Kulinarischen her“ und in der entschleunigten Lebenseinstellung („was wir

22 Zum Sprachgebrauch im Grenzgebiet vgl. SCHEURINGER (1990); SCHEUTZ (2007); BÜLOW / KLEENE (2019); KUNZMANN (2019).

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ja auch sind“, auch wenn z. B. WienerInnen dies sogar in der Sprache zeigten und „lätschig“ sprächen): Franziska: Aber so grundsätzlich kann man eigentlich auch, auch von der von der Kultur und vom vom, äh, ich sag’s jetzt einfach vom vom Kulinarischen her, sind wir uns eigentlich – also, sind die Bayern und die Österreicher sich schon sehr ähnlich. Auch, wenn’s wahrscheinlich keiner zugeben würde. KN: Mhm, ok. Ähm, kannst du auch bei den Österreichern so irgendwie so ganz typische Sachen benennen, wo du sagst, ahh, ja, da erkenn ich eindeutig ‘s an der Sprache, das muss jemand aus Österreich sein? Franziska: ((lachen)) Ja, wir sagen immer, die die die sprechen ein bißchen „lätschig“. […] Ja, also, die Wiener zum Beispiel, die haben ja doch dieses, ja, äh – „Lätschige“, „Verschlafene“, dieses – ja, und auch dieses „kumm i heit ned, kumm i moang“. ((lachen)) KN: Mhm, ok. ((lachen)) Also, meinst du, es hat ein bißchen was mit der Lebenseinstellung zu tun? Franziska: Ja, ich denk, dass die schon gemütlich sind – was wir ja auch sind in irgendeiner, also. Also, ich glaub, wir mögen ja auch dieses dieses Schnelllebige nicht, also, ich komm auch damit nicht klar, also, ich persönlich. (1:06:00–1:09:41)

Selbst die Probandin Sophia, die sich nicht als Bayerin sieht und kein Bairisch spricht, argumentiert übrigens mit den gleichen Assoziationen („die Berge“, die „gemütliche“ Lebenseinstellung), um zu erklären, warum sie sich als Nicht-Bairischsprecherin bei Skiurlauben in Österreich besser gelitten vorkommt als Norddeutsche (33:00–33:45). Für weitergehende Untersuchungen des Sprachkontakts ist sicherlich relevant, dass mehrere ProbandInnen berichten, dass sie aufgrund der sprachlich-kulturellen Ähnlichkeiten auch österreichische Medien (Rundfunk und TV) konsumieren (Maria, 36:12–36:22; Resi, 1:02:20; vgl. auch oben „ServusTV“ bei Franziska). Dabei bewundern die interviewten BayerInnen, dass ÖsterreicherInnen auf das ‚eigene‘ Deutsch (d. h. ‚ihre‘ Dialekte23) stolz seien und eine vergleichsweise höhere Toleranz gegenüber Dialektsprechen in der Öffentlichkeit hätten; die ProbandInnen würden sich diese Einstellungen auch verstärkt für Bayern wünschen. Trotz aller Gemeinsamkeiten weisen die ProbandInnen auch auf kleinere Unterschiede zu ÖsterreicherInnen hin: Das Enregisterment des oa-Diphthongs als ‚bayerisch‘ geht so weit, dass der Diphthong sogar als Schibboleth gegenüber den ÖsterreicherInnen – die ihn oft selbst sprechen – benutzt wird. Der in der Sprachpflege aktive Rentner Franz bspw. meint, der „richtige Dialekt“ („richtig“ indexikalisiert bei Franz ‚echt‘, aber durchaus auch: ‚korrekt, weil alt‘) unterscheide sich dies- und jenseits der Grenze Bayern-Salzburg ohnehin nicht; Unterschiede beträfen vielmehr die „Umgangssprache“, und zwar eben in der Variation zwischen 23 Die konzeptuelle Unterscheidung ‚Hochdeutsch‘ und ‚Dialekt‘ in Österreich ist für die ProbandInnen im lexikalischen Bereich eindeutig möglich, muss jedoch stets über eine Leitfadenfrage elizitiert werden (z. B. Kassa als ‚hochdeutsches‘ Wort in Österreich, Franziska 1:13:29– 1:14:00). ‚Umgangssprache‘ ist hingegen für alle ProbandInnen (außer Franz, s. u.) kaum greifbar – egal, ob für Österreich oder Bayern.

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Konstantin Niehaus

‚bayerischem‘ oa-Diphthong [ɔa] und ‚österreichischem‘, von Wien beeinflussten aa-Monophthong [a:]: KN: ((lachen)) Mhm. Können Sie selber den Unterschied, öh, benennen, zwischen Ihrem Dialekt und dem, was auf der österreichischen Seite gesprochen worden ist? Franz: Ja, das ist eigentlich – auch dann eher die Umgangssprache als so der der richtige Dialekt, da ist kein Unterschied. Was soll ich denn sagen? Öh – bei uns sagt man: „Was moanst denn?“ und und in Salzburg sagen s’ vielleicht „Was maanst denn?“ (31:46–32:16)

In diesen Aussagen steht Franz repräsentativ für die übrigen ProbandInnen, auch wenn diese den Unterschied ansonsten auch auf ‚nationaler Dialektebene‘ (im gesamten ‚Österreichischen‘, nicht nur in der Salzburger Umgangssprache) verorten. Dabei muss man freilich einräumen, dass die begriffliche Unterscheidung zwischen Dialekt und Umgangssprache nur von Franz überhaupt rigoros gezogen wird. Auch die Qualität des kurzen a-Lauts dient als subjektives nationales Unterscheidungsmerkmal: ‚bayerisches‘ å [ɒ] gegenüber ‚österreichischem‘ à [a],24 womit wiederum eine simplifizierende ‚erasure‘ zur erleichterten Gruppeneinteilung erfolgt: Maria: Es ist schon Vieles gemeinsam ((Pause, 2 Sek.)) – wobei natürlich ganz, also, ausm Rahmen fällt, dass die immer das „à“ sagen, nicht „å“. Ähm – find ich aber auf ihre Art auch ganz ok, und ist – mich freut’s ehrlich gesagt, dass die Österreicher da voll stolz drauf sind und das besser pflegen oder sich nicht so nehmen haben lassen. (1:09:52–1:20:00) Leonie: Also, mit Wörtern bin ich jetzt nicht so so in Berührung gekommen, also, es sind dann doch auch diese Laute. Also, das ist zum Beispiel auch bei einer Freundin so, die ist eigentlich in Nürnberg aufgewachsen, aber die hat halt ‘n österreichischen Vater, und die hat dann dieses „ö“ und statt statt „Måx“ sagt die „Màx“ und da da, ja, eigentlich so an den Lauten. (1:05:201:05:43) Hubert: Öhm, ja, unsere [österreichischen] Freunde von der, vom Tanzkreis, äh, das – ich kann’s fast nicht nachah- nachahmen, das ist aber ein ein „à“, mehr so in die Richtung mehr, also, etwas höher, etwas breiter, das ist Sch- Schärdinger Gegend, da dahinten so und, öh, das, öh, fällt mir dann doch immer wieder auf, dass ich mir denk: ahh – man merkt, das ist eine andere Sprach-öhm-melodie dahinter. (15:21–15:55)

Zu beachten ist aber, dass alle ProbandInnen durchaus eine differenzierte und reflektierte Sicht auf das Deutsche in Österreich haben und nationale Pauschalisierungen zwar selbst vornehmen, jedoch auch nach österreichischen ‚Bundesland‘Dialekten (Tirolerisch, Steirisch, Wienerisch usw.) unterscheiden können. Die Bedeutungsrelation der ‚österreichischen‘ Merkmale (und SprecherInnen) zum bayerischen Bairisch und seinen SprecherInnen ist im vorliegenden indexikalischen Feld damit nicht einfach, jedoch am ehesten heteronymisch zu nennen: ‚Bayerisch‘ und ‚österreichisch‘ schließen sich mit Hinblick auf linguistische Gruppen-Authentizität (innerhalb einer dialektethnizistischen Ideologie) zwar gegenseitig aus, verfügen aber ansonsten über genügend soziokulturelle Ähnlichkeiten (für Außenstehende 24 Neben anderen Abgrenzungen wie ‚bayerisch‘ Gäjd vs. ‚österreichisch‘ Gööd (‘Geld’) oder ‚bayerisches‘ ie/ui (spielen/spuin) vs. ‚österreichisches‘ üü (spüün). Diese Beispiele können jedoch nur ProbandInnen nennen, die aufgrund ihrer Mobilität entsprechenden Sprachkontakt mit österreichischen SprecherInnen haben. Das von SCHEUTZ (2007) ermittelte Schibboleth (bayr.) Wåsser vs. (salzb.) Wosser wurde von niemandem genannt.

Zur sozialen Bedeutung des Bairischen in Bayern

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paradoxerweise innerhalb derselben ideologischen Rahmenbedingungen), um als Teil eines Ganzen gesehen zu werden. Auch wenn es einige wenige klare Unterscheidungsmerkmale gibt, verfügt die Relation insgesamt über eine gewisse Vagheit – ganz anders ist dies bei einer weiteren SprecherInnengruppe, wie der folgende Punkt zeigt. 4.4 Double stereotyping: Norddeutsche (Breissn) und das „Hochdeutsche“ Alle GesprächspartnerInnen benutzen ‚die Norddeutschen‘ (Breissn), um sie als Sprachgruppe mit den BairischsprecherInnen zu kontrastieren: Breissn sprächen (nur und immer) Hochdeutsch, wohingegen ‚echte‘ Bayern Dialekt und, nur falls erforderlich, Hochdeutsch sprächen (vgl. auch RIEHL 2000: 149). Auch hier findet ‚erasure‘ statt, um die möglichen Gemeinsamkeiten (Standarddeutsch sowie multilektale Repertoires) auszublenden. Für das indexikalische Feld bedeutet dies, dass für einige soziale indexikalisierte Merkmale des Bairischen stereotypisierte Antonyme eingetragen sind. Diese erweisen sich als derart essenziell bedeutsam für die Einstellungen und Argumentationen der ProbandInnen gegenüber dem Bairischen, dass sie innerhalb des indexikalischen Feldes ein eigenes Bedeutungscluster konstituieren. Ein bemerkenswerter Unterschied zum vorherigen Themenkomplex ist, dass die ProbandInnen das Heterostereotyp der unähnlichen, weil mutmaßlich steifen, gefühlskalten, effizient-überpünktlichen Breissn offen als Stereotyp kritisieren (wie schon bei RIEHL 2000: 156–157; bei ÖsterreicherInnen erkennt hingegen niemand die Stereotypisierung). Resi (26:20–28:26) teilt etwa ihre Erfahrung, sobald tatsächlich Kontakt mit norddeutschen SprecherInnen bestehe, würden solche Klischees irrelevant. Dennoch übertragen sich in allen Interviews diese Stereotype auf das als ‚norddeutsch‘ (und effizient-schneller gesprochen) empfundene Standarddeutsch (wiederum wie bei RIEHL 2000: 149–152). Tatsächlich zeigt sich bei allen ProbandInnen zwar eine Standardsprachenideologie, etwa wenn ‚Hochdeutschsprechen‘ als Index für Höflichkeit gegenüber unbekannten Personen oder als Mittel zum sozialen Aufstieg gilt. „Schön“, „ordentlich“ oder „nach der Schrift“ sprechen ist dabei jedoch keine sympathische soziale Qualität: Gerade der vereinheitlichende Charakter des Standarddeutschen führt zu Wertungen als „verwaschen“, „Einheitsbrei“ oder „ausdrucksloses Hochdeutsch“ (Resi, 33:29–33:50 und 36:50–36:56; Franz, 52:19–52:23), denen im indexikalischen Feld die authentische, naturgegebene Variationsfreudigkeit der Dialekte und ihre Emotionalität entgegengestellt werden. Möglicherweise, weil eine offene Abneigung oder ein negatives Bild einer anderen Gruppe als unschicklich empfunden wird, wird die wirklich ernst gemeinte Ablehnung der Breissn nicht als eigene Haltung, sondern als typische Einstellung älterer, nicht mobiler engstirniger („eignaahter“) Dorfbewohner verbucht und entsprechend narrativ in Anekdoten über „alte Grantler“ eingebettet (vgl. auch der „Urbayer“, RIEHL 2000: 154–157). Norddeutschen gegenüber nachgerade rassistische Stereotype wie bei RIEHL (2000: 157) lassen sich in diesen Narrativen nicht nachweisen, obwohl die Erhebungsmethode vergleichbar ist.

276

Konstantin Niehaus

Die genannten ideologischen Bausteine können aber im Falle bayerischer HochdeutschsprecherInnen durchaus in der sozialen Praxis zu Ausgrenzung führen: KN: Ähm – ich – wie wurde bei euch, mit mit euch als Kindern gesprochen? Leonie: Ahhm, das ist eigentlich ganz lustig, also, meine Mutter hat mit uns Hochdeutsch gesprochen, äh, also, ich hab auch selber erst zwischen meinem sechsten und meinem siebten Lebensjahr Bairisch gelernt, weil das eben auch dieser Zeitpunkt war, wo wir [innerhalb des Landkreises Passau, K. N.] umgezogen sind, ähh, und die Kinder in diesem Dorf quasi gesagt haben: „Entweder du sprichst Bairisch mit uns oder wir spielen nicht mit dir.“ (23:38–24:08)

Sicherlich war der Druck auf Leonie auch dadurch hoch, dass sie a) nicht aus demselben Ort stammte und b) sowohl ihre Eltern des Bairischen durchaus mächtig sind als auch dies der Dorfgemeinschaft und den anderen Kindern bekannt gewesen sein muss; Hochdeutschsprechen dürfte also in Leonies Fall als besonders grober Verstoß gegen dialektethnizistische Vorstellungen und als ungebührliche kulturelle Assimilation (bzw. sprachliche Akkommodation) gegenüber den Breissn gegolten haben. Die ansonsten gängige soziale Praxis zur Abgrenzung von Nicht-BayerInnen trägt wieder einmal oa als ‚eigenes‘ Merkmal ins indexikalische Feld ein, und zwar mit dem allen ProbandInnen bestens bekannten Oachkatzlschwoaf-Test (‘Eichhörnchenschwanz’):25 Dieses Wort könnten nur ‚echte‘ BayerInnen korrekt aussprechen, die spontane Forderung, das Schibboleth auszusprechen, entlarve Nicht-BayerInnen zuverlässig. Die meisten ProbandInnen bezeichnen diesen Test übereinstimmend als „Klassiker“, der (auf meine Nachfrage hin) tatsächlich als Alltagspraxis gegenüber Zugezogenen und TouristInnen existiere (z. B. Markus, 43:46–44:15; Resi, 50:25– 50:47; Richard, 53:17–54:15). Auch hier relativieren die ProbandInnen die stigmatisierende Praxis mit zwei Strategien, nämlich: a) der Test sei ja nur scherzhaft gemeint, um Auswärtigen den Klangcharakter des Bairischen näherzubringen oder um ihnen die Grenzen ihrer ‚künstlichen‘ Akkommodationsversuche aufzuzeigen, oder b) nur engstirnige Bayernpatrioten aus der jeweiligen Gegend setzten diesen Test tatsächlich ein (sogar Sophia als bewusste Nicht-Bayerin kennt entsprechende Verhaltensmuster noch aus ihrem Jugendfreundeskreis, fand ein derartiges Bloßstellen aber „immer dämlich“, 39:15–39:20). Wie in Österreich (vgl. DE CILLIA 2015: 159) äußern manche ProbandInnen dieser Studie eine Abneigung gegen stereotyp ‚norddeutsche‘ Ausdrücke, allen voran Tschüs(s) (statt ‚bayerischem‘ Servus oder Ciao). Markus’ Anekdote illustriert dies und veranschaulicht zugleich die (aus der Frage heraus nicht begründbare) Assoziation von ‚Hochdeutsch‘ mit Norddeutschen („rumpreußeln“): KN: War das unter euch Schülern irgendwie ein Thema – Dialekt versus Hochdeutsch oder Dialekt mit Hochdeutsch? Markus: ähm – mei, es war immer so ein bißchen ein Thema, weil man halt immer, also – wenn jetzt einer richtig rumgepreußelt hätte oder sowas, das, das hätte man schon, äh – 25 Hieran erkennt man gut die Kontextabhängigkeit solcher Enregisterments, denn der Test ist auch in Österreich bekannt, z. B. zur Abgrenzung gegenüber ‚Deutschen‘. Die ProbandInnen, die in Österreich in die Schule gehen, erzählen von dieser Praxis, die sie selbst (als Bayern) aber nie betroffen habe.

Zur sozialen Bedeutung des Bairischen in Bayern

277

angesprochen. Sagen wir’s mal so. Also, so der Klassiker ist, wenn irgendeiner „Tschüühüüs“ gesagt hat. Dann hat man schon gesagt: Hey, wo kommst ‘n eigentlich [sic] her?! (25:57–26:27)

Als weiteres Beispiel sei abschließend nur eine beiläufige Äußerung eines Schülers, Paul (39:20–39:42), erwähnt: Er empfände es als Bruch mit seiner Identität, wenn etwa das ‚preußische‘ Brötchen statt der ‚bayerischen‘ Semmel als ‚korrekt‘ in Schulen unterrichtet würde: „Das [Brötchen] gehört nicht dazu“.26 5 FAZIT UND WEITERE ERFORSCHUNG Als vorläufiges Fazit lässt sich ein indexikalisches Feld des Bairischen in Bayern zeichnen (Abb. 2). Allerdings muss betont werden, dass dieses Feld freilich nur im Rahmen der gezeigten Untersuchung festzustellen gewesen ist, abhängig von den Persönlichkeiten (und Agenden) der TeilnehmerInnen ist und sich aus spezifischen Narrativen und Interviewsituationen ergeben hat. Ich habe den Nachteil des indexikalischen Feldes erwähnt, dass es den Unterschied zwischen Markern und Stereotypen nicht verdeutlichen kann. Dies ließe sich möglicherweise künftig durch die Darstellung als Prototypen-Feld lösen, wobei linguistische (Auto-)Stereotype dann im Zentrum (wie in Abb. 2) stünden. Diese Stereotype sind Autostereotype, denen Heterostereotype über Norddeutsche beigefügt werden. Das Bairische verfügt dabei also über einige paradigmatische Bedeutungsbeziehungen und ‚double stereotyping‘. Konkrete linguistische Einzelmerkmale sind in Kästen dargestellt. Die semantische Relation zum Deutschen in Österreich und die zugehörigen Heterostereotype sind zwar sozial relevant für das Bairische in Bayern, jedoch weniger eindeutig als Opposition (oder Antonyme) zu verorten. In einem Übergangsbereich, aber innerhalb des Autostereotyps, befinden sich schließlich nord- und nordmittelbairische Formen, die abweichend vom prototypisch mittelbairischen Zentrum von den ProbandInnen als ‚wild‘, ‚extrem‘ und als ‚Bellen‘ bezeichnet werden. Die Erforschung der sozialen Bedeutung des Bairischen steht damit insbesondere methodisch erst am Beginn. Eine quantitative Validierung sollte künftig z. B. per (Online-)Umfrage geschehen, auch gezielte ethnografische Erhebungen in Grenzgebieten zu den Bezirken Schwaben, Mittelfranken und Oberfranken oder im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet können zu einem facettenreicheren und umfassenderen Bild beitragen.

26 Genau dies wird aber in bayerischen Schulen praktiziert (vgl. MAITZ 2015: 216–217).

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Konstantin Niehaus

Abb. 2: indexikalisches Feld des Bairischen im Projekt „regionale Sprache und Identität in Altbayern“

Schließlich muss auch auf den künftigen Wert der vorliegenden Daten hingewiesen werden. In der obigen Darstellung aus Platzgründen großrahmig ausgeklammert wurde bspw. der Bereich des Dialekterwerbs sowie des Dialektgebrauchs und der Dialektreflexion in der Schule. Dabei stellen sich etwa Fragen der Sprachplanung: Die Daten liefern bspw. Indizien dafür, dass sich Nicht-AkademikerInnen wie Franziska, Maria und Franz in einer ‚hannoveristischen‘ (vgl. MAITZ 2015) und standardideologisch geprägten Sprachkultur eher stigmatisiert fühlen als AkademikerInnen wie Leonie oder Hubert, z. B. ersichtlich am Gegensatz der Klage über eine zunehmende Fetischisierung des Standarddeutschen (v. a. in der Schule) gegenüber dem Beharren auf der Sinnhaftigkeit dessen sozialen Prestiges. Insofern müsste in größerem Rahmen noch erhoben werden, a) inwieweit ideologische Stigmatisierung und faktischer Erwerb interagieren und b) wie der bestehende schulpolitische Widerspruch zwischen normativer Forcierung des Standarddeutschen und ‚folklorisierender‘ Forcierung der Dialekte aufgelöst werden kann, ohne SprecherInnen mittel- und langfristig zu benachteiligen. Wie dieser Beitrag zeigen wollte, spielen soziale Bedeutungen in solchen diskursiven Prozessen eine ausschlaggebende Rolle – sie sollten deshalb auch in der föderalen Sprachpolitik künftig unbedingt stärker berücksichtigt werden.

279

Zur sozialen Bedeutung des Bairischen in Bayern

Michael

Simon

Alex

Paul

Sophia

18

19

20

21

26

m

m

m

m

w

Schüler

Schüler

Schüler

Schüler

Bürokauffrau

geboren in Rosenheim, aufgewachsen und wohnhaft in Rott/Inn, Grundschule in Rott/Inn, Realschule in Wasserburg, seit 4 Jahren im Internat in Kuchl (Salzburg) geboren in Eggenfelden, aufgewachsen und wohnhaft in Mitterskirchen, Grundschule in Mitterskirchen, Realschule in Eggersfelden, seit 2 Jahren im Internat in Kuchl (Salzburg) geboren in Altötting, Grundschule in Erlbach, wohnhaft in Reischach, Wirtschaftsschule in Mühldorf am Inn, seit 3 Jahren im Internat in Kuchl (Salzburg) geboren, aufgewachsen und wohnhaft in Rottalmünster, Grundschule in Bad Birnbach, Realschule in Altenburg, seit 4 Jahren im Internat in Kuchl (Salzburg); Vater aus Nordrhein-Westfalen geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen und (wieder) wohnhaft in Olching bei ihren Eltern, zwischenzeitlich 6 Jahre Anglistik- und BWL-Studium in Bamberg inkl. ERASMUS-Semester in Dänemark; Eltern aus Württemberg und Bezirk Schwaben (Bayern)

Datum, Länge29

Dialektkompetenz28

Identifikation27

Kurzbiografie

Beruf

Geschlecht

Alter

Pseudonym

QUELLEN

17.12.2019 54:15 Bayern

3

17.12.2019 43:39 Bayern

2,5– 3

17.12.2019 43:39 Bayern

2–3

17.12.2019 44:21 Bayern

3

02.10.2019 57:05

München und Umgebung

27 Nach Eigenbezeichnung der Herkunft gegenüber anderen Deutschsprachigen. 28 in Selbstevaluation: 1 = schwach, 4 = hoch. 29 Member checks (telefonisch): 19.02.2020–28.02.2020.

1

280

Konstantin Niehaus

Leonie

Resi

Markus

Franziska

Maria

Richard

27

32

35

35

41

53

w

w

m

w

w

m

Archivarin

Lehrerin (Gesamtschule)

Projektmanager (Industrie)

Kosmetikern (selbstständig)

pharmazeut.techn. Assistentin (Apotheke)

Geschäftsführer (Privatschule)

geboren in Hutthurm, aufgewachsen in Untergriesbach und Rackling (alle Landkreis Passau), studierte Geschichtswissenschaften in Passau, wohnhaft in Passau; Mutter aus dem Saarland geboren in Vilshofen an der Donau (Niederbayern), aufgewachsen in Eging am See, Gymnasium in Passau, Ausbildung zur Fachfrau für Systemgastronomie, dann Lehramt für Berufsschulen (Politikwiss.) in München, wohnhaft in Fürstenfeldbruck; verheiratet (Ehemann aus Frankfurt), zwei Kinder geboren in Schrobenhausen, aufgewachsen, zur Schule gegangen in Gerolsbach, später im Gymnasium Schrobenhausen, studierte an der TU München, bis heute immer wohnhaft im Elternhaus in Gerolsbach, verheiratet geboren in München, seit dem 1. Lebensjahr jedoch aufgewachsen und wohnhaft in Schwandorf (Oberpfalz), zur Schule gegangen in Schwandorf, Ausbildung in Bayreuth, arbeitet in Regensburg, verheiratet geboren in Eggenfelden, aufgewachsen und wohnhaft in Moosvogl, zur Schule gegangen in Eggenfelden, PTA-Schule in Passau, längere berufliche „Kinderpause“ (5 Jahre), arbeitet in Mühldorf am Inn, getrennt lebend, zwei Kinder geboren in Frankfurt am Main bis zum Abitur, mit 19 Jahren nach Berchtesgaden (Bundeswehr), BWL-Studium in München (Bundeswehr Uni), FH Rosenheim, seit 2005 wohnhaft in Kuchl (Salzburg); zum zweiten Mal verheiratet, drei Kinder; Eltern aus einer „Altfrankfurter“ Familie

22.10.2019 1:14:07 Niederbayern; Bayern

1,52

07.11.2019 1:12:41

Niederbayern; Bayern

3

08.10.2019 1:07:43 Bayern

3

16.12.2019 1:17:16 Oberpfalz; Bayern

3

20.11.2019 1:22:06 Rottal; Niederbayern; Bayern

3

17.12.2019 1:18:22

Berchtesgaden; Bayern

3

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Zur sozialen Bedeutung des Bairischen in Bayern

Hubert

Franz

65

76

m

m

im Ruhestand (ehem. pastoraler Mitarbeiter)

im Ruhestand (ehem. Wetterbeobachter)

geboren in Altötting, aufgewachsen in Altötting und Burghausen, studierte Theologie in Passau, Münster und München, wohnhaft in Salzweg (bei Passau), verheiratet, vier Kinder geboren in Triebenbach, aufgewachsen, zur Schule gegangen und wohnhaft in Freilassing, nie weggezogen, einige Jahre täglich nach München gependelt; Mitglied im „Förderverein für Bairische Sprache und Dialekte“; verheiratet, zwei Kinder; Vater unbekannter französischer Soldat

23.10.2019 1:09:57 Niederbayern; Bayern

2-3

02.10.2019 1:13:51

Rupertiwinkel; Oberbayern; Bayern

4

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Konstantin Niehaus

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ANHANG: INTERVIEWLEITFADEN I. Rechtliche Hinweise Die Teilnahme findet in Form gemeinsamer persönlicher Unterhaltungen statt. Alle Daten werden anonym und vertraulich behandelt, nur zum Zwecke der Forschung verwendet und nicht an Dritte weitergegeben. Das Gespräch wird mitgeschnitten, sowohl per Skype als auch per Diktiergerät. Wenn du30 bei Skype keine Videoaufnahme möchtest, sag es bitte, dann nehmen wir nur Audio auf. Die Daten werden von mir selbst und an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gespeichert und sind nicht für Dritte zugänglich. [kurze Erklärung des Forschungsprojekts]: Das Projekt beschäftigt sich mit regionaler Sprache und Identität in Altbayern, also grob dem Raum Oberbayern, Niederbayern und Oberpfalz. Die zentrale Forschungsfrage ist, wie regionale Sprache den Menschen vor Ort als Identifikationsmittel dient. Dazu erzählst du als ProbandIn von deinen persönlichen Eindrücken, wie die Leute die Sprache der Gegend verwenden, welche persönliche Beziehung sie zur Sprache haben und wie sie die Sprache wahrnehmen, auch im Vergleich zur Sprache aus angrenzenden Regionen. Die Ergebnisse werden in wissenschaftlichen Publikationen anonymisiert verwendet werden. Frage an ProbandIn: Bestätigst du, dass Dr. Niehaus dir das Forschungsprojekt angemessen erklärt hat, nimmst du als ProbandIn an der Studie „regionale Sprache und Identität in Altbayern“ teil und erklärst du dich mit der Aufnahme einverstanden? II. Empirischer Teil 1. Allgemeine Daten zu Person, Lebenslauf und Region: – Wie heißt du? – Wie alt bist du? (genauer Jahrgang) – Wo bist du geboren? – Wo bist du aufgewachsen? – Wo bist du zur Schule gegangen, wo hast du gelernt/studiert? – Was arbeitest du jetzt? – Wo hältst du dich im Alltag auf? Wer sind deine Nachbarn und Freunde, bist du Mitglied in Vereinen? Wohin fährst du für größere Einkäufe oder Tagesausflüge?

30 Die Wahl der Anrede wurde den ProbandInnen überlassen, daher kommt in den Gesprächen auch teilweise Siezen vor. Hier wird zur besseren Übersichtlichkeit nur die Du-Form präsentiert.

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Konstantin Niehaus



– –

Wie würdest du selbst deine Gegend beschreiben: Ist sie ländlich oder städtisch? Wie gut ist deiner Meinung nach die Verkehrs-Anbindung? Sind die Vereine wichtig für das Zusammenleben im Ort? Ist es ein „jeder-kenntjeden“-Ort? Gibt es lokale oder regionale Rivalitäten, z. B. beim Fußball, beim Autofahren oder bei der Verteilung von staatlichen Mitteln/ Infrastrukturprojekten? Sind deine Eltern aus der Gegend (woher genau sind sie)? Gefällt dir die Region, in der du wohnst?

2. Allgemeine zur regionalen Sprache (nicht notwendigerweise die eigene Sprache): – Sprache vor Ort: Wie reden die Leute vor Ort? Wie heißt diese Sprache? Ist das ein Dialekt, eine Umgangssprache oder etwas ganz anderes? – Wie heißt die Sprache aus der Gegend, in der du wohnst? – Was sind typische (sprachliche) Merkmale für die Sprache vor Ort? – Machen SprecherInnen in der Region einen Unterschied zwischen Schreiben und Sprechen, gibt es z. B. Dialekt in WhatsApp-Nachrichten o. Ä.? – Unterscheidet sich die Sprache vor Ort von der in der übrigen Region? Wo fängt die Region an, wo hört sie auf? Wer gehört sprachlich dazu, wer nicht? – Kannst du eine Veränderung des Sprachgebrauchs (in der Region) über die Zeit feststellen? (z. B. durch Landkreisverschiebungen, altersbedingten Sprachwandel) 3. Autobiographisches zu Spracherwerb und Sprachgebrauch: – Welche Sprachen – Dialekt, Umgangssprache, Hochdeutsch – hast du wann erlernt? Welche Sprache hast du zu welchem Zeitpunkt wie verwendet und wem gegenüber? – Kindheit/Vorschulzeit/als Kind daheim in der Familie – Schulzeit (Lehrer/Schüler-Verhältnis, Schülergruppen/Cliquen untereinander) – Ausbildung/Studium (Lehrende/Lernende-Verhältnis, Lernende untereinander) – Berufsausübung (Vorgesetzter-Mitarbeiter-Verhältnis, Mitarbeiter untereinander) – Partnerwahl/Familiengründung (PartnerInnen untereinander) 4. Sprache und eigene Identität: – Was sprichst du selber für eine Sprache – wie heißt die? – Sprichst du eine Sprache, die deiner Meinung nach typisch für die Region ist? Warum schon, warum nicht? – Wie stark regional oder dialektal ist deine Sprache deiner Meinung nach? Auf einer Skala von eins bis vier, mit vier als stärkstem Wert? Warum? – Gefällt dir die Sprache, die du selber verwendest? Würdest du gern weniger oder mehr regional oder im Dialekt sprechen? Warum?

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Sollte man z. B. in Kurse gehen, um sich Hochdeutsch antrainieren/Dialekt abtrainieren, oder umgekehrt, um sich in Dialektkursen (z. B. in München) Dialekt anzutrainieren? In welchen Situationen sprichst du regionale Sprache? – Mit Freunden und Familie (Wie reden deine Freunde, wie redet deine Familie?) (falls nicht unter „Autobiographisches“ erwähnt) – In der Schule mit anderen SchülerInnen bzw. Arbeit mit KollegInnen (falls nicht unter „Autobiographisches“ erwähnt) – In der Schule mit dem Lehrer/der Lehrerin bzw. Arbeit mit dem Chef/der Chefin (falls nicht unter „Autobiographisches“ erwähnt) – Mit Behörden, z. B. beim Arzt, auf dem Amt, am Telefon mit unbekannten Gesprächspartnern, die anders sprechen als man selbst (z. B. einen anderen Dialekt oder Hochdeutsch) – Mit Menschen aus einem anderen Dialektkreis (z. B. mit Sachsen oder Rheinländern) – Am Telefon mit bekannten Gesprächspartnern – Mit Menschen aus einem anderen Sprachkreis, z. B. Leute mit Italienisch, Polnisch, Türkisch usw. als Muttersprache Wie würdest du dich selber bezeichnen, wenn dich jemand nach deiner Herkunft/Heimatregion fragt? (nach Spontanantwort weiter elizitierte fiktive Situationen – abhängig davon, wer fragt: Norddeutscher, Franke, Österreicher) Wie stark spielt die regionale Sprache für deine eigene Identität eine Rolle, verglichen z. B. mit anderen identitätsstiftenden Dingen? (zusätzliches Elizitieren möglich: Freizeitinteressen wie Sport und [sonstige] Vereine, Musikgeschmack) Inwieweit spielt dein eigener Bekannten- und Familienkreis dabei eine Rolle? Könntest du dir vorstellen, anders zu sprechen, z. B. eine andere Sprache, einen anderen Dialekt, nur Hochdeutsch?

5. Sprache und Identität in der Region: – Regionale Zugehörigkeit durch Sprache: Hast du schon einmal mitbekommen, dass Leute in deiner Region das wichtig finden? Wer genau findet das wichtig? Findest du es selber wichtig? – Wurdest du selber schon einmal an deiner Sprache erkannt? Wie war das für dich, wie hast du das erlebt? – Welche Eigenschaften verbindest du mit der Sprache aus dem Ort/der Region? – Hast du schon einmal mitbekommen, dass jemand wegen „regionaler“ oder „unregionaler“ Sprache ausgegrenzt wurde? Kannst du dir vorstellen, dass es so etwas gibt, wenn ja, wie würde das ablaufen? (zusätzliches Elizitieren möglich über eigene anonymisierte Anekdoten zum durchgehenden Gebrauch des Standards und zur Akkommodation bei ‚MigrantInnen‘) – Gibt es irgendwelche Sprachscherze oder Spiele, mit denen man die Zugereisten von den Einheimischen unterscheiden kann? Also, z.B. mit Wörtern, die der Zugereiste nicht kennt oder die er nicht aussprechen kann? (zusätzliches Elizitieren möglich über eigene Anekdoten zum Fränkischen)

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6. Vergleich mit den umliegenden Regionen Bayerisch-Schwaben, Franken und Österreich: – Altbayern und Bayerisch-Schwaben: Gibt es deiner Meinung nach Gemeinsamkeiten/Unterschiede in der Sprache/Unterschiede? Was überwiegt insgesamt?, Gefällt dir die Sprache aus Bayerisch-Schwaben (Skala: sehr gut, gut, teils/teils, eher nicht so gut, überhaupt nicht)? Gibt es typische Wörter, Laute oder andere sprachliche Merkmale, an denen du SprecherInnen aus Bayerisch-Schwaben erkennst? Wenn ein bayerischer Schwabe bairischen Dialekt übernimmt, kann er damit zum Bayern werden, also so, dass seine schwäbische Herkunft keine Rolle mehr spielt? – Altbayern und Franken: Gibt es deiner Meinung nach Gemeinsamkeiten/ Unterschiede in der Sprache/Unterschiede? Was überwiegt insgesamt?, Gefällt dir die Sprache aus Franken (Skala: sehr gut, gut, teils/teils, eher nicht so gut, überhaupt nicht)? Gibt es typische Wörter, Laute oder andere sprachliche Merkmale, an denen du SprecherInnen aus Franken erkennst? Wenn ein Franke bairischen Dialekt übernimmt, kann er damit zum Bayern werden, also so, dass seine fränkische Herkunft keine Rolle mehr spielt? – Was hältst du davon, Schwaben in Westbayern und Franken in Nordbayern umzubenennen? – Bayern und Österreich: Gibt es deiner Meinung nach Gemeinsamkeiten/ Unterschiede in der Sprache/Unterschiede? Was überwiegt insgesamt? Gefällt dir die Sprache aus Österreich (Skala: sehr gut, gut, teils/teils, eher nicht so gut, überhaupt nicht)? Gibt es typische Wörter, Laute oder andere sprachliche Merkmale, an denen du SprecherInnen aus Österreich erkennst? Wenn ein Österreicher bairischen Dialekt übernimmt, kann er damit zum Bayern werden, also so, dass seine österreichische Herkunft keine Rolle mehr spielt? – Wie findest du die Idee, dass Bayern ein eigener Staat sein sollte, weil dort andere Dialekte als im übrigen Deutschland gesprochen werden? Skala: sehr gut – gut, aber nur für bairischsprechende Teile – nicht gut: Bayern gehört zu Deutschland – Bayern sollte lieber mit Österreich einen gemeinsamen Staat bilden, weil sich die Gebiete sprachlich ähneln – Österreichisches Deutsch: Es ist einigen SprecherInnen in Österreich sehr wichtig, dass es ein österreichisches Hochdeutsch gibt. Findest du es gut, dass es diese nationale Abgrenzung gibt, findest du es schlecht, oder ist es dir egal? III. Frage nach weiteren ProbandInnen und Einverständnis für telefonische Nachbesprechung (= „Member Check“)

DIE ENTDECKUNG DES „SPRACHLICHEN CHAMÄLEONS“ Laienlinguistische Wahrnehmung des Sprachgebrauchs in Regensburg im Spannungsfeld zwischen Standardsprache und Dialekt Elisabeth Wellner ABSTRACT Der vorliegende Beitrag stellt die Wahrnehmung linguistischer Laien bezüglich ihres eigenen individuellen Sprachgebrauchs ins Zentrum der Betrachtung und ist somit im Bereich der Wahrnehmungsdialektologie zu verorten. Es wird der Frage nachgegangen, welche sprachexternen Einflussfaktoren sich aus Sicht der Sprecherinnen und Sprecher innerhalb des Varietätenspektrums von Regensburg auf den Sprachgebrauch auswirken. Der Beitrag stellt die wichtigsten Einflussfaktoren detailliert dar und verdeutlicht, dass es sich hier um ein komplexes Geflecht von Einflussgrößen handelt. Diese werden im Spiegel der Sprachdynamiktheorie analysiert. Dabei kristallisiert sich der Gesprächspartner als wichtigster Faktor bei der Steuerung des Sprachgebrauchs heraus. Mit Hilfe der sprachexternen Einflussfaktoren, die aus laienlinguistischer Perspektive betrachtet werden, ist es möglich, die Beweggründe zu eruieren, die zur Verwendung einer bestimmten Varietät führen. 1 EINLEITUNG Der vorliegende Beitrag fokussiert die Wahrnehmung linguistischer Laien bezüglich des eigenen individuellen Sprachgebrauchs, der sich im Kontinuum zwischen Standardsprache und Dialekt bewegt. Konkreter beschäftigt sich die vorliegende kurze Studie mit der grundlegenden Frage, welche sprachexternen Einflussfaktoren die Wahl für oder gegen eine Varietät steuern. Im Laufe dieses Beitrags werden die wichtigsten Faktoren vorgestellt und im Spiegel der Sprachdynamiktheorie (SCHMIDT / HERRGEN 2011) analysiert. Die Stadt Regensburg mit ihrem urbanen Varietätenspektrum stellt dabei das Untersuchungsgebiet dar. Um die nachfolgenden Ausführungen auf eine fundierte theoretische Basis zu stellen, gilt es zunächst, die wichtigsten Begrifflichkeiten zu definieren und deren Stellenwert im Gesamtzusammenhang zu erläutern. Die theoretische Grundlage für eine Sprecher- und Sprecherinnen1-Fokussierung, also eine Beschäftigung mit der 1

Nachfolgend wird der Einfachheit halber das generische Maskulinum verwendet, womit beide Geschlechter eingeschlossen sind.

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Elisabeth Wellner

subjektiven Wahrnehmung des eigenen Sprachgebrauchs der Sprecher, liefert die Wahrnehmungsdialektologie. Anders definiert diese wie folgt: Als Wahrnehmungsdialektologie wird jene Subdisziplin der Dialektologie verstanden, in der die subjektiven Wahrnehmungen linguistischer Laien zu regionalen Spracherscheinungsformen im deutschsprachigen Raum untersucht werden, die als kognitive Strukturen des sprachbezogenen Alltagswissens bezeichnet [werden]. (ANDERS 2010: 56)

Im vorliegenden Falle enthält das erwähnte Alltagswissen auch Einflussgrößen wie beispielsweise die Erziehung beziehungsweise die durch Erziehung vermittelten Wertungen regionaler sprachlicher Erscheinungen, den Umgang mit Status oder ein im Alltagswissen verankertes Prestige bestimmter sprachlicher Formen. Sie steuern bewusst oder unbewusst den Sprachgebrauch der Regensburger. Bereits zu einem früheren Zeitpunkt stellte KLAUS J. MATTHEIER Überlegungen an, die bezüglich der Entwicklung des Faches in eine ähnliche Richtung wiesen. Er stellt in diesem Zusammenhang klar: [S]obald sie [= die Dialektologie, Anmerkung der Autorin] erklären will, warum die Sprecher gerade diese Varietät in dieser Situation verwendet haben, welchen Zweck sie damit verfolgten oder welchen gesellschaftlichen Zwängen sie dabei nachgeben mussten und warum sie früher andere Varietäten verwendet haben, kurz, welche Bedeutung der Dialekt zu jedem Zeitpunkt seiner Verwendung für die Verwender hat, dann muss sie auch in das Alltagswissen einzudringen suchen. (MATTHEIER 1985: 51)

Die laienlinguistische Perspektive trägt also entscheidend dazu bei, einen möglichen Sprachwandel im städtischen Varietätenspektrum von Regensburg nicht nur auf lautlicher Ebene und sprachstrukturell analysieren zu können, sondern vor allem auch die Beweggründe für die Verwendung einer bestimmten Varietät aus Sicht der Stadtbewohner zu verstehen. Es kann an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden, dass es sich dabei nicht um eine einfache, lineare Struktur von Einflussfaktoren handelt, sondern um ein dichtes, äußerst komplexes Geflecht an verschiedenen sprachexternen Steuerungsfaktoren, deren scharfe Trennung nicht immer sinnvoll und vor allem oftmals auch nicht möglich ist. Dennoch soll hier versucht werden, die wichtigsten Einflussgrößen in ihrer Wirkungsweise und im Spiegel der Sprachdynamiktheorie darzustellen. Nur so kann sichergestellt werden, dass der Sprachwandel in einem städtischen Untersuchungsgebiet wie dem von Regensburg in seinen tieferen Strukturen und unter Berücksichtigung seiner mannigfaltigen Einflussfaktoren verstanden werden kann. Der gesamte Beitrag dreht sich also um die elementare, fast schon banale Frage: Warum spricht eine in Regensburg geborene Gewährsperson mit einem bestimmten Gesprächspartner in einer spezifischen Gesprächssituation so, wie sie spricht, genauer: Warum verwendet sie gerade eine bestimmte Varietät aus dem gesamten urbanen Varietätenspektrum, das auch die Pole Standardsprache und Dialekt einschließt? Welche Einflussfaktoren könnten auf diese Varietätenwahl einwirken? Doch bevor auf diese Fragen eingegangen werden kann, müssen zunächst das Korpus und die Methode erläutert werden.

Die Entdeckung des „sprachlichen Chamäleons“

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2 KORPUS UND METHODIK 2.1 Korpus Um herauszufinden, wodurch der Sprachgebrauch innerhalb von Regensburg beeinflusst wird, wurden in einer größeren Spracherhebung im Zeitraum von März 2014 bis Februar 2016 insgesamt 88 Sprachaufnahmen mit gebürtigen Regensburgern durchgeführt.2 Die Aufnahmen bestanden aus einem freien Gespräch und einem Leitfadeninterview, wobei in diesem Zusammenhang nur das Leitfadeninterview von Bedeutung ist, da das freie Gespräch die Grundlage für phonetische Analysen lieferte. Von den 88 Aufnahmen konnten 9 nicht berücksichtigt werden. Grund dafür war entweder die fehlende Ortsfestigkeit – in Fällen, in denen gebürtige Regensburger schon sehr lange nicht mehr in Regensburg wohnten – oder auch die Tatsache, dass auf Fragen nicht genügend eingegangen werden konnte oder die Sprache der Gewährspersonen aufgrund des hohen Alters zu undeutlich geworden ist. Ersteres war in einzelnen Fällen wegen altersbedingter Konzentrationsschwächen der Fall. Die Frage nach der Ortsfestigkeit implizierte bereits, dass es nicht ausreichte, nur in Regensburg geboren zu sein. Vielmehr sollten die Personen außerdem mindestens einen Elternteil haben, der in Regensburg geboren und aufgewachsen ist,3 und selbst schon möglichst lange in dieser Stadt wohnen oder gewohnt haben, sodass mindestens die sprachliche Sozialisation bis zum Jugendalter dort erfolgen konnte. Tatsächlich konnten einige Gewährspersonen ausfindig gemacht werden, deren Familien schon seit Generationen in Regensburg ortsansässig waren. Die aufwändige Suche nach entsprechenden Gewährspersonen begann zunächst im Bekanntenkreis der Autorin, bevor sie über die sozialen Medien ausgeweitet wurde. Schließlich unterstützte die Lokalzeitung durch einen Artikel zum Projekt die Suche (vgl. RIED 2015). So konnten die erforderlichen Gewährspersonen aus nahezu allen Berufsgruppen vom Handwerker bis zum Assistenzarzt und von der Lehrerin bis zur Sekretärin gefunden werden. Lediglich die Gruppe der Landwirte ist in diesem städtischen Kontext nicht vertreten. Insgesamt ergab sich so eine Altersspanne der Gewährspersonen zum Zeitpunkt der Aufnahme von 10 bis 98 Jahren. Die Gewährspersonen wurden altersmäßig in vier Gruppen eingeteilt, was Tab. 1 verdeutlicht. 4

2

3

4

Die erhobenen Daten bilden die Grundlage für die Dissertation der Autorin (vgl. WELLNER 2020). Die in diesem Beitrag behandelte Thematik ist ein Teilaspekt der Dissertation. Daher wird im Folgenden auch mehrfach auf diese Studie Bezug genommen. Bezüglich der im Leitfadeninterview sprachexternen Faktoren wurden allerdings in Ausnahmefällen auch Personen berücksichtigt, die in Regensburg geboren wurden, deren Eltern aber nicht aus der Stadt stammten, da für die Analyse der Einflussfaktoren im Hinblick auf den Sprachgebrauch die phonetische Realisierung der Sprache nicht relevant ist. Die zahlenmäßige Differenz ergibt sich daraus, dass in der Tab. 1 sowohl die Gewährspersonen für das freie Gespräch als auch jene für das Leitfadeninterview berücksichtigt wurden. Bei einer Gewährsperson konnte nur das Interview ausgewertet werden, während bei einer anderen ausschließlich das freie Gespräch brauchbare Daten lieferte.

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Elisabeth Wellner

Gewährspersonen Gruppe I Gruppe II Gruppe III Gruppe IV

Alter 10–19 20–35 36–59 60 und älter

Anzahl 9 13 31 27 insgesamt 80

Tab. 1: Aufteilung der Gewährspersonen nach Alter

Gruppe I deckt dabei im Wesentlichen die Kinder und Jugendlichen im Schulalter ab. Zur Gruppe II gehören die jungen Berufstätigen und Studierenden, selbst wenn sie etwas mehr Zeit für ihr Studium benötigen sollten. Gruppe II5 umfasst generell zusammen mit Gruppe III die mittlere Generation, während die vierte Gruppe der Gewährspersonen entweder kurz vor ihrem Ruhestand steht oder sich bereits im Ruhestand befindet. Diese Personengruppe hätte man theoretisch vom Alter her nochmals unterteilen können, was jedoch die Studie nur unnötig verkompliziert hätte und daher nicht sinnvoll erschien. Unter 10-Jährige konnten nicht für die Studie herangezogen werden, da davon auszugehen ist, dass ihr Sprachbewusstsein noch nicht genügend ausgeprägt ist, um unter den gegebenen Studienbedingungen über den eigenen Sprachgebrauch reflektieren zu können. Durch die Erhebung von Sprachdaten aus unterschiedlichen Generationen war es möglich, eine apparenttime-Untersuchung in Regensburg durchzuführen, die Rückschlüsse bezüglich des Sprachwandels innerhalb des städtischen Varietätenspektrums zulässt. 2.2 Methodik Erhebungsmethodisch wurde wie schon erwähnt auf das Leitfadeninterview zurückgegriffen. Dabei lag der Interviewleitfaden6 nur der Exploratorin vor, die auch die Autorin dieses Beitrags ist. Der Fragenkatalog ist darauf ausgerichtet, möglichst viele alltägliche Situationen, die dazugehörigen Gesprächspartner sowie den jeweiligen Sprachgebrauch abzudecken. Wichtig ist dabei, dass von der Exploratorin darauf geachtet wurde, den Terminus Dialekt, wenn möglich, zu vermeiden, um die Perspektive der Gewährspersonen nicht von vornherein auf die dialektale Varietät zu beschränken. Daher wird in der Einstiegsfrage nach der Sprache im Alltag gefragt. Allerdings ließen

5

6

Sicher existieren an dieser Stelle unterschiedliche Herangehensweisen zur Unterteilung der Gewährspersonen. In dieser Studie wird Gruppe II bewusst der mittleren Generation zugeordnet, da die jeweilige Lebensphase als Einteilung herangezogen wird. Bei Gruppe II handelt es sich also nicht mehr um Kinder und Jugendliche, sondern um Studierende oder junge Berufstätige, die somit der mittleren Generation zugeordnet werden. Da die mittlere Generation eine zahlenmäßig große Gruppe an Gewährspersonen darstellt, erschien eine Unterteilung in Gruppe II und III sinnvoll (vgl. WELLNER 2020: 48). Vergleiche den Interviewleitfaden im Anhang dieses Beitrags.

Die Entdeckung des „sprachlichen Chamäleons“

291

sich die Bezeichnungen Dialekt, Hochdeutsch und vor allem der äußerst problematische Terminus Umgangssprache nicht gänzlich umgehen. Die Ungenauigkeit des letzteren Terminus ist in der Forschung schon seit Längerem bekannt (vgl. HENZEN 1954: 21). Trotz dieser Problematik aus der Sicht der Linguistik ist die Umgangssprache vor allem im wahrnehmungsdialektologischen Kontext für den linguistischen Laien ein gut greifbares gedankliches Konzept, auf das in bestimmten Situationen zurückgegriffen werden musste. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass es für die rein linguistische Betrachtung des Varietätenspektrums nicht brauchbar erscheint und gerade die von Laien empfundene Greifbarkeit aus wissenschaftlicher Sicht nicht zutrifft. Mit dem Terminus Umgangssprache als Hilfskonstruktion konnten viele Gewährspersonen, oftmals auch aus der jüngeren Generation, ihre Ansichten über den eigenen Sprachgebrauch und ihr alltagssprachliches Wissen besser beschreiben und so wichtige Informationen liefern. Des Weiteren wurde Wert auf die Kontextualisierung der Fragen gelegt, um diese in der jeweiligen Lebenswelt der Gewährspersonen zu situieren (vergleiche HERMANNS 2013: 367–368) und so eine Reflexion über Sprache zu erleichtern und authentische Antworten zu erzeugen. Die Kontextualisierung lief dabei nach folgendem Muster ab: „Stellen Sie sich vor… Sie müssen wegen einer Impfung zum Arzt. Wie sprechen Sie zum Beispiel mit Ihrem Hausarzt?“ Auf diese Weise entstanden insgesamt sehr authentische Aufnahmen, die eine Fülle von Informationen zum Sprachgebrauch und zum sprachlichen Alltagswissen der Gewährspersonen bereithalten. Vor der eigentlichen Analyse und Interpretation gilt es schließlich noch die wichtigsten Begrifflichkeiten bezüglich des behandelten Themenfeldes zu definieren. Aus laienlinguistischer Sicht handelt es sich während des Interviews zunächst um eine Kommunikationssituation zwischen einem Laien und einem Profi. Es stellt sich die Frage, was darunter in diesem Fall zu verstehen ist. Tatsächlich müssen diese Termini für jeden Einzelfall möglichst exakt definiert werden, wobei nach MARKUS HUNDT eine genaue Definition bisher noch aussteht (vgl. HUNDT 2018: 110–111). Klar scheint jedoch, dass zwischen den beiden Polen ‚Laie‘ und ‚Experte‘ noch zahlreiche Übergangsstufen existieren (BADERSCHNEIDER / KESSEL 2010: 21). Dies gilt auch für den vorliegenden Fall, wobei die Exploratorin aufgrund ihres Studiums, der wissenschaftlichen Spezialisierung und der momentanen beruflichen Tätigkeit eindeutig als Profi einzuordnen ist, während es von Seiten der Gewährspersonen Unterschiede in der Ausprägung der Laienhaftigkeit gibt. Einige der befragten Gewährspersonen waren z. B. Deutschlehrer und verfügten daher über ein vertieftes Wissen zu Sprache und teils auch Dialekten, was sich in Einzelfällen in differenzierteren Antworten widerspiegelte. Ein solches Hintergrundwissen wurde in der Interpretation selbstverständlich mitberücksichtigt. Alle Aussagen müssen außerdem unter der Prämisse gelesen werden, dass linguistische Laien unterschiedliche Vorstellungen von Dialekt haben können, d. h., dass die interpretierten Äußerungen fachlich betrachtet einen unterschiedlichen Grad an Dialektalität aufweisen. Es handelt sich also um eine „subjektive Dialektalität“, die von CAROLIN KIESEWALTER wie folgt beschrieben wird:

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Elisabeth Wellner Die subjektive Dialektalität regionalsprachlicher Merkmale soll damit vorliegend definiert werden als zentrale perzeptionslinguistische Eigenschaft von Regionalismen, hörer- bzw. sprecherseitig saliente (d. h. auffällige, bewusste) und pertinente (d. h. relevante) regionalsprachlich indizierte Abweichungen von der subjektiv definierten Norm des Standarddeutschen darzustellen. (KIESEWALTER 2014: 112)

Daher wurde davon abgesehen, die Ausprägung des Dialekts in den Vordergrund zu stellen, stattdessen erfolgt eine inhaltsanalytische Fokussierung auf die Faktoren, welche die Verwendung einer bestimmten Varietät bedingen. 3 SPRACHGEBRAUCH IN REGENSBURG UND SEINE EINFLUSSFAKTOREN IM SPIEGEL DER SPRACHDYNAMIKTHEORIE Im Folgenden werden also aus einer Vielzahl von festgestellten sprachexternen Faktoren, die sich auf die Varietätenwahl innerhalb des Varietätenspektrums von Regensburg auswirken, die wichtigsten detailliert erläutert und im Spiegel der Sprachdynamiktheorie nach SCHMIDT / HERRGEN interpretiert. In diesem Beitrag wird also davon ausgegangen, dass sprachexterne Einflüsse vorliegen, die sich innerhalb des Untersuchungsgebietes „auf die sich ständig wandelnde komplexe Sprache [auswirken und somit] stabilisierende und mobilisierende Prozess[e]“ zur Folge haben (SCHMIDT / HERRGEN 2011: 20). Im urbanen Varietätenspektrum von Regensburg finden sich bezüglich der verwendeten Varietät in bestimmten Kommunikationssituationen ausschließlich Mikrosynchronisierungs- und Mesosynchronisierungsprozesse. Erstere bezeichnen einen Synchronisierungsakt von sprachlichem Wissen, bei dem es in einzelnen Begegnungen von Kommunikationspartnern zu einem Kompetenzabgleich im Bereich der verwendeten Varietät kommt (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011: 29). Die Mesosynchronisierung liegt im verwendeten Korpus nur dann vor, wenn auf Grund einer Folge von mehreren Mikrosynchronisierungsprozessen in bestimmten Kommunikationssituationen ein „gemeinsame[s] situationsspezifische[s] sprachliche[s] Wissen“ herausgebildet wird (SCHMIDT / HERRGEN 2011: 31). Unter Berücksichtigung der so entstehenden situationsgebundenen sprachlichen Normen, einschließlich der Verwendung einer bestimmten Varietät, können Kommunikationssituationen bewältigt werden. Die unten erläuterte kommunikative Skepsis stellt eine Weiterentwicklung des Sprachdynamikmodells dar und soll die subjektiv empfundene kommunikative Hemmschwelle der Untersuchungsteilnehmer als zusätzlichen Einflussfaktor in das bestehende Modell integrieren. Sie wurde in Anlehnung an den Begriff der kommunikativen Reichweite7 (vgl. LÖFFLER 2003: 7) konzipiert. Basierend auf diesen kurz vorgestellten theoretischen Grundlagen werden im Anschluss ausgewählte Einflussfaktoren vorgestellt. Deren Reihenfolge richtet sich entweder nach der Anzahl der Nennungen während der durchgeführten Interviews oder nach der thematischen Zusammengehörigkeit von bestimmten Faktoren wie Statusgedanke und Prestige, v. a. aus Sicht der 7

Zur genauen Definition der kommunikativen Reichweite s. unten 3.2.

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Sprecher selbst. Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass meist nicht nur ein Faktor ausschlaggebend ist, sondern oft mehrere Faktoren bei der Steuerung der Varietätenwahl und des Sprachgebrauchs als Ganzes zusammenwirken, wodurch ein dichtes Netz an Einflussfaktoren entsteht. 3.1 Gesprächspartner Betrachtet man die Antworten der Regensburger bezüglich ihrer Kommunikation in den verschiedenen Bereichen und unterschiedlichen Kommunikationssituationen, so kristallisiert sich der Gesprächspartner mit großem Abstand als der wichtigste sprachexterne Einflussfaktor insbesondere bezüglich der Varietätenwahl heraus. Bei 80 berücksichtigten Gewährspersonen beinhalten die Antworten insgesamt 104 Nennungen des Gesprächspartners als Grund, warum man sich sprachlich anpasst und für eine bestimmte Varietät entscheidet. Es handelt sich also nicht um die Anzahl der Antworten, sondern um die Häufigkeit der Nennungen dieses Einflussfaktors. Demnach kann eine Gewährsperson einen Faktor auch mehrmals in ihren Antworten thematisieren. Dadurch kommt in diesem Fall die absolute Zahl 104 für den am häufigsten genannten Einflussfaktor zustande. Zunächst dazu ein Beispiel aus der mittleren Generation (Gruppe III8): Wann rede ich anders? Wenn mein Gegenüber anders redet. Wenn ich das schon merke, dass die vielleicht von Hamburg ist oder im Urlaub Bekannte, die sind vom anderen Bundesland oder sonstwas. Dann rede ich anders, weil sie mich eher verstehen. Das hat eigentlich nichts damit zu tun, dass ich sage, ich schäme mich für meinen Dialekt oder meine Sprache, aber man versteht sich leichter.

Die Gewährsperson gibt demnach an, sich sprachlich an ihren Gesprächspartner anzupassen und somit je nach den sprachlichen Kompetenzen des Gegenübers eine entsprechende Varietät im Kontinuum zwischen Dialekt und Standardsprache zu wählen, um eine funktionierende Kommunikation zu gewährleisten. Es kommt also nach der Sprachdynamiktheorie zu einem Synchronisierungsprozess, das heißt einem „Abgleich von Kompetenzdifferenzen im Performanzakt“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011: 28), in dessen Folge man sich in der konkreten Gesprächssituation auf eine bestimmte Varietät einigt, in unserem Fall wahrscheinlich auf eine standardnahe Varietät, wodurch dann ein Stabilisierungsprozess einsetzt. Zugleich merkt die Gewährsperson an, dass der Einflussfaktor des Prestiges in diesem Fall nicht von Bedeutung ist (kein Schamgefühl wegen des eigenen Dialekts). Dennoch zeigt bereits die Erwähnung, dass es sich meist um ein Zusammenspiel mehrerer Einflussgrößen handelt, welche solche Synchronisierungsprozesse steuern. Auch in anderen Studien, z. B. in Marburg (vgl. BRANDHOVE 1997: 180), wurde der Gesprächspartner schon als wichtiger Einflussfaktor genannt. Diese Einsicht ist demnach nicht neu und dennoch von zentraler Bedeutung, da er in Regensburg manch andere Faktoren wie den sozialen Status überlagert. 8

Im Folgenden wird auf eine literarische Umschrift zurückgegriffen, da es ausschließlich darum geht, die Einflussgrößen bezüglich des Sprachgebrauchs herauszuarbeiten.

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3.2 Kommunikative Reichweite und kommunikative Skepsis Im Interviewleitfaden betrifft die Frage nach dem Weg nicht nur die Kommunikation mit einem Fremden, sondern zeigt zudem, wie die kommunikative Reichweite beispielsweise des Dialekts von den Regensburger Gewährspersonen eingeschätzt wird. Grundsätzlich kann man festhalten, dass sich hierbei die laienlinguistische und die wissenschaftliche Einschätzung decken, wonach der Dialekt „von begrenzter und dadurch minimaler kommunikativer Reichweite [ist und den]; geringste[n] Verständigungsradius“ (LÖFFLER 2003: 7) aufweist. Hingegen gilt die Standardsprache als Varietät „von unbegrenzter und optimaler kommunikativer Reichweite; größter Verständigungsradius“ (LÖFFLER 2003: 7). Die folgenden beiden Beispiele aus der jüngeren Generation (Gruppe I und Gruppe II) illustrieren darüber hinaus, dass diese kommunikative Reichweite in enger Verbindung mit anderen Faktoren zu sehen ist. (1) Eigentlich schon eher Hochdeutsch, weil ich ja nicht weiß, ob er mich mit dem Dialekt dann versteht. [Exploratorin: Wäre das in jeder Stadt gleich?] Ich glaube schon. (Gewährsperson aus Gruppe I) (2) Also ich würde mit dem so reden wie jetzt. Ich würde ihn höflich grüßen und den dann halt in meiner Alltagssprache fragen. Wenn ich jetzt feststellen würde, dass er nicht von hier ist und mich nicht versteht, würde ich dann halt deutlich hochdeutscher sprechen. (Gewährsperson aus Gruppe II)

Wenn die Regensburger Gewährspersonen einen Fremden nach dem Weg fragen müssen, spielt demnach die kommunikative Reichweite eine Rolle, die insbesondere mit der Frage verbunden ist, ob man dabei auch verstanden wird bzw. ob die Gewährspersonen glauben, verstanden zu werden. Deshalb ist es notwendig, das Sprachdynamikmodell um eine weitere Komponente zu ergänzen, nämlich die kommunikative Skepsis. Mit ‚kommunikative Skepsis‘ ist in diesem Fall „die Sorge der Regensburger Sprecher gemeint, mit einer allzu dialektalen Aussprache nicht verstanden zu werden“ (WELLNER 2020: 159). Im obigen Beispiel und vielen anderen Fällen wurde gezielt nachgefragt, ob die Größe der Stadt, in der man nach dem Weg fragt, einen Einfluss auf den eigenen Sprachgebrauch hat. Die Meinungen waren diesbezüglich unterschiedlich, vielfach gaben die Gewährspersonen jedoch an, auf eine allgemeine Verständlichkeit zu achten, also von einer ‚kommunikativen Skepsis‘ geleitet zu sein. Die wiederholten Mikrosynchronisierungen in einzelnen Situationen, bei denen man sich auf eine bestimmte Varietät einigt, führen letztlich zu einer Mesosynchronisierung, der sprachlichen Anpassung in bestimmten Situationen innerhalb einer Sprechergemeinschaft. So weiß eine Gewährsperson unter Umständen, dass sie sich bei der Frage nach dem Weg in der Kommunikation mit einem Fremden in Richtung Standardsprache orientieren muss, um eine funktionierende Kommunikation zu gewährleisten. Grund dafür ist die Tatsache, dass eine bestimmte Verhaltensweise sich in mehreren Mikrosynchronisierungen als nützlich erwiesen hat und sie daher unter Einwirkung der kommunikativen Skepsis zu einer bestimmten Norm einer Sprechergemeinschaft in der betreffenden Situation führte. In gewisser Weise wird so ein Sprachverhalten erlernt, das anschließend in

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bestimmten Kontexten angewandt werden kann. Diese Vorgehensweise konnte grundsätzlich in allen Generationen beobachtet werden. Darüber hinaus findet sie sich sowohl im privaten als auch im öffentlichen Kommunikationsbereich. Dennoch liegen innerhalb des Korpus Beispiele vor, in denen das Sprachdynamikmodell und die dargestellte Funktionsweise der Synchronisierungsprozesse außer Kraft gesetzt werden. Dies betrifft im besonderen Maße die Frage nach der Kommunikation mit dem Haustier, die eigentlich aus der Sprachkontaktforschung stammt und die „Sprachdominanz“ eruieren sollte (RIEHL 2014: 48). Bei der Kommunikation mit dem Haustier, die eine unbeobachtete Kommunikationssituation darstellt, wobei ein tatsächlicher Kommunikationspartner fehlt, offenbaren sich die Auswirkungen, welche durch eine zeitlich begrenzte Aussetzung des Sprachdynamikmodells hervorgerufen werden (vgl. WELLNER 2020: 181). Dies zeigt die Aussage der jüngsten Gewährsperson, als sie nach der verwendeten Sprache mit ihrem Haustier gefragt wurde: Da rede ich schon Bairisch. Ich sag halt [khʊm] 9 (‘komm’) mal her, [khʊm] (‘komm’) mal her oder so [Exploratorin: Weil da ist’s nicht so wichtig oder wieso?] Das ist nicht so wichtig, weil ich mein’, ich weiß ja gar nicht, ob die mich verstehen.

In einer vermutlich nahezu unbewussten Kommunikation mit dem Haustier wird demnach der Wahl der normalerweise verwendeten Varietät keine Bedeutung zugeschrieben, da ohnehin aus der subjektiven Perspektive der Gewährsperson nicht sicher ist, ob sie verstanden wird, und deshalb in diesem speziellen Fall eine sprachliche Anpassung an einen (menschlichen) Kommunikationspartner nicht erforderlich ist. Demnach greift hier die Mikrosynchronisierung nicht, ebenso wenig ist die häufig daraus folgende kommunikative Skepsis relevant. Folglich wird innerhalb des sprachlichen Kontinuums der Sprachgebrauch unbewusst in Richtung Dialekt verschoben (vgl. WELLNER 2020: 181). In diesem speziellen Kontext wird zudem erkennbar, dass gerade eine Situation, bei der die Möglichkeit einer gelungenen Kommunikation nicht besteht, das Zusammenwirken zwischen (hier ausnahmsweise nicht stattfindenden) Synchronisierungsprozessen, externen Einflussfaktoren und kommunikativer Skepsis verdeutlicht. 3.3 Räumlicher Aspekt bezüglich Stadt-Land-Gegensatz und Stadtteile Bezogen auf die bisher behandelten Faktoren ist der räumliche Aspekt zwar von etwas geringerer Bedeutung, kommt aber trotzdem noch relativ häufig in den Antworten vor, insgesamt mit 34 Nennungen.10 Oftmals wird dabei der Stadt-LandGegensatz in den Blick genommen. Es ist kaum überraschend, dass die Stadt Regensburg, das eigentliche Untersuchungsgebiet, mit einem abgeschwächten Dialekt 9

Im Original liegen die Belege jeweils in Teuthonista vor. Für diesen Beitrag wurde jedoch auf die IPA-Lautschrift zurückgegriffen. 10 Hierbei handelt es sich wiederum um eine absolute Zahl, die die Häufigkeit der Nennung dieses Einflussfaktors innerhalb der Gesamtheit der im Korpus befindlichen berücksichtigten Gewährspersonen angibt.

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in Verbindung gebracht wird oder auch mit Hochdeutsch, das ländliche Umland hingegen mit starkem Dialekt. Regensburg selbst ist als Hauptstadt des Regierungsbezirks Oberpfalz im Oberdeutschen, konkreter im bairischen Dialektraum zu verorten. Innerhalb des Bairischen liegt die Stadt in einem mittel-nordbairischen Übergangsgebiet. Das bedeutet auch, dass das Umland nordbairisch geprägt ist, während zumindest der Basisdialekt innerhalb Regensburgs sowohl mittelbairische als auch nordbairische Merkmale aufweist. Generell lässt sich im urbanen Varietätenspektrum jedoch – auch vertikal betrachtet – eine deutliche Tendenz hin zum großräumigen Regiolekt erkennen. Diese sprachgeografische Grundkonstellation begünstigt im Hinblick auf den Faktor der räumlichen Abgrenzung die Tatsache, dass die Stadt Regensburg zwar der Regierungssitz der Oberpfalz ist, sich die befragten Regensburger aber nicht als Oberpfälzer, sondern als Regensburger sehen. Das Nordbairische gilt vielen Stadtbewohnern als „derb“ oder „g’schert“, es zeigt sich hier eine deutlich negative Wertung des Nordbairischen, hingegen wird die eigene urbane Varietät als nicht so starker Dialekt oder als „Stadtnorm“ eingeschätzt. Innerhalb der Stadt sind die stadtteilbedingten sprachlichen Unterschiede zwar historisch relevant, aber bei den Gewährspersonen auf Nachfrage nicht mehr konkret greifbar. Es wird so beispielsweise erwähnt, dass man im heutigen Stadtteil Stadtamhof (eingemeindet 1924), der nicht zur mittelalterlichen Freien Reichsstadt Regensburg, sondern zum nordbairischen Umland gehörte und im Gegensatz zu Regensburg katholisch war, früher anders gesprochen hat. Konkrete Beispiele können aber nicht mehr genannt werden. Es handelt sich nach MARKUS HUNDT um die am wenigsten konkrete Wissensschicht des alltagssprachlichen Wissens, die „[u]nspezifische Ahnung“ (HUNDT 2017: 127). Demnach existieren stadtteilbedingte sprachliche Unterschiede selbst in der ältesten Generation nur noch als gedankliches Konstrukt. Sie sind jedoch für die städtische Identität von entscheidender Bedeutung. 3.4 Erziehung, Prestige und Statusgedanke In den oben genannten Wertungen deutet sich bereits an, dass bestimmte Varietäten ein höheres Prestige genießen als andere. Die sprachexternen Faktoren Erziehung, Prestige und sozialer Status sind ein Paradebeispiel dafür, wie eng solche Einflussgrößen verknüpft sein können. Die Erziehung spielt von der mittleren bis in die heutige jüngere Generation im Hinblick auf den Sprachgebrauch eine tragende Rolle in Regensburg. Dies soll wiederum zunächst an einem Beispiel verdeutlicht werden. Der Äußerung ging die Frage voraus, wie mit den eigenen Kindern gesprochen wurde. (1) Mit denen haben wir Hochdeutsch geredet. Die können schon Bairisch reden, aber es klingt ein wenig komisch […] [Exploratorin: Was ist für Sie Muttersprache?] Mehr Hochdeutsch, tät‘ ich sagen […], weil wir uns dann mit den Kindern so angewöhnt haben, schöner zu sprechen. (Gewährsperson aus der älteren Generation)

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Die Erziehung zugunsten der Standardsprache hat sich in diesem Fall auch auf den Sprachgebrauch der Eltern ausgewirkt, die sich dadurch eine Kommunikation angewöhnt haben, die näher an der Standardsprache orientiert ist. Interessant erscheint auch, dass in diesem Beispiel wie auch in vielen anderen von „schöner“ sprechen die Rede ist, was stets die Verwendung der Standardsprache oder einer standardnahen Varietät meint. Dahinter verbirgt sich letztlich auch eine positive Wertung dieser Varietät und ein sprachliches Prestige. Zwar lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit klären, woher diese Wertungen und Formulierungen stammen, es spricht aber einiges dafür, dass solche negativen Bewertungen vor allem der älteren Generation in der Schule vermittelt wurden. So ist laut ROBERT HINDERLING in der älteren Generation der Gewährspersonen des Sprachatlas von Nordostbayern die Hochsprache das Lernziel gewesen, wobei der Dialekt als das „Andere, Willkürliche, Unordentliche bis hin zum Hässlichen oder sogar moralisch Minderwertigen“ (HINDERLING 2003: 130) gesehen wurde. In vielen Fällen handelt es sich bei wertenden Äußerungen aber nur noch um eine laienlinguistische Umschreibung der Hochsprache. Inwieweit der Prestigegedanke in diesen noch bewusst reflektiert wird, ist nicht genau zu eruieren. Sicher ist, dass die Regensburger Gewährspersonen zwischen „Hochdeutsch“ und „Dialekt“ noch ein weiteres Konzept einer Varietät ansetzen, nämlich „Schriftdeutsch“. Ersteres gilt dabei als erstrebenswertes Ideal der (gesprochenen) Standardsprache, während „Schriftdeutsch“ im Dialekt-Standard-Kontinuum des städtischen Varietätenspektrums eine Annäherung an dieses sprachliche Ideal darstellt und zwischen Dialekt und Hochdeutsch einzuordnen ist. Wie sehr die Sprachbarrierendiskussion, die von Seiten der Sprachsoziologie in den 1970er-Jahren geführt wurde, sich bezüglich der Erziehung bis heute auswirkt, zeigt die folgende Äußerung: Die haben vielleicht mit uns Kindern ein bisschen schöner geredet, man hat ja gemeint, das ist schöner. […] Ich habe eigentlich bloß Dialekt gesprochen, bis ich in die Schule gekommen bin und in der Grundschule war dann alles Hochdeutsch. Dann habe ich halt angefangen, auch mehr Hochdeutsch zu reden […], weil das war ja in den 70er Jahren, war das sehr schick, Kinder ohne Dialekt aufzuziehen. (Gewährsperson aus der mittleren Generation)

Die Gewährsperson bezieht sich genau auf die Zeitspanne, in der die Sprachbarrierendiskussion in Deutschland in der Sprachpädagogik aktuell war (vgl. z. B. LÖFFLER 1972). Aus wissenschaftlicher Perspektive war diese Diskussion bereits Ende der 1970er-Jahre obsolet geworden, aus laienlinguistischer Sicht scheint sie jedoch bis in die heutige junge Generation von Bedeutung zu sein. Sie wird so teils von einer Generation zur nächsten weitertradiert. Hierbei wird eine Diskrepanz zwischen der wissenschaftlichen Sicht und der laienlinguistischen Perspektive sichtbar, da die Linguistik heute das Konzept der inneren Mehrsprachigkeit vertritt. Die Möglichkeit, innerhalb des Deutschen je nach Gesprächspartner oder Situation adäquat zwischen mehreren Varietäten wechseln zu können (vgl. HOCHHOLZER 2015: 66), wird so von den Gewährspersonen auch nicht als Vorteil genannt. Stattdessen fehlt das Konzept der inneren Mehrsprachigkeit und dessen mögliche Vorteile im Bewusstsein der Gewährspersonen völlig. Das Bewusstsein über eine mögliche Sprachbarriere ist dagegen äußerst präsent.

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Der Aspekt der Erziehung lässt sich nur schwer von dem des Prestiges trennen, wie man oben an der Äußerung sehen kann, wonach es „schick“ gewesen sei, Kinder ohne Dialekt zu erziehen. Hinzu kommt eine soziale Komponente, die man heute in Regensburg meist noch in der älteren Generation feststellen kann, so meinte eine ältere Gewährsperson im Hinblick auf das soziale Prestige bestimmter Teile der Innenstadt in ihrer Kindheit: Zum Beispiel jetzt die Donau. Das ist vielleicht so ein Beispiel. Wir haben immer gesagt: die Donau. Und die Leute von der Lederergass’, die damals, glaube ich, die war sehr schlecht, einen schlechten Ruf hat die gehabt. Da gab es eine schlechte Bevölkerungsschicht, die da gewohnt hat. Das war dann die [dɔɐnɐ] (‘Donau’) […] Das haben wir eigentlich nie gesprochen, so. (Gewährsperson aus der älteren Generation)

Mithilfe eines lexikalischen Elements kommt es in diesem Fall zu einer durch den Faktor des Prestiges gesteuerten Abgrenzung von einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Aus heutiger Sicht ist ein solcher Zusammenhang zwischen Sprache und sozialer Zugehörigkeit jedoch nicht mehr nachweisbar. Im vorliegenden Korpus kam er wie im obigen Beispiel nur noch als indirektes Element in der Retrospektive vor. Der Prestigefaktor tritt demnach im tatsächlichen Sprachgebrauch während der Aufnahmen nicht mehr in Erscheinung, sondern ist ein subjektiv empfundener Einflussfaktor aus der Vergangenheit der Gewährspersonen. Dazu passt auch der Befund, dass der Statusgedanke als sprachexterne Einflussgröße auf den Sprachgebrauch innerhalb des Untersuchungsgebietes kaum noch Auswirkungen hat. Wie oben erläutert wurde dieser Faktor anhand der Arzt-Patienten-Kommunikation abgefragt. In diesem Kontext wird er jedoch vielfach von der sprachexternen Einflussgröße des Gesprächspartners oder der Vertrautheit überlagert. Viele Gewährspersonen geben demnach an, z. B. beim Hausarzt so zu sprechen, wie ihr Gegenüber spricht, oder Dialekt zu sprechen, weil sie den Hausarzt schon lange kennen. Wichtiger aus laienlinguistischer Perspektive ist also die Vertrautheit und die vom Gesprächspartner verwendete Varietät, nicht jedoch dessen sozialer Status. Ähnliches gilt auch für die Kommunikation mit dem Facharzt, wobei ein etwas höherer Anteil11 an Gewährspersonen dabei angibt, die eigene Sprache beim Facharzt mehr in Richtung Standardsprache zu verschieben, doch auch hier ist zunächst ausschlaggebend, wie das Gegenüber spricht. Ein ähnliches Ergebnis liegt beim Gespräch mit dem Vorgesetzten vor. Der Statusgedanke wird so nur in Einzelfällen als relevante Größe bezüglich der Wahl der geeigneten Varietät genannt, z. B. von einer ehemaligen Kindergärtnerin, die dadurch ihre Kompetenz gegenüber den Kindern verdeutlichen wollte. Die drei Faktoren Erziehung,

11 Insgesamt gibt es zwar nur zehn genauere Äußerungen von zehn Gewährspersonen zur ArztPatienten-Kommunikation, davon ordnen vier ihre Sprache beim Facharzt der Standardsprache zu, wiederum vier geben eine generelle sprachliche Anpassung bei Verständigungsproblemen an und zwei passen ihre Sprache beim Facharzt nur bei Bedarf an. Beim Hausarzt ist das Bild weit einheitlicher, von den zehn Aussagen enthalten acht die Information, dass die Gewährspersonen beim Hausarzt Dialekt sprechen. Nach eigener Aussage spricht eine Gewährsperson mit dem Hausarzt „Schriftdeutsch“, was mit dessen Herkunft zusammenhänge.

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Statusgedanke und vor allem Prestige haben letztlich eine Verdrängung einer bestimmten Varietät zur Folge, meist des Dialekts. 3.5 Sonstige wichtige Einflussgrößen Neben den bereits genannten sprachexternen Größen, die den Sprachgebrauch im Spannungsfeld zwischen Dialekt und Standardsprache beeinflussen, konnten noch zahlreiche andere Faktoren festgestellt werden. Die relevantesten davon werden im Folgenden überblicksartig behandelt, um zumindest einen Ausschnitt des komplexen Geflechts an Einflussfaktoren zu illustrieren. Zu den weniger direkt genannten Faktoren gehört zweifelsohne das Gesprächsthema, wohl auch, weil es den Sprachgebrauch meist unbewusst zu steuern scheint. Dies offenbart auch eine methodische Schwäche, da nur diejenigen Größen in angemessener Weise erhoben werden konnten, die im Interview direkt oder indirekt erwähnt wurden. Im Falle des Gesprächsthemas war beispielsweise zu beobachten, dass eine Gewährsperson während der Reflexion im Interview beim Gedanken an ihre Großmutter plötzlich mehr Dialekt sprach als in den übrigen Teilen des Interviews. Das Thema und die damit verbundene Reflexion haben also zu einer vermehrten Dialektverwendung geführt, die bei einer konkreten Nachfrage nach einem Zusammenhang zwischen Gesprächsthema und dem eigenen Sprachgebrauch von der Gewährsperson verneint wurde, es sei denn, es gehe laut der Gewährsperson um Brauchtum und Tradition. Die übrigen vorgestellten Faktoren sind funktionaler Natur, d. h., dass in diesen Fällen die Verwendung einer bestimmten Varietät im Varietätenspektrum von Regensburg einem ganz bestimmten Zweck dient. Darunter fällt auch die Erklärung einer Gewährsperson aus der jüngeren Generation, die bei ihrer Arbeit als Bedienung in einer Gaststätte gezielt den Dialekt in der Anrede einsetzt, um eine gemütliche Atmosphäre für die Gäste zu schaffen (vgl. WELLNER 2020: 180). Daneben zeigen sich solche Aspekte insbesondere dann, wenn es um die Frage nach der Varietätenwahl in Bewerbungsgesprächen geht. Hierbei geben einige Gewährspersonen an, den Dialekt teils gezielt einzusetzen, um beispielsweise in kleineren Unternehmen ihre regionale Verwurzelung auch sprachlich zu manifestieren. Allerdings handelt es sich dabei um Einzelfälle. Es kann also nicht von einem zentralen Einflussfaktor gesprochen werden. Noch deutlicher ist der funktionale Charakter, wenn der Dialekt gezielt eingesetzt wird, um beispielsweise die eigene sprachliche Herkunft und Identität gegenüber Kollegen aus Norddeutschland zu verdeutlichen (laut einer Gewährsperson aus der mittleren Generation). In einem solchen Fall sind die „Inszenierungsabsichten [und somit das] Konstruieren der eigenen Identität auch als geplanter, bewusster Vorgang“ deutlich erkennbar (KRESIC 2006: 236). Schließlich kann auch die Einflussgröße, welche die Dialektverwendung als Mittel der Komik zeigt, als funktional und darüber hinaus als Inszenierung eingeordnet werden. Eine Gewährsperson aus der jüngeren Generation knüpft ihre Dialektverwendung beispielsweise an einen gewissen Spaßfaktor, wenn sie sagt:

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Elisabeth Wellner Aber das verwende ich, glaube ich, tatsächlich, wenn ich es verwende, eher, also im Umgang mit Freunden eher aus Spaß heraus. (Gewährsperson aus der jüngeren Generation)

Die auf diese Weise funktional motivierte und inszenierte Dialektverwendung ist keineswegs nur bei Dialektsprechern beobachtbar. Eine junge Gewährsperson, die im Alltag ausschließlich Hochdeutsch spricht, gibt an, manchmal komplette Sätze im Dialekt zu gebrauchen, weil es „lustig“ ist. Der Einsatz des Dialekts als Mittel der Komik ist demnach nicht zwangsläufig an die Verwendung einer bestimmten Varietät in der Alltagssprache geknüpft. Vielmehr steht sie in Verbindung mit Herkunftszuweisungen und Identitätskonstruktionen und wird in passenden Situationen gezielt funktional eingesetzt, d. h. auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet, selbst wenn es nur das Ziel ist, einen humoristischen Effekt damit zu erzeugen (vgl. WELLNER 2020: 167). 4 ZUSAMMENFASSUNG Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Sprachgebrauch innerhalb des Varietätenspektrums von Regensburg durch eine Vielzahl von sprachexternen Einflussfaktoren gesteuert wird. Meist wirken dabei mehrere Faktoren zusammen, sodass es nicht zu einer linearen kausalen Verknüpfung kommt, sondern vielmehr zu einem komplexen Geflecht aus unterschiedlichen Einflussgrößen. Zu den weniger relevanten Steuerungselementen gehören aus heutiger Sicht der räumliche Aspekt und damit auch die stadtteilbedingten sprachlichen Unterschiede, die selbst in der älteren Generation nur noch als gedankliches Konstrukt existieren. Daneben kommt dem sozialen Status bei der Steuerung der Varietätenwahl eine untergeordnete Bedeutung zu, da dieser Faktor häufig von anderen Einflüssen wie der Vertrautheit oder der Anpassung an den Gesprächspartner überlagert wird. Der Gesprächspartner stellt demnach den zentralen Einflussfaktor bezüglich des Sprachgebrauchs im städtischen Varietätenspektrum dar. Im Spiegel der Sprachdynamiktheorie kann man also festhalten, dass Regensburg als Untersuchungsgebiet von wiederholten Mikrosynchronisierungsprozessen gekennzeichnet ist, die zu Mesosynchronisierungen führen und letztlich eine hohe sprachliche Anpassungsfähigkeit der Gewährspersonen im Spannungsfeld zwischen Dialekt und Standardsprache zur Folge haben. Dies gilt für alle Generationen. Eine zentrale Erkenntnis ist jedoch, dass gerade diese Anpassungsfähigkeit im hier betrachteten städtischen Kontext mit einer kommunikativen Skepsis gekoppelt ist. Sie beeinflusst die Herausbildung einer sprachlichen Norm in bestimmten Situationen, die letztlich zu einer funktionierenden Kommunikation führt. Unter diesen Gesichtspunkten lässt sich schließlich auch das Zitat einer Gewährsperson einordnen, das für den Titel des Beitrags Pate stand. Sie ist sich ihrer sprachlichen Wandlungsfähigkeit im urbanen Kontext durchaus bewusst, als sie bei der Frage nach ihrer alltäglich verwendeten Sprache laienlinguistisch, aber sehr treffend anmerkt: „Ich bin ein Chamäleon, ein sprachliches Chamäleon.“12 12 Offensichtlich wird die alltagssprachliche Kommunikation nicht nur in Regensburg aus Sicht linguistischer Laien mit dieser Metapher in Verbindung gebracht, sondern beispielsweise auch in München. So umschreibt ein Artikel in der Zeitschrift MUH die sprachliche Anpassung von

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Münchner Studierenden ebenfalls mit dem Terminus „Sprachchamäleon“ (HELD 2015: 72). Aus wissenschaftlicher Sicht geht die Metapher aber vermutlich vor allem auf den ‚chameleoneffect‘ (CHARTRAND / BARGH 1999: 893) aus der Psychologie zurück. Dieser bezeichnet die unbewusste Nachahmung von Mimik, Gestik oder auch sprachlicher Verhaltensweisen eines Interaktionspartners. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine spontane Umschreibung der eigenen sprachlichen Vorgehensweise von Seiten der Gewährsperson, bei der kein derartiges Hintergrundwissen zu erwarten ist.

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ANHANG: INTERVIEWLEITFADEN Fragenkatalog: 1. Wie sprechen Sie normalerweise im Alltag? – Dialekt (wenn ja, welchen?) – Umgangssprache – Standardsprache (Hochdeutsch) – weiß nicht 2. Wie nennen Sie die Sprache, die Sie normalerweise im Alltag sprechen? (Wenn nötig, Auswahlmöglichkeiten geben, z. B. Bairisch, Dialekt, Hochdeutsch.) 3. Verstehen Sie den Dialekt der Gegend (für Personen mit Migrationshintergrund13)? 4. Welche Sprache verwenden Sie im Gespräch mit Ihrem Ehepartner/Ihren Kindern? 5. Welche Sprache verwenden Sie im Gespräch mit Ihren Eltern und Geschwistern? 6. Wie reden Sie mit älteren Verwandten (Großeltern)? 7. Wie reden Sie im Gespräch mit Nachbarn? 8. Welche Sprache verwenden Sie, wenn Sie zum Beispiel einen Fremden in Regensburg nach dem Weg fragen? (Wenn möglich, nach verschiedenen Städten unterschiedlicher Größe fragen, zum Beispiel Straubing und München. Abhängigkeitsfaktoren thematisieren.) 9. In welcher Sprache träumen Sie? (Vor allem für Personen mit Migrationshintergrund; alternativ: Wie sprechen Sie mit Ihrem Haustier?) 10. Wie sprechen die Schüler auf dem Schulhof miteinander? 11. Ab wann prägt sich das Sprachbewusstsein/Dialektbewusstsein bei Kindern im Kindergarten aus?

13 Zwar konnten für eine relevante Auswertung nicht genügend Personen mit Migrationshintergrund ausfindig gemacht werden, jedoch blieb die Frage im Leitfaden enthalten, da sie letztlich bezüglich der Dialektkompetenz der jüngeren Generation relevante Ergebnisse lieferte.

Die Entdeckung des „sprachlichen Chamäleons“

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12. Wie sprechen Sie normalerweise mit Ihrem Arzt?14 13. Welche Sprache würden Sie im Bewerbungsgespräch verwenden? 14. Gibt es bei Ihnen einen Zusammenhang zwischen dem Gesprächsthema und Ihrem Sprachgebrauch? (Erläuterung: Reden Sie bei bestimmten Themen nur Dialekt oder nur Hochdeutsch?) 15. Wie sprechen Sie mit Ihren Kollegen? 16. Wie sprechen Sie mit Ihrem Vorgesetzten? 17. Wie sprechen Sie gegebenenfalls mit Kunden/Klienten/Patienten? 18. Gibt es Ihrer Meinung nach sprachliche Unterschiede in den verschiedenen Stadtteilen? (Meist Hinweis auf Stadtamhof vonseiten der Exploratorin) 19. Gibt es Ihrer Meinung nach eine Regensburger Stadtsprache? Unterschiede früher und heute? (WELLNER 2020: 54–55)15

14 Der Frageleitfaden entstand in Anlehnung an das bekannte Erp-Projekt (vgl. KLEIN 1983: 129). Als Person mit hohem beruflichem Status wurde allerdings nicht der Pastor angesetzt, da heutzutage von einem geringeren Stellenwert der Kirche auszugehen ist, sondern stattdessen „der Arzt“. 15 Aufgrund des begrenzten Rahmens können hier nicht alle analysierten Einflussfaktoren vorgestellt werden, wodurch auch nicht alle gestellten Fragen beziehungsweise abgefragten Domänen für diesen Beitrag relevant sind. Zu den übrigen Faktoren und Fragestellungen vgl. ebenfalls WELLNER (2020: 153–184).

SPRACHKONTAKT UND SPRACHVERGLEICH

SPRACHLICHE VARIATION IM BAIRISCHEN VON SÃO BENTO DO SUL, BRASILIEN Mechthild Habermann / Sebastian Kürschner ABSTRACT Thema des Beitrags ist die Variation im Bairischen bei Nachkommen böhmischer Einwanderer in São Bento do Sul, Santa Catarina, Brasilien, wie sie in semistrukturierten Interviews beobachtet werden konnte. Spezifisch wird die Variation im Vokalismus auf der Grundlage der großen historischen Lautwandelprozesse zwischen dem Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen behandelt. Die bei ausgewählten Gewährspersonen beobachtete Vokalvariation zeigt noch heute wesentliche Merkmale der sprachlichen Region der Vorfahren der bairischsprechenden Böhmen im mittel-nordbairischen Übergangsgebiet in hoher Variation. In einem weiteren Analyseschritt wird das Datenmaterial auf der Basis der individuellen Lautprofile bezüglich der intra- und interindividuellen Variation der Gewährspersonen beschrieben. Nur ein geringer Teil der insgesamt hohen intraindividuellen Variation kann unter Einbezug struktureller, lexikalischer und semantisch-pragmatischer Parameter begründet werden. 1 EINLEITUNG In den frühen 2000er-Jahren wurden semistrukturierte Interviews mit ausgewählten Sprecherinnen und Sprechern des Bairischen in São Bento do Sul, Santa Catarina, Brasilien, durchgeführt. Der bairische Dialekt geht auf die Einwanderung im 19. Jahrhundert zurück. Während verschiedentlich die Gemeinde Hammern (tschechisch Hamry) im Böhmerwald unweit der Grenze zu Bayern als Heimat der Vorfahren genannt wurde, gaben andere Gewährspersonen an, die Heimat ihrer Vorfahren nicht näher benennen zu können. Da die Schulausbildung aller Gewährspersonen auf die portugiesische Sprache beschränkt blieb, erhielten sie zu keiner Zeit eine Ausbildung im Standarddeutschen und gaben meistens an, Standarddeutsch weder lesen noch schreiben zu können, beherrschten aber zu großen Teilen den Dialekt. Im vorliegenden Beitrag wollen wir die Variation im brasilianischen Bairischen anhand einer ersten Stichprobenuntersuchung beschreiben, wobei wir die Variation generell anhand vorliegender Variablen, aber auch spezifisch bezogen auf Individualprofile ergründen wollen. Mit Blick auf die generelle Variation ist von Interesse, ob das Bairische noch heute die Varietät des Dialektgebiets der Auswanderer spiegelt und welche Rolle Ausgleichsprozesse in Brasilien spielten, etwa in Verbindung mit der Standardsprache oder standardnäheren Dialekten, wie sie am Ort

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ebenfalls genutzt werden. Da die Vorfahren aus dem Übergangsgebiet mittel- und nordbairischer Dialekte stammten, ist zudem zu fragen, ob sich bestimmte Merkmale des Mittel- oder Nordbairischen stärker durchgesetzt haben und welche Rolle kleinregionale Merkmale heute spielen. Hier ist auch die inter- und intraindividuelle Analyse von besonderem Interesse, um individuenspezifische Variation in den Blick zu nehmen. Die Variation wird im vorliegenden Beitrag anhand des Beispiels phonologischer Merkmale untersucht. Im Fokus steht eine kleine Stichprobe aus drei Gewährspersonen mittleren Alters, die für eine erste Analyse der Daten herangezogen wird. Untersucht wird die Vokalvariation am Beispiel der Umsetzung der großen historischen Lautwandelprozesse, also der frühneuhochdeutschen Diphthongierung, des frühneuhochdeutschen Diphthongwandels und der mitteldeutschen Monophthongierung. Hierbei geht es zunächst darum, das gesamte Repertoire an Lautrepräsentationen sprecherunabhängig zu erfassen und vor dem Hintergrund der geographischen Herkunft der Vorfahren der Gewährspersonen im mittel- und nordbairischen Übergangsgebiet sowie bezüglich möglicher Ausgleichsprozesse einzuordnen. Die aus den Daten erhobenen Vokalvarianten werden dann in einem zweiten Schritt sprechergebunden – intra- und interindividuell – analysiert und zu erklären versucht. Der Artikel soll aus diesen Perspektiven dazu beitragen, die Entwicklung eines bairischen Dialekts in einer Sprachinselsituation zu beobachten und vor dem Hintergrund der neueren variationslinguistischen Theoriebildung zu betrachten (vgl. allgemein zu Language and Space-Ansätzen, die auch das Individuum stärker fokussieren und psycholinguistische bzw. kognitive Aspekte der Sprachvariation einbinden, AUER / SCHMIDT 2010). Während die Existenz von Sprecher/-innen des Bairischen, in den frühen 2000er-Jahren auch in der mittleren Generation, grundsätzlich darauf hindeutet, dass – anders als etwa in zahlreichen nordamerikanischen Gebieten mit deutscher Einwanderung – bislang kein Sprachwechsel zum Portugiesischen vollzogen wurde, kann von einer stabilen Mehrsprachigkeitssituation ausgegangen werden, d. h., der Großteil der Bairischsprachigen beherrscht auch das Portugiesische und verwendet es in allen relevanten Kontexten (vgl. auch ELLER-WILDFEUER 2016). Auch wenn die Mehrsprachigkeitssituation aus mehreren Perspektiven von Interesse ist (Kontakt zum Portugiesischen und zu weiteren deutschen Varietäten), liegt die Konzentration des aktuellen Beitrags auf dem Bairischen. Die deutsche Standardsprache als Kontaktvarietät wird aufgrund ihrer (auch in Brasilien zumindest historisch gegebenen) Rolle als alte Schul- und Schriftsprache einbezogen. In anderen Bereichen mit deutscher Einwanderung in Brasilien ist viel darüber bekannt, wie sich die Varietäten entwickelt haben, insbesondere mit Blick auf Ausgleichsprozesse (etwa Koineisierung im Bereich des Hunsrückischen, vgl. ALTENHOFEN 1996; 2018). Der vorliegende Beitrag will solchen Fragen nachgehen, indem der Einfluss standardnaher Varietäten ebenso untersucht wird wie mögliche Ausgleichsprozesse in der variationsreichen Sprache der Herkunftsdialekte, die in Brasilien stattgefunden haben.

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Die folgenden Ausführungen, die einen ersten Zugang zur Variation des Bairischen in São Bento do Sul ermöglichen sollen, werden somit von folgenden Forschungsfragen geleitet: Welche Vokalvarianten treten infolge der großen Lautwandelprozesse bei Bairischsprechenden in São Bento do Sul auf und zu welchem Grad stimmen sie noch mit Merkmalen der Dialekte der Herkunftsregion der böhmischen Vorfahren überein? Deutet die Variation darauf hin, dass in Brasilien sprachliche Ausgleichsprozesse stattgefunden haben? Wie stark ist die beobachtete Variation an Individuen geknüpft? Lassen sich andere begründende Faktoren für die Verteilung von Varianten festmachen? 2 DIE BAIRISCHE SPRACHINSEL SÃO BENTO DO SUL, SANTA CATARINA Die heute ca. 80.000 Einwohner/-innen zählende Stadt São Bento do Sul liegt im Nordosten des südlichen Bundesstaats Santa Catarina, Brasilien (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Das Stadtgebiet von São Bento do Sul (dunkel markiert) im Bundesstaat Santa Catarina, Brasilien (unten links im markierten Viereck)1

São Bento do Sul gilt als die Region in Brasilien, die die größte Einwanderergruppe aus Böhmen im Allgemeinen und von bairischsprachigen Böhmen im Besonderen aufweist. Die böhmischen Einwanderer stellen gegenüber den Hunsrückern, die bereits ab 1824 den südlicher gelegenen Bundesstaat Rio Grande do Sul besiedelten, eine relativ kleine Gruppe dar. Neben den Einwanderern aus Böhmen und dem

1

; Stand: 07.01.2022.

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Hunsrück stammen weitere Einwanderer Brasiliens aus Pommern, Westfalen und aus Tirol, daneben gibt es kleinere Gruppen aus weiteren Gebieten.2 Die böhmischen Einwanderer kamen zwischen 1862 und 1890 im Hafen von São Francisco (bei Joinville) an. In diesem Zeitraum wurden nach FENDRICH (2016) 709 Einwanderer registriert, die meisten von ihnen Katholiken. Insgesamt 349 Einwanderer waren Bauern. Die Mehrheit ließ sich in der Ansiedlung São Bento do Sul nieder, die 1876 gegründet wurde.3 Die ersten Siedler kamen aus Südböhmen im Grenzland zu Bayern. Bei BLAU (1958) sind verschiedene Herkunftsorte aus dem Böhmer- und vereinzelt Bayerischen Wald genannt, aus denen nach seinen Angaben Auswanderer nach São Bento do Sul stammen. In Abb. 2 werden die bei BLAU genannten Ortschaften auf der Karte der deutschen Dialekte nach WIESINGER (1983a: 830–831) verortet. Die Ortschaften liegen in der damaligen Grenzregion zwischen Bayern und Böhmen, die – wie in der Karte im durch senkrechte Schraffur gekennzeichneten Gebiet deutlich wird – durch das Übergangsgebiet zwischen dem Nord- und Mittelbairischen geprägt sind.

Abb. 2: Herkunft der bairischsprechenden Böhmen nach BLAU (1958) auf Grundlage der Karte der deutschen Dialekte nach WIESINGER (1983a: 830–831; Karte im REDE SprachGIS erstellt von Grit Nickel4)

Unter den späteren Siedlern in der Stadt dominiert eine Gruppe aus Nordböhmen (Stadt Reichenberg, tschechisch Liberec), deren Dialekt in der obersächsisch-schlesischen Übergangszone zu verorten und damit ostmitteldeutsch geprägt ist. 2 3

4

Für eine übersichtliche Darstellung zu deutschsprachigen Einwanderergruppen in Lateinamerika vgl. z. B. ROSENBERG (2018). Hierzu auch BLAU (1958) mit einer älteren Darstellung zur Einwanderung der Baiern in Brasilien. SEIFFERT (2009) beschäftigt sich aus sprachpolitischer Sicht mit der Mehrsprachigkeit in São Bento do Sul. Wir danken Grit Nickel für die Erstellung der Karten in Abb. 2 und 3 sowie für wertvolle Kommentare.

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Daneben ließen sich auch Einwanderer aus anderen europäischen Ländern, aus Polen, Italien und Skandinavien, in São Bento do Sul nieder. Bis in die 1930er-Jahre war die deutsche Sprache in der Öffentlichkeit (Schule, Kirche, Presse) präsent. Man las deutsche Literatur und verfasste deutschsprachige Schriftzeugnisse, u. a. deutschsprachige Kalender. Die repressive Politik des Estado-Novo-Regimes 1937–1945 hatte auf sprachlicher Ebene zum Ziel, dass das Portugiesische mit Nachdruck als Nationalsprache Brasiliens durchgesetzt werden sollte. Drastische Maßnahmen, die mit dem Ziel ergriffen wurden, eine portugiesische Einsprachigkeit herbeizuführen – darunter ein Sprachverbot für alle Sprachen außer Portugiesisch im öffentlichen Raum –, hatten zur Folge, dass das Deutsche aus der Öffentlichkeit verschwand. Ältere Gewährspersonen berichteten von ihrer ersten Schulzeit als traumatisches Erlebnis, weil sie in der Schule ausschließlich auf Portugiesisch unterrichtet wurden, obwohl sie bis zur Einschulung nur Deutsch und kein Portugiesisch erworben hatten. Zwar wurde Mehrsprachigkeit nach der Zeit des Estado-Novo-Regimes wieder stärker toleriert, die Einsprachigkeits-Ideologie prägt Brasilien aber bis heute. Für das Deutsche in Brasilien bedeutet das, dass es insbesondere im schriftsprachlichen Bereich seit der Zeit der Diktatur nur noch marginal repräsentiert ist. Schulischer Deutschunterricht oder sogar deutschsprachiger Unterricht wurden nur punktuell und insgesamt in sehr geringem Umfang wieder aufgebaut, sodass sich deutschsprachige Kontexte auf den familiären und örtlichen Nähebereich beschränkten. Der Umstand, dass seit den 1930er- und 1940er-Jahren keine standardsprachliche Überdachung der deutschen Dialekte in Brasilien mehr gegeben war, ist für die Bewahrung der Dialekte bis heute von entscheidender Bedeutung (vgl. auch AUER 2005). STÖCKLE (2021) stellt als Ergebnis seiner jüngst erfolgten Untersuchung fest, dass in São Bento do Sul der nordböhmische Dialekt, der durch eine große Nähe zur deutschen Standardsprache gekennzeichnet ist, kaum mehr sicher beherrscht wird, während sich der bairische Dialekt der Südböhmen mit einer relativ großen Distanz zur Standardsprache in der mittleren bis älteren Generation noch relativ gut bewahrt hat. Gerade die Distanz zur Standardsprache habe dazu geführt, dass das Bairische in einer tief dialektalen Form bewahrt wurde. Unter den Nordböhmen hat sich dagegen eine regionale Variante des Standarddeutschen herausgebildet, die auch manche Sprecher des Bairischen beherrschen. Zur heutigen Zahl an bairisch- bzw. allgemein deutschsprachigen Personen in São Bento do Sul liegen leider keine gesicherten Angaben vor. Die meisten älteren Gewährspersonen gaben an, dass die jüngere Generation nicht in der Lage sei, Bairisch oder Standarddeutsch zu sprechen. Einige der jüngeren Personen könnten allenfalls Deutsch bzw. Bairisch verstehen. Gewährspersonen mittleren Alters aus den Daten der jungen 2000er-Jahre zeigten eine solide Kompetenz im bairischen Dialekt, und andere jüngere Gewährspersonen erwähnten ein großes Interesse daran, Deutsch als Fremdsprache zu erlernen, bzw. hatten bereits DaF-Kenntnisse erworben. In einigen Interviews finden sich Hinweise, dass Kenntnisse des Deutschen im gesellschaftlichen Leben der Stadt punktuell auch in neuester Zeit noch eine Rolle spielen, etwa im Kundenkontakt bei Geschäften oder allgemein als wichtige internationale Sprache für den Arbeitskontext.

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STÖCKLE (2021: 203) fand für seine Interviews aus den Jahren 2015 und 2016 noch einige deutsche und bairische Sprecher/-innen, was deutlich macht, dass nicht nur die in den ersten Jahren nach 2000 interviewte ältere Generation Deutsch sprach. Wenngleich Portugiesisch erwartungsgemäß die vorherrschende Sprache in São Bento do Sul ist und das Deutsche bzw. Bairische immer mehr mit der älteren Bevölkerung und dem Sprechen im privaten Bereich in Verbindung gebracht wird, sind beide Sprachen bzw. Varietäten noch nicht endgültig vom Verlust betroffen. 3 DATENERHEBUNG UND -AUSWERTUNG Die bairische Sprachinsel in Brasilien ist bislang nur selten in den Blickpunkt der Forschung geraten. ELLER-WILDFEUER (2016) und ELLER-WILDFEUER / WILDFEUER (2019) beziehen sich auf Interviews mit Einzelpersonen aus São Bento do Sul, sind aber in ihren Publikationen auf den Vergleich mit anderen bairischsprachigen Siedlungen in Amerika oder deutschsprachigen Minderheiten in Mittel- und Südamerika konzentriert. STÖCKLE (2021) arbeitet mit neuen Daten von fünf interviewten Gewährspersonen, von denen aber nur zwei (ein 85-jähriger Zimmermann und eine 86-jährige Bäuerin) die bairische Varietät beherrschen. Der Autor bezeichnet seine eigenen Ausführungen als „vorläufig“ und mahnt weitere empirische Erhebungen an. Die der vorliegenden Untersuchung zugrundeliegenden Daten stammen von Aufnahmen mit deutschsprachigen Einwohnern aus São Bento do Sul. Es handelt sich dabei um semistrukturierte biografische Interviews, die während der Aufenthalte eines deutschen Teams von Linguistinnen und Linguisten in São Bento do Sul in drei Zeiträumen 2002, 2004 und 2005 aufgezeichnet wurden (vgl. hierzu NAUMANN 2004 und KÜRSCHNER / HABERMANN / PREDIGER / PUPP-SPINASSÉ (eingereicht), auch GÄRTNER 2011). Die Daten bestehen aus 161 Interviews von fünf bis ca. 45 Minuten Länge; die Aufnahmen belaufen sich in der Summe auf ca. 36 Stunden. Es dürfte sich damit um das umfangreichste existierende Datenmaterial zum Deutschen in São Bento do Sul handeln, das bislang erhoben wurde. Die Gewährspersonen wurden zunächst nach den Sprachen und Varietäten gefragt, die sie beherrschen. Die Interviewer wechselten oft zu bairischen (oder anderen südostdeutschen) Varietäten, wenn der oder die Interviewte einen entsprechenden Dialekt unter seinen Varietäten nannte. Vereinzelt war eine Person, die Portugiesisch sprechen konnte, anwesend und half den Befragten, wenn sie bestimmte Fragen nicht verstanden. Die Interviews fanden im lokalen Umfeld der Befragten statt. Nach der Erhebung von Sozialdaten (Name der Gewährsperson, Alter, Beruf, Vorfahren und ursprüngliche Heimat der Vorfahren) wurden die Gewährspersonen gebeten, im

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freien Gespräch über ihr Leben zu sprechen (spontane Diskursdaten), bevor konkrete Fragen zur Sprachsituation5 gestellt wurden.6 Die semistrukturierten Interviews sind von großem Wert für die linguistische Forschung. Sie kombinieren Elemente des freien Gesprächs mit festen Frageteilen und bieten damit sowohl spontane Gesprächsdaten als auch für Vergleiche gut geeignete Gesprächseinheiten, die einen Einblick in das bestehende Vokabular und die vorhandenen grammatikalischen Strukturen gewähren können, wie sie in der Kommunikation zwischen den Bairisch- und weiteren Deutschsprechenden vor Ort geläufig sind. Vom spezifischen Elizitieren sah das Design der Erhebung dagegen weitgehend ab. Zweifellos haben auch spontane Diskursdaten und semistrukturierte Interviews – wie alle korpusbasierten Ansätze – ihre Grenzen, da der an bestimmte Themen gebundene Wortschatz oder seltene sprachliche Phänomene nicht systematisch erhoben werden können. Zudem ist das Nichtvorhandensein von Wörtern (negative Evidenz) kaum feststellbar. Derartige Einschränkungen können nur durch eine kontrollierte Datenauslösung umgangen werden (vgl. hierzu SEILER 2010: 519). Für spezifische Untersuchungen dieser Art ist aber zunächst ein informierter Überblick über sprachliche Strukturen und ihre Variation vonnöten, der mit den vorliegenden Daten gut zu gewinnen ist. Bei den aus den Anfangsjahren nach 2000 erhobenen Daten handelt es sich zwar nicht mehr um hochaktuelle Daten, sie stellen aber nach wie vor ein einzigartiges Dokument des bairischen Dialekts dar, wie er vor etwa 15 Jahren in São Bento do Sul gesprochen wurde. Eine systematische Auswertung des Materials steht bis heute aus. Die Daten ermöglichen so einerseits Einblicke in die Sprache von São Bento do Sul in der jüngeren Vergangenheit, andererseits lassen sie in Zukunft einen historischen Zugriff zu, indem neue Erhebungen systematisch dem älteren Korpus gegenübergestellt werden können. Die als Tondateien verfügbaren Interviews werden derzeit mit dem Transkriptionstool EXMARaLDA nach dem GAT2-Standard (SELTING et al. 2009; zunächst als Minimaltranskript) transkribiert und kommentiert, um sie für weitere Untersuchungen aufzubereiten. Der vorliegende Beitrag legt eine erste Stichprobe zugrunde, indem er einen Einblick in die Interviews mit drei Gewährspersonen gewährt, die zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 52 und 59 Jahre alt waren:

5

6

Der Fragenkatalog umfasste in etwa die folgenden Fragen: Welche Sprache haben die Informanten in ihrer Kindheit gesprochen und welche verwenden sie zum Zeitpunkt der Aufnahmen? Welche Sprache sprechen sie mit ihrem Ehepartner? Welche Sprache haben sie mit ihren Kindern von klein auf gesprochen? Welche Sprachkenntnisse haben ihre Kinder zum Zeitpunkt der Aufnahmen? An welche Ereignisse aus ihrer Kindheit erinnern sich die Informanten? Wie wurde früher Weihnachten in der Familie gefeiert? etc. Die semistrukturierten Interviews wurden durch ausgewählte Fragen aus dem strukturierten Fragebogen des „Bayerischen Sprachatlas“ (vgl. RITT-STADLER / SPANNBAUER-POLLMANN 2010) ergänzt. Das anhand eines strukturierten Fragebogens gewonnene Material bleibt im Folgenden unberücksichtigt.

314 – –



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Erna, 52 Jahre alt, Schneiderin, spricht fließend Bairisch und mit ihrem Mann zu Hause eine nordböhmisch geprägte Variante des Standarddeutschen. Leopoldo, 57 Jahre alt, Landwirt und Fabrikarbeiter, spricht mit seiner Frau Bairisch. Seine Kinder können nach seiner Aussage Bairisch zumindest verstehen. Er selbst könne aber kein Standarddeutsch sprechen. Alfonso, 59 Jahre alt, Landwirt und ehemaliger Fabrikarbeiter, spricht zu Hause nur selten Bairisch und bewertet seine Sprachkenntnisse als schlecht.

Zur Komplettierung der Daten werden vereinzelt Beispiele eines weiteren Sprechers, Martin, mit einbezogen, eines 55 Jahre alten Rentners, dessen Frau nach seinen Angaben Deutsch spricht, seine Kinder aber nicht. Alle Interviews fanden im bairischen Dialekt statt. Die für die Untersuchung ausgewählten Gewährspersonen verfügten über eine äußerst geringe Schulbildung und hatten zu keiner Zeit Deutschkurse besucht. Die Gewährspersonen lernten Bairisch als Muttersprache, während ihre Kinder nach Aussage der Gewährspersonen Bairisch oder Standarddeutsch nicht aktiv sprechen können. Mit den angeführten Berufen gehören sie in etwa der gleichen sozialen Schicht an. Obwohl ein breites Lautrepertoire erhoben werden konnte, ist davon auszugehen, dass auf der Grundlage der Interviews mit einer eingeschränkten Auswahl an Gewährspersonen die Vokalvariation des Bairischen im Rahmen der systematischen Lautwandelprozesse in São Bento do Sul nicht vollständig erfasst werden konnte und die folgenden Ausführungen somit als erste – aber durchaus informative – Stichprobenanalyse zu werten sind.7 4 VOKALVARIATION IM UNTERSUCHUNGSKORPUS Die Vokalvariation wird im Folgenden beispielhaft anhand der Lautvarianten untersucht, die in Zusammenhang mit den drei großen Lautwandelprozessen zwischen dem Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen stehen (vgl. PAUL et al. 2007: § L17–§ L19). Darüber hinaus gibt es zahlreiche Vokalvarianten, die hier nicht berücksichtigt werden, wie etwa die sog. sekundären Diphthonge, die sich z. B. aus der Vokalisierung nachfolgender Sonoranten (meist vor r) ergeben (vgl. KOCH 2019: 290). Im Folgenden werden die aus dem brasilianisch-bairischen Korpus gewonnenen Daten anhand ausgewählter Beispiele im Rahmen einer qualitativen Analyse 7

Für die nahe Zukunft ist es geplant, die vor 15 bis 20 Jahren durchgeführte Datenerhebung, soweit möglich, noch einmal zu wiederholen, um Daten für eine Echtzeit-Studie des Sprachwandels innerhalb des Zeitraums zu sammeln. Die Datenerhebung soll im Rahmen eines deutsch-brasilianischen Forschungsprojekts erfolgen. Im Gegensatz zur ersten Erhebung, bei der die mittlere Generation der 50-Jährigen über eine gute bairische Sprachkompetenz verfügte, wird nun erwartet, dass es mittlerweile hauptsächlich die ältere Generation der über 70-Jährigen ist, die den Dialekt noch aktiv beherrscht. Die Dringlichkeit derartiger Untersuchungen mahnt auch STÖCKLE (2021: 213–214) an, der darauf verweist, dass es immer schwieriger werden dürfte, kompetente Sprecher des Deutschen und Bairischen zu finden.

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mit Angaben zur Einschätzung der Frequenz auf Grundlage der Verteilung im Korpus geboten. Auf die Angabe absoluter Zahlenwerte wird aufgrund des begrenzten Korpus, das der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegt, bewusst verzichtet. Die Einschätzungen basieren jeweils auf dem relativen Auftreten von Varianten pro Variable, d. h. „selten“ ist nicht so zu interpretieren, dass eine Variable selten auftritt (was bei mehreren Variablen der Fall ist), sondern dass die besprochene Variante im Vergleich mit anderen möglichen Varianten selten verwendet wird. Wenn die Anzahl an Belegen pro Variable insgesamt zu niedrig ist, um eine Einschätzung vorzunehmen, wird dies vermerkt („wenige Belege“). Die zur Charakterisierung der Häufigkeiten gebotenen Bezeichnungen beziehen sich auf folgende Frequenzwerte: sehr häufig häufig verbreitet selten wenige Belege

Die Variante (wie etwa Diphthong ai für mhd. î; vgl. Tab. 3) tritt in mehr als der Hälfte aller Realisierungen der Variable auf (> 50 %). Die Variante tritt unter den Realisierungen einer Variable in ca. 30 bis 50 % aller Fälle auf. Die Häufigkeit beläuft sich auf ca. 20 bis 30 % aller Fälle. Die Häufigkeit beläuft sich auf ca. 10 bis 20 % aller Fälle. Die Häufigkeit beläuft sich auf weniger als 10 % aller Fälle.

Wenn nur ein einziger Beleg einer Variante auftritt, wird dies durch „ein Beleg“ gekennzeichnet. Zusätzlich erfolgt die Angabe „kontextgebunden“ dann, wenn ein Gebrauch auf bestimmte kontextuelle Einbettungen reduziert werden kann. Unseren Forschungsfragen gemäß werden wir die Ergebnisse der Wandelprozesse ausgehend von der Herkunftsregion betrachten und Einflussfaktoren einbeziehen: So wird einerseits die Rolle der deutschen Standardsprache als möglicher Einflussfaktor untersucht, andererseits die Durchsetzung großregionaler Merkmale aus mittel- und nordbairischen Dialekten in der betrachteten Übergangszone und die Bewahrung von Kleinregionalismen einbezogen. Tab. 1 gibt eine stark schematisierte Übersicht über die erwartbaren Resultate der Lautwandelprozesse in den genannten maßgeblichen Varietäten, wobei für das Mittel- und Nordbairische jeweils die verbreitetsten Realisierungen aufgeführt werden. Es gilt zu beachten, dass auch im Mittel- und Nordbairischen starke Variation auftritt und in einigen Fällen keine einheitliche Leitform für das gesamte Gebiet prägend ist. In solchen Fällen wurden die Varianten aufgenommen, die in der nahen Umgebung des Herkunftsgebiets als typisch für die anschließenden mittel- bzw. nordbairischen Dialekte gelten können. Tab. 1 zeigt, dass erwartbare Realisierungen nur selten mit der Standardsprache übereinstimmen (mhd. î und û). In Kapitel 4.1 gehen wir zunächst der Frage nach, in welchem Maß die Sprachvariation in unseren Daten standardsprachlichen Einfluss erkennen lässt. Im Anschluss wird die Variation im Bairischen weiter vertieft (4.2). Wie in Tab. 1 zu erkennen ist, sind in den großregionalen Varietäten Realisierungen zu erwarten, die sich z. T. zwischen Mittel- und Nordbairisch unterscheiden. Ihre Verteilung ist Thema von Abschnitt 4.2.1. Daneben zeigt Tab. 1, dass die Her-

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kunftsregion im betrachteten Bereich der Vokalentwicklung einige Spezifika aufweist, die sich in Entwicklungen zum Monophthong äußern. Welche Rolle die kleinräumigen Varianten im bairischen Dialekt von São Bento do Sul spielen, wird daher in Kapitel 4.2.2 einer genaueren Betrachtung unterzogen. Prozess

Mhd.

Diphthongierung Diphthongwandel Monophthongierung

î iu û ei öu ou ie üe uo

Nhd. Standardsprache

Mittelbair. ai /aɪ/

oi /ɔɪ/

ai /aɪ/ oi /ɔɪ/ au /aʊ/ ii /iː/ yy /yː/ uu /uː/

Nordbair.

ai au /aʊ/ oa aa

oi aa

ia ia ua

Regionales Bair. aa, ää ää, äi aa, åå oa, oi ää åå, au ei/ui ei ou

Tab. 1: Schematisierte Darstellung des vokalischen Lautwandels bei den mhd. Ausgangsvokalen der nhd. Diphthongierung, des nhd. Diphthongwandels und der md. Monophthongierung in den beteiligten Varietäten8

4.1 Einfluss der neuhochdeutschen Standardsprache In bisherigen Untersuchungen zum Bairischen in São Bento do Sul wird zumeist davon ausgegangen, dass die Sprecher/-innen nur Bairisch beherrschen und die Standardsprache somit keinen Einfluss auf den Dialekt gehabt habe. Die Anwesenheit nordböhmischer Einwanderer und weiterer deutschsprachiger Gruppen zeigt aber, dass Kontakt zu anderen regionalen Varietäten vorgelegen hat, die standardnäher zu klassifizieren sind. Weiterhin hat die deutsche Schriftsprache auch in Brasilien bis mindestens in die 1930er-Jahre als Schul-, Kirchen- und Publikationssprache eine wichtige Rolle gespielt und konnte bei schriftnaher Aussprache auch in der gesprochenen Sprache als Vehikel zur besseren Verständigung zwischen unterschiedlichen Dialektgruppen dienen. Nicht zuletzt deshalb haben sich in vielen brasilianischen Regionen mit deutscher Einwanderung häufig standardnähere Dialekte wie das Hunsrückische als gemeinsame gesprochene Varietät durchgesetzt (vgl. etwa ALTENHOFEN 1996; 2016). Im Folgenden soll anhand des vokalischen Wandels der Einfluss der Standardsprache auf Grundlage des Auftretens klar standardsprachlicher Varianten untersucht werden. Mit Blick auf die frühneuhochdeutsche Diphthongierung (mhd. î, iu, û > nhd. ai, oi, au) lässt sich standardsprachlicher Einfluss kaum feststellen, da mittel- und nordbairische Varietäten sich bei mhd. î und û genauso verhalten wie die Standardsprache (ai, au, vgl. Tab. 1; vgl. WIESINGER 1983b). Bei mhd. iu ist ein Einzelbeleg

8

Die Übersicht wurde unter Heranziehung relevanter Wenkerbögen auf Grundlage von SCHMIDT / HERRGEN / KEHREIN (2008ff.) und unter Einbeziehung weiterer Grundlagenliteratur erstellt.

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mit standardsprachlichem /ɔɪ/ in hoite9 (heute) zu finden, während bairische Varianten klar dominieren (vgl. Kap. 4.2.1). Bei den Vokalen, die den frühneuhochdeutschen Diphthongwandel (mhd. ei, öu, ou > nhd. ai, oi, au) durchlaufen haben, kann Einfluss der Standardsprache bei mhd. ei und öu untersucht werden. Dies gilt weitgehend auch bei mhd. ou, wo aber die standardsprachliche Variante au regional möglich ist (vgl. hierzu unten 4.2.2). Bei mhd. öu fehlen allerdings entsprechende Belege, zumal aufgrund der wenigen Wörter mit mhd. öu nur vorsichtige Aussagen zu einer lautgesetzlichen Normalentwicklung in den Dialekten möglich sind (vgl. etwa KRANZMAYER 1956: §22 und ROWLEY 1997: 65). Bei mhd. ei lässt sich erkennen, dass entsprechende Beispielwörter abweichend von den erwarteten bairischen Formen verbreitet, also durchaus frequent als ai realisiert werden (vgl. ai(mal) ‘ein(mal)’, ghairad ‘geheiratet’, kai ‘kein’, laicht ‘leicht’, maist ‘meist’, zwai ‘zwei’). In den Belegwörtern Glaid ‘Kleid’ und Mai dagegen ist die standardkonforme Realisierung aufgrund analoger Entwicklungen auch außerhalb des Herkunftsgebiets im Bairischen erwartbar.10 Mitteldeutsche Monophthongierung: mhd. ie, üe, uo > nhd. ii, yy, uu Nhd. Monophthonge /iː/, /ɪ/

/yː/ /uː/, /ʊ/

Beispiele Häufigkeit ima ‘immer’, nima ‘nicht mehr’, selten (Ver)dinst ‘(Ver)dienst’, zimlich kein Beispiel muss, Schul ‘Schule’, zum selten

Tab. 2: Beispiele für die md. Monophthongierung im Bairischen von São Bento do Sul

Für die Umsetzung der mitteldeutschen Monophthongierung – ein Lautwandel, der im Bairischen nicht eingetreten und somit in allen Monophthongvarianten der Standardvarietät zur Untersuchung ihres Einflusses geeignet ist – gibt es im brasilianisch-bairischen Untersuchungskorpus nur vereinzelte Beispiele für die standardsprachlichen Langvokale /iː/ und /uː/, nicht jedoch für /yː/. Daneben sind auch die Kurzvokale [ɪ] und [ʊ] vor m und s nachweisbar. Während bei den meisten Lexemen korpusintern Vokalvarianz beobachtet werden kann (vgl. Kapitel 5.2), bildet das Lexem Schule, das von den Gewährspersonen übereinstimmend – mit 26 Korpusbelegen – in der standardnahen Aussprache Schul geboten wird, eine Ausnahme. Hierfür können zwei Gründe angeführt werden: Als außersprachlicher Grund könnte der Charakter als mit Bildung assoziiertes Hochwertwort angeführt werden, der eine hochsprachliche Lautung des Wortes Schule auch im dialektalen Kontext nahelegt. Als sprachlicher Grund kann angeführt 9

Bei der Transkription der Beispiele wird eine schriftnahe Darstellung gewählt, um eine gute Lesbarkeit zu gewährleisten. Allerdings werden die Diphthonge, die schriftsprachlich durch , und , repräsentiert sind, jeweils lautnah dargestellt, also ai für [ai] vs. ei/äi für [ɛi]/[æi] und oi als Repräsentation von , . 10 Daneben lassen sich im SNiB (RITT-STADLER / SPANNBAUER-POLLMANN 2010: 306–311) Einzelbelege südlich des Herkunftsgebiets ausweisen, in denen auch bei den Belegwörtern geheißen, Seige und Leiter die Realisierung als ai belegt ist.

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Mechthild Habermann / Sebastian Kürschner

werden, dass die bairischsprechenden Gewährspersonen in Brasilien grundsätzlich keine Vokalisierung des Liquids l vornehmen, während im Mittelbairischen die postvokalische Vokalisierung als [ɪ] – beim Beispielwort also die Aussprache mit sekundärem Diphthong als [ʃʊɪ] – sehr üblich ist (vgl. hierzu ELLER-WILDFEUER / WILDFEUER 2019: 1167; HAAS 1983: 1111–1112; KOCH 2019: 289). Als Fazit lässt sich ein geringer Einfluss der Standardsprache konstatieren. Lediglich bei mhd. ei > /ai/ können mit einer höheren Frequenz von den erwarteten bairischen Formen abweichende Beispiele vorgefunden werden. Auch bei geringer Zahl an Belegen zeigen die Formen jedoch, dass die Standardsprache durchaus zu den Kontaktvarietäten der Bairischsprecher/-innen gehört oder zumindest gehörte und sich in Teilen niedergeschlagen hat. Es ist also davon auszugehen, dass der bairische Dialekt in São Bento do Sul sich nicht isoliert von der Standardsprache entwickelt hat. 4.2 Mittel- und nordbairische Varianten der systematischen Lautwandelprozesse Im zweiten Block geht es um die Vokale, die im Rahmen der systematischen Lautwandelprozesse beobachtet werden können und dialektale Varianten des Mitteloder Nordbairischen darstellen. Dabei werden in 4.2.1 zunächst Varianten thematisiert, die in den großräumigen mittel- und nordbairischen Dialekten üblich sind. In 4.2.2 werden kleinräumige regionale Varianten thematisiert, die die Variation im Herkunftsgebiet prägen.

4.2.1 Großräumige Varianten Frühneuhochdeutsche Diphthongierung: mhd. î, iu, û > nhd. ai, oi, au Bei mhd. î > ai11 und û > au stimmt die Entwicklung im Mittel- und Nordbairischen mit der Standardsprache überein. Bei mhd. û ist dies die einzige Diphthongvariante, die in unserem Korpus realisiert wird. Für mhd. î tritt neben dem vorherrschenden Diphthong ai die regionale Variante äi auf. Sie entspricht in der Lautung mhd. ei, jedoch mit einer größeren Öffnung und Senkung der ersten Diphthongkomponente. Daneben kommt auch die Variante oi, mit Hebung und Rundung der ersten Diphthongkomponente gegenüber ai, vor. Bei mhd. iu zeigt sich ein komplett anderes Bild: Während standardsprachlich oi kaum korpusintern nachweisbar ist (vgl. Kap. 4.1), dominieren hier die nicht gerundeten Diphthonge, und zwar die bairische Variante ai mit gesenkter erster Komponente und die gegenüber mhd. ei geöffnete regionale Variante äi. Die Diphthongrealisierungen für mhd. î und mhd. iu fallen, wenn auch mit unterschiedlichen Häufigkeiten, im Bairischen vollständig zusammen, was sich in der 11 Der bairische Diphthong ai weist gegenüber dem standardsprachlichen Diphthong allenfalls eine größere, d. h. weiter hinten realisierte Öffnung der ersten Komponente auf.

Sprachliche Variation im Bairischen von São Bento do Sul, Brasilien

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Sprache São Bento do Suls spiegelt (vgl. RENN / KÖNIG 2009: 52–55; WILDFEUER 2004: 138–139). Der Diphthong ea mit gesenktem zweitem Element ist idiosynkratisch; ea ist aus der Kontraktion von heutzutage entstanden und an dieses Lexem gekoppelt. Varianten Mhd. î ai [aɪ] äi [æɪ]

oi [ɔɪ] Mhd. iu ai [aɪ] äi [æɪ]

ea [ɛɐ] Mhd. û au [aʊ]

Beispiele allwai ‘all die Weile, immer’, bainah ‘beinahe’, drai ‘drei’, gfaiad ‘gefeiert’, sain ‘sein’ (Pron.), Saitn ‘Seite’, Waihnachtn ‘Weihnachten’ drei, eini ‘einhin, hinein’, reitet, Wei ‘Wein’, weis ‘weiß’, Weihnachtn, Zeit Oifaart ‘Einfahrt’, oiganga ‘hineingegangen’ hait ‘heute’, Lait ‘Leute’, nai, nain ‘neun’, Zaich ‘Zeug’ Deitsche ‘Deutsche’, heit(zedogs) ‘heut(zu-tage)’, Leit ‘Leute’, nei ‘neun’, Zeich ‘Zeug’ heazong ‘heutzutage’ auf ‘auf’, aufbassn ‘aufpassen’, aufbuzd ‘aufgeputzt’, dauschn ‘eintauschen’

Häufigkeit

sehr häufig verbreitet

selten verbreitet häufig

ein Beleg verbreitet

Tab. 3: Beispiele für großräumige bairische Varianten im Rahmen der frnhd. Diphthongierung im Bairischen von São Bento do Sul

Frühneuhochdeutscher Diphthongwandel: mhd. ei, öu, ou > nhd. ai, oi, au Varianten Mhd. ei oa [ɔɐ] oi [ɔɪ]

ea [ɛɐ] Mhd. öu ai [aɪ] äi [æɪ] Mhd. ou aa, a

Beispiele

Häufigkeit

oa ‘ein’ (Indefinitartikel, Numerale), dahoam ‘daheim’, gloa ‘klein’, hoasd ‘heißt’, koa(n) ‘kein’, Stoa ‘Stein’, woas ‘weiß’, zwoa ‘zwei’ aloi ‘allein’, ghoißn ‘geheißen’, koi ‘kein’, Moi ‘Mai’, Oijer ‘Eier’, Woiz ‘Weizen’, zoing ‘zeigen’ gleana ‘kleine’

wenige Belege

Faier ‘Feuer’, gfraid ‘gefreut’ Freid ‘Freude’

wenige Belege wenige Belege

a ‘auch’, Baam ‘Baum’, va(ob)kafft ‘ver(abge)kauft’

verbreitet

sehr häufig verbreitet

Tab. 4: Beispiele für großräumige bairische Varianten im Rahmen des frnhd. Diphthongwandels im Bairischen von São Bento do Sul

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Mechthild Habermann / Sebastian Kürschner

Für mhd. ei ist die neuhochdeutsche Standardlautung /aɪ/ (vgl. Kap. 4.1) deutlich seltener im Untersuchungskorpus nachweisbar als die bairischen Varianten: Mhd. ei führte im Nordbairischen lautgesetzlich zum Diphthong oa in historischen Einsilbern und oi in historischen Mehrsilbern, während im Mittelbairischen der Diphthong oa der Normalentwicklung von mhd. ei entspricht (vgl. KRANZMAYER 1956: §20h). Die velarisierte und gerundete Variante oa mit gesenkter zweiter Komponente ist entsprechend häufig vertreten. Auch die nordbairische Variante oi ist verbreitet. Die nicht gerundete Variante ea bleibt auf bestimmte lautliche Umgebungen beschränkt. Während die bairischen Varianten für mhd. ei dominieren, sind nicht gerundetes und gesenktes ai bzw. nicht gerundetes äi für mhd. öu korpusbedingt nur in begrenztem Umfang nachweisbar, zeigen aber aufgrund der Realisierung als Diphthong Orientierung am Nordbairischen auf (mittelbair. wäre /aː/ zu erwarten). Die mittel- und nordbairische monophthongierte Variante aa dominiert bei mhd. ou. Mitteldeutsche Monophthongierung: mhd. ie, üe, uo > nhd. ii, üü, uu Varianten Mhd. ie ie, ia [ɪɐ] ea [ɛɐ]

äi [æɪ] ai [aɪ] Mhd. üe ia [ɪɐ]

ea [ɛɐ] äi [æɪ]

ai [aɪ] Mhd. uo uo [ʊo], ua [ʊɐ] ou [ɔʊ]

Beispiele iema ‘immer’, liawa ‘lieber’, niema ‘nimmer’, wia ‘wie’, siebazg ‘siebzig’, wieda ‘wieder’ Greach ‘Krieg’, greagt ‘kriegt’, neamand ‘niemand’, Veacha ‘Vieh’ greigt ‘kriegt’, Veicher ‘Vieh’, wei ‘wie’ graing ‘kriegen’, laiber ‘lieber’, wai ‘wie’ Briada ‘Brüder’, fian ‘führen’, friars ‘früher’, miassn (mian) ‘müssen’, riaren ‘rühren’ meassn ‘müssen’ freias ‘früher’, Keichel ‘Küchlein’, Kej ‘Kühe’, mej/meysn ‘müssen’ fraias ‘früher’ Bua ‘Bube, Junge’, Bruada ‘Bruder’, doa(n) ‘tut, tun’, guot/guad ‘gut’, gsuacht ‘gesucht’, mua/muaß ‘muss’, Muoda ‘Mutter’, zua ‘zu’ Bou ‘Bube, Junge’, darzou ‘dazu’, doun ‘tun’, Fous ‘Fuß’, mou ‘muss’, Schouh ‘Schuh’

Häufigkeit häufig verbreitet

verbreitet verbreitet häufig

verbreitet verbreitet

selten sehr häufig häufig

Tab. 5: Beispiele für großräumige bairische Varianten im Rahmen der md. Monophthongierung im Bairischen von São Bento do Sul

Im brasilianisch-bairischen Korpus bestätigt sich die Bewahrung der alten Falldiphthonge ie, uo, die in den Varianten ia und ua eine stärkere Öffnung der zweiten Diphthongkomponente aufweisen und auffällige Merkmale des mittelbairischen

Sprachliche Variation im Bairischen von São Bento do Sul, Brasilien

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Dialekts darstellen. Bei mhd. üe ist nur die nicht gerundete Variante nachweisbar. Sie stellen die häufigsten Diphthongvarianten in Tab. 5 dar. Darüber hinaus tritt der Diphthong ea für mhd. ie und üe, mit Senkung der ersten Komponente, durchaus frequent auf. Bei allen drei mhd. Diphthongen, die zum Neuhochdeutschen hin der Monophthongierung unterliegen, sind darüber hinaus die sogenannten „gestürzten Diphthonge“ des Nordbairischen in den Varianten äi und mit geöffneter erster Diphthongkomponente ai für mhd. ie und üe sowie ou für mhd. uo häufig nachweisbar.12 Das Bairische in São Bento do Sul spiegelt somit den Charakter des Übergangsgebiets zwischen mittel- und nordbairischen Formen, der aufgrund der Herkunftsregion erwartbar ist, indem sowohl typisch mittel- als auch typisch nordbairische Formen frequent verwendet werden. In einigen Fällen lassen sich mittel- und nordbairische Formen sogar bei ein und demselben Wort nachweisen (vgl. etwa Bua vs. Bou ‘Bube’) – ein Hinweis darauf, dass die hohe Variation in vielen Fällen nicht lexemspezifisch organisiert auftritt, sondern frei distribuiert ist (vgl. hierzu Kap. 5).

4.2.2 Kleinräumige Varianten im Rahmen der systematischen Lautwandelprozesse Zum Abschluss der Untersuchung der auftretenden Variation sollen kleinräumige, sowohl vom Standarddeutschen als auch von den großräumigen mittel- und nordbairischen Varianten abweichende Realisierungen betrachtet werden, die im Rahmen der systematischen Lautwandelprozesse im Untersuchungskorpus nachgewiesen werden konnten. Frühneuhochdeutsche Diphthongierung: mhd. î, iu, û > nhd. ai, oi, au Die im Untersuchungskorpus nachweisbaren kleinräumigen Varianten stehen den großräumigen gegenüber, indem sie allesamt als Monophthong realisiert sind. Hier können zwei Gruppen unterschieden werden: Die eine Gruppe betrifft die sogenannten „tertiären Monophthonge“ (vgl. WILDFEUER 2004), die regionale Varianten darstellen und aus einer Verflachung der Diphthonge ai > äi > ää oder au > åå entstanden sind (vgl. RENN / KÖNIG 2006: 51 sowie Wenker-Karten 51, 373, 465 u. a.). Sie sind im gegebenen geographischen Raum kleinräumig auf das in Abb. 3 gezeigte Gebiet beschränkt. Abb. 3 zeigt die maximale areale Verbreitung der monophthongischen Realisierung der Vokalreihe mhd. î-iu-û auf Basis der relevanten Karten des Sprachatlasses des Deutschen Reiches. Nach RENN / KÖNIG (2006: 51) ist die Verflachung der Diphthonge bis hin zum Monophthong für das Gebiet südöstlich von Cham zu verzeichnen, WILDFEUER (2004: 136) nennt die Landkreise Regen und Cham. Es ist zu vermuten, dass die tertiären Monophthonge im 19. Jahrhundert auch jenseits der bayerischen Grenze auf böhmischem Gebiet im Gebrauch waren. Offenbar 12 Zur Erläuterung der „gestürzten Diphthonge“ vgl. ROWLEY (2000) und RENN / KÖNIG (2006: 63).

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Mechthild Habermann / Sebastian Kürschner

hatten die tertiären Monophthonge im 19. Jahrhundert sogar eine weitere Verbreitung und reichten auf bayerischem Gebiet bis an die Donau. WILDFEUER (2004: 137) führt eine Schrumpfung des Gebiets der tertiären Monophthonge an; die areale Verbreitung zur Erhebung des Deutschen Sprachatlasses kommt, so ist zu vermuten, der Verbreitung zum Zeitpunkt der Auswanderung nahe. Varianten Mhd. î

Beispiele

Häufigkeit

ää [æː]

läächta ‘leichter’, mää ‘mein’, äägetauscht ‘eingetauscht’, Rääs ‘Reis’, rääten ‘reiten’, Wää ‘Weib’, Wää ‘Wein’, Wäänacht ‘Weihnachten’, Zäät ‘Zeit’

verbreitet

aa, a

ma(n) ‘mein’, sa(n) ‘sein’ (Verb)

kontextgebunden; häufig

Däätschland ‘Deutschland’, Hääsel ‘Häuslein’, häät ‘heute’, Läät ‘Leute’, nää ‘neun’

verbreitet

Mhd. iu ää [æː] Mhd. û åå [ɔː]

aa, a

oos ‘aus’, ooseinander ‘auseinander’, Oosland ‘Ausland’, ooße ‘außen’, ooßewads ‘auswärts’, boot ‘baut’, Hoos ‘Haus’, Moorer ‘Maurer’, Soo ‘Sau’ afbassd ‘aufgepasst’, afgheat ‘aufgehört’, afm ‘auf dem’, asse ‘außen’, dascht ‘tauscht’

verbreitet kontextgebunden; häufig

Tab. 6: Beispiele für kleinräumige bairische Varianten im Rahmen der frnhd. Diphthongierung im Bairischen von São Bento do Sul

Abb. 3: Areal der monophthongischen Varianten der Vokalreihe mhd. î-iu-û (graue Schattierung), schwarze Punktsymbole: Herkunftsorte der Auswanderer (im REDE SprachGIS erstellt von Grit Nickel)

Sprachliche Variation im Bairischen von São Bento do Sul, Brasilien

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Die zweite Gruppe betrifft Allegroformen, d. h. Vereinfachungen von Diphthongen zu Monophthongen bei mhd. î und mhd. û über ai und au zu aa, a unter Bedingungen der sprachlichen Umgebung (vgl. hierzu Kap. 5.2). Frühneuhochdeutscher Diphthongwandel: mhd. ei, öu, ou > nhd. ai, oi, au Für mhd. ei, öu und ou sind bei allen drei Diphthongen die beiden Monophthonge ää und åå als regionale Varianten bezeugt. Bei mhd. ei, wo die Variante am häufigsten erscheint, handelt es sich wohl um eine analoge Entwicklung, die im Herkunftsgebiet nur bei Einzelwörtern als typisch erscheint (vgl. z. B. Wenker-Karte 291 für Fleisch). Daneben existieren auch hier kontextgebundene Monophthonge aa, a und oo. Für mhd. ou lässt sich auch die mit der Standardsprache übereinstimmende regionale Diphthong-Variante au in wenigen Belegen vorfinden. Varianten Mhd. ei

Beispiele

Häufigkeit

ää [æː]

Flääsch ‘Fleisch’, ghääred ‘geheiratet’

verbreitet

aa, a

a ‘ein’, a(mol) ‘ein(mal) ’, goarbad ‘gearbeitet’

oo

ko ‘kein’

Mhd. öu ää [æː] Mhd. ou åå [ɔː] au [aʊ]

kontextgebunden; häufig kontextgebunden; wenige Belege

gfrääd ‘gefreut’

ein Beleg

(o)schown ‘anschauen’ au(ch) ‘auch’, schaun ‘schauen’, draum ‘Traum’

wenige Belege wenige Belege

Tab. 7: Beispiele für kleinräumige Varianten im Rahmen des frnhd. Diphthongwandels im Bairischen aus São Bento do Sul

Mitteldeutsche Monophthongierung: mhd. ie, üe, uo > nhd. ii, üü, uu Die hier vertretenen Monophthonge, die korpusintern nur selten nachweisbar sind, sind ausschließlich kontextgebunden erklärbar (vgl. hierzu Kap. 5.2). Sie stellen keine regional zu erwartenden Varianten dar. Aus den Beobachtungen lässt sich erkennen, dass einige regionalspezifische Merkmale im Bairischen von São Bento do Sul beibehalten wurden. Sie zeigen sich insbesondere bei den tertiären Monophthongen als Folgelaute der mhd. hohen Langvokale und Monophthongvarianten des mhd. Diphthongs ei. Diese regionalen Varianten sind zwar in der Frequenz nicht dominant, treten jedoch durchaus häufig auf und setzen damit kleinräumige Merkmale des Herkunftsdialekts in Brasilien fort.

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Varianten Mhd. ie

Beispiele

Häufigkeit

æ

nemmer ‘nimmer, nicht mehr’

kontextgebunden; ein Beleg

Mhd. üe

kein Beispiel Mhd. uo

a

kontextgebunden; ein Beleg

za ‘zu’

Tab. 8: Beispiele für Monophthongvarianten im Rahmen der md. Monophthongierung im Bairischen von São Bento do Sul

4.3 Zusammenfassung Als Ergebnis der Analyse der bairischsprechenden Gewährspersonen kann festgestellt werden, dass die beschriebene Vokalvariation kaum Einfluss der Standardsprache erkennen lässt und das Dialektgebiet der Herkunft noch deutlich widerspiegelt, das im Übergangsgebiet zwischen dem Nordbairischen und dem Mittelbairischen gelegen ist (vgl. Kap. 2). Zu erwähnen sind hier insbesondere die absteigenden vs. aufsteigenden Diphthonge (z. B. Bua vs. Bou) als klare Merkmale des Mittel- und Nordbairischen, die in beiden Formen vertreten sind. Hinzu kommen auch kleinräumige Marker, insbesondere die tertiären Monophthonge. Die Sprache der brasilianischen Gewährspersonen hat somit Kerncharakteristika des dialektalen Herkunftsgebiets bewahrt und zeigt dabei auch bis heute einen hohen Grad an Variation, deren Varianten sich auf das dialektale Übergangsgebiet zurückführen lassen. Dies soll zum Anlass genommen werden, um im Folgenden anhand inter- und intraindividueller Variation zu verfolgen, ob sich die Variation in den Daten systematisieren lässt. 5 INTRA- UND INTERINDIVIDUELLE VARIATION Während der vorausgehende Abschnitt die Vokalvariation allein nach dem Auftreten und den Häufigkeiten der Diphthonge und Monophthonge in Relation zu den großen systematischen Lautwandelprozessen zum Thema hatte, soll im Folgenden ein differenzierterer Blick auf das Lautprofil der einzelnen Gewährspersonen gelegt werden. Hierzu soll die Sprache der Individuen im Vergleich zueinander untersucht werden, wobei auch diaphasische Aspekte wie etwa die lexemgebundene Variation mit einbezogen werden sollen.

Sprachliche Variation im Bairischen von São Bento do Sul, Brasilien

325

5.1 Methodische Vorüberlegungen Eine hinreichende Berücksichtigung der Sprache des Individuums erfolgt in einer soziolinguistisch ausgerichteten Variationslinguistik bislang allenfalls marginal. Vor nicht allzu langer Zeit äußerte sich LABOV (2001: 34): „the individual does not exist as a linguistic object“. Aufgrund des bisherigen Verdikts sehen BÜLOW / PFENNINGER (2021: 1) einen großen Nachholbedarf in Forschung und Empirie, die intraindividuelle Variation nicht nur für die Variationslinguistik zu erschließen: The overall theme of this special issue is intra-individual variation, that is, the observable variation within individuals’ behaviour, which plays an important role in the humanities area as well as in the social sciences. While various fields have acknowledged the complexity and dynamism of human behaviour, intra-individual variation has received less attention in regard to language use. Linguistic research so far lacks both empirical and theoretical work that provides detailed information on the occurrence of intra-individual variation, the reasons for its occurrence and its consequences for language development as well as for language variation and change.

Nach ULBRICH / WERTH (2021: 32) stellt Code-Switching intraindividuelle Variation per se dar und ist eng mit der bewussten oder unbewussten Verwendung von Varianten aus verschiedenen Varietäten oder Sprachen verknüpft. SCHILLING (2013) differenziert die Zugänge zur Erforschung intraindividueller Variation nach drei Parametern, und zwar „Attention to Speech“, „Audience Design“ und „Speaker Design“, wovon im Folgenden lediglich der Aspekt „Attention to Speech“ berücksichtigt werden kann (vgl. hierzu SCHILLING 2013: 329–332). Es geht hierbei um den Grad von Bewusstheit und Aufmerksamkeit, mit dem Menschen die Wahl ihrer sprachlichen Mittel treffen. Betroffen ist das gesamte stilistische Repertoire zwischen unbewusster und bewusster Realisierung auf den einzelnen Sprachebenen, so auch bei der Artikulation phonetischer Varianten.13 Bei der Vokalvariation im Rahmen unserer Erhebung muss von einem weitgehend unbewussten Gebrauch der sprachlichen Mittel ausgegangen werden. Die Varianten der einzelnen Variablen werden bei ein und derselben Gewährsperson innerhalb desselben Interviews unbewusst gebraucht und nicht eigens kommentiert oder anderweitig eingeordnet. Eine gewisse Ausnahme stellt allerdings Sprecherin Erna dar, die zumindest performativ das Nordböhmische, die sprachliche Varietät ihres Ehemanns, vom Bairischen unterscheiden kann und während des Interviews bewusst für eine längere Zeitspanne ein Codeswitching vom Bairischen in die nordböhmische Varietät geboten hat. Eine bewusste Sprachreflexion findet auch bei den anderen Gewährspersonen insofern statt, als sie das Bairische und Standarddeutsche als zwei voneinander getrennte Varietäten beschrieben haben, für sich selbst aber nur Kompetenz im Bairischen und nicht bzw. kaum im Standarddeutschen 13 „Audience Design“ bezeichnet die Abhängigkeit der Sprachvariation vom Gesprächspartner oder von möglichen Zuhörern unter Einbezug des sozialen Status der Gesprächspartner (vgl. BELL 1984; SCHILLING 2013: 333–338). Mit „Speaker Design“ wird der Fokus auf das identitätsstiftende Potenzial gelegt, weil mittels Sprachvariation in bestimmten kommunikativen Situationen bestimmte Identitäten konstruiert werden können (vgl. SCHILLING 2013: 338–342; vgl. auch BÜLOW / PFENNINGER 2021).

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attestierten. Sie sind somit im Grunde von einer diglossischen Situation in São Bento do Sul ausgegangen, da es für sie als Bairischsprechende – anders als bei den Nordböhmen – keine Ausgleichssprache zwischen Dialekt und Standarddeutsch gibt. Dass die bairischsprechenden Gewährspersonen allerdings in einem gewissen Umfang auch über standardsprachliche Lautung verfügten, und zwar selbst dann, wenn die bairische Lautung nicht mit der standardsprachlichen übereinstimmt – wie u. a. im Beispiel Schul –, konnte in Kap. 4.1 der Untersuchung dargelegt werden. In Anlehnung an ULBRICH / WERTH (2021: 9-18) wird im Folgenden die intraindividuelle Variation aus struktureller und funktionaler Sicht analysiert. Für die Wahl der Vokalvarianten sollen Erklärungen einerseits an der Schnittstelle von Morphologie und Syntax und andererseits an der Schnittstelle von Semantik und Pragmatik gesucht werden. Dafür müssen die entsprechenden Lexeme/Morpheme im Rahmen einer Untersuchung lexemgebundener Variation strukturell in Hinblick auf ihren sprachlichen Kontext und semantisch-pragmatisch in Hinblick auf ihre inhaltlich-außersprachliche Einbettung analysiert werden. Der Blick auf die interindividuelle Variation muss im Folgenden auf den Vergleich der individuellen Profile der drei Gewährspersonen beschränkt bleiben. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass die interindividuelle Variation methodisch nicht auf der Grundlage eines Gesprächs zwischen den drei Gewährspersonen fußt, die miteinander gut bekannt waren, sondern auf der Basis jeweils separat durchgeführter Interviews mit ein und demselben Interviewer. Auf diese Weise ist eine Beeinflussung der drei Gewährspersonen untereinander in der Situation des Interviews ausgeschlossen. 5.2 Intra- und interindividuelle Variation: Vokalvarianten im Vergleich In den nachfolgenden drei Tabellen wird die intraindividuelle Vokalvariation zwischen den Gewährspersonen Alfonso, Erna und Leopoldo aufgezeigt. Die Ergebnisse werden nach den drei systematischen Lautwandelvorgängen (frühneuhochdeutsche Diphthongierung, frühneuhochdeutscher Diphthongwandel und mitteldeutsche Monophthongierung) dargestellt. Die Häufigkeit des jeweiligen Auftretens der einzelnen Varianten wird nachfolgend für die einzelnen Gewährspersonen in einem dreistufigen Schattierungssystem verzeichnet.14 Sehr geringe Häufigkeiten im Untersuchungskorpus werden mit der Anzahl der Tokens vermerkt.

14 Sehr häufig = dunkelgrau; häufig, verbreitet = hellgrau; selten, wenige Belege = weiß. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Häufigkeitseinschätzung pro Sprecher nicht in jedem Fall mit der in den Tab. 2 bis 8 gebotenen Gesamteinschätzung des Befunds übereinstimmen muss. D. h., wenn eine Variante einer Variable für den Gesamtbestand bei allen drei Informanten als „verbreitet“ charakterisiert wurde, so kann sie bei einem Informanten durchaus nur „selten“ vertreten sein.

Sprachliche Variation im Bairischen von São Bento do Sul, Brasilien

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Frühneuhochdeutsche Diphthongierung: mhd. î, iu, û > nhd. ai, oi, au Die drei bairisch-brasilianischen Gewährspersonen stimmen zu einem großen Teil im Bestand der Variation der Diphthonge und Monophthonge überein, die im Rahmen der frühneuhochdeutschen Diphthongierung entstanden sind. Eine große Übereinstimmung besteht bei der am häufigsten nachweisbaren Variante ai für mhd. î. Sie ist bei allen drei Gewährspersonen die dominante Repräsentationsform eines aus der frühneuhochdeutschen Diphthongierung entstandenen Diphthongs. Bei den übrigen Repräsentationen stimmen Erna und Leopoldo mit annähernd gleichen Häufigkeitswerten bei vielen Varianten überein, während z. B. tertiäre Monophthonge bei Alfonso kaum vertreten sind. Alfonso bietet den einzigen Nachweis einer standarddeutschen Artikulation bei oi in hoite „heute“. Unter Einbezug der lexemgebundenen Variation ergeben sich folgende intraindividuelle Vokalvarianten: Alfonso:

Erna:

Leopoldo:

main, ma(n) ‘mein’; Deitsche, Däätsch(land); hoite, hait, heit(zedogs); nai(n), nää ‘neun’; aufbassn, afbassd ‘aufgepasst’; aufbuzd, afbuzd ‘aufgeputzt’; aini, eini ‘hinein’; main, mää, ma(n) ‘mein’; drai, drei; wait, weit; Wei, Wää ‘Wein’; Zeit, Zäät; hait, heit(zedogs), heazong; Leit, Läät ‘Leute’; nai(n), nei, nää ‘neun’; aufbassn, afbassd ‘aufgepasst’; laicht, läächta ‘leichter’; main, ma(n) ‘mein’; reitet, rääten ‘reiten’; Waihnachtn, Weihnachtn, Wäänacht; heit(zedogs), häät; Laid, Leit, Läät ‘Leute’; Zaich, Zeich ‘Zeug’; auf, afm ‘auf dem’; eidauschn, dascht ‘tauscht’; ooße, asse ‘außen’

Aus der Übersicht wird ersichtlich, dass die Übereinstimmung zwischen den drei Gewährspersonen im lexikalischen Bereich relativ groß ist. Die auffällige Übereinstimmung im Wortschatz ist dem freien Gespräch mit einer eher geringen Variation der im Interview angesprochenen Themen geschuldet. Unter Einbezug der Vokalvariation bei bestimmten Lexemen fällt auf, dass bei Alfonso auch der Gebrauch des Diphthongs äi, der eine Vorstufe zu dem bei ihm ohnehin selten belegten Monophthong ää bildet, seltener zu verzeichnen ist. Erna und Leopoldo zeigen dagegen häufiger eine intraindividuelle Variation zwischen ai und äi und zwischen äi und ää, bei Erna etwa: drai, drei; Wei, Wää ‘Wein’ und mehr; bei Leopoldo z. B. Lait, Leit, Läät für ‘Leute’. Die Übersicht zeigt, dass die Vokalvariation kaum lexikalisch gebunden ist, sondern dass die meisten verzeichneten Wörter mit unterschiedlichen Vokalvarianten auftreten können. An die Lexik gebunden ist die Vokalvariation lediglich bei den beiden Funktionswörtern ‘auf’ und ‘aus’, bei denen eine klare Trennung zu bemerken ist: Für ‘auf’ tritt sowohl auf als auch die Allegroform af bei allen drei Gewährspersonen auf, und zwar beim Gebrauch als Präposition genauso wie beim

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Gebrauch als Wortbildungspartikel. Hingegen tritt oos ‘aus’ ohne jede Ausnahme übereinstimmend mit dem tertiären Monophthong åå auf. Die klare Trennung zwischen auf und af mit der Vermeidung von åå einerseits und oos mit der Vermeidung von au andererseits ist vermutlich phonotaktisch begründet, da die Aussprache des Velarvokals [åː] vor dem palatalen Konsonanten [s] leichter fällt als vor labiodentalem [f].

Mhd. î

Mhd. iu

Mhd. û

Alfonso ai äi oi Oifoart ‘Einfahrt’ (2x); oiganga ‘eingegangen’ (1x) ää Zäät ‘Zeit’ (1x) aa, a oi hoite ‘heute’ (1x) ai äi ää Däätschland, nää ‘neun’ (je 1x) -

au åå Oosland ‘Ausland’, ooßewads ‘auswärts’, Hoos ‘Haus’ (je 1x) aa, a

Erna ai äi -

Leopoldo ai äi oi oiganga ‘eingegangen’ (1x)

ää

ää

aa, a -

aa, a -

ai äi ää

äi ää

ea heazong ‘heutzutage’ (1x) au åå

-

au åå

aa, a

aa, a

Tab. 9: Vokalvariation im Rahmen der frühneuhochdeutschen Diphthongierung bei drei bairischsprachigen Gewährspersonen im Vergleich

Im Interview von Leopoldo ist eine bestimmte Textstelle besonders von Lexemen mit tertiären Monophthongen geprägt: Er verwendet sie gehäuft dann, wenn er von Weihnachtsfesten in seinen Kindertagen spricht. Mit der Erinnerung im Frame „Weihnachten in vergangener Zeit“ bietet er offenbar auch sprachliche Erinnerungsformen mit einem deutlich höheren Gebrauch von Wörtern wie Wäänacht, häät(zedoch), Läät, Hoos, auch (o)schown (vgl. Tab. 10) etc. Dies könnte auf den Sprachgebrauch enger familiärer Bezugspersonen in der Kindheit des Sprechers

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hindeuten, die er mit Weihnachtsfesten verbindet, und zeigt eine mögliche Quelle der hier behandelten intraindividuellen Variation auf. Frühneuhochdeutscher Diphthongwandel: mhd. ei, öu, ou > nhd. ai, oi, au Übereinstimmend ist bei allen drei Gewährspersonen die Diphthongvariante oa für mhd. ei am häufigsten nachweisbar und ai dagegen weniger häufig vertreten. Das im Rahmen der Vokalvariation infolge der Diphthongierung gewonnene Bild bestätigt sich auch bei der Variation der Ergebnisse aus dem frühneuhochdeutschen Diphthongwandel: Bei Sprecher Alfonso sind die regionalen Monophthongvarianten allenfalls rudimentär nachweisbar. Er bietet keine Belege für ää und nur einen Beleg für åå. Sowohl bei Alfonso als auch bei Erna findet sich nordbairisch oi häufiger, bei Leopoldo dagegen nur einmal. Beispiele für die Variation von mhd. öu sind insgesamt selten belegt und daher wenig aussagekräftig.

Mhd. ei

Mhd. öu

Mhd. ou

Alfonso ai oa oi

Erna ai oa oi

ea gleana ‘kleiner’ (1x) aa, a -

ea gleana ‘kleiner’ (1x) ää aa, a -

ai Faier ‘Feuer’ (2x) -

ai gfraid ‘gefreut’ (1x) -

-

ää gfrääd ‘gefreut’ (1x) au -

au åå (o)schown ‘anschauen’ (1x) aa, a

aa, a

Leopoldo ai oa oi ghoißn ‘geheißen’ (1x) -

ää aa, a oo ko ‘kein’ (2x) äi Freid ‘Freude’ (3x) -

au åå (o)schown ‘anschauen’ (1x) aa, a

Tab. 10: Vokalvariation im Rahmen des frühneuhochdeutschen Diphthongwandels bei drei bairischsprachigen Gewährspersonen im Vergleich

Unter Einbezug der lexemgebundenen Variation ergeben sich folgende intraindividuelle Vokalvarianten:

330 Alfonso: Erna: Leopoldo:

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ai(mal), oa(n), a; zwai, zwoa ‘zwei’; koa(n), koi ‘kein’; schaun, (o)schown ‘ (an)schauen’; ghaira, ghäärad ‘geheiratet’; kai, koa(n), koi ‘kein’; zwai, zwoa ‘zwei’; gfraid, gfrääd ‘gefreut’; ai(mal), oa(n), a, a(mol); koa(n), ko ‘kein’; au(ch), a ‘auch’; schaun, (o)schown ‘(an)schauen’

Im Vergleich zur Vokalvariation infolge der frühneuhochdeutschen Diphthongierung fällt die intraindividuelle Variation zwar geringer aus, jedoch kann auch hier festgestellt werden, dass die Varianten häufig nicht ans Lexem gekoppelt sind. Auffallend sind Häufigkeit und Variationsbreite bei den Funktionswörtern (Indefinitartikel / Numeralia) ‘ein’ mit ai, oa, aa bzw. a und ‘kein’ mit ai, oa, oi und oo mit den Monophthongen aa, a und oo als Allegroformen. In einigen Fällen zeigt sich lexembezogen eine auffällige interindividuelle Variation: Alfonso vs. Leopoldo: Erna vs. Leopoldo:

Moi vs. Mai; gfraid, gfrääd vs. Freid (gleicher Wortstamm); hoasd vs. ghoißn ‘geheißen’

Mitteldeutsche Monophthongierung: mhd. ie, üe, uo > nhd. ii, üü, uu Die in Kap. 4.2.1 beschriebene Dominanz des „häufig“ auftretenden mittelbairischen Diphthongs ie, ia gegenüber der „verbreiteten“ gestürzten Variante äi ist beim Blick auf die interindividuelle Variation nicht stark ausgeprägt. Für mhd. uo behalten Erna und Leopoldo (vgl. unten) überwiegend den alten Falldiphthong bei, während bei Alfonso der „gestürzte“ Diphthong ou die häufigste Variante darstellt. Bei allen drei Gewährspersonen sind aber generell sowohl die alten Falldiphthonge als auch die gestürzten Diphthonge vorhanden, bei mhd. üe ausschließlich in den nicht gerundeten Varianten. Dabei ist wiederum bei Alfonso eine Besonderheit auffällig, das Fehlen des Diphthongs ea, der aber auch bei Erna nur einmal vorkommt. Unter Einbezug der Lexeme ergeben sich folgende intraindividuelle Vokalvarianten: Alfonso: Erna: Leopoldo:

nima, niema; griagt, graing ‘kriegen’; wia, wei, wai ‘wie’; freias, fraias ‘früher’; doa, doan, doun ‘tun’; zum, zuo ‘zum’; ima, iema ‘immer’; wia, wei, wai ‘wie’; miassn, mian, meassn, mei, meisn ‘müssen’; doa, doan, doun ‘tun’; zum, zuo, darzuo ‘(da)zu’; nima, nema „nicht mehr’; griagt, greagt ‘kriegen’; Veacha, Veicher ‘Vieh’; wia, wei ‘wie’; frias, freias ‘früher’; miassn, mian, mei, meisn ‘müssen’; Bua, Bou ‘Bube’; doa, doan, doun ‘tun’; muss, mua(ß), mou ‘muss’; zum, za ‘zum’

Sprachliche Variation im Bairischen von São Bento do Sul, Brasilien

Mhd. ie

Mhd. üe

Mhd. uo

Alfonso ii, i ie, ia äi ai -

Erna ii, i ie, ia äi ai -

ie, ia -

ie, ia ea meassn ‘müssen’ (1x) äi -

äi ai fraias ‘früher’ (2x) uu, u uo, ua ou -

uu, u uo, ua ou -

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Leopoldo ii, i ie, ia ea äi ä nemmer ‘nie mehr’ (1x) ie, ia ea

äi -

uu, u uo, ua ou a za ‘zu’ (1x)

Tab. 11: Vokalvariation im Rahmen der mitteldeutschen Monophthongierung bei drei bairischsprechenden Gewährspersonen im Vergleich

Wie oben beschrieben werden alte Falldiphthonge und gestürzte Diphthonge bei allen drei Gewährspersonen auch bei ein und denselben Lexemen verwendet. Bei den Monophthongen handelt es sich durchweg um Allegroformen. Alfonso bietet den gestürzten Diphthong äi weitgehend nur bei wäi ‘wie’. Bei Leopoldo ist die Besonderheit zu verzeichnen, dass er bei müssen lediglich in der von ihm überaus häufig gebrauchten Redefloskel ‘muss man sagen’ (mua(ß) mä song) den Falldiphthong ua aufweist. Mit über 50 Nachweisen ist hier mit dem idiomatischen Gebrauch der Wendung eine gewisse lautliche Fossilierung hinsichtlich der Wahl des Diphthongs eingetreten. Aus der großen Übereinstimmung der individuellen Profile ergibt sich, dass die drei Sprecher über ein weitgehend übereinstimmendes Register an Diphthong- und Monophthongrealisierungen verfügen. Diese große Übereinstimmung kann zum einen durch die Herkunft aus dem annähernd gleichen Gebiet im Böhmerwald begründet sein und zum anderen durch Ausgleichsprozesse innerhalb der bairischen Sprachgemeinschaft in São Bento do Sul. Die Variation spezifisch im Bereich der hier betrachteten Vokale geht – zumindest in Teilen – mit Kennmerkmalen des Mittel- und Nordbairischen einher. Da die Auswanderer aus dem Übergangsgebiet stammten, ist zu vermuten, dass bereits die Auswanderergeneration über eine entsprechend hohe intraindividuelle Variation im Vokalismus verfügte. Ausgleichsprozesse in Brasilien haben – so zeigen es die Daten – nicht zur Stabilisierung

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Mechthild Habermann / Sebastian Kürschner

bezüglich eines spezifischen Typus (etwa nur der nord- bzw. mittelbairischen Varianten) oder zu einer klaren Zuordnung der Varianten zu spezifischen Lexemen geführt, sondern zur Beibehaltung und eventuell Intensivierung der Variation unterschiedlicher Realisierungsformen. Mit den tertiären Monophthongen tritt zusätzlich ein spezifisches Merkmal der Auswanderungsregion hinzu, das ebenfalls im Wechsel mit anderen Varianten verwendet wird. Während mit dem Diphthong ai für mhd. î und oa für mhd. ei bei allen drei Gewährspersonen eine Variante dominiert, zeichnet sich für mhd. ie und uo – und damit für die salienten Variablen, die mittel- und nordbairische Diphthonge konsequent unterscheidbar machen und als Merkmal der Varietäten auch innerhalb der Sprechergemeinschaft häufig bekannt sind, – keine klare Dominanz von Varianten ab, die sich bei allen drei Sprechern gleichermaßen zeigt. Bei allen Parallelen können auch signifikante interindividuelle Unterschiede festgestellt werden, und zwar besonders zwischen Alfonso und den beiden anderen Gewährspersonen. Sie beziehen sich auf einen erkennbar selteneren Gebrauch der tertiären Monophthonge ää und – mit Abstrichen – auch åå bei Alfonso. Auch die Anzahl an Varianten ist bei Alfonso insgesamt geringer als bei Erna und Leopoldo. Gegenüber Leopoldo hat er daneben öfters oi. Es ist daher zu vermuten, dass entweder die Vorfahren von Alfonso nicht aus dem Gebiet der tertiären Diphthonge stammen (vgl. Kap. 4.2.2), sondern eher nördlich davon beheimatet waren, oder dass die Nutzung tertiärer Diphthonge in Alfonsos Familie gemieden wurde, etwa aus stilistischen Gründen. Die vorliegende erste Auswertung der inter- und intraindividuellen Variation konnte zeigen, dass selbst beim vorliegenden, sehr kleinen Korpusausschnitt eine hohe Variation festgestellt werden konnte, die sich auch intraindividuell zu einem hohen Grad entfaltet. Nur für wenige Fälle konnte die Bindung von Varianten an spezifische Lexeme beobachtet werden, daneben in seltenen Fällen strukturelle bzw. semantisch-pragmatische Gründe für die Nutzung spezifischer Varianten. Die hohe Variation ist damit kaum gebunden und deutet auf eine relativ freie Verwendbarkeit der Varianten hin. In zukünftigen Arbeiten soll durch Einbezug größerer Teile des Korpus untersucht werden, ob dieses Bild sich verallgemeinern lässt. 6 RESÜMEE Der vorliegende Beitrag zeichnet anhand semistrukturierter Interviews, die in den frühen 2000er-Jahren aufgenommen wurden, die Vokalvariation von ausgewählten bairischsprechenden Gewährspersonen in São Bento do Sul, Santa Catarina, Brasilien, am Beispiel der drei systematischen Lautwandelprozesse des Deutschen nach. Die im für eine erste Stichprobe genutzten Untersuchungskorpus bezeugte Vokalvariation zeigt sich als besonders vielfältig. Mit Blick auf die Frage, ob in São Bento do Sul Ausgleichsprozesse stattgefunden haben, lässt sich der Einfluss der Standardsprache oder standardnaher Varietäten als gering einordnen, selbst wenn die Sprachgemeinschaft in Teilen diese Varietäten beherrscht. Der große dialektale Abstand könnte dazu beigetragen haben,

Sprachliche Variation im Bairischen von São Bento do Sul, Brasilien

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dass Ausgleichsprozesse hier – im Gegensatz zu den nordböhmischen Dialekten des Ortes – kaum eingetreten sind (vgl. STÖCKLE 2021: 213). Weiterhin wurde untersucht, inwiefern die Variation des Herkunftsgebiets der Einwanderungsgeneration – die Vorfahren der Gewährspersonen stammten aus dem Böhmerwald nahe der damaligen bayerisch-böhmischen Grenze und somit aus einem Übergangsgebiet zwischen dem Nord- und Mittelbairischen – sich in der aktuellen Sprache spiegelt. Unter den zahlreichen Vokalvarianten konnten sowohl mittel- als auch nordbairische Formen vorgefunden werden, etwa im Vergleich der mittelbairischen bewahrten Diphthonge mit den sogenannten gestürzten Diphthongen des Nordbairischen. Dabei ist keine klare Dominanz zu erkennen, vielmehr werden unterschiedliche Formen in hoher Variation verwendet. Dies gilt auch für kleinregionale Spezifika der Herkunftsregion, die sich etwa in den (vergleichsweise seltener verwendeten) tertiären Monophthongen des Herkunftsgebiets bis heute erhalten haben. Um die Variation mit Blick auf die Distribution der Varianten genauer zu verstehen, wurde die intra- und interindividuelle Variation bei drei Gewährspersonen nachgezeichnet. Dabei sollte ermittelt werden, wie stark die Varianten individuell gebunden sind und in welcher Höhe sie pro Individuum variieren. Es zeigten sich Unterschiede zwischen den einzelnen Gewährspersonen im Gebrauch mancher Vokalvarianten, wie etwa die zurückhaltende Verwendung von Monophthongvarianten beim Sprecher Alfonso oder die größere Variationsbreite bei den anderen Gewährspersonen. Vereinzelt konnte die Vokalvariation mit strukturellen (auf, af vs. oos ‘aus’; Gebrauch von Allegroformen bei manchen Monophthongen) und mit semantisch-pragmatischen Aspekten (Gebrauch tertiärer Monophthonge bei bestimmten Themen (Frame „Weihnachten aus vergangener Zeit“) und stets Vokal ua in Redefloskeln wie muaß mä song) in Verbindung gebracht werden. Insgesamt jedoch lässt sich eine hohe intraindividuelle Variation feststellen, die eine breite Anwendbarkeit der im Übergangsgebiet vorhandenen Vokalvarianten belegt. Dies deutet darauf hin, dass die bairische Sprache in São Bento do Sul kaum durch Ausgleichsprozesse geprägt wurde. Vielmehr zeigt die hohe Variationsbreite auch auf individueller Ebene, dass die Vokalvarianten relativ frei genutzt werden können, was auf einen geringen dialektalen Normdruck hindeutet. Die Auswertung des Sprachmaterials, das die sprachlichen Verhältnisse aus der Zeit vor bis zu 20 Jahren widerspiegelt, steht erst am Anfang. Nach der hier dargestellten Stichprobenuntersuchung werden die Daten aktuell weiteren Untersuchungen unterzogen, um die Ergebnisse auf breiterer Basis prüfen zu können. Neben der kompletten Auswertung des älteren Materials ist der Vergleich mit dem gegenwärtigen Sprachstand für die bairische Sprachinsel in Brasilien dringend geboten – ein Vorhaben, das auch die Erforschung des weiteren Wandels des Bairischen in der gegebenen Sprachinselsituation ermöglichen wird.

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DIE DENATURIERUNG ORALER VARIETÄTEN Bairisch, Niederdeutsch und Färöisch Simon Pröll / Thilo Weber ABSTRACT Dieser Beitrag skizziert einen paradoxen Wandelprozess, den wir „Denaturierung“ nennen: Ursprünglich natürlichsprachige, orale, ersterworbene Varietäten werden durch sprachplanerische Maßnahmen zu literalen, nicht ersterworbenen Systemen. Wir diskutieren zunächst die Grundlagen dieses Prozesses: Die Literalisierung von Sprachsystemen und Gesellschaften bringt orale Non-Standard-Varietäten in funktionale Konkurrenzsituationen mit Standardvarietäten. Der Wunsch nach Bewahrung und (Re-)Vitalisierung dieser Varietäten erzwingt – um ihre funktionale Leistungsfähigkeit auszubauen – Standardisierungsprozesse der betroffenen Varietäten, wodurch in ihren Systemen Elemente auftreten, die nicht durch L1-Erwerb weitergegeben werden (können). Paradoxerweise soll also das Verschwinden natürlicher Sprachen (der muttersprachlich erworbenen Dialekte), die sich definitorisch gerade durch die funktionale Distanz zur Standardsprache auszeichnen, durch Eingriffe unterbunden werden, die ihrem Status als natürliche Sprachen entgegenwirken. Wir postulieren, dass diese Denaturierung eine Konsequenz der Faktoren Attrition und Standardisierung ist. Dazu illustrieren und kontrastieren wir den Verlauf dieses Prozesses anhand von drei germanischen Varietäten: Während das Bairische noch am Anfang einer möglichen Denaturierung steht, kann das sowohl von starker Attrition als auch gezielter Standardisierung betroffene Niederdeutsche in dieser Hinsicht bereits als fortgeschritten angesehen werden. Im modernen Färöischen, wo bei bewahrter hoher mündlicher Variation eine stark historisierende, unifizierende Schriftvarietät installiert wurde, fällt die Denaturierung mangels Attrition dagegen nur schwach aus. 1 HERANFÜHRUNG Zweck dieses Artikels ist es, einen Wandelprozess näher zu beleuchten, der sich als Denaturierung bezeichnen lässt. Betroffen von diesem Prozess sind natürlichsprachige, ersterworbene Varietäten, die in funktionale Konkurrenzsituationen zu Standardvarietäten treten. Um sie zu vitalisieren, zu revitalisieren oder vor der Attrition zu retten, wird sprachplanerisch in ihre Struktur eingegriffen, es werden also Wandelprozesse bewusst initiiert und vollzogen, die die betreffenden Varietäten funktional konkurrenzfähig zu Standardvarietäten machen sollen. Wir wollen hier anhand

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Simon Pröll / Thilo Weber

von Parallelen und Differenzen der Situation im bairischen Sprachraum, im niederdeutschen Sprachraum und den Färöern zeigen, dass dies unintendierte (aus Sicht der Dialektologie sogar eventuell unerwünschte) Konsequenzen nach sich ziehen kann: Grund dafür ist, dass die zu diesem sprachplanerischen Eingriff zwingend notwendigen Schritte je nach Implementierung Änderungen nach sich ziehen, die einer teilweisen Standardisierung gleich kommen – was paradoxerweise ihrem Status als natürlicher Sprache entgegenläuft, der durch die Eingriffe ja gerade geschützt werden sollte. Dazu gehen wir in zwei Schritten vor. Zunächst beschäftigt sich Abschnitt 2 mit den Vorbedingungen und Faktoren dieses Wandelprozesses: Was sind natürliche Sprachen (2.1), wie entwickelt sich Literalität aus Oralität (2.2), inwieweit ist Literalisierung auch an Standardisierung gebunden (2.3) und wie entsteht aus der Interaktion dieser Prozesse Denaturierung (2.4)? Abschnitt 3 fokussiert jeweils die Situation dreier Varietäten – Bairisch (3.1), Niederdeutsch (3.2) und Färöisch (3.3) – in Bezug auf das oben eingeführte Denaturierungsszenario und vergleicht im Anschluss die jeweiligen Szenarien (3.4). Abschnitt 4 bietet eine Zusammenschau nebst wandeltheoretischem Ausblick. 2 SKIZZIERUNG DES PHÄNOMENS 2.1 Typen natürlicher Sprachen Folgt man WEISS (2001), dann lassen sich natürliche Sprachen in zwei Klassen unterteilen: Zum einen existieren natürliche Sprachen erster Ordnung (N1). Sie haben ihre synchrone Struktur durch unregulierte Sprachwandelprozesse erhalten und werden von ihren Sprecherinnen und Sprechern ungesteuert als Erstsprache erworben. Dies ist typischerweise das Szenario für Basisdialekte. Zum anderen existieren natürliche Sprachen zweiter Ordnung (N2). Sie sind – z. B. in Standardisierungsprozessen – quasi zu Teilen am Reißbrett entstanden, verdanken ihre synchrone Struktur also teilweise gezielten Eingriffen. Sie haben keine Muttersprachlerinnen und Muttersprachler, durchlaufen also keinen ungesteuerten Erstspracherwerbsprozess. Stattdessen werden sie – auf Basis einer anderen Erstsprache – in expliziten Lernsituationen (Schule, Erwachsenenbildung etc., vgl. WEISS 2001: 90) erlernt, in einem Prozess, der meist Schreib- und Leseunterricht involviert. Aufgrund der Bedingungen, nach denen Standardisierung üblicherweise vonstattengeht, durchlaufen Standardvarietäten in ihrer Genese laut WEISS (2005) notwendigerweise eine Phase, in der sie als N2 anzusehen sind. Unter entsprechenden soziolinguistischen Bedingungen entwickeln sich Standardvarietäten jedoch wieder zu Sprachen des Typs N1, sie nativieren also wieder (vgl. PRÖLL 2021, für die Dokumentation dieses Prozesses anhand von silbenphonologischen Wandelerscheinungen im modernen Standarddeutschen). Standardvarietäten können also in ihrer N2-Phase Elemente und Strukturen aufweisen, die nicht das Resultat unregulierter Wandelprozesse bzw. nicht Teil der UG sind, vgl. etwa CHOMSKYs (1995: 51) diesbezügliche Bemerkung, Standardvarietä-

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ten seien „partially invented“ und „may even violate the principles of language“. Basisdialekte mit ihrer historisch kontinuierlichen Muttersprachlichkeit haben dieses Problem nicht. Nicht zuletzt diese Erkenntnis hat die vergangenen Jahrzehnte dazu geführt, dass für eine Vielzahl linguistischer Fragestellungen Dialekte, also N1-Systeme, anstatt von Standardvarietäten als geeignetere Datenbasis gesehen wurden (vgl. etwa WEISS 1998; DE VOGELAER / SEILER 2012; BAECHLER / PRÖLL 2018). 2.2 Von Oralität zu Literalität N1-Systeme sind üblicherweise primär gesprochene Sprachen. N2-Systeme dagegen sind unter kommunikativen Bedingungen geformt worden, die einen dezidiert schriftsprachlichen Aspekt beinhalten, zumindest auf konzeptioneller Ebene (vergleiche das Modell zu medialer Konzeptionalität sowie der Unterscheidung von Nähe- und Distanzsprachlichkeit von KOCH / OESTERREICHER 1985). Die Unterscheidung zwischen Oralität und Literalität hat aber auch einen Aspekt, der über die Medialität (und über das Sprachsystem per se) hinausgeht: ÁGEL (1999) führt u. a. mittels Parallelen in der bildenden Kunst aus, dass im Zeitalter der Bildung der größeren europäischen Standardsprachen ein Übergang von oralen Kulturen zu literalen Kulturen stattgefunden hat. Dies zeigt sich vor allem in der Perspektivierung und Epistemifizierung von Kunst und Sprache,1 aber auch durch die Emanzipation des Konzepts einer „Schriftsprache“: Schrift wird nicht länger nur als Abbild gesprochener Sprache eingesetzt, sondern entwickelt Eigenarten, die keinen Reflex in der gesprochenen Sprache haben (können). Am offensichtlichsten wird dies in Strukturen, die rein graphischer Natur sind (also keinen Lautwert haben), etwa Gliederungssignalen, Fußnoten und Anmerkungen, Inhaltsverzeichnissen etc. Gleichzeitig ändert sich auch die temporale Strukturierbarkeit von Sprache. Statt der rein linearen Zeichenkette mündlicher Kommunikation ist in schriftlicher Kommunikation Linearität nicht zwingend: Lesen findet in Sakkadensprüngen statt, Rückwärtsbewegungen sind jederzeit möglich, hypotaktischere Strukturen werden leichter bildbar sowie dekodierbar. Aber auch die soziopragmatischen Funktionen (geschriebener) Sprache werden erweitert, nicht zuletzt aufgrund dessen, dass Schriftlichkeit Produktion und Rezeption entkoppelt: Per indirekter Kommunikation ist ein grundlegend anderes Verhältnis zu Raum und Zeit eröffnet, sie macht „strukturiertes Wissen ohne eigene empirische Erfahrung möglich“ (POLENZ 2000: 115). Diesen kulturhistorischen Übergang nicht nur von Sprachsystemen, sondern von einer oralen Gesellschaft hin zu einer literalen bezeichnet ÁGEL (1999: 210, FN 40) treffend als „Deoralisierung“. Bereits die Idee der Existenz von Grammatik bzw. von relationalen und paradigmatischen Sprachstrukturen ist in einer rein oralen Gesellschaft undenkbar: Sie setzt eine (über das visuelle Medium der Schrift 1

Sprachliche Beispiele wären etwa die Grammatikalisierung von Modalpartikeln und die Expansion von Modalverben „für den Ausdruck von Urteilen über den Wahrheitsgehalt von Propositionen“ (ÁGEL 1999: 182).

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konditionierte) Konzeptionalisierung von Sprache in diskrete Einzelsegmente (Wörter, Graphem/Laut-Paare) voraus, der nur in einer dezidiert literalen Gesellschaft vorhanden sein kann (vgl. insbesondere ÁGEL 1999: 174). Natürliche Sprachen zweiter Ordnung (hier: Standardvarietäten) enthalten also entsprechend Strukturen bzw. werden für Funktionen genutzt und gesteuert modifiziert, die explizit literalen Bedürfnissen dienen. Rein orale Sprachsysteme, wie z. B. ungesteuertem Wandel unterliegende, nicht-standardisierte Basisdialekte, sind davon scheinbar nicht direkt betroffen. Das Problem ist aber: Literalität ist heute in unserer Gesellschaft fest verankert, sie ist der sprichwörtliche Geist, der nicht wieder in die Flasche will – und sie ist an Schriftlichkeit gekoppelt. Unser kultureller Fehlschluss daraus ist: Eine „echte“ Sprache braucht ein Schriftsystem und muss in der Lage sein, literale Funktionen leisten zu können. 2.3 (Zwang zur) Standardisierung Der Übergang zu einer literalen Kultur, in der fremdes Wissen abrufbar, individuelle Standpunkte kommunizierbar und Sprachen als Systeme von Elementen und Regeln abstrahierbar werden, ist ab der Frühen Neuzeit überall in Europa zu beobachten – und er ist vermutlich irreversibel, zumindest innerhalb überschaubarer historischer Zeiträume, weil sich gewachsene kulturelle Komplexität nicht ohne Bruch auf einen früheren Stand reduzieren lässt. Die Entstehung von Standardvarietäten ist gleichzeitig Mittel und Ausdruck dieses Prozesses. Für ursprünglich orale Varietäten ist sowohl diese Einbettung in ein literales Kultursystem als auch der generell starke Assimilationsdruck, den z. B. die deutsche Standardvarietät insbesondere auf die Basisdialekte im bundesdeutschen Raum ausübt (s. z. B. für den niederdeutschen Sprachraum u. a. HANSEN-JAAX 1995, ELMENTALER 2009), insbesondere in Funktionskontexten folgenreich, in denen eine direkte Kontakt- und Konkurrenzsituation von Standard- und Non-Standard-Varietäten gegeben ist. Diese Konkurrenzsituationen erfordern zumindest eine teilweise Standardisierung, weil die funktionalen Anforderungen literaler Art sind: Für gezielten Sprachunterricht etwa braucht es schriftliches Material (im Schulunterricht und der Erwachsenenbildung für die Lernenden, in Kindergartensituationen zumindest im Vorlauf für die Ausbildung und Anleitung der Lehrenden). Dafür muss zwangsläufig Variation reduziert werden, also „Devariation“ (RÖSSLER 2016) stattfinden – und das ist eindeutig ein Standardisierungsvorgang, wenn man z. B. die vier Dreh- und Angelpunkte des „standardisation planning model“ nach HAUGEN (1983: 275; basierend auf HAUGEN 1966: 933) als Schablone heranzieht: „(1) Selection (decision procedures)“, „(2) Codification (standardization procedures)“, „(3) Implementation (educational spread)“ und „(4) Elaboration (functional development)“. (Wir werden diese Schritte später beim Blick auf die einzelnen Varietätenverbünde in Abschnitt 3 genauer exemplifizieren.) Die jeweilige kommunikative Reichweite (vgl. KÖNIG 2010) der selegierten Elemente sollte dabei – quasi im direkten Widerspruch zur Situation basisdialektaler Formen – möglichst maximal sein.

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Das zumindest implizite Ziel daran, eine Non-Standard-Varietät im selben Funktionskontext wie eine konkurrierende Standardvarietät zu verankern, ist Teil einer Ausbaustrategie, hat also in Form von Entlehnung oder Neubildung von spezifischem Wortschatz auch klare Auswirkungen auf die lexikalische Seite der Varietät. Dieser Ausbau geht zwangsläufig mit (Teil-)Standardisierung einher, stellt also einen erheblichen Eingriff in das System der Varietät dar. 2.4 Deoralisierung und Denaturierung Der Zwang zur Standardisierung, dem ursprünglich orale Varietäten in Kontaktszenarien mit modernen Standardvarietäten ausgesetzt sind, bedingt also einen spezifischen Wandelprozess, den wir hier Denaturierung nennen wollen. Er vollzieht sich per Devariation und basiert auf Deoralisierungsprozessen, nicht primär von Sprachsystemen, sondern von Gesellschaften. Zu beachten ist, dass Denaturierung nicht dasselbe wie Standardisierung ist: Standardisierung ist ein Vorgang, der eine Standardvarietät entstehen lässt (der Terminus ist damit teleologischer Natur, vgl. auch PRÖLL i. V.). Für die involvierten Non-Standard-Varietäten (quasi die „Spendervarietäten“ der neuen Standardvarietät) hat dieser Prozess nicht automatisch und notwendigerweise Folgen (auch wenn sich dies in der Praxis oft beobachten lässt). Sie können im Prinzip auch unverändert neben der Standardvarietät weiterbestehen. Denaturierung ist dagegen ein Vorgang, der die Struktur der Non-Standard-Varietäten selbst betrifft; durch ihn wandeln sie selbst sich in Richtung eines typisch standardisierten Systems und verlieren die charakteristischen Struktur- und Variationseigenschaften einer nicht standardisierten Varietät. Denaturierung betrifft also gezielt (in der Regel orale) N1-Varietäten, weil nur hier die Erstspracherwerbsbedingung verloren gehen kann, die Varietät also anstatt als L1 als L2 genutzt wird – bei (literalen) Standardvarietäten, die historisch auf Varietätenausgleich beruhen (wie dies beim Standarddeutschen der Fall ist), ist dieser Übergang nicht möglich, da sie aufgrund ihrer Genese ja von Anfang an keine L1-Sprecherinnen und -Sprecher haben. Sie sind also schon „von Natur aus“ denaturiert. Ein N1/L1-System kann durch Denaturierung oder Standardisierung zu einem N2/L2-System werden (es wird also wie eine Fremdsprache erlernt), bevor es wiederum Nativierungseffekte durchlaufen kann, wenn es durch Kinder wieder als L1 erworben wird. Es dürfte klar sein, dass das resultierende L1-System dieser Kinder nicht mit dem Originalsystem vor der Denaturierung bzw. Standardisierung übereinstimmen wird. Dass der Übergang von einer L2 zu einer L1, also die Nativierung, Konsequenzen auf die Struktur der betroffenen Varietät hat, ist für revitalisierte Varietäten (die ihren Status als L1 zwischenzeitlich verloren hatten) oder von vornherein „künstliche“ Varietäten (die keinen historischen Ursprung haben, also nie L1 waren) gut belegt (vgl. etwa VERSTEEGH 1993 zu Ivrit und Esperanto). Die Abfolge von Standardisierung/Deoralisierung/Denaturierung und anschließender Revitalisierung bedingt dabei, dass die betreffende Varietät zwei Mal durch eine Art variationslinguistisches Nadelöhr geht. Beim ersten Mal verliert sie ihren

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Status als ersterworbenes System. Unter Verlust eines Großteils ihrer inhärenten Variation (sowohl inter- als auch intraindividueller Art) wird sie möglicherweise um Elemente angereichert, die einem psycholinguistisch erwartbaren Erwerbsprozess widersprechen, also nicht einmal UG-konform sein müssen. Dass dies ihre Struktur nachhaltig ändert, zeigt der Vergleich typischer Vertreter des sogenannten „Standard Average European“ mit ihren jeweiligen nicht-standardisierten Konkurrenzvarietäten (vgl. SEILER 2019). Beim zweiten Mal, der Re-Nativierung, verliert die betreffende Varietät die nicht UG-konformen, nicht erwerbbaren Elemente wieder. Spezifische Anforderungen, die Erstsprachsysteme erfüllen müssen, werden durch die neuen L1-Sprecherinnen und Sprecher neu gebildet. Das heißt also, dass es zumindest zwei potentiell unabhängige Faktoren gibt, die die Denaturierung beeinflussen: zum einen der Standardisierungsgrad, zum anderen der Prozentsatz an L1-Sprecherinnen und Sprechern. Im Fall von ursprünglich oralen, muttersprachlich weitergegebenen Varietäten ist Letzteres natürlich das inverse Maß für Attrition: Je weniger L1-Sprecherinnen und Sprecher, desto höher der Attritionsgrad der Varietät. Es bietet sich daher an, direkt den Attritionsgrad als Denaturierungsfaktor anzunehmen. Ein abstrahiertes Modell für Denaturierung wäre daher: Denaturierung = Attrition × Standardisierung (oder kurz D = A × S). Dieses Modell wollen wir im kommenden Abschnitt an drei ausgewählten germanischen Varietäten genauer illustrieren. 3 SZENARIEN Verschiedene Intensitätsgrade eines Denaturierungsprozesses lassen sich exemplarisch anhand des Bairischen (3.1), des Niederdeutschen (3.2) und des Färöischen (3.3) zeigen. Die Auswahl dieser drei Varietäten ist dadurch begründbar, dass sie der Übergang von einem primär oralen zu einem literalen System erst zu einem Zeitpunkt betrifft, zu dem Literalität in ihren jeweiligen Gesellschaften längst verankert ist (im Gegensatz etwa zur Situation zur Zeit der Standardisierung der sprecherstarken modernen Standardvarietäten, die die literalen Gesellschaften ja erst entstehen ließ). Dabei wird anhand dieser drei Varietäten der Gesamtprozess in unterschiedlichen Stadien greifbar. Gleichzeitig bieten sie sich für unterschiedliche Blickwinkel an: Das Niederdeutsche beleuchten wir aus einer stärker auf Sprachplanung und Didaktik konzentrierten Perspektive, weil sich hier die Übertragung auf die Situation im Bairischen anbietet. Diese Parallelität ist für das Färöische weniger stark gegeben – hier ist die strukturlinguistische Komponente aufschlussreicher. Als Ausgangspunkt gilt: Schon das Bewusstsein, dass die jeweiligen Varietäten in einem Schriftsystem wiedergegeben und ihre Strukturen in Form von Grammatikschreibung erfasst werden können, ist Beleg für die Deoralisierung der Gesellschaften, in die sie eingebettet sind (s. Abschnitt 2.2). Unterschiedliche soziolinguistische Voraussetzungen sowie Entscheidungen bezüglich der sprachplanerischen Eingriffe haben aber offenbar zu unterschiedlichen Denaturierungsgraden geführt.

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3.1 Bairisch Sowohl unter Expertinnen und Experten als auch unter Laien ist die Ansicht verbreitet, dass das Bairische (insbesondere in der BRD) über die letzten Jahrzehnte an Sprecherinnen und Sprechern verloren hat. Klare (quantitativ-repräsentative) empirische Aussagen über das Ausmaß dieser Entwicklung sind methodisch problematischer zu ermitteln, als man spontan annehmen würde,2 eine entsprechende Grundtendenz ist aber in jedem Fall anzunehmen – und im Licht der Entwicklung der Standardvarietät des Deutschen sowohl plausibel als auch modelltheoretisch zu erwarten. Berechtigt oder nicht: Die Sorge um ein mögliches Aussterben des Bairischen – oder, positiver formuliert, der Wunsch nach einer klaren Positionierung des Bairischen als schützenswertem Kulturgut – hat einige Emanzipationsinitiativen entstehen lassen. Auch dass Bairisch (oder zumindest das, was von Laien als „Bairisch“ wahrgenommen wird) im Pool der deutschen Varietäten überaus populär ist (vgl. auch KLEINER 2013), ist Hintergrund für mindestens zwei Motive, es im Alltag präsenter positionieren zu wollen: Zum einen führt es dazu, dass Bairisch überhaupt als schützenswert angesehen wird (und gleichzeitig auch, dass seine mögliche Marginalisierung bzw. sein Verschwinden als bedrohliches Szenario bewertet werden). Zum anderen ist Popularität ansteckend, je nach gewünschtem Ziel kann es also durchaus ein Vorteil sein, diese Popularität auch für eigene Zwecke arbeiten zu lassen. Letzteres ist insbesondere in Werbekampagnen augenfällig, aber auch im Rahmen der Nutzung von Dialektmerkmalen in Fernsehsendungen und Filmen.3 Diese Fälle sind im Einzelnen sozio- und medienlinguistisch interessant, wir blenden sie im Detail aber hier vorübergehend aus, weil sie relativ unsystematische Ausprägungen von Einzelinteressen widerspiegeln. Für uns relevant ist lediglich der generelle 2

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Entgegen aller Laienintuition ist es wenig zielführend, Sprecherinnen und Sprecher einfach zu fragen: Der permanente Einfluss des Standarddeutschen hat insbesondere in der BRD dazu geführt, dass sich das Denotat des Terminus ‚Dialekt‘ über die letzten Jahrzehnte verschoben hat (vgl. z. B. BERNER 1997 für Brandenburg). Als „dialektal“ gelten aus Laiensicht mitunter schon Ausprägungen subphonematischer Variation (vgl. auch MAITZ / ELSPASS 2011), für den bundesdeutschen Sprachraum besonders prominent etwa die weiten allophonischen Artikulationsmöglichkeiten von /r/. Auch die Einschätzung der eigenen Dialektkompetenz fällt daher eher optimistisch aus und kann durch soziale Erwünschtheit zusätzlich verzerrt werden (vgl. auch PRÖLL / KLEINER 2016: 297–300). Die faktische Anzahl an Menschen mit aktiver Dialektkompetenz im süddeutschen Raum ist daher sicherlich niedriger anzusetzen, als die Resultate von Umfragen zur Selbsteinschätzung (vgl. z. B. KÖNIG / ELSPASS / MÖLLER 2015: 134–135) es nahelegen. Dabei kommt es mitunter zu Stereotypisierungen (vgl. etwa NIEHAUS 2018 zum Enregisterment im Fränkischen) und bemerkenswerter individueller Variation, vgl. etwa die Analysen durch KLEINER (2013) zum Gebrauch von „Medienbairisch“ im Sinne von „in den Medien stilisiert gebrauchtes Mittelbairisch“ (KLEINER 2013: 446) – hier lassen sich nicht nur ein breites Spektrum von basisdialektalem Gebrauch bis zu leichten regionalen Färbungen nachweisen, sondern auch Fälle, die sich charakterisieren lassen „durch eine vorwiegend unfunktionale Mischung, bei der dialektale und ssprl. Elemente – anders als bei einem natürlichen Abbauverhalten erwartbar – teilweise unorganisch nebeneinander stehen („Schrotschussbairisch“)“ (KLEINER 2013: 444–445).

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Befund, dass die kommunikativen Ziele dieses Dialekteinsatzes meist wohl nur sinnvoll erreicht werden können, wenn die kommunikative Reichweite (vgl. KÖNIG 2010) der Dialektelemente den Adressatenkreis beinhaltet. Anders gesagt: Bei der Auswahl der Dialektelemente ist darauf zu achten, dass sie nicht zu regional kleinräumig sind, um akzeptiert zu werden (die oft angenommene Befürchtung, dass durch den Gebrauch spezifisch regionaler Formen sogar das Verständnis blockiert werden könnte, ist vermutlich für den Dialektkontakt im zusammenhängenden Teil des bairischen Raums nicht anzunehmen). In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Einsatz von Bairisch in (Unterhaltungs-) Medien und Werbung also bereits zwangsläufig von typisch lokalem Erstsprachgebrauch. Es ist im Sinne HAUGENs (1983: 275) die Auswahl einer Norm notwendig, und zwar einer, die – wie es etwa auch für die Standardisierung anderer germanischer Varietäten durch Drucker in der frühen Neuzeit allgegenwärtig war (vgl. VANDENBUSSCHE 2007: 28) – im eigenen Interesse so überregional wie möglich sein sollte. Die kommunikativen Bedingungen erzwingen also einen Standardisierungsschritt. In schriftlichen Kontexten gilt das sogar in doppeltem Maße: Hier muss zusätzlich zur Variantenauswahl auch ein zumindest rudimentäres orthographisches System implementiert werden. Die standardisierende Wirkung dieser Einzelaktionen bleibt dabei natürlich im Ganzen eher überschaubar. Umfangreichere Initiativen, die konkret das Anliegen verfolgen, den Dialektgebrauch auszuweiten, zielen v. a. auf die Einführung von Unterricht in Kindergärten und Schulen ab. Gemeinsam ist diesen Initiativen, dass sie sowohl an die Varietät als auch an Lehrende und Lernende Anforderungen stellen, die das Bairische an sich momentan nicht erfüllen kann: Völlig unklar ist beispielsweise, welche Ausprägung des Bairischen der Gegenstand des Unterrichts sein soll. Falls der lokale, in seiner Reichweite äußerst begrenzte Ortsdialekt das Lernziel sein soll, kommen nur ortsansässige, voll dialektkompetente Personen als Vermittler in Frage. Dieses Szenario ist unpraktikabel; auch, weil die Unterrichtssituation nicht mehr dieselbe wie die bis etwa zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschende ist, als Unterricht insbesondere in ländlichen Regionen in der dialektalen Muttersprache der Lehrkräfte stattfinden konnte. Die heutigen Lehrkräfte haben (je nach Ursprungsregion) bereits in vielen Fällen Standarddeutsch, einen standardnahen Regiolekt oder maximal einen vom Unterrichtsort abweichenden Dialekt als L1. Soll dagegen eine Form des Bairischen mit weiterer regionaler Reichweite unterrichtet werden, so sind wiederum entweder entsprechende Muttersprachlerinnen und Muttersprachler gezielt zur Multiplikation an bestimmte Arbeitsorte zu koordinieren, oder Lehrkräfte ohne muttersprachliche Kenntnisse müssen gezielt für diese Aufgabe geschult werden. Letztere würden dann als Fremdsprachler eine Form von bairischem Fremdsprachenunterricht anbieten. Auch unter der Annahme, dass dies logistisch und finanziell zu bewerkstelligen wäre, erfordert es standardisiertes Lernmaterial, nicht zwangsläufig auf Seiten der Kinder, wohl aber auf Seiten der Lehrenden. Hier stellt sich erneut das Problem eines nötigen Devariationsprozesses. Für den Unterricht müssten gezielt Varianten (im Regelfall solche mit größerer Reichweite) gegenüber anderen bevorzugt werden. Die Bairische Grammatik von MERKLE (2005) etwa, die diesem benötigten

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Unterrichtsmaterial momentan noch am nächsten kommt, ist bereits völlig variationsfrei. Außerdem ist spätestens zu diesem Zeitpunkt ein regelgeleitetes und eindeutiges Orthographiesystem notwendig – also Kodifikation, HAUGENs (1983: 275) zweite Standardisierungsstufe (s. Abschnitt 2.3). Wie ein solches für das Bairische aussehen könnte, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt unklar. Das lauttreue Teuthonista-System, das beispielsweise in den oberdeutschen Dialektatlanten Anwendung findet, ist für den Laiengebrauch sicherlich zu fremd und überdies zu detailliert. Quasi auf der gegenüberliegenden Seite des möglichen Spektrums stehen Orthographiesysteme wie das von ZEHETNER (2005), das bis auf die Markierung des bairischen vorderen /a/ mittels Akutschreibung mit dem standarddeutschen System weitgehend identisch ist. Gegen ein solches System könnte im Vergleich zu einem strenger lautlich orientierten mangelnde Gegenstandsadäquatheit ins Feld geführt werden, schwerer wiegt aber vermutlich ein wahrnehmungspsychologisches Phänomen: Diese Orthographie könnte optisch nicht distinkt genug wirken, um die Eigenständigkeit des Bairischen gegenüber dem Standarddeutschen zu visualisieren.4 Um tatsächlich strukturiert Bairisch an bayerischen Kindergärten und Schulen vermitteln zu können, sind also noch einige grundlegende Standardisierungsentscheidungen notwendig. Gleichzeitig ist aber auch, falls dieser Unterricht (und generell auch andere Stützinitiativen) nachhaltig zur Stärkung der Position des Bairischen führen soll, intensiver Ausbau des Bairischen notwendig. In Ermangelung dessen führen die bisherigen Pilotversuche bislang zu funktional nur äußerst begrenzten bzw. spezialisierten Resultaten, wie z. B. dem Auftreten „in Hauptrollen eines dialektalen Singspiels“5 oder der Vermittlung von basalem Küchenwortschatz, begleitet von der lakonischen Eigeneinschätzung „Ein paar Batzen bleiben hängen“.6 Sehen wir – vielleicht ungerechtfertigterweise überspitzt – diese beiden Beispiele mal als typisch für aktuelle Stützversuche des Bairischen an und denken sie zu Ende. Zunächst zum ersten Beispiel, der kulturell spezifizierten Vermittlung: In der hochgradig literalen Gesellschaft, in der die betroffenen Kinder ihren Alltag erleben, kann das Resultat dieser Vermittlung nicht als konkurrenzfähiges Kommunikationssystem dienen, oder anders gesagt: Es entsteht bei den Kindern vielleicht ein emotionaler, aber kein funktionaler Anreiz dafür, eine im Grunde nicht alltagstaugliche Varietät außerhalb des Elternhauses zu erwerben bzw. als Fremdsprache zu lernen. Über die kultursemiotische Dimension hinaus kann eine Varietät erst dann als Alternative oder gleichwertige Option fungieren, wenn sie einen ähnlichen Ausbaugrad wie ihre Konkurrenten aufweist. Dieser Ausbaugrad wiederum ist an weitere Standardisierungsschritte gebunden (HAUGEN 1983: 275: „Implementation (educational spread)“ und „Elaboration (functional development)“, s. Abschnitt 4

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In diesem Zusammenhang sei z. B. auf die Orthographiesysteme im Luxemburgischen, Jiddischen und Älvdalischen verwiesen, die jeweils zumindest teilweise dadurch motivierbar sind, den Abstand zum Standarddeutschen bzw. Schwedischen auch visuell zu markieren. So gefunden auf ; Stand: 01.02.2021. Vgl. ; Stand: 01.02.2021.

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2.3). Treffen nun die entsprechenden Faktoren zusammen – Bairisch unterläuft Devariation und Kodifikation, wird durch Literalisierung und Ausbau zu einer deoralisierten Varietät, die als N2/L2 fungiert –, dann erwerben die Kinder auf diesem Weg letztlich eine denaturierte, revitalisierte Varietät (s. Abschnitt 2.4). Nun zum zweiten Beispiel, dem Ansatz, über den Alltagswortschatz der Kinder anzusetzen: Ergebnis dieser Bemühungen ist eine bairisch relexifizierte L1-Varietät der Kinder. Das strukturelle System, auf dem die Lexik sitzt, bleibt aber ein ehemaliges L2System, nämlich der Standard bzw. der Regiolekt (dessen Struktur zu einem großen Teil standardvermittelt ist, vgl. WEISS 2004: 651: „even the more informal colloquial variants are all descendants of Standard German“). Letztlich bewahrt man auf diesem Weg zwar einen Teil des bairischen Wortschatzes, aber nur als Lehnelemente innerhalb eines strukturell denaturierten Systems. Offenbar ist der Denaturierungsprozess im Bairischen in seinen Initialbedingungen zu beobachten: Der Grad an Standardisierung und Ausbau sind noch gering, Devariation tritt in der Hauptsache als Folge von Attrition auf, nicht aufgrund von Standardisierungen.7 Die oben (in Abschnitt 2.4) skizzierte Denaturierungs-Modellgleichung sagt für die beobachteten, eher niedrigen Attritions- sowie Standardisierungswerte nur einen geringen Grad an Denaturierung voraus, und das scheint zum momentanen Stand auch zutreffend zu sein. Voraussagen sind schwierig, eines der prinzipiell möglichen Zukunftsszenarien des Bairischen lässt sich jedoch aus der Geschichte und heutigen Situation des Niederdeutschen extrapolieren. Wir werden uns daher im folgenden Abschnitt ausführlicher damit beschäftigen. 3.2 Niederdeutsch Das Niederdeutsche, also diejenigen in Norddeutschland gesprochenen Varietäten, die üblicherweise durch das Ausbleiben der hochdeutschen Lautverschiebung abgegrenzt werden, befinden sich schon zum zweiten Mal in einer möglichen Denaturierungssituation. Bereits zur Hansezeit durchlaufen die niederdeutschen Dialekte Prozesse, die als Anzeichen von Standardisierung gewertet werden könnten: Ab dem 13. Jahrhundert beginnen mehrere regionale niederdeutsche Schreibsprachen, das Lateinische in seiner Funktion als Schreibsprache zu ersetzen (vgl. PETERS 1985: 1276). Lübeck fungiert aus juristisch-administrativen Gründen als eine Art normvermittelndes Zentrum des norddeutschen Städtebunds: Von Lübeck aus erhalten die Ostseestädte Rechtsauskünfte, die betreffenden Städte akkommodieren im Schriftverkehr hin zu Lübecker Formen (vgl. GESENHOFF / RECK 1985: 1281; POLENZ 2000: 109; VANDENBUSSCHE 2007: 29; LANGER 2003: 286–293). Von dort aus setzen sich strukturelle Vereinheitlichungen (z. B. der Einheitsplural, den die

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Vgl. die folgende pessimistische Passage aus dem Vorwort der Bairischen Grammatik von MERKLE (2005: 7): „Was immerhin blieb, ist ein gewissermaßen allgemeines Bairisch, zu dem sich die Mundarten mehr und mehr nivellieren. Es entspricht etwa dem, was man in München und Umgebung redet.“

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niederdeutschen Dialekte bis auf ein südliches Randgebiet bis heute8 aufweisen) durch. Diese strukturellen Vereinheitlichungen der Lübecker Stadtsprache sind mutmaßlich darauf zurückzuführen, dass es dort aufgrund von „Mehrdialektalität“ (PETERS 2000: 1496) zu „einem innerstädtischen Sprachausgleich“ (PETERS 2000: 1498) kam. Die schriftsprachliche Vereinheitlichung ist dabei nicht Voraussetzung des Übergangs vom Lateinischen zum Niederdeutschen, sondern erst seine Folge (vgl. PETERS 1985: 1277). Als die wirtschaftliche Vormachtstellung der Hanse schwindet (während in Süddeutschland der Frühkapitalismus der Fugger und anderer Kaufmannsdynastien entsteht), schwindet auch das Prestige des Niederdeutschen; über die kommenden Jahrhunderte hinweg wird das Niederdeutsche zuerst in der öffentlichen Kommunikation durch die „Fremdsprache“ Hochdeutsch ersetzt. Die Frage, inwiefern die Entwicklungen im Mittelniederdeutschen als Standardisierung im Sinne HAUGENs (1983; 1994) gelten können, wird bei LANGER (2003: 293–298) diskutiert. Dieser kommt zu dem Schluss, dass insbesondere das Merkmal der Kodifizierung (also HAUGENs Punkt (2)) nicht erfüllt werde: „There was no standardized Middle Low German in the technical sense at any given point in time because it was never codified or monitored.“ Dennoch: Quantitative Analysen des zusammenhängenden deutschen Sprachgebiets zeigen, dass bereits in den Wenker-Daten der niederdeutsche Raum relativ wenig interne regionale Variation aufweist, die niederdeutschen Dialekte also strukturell geringere Unterschiede untereinander aufweisen als z. B. die süddeutschen Dialektverbände (vgl. insbesondere die Analysen durch LAMELI 2013; 2016). Momentan sind zwei Entwicklungen auszumachen, die im gegenwärtigen Zusammenhang eine Rolle spielen: Zum einen ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Beschleunigung im Rückgang des Niederdeutschen nun auch als Familien- und Alltagssprache zu verzeichnen; es findet ein „durchgreifender Sprachwechsel“ (ADLER et al. 2016: 6) hin zum Hochdeutschen statt, Niederdeutsch ist also starker Attrition ausgesetzt. Gleichzeitig ist in jüngerer Zeit eine Intensivierung von Förderungs- und Revitalisierungsmaßnahmen zu verzeichnen, allen voran eine stärkere Verankerung des Niederdeutschen in der Schule in Form von Spracherwerbsunterricht (zumindest in einem Teil der norddeutschen Bundesländer) (u. a. GOLTZ 2015; JÜRGENS / SPIEKERMANN 2019). Während also immer weniger Menschen Niederdeutsch im Rahmen eines ungesteuerten Erstspracherwerbs lernen, wächst die Anzahl derer, für die Niederdeutsch den Status einer L2 hat. Begleitet werden diese Entwicklungen von einer Diskussion der mit ihnen verbundenen Herausforderungen und Probleme, wie etwa der Verschriftlichung (im historischen Kontext hierzu LANGHANKE 2017) und Normierung (KELLNER 2005; ELMENTALER 2009). Dabei ist innerhalb der Wissenschaft ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür auszumachen, dass dieselben Schritte, die eigentlich der Stärkung der Dialekte dienen sollen, in Form von Normierungen selbst zu einer Bedrohung regionaler Vielfalt werden könnten. 8

Unter standarddeutschem Einfluss kommt es inzwischen jedoch auch in anderen niederdeutschen Dialekten zu einem Angleich an das standarddeutsche Muster, vgl. LINDOW et al. (1998: 65).

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Auskunft über den Dialektverlust der vergangenen Jahrzehnte im norddeutschen Raum gibt u. a. die Untersuchung zum „Status und Gebrauch des Niederdeutschen 2016“ (ADLER et al. 2016) im Vergleich mit früheren Untersuchungen. Für 2016 ergibt sich, dass zwar noch etwa die Hälfte der befragten Norddeutschen angibt,9 Platt gut oder sehr gut zu verstehen (ADLER et al. 2016: 10), aber nur knapp 16 % angeben, gut oder sehr gut Platt zu sprechen (ADLER et al. 2016: 14). Dieser Wert unterscheidet sich zwar nur geringfügig im Vergleich mit einer Erhebung von 2007 (MÖLLER 2008: 32); verglichen mit der GETAS-Umfrage von 1984 (STELLMACHER 1987)10 ergibt sich jedoch ein Rückgang guter oder sehr guter Sprecher um etwa die Hälfte (ADLER et al. 2016: 15). Niederdeutschkompetenz ist heute am ehesten noch bei den älteren Generationen anzutreffen (ADLER et al. 2016: 16): Während etwa bei den über 80-Jährigen noch die Hälfte angibt, sehr gut oder gut Platt zu sprechen, sind es bei den 40–49-Jährigen nur noch knapp 12 %, bei den 20– 29-Jährigen nur noch 9 % und bei den unter 20-Jährigen nur noch 0,8 %. Wie in der Umfrage von 2007 erhoben, spricht nur noch eine Minderheit derjenigen, die noch über eine gewisse Niederdeutschkompetenz verfügen, überwiegend Platt mit den Kindern (MÖLLER 2008: 47). GOLTZ (2015: 17–18) wertet den Bestand des Niederdeutschen als „erheblich gefährdet“. Wie ELMENTALER (2009: 342) ausführt, bleiben diese Entwicklungen nicht ohne Folgen für die Struktur der niederdeutschen Dialekte: So schwindet zum einen die Rolle rein intradialektalen Wandels. Zum anderen nehmen interdialektale Ausgleichsprozesse ab. Denn Niederdeutsch ist weitgehend auf den kommunikativen Nahbereich beschränkt; für Gespräche mit Sprecherinnen und Sprechern aus anderen Regionen wird auf das Standarddeutsche zurückgegriffen. An die Stelle des intra- und interdialektalen Wandels tritt ein verstärkter Einfluss des Standarddeutschen; es kommt zu einer zunehmenden „Verhochdeutschung“ (ELMENTALER 2009: 342; Anführungszeichen im Original) des Niederdeutschen. Als Reaktion auf diese Entwicklungen ist eine stärkere institutionalisierte Förderung des Niederdeutschen gefordert worden und v. a. im Laufe der letzten Jahre in Form von Niederdeutschunterricht an Schulen auch tatsächlich erfolgt. So postuliert etwa GOLTZ (2015: 19), dass es „[a]ngesichts der Entwicklungen und der derzeitigen Rahmenbedingungen [...] nicht aus[reicht], die Weitergabe des Plattdeutschen allein den Familien zu überlassen.“ Und wie ADLER et al. (2016: 32–37) zeigen, geben auch zwei Drittel der Norddeutschen selbst an, dass „mehr für Plattdeutsch getan“ werden sollte – wobei die meisten davon (63,8 %) dabei die Schulen in der Pflicht sehen.11

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S. Anm. 2 zu den Problemen und Grenzen der Erhebung von Sprachkompetenz über Selbsteinschätzung. 10 S. MENGE (1995) zu methodischen Schwächen dieser Untersuchung, u .a. mit Blick auf die Frage, auf welche absolute Anzahl von Sprecherinnen und Sprechern die Befragungsergebnisse hindeuten. 11 Gleichzeitig ergeben die Umfragen (STELLMACHER 1987: 21–22; MÖLLER 2008: 34) eine erhebliche Diskrepanz zwischen Sprachkompetenz und Sprachgebrauch: Viele derjenigen, die angeben, Platt zu sprechen, tun dies in der Praxis eher selten. Wie MENGE (1995: 657–658) feststellt, kann daraus implizit auch auf einen mangelnden Erhaltungswillen geschlossen werden.

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Den wohl aktuellsten Überblick über den derzeitigen Stand der Verankerung des Niederdeutschen in den Bildungssystemen der norddeutschen Bundesländer bieten JÜRGENS / SPIEKERMANN (2019). Wichtiger Impulsgeber für die erfolgten Maßnahmen war die Anerkennung des Niederdeutschen als Regionalsprache im Rahmen der EU-Charta der Regional- und Minderheitensprachen, womit sich die norddeutschen Bundesländer zum Schutz und zur Förderung des Niederdeutschen verpflichten.12 Während Niederdeutsch zuvor (wenn überhaupt) in der Regel nur im Rahmen von freiwilligen AGs oder innerhalb des regulären Deutschunterrichts behandelt wurde, führte Hamburg 2010 als erstes Bundesland Niederdeutsch als eigenständiges Schulfach an einigen Grundschulen ein. Erklärtes Ziel war der „Erwerb“ der Regionalsprache; als Orientierungshilfe für den Bildungsplan fungierten u. a. Lehrpläne zum Englischunterricht (GOLTZ 2015: 29). 2014 folgten SchleswigHolstein und Bremen, 2016 Mecklenburg-Vorpommern. Einen Eindruck von der momentanen Dynamik im Ausbau des Unterrichtsangebots vermittelt u. a. der Sprachenchartabericht 2019 der Landesregierung Schleswig-Holstein: In diesem Bundesland wurde systematischer Sprachunterricht 2014 im Rahmen eines Modellprojekts an 27 Grundschulen (zunächst im ersten, später bis zum vierten Jahrgang) eingeführt; inzwischen (ab dem Schuljahr 2019/20) wird Niederdeutsch an 32 Grundschulen und 9 Sekundarschulen unterrichtet (Landesregierung SchleswigHolstein 2019: 37–38). Als problematisch gilt bislang die geringe Zahl ausgebildeter Fachlehrerinnen und Fachlehrer sowie ein Mangel an geeigneten Unterrichtsmaterialien, wobei auch hier v. a. in den letzten Jahren eine Reihe von Aktivitäten zu verzeichnen ist (JÜRGENS / SPIEKERMANN 2019): An der Universität Greifswald hat 2017 das „Kompetenzzentrum für Niederdeutschdidaktik“ seine Arbeit aufgenommen. An den Universitäten Kiel und Oldenburg kann seit einigen Jahren Niederdeutsch als eigenständiges Unterrichtsfach bzw. als Ergänzungsfach studiert werden, in Flensburg als Teil des Deutschstudiums. Schließlich sind in den vergangenen Jahren in Schleswig-Holstein die Sprachlehrbücher Paul un Emma snackt plattdütsch (Institut für niederdeutsche Sprache 2015) (für die 1. und 2. Klasse) und Paul un Emma un ehr Frünnen (Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik der Europa Universität Flensburg 2018) (3. und 4. Klasse) erarbeitet worden, Lehrwerke, die sich ausdrücklich an einer modernen Fremdsprachdidaktik orientieren. Ihr Ansatz umfasst die Gestaltung einer durchweg niederdeutschsprachigen Umwelt (wie sie so in Norddeutschland heute allerdings wohl kaum mehr irgendwo vorzufinden wäre). So sind dort z. B. sogar sämtliche Schilder im Supermarkt auf Niederdeutsch verfasst: BioHackfleesch € 3,50 Dat smeckt! ‚Bio-Hackfleisch € 3,50 Das schmeckt!‘ (Institut für niederdeutsche Sprache 2015: 30–31). Es ist davon auszugehen, dass Niederdeutsch nicht nur für die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler, sondern zunehmend bereits auch schon für die neu 12 In Niedersachsen, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern erfolgt die Förderung nach Teil III der Charta, der konkrete Förderungsbereiche (u. a. Bildung und Medien) benennt. In Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg erfolgt die Förderung nur nach dem allgemeiner gehaltenen Teil II (vgl. JÜRGENS / SPIEKERMANN 2019).

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ausgebildeten Fachlehrerinnen und Fachlehrer eine Fremdsprache sein wird (vgl. die o. g. Zahlen zur Niederdeutschkompetenz in den jüngeren Generationen). Das Hochschulangebot ist darauf eingestellt: So findet sich auf der Internetseite der Universität Kiel der Hinweis, dass „eine aktive niederdeutsche Sprachkompetenz [...] keine Studienvoraussetzung [ist]. Ein Sprachkurs zum Einüben des aktiven Sprachgebrauchs des Niederdeutschen ist in das Ergänzungsfach integriert.“13 Auch an der Universität Oldenburg zählen u. a. „niederdeutsche Spracherwerbskurse für Anfänger und Fortgeschrittene“ zu den Studieninhalten.14 Die Vermittlung des Niederdeutschen an Nicht-Muttersprachlerinnen und Nicht-Muttersprachler wird vielfach also auch durch Nicht-Muttersprachlerinnen und Nicht-Muttersprachler erfolgen. Auch hierin besteht eine Ähnlichkeit mit Fremdsprachenfächern wie etwa dem Fach Englisch. Die Einführung des Niederdeutschunterrichts hat die Frage nach der anzusetzenden Zielnorm aufgeworfen (also HAUGENs Punkt (1)) bzw. – etwa im Falle des Lehrwerks Paul un Emma – bereits zu diesbezüglichen Entscheidungen geführt. Dass die gesteuerte Vermittlung des Niederdeutschen bestimmte Normierungen erfordert bzw. zumindest als Begleiterscheinung mit sich bringen kann, scheint dabei weitestgehend akzeptiert. So heißt es etwa im Vorwort der Niederdeutschen Grammatik (LINDOW et al. 1998), einer Referenzgrammatik, die sich ausdrücklich an „Lehrende und Lernende des Niederdeutschen“ (1998: 21) richtet: „Obwohl die Grammatik keine Normierung des Niederdeutschen beabsichtigt, kann sie gleichwohl in diese Richtung wirken.“ Gleichzeitig wird – man versteht: angesichts des Rückgangs der gesprochenen Dialekte – „eine derartige Wirkung von den Verfassern in Kauf genommen, sofern sie die Eigenständigkeit des Niederdeutschen stabilisiert“. Zur Diskussion stehen u. a. jedoch die Frage danach, wie diese Norm aussehen sollte (ELMENTALER 2009) sowie die Frage nach dem richtigen Maß an Normierung (KELLNER 2005). Zwar existieren bereits eine Reihe kodifizierender Werke (vgl. HAUGENs Punkt (2)) v. a. für eines der niederdeutschen Dialektareale,15 nämlich für das Nordniedersächsische, die größte Dialektgruppe und zugleich diejenige, die in den relativ dialektstarken (bzw. weniger dialektarmen) Regionen (u. a. Schleswig-Holstein) gesprochen wird. Allerdings existiert keine dialektübergreifende Standardform. Zu nennen sind hier u. a. zwei umfangreiche Referenzgrammatiken: Neben der o. g. Niederdeutschen Grammatik (LINDOW et al. 1998) die SASS Plattdeutsche Grammatik (THIES 2010), die sich ebenfalls an Lehrende und Lernende richtet.16 Was den 13 Niederdeutsch (Ergänzungsfach, Profil Lehramt an Gymnasien und Gemeinschaftsschulen / Profil Wirtschaftspädagogik), ; Stand: 01.02.2021. 14 Niederdeutsch studieren, ; Stand: 01.02.2021. 15 Zur Gliederung des niederdeutschen Raums s. z. B. STELLMACHER (2000: 107–170). 16 Beide beziehen sich ausdrücklich auf einen Teil des nordniedersächsischen Sprachgebiets (LINDOW et al. 1998: 21; THIES 2010: 30). Zwar gehen LINDOW et al. (1998) an manchen Stellen auch darüber hinaus, allerdings geschieht dies „nur ergänzend“, wobei „zahlreiche Eigenarten kleinerer Sprachräume unberücksichtigt bleiben“ müssen (1998: 21).

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Wortschatz betrifft, liegt mit der neue SASS. Plattdeutsches Wörterbuch (KAHL / THIES 2016) zudem ein weit verbreitetes Wörterbuch bereits in der achten Auflage vor. Auch dieses bezieht sich auf ein Niederdeutsch nordniedersächsischer Prägung. Die Frage, was für eine Art von Niederdeutsch als Norm für den Sprachunterricht (HAUGENs Punkt (3)) dienen sollte, ist also alles andere als offensichtlich. Überlegungen dazu finden sich u. a. bei ELMENTALER (2009), der dafür plädiert, die Norm aus der jeweils regional und aktuell geltenden Praxis heutiger Niederdeutschsprecherinnen und -sprecher abzuleiten (2009: 346). Diese gelte es zunächst aber einmal empirisch zu erschließen. Die o. g. kodifizierenden Werke seien zumindest für den Unterricht außerhalb des nordniedersächsischen Raums (sowie in Regionen innerhalb dieses Raums, die eine deutlich eigene Prägung aufweisen) nur von eingeschränktem Nutzen. Außerdem trügen sie einen „stark konservativen Zug“ (ELMENTALER 2009: 347). Wie Elmentaler zeigt, entspricht eine Reihe der dort angegebenen Merkmale nicht mehr der heutigen Sprachpraxis. Ein Beispiel dafür ist etwa der Wandel von [s] zu [ʃ] vor l, m, n, w, p und t (slapen > schlapen ‘schlafen’) (ELMENTALER 2009: 359). Sich an der aktuellen Sprachpraxis zu orientieren, würde somit auch bedeuten, im Gegensatz zu puristischen Ansätzen bereits erfolgten Konvergenzentwicklungen in Richtung auf das Standarddeutsche nicht entgegenwirken zu wollen, sondern – im Gegenteil – diese anzuerkennen. KELLNER (2005) diskutiert die Frage nach dem rechten Maß an Standardisierung. Dabei geht sie auch auf die Gefahren eines Übermaßes ein (KELLNER 2005: 23 sowie 26–27): Zum einen müsse vermieden werden, „dass zugunsten der Betonung sprachlicher Eigenständigkeit eine vom Sprachalltag abgehobene Variante entsteht, die bei den Sprechern Ablehnung oder Entfremdung hervorruft“ (KELLNER 2005: 26). Als Beispiel nennt sie bestimmte Lehnübersetzungen wie den Töövruum – denn auch im Niederdeutschen sitze man im Wartezimmer (KELLNER 2005: 26). Zum anderen liege eine Gefahr im Funktionsausbau (also HAUGENs Punkt (4)), nämlich dann, wenn er zur Schaffung eines standardisierten Registers führe, das genau die gleichen Funktionen erfüllt wie die „Mehrheitssprache“, d. h. hier: das Hochdeutsche. Denn sobald diese beiden Varietäten austauschbar würden, sei zu erwarten, dass aus Ökonomiegründen eine der beiden das Nachsehen hat – und das sei am ehesten die „Minderheitssprache“, d. h. hier: das Niederdeutsche (KELLNER 2005: 27). Eng damit zusammen hängt auch die Gefahr einer Nivellierung regionaler Unterschiede: „Niederdeutsch [lebt] in geschriebener Form, ob es nun um Belletristik oder um Sachtexte geht, gerade davon, dass es regionale Eigenheiten zum Ausdruck bringen kann – und damit der Schriftsprache etwas hinzuzufügen oder auch: etwas entgegenzusetzen hat“ (KELLNER 2005: 23). Es wird also die Gefahr gesehen, dass ein Übermaß an Normierung, Kodifizierung und Funktionsausbau die Akzeptanz (vgl. HAUGEN 1966: 933) unter den Sprecherinnen und Sprechern verspielt. Im Zuge der Erstellung der Paul-un-Emma-Lehrwerke mussten bereits Entscheidungen in Bezug auf die Zielnorm getroffen werden: Die Bücher orientieren sich an der o. g. SASS-Grammatik und dem o. g. SASS-Wörterbuch (JÜRGENS / SPIEKERMANN 2019). Das ist insofern naheliegend, als sie zunächst für den Einsatz

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Simon Pröll / Thilo Weber

im nordniedersächsischen Sprachraum konzipiert wurden. Allerdings sei ein übergreifendes Konzept verfolgt worden (LANGHANKE 2017: 117): Es sei zwar die Schriftsprache normiert, allerdings dürfe die Aussprache regional variieren. Außerdem gehöre es zum Konzept, dass in einem zweiten Schritt die Sprachanteile jeweils für die dialektalen Großlandschaften ausgetauscht werden können. Diesen Ansatz umsetzend, existiert seit 2018 das erste Paul-un-Emma-Buch auch in einer Variante für Mecklenburg-Vorpommern (Paul un Emma schnacken plattdüütsch, Institut für niederdeutsche Sprache und Heimatverband Mecklenburg-Vorpommern e. V. 2018). Als Zielnorm würde somit nicht eine niederdeutsche Standardvarietät fungieren, sondern eine begrenzte Anzahl (teil-)standardisierter Großraumdialekte. Ein bestimmtes Maß an Devariation wäre auch innerhalb dieses Modells unumgänglich: Besonders kleinräumige Dialektmerkmale könnten kaum Berücksichtigung finden. Allerdings bliebe regionale Vielfalt zumindest großräumlich erhalten. Im Niederdeutschen ist also bereits fortgeschrittene Attrition zu beobachten, auf die mit klaren sprachplanerischen Standardisierungsmaßnahmen reagiert wird; entsprechend ist der Denaturierungsgrad hoch. 3.3 Färöisch Färöisch, also der nordgermanische Varietätenverbund, der auf den Färöern (einer außenpolitisch mit Dänemark assoziierten Gruppe aus 18 nordatlantischen Inseln, die ab dem neunten Jahrhundert hauptsächlich von Westnorwegen aus besiedelt wurden) von etwa 50.000 Menschen gesprochen wird, liefert weiterführende Evidenz für mögliche Denaturierungsszenarien. Für Jahrhunderte war es praktisch ausschließlich orale Erstsprache. Dabei wurde es dauerhaft vom Dänischen überdacht, das mündlich wie schriftlich die offizielle Sprache der Verwaltung, der Kirche, der Schulen und jeglicher Form des öffentlichen Lebens war (vgl. HAGSTRÖM 2005: 1750), während Färöisch als Sprache der Nähe in den Familien im öffentlichen Kontext marginalisiert war und praktisch keinerlei Schreibtradition hatte. Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine breitere gesellschaftliche Bewegung hin zur sprachlichen Emanzipation. Der große Unterschied zum Bairischen und insbesondere zum Niederdeutschen ist natürlich, dass das Färöische nicht in dem Sinne revitalisiert werden sollte bzw. musste: Es wurde im Privatbereich von der Besiedlung an bis heute kontinuierlich genutzt und von jeder Generation als L1 erworben, trotz starkem institutionellem Druck durch das Dänische. Dank dieser Kontinuität als L1 muss daher ein höherer Standardisierungsgrad nicht zwangsläufig eine starke Denaturierung bedingen, da der niedrige Attritionswert (quasi [ˈkhɔːlɪ] ‘Kalk’). Erst die neuere phonologische Typologie hat den prosodischen Charakter des Phänomens erkannt und auf die Bedeutung der Silben- und Wortstrukturen hingewiesen (vgl. VENNEMANN 1986; AUER 2001). Die Struktur einer Silbe ist dann optimal, wenn sie einen möglichst starken Konsonanten (C) im Silbenonset (in absteigender Reihenfolge: Plosiv, Affrikata, Frikativ) und einen Vokal (V) im Silbennukleus hat; eine komplexe Coda soll dabei möglichst vermieden werden oder die Coda unbesetzt bleiben. Sogenannte Silbensprachen wie das Spanische oder das Althochdeutsche tendieren zu einer solchen Optimierung der phonologischen Silbe, indem

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sie Strukturen des Typs CV.CV oder CV.CVC favorisieren (vgl. ahd. ge.lo ‘gelb’, mi.luch ‘Milch’, pe.reg ‘Berg’, fa.ra.wa ‘Farbe’). Im Lauf der deutschen Sprachgeschichte kam es zu einer stetigen Verschlechterung der phonologischen Silbe bei gleichzeitiger Profilierung des phonologischen Wortes (vgl. SZCZEPANIAK 2007). Die neuhochdeutsche Standardsprache gilt somit als ausgesprochene Wortsprache, die auch komplexere Konsonantencluster nicht scheut (vgl. ahd. herbist > nhd. Herbst). Die Dialekte des Deutschen verhalten sich diesbezüglich dagegen recht unterschiedlich. Nicht alle sind dem Beispiel der nhd. Gemeinsprache gefolgt, manche streben wie das Althochdeutsche nach einer Optimierung der Silbenstruktur. Die Vokalepenthese wird dabei als nützliches Mittel eingesetzt und erfährt durch weitere Entwicklungen wie den Schwund des auslautenden Konsonanten zusätzliche Unterstützung: Bair.-mhd. përc ‘Berg’, khalch ‘Kalk’ und schëlch ‘schief’ (CVCC) werden durch Epenthese zunächst zu bair.-frühnhd. berig, khɔlich und schelich (CV.CVC) und in der Folge durch Konsonantenschwund zu mittelbair. beri, khɔli und scheli (CV.CV). 3 SPROSSVOKALE IN DER DEUTSCHEN SPRACHGESCHICHTE Wie oben bereits angedeutet, sind Sprossvokale bereits am Beginn der deutschen Sprachgeschichte zu finden; sie begegnen auch in prominenten Texten wie dem „Wessobrunner Schöpfungsdicht“ (Hs. Clm 22053, 65v und 66r; vgl. BRAUNE / EBBINGHAUS 1994: 85–86): Dat gafregin ih mit firahim firiuuizzo meista Dat ero ni uuas noh ufhimil. noh paum noh pereg ni uuas […] Cot almahtico, du himil enti erda gauuorahtos […] enti dinan uuilleon za gauurchanne

In diesem um das Jahr 800 datierten Text zeigen sich mehrere Formen mit Vokalepenthese, und zwar in ahd. fer(a)h ‘Geist, Leben, Mensch’, in ahd. pereg ‘Berg’ sowie in der Präteritalform gauuorahtos zu ahd. giwurchen ‘wirken’. In der entsprechenden Infinitivform gauurchanne im letzten Vers fehlt allerdings der Sprossvokal, womit sich bereits an diesem kurzen Textstück zeigt, dass die Vokalepenthese offenbar fakultativ eingesetzt werden kann. Nach den Zählungen von REUTERCRONA (1920) und LIPPE (1983) kommt es im 8./9. Jahrhundert zunächst in alemannischen Texten, ab dem 10. Jahrhundert vor allem in bairischen Texten zu einer raschen Zunahme an Sprossvokalformen. Nach einem vorläufigen Höhepunkt im 11. Jahrhundert nimmt ihre Zahl gegen das 12. Jahrhundert hin wieder deutlich ab. Da in der klassischen mittelhochdeutschen Dichtung Sprossvokalformen fast völlig fehlen, geht die gängige Lehrmeinung (z. B. KRANZMAYER 1956: 121; BRAUNE / REIFFENSTEIN 2004: 71) davon aus, dass die Vokalepenthese zu Beginn des Hochmittelalters überhaupt zum Erliegen kam und dass zwischen der althochdeutschen Epenthese und den seit dem 13. Jahrhundert (wieder) neu aufkeimenden Sprossvokalen eine deutliche Zäsur bestehe.

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Dagegen hält etwa AUER (1997: 58–60) den Fortbestand der althochdeutschen Vokalepenthese bis ins Spätmittelalter gerade im Bereich der Mündlichkeit für grundsätzlich möglich. Mangels geeigneter Quellen lässt sich eine solche Kontinuität jedoch weder hinreichend beweisen noch gänzlich negieren. Ab dem 14. Jahrhundert kommt es zu einer starken Zunahme an deutschsprachigen Urkunden und Handschriften, in denen vor allem Grundverkehrs-, Steuer- und Erbschaftsangelegenheiten geregelt werden. Zu diesen Verwaltungstexten kommen in den folgenden Jahrhunderten weitere Textsorten wie Steuerverzeichnisse, Protokollbücher und Akten sowie kirchlicherseits ab etwa 1600 Tauf-, Hochzeits- und Begräbnisbücher. Durch die zunehmende Erschließung und Publikation solcher Gebrauchstexte steht uns heute umfangreiches Material zur Verfügung, das auch sprachliche Phänomene wie die Vokalepenthese relativ leicht zugänglich macht. Obwohl in literarischen Werken des Spätmittelalters der Gebrauch von Sprossvokalen eher die Ausnahme bildet, lassen sich gerade in österreichischen Chroniken einige Beispiele dafür finden: In der Steirischen Reimchronik Ottokars ist Sprossvokal im Wort purig belegt (MGH Dt. Chron. 5.1: 305), ebenso in der Weltchronik des Jans Enikel, wo sich ebenfalls der Beleg dy purig findet (MGH Dt. Chron. 3: 474). Die von manchen vertretene Ansicht, Sprossvokale seien ein Spezifikum niederer Gesellschaftsschichten und „zu jeder Zeit für grob bäuerlich gehalten“ worden (GRAU 1939: 60), ist heute aufgrund besserer Quellenkenntnis überholt. In größerer Zahl treten Sprossvokale in den Dokumenten der Stadtverwaltungen, der Landesverwaltung des Erzherzogtums ob der Enns und sogar in landesfürstlichen Urkunden auf. Häufig findet sich eine Sprossvokalform in der Intitulatio des österreichischen Herrschers Rudolf IV., und zwar im Wort Marich, das hier als Gebietsbezeichnung bzw. als Namensbestandteil für die Windische Mark, ein Kronland im Bereich des heutigen Slowenien, verwendet wird. In der folgenden Urkunde aus dem Jahr 1362 wird der Herrscher überdies als marichgraf bezeichnet: Wir Růdolff der vierd von Gotes gnaden erczherczog ze Oesterreich ze Steyr und ze Kernden here ze Krain auf der Windischen Marich und ze Portenaw graf ze Habspurch ze Phirt und ze Kyburch marichgraf ze Purgaw und lantgraff in Elsazzen bechennen und tun […] (OÖUB 8 1883: 68–69)

Ein markantes Beispiel stark epenthesenhaltiger Kanzleisprache ist in einer deutschen Übersetzung des Stadtrechtes von Enns zu finden, also jener Stadt, die für sich die älteste Stadtrechtsurkunde Österreichs (aus dem Jahr 1212) beansprucht. Diese Urkunde wurde vom Ratsbürger Hanns von Münspach4 im Jahr 1397 ins Deutsche übersetzt und gemeinsam mit anderen Rechtstexten zu einem Kodex vereinigt. In diesem prestigeträchtigen Dokument des öffentlichen Interesses verwendet der Autor relativ durchgängig Sprossvokale. Einige Passagen mit einschlägigen Formen seien hier präsentiert: […] Ist aber, daz er nichtz hat, vnd mag nicht zaigen, daz da wert ist dreissichk phfvnd solicher guter, als oben gesprochen ist, vnd mag doch vinden fur sich ein purigl, derselb purigl fursprech

4

Münspach, heute Münzbach, ist ein Pfarr- und Marktort nordöstlich von Enns im politischen Bezirk Perg.

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fur in vnd nem in auf sein aigen leben. Aber mag er nicht purigl gehaben, so sol in der richtter gevangen fuern als lang, vncz er richt von im als recht ist, was aber der guter des manslechtigen sein, ob er in dem werich der hant getat oder daz er mit der hant volpracht hat, wegriffen wiert, zu hant von im ertott, so werd gricht von im mit der gerechtichait. Sticht aber ein puriger dem andern ab Hant oder fues oder aug oder di Nasen oder ein solichs gelid, der geb dem Richtter zu Pen zehen phfvnt vnd dem, der den schaden enphangen hat, auch als vil. […] Auch haben wir zu recht gesaczt, welicher puriger sterib, hat er weib oder chinder, der richtter mit nichten vnderbind sich seiner guter oder hawses […] dasselb seczen wir auch alln purigern tochttern enichel, als vor, jst aber, der da stiribt, nicht hat hawsfrawn oder chinder […] seinew guter schullen sein des nagsten seines eribem ob derselb erib gesessen sei vnder den pieten des herczogen. […] Auch haben wir zu recht gesaczt, von welicher stat oder lant ein Auslender chom, ob er stiribt, vnd von sein gutern schicht oder schaffet, dazselb geschefft sol stet weleibem. Ist aber, daz er stirbt vnd nichtz schicht oder schafft, di puriger schullen wehueten die guter des gestaribem jar vnd tag; ob in der zeit yemant chom der eribem oder geselln oder sich geltter rechtleich erzaig, demselben an widersprechvng schullen ingeantwurt werden di guter des erstariben; chvmpt aber nyemant in der zeit, die guter sein des herren vom Land, vnd ste auch in seiner hand, ob er durch des Sell willen icht tun well. […] (OÖUB 2 1856: 541–547)

Der Textausschnitt betrifft vor allem Regelungen für Streit- und Todesfälle. Genannt sind Formen wie purigl ‘Bürge’, puriger ‘Bürger’, enichel ‘Enkel’ und erib, eribem ‘Erbe, Erben’ sowie mehrere Formen des Verbs sterben: sterib ‘stürbe’, stiribt ‘stirbt’ und die guter des gestariben ‘die Güter des Gestorbenen’. Besonders häufig kommt das kanzleisprachliche Wort welicher (häufig in einleitender, hinweisender oder aufzählender Funktion) vor, das im Donauraum zeitlich und räumlich weit verbreitet ist und teils stereotypen, später auch relikthaften Charakter hat. Weitere Beispiele für Epenthesengebrauch finden sich in der landständischen Verwaltung des damaligen Erzherzogtums Österreich ob der Enns. Ein Landeshauptmann aus der Familie der Jörger, einer der angesehensten Familien mit reichem Grundbesitz im Zentrum des Landes, stellt im Jahr 1517 eine Urkunde aus, die den überregionalen Donauhandel regelt. Darin findet sich u. a. ein Sprossvokal im Wort Kirche: „[...] in den Mauthewsern, Scheffweegen, Kirichen, Zechen [...]“ (OÖ. Landesarchiv, Zunftarchivalien, Sch. 91). Derselbe Landeshauptmann lässt im Jahr 1518 ein Urbar zu seiner Herrschaft Tollet anlegen, in dem von der Hand eines geübten Schreibers die Güter und Abgaben verzeichnet werden. Da sich in der Gegend viele Ortsnamen befinden, die auf -berg und -kirchen enden, lässt sich die Verwendung von Sprossvokalen in der Handschrift gut beobachten. Dabei zeigt sich, dass Formen mit Sprossvokal tendenziell bevorzugt, jedoch nicht durchgängig verwendet werden: – – –

ain guet aufm Fuchsperig Halb Hoff zu Wilhartsperig Schuester am Kerschperg

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Abb. 2: Urbar der Herrrschaft Tollet (1518), OÖ. Landesarchiv, Herrschaftsarchiv Tollet, Hs. 1, fol. 6v–7r. (Zitierte Beispiele sind in der Abbildung markiert.)

Auf einer weiteren Doppelseite desselben Urbars finden sich neben Ortsnamen auf -berg (jeweils mit Sprossvokal) und einer Ableitung auf -berger (ohne Sprossvokal) vier weitere Ortsnamenbelege mit dem Grundwort -kirchen, die allesamt Sprossvokal enthalten: – – – – – – –

Hueber zu Aichkirichen Lehner am Pachmansperig Ödtperger Vom guet Walltenperig Hueber Zu Hoffkirichen Guetl zu Hofkirichen Lienhart wirt zu Hofkirichen

Die häufigen Beispiele von Sprossvokalformen lassen es plausibel erscheinen, dass man in der mittelbairisch-frühneuhochdeutschen Varietät auch im Medium der Schriftlichkeit nach einer Optimierung der Silbenstruktur trachtet, indem Konsonantencluster vermieden und Silben des Typs CV bzw. CVC favorisiert werden (z. B. ki.ri.chen, pe.rig). Das nicht selten zu beobachtende Auftreten von Varianten (z. B. Fuchsperig vs. Kerschperg) weist freilich darauf hin, dass die phonologische Strategie der Silbenoptimierung nur tendenziell und keineswegs mit letzter Konsequenz verfolgt wird.

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Abb. 3: Urbar der Herrrschaft Tollet (1518), OÖ. Landesarchiv, Herrschaftsarchiv Tollet, Hs. 1, fol. 25v–26r. (Zitierte Beispiele sind in der Abbildung markiert.)

4 DIE AREALE VERBREITUNG VON SPROSSVOKALEN IN HISTORISCHEN TEXTEN Um nun auch die räumliche Verbreitung von Sprossvokalen in früheren Zeitschichten zeigen zu können, benötigt man geeignetes Quellenmaterial, das im günstigsten Fall digital verfügbar, im Volltext durchsuchbar und geografisch zuordenbar ist. Dass solche Möglichkeiten existieren, sei im Folgenden an zwei Beispielen vorgeführt: Zunächst sollen die Urkunden österreichischer und bayerischer Klöster, die als Digitalisate in der Online-Plattform „Monasterium“ zugänglich sind, auf ein exemplarisches Belegwort hin durchsucht werden. In einem zweiten Schritt soll das Korpus des Projekts „Ortsnamenbuch des Landes Oberösterreich“ ausgewertet werden, das für den begrenzten Raum eines Bundeslandes die Möglichkeit bietet, urkundliches Namenmaterial digital abzufragen und geografisch zu referenzieren. 4.1 Monasterium Die Online-Plattform „Monasterium“ stellt derzeit mehr als 650.000 Urkunden des Mittelalters und der Neuzeit in digitalisierter Form bereit, die meist als Bild- und Textdaten vorliegen. Sie enthält eine Suchfunktion, die es erlaubt, Wörter und Wortteile von Namen und Appellativen im Volltext abzufragen, sofern Transkriptionen oder Regesten der jeweiligen Urkunden existieren. Da insbesondere die Archive der großen Stifte Ober- und Niederösterreichs sehr gut erschlossen sind,

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erweist sich eine Recherche nach Sprossvokalen als zielführend. Die Abfrage wurde am Beispiel des Wortes Berg durchgeführt, wobei sowohl nach Simplexbelegen als auch nach Komposita gesucht wurde. Wortformen mit Sprossvokal erscheinen in den Jahrhunderten ihres Auftretens fast ausschließlich mit anlautender Fortiskonsonanz (als Perig, Perigmeister, Weinperig usw.), Formen ohne Sprossvokal erscheinen teils mit Fortisanlaut (Perg u. Ä.), teils mit Lenisanlaut (Berg u. Ä.). Die Abfrageergebnisse mussten im Einzelfall beurteilt werden, da auch Ergebnisse wie „Perg.“ als Abkürzung für „Pergament“ ausgegeben wurden. Die Suche nach sprossvokalhältigen Belegen des Typs *perig* (selten *pereg*) und nach sprossvokallosen Belegen des Typs *berg* bzw. *perg* zeigt nun für die wichtigsten Klöster und Stifte Österreichs und teilweise auch Bayerns folgendes Bild (s. Abb. 4):

Abb. 4: Verhältnis der -perig- und -perg-/-berg-Belege in den Urkunden österreichischer und bayerischer Klöster (Daten nach monasterium.net, Stand: 8.3.2018)

Zunächst fällt auf, dass die Urkunden der großen Stifte Nieder- und Oberösterreichs in der Datenbank offenbar am besten erschlossen sind. Die größten Tortendiagramme finden sich bei den Stiften Klosterneuburg, Schlägl, Göttweig, Heiligenkreuz, Michaelbeuern, Kremsmünster, Herzogenburg und St. Florian. Zugleich aber zeigt sich, dass in den Urkunden der Klosterarchive des mittelbairischen Dialektraums (Nr. 1– 24 in Tab. 2) auch die meisten Sprossvokalformen vorkommen. Dagegen zeigen die Urkunden der Klöster des südbairischen Raums (Nr. 25–30 in Tab. 2) bei insgesamt geringerer Belegfülle so gut wie keine Sprossvokale.

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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41.

Kloster Klosterneuburg Schlägl Göttweig Heiligenkreuz Michaelbeuern Kremsmünster Herzogenburg St. Florian Wien Schottenabtei Garsten Lilienfeld Melk Wilhering Lambach Gleink Altenburg Reichersberg Mondsee Zwettl Seitenstetten Mattsee Spital am Pyhrn Salzburg St. Peter Schlierbach Vorau St. Paul im Lavanttal Wilten Admont Stams Rein Frauenchiemsee Raitenhaslach Niederaltaich Fürstenzell Griesbach St. Salvator Vilshofen Aldersbach Amberg Passau Niedernburg Asbach Windberg

(-)perig(-) 27 50 31 14 4 9 36 18 9 6 12 17 15 6 1 6 7 0 10 5 4 0 0 2 1 0 0 0 0 0 3 8 5 1 1 1 2 0 2 1 0

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(-)perg(-), (-)berg(-) 123 77 51 44 52 38 10 24 29 26 17 10 8 9 12 6 4 10 0 4 2 4 4 1 9 8 7 6 4 2 29 20 20 19 15 13 5 7 3 2 3

Tab. 2: Formen mit/ohne Sprossvokal im Wort Berg in Urkunden österreichischer und bayerischer Klöster (Nr. 1–24: mittelbairisch, Nr. 25–30: südbairisch, Nr. 31–41: bayerisch)

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Schließlich sind in Monasterium auch Urkunden bayerischer Klöster abrufbar (Nr. 31–41 in Tab. 2). Zwar wurden auch hier vergleichsweise weniger Urkunden transkribiert bzw. in Regestenform erfasst, als dies bei den meisten österreichischen Stiftsarchiven der Fall war, immerhin kann aber auch für Bayern ein gewisses Quantum an Sprossvokalformen festgestellt werden. Tab. 2 bietet die genaueren zahlenmäßigen Angaben, die der entsprechenden Karte (Abb. 4) zugrunde liegen. 4.2 Ortsnamenbuch des Landes Oberösterreich (OÖONB) Die 1989 begonnene, von PETER WIESINGER herausgegebene Publikationsreihe des OÖONB liegt bislang mit 9 von insgesamt 11 geplanten Bänden vor. Die noch ausstehenden zwei Bände zu den Bezirken Rohrbach, Linz und Wels befinden sich in Vorbereitung, das Korpus der urkundlichen Belege liegt den Autoren dieses Beitrags aber bereits vollständig vor. Somit bietet das OÖONB urkundliches Belegmaterial flächendeckend und repräsentativ zu rund 10.000 Toponymen in Oberösterreich. Dieses Quellenmaterial setzt sich folgendermaßen zusammen: – – –

aus der vollständigen urkundlichen Überlieferung bis zum Jahr 1200, die im Altdeutschen Namenbuch (ADNB) publiziert wurde; aus den Belegreihen, die im Historischen Ortsnamenlexikon des Landes Oberösterreich (SCHIFFMANN 1935–1940) enthalten sind; aus zusätzlich recherchierten Belegreihen, wobei zwischen 1200 und 1399 Vollständigkeit angestrebt wurde, in jüngerer Zeit aber eine Auswahl unterschiedlicher Textsorten getroffen wurde, um Toponyme aus unterschiedlicher Perspektive darzustellen.

Da bei gleichförmiger Überlieferung seltene Formen wie phonetische Direktanzeigen oder Hyperformen anteilsmäßig stärker berücksichtigt wurden, stellt das Korpus des OÖONB eine hervorragende Quellensammlung zum Nachweis von Sprossvokalen dar, nicht aber zur Dokumentation des Verhältnisses von Formen mit und ohne Sprossvokal, wie dies oben anhand der Klosterurkunden gezeigt wurde. Aus der großen Menge der Sprossvokalbelege sei hier wiederum das Beispiel perig ‘Berg’ herausgegriffen und hier mit einigen exemplarischen Fällen des 12. bis 15. Jahrhunderts illustriert: – – – – –

1140 predium, quale ipse habuit Perigen (Böhring, Gde. Rainbach im Innkreis) 1225 ain hvb am trolsenperig leit in newnmachter pharr (Trölsberg, Gde. Neumarkt im Mühlkreis) 1290 Chunrat von gotes gnaden Brobst ze Reychersperige (Stift Reichersberg, Gde. Reichersberg) 1340 Ich Stephan der Egenperiger, weilent hern Otakchers Sun von Egenberg (Eggenberg, Gde. Vorchdorf) 1379 Ruegern von Starchenberch dez alten von Wiltperig (Wildberg, Gde. Kirchschlag)

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1462 Item der Wagner zu Puechperg hat zu Puechperig Ob deß pachß zwey tayl zehent (Puchberg, Gde. Arbing)

In den drei letzten Beispielen zeigt sich abermals die Variabilität der Vokalepenthese: Formen mit und Formen ohne Sprossvokal variieren nicht nur innerhalb einer Handschrift, sondern auch innerhalb eines Satzes und bei ein und demselben Lexem (vgl. Puechperg vs. Puechperig).

Abb. 5: Anzahl der -perig-Belege (absolute Zahlen) im Ortsnamenbuch des Landes Oberösterreich (OÖONB) vom 11. bis zum 18. Jahrhundert (Intervall: 50 Jahre)

Wie sich die perig-Belege im Urkundenmaterial des OÖONB zahlenmäßig über die Zeit vom 11. bis zum 18. Jahrhundert hin entwickeln, lässt sich aus dem obenstehenden Diagramm ablesen, in welchem das Auftreten der Epenthese im Korpus des OÖONB jeweils nach Jahrhunderthälften gegliedert ist. Mit dem Aufkommen des deutschen Urkundenwesens ab 1300 steigt die Anzahl der -perig-Belege rapide an. Von allen dokumentierten Sprossvokalformen (n = 445) entfällt nur eine geringe Zahl auf das Hochmittelalter, mehr als die Hälfte tritt im 14. Jahrhundert auf (n = 239), über ein Viertel verteilt sich auf das 15. Jahrhundert (n = 123), ab der Mitte des 16. Jahrhunderts nehmen die Belege stark ab. Die Ursachen für den Rückzug der Epenthese dürften weniger in einem generellen Abbau des Phänomens zu suchen sein, da mündlicher Sprossvokalgebrauch noch am Ende des 20. Jahrhunderts gut dokumentierbar ist (vgl. Kap. 5), vielmehr dürfte die Anpassung der Schreibgewohnheiten an den Buchdruck und an das Vorbild des reformatorischen Schrifttums eine wesentliche Rolle spielen.

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5 DIE AREALE VERBREITUNG VON SPROSSVOKALEN IN DEN REZENTEN DIALEKTEN Im Anschluss an die Darstellung der diachronischen und diatopischen Verhältnisse des Mittelalters und der frühen Neuzeit soll nun ein kurzer Überblick über die aktuelle Verbreitung der Vokalepenthese in den Dialekten des 20. Jahrhunderts gegeben werden. Dies soll wiederum anhand des Beispiels Berg erfolgen und mittels zweier Lautkarten illustriert werden. Die erste Karte (Abb. 6) widmet sich der Verbreitung von Sprossvokalformen im gesamtdeutschen Dialektgebiet. Die Daten dafür basieren im Kern auf Georg Wenkers „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ (1876– 1887). Da der Wenkeratlas an den ehemaligen Reichsgrenzen endet und somit einen großen Teil des bairischen Dialektgebietes nicht erfasst, wird hier der „Kleine Deutsche Sprachatlas“ (KDSA) herangezogen, der zwar mit einem stark ausgedünnten Ortsnetz operiert, aber dennoch einen brauchbaren Überblick verschafft. Die Erhebungen für den „Deutschen Sprachatlas“ (DSA) sind in Österreich in den 1920er Jahren erfolgt und wurden – ebenso wie die Aufnahmen in Deutschland – mittels der sogenannten 40 Wenkersätze durchgeführt. Die Karte 104 des ersten KDSA-Bandes basiert auf der Auswertung des Wenker-Satzes Nr. 29: „Unsere Berge sind nicht sehr hoch, die euren sind viel höher.“ Da die Verbreitung des Sprossvokals in der Pluralform des Wortes Berg in der Originaldarstellung recht undeutlich zu sehen ist, wurden in Abb. 6 die entsprechenden Punktsymbole grafisch verstärkt. Von Norden nach Süden betrachtet, finden sich im Kartenbild verstreute Sprossvokalbelege im Ripuarischen, im Mosel- und Rheinfränkischen sowie im Ostfränkischen, stärkere Konzentrationen sind im schwäbisch-fränkischen Übergangsgebiet und im Mittelbairischen festzustellen, hier vor allem in Oberösterreich südlich der Donau, im niederösterreichischen Weinviertel sowie im nördlichen Burgenland. Die in der KDSA-Karte relativ grob skizzierten Verhältnisse können durch die Erhebungen der Regionalatlanten für den bairischen Sprachraum weiter präzisiert und auch weitgehend bestätigt werden. Die gegen Ende des 20. Jahrhunderts in Bayern und Österreich entstandenen Sprachatlanten beruhen auf Daten, die hauptsächlich in den 1990er-Jahren jeweils vor Ort in direkter Befragung von Gewährspersonen erhoben wurden. Anhand der einschlägigen Karten in den Sprachatlanten von Oberbayern (SOB), Niederbayern (SNiB) und Nordostbayern (SNOB) wird deutlich, dass in den Dialekten Altbayerns nur mehr ganz sporadisch Sprossvokale dokumentiert werden konnten. Bei der Durchsicht der Beleglisten zum Wort Berg5 finden sich lediglich drei Belegorte, in denen Sprossvokalformen zum Lemma Berg erhoben wurden, namentlich Anger im Rupertiwinkel (Oberbayern), Wegscheid und Untergriesbach (beide in Niederbayern nördlich der Donau unmittelbar an der Grenze zu Österreich).

5

Die Belege zur Frage 132.002 „Berg (große Erhebung, wo man hinaufsteigen muss) (Die Zugspitze ist ein hoher …)“ wurden für Oberbayern, Niederbayern und die Oberpfalz der „Bayerischen Dialektdatenbank“ (BayDat) entnommen (URL: ; Stand: 06.03.2018).

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Abb. 6: KDSA-Karte I 104 zur Realisierung der Lautkombination -rg- in Berge. Die Signaturen für Sprossvokalformen sind grafisch hervorgehoben, ebenso die österreichische Staatsgrenze sowie das Darstellungsgebiet des „Sprachatlas von Oberösterreich“.

Abb. 7: SAO-Karte I 101 zur Realisierung von mhd. ë + rg in Berg (hier zur Verdeutlichung mit Isoglossen versehen)

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Ganz anders sind die Verhältnisse in Oberösterreich. Hier zeigt die Karte I 101 (Abb. 7) des „Sprachatlas von Oberösterreich“ (SAO) ein großes Gebiet mit Sprossvokalformen des Typs [b̥ɛːrɪ] / [b̥ɛ͜ɐːrɪ] bzw. [b̥ɛːrɪg̊] / [b̥ɛ͜ɐːrɪg̊], das sich vom Plöckenstein im Norden bis zum Dachstein im Süden erstreckt. Innerhalb der Landesgrenzen verzeichnet der SAO 73 Belegorte, an denen Berg mit Sprossvokal realisiert wird; an 74 Orten wurden keine Sprossvokalformen erhoben. Außerhalb des Landes kommen dazu weitere 12 Belegorte mit Sprossvokalen vor allem im Salzburger Flachgau, im steirischen Ausseerland sowie in fünf Außensprachinseln in Rumänien und in der Ukraine. Deutlich erkennbar konzentrieren sich die Belege mit Epenthese auf einen geschlossenen Kernraum im mittleren und westlichen Bereich des Landes, der in etwa mit jenem Gebiet zusammenfällt, das EBERHARD KRANZMAYER (1956: Einleitung, 17, 20) als „oberösterreichische Beharrsamkeitsbrücke“ bezeichnet hat. Sprossvokale fehlen dagegen in der ganzen Osthälfte des Landes, im Großteil des Mühlviertels, im benachbarten Bayern, im Salzburger Tennengau, im angrenzenden Niederösterreich und in Südböhmen. In diesem Zusammenhang sind auch einige metasprachliche Hinweise mehrerer Gewährspersonen am nördlichen Rand des Gebietes relevant, die berichten, dass im oberen Mühlviertel und im angrenzenden Bayerischen Wald die Form [ˈb̥ɛːrɪ] nur mehr in Flurnamen gebräuchlich ist, während in appellativischer Verwendung die Form [b̥ɛːrg] (ohne Epenthese) üblich ist. Betrachtet man das dialektgeografische Bild aus typologischer Sicht, so scheint es bemerkenswert, dass bis zur unmittelbaren Gegenwart ein Dialektraum existiert, dessen basisdialektale Varietät einem silbensprachlichen Paradigma folgt. Die Sprossvokalform [ˈb̥ɛːrɪ] zeigt die silbensprachlich optimale Struktur CV.CV mit leerer Silbenkoda, während die sprossvokallosen Belege des Typs [ˈb̥ɛ͜ɐːg̊] eine gedeckte Silbe (CVC) aufweisen und – wie die standardsprachliche Entsprechung – eher das phonologische Wort profilieren. Noch mehr gilt dies für Formen im nördlichen Mühlviertel und im benachbarten Bayerischen Wald, wo Belege des Typs [ˈb̥ɛːrg̊] mit erhaltenem r eine auslautende Doppelkonsonanz (CVCC) aufweisen. Ähnlich wie Berg verhalten sich viele weitere Wörter, etwa [ˈhɔ̃ːnɪf] vs. [ˈhɔ̃nf] ‘Hanf’, [ˈkhɔːlɪ] vs. [ˈkhɔ͜eːx] ‘Kalk’, [ˈfɔːrɪ] vs. [ˈfɔ͜ɐːb̥] ‘Farbe’ usw. Die Tatsache, dass die Sprossvokalformen ihre Präsenz in einem geschlossenen Gebiet erhalten konnten, während sie ringsum entweder aufgegeben wurden oder überhaupt fehlen, verweist darauf, dass auch benachbarte Dialekte über lange Zeit hinweg an unterschiedlichen typologischen Mustern festhalten können: die Dialekte innerhalb der „Beharrsamkeitsbrücke“ an der Optimierung der Silbenstruktur, die umgebenden Dialekte an der Profilierung des phonologischen Wortes.

Vokalepenthese (Sprossvokal) in Namen und Appellativen

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6 DIALEKTOLOGISCH-ONOMASTISCHE VERGLEICHE 6.1 Beispiel Berg Wenn wir im Folgenden den Versuch unternehmen, der Verbreitung des Sprossvokals in den rezenten Dialekten dessen Vorkommen in historischen Ortsnamenbelegen gegenüberzustellen, ergibt sich ein in seiner Deutlichkeit überraschendes Bild. Die folgende Kombinationskarte (Abb. 8) demonstriert dieses Verhältnis zwischen moderner und historisch belegter Sprossvokalverbreitung am Beispiel des Wortes Berg. Die aus Abb. 7 übernommenen Isoglossen zeigen noch einmal die gegenwärtige Ausdehnung des Sprossvokals im Appellativ Berg in den Basisdialekten. Demgegenüber repräsentieren die Punktsymbole das Vorkommen historischer Sprossvokalform (Typ -perig) im Urkundenmaterial des „Ortsnamenbuchs des Landes Oberösterreich“ (vgl. die Beschreibung dieser Quelle in Kap. 4.2). Die Dreiecksymbole zeigen schließlich, wo das Wort Berg in oberösterreichischen Namen überhaupt vorhanden ist, sei es als Simplex oder als Namenteil in Komposita (z. B. Kirchberg, Bergham).6

Abb. 8: Kombinationskarte zur Verbreitung der Vokalepenthese im Wort Berg in rezenten Dialektformen (Isoglossen) und in historischen Ortsnamenbelegen (Punktsymbole); dazu Ortsnamen mit dem Namenteil -berg- (Dreiecksymbole)

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Um das Kartenbild nicht zu überlasten, wurde in dieser Karte pro Gemeinde nur ein Punktsymbol gesetzt, auch wenn in einer Gemeinde mehrere Berg-Toponyme vorkommen.

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Schon bei oberflächlicher Betrachtung der Karte fällt auf, dass alte Sprossvokale auch dort in großer Zahl auftreten, wo sie in den Dialekten heute völlig unbekannt sind, nämlich im Norden des Landes (Mühlviertel), im Osten (Traunviertel) und in einem kleineren Gebiet im äußersten Westen (oberes Innviertel). Lediglich in einigen kleineren Gebieten wie in der (vor-)alpinen Gegend der südöstlichen Kalkalpen fehlen Sprossvokale in der schriftlichen Überlieferung. Insgesamt gesehen war die Ausdehnung jenes Raumes, in dem Sprossvokale in früheren Jahrhunderten verwendet wurden, bedeutend größer als das heutige Verbreitungsgebiet. Die Verwendung von Sprossvokalen in schriftlichen Texten berechtigt wohl auch zur Annahme, dass diese ebenso im Bereich der Mündlichkeit üblich gewesen sein mussten. 6.2 Beispiel Kirche / Kir(ch)tag Analog zu den ausführlich dargestellten Verhältnissen im Lexem Berg, das sowohl in appellativischer als auch onymischer Verwendung gut belegt und dokumentiert ist, soll als weiteres Beispiel die Vokalepenthese im Wort Kirche in Appellativen und Namen verglichen werden. Als dialektales Phänomen ist die Epenthese am besten im Kompositum Kir(ch)tag zu fassen, das in Oberösterreich vor allem in den beiden Lautformen [ˈkhiːrɪˌd̥ɔːg̊] (mit Epenthese) und [ˈkhi͜ɐːdɐ] (ohne Epenthese) auftritt. In der folgenden Karte (Abb. 9) ist das Verbreitungsgebiet von Sprossvokalformen in den rezenten Dialekten wiederum durch Isoglossen markiert.7 Belege mit Sprossvokal finden sich innerhalb der Landesgrenzen an 55 Ortspunkten, solche ohne Sprossvokal an 92 Orten. Weitere 11 Sprossvokalbelege sind im SAOKorpus außerhalb Oberösterreichs zu verorten, und zwar in jenem Bereich des Salzburger Flach- und Tennengaus, der sich in der Karte innerhalb der strichlierten Isoglosse befindet. Bei den – nur bis zum Mittelalter produktiven – Ortsnamenbildungen mit dem Lexem Kirche sind zweierlei Bildungen möglich, nämlich mit -kirchen als Grundwort (in Namen wie Grieskirchen, Hofkirchen, Weißenkirchen) und mit Kirch- als Bestimmungswort (in Namen wie Kirchberg, Kirchdorf, Kirchham). Fasst man den dialektgeografischen Befund nun wiederum in einer Kombinationskarte mit den historischen Kirich- bzw. -kirichen-Belegen zusammen, ergibt sich ein Bild, das jenem von Berg ähnlich ist. Auch im Falle von Kirche gehen historische Sprossvokale in Ortsnamen auf Kirch- oder -kirchen räumlich (vor allem im Norden und im Osten) weit über die Verbreitung in dialektalen Appellativen hinaus – auch wenn die Zahl der Ortsnamenbelege hier insgesamt geringer ist.

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Isoglossendarstellung nach SAO-Karte I 187, Mhd. i + rch in Kir(ch)tag.

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Abb. 9: Kombinationskarte zur Verbreitung der Vokalepenthese im Wort Kiri(ch)tag in rezenten Dialektformen (Isoglossen nach SAO I 187) und zu Sprossvokalen in historischen Ortsnamenbelegen des Typs Kirich- (Dreiecksymbole) bzw. -kirichen (Punktsymbole)

6.3 Beispiel Kalk In den oberösterreichischen Dialekten erscheint das Wort Kalk, dessen historische Ausgangsform mehrheitlich als Kalch anzusetzen ist, in den beiden Hauptvarianten [ˈkhɔːlɪ] (mit Epenthese) und [ˈkhɔ͜eː] (ohne Epenthese). Die Formen mit Sprossvokal bilden in der Sprachatlaskarte ein geschlossenes Gebiet (vgl. die Isoglossen in Abb. 10), innerhalb dessen in 69 Orten Sprossvokalformen erhoben wurden, während in den übrigen 78 oberösterreichischen SAO-Orten keine Sprossvokale belegt sind. Die auslautende Konsonanz ist bei der Epenthesen-Form Kalich schon frühzeitig geschwunden, sodass der Sprossvokal zum vokalischen Auslaut wurde und – trotz des Wegfalls der phonetischen Bedingung der Epenthese – in Lautungen wie [ˈkhɔːlɪ], [ˈkhoːlɪ], [ˈkhɔ͜eːlɪ] oder [ˈkho͜ɪːlɪ] erhalten geblieben ist. Auch die sprossvokallose Variante erscheint im Basisdialekt in der Regel ohne auslautenden Konsonanten als [ˈkhɔ͜eː] bzw. [ˈkho͜ɪː], Formen mit auslautendem Frikativ [ˈkhɔ͜ex] sind tendenziell der Umgangssprache zuzuordnen, Formen mit Plosiv [ˈkhɔ͜ek] sind meist nach standardsprachlichem Muster gebildet.

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Bildungen von Ortsnamen mit dem Lexem Kalk/Kalch sind selten, doch sind die historischen Sprossvokalformen des Typs Kalich auch in diesen wenigen Fällen über das Land verteilt, sodass von den insgesamt zwölf Belegen immerhin vier außerhalb des heutigen Sprossvokal-Gebietes liegen. Kalk tritt in Ortsnamen häufig dort auf, wo Kalksteine gesammelt wurden oder Kalk gebrannt bzw. gelöscht wurde (vgl. Namen wie Kalkofen, Kalchgrub, Kalchtobel). Sprossvokale zeigen auch hier die erwartbare Variabilität von Formen wie kalch- und kalich-. In der Belegreihe zum Ortsnamen Kalköfen in der Gemeinde Hinzenbach (OÖONB 4: 251) sind Sprossvokalformen beispielsweise nur für das 13. und 14. Jahrhundert belegt: 1295 Chalichouen; 1315 Chalchoven; 1334 vnd tze Chalhofen; 1371 der ober Hof von Chalich Ofen; 1522–32 Veit nidermair Zu Kalchöfen; 1574 Kalchhöffen; 1584 Khalchöfen; 1692 Khalchöffen; ca. 1775 Kalchhöfen; ca. 1815 Kalhöfen; 1857 Kalchöfen (OÖONB 4: 251)

Für den Ortsnamen Kalchau in der Gemeinde Gunskirchen sind ab dem 17. Jahrhundert neben toponymischen auch anthroponymische Belege vorzufinden, die ganz offensichtlich in unmittelbarer Verbindung zueinander stehen: 1399 Chalichau; ca. 1500 Kalhau; 1618 Steffan Khalchauer in der Khalchau; Georg Khalchauer auf der Schmalzreuth; 1787 Kalchau, Hofnamen Oberkalliauer, Unterkalliauer; 1790/93 Kalkau, Hofnamen Oberkalkauergut, Unterkalkauergut. (OÖONB 8, i. V.)

Abb. 10: Kombinationskarte zur Verbreitung der Vokalepenthese im Wort Kalich ‘Kalk’ in rezenten Dialektformen (Isoglossen nach SAO I 58) und in historischen Ortsnamenbelegen (Punktsymbole nach SCHIFFMANN 1935–1940)

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Die Bildung von Anthroponymen aus Toponymen ist im Rahmen der Entstehung neuzeitlicher Familiennamen für Oberösterreich typisch. Überaus häufig wird zu Toponymen, die meist kleine Siedlungseinheiten benennen, durch Ableitungen wie -er, -erer, -inger u. a. zuerst eine Einwohnerbezeichnung geschaffen, die sich, nachdem sie erblich geworden ist, vom Ursprungsort ablöst und eine selbständige Entwicklung nimmt. Die Ablösung des Familiennamens ist am Urkundenbeleg von 1618 deutlich erkennbar: Die Nennung des Steffan Khalchauer in der Khalchau zeigt möglicherweise nur, dass die Person in der Kalchau wohnt, während beim Eintrag Georg Khalchauer auf der Schmalzreuth vermutlich bereits ein erblicher Familienname vorliegt. Für das 19. Jahrhundert lässt sich rund um die Ortschaft Kalchau das Vorkommen der Familiennamen Kalchauer, Kalliauer und Kolliauer auf Basis des Grundbesitzerverzeichnisses zum Franziszeischen Kataster (vgl. JANDAUREK 1938–1942) nachweisen und in einer Landkarte darstellen.

Abb. 11: Familiennamenableitungen Kalchauer, Kalliauer, Kolliauer vom Ortsnamen Kalchau

Der bewusste Bezug zum sprachlichen Ursprungsort geht bei diesen Familiennamen oft rasch verloren. Meist haben diese Namen auch keine oder nur geringe Abstützung durch die Druckersprache, sodass hier dialektale Variantenbildung ansetzt, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch sehr verbreitet ist. Das überaus umfangreiche Quellencorpus „Hofnamen- und Häusergeschichte“ auf der Plattform DORIS bietet entsprechende Beispiele in großer Zahl. Die Daten dieses noch

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jungen Projektes sind mit jenen des „Ortsnamenbuch des Landes Oberösterreich“ erst seit Kurzem abgleichbar und stellen ein weiteres bedeutendes Korpus zur historischen Sprachforschung in Oberösterreich dar. In diesem Korpus sind die Grundbesitzer/innen aller Bauerngüter und Häuser so verzeichnet, wie sie von unterschiedlichen Behörden mehrmals nacheinander erhoben wurden. Aus diesem Material lassen sich chronologische Hinweise auf Möglichkeiten der Variantenbildung, auf das Noch-Vorhanden-Sein oder das Bereits-Vorhanden-Sein von Formen, Lautungen, Lexemen, Suffixen usw. gewinnen. Hier drei Beispiele für intrafamiliäre Formen des Herkunftsnamens zu Kalchau:8 –





Gde. Wallern an der Trattnach, heutige Adresse: Bergern 30 1750 Besitzer: Kalchauer Phillipp 1787 Besitzer: Kalchauer Georg 1790/93 Besitzer: Kalliauer Theresia Gde. Pichl bei Wels, heutige Adresse: Geisensheim 12 1750 Besitzer: Kalchauer Andreas 1787 Besitzer: Kalliauer Andre 1790/93 (2 Einträge) Besitzer: Kalchauer Joseph und Theresia; Besitzer: Kalchauer Philipp und Margaretha Gde. Gunskirchen, heutige Adresse: Bichlwimm 3 1787 Besitzer: Kalliauer Georg 1790/93 (3 Einträge) Besitzer: Kalkauer Georg und Maria; Besitzer: Kalchauer Johann und Pühringer Theresia; Besitzer: Kalchauer Johann 6.4 Beispiel Mönch

Das Wort Mönch (mhd. münich) ist im SAO nicht enthalten, da es mundartlich wohl seit Jahrhunderten nicht mehr existiert. Ein Ordensgeistlicher wird als Pater bezeichnet, Mönch ist schriftsprachlich gehoben. Somit kann Mönch (mhd. münich) zwar auf onymischer Basis, nicht aber auf dialektal-appellativischer Basis dargestellt werden. Bei Namen aus mhd. münich ist ein historischer Zusammenhang mit Klosterbesitz anzunehmen, manchmal lässt sich dieser auch historisch nachweisen. Häufig finden sich Namen aus mhd. münich nicht auf der Ebene der Ortsnamen, sondern bezeichnen einzelne Höfe oder lediglich Fluren (z. B. Münichholz, Münichfeld). Bei Ortsnamen ist gelegentlich ein Anschluss an die standardsprachliche Lautform Mönch zu finden (z. B. Mönchdorf, Mönchgraben), die wohl auf kanzleisprachlichem Einfluss beruht. Im Bereich mancher Klöster lässt sich eine Häufung von Namen aus mhd. münich feststellen. So bezieht sich beispielsweise der Hofname Minihof in der Gemeinde Eidenberg auf einen Stiftsmaierhof des Klosters Wilhering, der urkundlich im 13. Jahrhundert als curia monachorum genannt wird. Ein in der Nähe gelegener 8

Die fakultative Verwendung des Sprossvokals zeigt Analogien zu den Beispielen zu Perg/Perig (Abb. 8).

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Wald führte den Namen Miniwald (urkundlich 1523 Münichwald), der ebenfalls im Besitz dieses Klosters war. Der Hof am Nordufer der Donau gegenüber dem Stift Wilhering führt den Namen Miniförg (urkundlich ca. 1510 Munichverg, 1523 Münichferig; vgl. SCHIFFMANN 2, 1935: 178) wohl in Zusammenhang mit dem Verladen von Waren bzw. als Fährmann des Klosters (vgl. LEXER III, Sp. 67: mhd. ver, vere, verje, verige, verge ‘Schiffer, Fährmann’). Da viele Familiennamen auf der sprachlichen Basis der Hofnamen gebildet wurden, findet sich mhd. münich auch auf Ebene der Familiennamen, meist als Mini-, Minich- oder Münich. Einige Beispiele für aktuelle Familiennamen zu mhd. münich mit Angabe der möglichen Ursprungsorte: –





Minihuber Vermutlicher Ursprungsort: Gde. Prambachkirchen, heutige Adresse: Oberfreundorf 17 1750 Hofname: Minichhuebmersölde; 1787 Hofname: Minnichhuebmerhaus; 1790/93 Hofname: Minnichhub (Hofnamen und Häusergeschichte) Minichberger, Miniberger Vermutlicher Ursprungsort: Gde. Sankt Agatha, mehrere Häuser 1230 Munichperg; 1371 muenich auf dem Perg; 1522–32 Wolfgang der ober am Munichperg; ca. 1775 Munichsberg; 1815 Miniberg; 1825 Minichberg (OÖONB 4: 213) Minichmayr Vermutliche Ursprungsorte: Minichmaier, Gde. Wilhering, einzelne Häuser; Minichmaier, Gde. Alkoven, Einzelhof; Minimaier, Gde. Walding, Einzelhof (SCHIFFMANN 2, 1935: 177–178) 7 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

Das vorrangige Ziel dieser Darstellung war es, ein dialektologisch auffälliges Merkmal, das sowohl in Appellativen als auch in Namen auftritt, hinsichtlich seiner Entwicklung und Verbreitung in Geschichte und Gegenwart zu untersuchen. Das Phänomen der Vokalepenthese scheint dafür bestens geeignet zu sein, da es einerseits in den rezenten Dialekten gut dokumentiert werden kann und andererseits auch in schriftlichen Quellen des Mittelalters und der Neuzeit in ausreichendem Maß vorhanden ist. Damit ein diatopischer Vergleich auf verschiedenen Zeitstufen durchgeführt werden kann, benötigt man hinreichend große Korpora, die es erlauben, Belege geografisch zu referenzieren. Diese Voraussetzung ist für das Bundesland Oberösterreich in idealer Weise gegeben, da mit dem „Sprachatlas von Oberösterreich“ die Daten zu den rezenten Dialekten und mit dem „Ortsnamenbuch des Landes Oberösterreich“ die urkundlichen Belege flächendeckend und in einem dichten und miteinander vergleichbaren Ortsnetz zur Verfügung stehen. Als Beispiele für den dialektologisch-onomastischen Vergleich wurden die Lexeme Berg, Kirche, Kalk und Mönch ausgewählt, die in den jeweiligen Korpora in unterschiedlicher Quantität vorhanden sind und teils mit, teils ohne Sprossvokal realisiert werden.

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Die Beispiele wurden bewusst so gewählt, dass sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen der vergleichenden Methode sichtbar werden. Aufgrund der unterschiedlichen Repräsentanz der Belege sind drei Stufen der Vergleichbarkeit gegeben: Die Unmöglichkeit des Vergleichs: Die Dialektologie verfügt über das Beispiel Milch (dialektal [ˈmiːlɪ], [ˈmüːlɪ] usw.), die Onomastik über das Beispiel Mönch (mhd. münich). Im onomastischen Korpus finden sich keine Beispiele für Milch, da das Lexem in Namen nicht nachweisbar ist. Im dialektologischen Korpus finden sich keine Beispiele für Mönch, da das Wort in den Basisdialekten nicht üblich war und nicht erfragt werden konnte. Somit können zwar beide Disziplinen das Merkmal jeweils anhand ihres Beispielwortes kartieren, ein Vergleich bleibt aber unmöglich. Der ideale Vergleich: Als Beispiel für ein Lexem, das in beiden Korpora zahlreich vorhanden ist, wurde das Wort Berg gewählt. Der Vergleich der Daten zeigt, dass die geografische Verbreitung der Vokalepenthese im historisch-onomastischen Korpus wesentlich größer war, als sie heute im dialektologischen Korpus feststellbar ist. Die Kohärenz des heutigen Verbreitungsraumes lässt darauf schließen, dass das Merkmal zwar im Rückzug begriffen ist, aber im Basisdialekt des Kerngebiets noch relativ stabil ist. Der eingeschränkte Vergleich: Das Beispiel Kirch(e) ist hinsichtlich seiner qualitativen Aussage mit dem Beispiel Berg vergleichbar, quantitativ aber wesentlich eingeschränkter. Die Anzahl der Namen mit -kirch- ist wesentlich geringer als jene mit -berg-, sodass vor allem an den nördlichen und südlichen Rändern keine Belege vorhanden sind. Dies ist in der mittelalterlichen Siedlungsgeschichte begründet, da beim Ausbau des Pfarrnetzes im Spätmittelalter der onomastische Bildungstypus mit -kirch(en) nicht mehr verwendet wurde. Beim Lexem Kalk ist ein Vergleich zwar noch möglich, doch ist das Wort in Namen so selten, dass die Aussagekraft des Vergleichs schon sehr gering ist. Neben der Frage des arealen und diachronischen Vergleichs kann auch jene nach der sozialen und medialen Dimension des sprachlichen Merkmals aufgeworfen werden. In der traditionellen Dialektologie wird die Epenthese als exklusives Merkmal der bäuerlichen Grundmundart gesehen, das unter starkem Druck der Verkehrssprache steht und überall im Rückzug begriffen ist (vgl. u. a. GRAU 1939: 60– 61; KRANZMAYER 1956: 123–124). Aktuelle Erhebungen im Rahmen des Projekts Sprachatlas von Oberösterreich bei jüngeren, mobileren und in kommunikativen Berufen tätigen Gewährspersonen scheinen diese Annahme tendenziell zu bestätigen, allerdings sind Voraussagen zur Entwicklung der Basisdialekte aufgrund von Apparent-Time-Studien immer unter Vorbehalt zu sehen. Für das Mittelalter und die frühe Neuzeit kann eine schichtspezifische Bindung des Merkmals an die Sprache der bäuerlichen Unterschicht nicht ohne Weiteres angenommen werden. Das häufige Vorkommen in schriftlichen Texten der grundherrschaftlichen, städtischen und landständischen Verwaltung legt vielmehr nahe, dass Sprossvokale im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit im österreichischen Donauraum ein durchgängiges Merkmal auch bürgerlicher und adeliger Alltagssprache bildeten. Für das 17. und 18. Jahrhundert ist noch eine großräumige Verbreitung im bäuerlichen Bereich

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anzunehmen. Dieses Vorkommen reduziert sich später auf die „oberösterreichische Beharrsamkeitsbrücke“, wo es aktuell wohl im Schwund begriffen ist. Will man unter dem Eindruck dieses Rückzugs davon ausgehen, dass die Sprossvokale in einigen Jahrzehnten aus den Dialekten verschwunden sein werden, dann könnte das Vorkommen in Namen den Endpunkt einer sprachlichen Entwicklung markieren. Das „letzte Asyl“ wird dann – um mit BACH (1953; vgl. Anm. 2) zu sprechen – der Bereich der Namen sein, hier besonders der Bereich der Familiennamen, in welchem Sprossvokale wohl noch lange fortbestehen werden. Dieser Beitrag ist weder Zusammenfassung noch Vorwegnahme einer ausführlicheren Darstellung dieser Thematik. Es handelt sich um eine exemplarische Studie, die vieles, was in diesem Zusammenhang noch interessieren würde, nur anreißen kann bzw. offen lassen muss. Es ergeben sich daher unter anderem folgende weiterführende Forschungsfragen: –





Fragen der (historischen) Dialektgeografie: Stellen die oben dargestellten Verbreitungsgebiete von Sprossvokalen im Donauraum (vgl. Kap. 5) Restflächen eines ehemals zusammenhängenden großen mittelbairischen Gebietes dar? Ergeben die Auswertungen urkundlicher Belegreihen zu Namen in angrenzenden Gebieten (Bayern, Niederösterreich) ein ähnliches Bild wie in Oberösterreich? Lässt sich eine Grenzlinie zwischen mittelbairischem und südbairischem Gebiet festlegen? Fragen zu Gebrauchstexten (Kanzleisprachen): Welche Textkorpora können über die hier exemplarisch vorgeführten Texte (Ennser Stadtrecht, Urkunden und Urbare der Familie Jörger) hinaus herangezogen werden? Wie sind Textproben auszuwählen, um sprachliche Kontaminationen durch ortsfremde Schreiber als solche zu erkennen und möglichst auszufiltern? Können aus textlichen Quellen Hinweise auf schichtspezifische Sprossvokalverwendung (z. B. bei Stadt- und Marktbürgern, Adeligen, Bauern) gewonnen werden? In welchen Lexemen werden lexikalisierte, formelhafte Sprossvokale verwendet (vgl. welicher und solicher in österreichischen Weistümern) und wie sind diese Verwendungsweisen zu interpretieren? Lässt sich die sinkende Frequenz von Sprossvokalen im 16. Jahrhundert mit der Rezeption der Druckersprache erklären? Wie ist das Verhältnis zwischen rückläufigem Epenthesengebrauch und anderen mundartlichen Merkmalen in den Kanzleisprachen zu erklären, die deutlich länger beibehalten werden (z. B. ue für u in Blut oder gut)? Fragen zu literarischen Texten: In welchen literarischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts werden Sprossvokale als Stilmittel verwendet? Werden Sprossvokale in der Erzählsprache verwendet oder dienen sie zur soziosymbolischen Kennzeichnung der Figuren?

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Vokalepenthese (Sprossvokal) in Namen und Appellativen

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DER DIALEKT DER JÜNGSTEN GENERATION Wandel, Remanenz und Abbau dialektaler Merkmale bei Kindern im westmittelbairischen Raum Salzburgs Irmtraud Kaiser / Lars Bülow ABSTRACT Der Beitrag nimmt die Variation phonetisch-phonologischer Dialektmerkmale im Sprachgebrauch von 27 Kindern aus zwei westmittelbairischen Orten (Henndorf am Wallersee und Hallein) in den Blick. Damit werden erstmals kindersprachliche Daten ausgewertet, um Wandel, Remanenz und Abbau in den westmittelbairischen Dialekten Österreichs zu untersuchen. Die 3- bis 6-jährigen Kinder wurden beim Spielen mit einer dialektsprechenden Exploratorin (und anderen Kindern) und beim Nacherzählen einer Geschichte für eine ‚dialektsprechende‘ Puppe aufgenommen. Für die sechs untersuchten lautlichen Variablen zeigen sich dabei im Abgleich mit rezenten dialektologischen Befunden unterschiedliche Ausprägungen von Wandel, Abbau und Remanenz. Als verhältnismäßig stabil erweist sich die /a/-Verdumpfung. Bestätigt werden Wandeltendenzen für die /l/-Vokalisierung, Reflexe von mhd. und den Stammvokal in den Formen des Lexems kommen. Hier werden häufig ostmittelbairische Varianten übernommen, die eine großräumigere Verbreitung aufweisen. Ein Abbau (westmittelbairischer) dialektaler Varianten muss hingegen für den Anlaut der Pluralformen von sein sowie die Reflexe von mhd. konstatiert werden. Der Beitrag zeigt damit zum einen, dass die kindersprachlichen Befunde mit den bisherigen Daten erwachsener Sprecher/innen konform gehen, und unterstreicht zum anderen, dass im Untersuchungsgebiet horizontale und vertikale Dialektwandelprozesse gleichzeitig stattfinden und sich mitunter sogar verstärken. Letztlich bestätigen die vorliegenden Daten, dass großräumigere, d. h. ostmittelbairische, regiolektale oder standardsprachliche Merkmale die kleinräumigeren westmittelbairischen Varianten zunehmend verdrängen, dass dies aber auf unterschiedliche Wortarten in unterschiedlichem Ausmaß zutrifft. In diesem Zusammenhang könnten die Besonderheiten kindgerichteten Sprechens eine verstärkende Rolle spielen. 1 PROBLEMAUFRISS Die wichtigsten Entwicklungen, die die Sprachwissenschaft für die bairischen Dialekte in Österreich in den letzten Jahrzehnten beobachten konnte, sind zweifelsohne Dialekt-zu-Standard-Advergenzen (vgl. z. B. SCHEUTZ 1985; SCHEURINGER 1990;

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BÜLOW 2019; BÜLOW et al. 2019) sowie Konvergenzen zwischen den Dialekten selbst (vgl. z. B. WIESINGER 2004; BÜLOW / SCHEUTZ / WALLNER 2019; LENZ 2019; BÜLOW / WALLNER 2020; VERGEINER / BÜLOW / WALLNER 2021). Diese Beobachtungen beruhen im Wesentlichen auf apparent-time- und real-time-Vergleichen von erwachsenen Sprecher/inne/n. Der Anspruch der Sprachvariations- und Sprachwandelforschung im Allgemeinen sowie der Dialektologie im Speziellen besteht allerdings nicht nur darin, vergangene Prozesse zu erklären, sondern auch darin, aktuellen Sprachwandel zu erfassen und Prognosen für zukünftige Entwicklungen zu treffen. Wie sich die Sprache einer Sprachgemeinschaft längerfristig entwickelt, hängt ganz wesentlich von der Tatsache ab, welche sprachlichen Strukturen Kinder erlernen und in ihren Sprachgebrauch übernehmen. Eine Untersuchung des Sprachgebrauchs der Kinder bietet uns also entscheidende Evidenz, um Sprachwandelprozesse besser einordnen und validieren zu können. Deshalb möchten wir in dieser Untersuchung die Prognosekraft zum Dialektwandel in den bairischen Dialekten Österreichs dadurch stärken, dass wir den aktuellen Forschungsstand zum Dialektwandel mit rezenten Sprachdaten von Kindern im Alter zwischen 3 und 6 Jahren abgleichen. Wir untersuchen, welche dialektalen Merkmale des Westmittelbairischen sich im Sprachgebrauch der Kinder manifestieren. Damit werden unseres Wissens mit dieser Studie erstmals objektive Sprachdaten von Kindern in die Untersuchung des Dialektwandels in Österreich einbezogen. Konkretes Ziel der Untersuchung ist es dabei, aktuelle Befunde der Forschung zu sechs phonetisch-phonologischen Phänomenen in den (west-)mittelbairischen Dialekten Österreichs mit Sprachdaten von 27 Kindern aus zwei westmittelbairischen Orten (Henndorf am Wallersee und Hallein) abzugleichen, um daraus Wandeltendenzen, Remanenz und Abbau in den westmittelbairischen Dialekten Österreichs besser einschätzen zu können. Wir konzentrieren uns auf den westmittelbairischen Raum um Salzburg, weil uns hier für die Phänomene gute Beschreibungen des rezenten Dialektgebrauchs vorliegen (vgl. z. B. REIFFENSTEIN 1955; SCHEURINGER 1990; SAO; MAUSER 2007; SCHEUTZ 2007; 2017; BÜLOW 2019; BÜLOW et al. 2019; BÜLOW / SCHEUTZ / WALLNER 2019; VERGEINER 2019). Folgende Forschungsfragen stehen im Fokus dieser Untersuchung: Welche dialektalen Merkmale, die aus dem Basisdialekt für die Region dokumentiert sind, zeigen sich bei den 27 Kindergartenkindern, welche nicht? Welche aktuellen Sprachwandelprozesse (z. B. Konvergenz, Divergenz, Advergenz) können wir beobachten? Durch welche linguistischen Steuerungsfaktoren sind mögliche Wandelprozesse beeinflusst? Um diese Fragen zu beantworten, werden wir zunächst unsere theoretischen Vorannahmen auf Basis des Forschungsstands zum Erstsprach- bzw. Variationserwerb und dessen Rolle im Sprachwandel darlegen.

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2 FORSCHUNGSSTAND Nachfolgend werden wir zunächst den Forschungsstand zum Zusammenhang zwischen Erstspracherwerbs- und Sprachwandelprozessen erläutern (Kap. 2.1), bevor wir anschließend auf das Untersuchungsgebiet eingehen und die aktuellen Forschungsergebnisse zum Sprachwandel in den westmittelbairischen Dialekten Salzburgs darstellen (Kap. 2.2). 2.1 Erstspracherwerb und Sprachwandel Dass Prozesse im kindlichen Spracherwerb einen Einfluss auf Sprachvariation und Sprachwandel haben können, ist innerhalb der Sprachwissenschaft Konsens. Umstritten ist hingegen, welche Bedeutung dem kindlichen Spracherwerb für Sprachwandelprozesse beigemessen werden kann. Diese komplexe Frage erfordert zunächst einen Blick auf zentrale empirisch abgesicherte Grundannahmen der Erstspracherwerbsforschung.

2.1.1 Grundannahmen zum Erstspracherwerb Die empirische Forschung zum Erstspracherwerb hat gezeigt, wie die kognitiven Ressourcen eines Kindes mit seiner sozialen Umgebung interagieren und so das individuelle sprachliche Repertoire des Kindes formen (vgl. HOFF 2006; TOMASELLO 2007). Die ersten Lebensmonate und -jahre eines Kindes sind (auch) hinsichtlich der sprachlichen Entwicklung durch den sprachlichen Input der Eltern geprägt. Zahlreiche Untersuchungen belegen den direkten quantitativen und qualitativen Zusammenhang zwischen (elterlichem) Input und der Sprachentwicklung des Kindes (HART / RISLEY 1995; zusammenfassend HOFF 2006 und SZAGUN 2013: 241–259). Dabei spielen die Frequenz und Salienz des Inputs eine wesentliche Rolle (PFÄNDER / BEHRENS 2016). Die meisten sprachgebrauchsbasierten Ansätze gehen davon aus, dass auf der Basis probabilistischen Lernens bereits von Anfang an auch Abstraktionsprozesse stattfinden, wodurch auch wohldokumentierte Erwerbsphänomene wie die Übergeneralisierung von (scheinbaren) Regularitäten erklärt werden können (LIEVEN / TOMASELLO 2008). Zu bedenken ist allerdings, dass das Sprachangebot, das kleine Kinder erhalten, nicht genau dem entspricht, was Erwachsene oder Jugendliche unter ihresgleichen sprechen, sondern – je jünger das Kind, desto stärker (VAN DIJK et al. 2013) – davon abweicht. Die so genannte ‚kindgerichtete Sprache‘ (KGS), die in praktisch allen westlichen Kulturen beobachtet werden kann, weist relativ konsistente und sprachübergreifende Merkmale (wie höhere und variablere Grundfrequenz, reduziertes Vokabular und simplere syntaktische Strukturen) auf, die letztlich dazu führen können, dass sich die Sprache, die kleine Kinder von Erwachsenen hauptsächlich hören, deutlich davon unterscheidet, wie diese Erwachsenen im Alltag (untereinander) sprechen (vgl. SZAGUN 2013: 232). Die Qualität der kindgerichteten Sprache ist demnach als

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‚intervenierende Variable‘ zwischen dem Sprachgebrauch der Erwachsenen und dem Spracherwerb der Kinder mitzuberücksichtigen. Erstspracherwerb ist letztlich nur durch die Einbettung in für das Kind bedeutungsvolle soziopragmatische Kontexte erfolgreich und verstehbar (TOMASELLO 2003). Diese Kontexte beeinflussen u. a. die physische und vor allem auch psychologische Salienz sprachlicher Erscheinungen. Die psychologische Salienz wird z. B. durch die sozio-indexikalische Wertigkeit, die sprachlichen Phänomenen beigemessen wird, bestimmt. Dies bezieht auch die emotionale Nähe/Distanz zur Sprecherin bzw. zum Sprecher und die Motivation, einer bestimmten Sprechergruppe anzugehören, mit ein (vgl. ELLIS 2016: 245). Während in den ersten Lebensjahren erwerbsförderliche Kontexte primär an die unmittelbare Interaktion mit Kommunikationspartner/inne/n gebunden sind, können mit fortschreitendem Alter des Kindes zu einem gewissen Grad auch Medien erwerbsrelevanten Input bieten (vgl. LINEBARGER / VAALA 2010; RICHERT / ROBB / SMITH 2011). Der Erstspracherwerb ist ein langjähriger Prozess. Ab dem Alter des Eintritts in den Kindergarten spielt neben dem rein impliziten Spracherwerb auch der institutionell unterstützte Spracherwerb zunehmend eine Rolle, von der integrierten Sprachförderung über die Förderung von Vorläuferfertigkeiten des Schriftspracherwerbs bis hin zum gesteuerten Schriftspracherwerb und -ausbau in der Schule, der in vielerlei Weise auch auf die metasprachliche Entwicklung, die Spracheinstellungen und dadurch wiederum auch auf die mündliche Sprachverwendung rückwirkt (BERMAN / RAVID 2012; HOMER 2012).

2.1.2 Erstspracherwerb als Variations- und Varietätenerwerb in Dialekt-/Standard-Kontexten Insgesamt steuert also der sprachliche Input den Erwerb und Ausbau des Sprachrepertoires der Kinder ganz wesentlich. Bedingt durch eine immer größer werdende Bandbreite an Kommunikationssituationen und -partnern und einen dadurch sich diversifizierenden Input wird jeder Erstspracherwerb früher oder später (zumindest rezeptiv) zum Variationserwerb. KATERBOW (2013: 157) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Heterogenisierung der Kommunikationssituationen“. In soziolinguistischen Kontexten, in denen Dialekt und Standard nebeneinander existieren, möglicherweise noch ergänzt durch sprachliche ‚Zwischenformen‘, ist der sprachliche Input dabei einer zusätzlichen Variationsdimension unterworfen. Tatsächlich zeigt die Forschung, dass der Erwerb von sprachlichen Varianten bzw. Varietäten früh beginnt – in Abhängigkeit von den kommunikativen Bedürfnissen und Umgebungen des Kindes. Jüngere Kinder spiegeln dabei zunächst primär das Variationsverhalten der Eltern wider (SMITH / DURHAM / FORTUNE 2007; KERSWILL / WILLIAMS 2000), wobei zu berücksichtigen ist, dass mit (jüngeren) Kindern in vielen Fällen standardnäher gesprochen wird als mit Erwachsenen (DE HOUWER 2003; FOULKES / DOCHERTY / WATT 2005; SMITH / DURHAM / FORTUNE 2007; für Österreich: PENZINGER 1994: 133–135; STEINEGGER 1998: 134; ENDER / KAISER 2009: 277; LENZ 2019: 339; KASBERGER / GAISBAUER 2020). Bereits im

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Alter von 3 bis 4 Jahren können Kinder zu einem gewissen Grad sprachliche Varianten an die Interaktionssituation und/oder die Gesprächspartner anpassen (vgl. u. a. SMITH / DURHAM / FORTUNE 2007; KATERBOW 2013; KAISER 2020). Gleichzeitig ist der Erwerb soziolinguistischer Variationskompetenz ein jahrelanger Prozess (DOSSEY / CLOPPER / WAGNER 2020). Selbst im Fall, dass der Input der Eltern bzw. der ersten Bezugspersonen des Kindes von Anfang an stark dialektal geprägt ist, kommen Kinder häufig schon sehr früh auch in Kontakt mit standardnahen Varietäten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang zum einen Vorlesesituationen und zum anderen audiovisuelle Medien. So sind etwa in Österreich Bilder- und Kinderbücher wie auch Kindersendungen im Fernsehen bzw. auf Streamingplattformen, Hörspiele und Filme fast ausschließlich in Standarddeutsch gehalten, und zwar meist mit bundesdeutscher Prägung. Ab dem Eintritt in den Kindergarten spielt schließlich der Bildungsauftrag der elementarpädagogischen Einrichtungen eine Rolle, die im Bildungsrahmenplan dazu angehalten sind, Kinder „allmählich an die Standardsprache“ heranzuführen (Charlotte-Bühler-Institut 2009: 24). Je älter die Kinder werden, desto stärker orientieren sie sich an der peer group (vgl. z. B. LABOV 1964; MACHA 1993; KERSWILL / WILLIAMS 2000; LABOV 2001; FOULKES / DOCHERTY 2006). Kinder scheinen bereits früh sensibel zu sein für sozio-indexikalische Bewertungen (der für sie relevanten Bezugspersonen) und für Asymmetrien zwischen den Varietäten, also für das, was SILVERSTEIN (1985) „the total linguistic fact“ nennt: die Spracheinstellungen, Sprachpraktiken, Sprachideologien, die sie umgeben. In der Querschnittstudie von KAISER (2020) im bairischösterreichischen Raum weisen die älteren Kindergartenkinder (dabei in der Mehrheit Mädchen) tendenziell eine größere Standardnähe auf. LABOV (1964) postuliert in seinem bekannten Erwerbsmodell für StandardEnglisch, dass die peer group die Eltern als treibende Kraft der kindlichen Sprachentwicklung vollständig ersetze. Heute geht man jedoch aufgrund der empirischen Beleglage davon aus, dass Kinder nicht streng ‚monostilistische‘ Sprecher/innen sind (also vom zunächst dominanten elterlichen Sprachsystem auf das peer groupSystem umsteigen), sondern dass die verschiedenen Varietäten in der kindlichen Sprachbeherrschung ko-existieren können (vgl. NARDY / CHEVROT / BARBU 2013). Wie genau das kindliche Sprachrepertoire entsteht und wie es in verschiedenen Situationen genutzt wird, ist individuell sehr unterschiedlich (VAN HOFWEGEN / WOLFRAM 2010; KATERBOW 2013; KAISER 2020). Aus einer sozial-interaktionistischen und gebrauchsbasierten Perspektive ist der Erwerb sprachlicher Varianten untrennbar mit dem Erwerb der Gebrauchsbedingungen verbunden, die naturgemäß individuell unterschiedlich erfahren, wahrgenommen und bewertet werden. Zudem tritt das Kind zunehmend als prägende Kraft seiner eigenen sprachlichen Umgebung und Entwicklung in Erscheinung, indem es aktiv seine Gesprächspartner/innen wählt und Sprechweisen mit subjektiven Bewertungen verknüpft. Variationserwerb kann demnach wohl am besten im theoretischen Rahmen eines ‚komplexen dynamischen und adaptiven Systems‘ verstanden werden (z. B. DE BOT / LOWIE / VERSPOOR 2007; BECKNER et al. 2009), in dem das Individuum und seine Umgebung Sprache miteinander interagierend ko-konstruieren.

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2.1.3 Zur Rolle des Erstspracherwerbs für den Sprachwandel Der Stellenwert des kindlichen Spracherwerbs für Sprachwandelprozesse wird in der Forschung weiterhin kontrovers diskutiert. Für einige Linguist/inn/en ist die Phase des kindlichen Spracherwerbs die entscheidende Zeitspanne für Innovationen und sich daraus ergebenden Wandel, für andere spiegelt der kindliche Sprachgebrauch lediglich Innovationen aus dem Input der erwachsenen Sprecher/innen wider. In der generativen Tradition wird dem Spracherwerb eine zentrale Rolle für grammatischen Wandel zugesprochen (vgl. z. B. CHOMSKY 1965; KING 1969; ANDERSEN 1973; LIGHTFOOT 1991; 1999; VAN GELDEREN 2016): Grammatischer Wandel entstehe primär dadurch, dass Kinder sprachliche Regeln im Spracherwerb übergeneralisieren und reanalysieren. Damit wird nicht gesagt, dass erwachsene Sprecher/innen keine sprachlichen Innovationen hervorbringen, sondern nur, dass diese keinen direkten Einfluss auf den eigentlichen Sprachwandel hätten (vgl. LIGHTFOOT 1999). In diesem Zusammenhang ist LIGHTFOOTs (1999: 77–82) Unterscheidung zwischen sozialen Grammatiken (social grammars) von Sprachgemeinschaften, definiert als „corpus of sentences belonging to some socially or politically defined entity“ (LIGHTFOOT 1999: 79), und biologischen Grammatiken (biological grammars) einzelner Sprecher/innen aufschlussreich. LIGHTFOOT (1999) argumentiert, dass Innovationen im Erwachsenenalter hauptsächlich die soziale Grammatik betreffen, nicht aber die biologische. Diese können sich höchstens indirekt auf die biologischen Grammatiken auswirken, indem sie den abweichenden Input für ‚neue‘ biologische Grammatiken darstellen, die sich im Spracherwerb herausbilden. Mit diesem Sprachwandelmodell sind allerdings weitreichende Annahmen verknüpft (vgl. CROFT 2000: 45–46): 1) Historische Sprachwandelprozesse seien identisch mit Wandelprozessen im Erstspracherwerb, 2) Wandel, der sich im Erstspracherwerb manifestiert, würde bis ins Erwachsenenalter beibehalten, 3) Sprachwandel erscheine relativ abrupt, da er generationenweise auftrete und 4) Sprecher/innen verfügten entweder über die ‚alte‘ Grammatik oder die ‚neue‘ Grammatik. Das Sprachwandelmodell der generativen Linguistik wurde in den 1950/60er Jahren durch psycholinguistische Arbeiten gestützt, die glaubten, eine biologisch determinierte kritische Phase für Spracherwerbsprozesse identifizieren zu können. Die sogenannte Critical Period Hypothesis (CPH), die auf die Arbeiten der Psychologen PENFIELD / ROBERTS (1959) zurückgeht und insbesondere von LENNEBERG (1967) propagiert wurde, behauptet, dass es ein ideales Zeitfenster für den Erstspracherwerb gäbe, das sich mit voranschreitender Pubertät schließe. Diese Behauptung ist mit der Annahme verknüpft, dass das Gehirn während des Reifungsprozesses seine neuronale Plastizität verliere. PENFIELD / ROBERTS (1959: 236) schreiben beispielsweise: „for the purpose of learning languages, the human brain becomes increasingly stiff and rigid after the age of nine“. Die CPH wurde weiter durch frühe Studien zur sprachlichen Entwicklung von Immigrant/inn/en gestützt, die zeigten, dass Kinder die Sprache(n) des Gastlandes mit größerer Leichtigkeit erwerben als Erwachsene (ASHER / GARCIA 1969). All dies schien zu bestätigen,

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dass der Spracherwerb mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter im Wesentlichen abgeschlossen sei und Sprachwandelprozesse entsprechend vorher initiiert worden sein müssten. Auf die zentrale Rolle des kindlichen Spracherwerbs für den Sprachwandel stützt sich im Übrigen auch die frühe Soziolinguistik. LABOVS (1966) apparenttime-Konstrukt setzt im Geiste der CPH als entscheidende Prämisse voraus, dass die Sprecher/innen ab dem Erwachsenenalter sprachlich so weit gefestigt sind, dass sie die „orderly heterogeneity“ (WEINREICH / LABOV / HERZOG 1968: 167) der jeweiligen Sprachgemeinschaft stabil abbilden. Deshalb sei es bei Konstanz der Sprechlage methodisch erlaubt, sprachliche Unterschiede zwischen verschiedenen Generationen als Sprachwandelprozesse zu interpretieren. Obwohl die CPH durch empirische Befunde aus verschiedenen Bereichen der Linguistik zunehmend in Frage gestellt und widerlegt wird (vgl. z. B. GUTCHESS 2014; BIRDSONG / VANHOVE 2016; BIALYSTOK / KROLL 2018; PFENNINGER / SINGLETON 2019), wird sie auch innerhalb der Soziolinguistik und Dialektologie nach wie vor bemüht, wie das Zitat von KERSWILL / WILLIAMS (2005: 1025) zeigt: the formation of a new dialect in a new town is in the gift of children, not adults, because […] adults’ speech is relatively fixed for both psycholinguistic (critical period effects) and sociolinguistic reasons (relative fixedness of social identity).

Die CPH und die damit verbundene child-based theory of language change sind sicherlich mit dafür verantwortlich, dass der Fokus der Variations- und Soziolinguistik bisher vor allem auf Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen lag, die den gefestigten, ‚neuen‘ Sprachstand in seiner Variation vermeintlich am besten im Vergleich mit dem Sprachstand älterer Sprecher/innen bzw. sogenannten NORMs und NORFs abbilden (vgl. ROBERTS 2013; TAGLIAMONTE 2016). Studien aus dem Bereich der Variations- und Soziolinguistik haben allerdings gezeigt, dass Innovationen nicht nur von einer älteren Generation zu einer jüngeren Generation diffundieren, sondern auch innerhalb erwachsener Sprechergruppen. Weiters sind Ergebnisse aus Panelstudien (z. B. SANKOFF / BLONDEAU 2007; WAGNER / SANKOFF 2011) zu erwähnen, die zeigen, dass sich erwachsene Sprecher/innen sprachlich durchaus dynamisch verhalten und Veränderungen auf vielen Ebenen der Grammatik auftreten können (vgl. z. B. WAGNER 2012: 379; BEAMAN 2020; BÜLOW / VERGEINER 2021; WALLNER i. Vorb.). Diese Ergebnisse werden oftmals im Kontext sprachgebrauchsbasierter Zugänge zum Sprachwandel erklärt. Diese konzeptualisieren Sprachwandel als ein komplexes, multifaktorielles Geschehen, in dem etwa soziale, situative und individuelle Faktoren der Mikro- und Makro-Ebene von sprachlicher Interaktion zusammenwirken und zu einer ‚evolutionären Selektion‘, d. h. einer vielfachen Replikation von sprachlichen Äußerungsvarianten, führen (CROFT 2000; BÜLOW 2017). Sprachliche Innovationen sind demnach prinzipiell in jedem Lebensalter möglich, aber möglicherweise aufgrund der noch weniger stabilen sprachlichen (und sozialen) Wissensstrukturen im Kindesalter von größerem Einfluss (vgl. KERSWILL 1996). Nichtsdestoweniger kommen die verschiedenen Auffassungen zur Rolle des kindlichen Spracherwerbs für den Sprachwandel darin überein, dass der Input für

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die sprachliche Entwicklung der Kinder prägend ist. Gerade in sprachgebrauchsbasierten Ansätzen wird zudem betont, dass die kindliche Lernersprache diesen Input widerspiegelt, wenn auch zum Teil verzerrt (z. B. durch Übergeneralisierungen), egal ob der Erwerb mono- oder bilingual, mono- oder bivarietär erfolgt. Entscheidend ist, dass Kinder zunächst die Variationsmuster erlernen, die sie aus dem Input der elterlichen Bezugspersonen oder der peer group rekonstruieren. Dabei übernehmen sie gegebenenfalls auch Innovationen und erlernen deren indexikalische Wertigkeiten innerhalb der Sprachgemeinschaft (vgl. LANZA 1997; KAISER 2020), wie in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt wurde. 2.2 Wandel, Remanenz und Abbau in den westmittelbairischen Dialekten Salzburgs Wir stellen nun das Untersuchungsgebiet unserer Studie vor. Wie die Karte (links) in Abb. 1 verdeutlicht, umfasst die westmittelbairische Dialektregion nur einen relativ kleinen Teil der bairischen Dialektlandschaft Österreichs. Die westmittelbairischen Dialekte beschränken sich jenseits Bayerns im Wesentlichen auf den Flachgau und nördliche Teile des Tennengaus im Bundesland Salzburg sowie das Innviertel und Gebiete westlich der Traun im Hausruck- und im Traunviertel im Bundesland Oberösterreich (vgl. WIESINGER 1983). Östlich der Traun und des Innviertels schließen sich in Oberösterreich die ostmittelbairischen Dialekte an. Im südlichen Tennengau gehen die westmittelbairischen Dialekte sukzessive und phänomenspezifisch in die südmittelbairischen Dialekte Salzburgs über.

Abb. 1: Links: Dialektregionen Österreichs nach Wiesinger (1983); Rechts: Lage der Untersuchungsorte im Bundesland Salzburg

Die Untersuchungsorte dieser Studie, Henndorf am Wallersee und Hallein, sind etwa 25 km voneinander entfernt (Luftlinie) und befinden sich nach gängigen Einordnungen (z. B. WIESINGER 1983; SAO; LENZ 2019) im westmittelbairischen Gebiet bzw. an dessen Rand zum südmittelbairischen Übergangsgebiet (s. Abb. 1, rechts). Beide Gemeinden sind relativ nahe an der Stadt Salzburg gelegen (ca. 15 km nordöstlich bzw. 13 km südlich) und über Hauptverkehrsrouten mit der Stadt Salzburg verbunden. Henndorf am Wallersee ist mit knapp 5.000 Einwohnern länd-

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licher strukturiert, Hallein mit 20.000 Einwohnern im Vergleich etwas urbaner. Während Henndorf ein traditionell von der Landwirtschaft geprägter Ort ist, in dem jedoch heute auch viele (pendelnde) Angestellte mit jungen Familien ansässig sind, ist Hallein als Industriestandort – mit einem schon seit Jahrzehnten relativ hohen Migrant/inn/en-Anteil – von Bedeutung. Im Nachfolgenden erläutern wir zunächst die Sprachsituation im Untersuchungsgebiet (Kap. 2.2.1), bevor anschließend die wesentlichen Wandeltendenzen in den westmittelbairischen Dialekten dargestellt und eingeordnet werden (Kap. 2.2.2).

2.2.1 Sprachsituation Die Herausbildung von Standards in der Frühphase des Neuhochdeutschen hat im gesamten deutschen Sprachraum zu einer Erweiterung und Umstrukturierung der Sprecherrepertoires geführt. Das trifft auch auf die bairischen Regionen Österreichs zu, wo sich zwischen den lokalen Basisdialekten und den (neuen) Gebrauchsstandards Zwischenformen herausbildeten. Gemeinhin wird diese Sprachsituation mit Zwischenformen auf der Dialekt-Standard-Achse im Sinne einer Diaglossie als Dialekt-Standard-Kontinuum modelliert (vgl. z. B. AUER 2005; KAISER / ENDER 2015; LENZ 2019). Teilweise werden die Zwischenformen allerdings auch zu Sprechweisen bzw. Sprechlagen im Sinne einer Polyglossie zusammengefasst. WIESINGER (2014: 76– 84) unterscheidet beispielsweise die folgenden vier Sprechweisen für die bairischen Regionen in Österreich: Dialekte, Verkehrssprachen, städtische Umgangssprachen, Standardsprache. SCHEUTZ (1999: 107) bemerkt zu dieser Einteilung kritisch: „[S]ogar bei einer Beschränkung auf den phonetisch-phonologischen Bereich ist nicht ersichtlich, in welcher Weise die Zuordenbarkeit einzelner Formen zu den vier Schichten in eindeutiger Weise geregelt sein könnte“. Das Variationsverhalten entlang der Dialekt-Standard-Achse sei nach SCHEUTZ (1999) jedoch keinesfalls beliebig. Vielmehr handle es sich um „ein höchstkomplexes Konglomerat verschiedener und verschiedenartiger Regeln und Formen innerhalb eines multidimensionalen Variationsraumes“ (SCHEUTZ 1999: 128). Die Klärung der Frage, ob sich Zwischenformen zu kohärenten Sprechweisen auf der Dialekt-Standard-Achse zusammenfassen lassen, bleibt allerdings nach wie vor ein empirisches Desiderat, dem sich erst in jüngster Zeit verschiedene Studien intensiv gewidmet haben (vgl. etwa BREUER / WITTIBSCHLAGER 2020; FANTA-JENDE 2021; VERGEINER / WALLNER / BÜLOW i. Dr.). Dabei zeigen erste Untersuchungen, dass die Repertoires individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können (ENDER / KAISER 2014; VERGEINER 2019; 2020), über das Erwachsenenalter hinweg aber relativ stabil bleiben (VERGEINER / WALLNER / BÜLOW i. Dr.). Für die Sprachsituation in Österreich ist weiterhin typisch, dass grundsätzlich ein relativ stabiler Dialektgebrauch (qualitativ wie quantitativ) konstatiert werden kann – zumindest auf der Grundlage von Selbsteinschätzungen der Betroffenen (vgl. ENDER / KAISER 2009: 268; LENZ 2019; KOPPENSTEINER / KIM 2020). Demnach ist der Gebrauch dialektaler Formen nicht nur im Untersuchungsgebiet üblich,

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sondern in ganz Österreich verbreitet. Die hauptsächliche Domäne des Dialekts seien die familiäre Alltagskommunikation sowie Gespräche unter Freunden (KLEENE 2020: 395). Aber auch am Arbeitsplatz würde mit Kolleg/inn/en aus derselben Region zu über 70 % „fast immer“ oder „häufig“ Dialekt gesprochen (ENDER / KAISER 2009: 272). Wenn man regional stärker differenziert, ist die Einschätzung der eigenen Dialektbeherrschung im Westen Österreichs höher als im Osten und in Städten niedriger als in ruralen Gebieten; besonders in Wien, aber auch in anderen Städten ist eine weit geringere Dialektbeherrschung und -verwendung zu beobachten (vgl. STEINEGGER 1998: 169–172; LENZ 2019: 338–342). Diese Beobachtungen passen zu Befunden, wonach der Anteil von Personen, welche angeben, im Alltag ausschließlich Standard zu sprechen, sehr gering ist (vgl. STEINEGGER 1998: 371; ENDER / KAISER 2009; LENZ 2019: 339–342). Der Standard wird nach Selbsteinschätzung der Sprecher/innen vor allem in formellen Situationen und/oder in der Interaktion mit Nicht-Österreicher/inne/n verwendet (STEINEGGER 1998). Die mittlere(n) Sprechweise(n) hingegen – in Spracheinstellungsuntersuchungen teilweise „Umgangssprache“ genannt – würde(n) dementsprechend dort eingesetzt, wo der Dialekt zu informell und der Standard zu formell erscheinen. Die Sprecher/innen griffen vor allem auch dann auf die Zwischenformen zurück, wenn sie selbst mobiler sind und dadurch häufiger mit Personen aus anderen Regionen Umgang hätten (KLEENE 2020: 387). WIESINGER (2014: 81) arbeitet zudem heraus, dass insbesondere für die Mehrzahl der jüngeren Österreicher/innen die Alltagssprache mittlerweile im Bereich der Umgangssprache anzusiedeln ist. Besonders relevant für die vorliegende Untersuchung ist die Befragung von ENDER / KAISER (2009), da diese von Teilnehmer/inne/n aus dem Salzburger Raum dominiert wird. Auffällig ist hier insbesondere der Rückgang der Dialektverwendung, wenn nach dem Sprachgebrauch mit den eigenen Kindern gefragt wird (ENDER / KAISER 2009: 277): Nur mehr knapp 50 % der Teilnehmer/innen geben an, bevorzugt Dialekt mit den eigenen Kindern zu sprechen, während 45 % auf umgangssprachliche Formen zurückgreifen (würden). Auch PENZINGER (1994: 133– 135) stellt unter Grazer Müttern, besonders jenen der „sozial mobile[n] untere[n] Mittelschicht“ eine „Prestigesensibilität“ fest, derenthalben sie mit ihren Kindern vor allem standardnah sprechen, um den sozialen Aufstieg zu erleichtern. Hier scheint sich in den letzten Jahrzehnten ein Trend in der Kindererziehung etabliert zu haben, wie auch LENZ (2019: 339) im Generationenvergleich belegt. Diese Tendenz zum standardnäheren Sprechen mit Kindern gilt im Übrigen nicht nur für die Eltern, sondern allgemein für Erwachsene, die mit (auch etwas älteren) Kindern sprechen (KASBERGER / GAISBAUER 2020; STEINEGGER 1998: 134). Im Vergleich zu früher ist die (relative) Quantität des dialektalen Inputs für Kinder in Österreich heute mit Sicherheit niedriger. Insofern als der Dialekt der heutigen Elterngeneration weitestgehend nicht mehr dem Basisdialekt der traditionellen NORM/Fs entsprechen dürfte, stellt sich aber nicht nur die Frage nach der Quantität des Inputs, sondern auch nach dessen Qualität. Im Folgenden wollen wir deshalb kurz auf die wichtigsten Wandeltendenzen in den westmittelbairischen Dialekten Österreichs eingehen.

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2.2.2 Wandeltendenzen in den westmittelbairischen Dialekten Österreichs Auch wenn der Dialektgebrauch in Österreich insgesamt noch relativ ausgeprägt zu sein scheint (siehe Kap. 2.2.1), stehen die westmittelbairischen Dialekte in Österreich unter einem besonderen Anpassungsdruck. Das hängt insbesondere auch mit politischen Grenzziehungen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zusammen, die das westmittelbairische Dialektkontinuum zerschneiden. Mit dem Frieden von Teschen 1779 wird das ehemals zum Herzogtum Bayern gehörende Innviertel dem Herzogtum Österreich ob der Enns angegliedert. Salzburg, das bis 1275 zu Bayern gehörte und dann bis zu den napoleonischen Eroberungen ein weitestgehend autonomes Fürstentum darstellte, fiel im Rahmen des Wiener Kongresses am 1. Mai 1816 mit dem Vertrag von München an das Kaisertum Österreich. Lediglich der sogenannte Rupertiwinkel und die Fürstpropstei Berchtesgaden wurden Bayern zugeschlagen. Diese Grenzziehungen zeigen langfristige Folgen für die sprachliche Entwicklung in den westmittelbairischen Dialekten Österreichs, die seit dem frühen 19. Jahrhundert territorial von den westmittelbairischen Regionen in Bayern stärker abgeschnitten sind und dadurch einem immer größeren Einfluss ostmittelbairischer Varianten ausgesetzt sind. Verschiedene Studien verdeutlichen beispielsweise, dass sich die heutige österreichisch-deutsche Grenze zunehmend als Dialektgrenze bemerkbar macht (SCHEURINGER 1990; 1993; AUER 2004; 2013; SCHEUTZ 2007; BÜLOW / KLEENE 2019; KLEENE 2020): SCHEURINGER (1990) hat beispielsweise für das Innviertel herausgearbeitet, dass sich die österreichischen Sprecher/innen vermehrt an ostmittelbairischen Formen orientieren. „Stärker als je zuvor bestimmt die staatliche Eingebundenheit auch die Entwicklung der Sprache“ (SCHEURINGER 1990: 300). Eine Auseinanderentwicklung der Dialekte diesseits und jenseits der Grenze deckt sich auch weitestgehend mit Befunden von SCHEUTZ (2007) für das salzburgisch-bayerische Grenzgebiet. Die Divergenz sprachlicher Formen im Westmittelbairischen entlang der Staatsgrenze wird für die österreichische Seite häufig mit dem Einfluss aus Wien begründet, von wo aus sich häufig dialektale und umgangssprachliche Neuerungen nach Westen bis zur Grenze ausbreiten (vgl. MOOSMÜLLER 1991; WIESINGER 2004; MOOSMÜLLER / SCHEUTZ 2013; BÜLOW 2019). Dieser Befund gilt in erster Linie für phonetisch-phonologischen, morphologischen und lexikalischen Wandel. Umfassende Untersuchungen zum Wandel im Bereich der Dialektsyntax stehen für Österreich noch weitestgehend aus (vgl. aber erste Ergebnisse in STÖCKLE 2020; BÜLOW / VERGEINER / ELSPASS 2022; VERGEINER / BÜLOW 2022). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die wichtigsten Sprachwandeltendenzen für die westmittelbairischen Dialekte in Österreich in Dialekt-zu-StandardAdvergenzen (vgl. z. B. SCHEUTZ 1985; SCHEURINGER 1990; BÜLOW 2019; BÜLOW et al. 2019) und Konvergenzen zu den ostmittelbairischen Dialekten bestehen (vgl. z. B. WIESINGER 2004; LENZ 2019; BÜLOW / SCHEUTZ / WALLNER 2019; BÜLOW / WALLNER 2020; VERGEINER / BÜLOW / WALLNER 2021). Dabei ist zu beachten, dass sich Dialekt-zu-Standard-Advergenzen und Konvergenz-Prozesse hin zu den oftmals progressiveren ostmittelbairischen Formen nicht klar voneinander trennen lassen und

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sich mitunter gegenseitig verstärken (vgl. etwa BÜLOW 2019; VERGEINER et al. eingereicht). Die Ausbreitung regiolektalerer Formen bedeutet zugleich, dass die Unterschiede zwischen den Dialektregionen und damit auch die Differenzierungsmöglichkeiten zwischen den west- und ostmittelbairischen Dialekten häufig zugunsten der ostmittelbairischen Varianten nivelliert werden. Wo Unterschiede bestehen, werden wir bei der nachfolgenden Darstellung der Variablen dezidiert auf Differenzen zwischen west- und ostmittelbairischen Formen hinweisen. 3 VARIABLEN UND HYPOTHESEN Für die vorliegende Studie wurden solche phonetisch-phonologischen Variablen herangezogen, deren Varianten in den Aufnahmen der Kinder ohrenphonetisch eindeutig einzuordnen sind und in ausreichender Frequenz auftreten. Das sind für diese Untersuchung die /a/-Verdumpfung, die /l/-Vokalisierung, Reflexe von mhd. und mhd. sowie der Anlaut der Pluralformen von sein im Präsens Indikativ und der Stammvokal in den Präsensformen von kommen. Im Folgenden werden diese Variablen genauer dargestellt und erläutert. Auf Grundlage dieser Erläuterungen und der in Kap. 2 beschriebenen Zusammenhänge werden wir außerdem für jede Variable eine Hypothese für das sprachliche Verhalten der Kinder ableiten. Da keine signifikanten Unterschiede zwischen den Kindern in Hallein und Henndorf am Wallersee in Bezug auf die untersuchten Variablen zu erwarten sind, fassen wir die Annahmen für beide Gruppen jeweils in einer Hypothese zusammen. 3.1 /a/-Verdumpfung Die sogenannte /a/-Verdumpfung gilt als ‚Kennlaut‘ des gesamten bairischen Dialektgebiets. Im westmittelbairischen Untersuchungsraum werden die historisch langen und kurzen a-Laute basisdialektal als gehobenes [ɔ(ː)] realisiert (z. B. SAO I 4 in Schnabel, I 19 in Tafel oder I 24 in fassen); in angrenzenden Gebieten ist teilweise sogar [o] vorzufinden (SCHEUTZ 2007: 21–25). Die /a/-Verdumpfung kann im Untersuchungsgebiet auch in formelleren Gesprächssituationen verwendet werden (SCHEUTZ 1985; 1999), bleibt allerdings weitestgehend auf genuin basisdialektalen Wortschatz beschränkt (ZEHETNER 1985: 76; SCHEUTZ 1999: 114). Hypothese 1 lautet daher: H1: Die Kinder aus Hallein und Henndorf am Wallersee tendieren klar zur Verwendung der /a/-Verdumpfung, wobei sich durchaus lexikalische Unterschiede zeigen können.

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3.2 /l/-Vokalisierung Die /l/-Vokalisierung nach Vokal im Auslaut oder zwischen zwei Vokalen gilt ebenfalls als ein zentrales Charakteristikum mittelbairischer Basisdialekte (SAO II 194: mhd. ë + l in Keller; SCHEUTZ 2007: 41–44). Während die grundsätzliche Remanenz der /l/-Vokalisierung in westmittelbairischen Basisdialekten unumstritten ist, sind die konkreten Qualitäten des Vokalisierungsprodukts äußerst vielfältig: Nach den hinteren Vokalen [u, o, ɔ] wird /l/ zu Zwischenformen zwischen [i] und [e] vokalisiert, sodass die Diphthonge [ui̯ ; oi̯ ; ɔi̯ ] entstehen. Noch komplexer ist die Situation für die Vordervokale. Nach den Vordervokalen [i] und [e] gilt für große Teile Salzburgs basisdialektal die Vokalisierung von /l/ zu den langen, ungerundeten Monophthongen [iː] und [eː]. Aus dem ungespannten [ɛ] (aus mhd. wie in Mehl, stehlen, Keller) entsteht jedoch in Kombination mit einem vokalisierten /l/ der Diphthong [ɛi̯ ]. Diese ‚Altsalzburger‘ Formen stehen aber zunehmend unter dem Druck ostmittelbairischer Vokalisierungsvarianten, die zu gerundeten monophthongischen Realisierungen wie zum Beispiel /yː/ und /øː/ führen (SCHEUTZ 2007: 41–43; Stifterhaus 2021). So findet SCHEUTZ (2007: 42–43; siehe auch SCHEUTZ 2017) im Generationenvergleich bereits einen deutlichen Unterschied zwischen den älteren und den jüngeren Gewährspersonen, wobei Letztere vermehrt zu den ostmittelbairischen Varianten neigen. Hypothese 2 lautet deshalb: H2: Die Kinder aus Hallein und Henndorf am Wallersee tendieren klar zur Verwendung der /l/-Vokalisierung, wobei ostmittelbairische Varianten dominieren. 3.3 Reflexe von mhd. Der mhd. Diphthong hat sich im westmittelbairischen Untersuchungsraum basisdialektal zu /ɔɐ̯/ entwickelt (REIFFENSTEIN 1955: 3). Dadurch wird basisdialektal eine Unterscheidung der Reflexe aus mhd. und bewahrt, die standardsprachlich als Diphthong /aɪ̯ / zusammengefallen sind. In Wien hat sich mhd. im 12. Jahrhundert in gehobenen Schichten zudem zu einem /a/-Monophthong entwickelt (vgl. KRANZMAYER 1956: 69; WIESINGER 1983: 838). Diese ‚höherschichtige‘ Variante breitete sich verkehrssprachlich spätestens seit dem 20. Jahrhundert von Wien in die größeren Städte und ruralen Gebiete in Nieder- und Oberösterreich aus (WIESINGER 2003: 2357; MOOSMÜLLER / SCHEUTZ 2013). Auch SCHEUTZ (1999: 118) verweist auf „die gruppenspezifische und soziostilistische Relevanz dieses Merkmals“: Ob die /a/-Variante verwendet wird, hänge zum einen von der Gesprächssituation (Nähe/Distanz zwischen den Gesprächspartner/inne/n bzw. Formalitätsgrad) ab und zum anderen vom Bildungs- bzw. Berufshintergrund der Sprecher/innen, wobei diese beiden Variablen interagieren können. Während „konservative Dialektsprecher“ mit handwerklichen Berufen die /a/Variante gänzlich vermeiden, wird sie von „fortschrittlichen Dialektsprechern“ (mit geringer Standardsprachverwendung) mehrheitlich zur Annäherung an die Standardsprache in formelleren Kontexten gebraucht und von „Sprechern mit häufiger

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Standardsprachverwendung“ eher – in Konkurrenz zu /ɔɐ̯/ – als Annäherung an informelle/dialektale Sprechweisen eingesetzt (SCHEUTZ 1999: 112 und 118). Aktuelle Untersuchungen im Kontext des SFB-Projekts „Deutsch in Österreich“ zeigen, dass sich die /a/-Realisierungen bei jüngeren GP im Ostmittelbairischen schon weitestgehend durchgesetzt haben (FANTA-JENDE 2021). Für den westmittelbairischen Untersuchungsraum zeigt der SAO basisdialektal im Wort keine noch eine Dominanz der /ɔɐ̯/-Realisierungen. In der Stadt Salzburg sind aber auch die /a/-Formen schon anzutreffen (SAO II 70; MOOSMÜLLER / SCHEUTZ 2013). Für Hypothese 3 notieren wir: H3: Die Kinder aus Hallein und Henndorf am Wallersee tendieren klar zur Verwendung von /a/-Realisierungen, wobei sich durchaus lexikalische Unterschiede zeigen können. 3.4 Reflexe von mhd. Das lange mhd. ist basisdialektal in unserer Untersuchungsgegend weitestgehend als Diphthong /ɔu̯/ dokumentiert (REIFFENSTEIN 1955: 9; WIESINGER 2004: 27–29; SAO II 10, 11, 13, 18; SCHEUTZ 2007: 30). Allerdings scheint die Variante aktuell von starken Abbautendenzen betroffen zu sein: Aus der SAO-Karte (II 11) geht hervor, dass in der Stadt Salzburg die monophthongische Realisierung in den Lexemen rot, Brot und groß bereits die dominierende ist, im Umland hingegen nicht. SCHEUTZ (2007: 30) stellt fest, dass insbesondere die jüngeren GP nicht mehr diphthongieren, sondern vermehrt die standardnahe Variante [oː] realisieren, wobei er aber starke, lexikalisch gebundene Unterschiede feststellt. Diese Beobachtungen bestätigen sich in BÜLOW et al. (2019): Während die Lexeme rot und tot noch am dialektremanentesten realisiert werden, ist in anderen Lexemen wie hoch oder Brot schon deutlichere Dialekt-Standard-Advergenz zu [oː] zu beobachten. Diese Form der lexikalischen Diffusion lässt sich nicht mit herkömmlichen Erklärungsmustern in den Griff bekommen: Offensichtlich können bislang weder Frequenzeffekte noch innersprachliche oder soziolinguistische Faktoren die Komplexität der inter- und intraindividuellen Variation hinreichend erklären (BÜLOW et al. 2019: 29). Hypothese 4 lautet daher: H4: Die Kinder aus Hallein und Henndorf am Wallersee tendieren klar zur Verwendung des Monophthongs [oː], wobei sich durchaus lexikalische Unterschiede zeigen können. 3.5 Anlaut der Pluralformen von sein Die Anlautvariation zwischen /h/ und /s/ in den Pluralformen von sein (Präsens Indikativ, san/sadds vs. han/hadds) gilt als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen west- und ostmittelbairischen Dialekten (WIESINGER 2004: 24; BÜLOW

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2019). Während im Ostmittelbairischen der /s/-Anlaut dominiert, ist für das Westmittelbairische der /h/-Anlaut spezifisch. Basisdialektal bestätigt sich das auch in den Daten des SAO (II 156) und jenen von MAUSER (2007: 70). Anzumerken ist jedoch, dass sich hier bereits für die städtischer geprägten Orte der /s/-Anlaut belegen lässt (SAO II 156; MAUSER 2007: 71–72). Dass der Anlaut der Pluralformen von sein eine soziolinguistische Dimension besitzt, deuten die Daten von SCHEURINGER (1993) für Braunau an. SCHEURINGER (1993: 76–78) weist neben einer altersspezifischen auch insofern eine ‚schichtspezifische‘ Verwendungsdimension des /h/-Anlauts nach, als Personen aus ‚höheren Schichten‘ fast ausnahmslos dazu neigen, den /h/-Anlaut zu vermeiden. Zudem bemerkt SCHEURINGER (1993: 76) bereits „Auflösungserscheinungen“ des /h/-Anlauts entlang der Achse Linz – Salzburg. BÜLOW (2019) stellt ebenfalls einen signifikanten Generationenunterschied in der Verwendung der Anlautformen fest, wobei jüngere GP im Westmittelbairischen heute fast ausnahmslos den /s/-Anlaut verwenden; der /h/-Anlaut wird offensichtlich aktuell verdrängt und abgebaut, weshalb Hypothese 5 folgendermaßen lautet: H5: Die Kinder aus Hallein und Henndorf am Wallersee tendieren klar zur Verwendung des /s/-Anlauts in den Pluralformen von sein. 3.6 Stammvokal in kommen Im Präsensparadigma des Lexems kommen gibt es im Untersuchungsgebiet vier verschiedene Realisierungsformen des Stammvokals: Basisdialektal wird zwischen dem Stammvokal im Singular /i/ und jenem im Plural /ɛ/ unterschieden (SCHEURINGER 1993: 77; MAUSER 2007: 68). Hinzu kommen das standardsprachliche /ɔ/ und das umgangssprachliche /u/, das wohl „schon seit dem Mittelalter“ parallel und „über“ der basisdialektalen Form liegt (SCHEURINGER 1993: 77). Scheuringer belegt anhand seiner Daten aus Braunau die starke soziolinguistische Bedeutung, die mit der Verwendung der /i/- und /ɛ/-Formen von kommen verbunden ist: Die Verwendungshäufigkeit unterscheidet sich stark zwischen den sozialen Gruppen. Interessanterweise ging der Anteil von /i/ und /ɛ/-Formen jedoch bei den jüngeren GP nicht zurück (SCHEURINGER 1993: 77–78), weshalb Hypothese 6 wie folgt lautet: H6: Die Kinder aus Hallein und Henndorf am Wallersee tendieren klar zur Verwendung von /i/ und /ɛ/-Formen als Stammvokal im Präsensparadigma von kommen. 4 DESIGN, METHODEN UND DATENAUSWAHL Um die Forschungsfragen zu beantworten und die Hypothesen H1 bis H6 zu überprüfen, verwenden wir Daten, die aus einem umfassenden Projekt zum

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Variationserwerb von Kindergartenkindern stammen.1 Bei der Erhebung der Variations- bzw. Dialektkompetenz von Kindern zwischen 3 und 6 Jahren müssen einige Dinge bedacht werden: Z. B. sind die traditionellen Methoden der Dialektologie und Variationslinguistik hier nur begrenzt bzw. stark modifiziert einsetzbar. Da die Kinder in diesem Alter noch nicht oder kaum über metalinguistische Terminologie und Konzepte (wie ‚Dialekt‘/‚Mundart‘, ‚Hochdeutsch‘ oder ‚Umgangssprache‘) verfügen, ist etwa eine Übersetzungsaufgabe in den Dialekt ausgeschlossen. Hinzu kommen weitere Einschränkungen der Kinder, wie fehlende Lesefähigkeit und ein geringeres Abstraktionsvermögen, eine beschränkte Konzentrations- und Gedächtniskapazität und fehlende lebensweltliche Erfahrung, insbesondere mit formalen Settings (vgl. dazu KAISER 2020). Aus diesem Grund wurde in der hier vorliegenden Untersuchung auf eine andere Methodik gesetzt, im Besonderen auf Mechanismen der sprachlichen Anpassung an das Gegenüber. Dass diese sich bei Kindern bereits von klein auf entwickeln, zeigen etwa STREET / STREET / VAN KLEEK (1983) und GENESEE / NICOLADIS / PARADIS (1995). Diese Studien belegen, dass Kinder bereits im Alter von zwei bis vier Jahren ihre Sprache an den/die Gesprächspartner/in anpassen. Spezifischer in Bezug auf soziolinguistische Anpassung stellen u. a. SMITH / DURHAM / FORTUNE (2007) und KATERBOW (2013) fest, dass Kinder im Alter von drei bis vier Jahren sprachliche Varianten in Abhängigkeit von Gesprächssituation und Gesprächspartner verwenden. Für die vorliegende Studie wurde die Sprachproduktion von Kindergartenkindern in zwei Situationen herangezogen: im Spiel mit einer dialektsprechenden Exploratorin (und anderen Kindern) und beim Nacherzählen einer Geschichte für eine ‚dialektsprechende‘ Puppe (zu den weiteren Erhebungssituationen und Ergebnissen siehe KAISER 2020). Die Daten aus diesen Erhebungen wurden in CHILDES literarisch mit minimalen gesprächsanalytischen Annotationen transkribiert. Jede kindliche Äußerung wurde zusätzlich phonetisch (weit) transkribiert. Im Anschluss wurde jedes Wort als dialektal/dialektnah, standard(nah) oder umgangssprachlich/gemischt kodiert. Die Einstufung als ‚dialektal‘ beruht auf den jüngeren Dokumentationen der Dialektmerkmale im Westmittelbairischen (vgl. u. a. WIESINGER 1983; ZEHETNER 1985; MAUSER 2007; SCHEUTZ 2007; BÜLOW 2019; siehe auch Abschnitt 3), wobei das Vorkommen e i n e s klassischen (meist vokalischen) Dialektmerkmals in der Haupttonsilbe des Wortes reichte, um als dialektale Realisierung zu gelten. Unberücksichtigt blieben feine phonetische Unterschiede (z. B. im Öffnungsgrad der Vokale oder der Stimmhaftigkeit von Plosiven und Frikativen). In einem zweiten Schritt wurde auf dieser Basis jede Äußerungseinheit (turn-constructional units = potenzielle Turns, vgl. SELTING 2000) ebenso eingestuft. Als ‚dialektale Äußerungseinheiten‘ galten dabei solche, die nur dialektale bzw. dialektnahe 1

Das Projekt wurde finanziell unterstützt durch die Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg und den Hugo-Moser-Förderpreis für germanistische Sprachwissenschaft. Wir danken Peter Mauser für hilfreiche Anmerkungen zu einer Vorversion dieses Artikels sowie zwei anonymen Reviewern für ihre kritischen Hinweise.

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Wortrealisierungen (und ggf. Wörter, die in Dialekt und Standardsprache auf einer groben phonologischen Ebene homophon sind) enthalten. Da in diesem Beitrag Einblicke in die Qualität des Dialekts der Kinder angestrebt werden, wurden in die hier vorliegende Auswertung nur monolingual deutschsprachige Kinder mit nachweisbarer Dialektkompetenz, d. h. mit einem Dialektanteil von mindestens 50 % der Äußerungseinheiten in mindestens einer der Situationen, aufgenommen. In diese Auswahl gelangten 27 von insgesamt 33 monolingualen, deutschsprachigen Kindern (12 von 16 Kindern aus Hallein und 15 von 17 Kindern aus Henndorf). Die Stichprobe besteht aus 15 Buben und 12 Mädchen aus Familien mit unterschiedlichem Bildungshintergrund (17 Mütter hatten einen Lehr- bzw. Pflichtschulabschluss, 10 Mütter Matura oder tertiäre Bildung). Von diesen Kindern wurde die Sprachproduktion in den beiden Situationen (Spiel oder Nacherzählung) für die nachfolgenden Analysen herangezogen, sofern das jeweilige Kind in der jeweiligen Situation auch tatsächlich einen Dialektanteil von mindestens 50 % der Äußerungseinheiten aufwies. So wurde sichergestellt, dass tatsächlich die am stärksten dialektal ausgeprägte Sprachverwendung in dieser Stichprobe betrachtet wird. Dieses Auswahlkorpus für die aktuelle Auswertung umfasst 3.330 Tokens. Für die aktuelle Analyse wurde dieses Korpus schließlich zusätzlich hinsichtlich der im Fokus stehenden Variablen annotiert und anschließend manuell in Bezug auf die Realisierungen der Variablen ausgewertet. Im Vergleich zu traditionellen dialektologischen oder variationslinguistischen Erhebungen mit Erwachsenen basieren die Belege somit auf einer größeren Anzahl von Sprecher/inne/n aus einer eng definierten Altersspanne mit relativ kleinräumiger regionaler Verteilung. Während die Daten also mit Bezug auf diese spezifische Gruppe generell aussagekräftig sein dürften, ist die Beleglage aufgrund der Tatsache, dass es sich um Daten aus (relativ) freier Produktion handelt, für einige Variablen recht schmal und/oder auf wenige Lexeme beschränkt. 5 ERGEBNISSE Nachfolgend stellen wir die Ergebnisse unserer Analysen für jede Variable einzeln dar. Wir beginnen mit den Variablen /a/-Verdumpfung (Kap. 5.1), /l/-Vokalisierung (Kap. 5.2) und Reflexe von mhd. (Kap. 5.3), für die mehr Belege in den Daten vorliegen. Hierfür können wir auch dezidiert auf Muster der lexikalischen Verteilung eingehen. Für die Reflexe von mhd. (Kap. 5.4), den Anlaut der Pluralformen von sein (Kap. 5.5) und den Stammvokal von kommen (Kap. 5.6) liegen weniger Belege vor, weshalb wir uns bei der Beschreibung dieser Ergebnisse kürzer fassen. Am Ende jedes Teilkapitels werden wir die Hypothesen H1 bis H6 (s. Kap. 3) vor dem Hintergrund der Ergebnisse bewerten.

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5.1 /a/-Verdumpfung Wie Tab. 1 zeigt, dominiert die /a/-Verdumpfung deutlich bei der Realisierung der langen und kurzen a-Laute (n=756). Die /a/-Verdumpfung wird in 83,1 % der Fälle verwendet, während die nicht-verdumpften a-Laute nur 16,9 % der Belege ausmachen. Es fällt auf, dass bei 22 der 27 Kinder der Anteil der /a/-verdumpften Belege bei über 75 % liegt, bei den übrigen fünf Kindern umfasst er mit über 57 % aber auch noch über die Hälfte der Belege. Belege gesamt 756

mit /a/-Verdumpfung 628 (83,1 %)

ohne /a/-Verdumpfung 128 (16,9 %)

Tab. 1: Realisierung der langen und kurzen a-Laute

Trotz dieses eindeutigen Bildes zugunsten der /a/-Verdumpfung lohnt sich ein genauerer Blick auf die lexikalische Verteilung2 der Realisierungen. Dabei wird eine Gebrauchsverteilung nach Wortarten ersichtlich: Bei ‚Funktionswörtern‘ (Konjunktionen, Präpositionen, Partikeln, Pronomen, Adverbien) realisieren die Kinder fast durchgehend die /a/-Verdumpfung (in 395 von 426 Belegen). Auch bei den Verben wird die /a/-Verdumpfung favorisiert (in 169 von 177 Belegen), hier insbesondere bei den hochfrequenten Wortformen von haben (116 von 120 Belegen) und sein (18 von 18 Belegen). Daneben tritt die /a/-Verdumpfung aber auch fast durchwegs bei den Formen fahren, fangen, machen, kann, mag, gegangen auf. Das einzige Verb, bei dem mehrheitlich nicht-verdumpfte a-Laute verwendet werden, ist schnappen. Bei acht Realisierungen tritt es fünfmal mit nichtverdumpftem /a/ auf.3 Bei den Substantiven findet sich der höchste Anteil an nicht-verdumpften aLautungen (64 von 95 Belegen; d. h. 67,4 %). Insgesamt befinden sich unter den Substantiven 21 Lexeme. Von den 11 Lexemen, die von mehr als einem Kind verwendet werden, werden sechs mehrheitlich nicht-verdumpft und 5 mehrheitlich verdumpft realisiert. So werden die Stammvokale bei den Lexemen Arzt, Affe, Elefant, Farbe, Zahn mehrheitlich nicht verdumpft (insgesamt 54 von 64 Belegen in dieser Gruppe). Zu ergänzen ist in dieser Reihe das Lehnwort Banane, das nicht verdumpft zu erwarten war, aber durchaus – in einer Art dialektaler Hyperkorrektur – von 2 3

Berücksichtigung fanden bei der Analyse der lexikalischen Verteilung der /a/-Verdumpfung nur solche Lexeme, die von mehr als einem Kind verwendet wurden. Mit welchen Eigenschaften dieses Verbs dies zusammenhängt, scheint nicht unmittelbar zu klären zu sein. Informelle Befragungen von erwachsenen Sprechern aus dem nördlichen Flachgau lassen den Schluss zu, dass zwar intransitive Vorgangsverben mit dem Stamm {schnapp-} (z. B. zuschnappen, einschnappen) mit verdumpftem Stammvokal realisiert werden, nicht jedoch das Handlungsverb mit demselben Stamm, das meist in der transitiven, reflexiven Konstruktion sich etw. schnappen in der Bedeutung von ‘sich etw. aktiv nehmen’ vorkommt und möglicherweise erst in jüngerer Zeit in der Region in Verwendung ist. Da {schnapp-} einzig in letzterer Bedeutung im aktuellen kindersprachlichen Korpus vorkommt, könnte demnach die Verwendung der Kinder tendenziell die erwachsenensprachliche Verteilung abbilden.

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einem Kind als [banɔːn] realisiert wird (neben 29 nicht-verdumpften Realisierungen anderer Kinder). Die Substantive Bank (‘Sitzbank’), Karte, Name, Sachen und Tiergarten treten hingegen mehrheitlich mit /a/-Verdumpfung auf (insgesamt 16 von 21 Belegen in dieser Gruppe). Die Analysen verdeutlichen, dass die Hypothese H1 bestätigt werden kann: Die Kinder aus Hallein und Henndorf am Wallersee tendieren klar zur Verwendung der /a/-Verdumpfung, wobei sich allerdings lexikalische Unterschiede im Hinblick auf die Wortartenverteilung zeigen. 5.2 /l/-Vokalisierung Die /l/-Vokalisierung wurde von den Kindern in 71,4 % (70 Belege) der 98 möglichen Fälle mit (potenziell) dialektalem Stammvokal realisiert (s. Tab. 2).4 Dementsprechend tritt die /l/-Vokalisierung in 28,6 % (28 Belege) der Fälle nicht auf, auch wenn der Stammvokal dialektal erscheint (s. Tab. 2). Auch in Bezug auf die /l/-Vokalisierung lohnt sich ein Blick auf die lexikalische Verteilung. Insgesamt zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei der /a/-Verdumpfung: In Substantiven wie Schule oder Bild wird /l/ kaum vokalisiert (nur in 7 von 28 Belegen, d. h. 25 %), selbst bei vorhandener /a/-Verdumpfung in der Hauptsilbe (z. B. in Tafel als /tɔːfl/). Funktionswörter, Verben und auch Adjektive weisen hingegen sehr hohe Anteile bis hin zu ausnahmslos durchgeführter /l/-Vokalisierung auf. Adverbien mit dem Morphem {mal} (z. B. einmal, nochmal, mal) werden zum Beispiel in 100 % der Fälle (23 Belege) mit /l/-Vokalisierung und verdumpftem /a/ realisiert. Auch bei den Modalverben (z. B. sollen, wollen) wird zu 100 % (13 Belege) vokalisiert. Bei den Adjektiven (z. B. alt, kalt, falsch) sind es 93 % (13 Belege) der Formen, die mit /l/-Vokalisierung gebildet werden. Des Weiteren zeigen sich eindeutige Tendenzen für die Qualität der /l/-Vokalisierung nach Vordervokalen: In allen fraglichen Fällen (9-mal als Produkt aus /i/ + /l/-Vokalisierung und 1-mal als Produkt aus /ɛ/ + /l/-Vokalisierung) produzieren die Kinder die ostmittelbairischen gerundeten Monophthonge /yː/ sowie /œː/ und nicht die ‚Altsalzburger‘ Formen /iː/ und /ɛɪ̯ /. Diese Ergebnisse zeigen, dass sich Hypothese H2 nicht so leicht durch die Daten bestätigen oder verwerfen lässt: Die Kinder aus Hallein und Henndorf am Wallersee tendieren zwar zur Verwendung der /l/-Vokalisierung und verwenden dabei ausschließlich ostmittelbairische Varianten, in 28,6 % der Fälle unterbleibt die /l/-Vokalisierung allerdings, wo sie eigentlich möglich wäre. Dies betrifft v. a. die Wortart der Substantive. Hier deutet sich aktuell ein voranschreitender Wandelprozess an, den wir in Kap. 6 nochmals einordnen. 4

Ausgeschlossen wurden also Tokens mit eindeutig standardsprachlichem Vokal in der Hauptsilbe (n=16, z. B. bei Seil und Teil mit standardsprachlicher /ai̯ /-Realisierung und bei alle(s), Tafel und falsch ohne /a/-Verdumpfung). Während die /l/-Vokalisierung nicht auftritt, wenn der Stammvokal nicht dialektal realisiert wird, kommt die Kombination /a/-Verdumpfung ohne /l/-Vokalisierung 6-mal in den Daten vor (Tafel > tɔ:fl, alle > ɔlɛ, überall > y:bɐrɔl). Vgl. zu dieser Kookkurrenzregel auch FELIX / KÜHL (1982: 186–198) und SCHEUTZ (1985: 248).

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Belege gesamt

ohne /l/-Vokalisierung

mit /l/-Vokalisierung

alle: n=114 alle mit (potenziell) dialektalem Stammvokal: n=98 Belege für /l/ nach Vordervokal: n=17

44 (38,6 %) 28 (28,6 %)

70 (61,4 %) 70 (71,4 %)

7 (41 %)

10 (59 %)

mit /l/Vokalisierung nach Vordervokal + gerundet

mit /l/Vokalisierung nach Vordervokal – gerundet

10

0

Tab. 2: l-Realisierungen

5.3 Reflexe von mhd. Die Aufnahmen umfassen 78 Belege für Reflexe von mhd. (ohne Indefinitartikel). Von diesen wurden 53,8 % (42 Belege) mit der basisdialektalen Entsprechung /ɔɐ̯/ realisiert, 32,1 % (25 Belege) mit standardsprachlichem /ai̯ / und 14,1 % (11 Belege) mit der sich aus dem Osten ausbreitenden regionalsprachlichen Variante /aː/ (s. Tab. 3). Belege gesamt n=78

Standardsprachlich realisiert 25 (32,1 %)

Nicht standardsprachlich realisiert 53 (67,9 %)

/ɔɐ̯/-Formen

/aː/-Formen

42

11

Tab. 3: Realisierungen der Reflexe von mhd. (ohne Indefinitartikel)

Ein Blick auf die lexikalische Verteilung zeigt, dass nur vier Belege für Reflexe von mhd. in Substantiven vorliegen: in den Lexemen Seil und Teil, die in den Wortformen Seiltänzer (2x), Teil und Puzzleteile (je 1x) vorkommen. In allen vier Fällen wird standardsprachliches /ai̯ / realisiert.5 Die standardsprachliche Form dominiert auch bei den Zahlwörtern eins und zwei, wobei eins ausschließlich standardsprachlich (6x) produziert wird, zwei hingegen in allen drei Varianten: standardsprachlich als /tsvai̯ / (8x), basisdialektal als /tsvɔɐ̯/ (3x) und regiolektal als /tsvaː/ (2x). Mehrheitlich nicht-standardsprachlich werden Pronomen mit der Komponente ein (eine-r/s/n, kein/e/s, einziges) realisiert, wobei die /aː/-Variante etwas weniger häufig als die /ɔɐ̯/-Variante auftritt (4 vs. 7 Belege). Neben den Zahlwörtern und 5

KRANZMAYER (1956: 63) weist ebenfalls auf „Sonderwege“ von vor /l/ hin.

Der Dialekt der jüngsten Generation

457

Pronomen tritt die /a/-Variante nur noch in den Singular-Präsensformen des Verbs wissen auf: Hier heißt es in 3 von 21 Fällen (i(ch)/er/sie) /vaːs/ gegenüber 17 basisdialektalen Realisierungen als /vɔɐ̯s/ und einer standardsprachlichen Variante. Interessanterweise verhält sich das Verb heißen etwas anders: Im (Singular und Plural) Präsens wären hier ebenso /aː/-Varianten möglich, sie treten aber bei keinem der 7 Belege auf; die Verbform wird nur basisdialektal als /hɔɐ̯s/ bzw. /hɔɐ̯st/ produziert. In Bezug auf mhd. zeigen sich demnach lexikalisch unterschiedlich diffundierte Reflexe. Auch wenn Belege mit der /aː/-Variante in den Daten zu finden sind, muss die Hypothese H3, wonach wir angenommen haben, dass die Kinder aus Hallein und Henndorf am Wallersee klar zur Verwendung von /a/-Realisierungen tendieren, verworfen werden. Lexikalische Unterschiede zeichnen sich sowohl im Hinblick auf die Standard- vs. Dialektvariante wie für die /a/- vs. /ɔɐ̯/-Realisierungen ab, können aber aufgrund der niedrigen Beleglage nicht hinreichend abgesichert werden. 5.4 Reflexe von mhd. Das Ergebnis für die Realisierungen der Reflexe von mhd. ist schnell zusammengefasst (s. Tab. 4). Die Variable ist in den Aufnahmen nur in zwei Lexemen vertreten: groß und rot. Formen dieser Lexeme treten insgesamt achtmal auf, in allen Fällen wird der Vokal standardsprachlich mit /oː/ realisiert. Den steigenden Diphthong /ɔu̯/ für mhd. können wir für die Kinder in unserem Untersuchungsgebiet nicht (mehr) belegen. Belege gesamt n=8

Standardsprachlich realisiert 8 (100 %)

Dialektal realisiert 0

Tab. 4: Realisierung der Reflexe von mhd.

Wir haben in Hypothese H4 angenommen, dass die Kinder aus Hallein und Henndorf am Wallersee zur Verwendung des Monophthongs [oː] tendieren. Diese Hypothese kann durch die Daten klar bestätigt werden. Aufgrund dieses eindeutigen Ergebnisses und der geringen Beleglage können wir nicht sinnvoll überprüfen, inwiefern sich lexikalische Unterschiede für diese Variable im Untersuchungsgebiet zeigen. 5.5 Anlaut der Pluralformen von sein Das Verb sein wird von den Kindern 18-mal mit dialektaler Prägung in der 1. oder 3. Person Plural (Präsens Indikativ) verwendet. Aus der Verteilung der Realisierungen in Tab. 5 geht klar hervor, dass der /s/-Anlaut gegenüber dem /h/-Anlaut dominiert: In 94,4 % (17 Belege) der Fälle wird die Form san produziert, ein einziges Mal (5,6 %) han.

458 Belege gesamt n=18

Irmtraud Kaiser / Lars Bülow

h-Anlaut 1 (5,6 %)

s-Anlaut 17 (94,4 %)

Tab. 5: Realisierung des Anlauts in den Pluralformen von sein

Damit bestätigen die Daten Hypothese H5, in der wir davon ausgegangen sind, dass die Kinder aus Hallein und Henndorf am Wallersee klar zur Verwendung des /s/Anlauts tendieren. 5.6 Stammvokal in kommen Für die Formen des Verbs kommen (n=8) findet sich kein Beleg für eine Verwendung mit Stammvokal /ɛ/ oder /i/ im Präsens. Neben einer standardsprachlichen Realisierung mit /ɔ/ (kommen) wurde 7-mal die umgangssprachliche bzw. regiolektale /u/-Variante verwendet: kumm (2 Belege), kumma (2 Belege), kumman (1 Beleg), kummt (2 Belege). Belege gesamt n=8

Stammvokal /i/ oder /e/ 0

Stammvokal /u/ 7 (87,5 %)

Stammvokal /o/ 1 (12,5 %)

Tab. 6: Realisierungen des Stammvokals in den Präsensformen von kommen

Wie Tab. 6 verdeutlicht, muss Hypothese H6, wonach Kinder aus Hallein und Henndorf am Wallersee zur Verwendung von /i/ und /ɛ/-Formen tendieren würden, klar verworfen werden. 6 ZUSAMMENFASSUNG UND DISKUSSION In den Daten der 27 Kinder aus Henndorf und Hallein zeigen die ausgewerteten Variablen unterschiedliche Ausprägungen von Wandel, Abbau und Remanenz. Als stabilstes der analysierten Dialektmerkmale erweist sich die /a/-Verdumpfung. Abbautendenzen zeigen hier am ehesten bestimmte Substantive. Als einigermaßen remanent sind außerdem die /l/-Vokalisierung und dialektale Reflexe von mhd. einzustufen. Hier sind die Dialektvarianten im Sprachgebrauch der Kinder noch mehrheitlich vorhanden. Es zeigen sich jedoch bereits erste Abbau- und Wandeltendenzen. Die Wandeltendenzen betreffen primär die Übernahme prestigeträchtigerer nicht-standardsprachlicher (ostmittelbairischer) Varianten wie der /a/Realisierung von mhd. sowie der Rundung der Produkte aus vorderem Vokal + /l/-Vokalisierung. Während Letztere ausnahmslos durchgeführt zu werden scheint, zeigen die nicht-standardsprachlichen Reflexe von mhd. (/aː/ oder /ɔɐ̯/) eine lexemgebundene Verteilung. In den Aufnahmen kaum bzw. gar nicht (westmittelbairisch) basisdialektal realisiert werden der Anlaut der Pluralformen von sein, der Stammvokal in den Formen des Lexems kommen sowie Reflexe von

Der Dialekt der jüngsten Generation

459

mhd. . Während Reflexe von mhd. zugunsten der Standard-Variante verdrängt werden, setzt sich im Falle von kommen die regiolektale Variante mit Stammvokal /u/ und im Falle der Präsens-Plural-Formen von sein der ebenfalls großräumigere (ehemals) ostmittelbairische und gleichzeitig im Standard präsente /s/-Anlaut durch. Auch wenn die Datengrundlage für einige Variablen schmal ist und sich teilweise nur auf wenige Lexeme beschränkt, führt die Zusammenschau des bisherigen dialektologischen Bildes der Region und der aktuellen Ergebnisse zu vielen konvergenten Befunden. So bestätigen sich in den Kinderdaten die bereits beobachteten Tendenzen zu einer Auflösung der basisdialektalen Reflexe von mhd. (wie z. B. in SCHEUTZ 2007: 30; BÜLOW et al. 2019), der /han(d)/-Form des Verbs sein (vgl. SCHEURINGER 1993: 76; SAO II: 156; MAUSER 2007: 71–72; BÜLOW 2019) und des i/e-Stamms des Verbs kommen (vgl. SCHEURINGER 1993: 77–78). Ebenso zeugen unsere Daten vom bereits dokumentierten Abbau der ‚Altsalzburger‘ langen, ungerundeten Vokale als Produkte der /l/-Vokalisierung und stattdessen von der Übernahme der ostmittelbairischen gerundeten Vokale (vgl. SCHEUTZ 2007: 41–43). Umgekehrt finden wir Bestätigung für die bemerkenswerte Stabilität der /a/-Verdumpfung, besonders in Funktionswörtern (vgl. SCHEUTZ 1999: 113). Diese scheint durch die Großräumigkeit des Merkmals und die hohe Auftretensfrequenz – zumal in den wiederum besonders frequenten Funktionswörtern – besonders remanent. Auch die bereits beobachtete lexikalisch gebundene Verteilung der /aː/-Reflexe von mhd. /ei/ (SCHEUTZ 1999; FANTA-JENDE 2021) bestätigt sich in der aktuellen Analyse. Insgesamt unterstreicht die vorliegende Untersuchung, dass im (ehemals) westmittelbairischen Raum Österreichs horizontale und vertikale Dialektwandelprozesse gleichzeitig stattfinden und einander mitunter auch verstärken können. Großräumigere, d. h. ostmittelbairische, regiolektale oder standardsprachliche Merkmale verdrängen zunehmend die westmittelbairischen Varianten im untersuchten Gebiet. Die aktuellen Befunde geben somit keinerlei Hinweise auf sprachliche Innovationen durch die Kinder. Die kindersprachlichen Daten gehen mit den Befunden zur Dialektqualität Erwachsener aus demselben Raum völlig konform und bestätigen mit Nachdruck die bereits festgestellten Entwicklungslinien in Richtung Dialektzu-Standard-Advergenz und Übernahme ostmittelbairischer Dialektmerkmale. Vor dem Hintergrund sozio-pragmatischer und gebrauchsbasierter Erstspracherwerbstheorien ist dies auch plausibel einzuordnen: Zum einen übernehmen die Kinder den Sprachgebrauch der Eltern, der gerade in der Kommunikation mit den Kindern bereits dialektferner ist als der Sprachgebrauch der älteren Generation und/oder auch der Erwachsenen unter sich. Sie orientieren sich auch an der peer group und an Vorbildern aus den Medien, die zu einem guten Teil nicht den lokalen Basisdialekt sprechen, und sind in Kinderbetreuungseinrichtungen verstärkt einem standardnahen Input ausgesetzt. Eine wiederholt gemachte Detailbeobachtung aus unseren Daten betrifft das unterschiedliche Abbauverhalten bei unterschiedlichen Wortarten. Funktionswörter (v. a. artikelartige Pronomen, Pronominaladverbien, Konjunktionen, Partikel, Präpositionen) scheinen in Bezug auf phonologische Dialektmerkmale besonders stabil

460

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zu sein, während vor allem bei Substantiven eine gewisse Anfälligkeit für StandardAdvergenz sogar bei der sonst durchweg stabilen /a/-Verdumpfung zu konstatieren ist. Dass Dialektabbau tatsächlich zunächst oder vermehrt Inhaltswörter betreffen könnte, wurde bereits des Öfteren für bairische Dialekte beobachtet, so etwa von SCHEUTZ (1985: 249), von VERGEINER (2019) in seiner detaillierten Analyse des Sprachverhaltens einer Salzburger Universitätssekretärin mit unterschiedlichen Gesprächspartner/inne/n, von MOOSMÜLLER (1991) in Bezug auf die Variation in österreichischen Städten und von STÖR (1999: 550) für den Großraum München. In Verbindung gebracht werden kann dies natürlich mit dem Faktor Frequenz, der zweifellos für den Sprachwandel eine herausragende Rolle spielt – wenn auch die Effekte hoher Gebrauchsfrequenz nicht vollständig geklärt sind und sowohl in Richtung stärkerer Remanenz als auch früheren Wandels gehen können (vgl. PHILLIPS 1984; BYBEE 2002, siehe dazu auch die ausführliche Diskussion in VERGEINER / BÜLOW / WALLNER 2021: 35–37). Funktionswörter haben eine höhere Vorkommenshäufigkeit als Inhaltswörter. Dass darüber hinaus auch die pragmatische Funktion dieser Wörter (SCHEUTZ 1985: 249) und ihre Schwachtonigkeit zu geringer Salienz und damit weniger bewusster Rezeption und Produktion beiträgt (MOOSMÜLLER 1991), wird ebenfalls diskutiert. Es wäre nun denkbar, dass diese Effekte – möglicherweise vorübergehend – durch die Charakteristika kindgerichteten Sprechens noch verstärkt werden. Denn die ‚didaktische‘ Funktion kindgerichteter Sprache führt unter anderem dazu, dass z. B. die Substantive, die der Benennung dienen, in der wahrnehmungssalienten Fokusposition stehen und diese noch zusätzlich intonatorisch hervorgehoben und expliziter artikuliert werden (vgl. CAMERON-FAULKNER / LIEVEN / TOMASELLO 2003; SAUERMAN / HÖHLE 2018). Dass es insgesamt Unterschiede im Wandel zwischen Wörtern unterschiedlicher Frequenz und unterschiedlicher Funktion gibt, ist angesichts dessen plausibel; dies allein erklärt jedoch noch nicht die Richtung des Wandels. Diese kann nur im Zusammenhang mit den gängigen Spracheinstellungen verstanden werden, die, wie wir wissen, stereotype Assoziationen mit Dialekt (‚sympathisch, aber ungebildet, bäuerlich, schlampig‘ etc.) und Standardsprache (‚gebildet, korrekt, aber distanziert, arrogant‘ etc.) (vgl. SOUKUP 2009; BELLAMY 2012) und gängige Überzeugungen, etwa im Hinblick auf die vermeintlich schlechteren Bildungs- und Berufschancen von Dialektsprecher/inne/n, beinhalten. Der mangelnde Input westmittelbairischer Varianten ist also ebenso Symptom wie auch Folge von deren fehlendem (overten) Prestige (in Österreich). Es sind diese Spracheinstellungen, die dazu führen, dass mit (kleineren) Kindern verstärkt standardnah gesprochen wird (vgl. PENZINGER 1994; KASBERGER / GAISBAUER 2020 und die Selbstauskünfte in der Umfrage von ENDER / KAISER 2009 sowie zum kindergerichteten Sprechen in anderen Sprachen DE HOUWER 2003; FOULKES / DOCHERTY / WATT 2005; SMITH / DURHAM / FORTUNE 2007). In nicht-kindgerichteter Sprache wird (von demselben Erwachsenen) hingegen häufig dialektal(er) bzw. umgangssprachlich gesprochen. Dies könnte erklären, warum die Anfälligkeit der Substantive für einen Abbau dialektaler Merkmale zumindest in Bezug auf die /a/-Verdumpfung nicht über alle inhaltlichen Bereiche hinweg gleichermaßen gilt. So scheinen Konkreta, die häufig in der direkten Kommunikation mit Kindern (u. a. zur Benennung) verwendet

Der Dialekt der jüngsten Generation

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werden, eine Tendenz zur Standardnähe aufzuweisen. Wörter, die Kinder möglicherweise häufiger ‚nebenbei‘ in der (dialektaler geprägten) Kommunikation unter Erwachsenen hören, werden hingegen auch von den Kindern tendenziell in dialektaler Form aufgenommen. Neben der Bestätigung bereits bekannter Beobachtungen zu Wandelprozessen in den westmittelbairischen Dialekten Österreichs kann die vorliegende Studie somit differenziertere Hinweise auf die Rolle verschiedener Faktoren des Erstspracherwerbs im Sprach- bzw. Dialektwandel geben. Insgesamt deuten die Beobachtungen an, dass die entscheidende Rolle wohl der unmittelbaren und zunehmend auch der weiteren sprachlichen Umgebung des Kindes zuzuschreiben ist. Insbesondere für die im bairisch-österreichischen Raum beobachtete Dialekt-zu-Standard-Advergenz könnte mitunter gerade die kindgerichtete Sprache bzw. das kindgerichtete Sprachverhalten (zumindest temporär) ein entscheidender Katalysator sein, der sich allerdings auf unterschiedliche Wortarten unterschiedlich auswirkt. Dies schließt jedoch nicht aus, dass unter anderen soziolinguistischen Bedingungen andere Faktoren oder Prozesse des Erstspracherwerbs für den Sprachwandel relevant werden. Gerade vor diesem Hintergrund wären Longitudinalstudien und/oder Erhebungen mit etwas älteren Kindern und Jugendlichen lohnend, die unseren Beobachtungen im weiteren Altersverlauf nachgehen können und letztlich auch eine Antwort auf die Frage erlauben, ob es sich um vorübergehende, altersgebundene (Erwerbs-)Phänomene oder um Sprachwandel handelt. Tatsächlich erlauben real-time- und apparenttime-Daten von Erwachsenen erst in der Zusammenschau mit kindersprachlichen Daten zuverlässige Sprachwandelprognosen. Eine solch umfangreiche Datenbasis liegt jedoch für wohl kaum einen Ort in Österreich aktuell vor. In der hier präsentierten Studie haben wir uns mit den verfügbaren Erkenntnissen zum Sprachgebrauch Erwachsener aus rezenten Erhebungen in den und um die Untersuchungsorte beholfen, die natürlich nur lückenhaft auf die tatsächlich erwartbare Dialektverwendung schließen lassen. Zudem erlauben unsere Daten im Hinblick auf manche Variablen keine detaillierten Rückschlüsse, etwa auf lexemgebundene Verteilungen. Stark konvergierende Befunde auf Basis der Erwachsenenund Kinderdaten sowie jüngerer und älterer Studien lassen dennoch den Schluss zu, dass die beobachteten Dialektwandel- und Dialekt-zu-Standard-Advergenzprozesse fortgeführt werden. Letztlich wird durch diese Untersuchung die Forschung zur Sprachdynamik in den westmittelbairischen Dialekten Österreichs um zentrale empirische Evidenz ergänzt. Weiterführende Forschungen zu Details des Zusammenhangs zwischen individueller Sprachentwicklung und gesellschaftlichem Sprach- bzw. Dialektwandel, etwa zum Verhältnis zwischen kindgerichteter Sprache, Wahrnehmungssalienz und lexikalischer Diffusion im Varietätenerwerb und -ausbau, erscheinen besonders vielversprechend.

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SPRACHVARIATION UND SPRACHWANDEL IN ÖSTERREICH Alte und neue Pfade in der Forschungslandschaft Alexandra N. Lenz ABSTRACT Der vorliegende Beitrag liefert einen Forschungsüberblick zum Thema Sprachvariation und Sprachwandel in Österreich, mit einem Fokus auf aktuellen Studien im Kontext des vom FWF finanzierten Spezialforschungsbereichs (SFB) „Deutsch in Österreich. Variation – Kontakt – Perzeption“. Der Schwerpunkt der Diskussion liegt auf jüngeren Analysen zur vertikal-sozialen Variation auf der gesamten Dialekt-Standard-Achse in Österreich und damit einem Forschungsfeld, das vor Beginn des SFB DiÖ ein Forschungsdesiderat dargestellt hat. 1 EINLEITUNG Der Beitrag will einen Forschungsüberblick zur Sprachvariation und zum Sprachwandel in Österreich liefern. Der Fokus wird dabei auf aktuellen Forschungsansätzen und ihren Ergebnissen im Umfeld des Spezialforschungsbereichs (SFB) „Deutsch in Österreich (DiÖ). Variation – Kontakt – Perzeption“ (FWF F60) liegen und hier insbesondere auf der Erforschung der vertikal-sozialen Variationsdimension innerhalb der deutschen Sprache in Österreich. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: In einem ersten Überblickskapitel (Kap. 2) wird der Forschungsstand bis zum Jahr 2015 (vor Beginn des SFB DiÖ) im Hinblick auf verschiedene „vertikale“ Registerausschnitte auf der Dialekt-StandardAchse zusammengefasst, bevor in Kap. 3 die aktuelle SFB-Forschung seit 2016 vorgestellt wird. Neben methodischen Aspekten, die die Datenerhebungen im SFB betreffen, werden Ergebnisse auf Basis ausgewählter Variationsphänomene präsentiert, die als besonders aussagekräftig bzgl. genereller Dynamikprozesse der deutschen Sprache in Österreich angesehen werden können. 2 FORSCHUNGSSTAND BIS 2015 – ÜBERBLICK Der Fokus des folgenden Forschungsüberblicks wird auf variationsorientierten Studien zum Sprachgebrauch liegen, was nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass es

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Alexandra N. Lenz

gerade zu Österreich auch Studien zur attitudinal-perzeptiven Ebene gibt.1 Der nur skizzenhafte Überblick beginnt mit einer Übersicht zur bisherigen Dialektforschung zu Österreich, bevor in einem zweiten Schritt die Forschung zu standardsprachlichen bzw. standardsprachnahen Registern in Österreich zusammengefasst wird. Analysen zum vertikalen Gesamtspektrum bilden den Abschluss des Forschungsüberblicks. Die Forschung zur österreichischen Dialektlandschaft hat in den letzten 120 Jahren eine Fülle an Studien, Analysen und nach wie vor noch zu erhebenden bzw. weiter zu erforschenden Datenschätzen hervorgebracht, von denen hier nur einige Höhepunkte benannt werden können. Zu diesen gehören natürlich die österreichischen Wenkerbögen und zahlreiche österreichische Ortsgrammatiken des 20. Jahrhunderts (z. B. SCHATZ 1897; LESSIAK 1903; WEITZENBÖCK 1942). Wenn auch die österreichischen Wenkerbögen nicht in die Sprachkarten des Wenker-Atlasses eingegangen sind, sind ausgewählte Informationen aus den österreichischen (und anderen) Bögen in den „Wiesinger-Ergänzungskarten“ (WIESINGER 1962–1969) kartographisch visualisiert, die über das Marburger REDE-System einsehbar sind (s. ). Einen in der Forschung bislang zu wenig beachteten Datenschatz stellt das Korpus „Österreichische Dialektaufnahmen im 20. Jh.“ dar, das unter der Aufnahmeleitung von EBERHARD KRANZMAYER und MARIA HORNUNG (insbes. 1950er- und 1960er-Jahre), in den 1970er- und 1980er-Jahren dann vor allem durch WERNER BAUER und HERBERT TATZREITER zusammengestellt wurde (vgl. LENZ et al. 2020). Dieses Korpus schlummerte bislang im Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Es wird aktuell im Rahmen eines Kooperationsprojekts2 zwischen der ÖAW-Forschungsabteilung Sprachwissenschaft3 und dem Phonogrammarchiv erstmals digitalisiert und metadatentechnisch erfasst (vgl. LENZ et al. 2020). Das Korpus umfasst insgesamt ca. 2.460 Aufnahmen an ca. 1.000 Ortspunkten von ca. 2.400 SprecherInnen (vgl. LENZ et al. 2020: Abb. 3). Der Kernbestand der Aufnahmen wurde jüngst von der UNESCO in das „Weltdokumentenerbe in Österreich“ aufgenommen. Neben Tonaufnahmen gehören handschriftliche Protokolle zum Korpus, die wesentliche Informationen zu Inhalten der Aufnahmen, den Sprechenden und anderen Aspekten enthalten. Das besagte Korpus ist – konzeptionell wie institutionell – im Umfeld des „Wörterbuch[s] der bairischen Mundarten in Österreich“ (WBÖ) entstanden.4 Große Teile der lexikographisch ausgerichteten WBÖ-Materialien (insbesondere die WBÖ-Datenbank) stehen seit 2019 1 2 3

4

Vgl. exemplarisch etwa MOOSMÜLLER (1991); PFREHM (2007); SOUKUP (2009; 2011); KLEENE (2017); KOPPENSTEINER / LENZ (2017; 2020). Projekthomepage: ; Stand: 06.12.2021. Die Forschungsabteilung ist angesiedelt am „Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage“ (ACDH-CH) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). URL: ; Stand: 06.12.2021. Das WBÖ wird seit 2016 als „Langzeitprojekt“ an der ÖAW fortgeführt, und zwar an der Forschungsabteilung Sprachwissenschaft am ACDH-CH. URL: ; Stand: 06.12.2021.

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bereits digital zur Verfügung, und zwar innerhalb von LIÖ, dem „Lexikalischen Informationssystem Österreich“ (s. ). In diesem Informationssystem werden nicht nur die neuen WBÖ-Artikel – ab Buchstabe F folgend – online gestellt, sondern auch die retrodigitalisierten, bereits in Printform publizierten Artikel werden mittelfristig über LIÖ einsehbar sein (vgl. STÖCKLE 2020). Neben den erwähnten Forschungsquellen gibt es bislang drei regionale Dialektatlanten, die zumindest weite Teile des Westen Österreichs (TSA, VALTS) bzw. das Bundesland Oberösterreich und angrenzende Randgebiete (SAO) abdecken. Eine flächendeckende und systematische Dokumentation der österreichischen Dialektlandschaft zu Beginn des 21. Jh. erfolgt aktuell im Rahmen des SFB-Teilprojekts „Variation und Wandel dialektaler Varietäten in Österreich“ (Leitung: Stephan Elspaß, Universität Salzburg). Im SFB-Teilprojekt „Sprachrepertoires und Varietätenspektren“ (Leitung: Alexandra N. Lenz, Universität Wien/ÖAW; vgl. LENZ 2018a) wird an ausgewählten Ortspunkten Österreichs die gesamte vertikale Varietätenachse fokussiert, unter Einschluss des dialektalen Pols örtlicher bzw. individueller Repertoires. Nicht unerwähnt bleiben soll abschließend eine Fülle namenkundlicher Projekte (z. B. WIESINGER et al. 1989ff.) sowie diverse phänomenorientierte Studien und Analysen, die gerade in den letzten Jahrzehnten neben lautlichen Merkmalen auch zunehmend grammatische Phänomene in den Blick nehmen (z. B. PATOCKA 1997; MAUSER 1998; für einen Überblick vgl. LENZ 2019). Was die bisherige Forschung zum standardsprachlichen bzw. – je nach theoretischer Perspektive – standardsprachnahen Spektrum betrifft, sind gleich mehrere Großprojekte zu nennen, die einerseits phonetischer Variation in der Leseaussprache von AbiturientInnen/MaturantInnen (vgl. AADG) nachgehen und andererseits die Lexik bzw. Grammatik des Standardschriftdeutschen dokumentieren (vgl. „Variantenwörterbuch“5 und „Variantengrammatik“6). Die genannten Projekte sind auf den gesamten deutschsprachigen Raum ausgerichtet und erfassen dementsprechend auch standardsprachliche Gebrauchsmuster in Österreich. Sie werden ergänzt durch vor allem phonetische Analysen zu Aussprachemustern von in der Regel (aber nicht nur) höher gebildeten SprecherInnen (vgl. etwa BRANDSTÄTTER / MOOSMÜLLER 2015; s. auch den Überblick in LANWERMEYER et al. 2019). Für den „mittleren Bereich“ (BELLMANN 1983) des vertikalen Spektrums liefert auch der AdA (ELSPASS / MÖLLER 2003ff.) flächendeckende Ergebnisse für Österreich, sodass dieser Atlas auch einige regiolektale Phänomene aus dem Bereich der Lexik, Grammatik und seltener auch Phonetik umfasst. Was regionalsprachliche Tiefenbohrungen der gesamten Dialekt-Standard-Achse betrifft, liegen zumindest mit SCHEUTZ (1985), SCHEURINGER (1990) und UNGER (2014) erste Studien vor. Bei den Tiefenbohrungen in Ulrichsberg (SCHEUTZ 1985) und Braunau (SCHEURINGER 1990) kommen (teils „semi-formelle“, SCHEURINGER 1990: 297) Interviews bzw. (auch) Freundesgespräche zum Einsatz, in denen vor allem Varianten des dialektalen bis mittleren Bereichs evoziert werden (vgl. die Übersichtsdarstellung in 5 6

Vgl. AMMON / BICKEL / LENZ (2016). Vgl. Variantengrammatik. URL: ; Stand: 20.08.2020.

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LENZ 2019: 342–345). Dass mit diesen beiden Erhebungssettings die Gesamtbreite intraindividueller vertikal-sozialer Sprachvariation noch nicht vollends repräsentiert ist, wird deutlich, wenn neben Interview und Freundesgespräch noch Kompetenzerhebungen hinzukommen, wie sie UNGER (2014) – analog zu LENZ (2003) – im niederösterreichischen Deutsch-Wagram in ihr Methodenrepertoire einbaut. Dabei beinhaltet die „IOD“-Erhebung Übersetzungen von standardsprachlich vorgegebenen Wenkersätzen in „Intendierten Ortsdialekt“, während die „ISS“-Erhebung aus der Übersetzung derselben Sätze vom Dialekt in „Intendierte Standardsprache“ besteht (zum Konzept des IOD und ISS vgl. auch MACHA 1991). Auf Basis der intra- und intersituativen Vergleichsanalysen können verschiedene Typen an nonstandardsprachlichen Varianten abgeleitet werden (vgl. UNGER 2014: Tab. 102 und 106 sowie die Zusammenfassung in LENZ 2019: Abb. 11.8). Es zeigen sich Phänomene, die in der Dialektübersetzung und dann noch stärker im Freundesgespräch nur noch mittlere Gebrauchsfrequenzen aufweisen und so gut wie gar nicht im Interview und in der ISS-Übersetzung (z. B. ia-Diphthonge < mhd. ie) realisiert werden. Andere Varianten sind in den beiden Nonstandard-Erhebungssettings (Freundesgespräch und IOD) noch recht stabil, aber dann seltener im Interview in Gebrauch (z. B. ia-Diphthonge < mhd. üe). Eine dritte Gruppe zeichnet sich hingegen durch hohe Frequenzen bis ins Interview ab (z. B. g(e)-Synkopierung). Während sich diese ersten drei Typen durch intersituative Schwankungen ausweisen, ist das Merkmal der vierten und letzten Gruppe gerade die relative intersituative Stabilität (z. B. Lenisierung von p und t). Zusammengefasst weist sich die bisherige Forschung zur vertikalen Variation auf der Dialekt-Standard-Achse in Österreich durch folgende Charakteristika aus: Bislang fanden nur sehr wenige Ortspunkte Berücksichtigung, die sich alle auf das Mittelbairische beschränken. Die in den bisherigen Arbeiten analysierten Phänomene betreffen primär die lautliche Systemebene mit einigen morphologischen Ausnahmen bzw. Phänomenen an der phonologisch-morphologischen Schnittstelle (vgl. SCHEURINGER 1990; UNGER 2014). Ein großes Forschungsdesiderat besteht somit aus flächendeckenden Analysen der areal-horizontalen und vertikal-sozialen Variationsdimensionen in allen Teilräumen Österreichs unter Berücksichtigung verschiedener Systemebenen. 3 AKTUELLE FORSCHUNG IM SFB DIÖ Den skizzierten (und einer ganzen Reihe weiteren) Forschungsdesideraten geht seit 2016 der vom FWF finanzierte Spezialforschungsbereich „Deutsch in Österreich (DiÖ). Variation – Kontakt – Perzeption“ mit seinen insgesamt acht Teilprojekten nach.7 Drei dieser Teilprojekte fokussieren dabei variationslinguistische Aspekte des Deutschen in Österreich auf der Sprachgebrauchsebene. Unter diesen drei Teil7

Zu ausführlicheren Informationen bzgl. Inhalten und Teilprojekten des SFB DiÖ vgl. KOPPENSTEINER / LENZ (2017); LENZ (2018a); BUDIN et al. (2019). S. a. die SFB-Homepage unter ; Stand: 06.12.2021.

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projekten des Clusters „Variation“ analysiert das Salzburger Projekt „Variation und Wandel dialektaler Varietäten in Österreich“ (Leitung: Stephan Elspaß, Universität Salzburg) den dialektalen Pol der vertikalen Achse. Die beiden übrigen Teilprojekte des Variationsclusters gehen auf die gesamte vertikale Achse ein; mit einem Schwerpunkt auf stadtsprachlichen Repertoires einerseits (vgl. Teilprojekt „Wien und Graz. Städte und ihre sprachlichen Strahlkräfte“; Leitung: Arne Ziegler, Universität Graz) und ländlichen Repertoires andererseits (vgl. Teilprojekt „Sprachrepertoires und Varietätenspektren“; Leitung: Alexandra N. Lenz, Universität Wien/ÖAW). Es ist das dritte Teilprojekt, das den Schwerpunkt für die weitere Diskussion in diesem Beitrag liefern wird.8 Mit einem Fokus auf ländlichen Ortspunkten gehen wir darin aktuell der Frage nach, wer wie wozu mit wem welche Formen, Varietäten oder Stile des Deutschen in Österreich gebraucht (vgl. LENZ 2018a; BUDIN et al. 2019). Seit 2017 kommen in diesem Teilprojekt teils standardisierte und teils innovative Erhebungsmethoden flächendeckend zum Einsatz, und zwar an insgesamt 15 Ortspunkten (Einwohnerzahl zwischen 500 und 2.000) in ländlichen Regionen Österreichs, an denen bislang bei insgesamt 230 SprecherInnen mit variierenden soziodemographischen Merkmalen Sprach- und Einstellungsdaten gesammelt werden (vgl. KOPPENSTEINER / LENZ 2017; LENZ 2018a; LENZ et al. 2019). Allen SprecherInnen ist ihre Autochthonie gemeinsam, die sich darin ausdrückt, dass sie selbst – wie auch mindestens ein Elternteil – am Erhebungsort aufgewachsen sind und dort leben bzw. – wie etwa im Falle von WochenendpendlerInnen, Studierenden u. a. – sich dort häufig aufhalten. Pro Ort stehen mindestens zwei ältere NORMs bzw. NORFs mindestens acht jüngeren Personen gegenüber, von denen die Hälfte einen höheren (formalen) Bildungsgrad aufweist. Altersübergreifend wurde ein gender-ausgeglichenes Sample angestrebt. Die Gewährspersonen des SFB-Teilprojekts „Sprachrepertoires und Varietätenspektren“ haben einen komplexen Erhebungsprozess durchlaufen, bestehend aus insgesamt acht Settings pro Person. Ziel dieser kombinierten Methoden, die in Abb. 1 zusammengefasst sind, war es, möglichst unterschiedliche intraindividuelle Ausschnitte des Dialekt-Standard-Repertoires der Sprechenden zu erheben, wobei diese intraindividuellen Ausschnitte auch interindividuell vergleichbar sein sollten. In diesem Methodenmix werden eher „freie“ Gesprächssettings (Freundesgespräch und Interview) einerseits durch eher standardisierte und kontrollierte Erhebungseinheiten andererseits ergänzt. Hervorzuheben ist dabei unser systemebenenübergreifender Ansatz, der darin zum Ausdruck kommt, dass die kontrollierten Settings nicht nur – wie in aktuellen regionalsprachlichen Projekten üblich – primär auf phonetische Phänomene abzielen. In Phase I der Datenerhebungen (2016–2019) standen daneben die Systemebenen der Morphologie und Syntax im Vordergrund. In der aktuellen SFB-Phase II (2020–2023) kommen Erhebungsmethoden im Hinblick auf Lexik und Pragmatik hinzu. Neben standardisierten Methoden wie Übersetzungs- und 8

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Ergebnisse aus Abb. 8 aus einem weiteren Teilprojekt des SFB stammen, das dem Perzeptionscluster angehört: „Standardvarietäten aus Perspektive der perzeptiven Variationslinguistik“ (Leitung: Alexandra N. Lenz; Universität Wien/ÖAW). Vgl. KOPPENSTEINER / LENZ (2017).

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Leseaufgaben sind es insbesondere die „Sprachproduktionsexperimente“, die zur Elizitierung von nicht-lautlichen Phänomenen herangezogen werden.9

Abb. 1: Erhebungssettings des Teilprojekts „Sprachrepertoires und Varietätenspektren“ in Phase I (2016–2019) des SFB „Deutsch in Österreich. Variation – Kontakt – Perzeption“ (vgl. LENZ 2018a)

4 EXEMPLARISCHE ANALYSEN 4.1 Erste Ergebnisse im Überblick Bevor im Folgenden ausgewählte Ergebnisse der bisherigen systemlinguistischen Analysen präsentiert werden, soll einleitend ein Blick auf die Selbsteinschätzungen der Gewährspersonen bezüglich ihrer „Dialekt“- und „Hochdeutsch“-Kompetenz geworfen werden. Herangezogen werden hierfür insgesamt 152 SprecherInnen aus dem sogenannten „Kernkorpus“, die sich dadurch auszeichnen, dass sie erstens den oben 9

Zu Konzeption und methodologischen Reflexion der Sprachproduktionsexperimente im SFB vgl. LENZ et al. (2019). Zu Analysen ausgewählter morphologischer und syntaktischer Phänomene, die auf dem Experimentkorpus basieren, vgl. auch BREUER / WITTIBSCHLAGER (2020); FINGERHUTH / LENZ (2020); KORECKY-KRÖLL (2020).

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beschriebenen soziodemographischen Kriterien am besten entsprechen sowie zweitens alle acht Settings der Erhebung (vgl. Abb. 1) mühelos durchlaufen haben. Die in Abb. 2 (im Anhang) differenzierten drei soziodemographischen Gruppen zeigen nur wenig Unterschiede bzgl. ihrer subjektiven aktiven und passiven „Dialekt“- wie „Hochdeutsch“-Kompetenzen sowie ihres selbst eingestuften „Dialekt“- und „Hochdeutsch“Gebrauchs.10 Gruppenübergreifend weisen sich unsere Gewährspersonen eine recht hohe aktive und mehr noch passive „Dialekt“-Kompetenz zu, die besonders auf Seiten der älteren NORMs/NORFs so wahrgenommen wird.11 Auch was den „Dialekt“-Gebrauch pro Woche betrifft, geben die Gewährpersonen insgesamt recht hohe Werte an, niedrigere Skalenpunkte kommen v. a. von jüngeren SprecherInnen mit höherem (formalem) Bildungsgrad. Die „Hochdeutsch“-Kompetenzen werden bei allen drei Gruppen etwas niedriger als die „Dialekt“-Kompetenzen eingestuft. Auch wird „Hochdeutsch“ in einer Durchschnittswoche alters- wie gruppenübergreifend eher selten gebraucht. Die Selbsteinschätzungen deuten auf ein sprecherübergreifend dialektkompetentes wie -loyales Sample an InformantInnen hin. Diesen Selbsteinschätzungen werden im Folgenden die systemlinguistischen Befunde auf Basis umfangreicher Variablenanalysen gegenübergestellt. Einem ersten Ergebnisüberblick in Abb. 3 liegen insgesamt 31.936 Belege einer Type-TokenAnalyse zugrunde. Repräsentiert sind alle Varianten von bislang 18 Phänomenbereichen, die sowohl Variablen aus der Phonologie, Morphologie als auch Syntax betreffen. Die dem Diagramm zugrundeliegenden Daten stammen von 16 SprecherInnen aus vier Ortspunkten (2 NORMs/NORFs, 2 jüngere Gewährspersonen). Die Balkenhöhe gibt die durchschnittlichen Gebrauchshäufigkeiten aller 16 SprecherInnen gebündelt wieder, und zwar aus bis zu acht Erhebungssettings. „Lücken“ bei einem Erhebungssetting ergeben sich daraus, dass bestimmte Varianten nur in bestimmten Settings analysiert werden können (beispielsweise eignen sich die LeseSettings nicht für die Analyse grammatischer Phänomene usw.).

10 Die dieser Analyse zugrundeliegenden Fragen des Interviewleitfadens stammen aus 2 Fragengruppen (einer Fragengruppe zum Thema „Dialekt“ mit insgesamt 19 Fragen und einer Fragengruppe zum Thema Standard/„Hochdeutsch“ mit insgesamt 28 Fragen. Die relevanten Fragen behandeln die aktive und passive „Dialekt“-Kompetenz, die aktive „Hochdeutsch“-Kompetenz sowie den „Dialekt“- bzw. „Hochdeutsch“-Gebrauch. Den Gewährspersonen wurden zur Beantwortung dieser Fragen 7-stufige Antwortskalen zur Seite gestellt, die auch eine Quantifizierung der umfassend diskursiv ausgehandelten Diskussionsfragen ermöglichte (vgl. KOPPENSTEINER / LENZ 2017: 59–60). 11 Der gutachterlichen Anmerkung, dass bei „typischen“ NORMs/NORFs „höhere Werte“ zu erwarten wären, sei an dieser Stelle entgegengebracht, dass die Zuordnung der SprecherInnen zu den angeführten SprecherInnen-Gruppen allein auf objektiven soziodemographischen Kriterien beruht. Dass auch SprecherInnen mit (systemlinguistisch nachweisbar) hoher „Dialekt“-Kompetenz ihre aktive/passive „Dialekt“-Kompetenz subjektiv mitunter als eingeschränkt wahrnehmen, ist nicht nur in anderen Studien zum bairischen Sprachraum zu beobachten (vgl. etwa LENZ / AHLERS / WERNER 2015), sondern auch in anderen Regionen des deutschsprachigen Raums (vgl. FLEISCHER / KASPER / LENZ 2012).

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Abb. 3: Durchschnittliche Häufigkeiten von 108 Varianten aus 18 Variablen der Phonetik/Phonologie, Morphologie und Syntax aus bis zu acht Erhebungssettings. Datenbasis: 31.936 Belege von 16 SprecherInnen aus vier Ortspunkten (Neckenmarkt/Burgenland, Neumarkt a. d. Ybbs/Niederösterreich, Raggal/Vorarlberg, Weißbriach/Kärnten). Beispiel (unten): Durchschnittliche Frequenzen der Variante /aː/ < mhd. ei in sechs Erhebungssettings.12

Das Diagramm in Abb. 3 visualisiert die im Korpus zu beobachtende gesamte Bandbreite an Variantenfrequenzen. Es gibt Varianten, die in einem bestimmten Erhebungssetting durchschnittlich zu 0 % realisiert werden, was bedeutet, dass keine der 16 Gewährspersonen dieses Phänomen in diesem Setting realisiert (z. B. Variante /aː/< mhd. ei in den Leseaufgaben; vgl. auch Kap. 4.2.2). Hingegen lassen sich ebenso Varianten ausmachen, die in einer bestimmten Situation zu durchschnittlich 100 % realisiert werden, was bedeutet, dass alle Personen dieses Phänomen (zumindest in einem bestimmten Setting) zu 100 % realisieren (z. B. standardsprachliche Realisierungen zu mhd. oe in den Standard-Übersetzungsaufgaben). Zwischen diesen beiden „Extremtypen“ an Varianten sind im Prinzip alle Frequenzverteilungen zu beobachten, die jeweils als Ausdruck für intra- und intersituativ zu beobachtende Sprachgebrauchsdifferenzen zu deuten sind. Einen tieferen Einblick auf diese intra- und intersituative Variation ermöglicht Abb. 4 (im Anhang), der nun 20 ausgewählte Varianten von elf Variablen zugrunde liegen, wiederum in acht Erhebungssettings. Die durchschnittlichen Gebrauchshäufigkeiten sind hier nicht in der Balkenhöhe ablesbar, sondern in der Größe einer farbigen Blase. Durchgestrichene Nullen stehen für den Fall, dass in den markierten 12 In die Graphik gehen Varianten mit unterschiedlichen areal-horizontalen und sozial-vertikalen Distributionen ein, die natürlich bei einer tiefergehenden Interpretation der Frequenzen zu berücksichtigen sind. Dies erfolgt für die Reflexe von mhd. ei in Kap. 4.2.2.

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Erhebungssettings keinerlei Daten für das betreffende Phänomen vorliegen (können!). (Als Beispiel für einen solchen Fall dienen sämtliche Varianten des Konjunktivs II in den Leseaufgaben). Die Anordnung der Varianten (Abb. 4, im Anhang) auf der x-Achse spiegelt den Typ des „Variationsverhaltens“ der Varianten wider: Es gibt Varianten, die lediglich in den Dialekt-intendierten Settings und hingegen nicht bis kaum in anderen Situationen auftreten (z. B. der periphrastische Konjunktiv II mit täte+at-Auxiliar, wie er in darat gehen auftritt).13 Zweitens lassen sich Phänomene beobachten, die in den Dialekterhebungen und im Freundesgespräch, aber seltener bis kaum noch im Interview genutzt werden (z. B. oa-Diphthong < mhd. ei14 oder -erl-Diminutive (im Gegensatz zu -el-Diminutiven)15). Drittens zeigen sich Varianten, die sich auf die gesamte Dialekt-Standard-Achse verteilen und hier kaum intersituativ schwanken, wie etwa nebentoniges , das fast immer plosivisch und nur selten frikativisch realisiert wird (vgl. ausführlicher LANWERMEYER et al. 2019). Es gibt aber auch Phänomene, die überhaupt erst in standardsprachorientierten Settings vorkommen, wie etwa aspirierte Plosive p und t, die verstärkt beim Lesen von Einzelwörtern realisiert werden. 4.2 Ausgewählte Phänomene in der Tiefenbohrung Nach diesem einleitenden und generalisierenden Blick auf Variationsverhältnisse und Variationsmuster in Österreich soll der Fokus auf exemplarische Einzelphänomene gelenkt werden. Der Schwerpunkt der folgenden Tiefenbohrungen wird auf grammatischen Phänomenen liegen (vgl. Kap. 4.2.1), die abschließend durch die Analyse eines ausgewählten Lautphänomens (mhd. ei) ergänzt werden (vgl. Kap. 4.2.2).

4.2.1 Grammatische Phänomene Die folgende Analyse grammatischer Phänomene wird sich auf drei ausgewählte Variablen konzentrieren: Konjunktiv II, „Flektierende Konjunktionen“ und das Dativpassiv. Die Datenbasis stammt von 92 bis 147 SprecherInnen, deren Sprachdaten aus den beiden experimentellen Settings herangezogen werden (vgl. Abb. 1), die speziell auf die Erhebung und Analyse grammatischer Phänomene ausgerichtet sind.16

13 14 15 16

Zur Variation des Konjunktiv II vgl. ausführlicher Kap. 4.2.1. Zu den gegenwartssprachlichen Reflexen von mhd. ei vgl. ausführlicher Kap. 4.2.2. Zum Phänomen der subst. Diminution vgl. ausführlicher KORECKY-KRÖLL (angenommen). Zur Variation grammatischer Phänomene innerhalb der frei(eren) SFB-Gesprächssettings (Interview und Freundesgespräch) bzw. den SFB-Übersetzungssettings vgl. FINGERHUTH / BREUER (i. Dr.); GORYCZKA et al. (angenommen), KORECKY-KRÖLL (in diesem Band sowie i. Dr.).

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4.2.1.1 Konjunktiv II Das Balkendiagramm in Abb. 5 (im Anhang) fasst die Ergebnisse für den standardsprachorientierten sowie den dialektorientierten Durchgang des Sprachproduktionsexperiments („SPE-S“ bzw. „SPE-D“) zu den Konstruktionsvarianten des Konjunktivs II zusammen. Die Sprachkarte fokussiert den Dialektdurchgang (SPE-D).17 Die grau schattierten Füllungen der Kreisdiagramme an jedem der 13 Ortspunkte repräsentieren die relativen Häufigkeiten von Ausdrucksvarianten pro Ort. Differenziert wurden sechs Variantentypen, die in der Legende nach synthetischen und periphrastischen Formen gruppiert sind. Wie ersichtlich verteilt sich der synthetische at-Konjunktiv im Dialektdurchgang des Experiments auf alle Teilräume des Bairischen; in niedrigen Frequenzen tritt er auch im bairisch-alemannischen Übergangsgebiet auf (vgl. Tarrenz). Höhere Frequenzen (12,4 % und mehr) erreicht diese Variante aber allenfalls im Mittelbairischen. Sein alemannisches Pendant – synthetische Konjunktivformen mit t- oder ti-Suffix – finden sich erwartungsgemäß auch nur im alemannischen SFB-Ort Raggal, dort allerdings nur mehr sehr selten (4,7 %). Interessant ist flächendeckend die Häufung jener Kreisanteile, die für periphrastische würde- und täte-Konjunktive stehen, die in elf der 13 Ortspunkte kovariierend auftreten. Lediglich ganz im Westen, in Tarrenz und in Raggal, evoziert das Dialekt-Experiment vorrangig täte-, aber kaum würde-Konjunktive. Die Kombination aus täte-Auxiliar und at-Suffix (daratKonjunktiv) wird hingegen lediglich in den mittelbairischen Ortspunkten realisiert. Insgesamt tun sich somit im Dialektdurchgang offensichtliche Arealstrukturen auf: Einige Varianten sind eher eindeutig auf bestimmte Areale beschränkt, wie der synthetische at-Konjunktiv, der in allen bairischen Subräumen einschließlich des bairisch-alemannischen Übergangsgebiets zumindest in niedrigen Frequenzen auftritt. Andere Varianten – wie etwa der täte-Konjunktiv – treten an allen Ortspunkten auf, besonders auch im alemannischen Raggal. Interregionale Unterschiede zeigen sich aber sehr wohl in divergierenden Frequenzen. Im standardsprachorientierten Durchgang (SPE-S) sind hingegen Arealmuster, die noch im Dialektdurchgang zu erkennen sind, aufgelöst. Die intrasituative Variation beschränkt sich hier weitgehend auf standardkonforme synthetische Konjunktivformen und auf den würde-Konjunktiv, der an allen Ortspunkten zwischen 50 und 75 % aller Belege ausmacht. Damit zeigt der Vergleich der beiden Experimentrunden eine starke Reaktion auf die Veränderung der Situationsparameter. Für einige Varianten bedeutet diese Situationsanpassung, dass sie gänzlich vermieden werden, während die Frequenzen anderer Varianten intersituativ schwanken. Insbesondere nehmen die Frequenzen des würde-Konjunktivs zum standardsprachlichen Experimentdurchgang hin zu. Diese Konstruktionsvariante ist allerdings nur graduell und nicht dichotomisch auf die Settings verteilt. Erwartungsgemäß treten auch linguistische Steuerungsfaktoren wie etwa die Konjugationsklasse des Verbs in Erscheinung. Auch kommen unregelmäßige hochfrequente Verben deutlich häu-

17 Für Hintergründe zum SFB-Experiment vgl. LENZ et al. (2019); BREUER / WITTIBSCHLAGER (2020).

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figer in synthetischen Konjunktivkonstruktionen vor (vgl. BREUER / WITTIBSCHLAGER 2020). Ein Blick auf die beiden Generationen, die hinter den Daten stehen (s. Balkendiagramm in Abb. 5, im Anhang), zeigt ein intergenerationell vergleichbares sprachliches „Reagieren“ auf die Veränderung der Situationsparameter. Dabei zeichnen sich zwei Haupttendenzen ab: Erstens eine intersituative Abnahme der basisdialektalen Varianten (vgl. synthetische at- und periphrastische darat-Konjunktive) sowie zweitens eine Zunahme an würde-Konjunktiven bei gleichzeitiger Abnahme der täte-Konjunktive. Dabei ist es die jüngere Generation, die diese Tendenzen synchron schon deutlicher umsetzt, als es die älteren NORMs/NORFs erkennen lassen. 4.2.1.2 Flektierende Konjunktionen Die zweite grammatische Tiefenbohrung fokussiert das Phänomen der „Flektierenden Konjunktionen“ oder des „Complementizer Agreements“ (im Folgenden CA), wie es sich in flexionsartigen Endungen von Nebensatzeinleitungen zeigt (z. B. „I frog mi, wann-s eß im/am Michael höfts.“ ‘[…], wann Ihr dem Michael helft’).18 In Abb. 6 und Abb. 7 (beide im Anhang) sind die Ergebnisse zum Dialektdurchgang des Experiments zu sehen, und zwar im Hinblick auf die 2PL und die 2SG, wie sie in FINGERHUTH / LENZ 2020 ausführlich diskutiert werden.19 Ein Blick auf die „eindeutigen“20 Fälle von CA in der 2PL deckt interessante Arealstrukturen auf: Bis auf erstens Raggal und zweitens das südbairische Weißbriach, wo es jeweils keinen Beleg gibt, finden sich an allen Ortspunkten Anteile des Phänomens, mit den niedrigsten Frequenzen in den südbairischen Ortspunkten Oberwölz und Tux. Als noch ergiebiger erweisen sich Nebensatzeinleitungen bei der 2SG, die im alemannischen Raggal keine und im Südbairischen insgesamt nur sehr wenige Belege für das Phänomen zeigen. Die Zusammenschau aus 2PL und 2SG bestätigt die These, dass das Alemannische, Südbairische und Bairisch-Alemannische Übergangsgebiet weniger CA-affine bzw. CA-freie Regionen zu sein scheinen. Nur in der 2PL überquert das Phänomen die traditionellen Raumteilungen innerhalb des Bairischen, kommt aber nicht im alemannischen Raggal an. Die alemannisch-bairische Grenze im Westen Österreichs scheint für CA eine besonders stabile Grenze zu sein. Die Tatsache, dass der standardsprachorientierte Experimentdurchgang keinerlei Belege für „Flektierende Konjunktionen“ evoziert, zeigt, dass es sich um ein Phänomen handelt, das seitens der Gewährpersonen eindeutig dem Nonstandard zugeschrieben wird. Deutlich mehr als beim Konjunktiv II unterliegen die Sprach18 Zum Phänomen im bairischen Sprachraum vgl. ausführlicher LENZ / AHLERS / WERNER (2015) und FINGERHUTH / LENZ (2020). 19 Zum Experimentaufbau vgl. LENZ et al. (2019: 67–68) sowie FINGERHUTH / LENZ (2020: 16–19). 20 Uneindeutige Fälle treten bei 2PL immer dann auf, wenn der Nebensatz kein explizites Personalpronomen aufweist. Wenn ein solches Pronomen (ihr, eß) fehlt, kann nicht eindeutig beurteilt werden, ob es sich bei einer Nebensatzendung auf -s „nur“ um ein klitisiertes Pronomen oder um eine „Flexionsendung“ der Nebensatzeinleitung handelt.

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gebrauchsmuster zum CA diversen linguistischen Steuerungsfaktoren, die die Realisierung von „Flektierenden Konjunktionen“ mitbedingen. Zu diesen Faktoren gehören etwa die konkrete Person/Numerus-Flexion oder auch die Art der NebensatzEinleitungen (einfache Subjunktionen versus komplexere Einleitungen; vgl. ausführlicher FINGERHUTH / LENZ 2020: 20–25). 4.2.1.3 Dativpassiv Das dritte fokussierte Phänomen, das Dativpassiv, tritt in den SFB-Experimentdaten als kriegen- oder bekommen-Passiv auf (z. B. „Der Mo kriagt a Brün auf_d Nosen gsetzt.“ ‘Der Mann kriegt eine Brille auf die Nase gesetzt.’).21 Abb. 8 zeigt die Frequenzen an Dativpassiven sowie alternativen werden-Passiven und Aktivkonstruktionen bei 92 SprecherInnen an acht Ortspunkten, hier in beiden Experimentdurchgängen, in denen jeweils fünf Videoclips mit variierenden Handlungsaktionen zum Einsatz kamen („Brille aufsetzen“, „Zahn ziehen“, „Banane stehlen“, „Haare schneiden“, „Wasser einschenken“). Eine ausführliche Darstellung der hier skizzierten Befunde ist einzusehen in LENZ et al. 2019). Wie in Abb. 8 ersichtlich, sind es gerade die Videos „Brille aufsetzen“ und „Wasser einschenken“, die auch in Österreich Dativpassive in Frequenzen von 15– 20 % evozieren, während die übrigen Videos keine bis niedrigere Frequenzen erreichen. In den beiden Videos präsentiert sich der im Fokus des Clips stehende Hauptdarsteller als Rezipient, der zugleich Benefizient einer Transferaktion ist. Am ‚schlechtesten‘ funktioniert das Video „Banane stehlen“, in dessen Verlauf die fokussierte Person als Malefizient im Rahmen eines Besitzwechsels etwas verliert. Während die Frequenzen der Dativpassive an sich zwischen den beiden kontrastierten Settings (SPE-D versus SPE-S) nur minimal schwanken, verteilen sich die beiden Passivauxiliare hingegen recht eindeutig auf die beiden Experimentdurchgänge, mit kriegen als dominierendem Auxiliar im Dialektdurchgang und bekommen im Standardsprachdurchgang. Ebenfalls interessant erweisen sich die Frequenzen der Aktivkonstruktionen, die signifikant häufiger im SPE-D realisiert werden als im SPE-S, in dem häufiger werden-Passive evoziert werden.

21 Zum Experimentaufbau vgl. LENZ et al. (2019: 70–72). Zum Phänomen im österreichischen Sprachraum vgl. auch WITTIBSCHLAGER (in Vorbereitung).

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Abb. 8: Relative Häufigkeiten (in %) von Dativpassiven und Alternativkonstruktionen in beiden Experimentdurchgängen pro Experimentvideo (nach LENZ et al. 2019: Abb. 8). Datenbasis: 92 SprecherInnen an acht Ortspunkten (insgesamt 25 ältere NORMs/NORFs und 67 jüngere SprecherInnen). SPE-D: 596 Belege; SPE-S: 609 Belege.

Im Vergleich zu anderen grammatischen Phänomenen – wie etwa „Flektierende Konjunktionen“ (s. o.) – zeigen Dativpassive insgesamt deutlich weniger intersituative Variation. Das, was variiert, sind weniger die Auftretenshäufigkeiten der Konstruktion an sich, sondern vielmehr die Frequenzen der lexikalischen Füllung ihres Auxiliars. Wie auch bei den „Flektierenden Konjunktionen“ korreliert das Vorkommen eines Dativpassivs mit linguistischen Steuerungsfaktoren, zu denen die semantische Rolle des Subjektreferenten oder die Valenz des Vollverbs gehören (vgl. ausführlicher LENZ 2018b; LENZ et al. 2019: 70–77; WITTIBSCHLAGER (in Vorbereitung)).

4.2.2 Lautliche Phänomene Nach dem Blick in grammatische Einzelphänomene soll abschließend und vergleichend ein ausgewähltes Variationsphänomen der lautlichen Systemebene detaillierter diskutiert werden. Als ein besonders komplexer Phänomenbereich erweist sich in Österreich die Variable „mhd. ei“ (vgl. LENZ 2019: 328–239; FANTA-JENDE 2020a; 2020b). Für die basisdialektalen Reflexe zu mhd. ei im Wenkermaterial zeigt etwa die Wiesinger-Ergänzungskarte „heim“ die folgenden sprachgeographischen Arealstrukturen (vgl. auch KRANZMAYER 1956, Karte 16 zum Stichwort breit): Dominierend verzeichnet sind im bairisch-österreichischen Raum oa-Diphthonge als Reflexe zu MHD /ei/. Lediglich im Wiener Raum und im südbairischen Kärnten sind bereits basisdialektal lange a-Monophthonge kartiert. (Zur

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Variationsvielfalt im alemannisch-österreichischen Raum, vgl. LENZ 2019: 329 und FANTA-JENDE 2020b). Die Arealstrukturen der Wiesinger-Ergänzungskarte decken sich auch mit den sprachgeographischen Verhältnissen, die STÖCKLE (2020) auf Basis der WBÖ-Handzettel22 eruiert hat und die in Abb. 9 (im Anhang) als zusätzliche Ebene über die Wiesinger-Karte gelegt sind. Die quantitativ dominierenden Punkte repräsentieren dabei oa-/ua-Diphthonge (z. B. Informantenangaben wie , ), die sich auch in den WBÖ-Materialien auf fast den gesamten bairischösterreichischen Raum verteilen. Anteile, die für a-Monophthonge stehen (z. B. ), sind im südlichen Kärnten und um Wien herum belegt. Die Größe der Punkte spiegelt die Häufigkeiten an zugrundeliegenden Belegzahlen wider. Die zum Vergleich mit dem historischen Forschungsstand herangezogenen und aktuellen SFB-Daten stammen aus sechs Erhebungsorten mit (eher) dörflichen Strukturen, die sich auf sechs verschiedene Dialekträume Österreichs verteilen: Raggal (Vorarlberg) im Alemannischen, Tarrenz (Tirol) im alemannisch-bairischen Übergangsgebiet, Weißbriach (Kärnten) im Südbairischen, Taufkirchen/Pram (Oberösterreich) aus dem Westmittelbairischen, Neumarkt/Ybbs (Niederösterreich) aus dem Ostmittelbairischen und Neckenmarkt (Burgenland) aus dem östlichen Teil des süd-mittelbairischen Übergangsgebiets. Abb. 10 (im Anhang) fasst ausgewählte Ergebnisse aus den Datenanalysen an diesen sechs Ortspunkten zusammen. Für die Tiefenbohrung wurden die Sprachdaten von 20 SprecherInnen (weitgehend genderbalanced) aus jeweils sechs Erhebungssettings herangezogen: zwei Übersetzungsrunden (von Dialekt in Standardsprache bzw. vice versa), die beiden Lese-Aufgaben (Text „Nordwind und Sonne“ versus Einzelwortliste) sowie die beiden Konversationseinheiten Interview und Freundesgespräch. Während die älteren SprecherInnen klassische NORMs/NORFs (zwischen 63 und 77 Jahre) darstellen, weisen die jüngeren SprecherInnen (zwischen 19 und 35 Jahre) höhere Bildungsgrade und einen mehr oder weniger großen Grad an Mobilität auf. Was die alten basisdialektalen oa-Diphthonge betrifft, zeigt ein Blick auf zunächst die mittelbairischen Ortspunkte Taufkirchen und Neumarkt/Ybbs, dass diese Variante am ehesten noch in den Übersetzungen in den Dialekt und hier noch häufiger von den älteren NORMs/NORFs realisiert wird. Der intergenerationelle Trend spiegelt sich intersituativ darin wider, dass die Frequenzen dieser basisdialektalen Variante zum Freundesgespräch und noch deutlicher dann zum Interview hin abnehmen. In den drei standardsprachorientiert(er)en Erhebungssettings werden oaDipthonge von den mittelbairischen Gewährspersonen ganz vermieden. In den dialektal(er)en Registern treten an die Stelle der alten Diphthonge mittelbairisch lange a-Monophthonge, deren interregionale Ausbreitung von Wien aus sich auch im historischen Material (vgl. Abb. 9, im Anhang) für die erste Hälfte des 20. Jh. andeutet. Diese Ausbreitung der langen a-Monophthonge ist in Tarrenz (im süd22 Nähere Informationen zu Erhebungskontext, Zeitraum und Zugänglichkeit der WBÖ-Handzettel und den zugrunde liegenden Fragebogenrunden vgl. STÖCKLE (2020) sowie URL: ; Stand: 06.12.2021.

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mittelbairischen Übergangsgebiet) kaum nachzuvollziehen. Hier erweisen sich die alten oa-Diphthonge als recht stabil, indem sie bis ins Interview hinein – mit Ausnahme des jungen Mannes – noch häufiger als der Monophthong realisiert werden. Während lange a-Monophthonge mittelbairisch (noch) als Varianten des „mittleren Bereichs“ klassifiziert werden können, haben sie im Südbairischen (bereits seit längerer Zeit) einen basisdialektalen Status inne. Die Daten aus Weißbriach belegen ihnen eine interindividuell und intersituativ recht hohe Stabilität bis in die Interviews hinein. Deutlich anders als in den bairischen Ortspunkten präsentieren sich die Variationsverhältnisse im alemannischen Raggal, in dem dialektal bzw. nonstandardsprachlich meist mit alternativen Varianten intra- und intersituativ sprachlich agiert wird. Was der alemannische Raum mit seinem bairischen Nachbarn teilt, ist die intersituative Abnahme der (alemannisch-)dialektalen Varianten von der Dialektübersetzung bis hin zu den Leseaufgaben. Nur das höchstalemannische [ɛe̯] (z. B. Raggal [vɛe̯ʃ] ‘weißt’) bleibt interindividuell bis in die höheren Sprechlagen bestehen. Neben bzw. zwischen nonstandardsprachlichen oa- und a-Varianten einerseits und standardnormkonformen Diphthongen andererseits weisen die mittelbairischen Balken in Abb. 10 (im Anhang) von der Dialektübersetzung bis zu den Leseaufgaben hin auch auf überoffene Diphthonge [æe̯] bzw. überoffene Monophthonge [æː] hin (Stichwort „Wiener Monophthongierung“, vgl. LUTTENBERGER / FANTA-JENDE 2020). Diese Varianten eines Wiener „Regionalstandards“ oder – je nach theoretischer Perspektive – „Regionalakzents“ dominieren die standardsprachorientierten Settings nicht nur in Taufkirchen und Neumarkt/Ybbs. Reflexe der Wiener Monophthongierung zeigen sich darüber hinaus auch im burgenländischen Neckenmarkt, aber – deutlich seltener bzw. interindividuell – auch in den südlichen und westlichen Ortspunkten. Die Variable mhd. ei erweist sich zusammengefasst als ein besonders variationsaffines Phänomen in Österreich, insofern, als die sechs verglichenen Erhebungssettings bis zu fünf Varianten pro Individuum evozieren, die – nicht nur im bairischen, sondern auch im alemannischen Raum – graduell auf die verschiedenen Erhebungssettings verteilt sind. Dabei haben die alten, im WBÖ-Material nachweisbaren Arealstrukturen ihre Spuren bis in die Variationsspektren der Gegenwart hinterlassen. Im Dialekt bzw. Nonstandard des Mittelbairischen deutet sich eine Ausdehnung der hier ehemals auf den Wiener Raum beschränkten langen a-Monophthonge zuungunsten der alten oa-Diphthonge an. Intersituativ werden die dialektaleren bzw. „mittleren“ Varianten von der Dialektübersetzung über das Freundesgespräch bis hin zum Interview sukzessive abgebaut. In standardsprachlich(er)en Registern deutet sich der Ausbau und die interregionale Ausdehnung eines Wiengeprägten mittelbairischen Regionalstandards an. 5 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Der Beitrag hat sich zum Ziel gesetzt, einen Forschungsüberblick zu Sprachvariation und Sprachwandel in Österreich zu liefern. Ein Schwerpunkt der Diskussion lag dabei auf Forschungsansätzen und Forschungsergebnissen im Kontext des Wiener

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SFB-Teilprojekts „Sprachrepertoires und Varietätenspektren“, dessen Fokus auf der Erforschung der vertikal-sozialen Variationsdimension in ländlichen Räumen Österreichs liegt. Für den vorliegenden Beitrag wurden dazu Erhebungsmethoden und Analysen zu lautlichen und grammatischen Phänomenen vorgestellt. Zusammengefasst liefern unsere Tiefenbohrungen Evidenzen für die folgenden Thesen: –









Aus variationslinguistischer Perspektive ist innerhalb der Gesamtsprache Deutsch in Österreich synchron eine Vielfalt von Sprachdynamikprozessen zu beobachten, und zwar sowohl auf areal-horizontaler wie vertikal-sozialer Ebene. Im Hinblick auf den dialektalen Bereich des vertikalen Spektrums zeigt sich eine relative Stabilität der basisdialektalen Arealstrukturen (bairische Subräume einerseits versus Alemannisch andererseits). Auflösungserscheinungen dieser alten Arealstrukturen zeigen sich insbesondere in der sprachgeographischen Ausbreitung v. a. (ost-)mittelbairischer Varianten.23 Die soziolinguistische Bedeutung des ostmittelbairischen und von Wien geprägten Variationsraums (vgl. LENZ 2019: 323) lässt sich bis in standardsprachliche/-nahe Register nachweisen. Als Beispiel wurden im Vorangehenden die Reflexe der „Wiener Monophthongierung“ im Hinblick auf mhd. ei angeführt. Die beschriebenen Tendenzen leiten sich synchron aus interregionalen, intersituativen und intergenerationellen Analysen ab. Der Vergleich von sechs Erhebungssettings pro Individuum stützt die These von der Gradualität intersituativer Anpassungen individueller Sprachverhaltensmuster. Die Gewährspersonen aller Erhebungsorte – unabhängig ob aus dem bairischen oder alemannischen Sprachraum – ‚verteilen‘ ihre Varianten überwiegend nicht dichotomisch, also eindeutig auf die Situationen/Kontexte/Settings, sondern passen ihr Sprachverhalten durch ein Mehr oder Weniger an nonstandardsprachlichen bzw. standardsprachlichen Varianten an. Diese Tendenz lässt sich auf lautlicher wie grammatischer Ebene nachvollziehen. Die im Projekt gewählte methodische Herangehensweise erweist sich als sinnvoll, insofern als die gewählten und bewusst variierten objektiven „Situationsparameter“ jeweils divergierende Registerausschnitte in den intraindividuellen Repertoires evozieren, die interindividuell vergleichbar sind. Bezogen auf den quantitativen Anteil nonstandardsprachlicher Varianten deutet sich folgende „situative Abbauhierarchie an Nonstandardsprachlichkeit“ an: Dialektübersetzung > Dialekt-Experiment > Freundesgespräch > Interview > StandardsprachExperiment > Standardsprachübersetzung > Leseaufgaben.

23 Evidenzen für diese Thesen liefern auch BÜLOW / WALLNER (2020) auf Basis morphophonologischer Analysen für Österreich.

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ANHANG

Abb. 2: Selbsteinschätzungen der Gewährspersonen Datenbasis: Interviewdaten von 152 Gewährspersonen an 13 dörflichen Ortspunkten in Österreich. Skalenwerte Aktive „Dialekt“-Kompetenz: 0 = ‚gar nicht‘, 6 = ‚vollständig‘; Skalenwerte Passive „Dialekt“-Kompetenz: 0 = ‚gar nicht‘, 6 = ‚vollständig‘; Skalenwerte „Dialekt“-Gebrauch pro Woche: 0 = ‚nie‘, 6 = ‚immer‘; Skalenwerte Aktive „Hochdeutsch“-Kompetenz: 0 = ‚gar nicht‘, 6 = ‚vollständig‘; Skalenwerte „Hochdeutsch“-Gebrauch pro Woche: 0 = ‚nie‘, 6 = ‚immer‘

Abb. 4: Durchschnittliche Häufigkeiten von 20 Varianten aus elf Variablen der Phonetik/Phonologie, Morphologie und Syntax. Datenbasis: 15.535 Belege von 16 SprecherInnen aus vier Ortspunkten (Neckenmarkt/Burgenland, Neumarkt a. d. Ybbs/Niederösterreich, Raggal/Vorarlberg, Weißbriach/Kärnten) aus bis zu acht Erhebungssettings, nämlich, von unten nach oben: Übersetzung (in den Dialekt), Experiment (Dialekt), Freundesgespräch, Interview, Experiment (Standard), Übersetzung (in den Standard), Lesen (Text) und Lesen (Worte).

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Abb. 5: Variation der Konjunktiv-II-Varianten in ländlichen Regionen Österreichs (nach WITTIBSCHLAGER (in Vorbereitung)). Datenbasis: 147 SprecherInnen (2–3 ältere NORMs/NORFs und 8– 11 jüngere SprecherInnen pro Ort). Balkendiagramm: Relative Häufigkeiten (in %) der Konstruktionsvarianten in beiden Experimentdurchgängen (SPE-D: 1.368 Belege; SPE-S: 1.432 Belege) pro Generation. Sprachkarte: Relative Häufigkeiten (in %) der Konstruktionsvarianten im Dialektexperiment pro Ort.

Abb. 6: Relative Häufigkeiten (in %) von „Flektierenden Konjunktionen“ und Alternativvarianten im Dialektexperiment (SPE-D) pro Ort (aus FINGERHUTH / LENZ 2020: Abb. 11) für 2PL Datenbasis: 144 SprecherInnen (2–3 ältere NORMs/NORFs und 8–11 jüngere SprecherInnen pro Ort). 228 Belege.

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Abb. 7: Relative Häufigkeiten (in %) von „Flektierenden Konjunktionen“ und Alternativvarianten im Dialektexperiment (SPE-D) pro Ort (aus FINGERHUTH / LENZ 2020: Abb. 9) für 2SG. Datenbasis: 144 SprecherInnen (2–3 ältere NORMs/NORFs und 8–11 jüngere SprecherInnen pro Ort). 234 Belege.

Abb. 9: Sprachgeographische Verteilung der WBÖ-Varianten von klein (nach STÖCKLE 2020: Abb. 10); Hintergrundkarte nach WIESINGER (1962–1969) (Ergänzungskarte heim).

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Abb. 10: Relative Häufigkeiten (in %) von Reflexen zu mhd. /ei/ an sechs österreichischen Ortspunkten (ländlicher Raum) aus sechs Sprachräumen Österreichs (nach FANTA-JENDE 2020b). Datenbasis: 6.108 Belege von 24 SprecherInnen (2 ältere NORMs/NORFs und 2 jüngere SprecherInnen pro Ort) aus sechs Erhebungseinheiten.

LITERATUR AADG = KLEINER, STEFAN (2011ff.): Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards. Unter Mitarbeit von Ralf Knobl. URL: ; Stand: 20.08.2020. AdA = ELSPASS, STEPHAN / ROBERT MÖLLER (2003ff.): Atlas zur deutschen Alltagssprache. URL: ; Stand: 20.08.2020. AMMON, ULRICH / HANS BICKEL / ALEXANDRA N. LENZ (Hg.) (2016): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Berlin/Boston: De Gruyter. BELLMANN, GÜNTER (1983): Probleme des Substandards im Deutschen. In: MATTHEIER, KLAUS J. (Hg.): Aspekte der Dialekttheorie. Tübingen: Niemeyer (Reihe Germanistische Linguistik. 46), 105–130.

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z e i t s c h r i f t f ü r d i a l e k t o l o g i e u n d l i ng u i s t i k



beihefte

In Verbindung mit Michael Elmentaler, Jürg Fleischer und Mark L. Louden herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0341–0838

1176. Tim Kallenborn Regionalsprachliche Syntax. Horizontal-vertikale Variation im Moselfränkischen 2019. 448 S. mit 119 s/w- und 3 Farbabb., 30 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12157-6 177. Manuela Lanwermeyer Sprachwandel und Kognition Elektrophysiologische Untersuchungen zu Synchronisierungen im Varietätenkontakt 2019. 264 S. mit 40 s/w- und 14 Farbabb., 19 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12019-7 178. Lars Vorberger Regionalsprache in Hessen Eine Untersuchung zu Sprachvariation und Sprachwandel im mittleren und südlichen Hessen 2019. 404 S. mit 97 Abb., 32 Tab., 5 s/wund 2 Farbkarten ISBN 978-3-515-12363-1 179. Carolin Kiesewalter Zur subjektiven Dialektalität regiolektaler Aussprachemerkmale des Deutschen 2019. 405 S. mit 35 Abb. und 20 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12437-9 180. Augustin Speyer / Julia Hertel (Hg.) Syntax aus Saarbrücker Sicht 3 Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax 2020. 302 S. mit 29 Abb. und 32 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12709-7 181. Alexandra N. Lenz / Philipp Stöckle (Hg.) Germanistische Dialektlexikographie zu Beginn des 21. Jahrhunderts 2021. 380 S. mit 95 Abb. und 4 Tab., geb. ISBN 978-3-515-12911-4 182. Helen Christen / Brigitte Ganswindt / Joachim Herrgen / Jürgen Erich Schmidt (Hg.) Regiolekt – Der neue Dialekt? Akten des 6. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD)

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2020. 288 S. mit 29 Abb., 42 Farbkarten und 43 Tab., geb. ISBN 978-3-515-12909-1 Oscar Eckhardt Alemannisch in der Rumantschia Die alemannischen Dialekte im romanischen Sprachraum von Trin, Ilanz, Trun und Scuol 2021. 384 S. mit 6 s/w- und 3 Farbabb. sowie 20 Tab., geb. ISBN 978-3-515-12995-4 Philip C. Vergeiner Bewertungen – Erwartungen – Gebrauch Sprachgebrauchsnormen zur inneren Mehrsprachigkeit an der Universität 2021. 508 S. mit 154 Abb. und 6 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12871-1 Ann-Marie Moser Negationskongruenz in den deutschen Dialekten 2021. 202 S. mit 7 Abb., 24 Tab. und 11 Karten, geb. ISBN 978-3-515-12985-5 Sebastian Franz Mehrsprachigkeit und Identität Die alpindeutsche Siedlung Sappada/ Pladen/Plodn 2021. 284 S. mit 16 Abb., 4 Tab. und 4 Karten, geb. ISBN 978-3-515-12971-8 Augustin Speyer / Julia Hertel (Hg.) Syntax aus Saarbrücker Sicht 4 Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax 2021. 238 S. mit 32 s/w- und 6 Farbabb., 34 Tab. und 5 Karten, geb. ISBN 978-3-515-13103-2 Brigitte Schwarz Das dialektologische Informationssystem von Bayerisch-Schwaben Dokumentation und mögliche Präsentation von Sprachdaten mit Multimedia im Internet 2022. 231 S. 7 s/w- und 60 Farbabb., geb. ISBN 978-3-515-13246-6

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes widmen sich der Untersuchung von Dialekten und der sprachlichen Variation in Bayern, Österreich, Südtirol und angrenzenden Gebieten sowie den bairischen oder fränkischen Sprachinseln in der Welt. Der Fokus liegt auf der Struktur von Variation zwischen Individuum und Gesellschaft, insbesondere auf Fragen nach der Systematik dialektaler und regiolektaler Variation, dem Verhältnis von intra- und interindividueller

ISBN 978-3-515-13358-6

9 783515 133586

Variation sowie Wahrnehmungen von und Einstellungen zur Variation. Die Beiträge bieten so einen umfassenden Überblick über die aktuelle Forschung in der bayerisch-österreichischen Dialektologie. Thematisch umfassen sie außer der Morphologie, Syntax, den Sprachwahrnehmungen und Spracheinstellungen auch den Sprachkontakt, den Sprachvergleich sowie die Sprachgeschichte und den Sprachwandel.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag