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German Pages 260 Year 1977
Simone Barck Johannes R. Bechers Publizistik in der Sowjetunion
1935-1945
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Simone Barck
Johannes R. Bechers Publizistik in der Sowjetunion I935-I945
Akademie-Verlag Berlin 1976
Die Texte wurden freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, N r . 1—8 Staatliches Zentralarchiv f ü r Literatur und Kunst, Moskau, N r . 9 - 1 1
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1976 Lizenznummer: 202 • 100/248/76 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4697 Bestellnummer: 752 996 4 (2150/41) • LSV 8016 Printed in G D R D D R 8,50 M
Inhalt
Vorbemerkung
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Bechers Publizistik im Zeichen der Einheits- und Volksfrontpolitik der K P D nach dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (1935 bis 1939/40)
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Neue Aufgaben und Fragestellungen nach dem VII. Weltkongreß und durch die „Realität Sowjetunion" (1935-1939/40) Beiträge zur sowjetischen Kunstdiskussion . . . Probleme des Erbes und der Tradition
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Das Prinzip der Organisiertheit der sozialistischen Literadurbewegung Publizistische Arbeiten im Umkreis der Realismusdebatte Exkurs I : Zu einigen theoretischen Grundfragen der sozialistischen Literaturentwicklung Bechers Reflexion der theoretischen Debatten . . Propagandistische Tätigkeit für die deutsche antifaschistische Literatur Philosophische Fundienung des Literaturkonzepts und weltliterarischer Standort Exkurs I I : Zur sowjetischen Lukäcs-Debatte von 1940 Bechers Publizistik im Kampf gegen den imperialistischen Krieg und als Entwurf für ein demokratisches Nachkriegsdeutschland (1941-1945) Auseinandersetzung mit faschistischer Kulturpolitik und Literatur 5
51 69 69 75 97 103 114
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Ideologie, 127
Propagierung eines antifaschistisch-demokratischen Geschichtsbildes und Konzept für eine künftige Kulturpolitik Überlegungen zur Funktion der Literatur und zu den Aufgaben des Schriftstellers
137 153
Anmerkungen
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Dokumentenanhang [Brief Johannes R. Bechers an Georgi Dimitroff vom 22. März 1935] Johannes R. Becher: [Vorwort zur russischen Ausgabe „Der Kopf" von Heinrich Mann, Moskau 1937] Johannes R. Becher: Von den großen Prinzipien in unserer Literatur [1938] Johannes R. Becher: Im Exil [1939] Johannes R. Becher: Literatur im Exil [1939] . . . Johannes R. Becher: Kenntnis und Aufrichtigkeit. Zu dem neuen Stück von Julius Hay „Der Putenhirt" [1940] [Brief Johannes R. Bechers an Georgi Dimitroff vom 16. März 1942] Johannes R. Becher: Die heiligen Stätten der Kultur und die faschistischen Barbaren [1942] Rechenschaftsbericht der Deutschen Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbandes für das Jahr 1938 Rechenschaftsbericht der Deutschen Sektion für das Jahr 1939 Protokoll der Plenartagung der Deutschen Sektion vom 26. März 1940
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214 218 224 227
232 236 237
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Auswahlbibliographie Johannes R. Bechers publizistische Arbeiten in der Sowjetunion 1935-1945 Personenregister
250 256
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Vorbemerkung
Die vorliegende Arbeit ist der wissenschaftlichen Tätigkeit des Berliner Slawisten Dr. Edgar Weiss auf besondere Weise verpflichtet. Dr. Weiss hinterließ bei seinem frühen Tod im Jahre 1965 außer seiner materialreichen und theoretisch fundierten Dissertation Johannes R. Becher und die sowjetische Literaturentwicklung (7927-2933,) 1 eine umfangreiche Materialsammlung zum Gegenstand -der sowjetisch-deutschen literarischen Wechselbeziehungen im 20. Jahrhundert. Gemeinsam mit dem Leningrader Literaturwissenschaftler Pawel Birkan erarbeitete er eine umfangreiche Bibliographie zum Thema „Johannes R. Becher und die Sowjetunion 1918-1958", die leider bis heute noch nicht publiziert worden ist. Edgar Weiss wollte seine Arbeit ursprünglich bis zum Jahre 1945 führen. Um jedoch deren komplexe Anlage beibehalten zu können - er hatte sich die Aufgabe gestellt, die Beziehungen Johannes R. Bechers zur Sowjetliteratur, zur sowjetischen Literaturpolitik, -kritik und -theorie sowie die Rezeption des Becherschen Werks in der Sowjetunion zu untersuchen - , grenzte er sie auf den Zeitraum 1917 bis 1933 ein. Seine Darstellung belegt durch Erschließung neuer Quellen die große Spannweite der Beziehungen zwischen der sowjetischen und deutschen Literatur vor 1933. Weiss entschied sich für die zeitliche Eingrenzung im Bewußtsein der Tatsache, daß „die intensivsten Beziehungen Bechers zur Sowjetliteratur zweifelsohne in die Zeit seiner zehnjährigen Emigration in der UdSSR von 1935-1945 fallen" 2 . Bereits eine erste Sichtung des Materials von Edgar Weiss machte deutlich, daß allein die Untersuchung der Publizistik eine größere Darstellung beanspruchen würde. Dieser zunächst durch die Materialfülle bedingte Umstand der Konzentration 7
und Beschränkung auf die Publizistik erhielt seine zusätzliche Berechtigung von zwei Seiten: zum einen konnte von Horst Haases umfangreicher Arbeit zu Bechers wichtigster Dichtung des Exils sowie einer Reihe von Dissertationen und Spezialarbeiten der Becher-Forschung der DDR und der Sowjetunion ausgegangen werden 3 , zum anderen stellt gerade die publizistische Arbeit insgesamt im Zeitraum 1933-1945 ein bisher ungenügend beachtetes, aber aufschlußreiches Forschungsfeld dar. Im antifaschistischen Exil manifestierte sich die Bewußtheit der sozialistischen Literaturbewegung u. a. in einer Fülle literaturpolitischer Programmschriften, einer vielseitigen Publizistik und Essayistik, die für die Erarbeitung einer sozialistischen und antifaschistischen Literaturkonzeption insbesondere bei der Gewinnung bürgerlich-demokratischer Bündnispartner eine wichtige Rolle spielten. Die initiativreiche und kontinuierliche Tätigkeit Bechers auf diesem Gebiet erforderte eine detaillierte Untersuchung. Mit dem Begriff „publizistische Tätigkeit" werden die von Johannes R. Becher in den Jahren 1935-1945 geschriebenen und in der deutschsprachigen und sowjetischen Presse publizierten Arbeiten zusammengefaßt. Es handelt sich bei diesen Texten um Artikel zum politischen Tagesgeschehen, Gedenkaufsätze, kulturpolitische und geschichtsphilosophische Erörterungen, Arbeiten zu literarischen Gegenständen. In die Untersuchung einbezogen werden damit erstmalig die zu großen Teilen nur in russischer Sprache vorliegenden Texte Bechers, deren Rückübersetzungen allerdings das fehlende deutsche Original nur unzulänglich ersetzen können. Es wird versucht, die vielfältigen Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen der deutschen sozialistischen Literatur und der sowjetischen Literaturentwioklung in diesem Zeitraum am Beispiel Bechers aufzuspüren. Dabei handelt es sich oft, auch auf Grund fehlender Vorarbeiten, nur um Ansätze dazu. Die Notwendigkeit dieses Herangehens ergibt sich aus der von Lenin formulierten Erkenntnis, daß die Kultur und Kunst des Proletariats „zutiefst internationalistisch" ist. Es kommt im internationalen Kampf gegen Faschismus und Imperialismus in dieser geschichtlichen Phase zu besonders engen literarischen Beziehungen. Die deutsche sozialistische Lite8
ratur war in den verschiedenen Emigrationsländern auf direkte Weise mit dem gesellschaftlichen und literarischen Leben dieser Länder verbunden. Ein Anliegen der Arbeit besteht auch darin, in der Untersuchung wesentlicher Fakten, Ereignisse und Probleme die vielseitige Tätigkeit der in die Sowjetunion emigrierten und vor allem in Moskau lebenden deutschen Schriftsteller zu dokumentieren. In der Darstellung einiger Probleme der deutschen sozialistischen Literatur in der Sowjetunion wird die weitere Durchsetzung des in den zwanziger Jahren im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands (BPRS) angewandten Leninschen Prinzips der Parteiliteratur in den dreißiger Jahren verfolgt. Die Arbeit will die inhaltlich zukunftsträchtige und zentrale organisierende Rolle der in der UdSSR lebenden deutschen Schriftsteller beim Zustandekommen einer breiten Volksfrontbewegung unter den in alle Welt vertriebenen deutschen antifaschistischen Schriftstellern herausarbeiten. Wenn diese literaturorganisierende Funktion der sozialistischen Schriftsteller in der Sowjetunion betont wird, so geschieht das im Bewußtsein der Tatsache, daß selbstverständlich erst die Einheit von aktivem politischem Engagement und künstlerischer Leistung die führende Rolle dieser Literatur bewirkte. Außerdem gab es in Mexiko und anderen Zentren der antifaschistischen Emigration ebenfalls konzentrierte und erfolgreiche Bemühungen sozialistischer Schriftsteller um die Organisierung der Arbeit der antifaschistischen Schriftsteller und Künstler. Aber das Wirken in einem sozialistischen Land bot qualitativ andere Möglichkeiten für die Entfaltung solcher Aktivitäten. Zur wichtigen Rolle, die die Internationale Literatur als einzige kontinuierlich erscheinende Zeitschrift in diesem Zeitraum als Forum sowie als organisatorisches Zentrum spielte, kann hier nur erstes beigetragen werden. Auch die vielseitige Tätigkeit der in der Sowjetunion lebenden deutschen Schriftsteller bedarf weiterer Untersuchungen. Die Arbeit geht einigen Fragen der sozialistischen Literaturentwicklung am Beispiel der publizistischen Tätigkeit Bechers in den dreißiger und vierziger Jahren nach. Wenn hier die Publizistik als ein Teilbereich des Gesamtschaffens Bechers 9
Gegenstand der Untersuchung ist, so heißt das nicht, daß sie von den literarischen Werken und anderen Arbeiten Bechers getrennt gesehen wird. Man kann bei einer Persönlichkeit wie Becher das Ensemble seines Werkes nicht von der praktischpolitischen Tätigkeit trennen, wie sie sich gerade in seinen publizistischen Arbeiten ausdrückt. Die genauere Kenntnis auch dieser Arbeiten kann daher die widersprüchlichen Beziehungen zwischen literarischer Praxis, theoretischem Selbstverständnis und politischer Tätigkeit im Gesamtwerk Bechers weiter aufhellen. Da Becher eine aktive Rolle im literarischen Prozeß der dreißiger und vierziger Jahre spielte, reflektiert seine Publizistik wesentliche Entwicklungsfragen der sozialistischen und bürgerlich-humanistischen Literatur. Diese Reflexion ist innerhalb der gesellschaftlichen und literaturgeschichtlichen Entwicklung seit dem Ende der zwanziger Jahre zu begreifen. Die Durchsetzung der vom VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale auf der Grundlage der gesellschaftlichen Analyse entwickelten Strategie und Taktik der proletarischen Einheitsfront- und der antifaschistischen Volksfrontpolitik stellte auch an die auf literaturpolitischem und künstlerischem Gebiet tätigen kommunistischen Schriftsteller, Wissenschaftler und Kritiker neue Anforderungen. Die Anwendung des Marxismus-Leninismus auf eine revolutionäre Literaturtheorie, Ende der zwanziger Jahre organisiert und kollektiv begonnen, mußte unter den neuen Bedingungen fundiert und beschleunigt fortgesetzt werden. Der politische Ausgangspunkt dieser kollektiven Bemühungen sozialistischer Schriftsteller und Theoretiker sowie der fortgeschrittensten bürgerlich-humanistischen Künstler war die Frage, wie im Sinne der Einheits- und Volksfrontbewegung die revolutionäre Literatur eine größtmögliche Wirkung erreichen könne. Unter diesem Aspekt kam es zu einer erweiterten Gegenstandsbestimmung und einem vertieften Funktionsverständnis der sozialistischen und antifaschistischen Literatur, wurde das bewußte und kritische Aneignen der progressiven und demokratischen Traditionen begonnen und das Verhältnis zu den spätbürgerlichen Literaturströmungen diskutiert. Die Debatten um Formalismus, Realismus, Expressionismus, in denen Grundfragen einer marxistischen Literaturtheorie und revolutionärer literarischer
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Praxis erörtert wurden, sind in diesem politischen und geschichtlichen Zusammenhang zu begreifen. Die theoretischen Auseinandersetzungen Bechers mit den Problemen einer Schreibweise des sozialistischen Realismus sind in erster Linie Versuche der Selbstverständigung eines Dichters über seine literarische Produktion. Darüber hinaus gewinnen sie einen allgemeinen programmatischen Charakter. Sie entwickeln sich aus seinem Verständnis der Aufgabe revolutionärer Kunst in dieser Epoche. Sie modifizieren sich in den sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen und schließen entwicklungsbedingte theoretische Irrtümer und Fehlurteile ein. Der Prozeß der Erarbeitung von theoretischen Fragen und der praktischen literarischen Tätigkeit verlief nicht geradlinig und durchaus widersprüchlich. Horst Haase hat darauf aufmerksam gemacht, daß dabei die Irrtümer Bechers sich in seinem theoretischen Schaffen stärker ausdrücken als in seiner Dichtung. 4 Das bringt bei einer Beschränkung auf die Publizistik wie in der vorliegenden Arbeit - die Gefahr mit sich, daß die Kritik „stärker" ist; erst der Blick auf das Gesamtwerk erlaubt ein ausgewogenes Gesamturteil. Bei der Analyse der Becherschen Publizistik konnten die folgenden wesentlichen Funktionen ermittelt werden: - politische Aufklärung und Bewußtseinsbildung aller Gegner des Faschismus im Sinne der vom VII. Weltkongreß der KI und der Brüsseler Parteikonferenz der K P D ausgearbeiteten Strategie und Taktik der proletarischen Einheitsfrontund antifaschistischen Volksfrontpolitik; - Propagierung der deutschen sozialistischen und antifaschistischen Literatur in der sowjetischen Öffentlichkeit und Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Sowjetunion; - theoretische Reflexion und Selbstverständigung über Fragen der sozialistischen und bürgerlichen Kultur- und Literaturentwicklung und das Verhältnis zu den weltliterarischen Traditionen. Im Zusammenhang mit den seit Mitte der sechziger Jahre einsetzenden Bemühungen um die antifaschistische Literatur im Exil in einigen westeuropäischen Ländern sowie in den
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USA - eine heterogene Forschung, die durch verschiedenste Tendenzen, Zielvorstellungen und Motivationen charakterisiert ist - kommt in jüngster Zeit verstärkt auch das Schaffen der in der Sowjetunion lebenden deutschen Schriftsteller ins Blickfeld. Vorherrschend sind dabei Ignoranz bzw. Leugnung der Rolle der Sowjetunion in diesem historischen Zeitraum, Versuche, ihre Bedeutung auf ein „Exilland" neben anderen, wenn überhaupt, zu beschränken. Spekulationen und Vermutungen dominieren. Auch dem soll hier in der Erhellung einiger Zusammenhänge und der Bekanntmachung von Fakten und Daten begegnet werden. Die eingangs genannten, benutzten Materialien von Edgar Weiss konnten in sowjetischen Archiven und Bibliotheken erweitert werden. Einer Reihe von sowjetischen Genossen bin ich zu besonderem Dank für Hilfe und Beratung verpflichtet: Dr. Stanislaw Roshnowski, Prof. Jassen Sassurski, Dr. Konstantin Starzew, Dr. Soja Petrowa von der Fakultät für Journalistik der Lomonossow-Universität Moskau sowie den Mitarbeitern des Archivs des Maxim-Gorki-Instituts für Weltliteratur. Zu danken habe ich den Genossen meines Bereichs im Zentralinstitut für Literaturgeschichte und den Mitarbeitern der Arbeitsgruppe zur Erforschung der deutschen sozialistischen Literatur der Akademie der Künste der DDR (Leipzig). Ein besonderer Dank gebührt den Mitarbeitern des Johannes-R.Becher-Archivs der Akademie der Künste der DDR, ohne deren umsichtige Hilfe und fundierte Unterstützung die Arbeit nicht hätte geschrieben werden können.
September 1975
Simone Barck
Bechers Publizistik im Zeichen der Einheitsund Yolksfrontpolitik der KPD nach dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale
(1935-1939/40) Neue Aufgaben und Fragestellungen nach dem VII. Weltkongreß und durch die „Idealität Sowjetunion" Mit dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (KI) (Juli/August 1935) und der Brüsseler Konferenz der K P D (Oktober 1935) sind die entscheidenden Ereignisse benannt, die auch für die Entwicklung der deutschen sozialistischen Literatur ab 1935 richtungweisend und für ihre Profilierung zur führenden Kraft innerhalb des antifaschistischen Literaturbündnisses ausschlaggebend wurden. Der VII. Weltkongreß der KI hatte, ausgehend von einer gründlichen politischen und gesellschaftlichen Analyse, den Klassencharakter des Faschismus bestimmt und die Strategie und Taktik der internationalen Arbeiterklasse im Kampf um die Arbeitereinheit und antifaschistische Volksfront ausgearbeitet. Für die K P D bestand die Aufgabe in der schöpferischen Anwendung der Beschlüsse und Analysen auf die Bedingungen und Verhältnisse in Deutschland. Die von ihr im Oktober beschlossenen Prinzipien des politischen Kampfes waren die Grundlage für den antifaschistischen Widerstandskampf innerhalb und außerhalb Deutschlands. Die bedeutsamen Überlegungen in Georgi Dimitroffs Hauptreferat Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus stellten in der Herausarbeitung der Dialektik des Kampfes um Sozialismus und Demokratie die notwendig gewordene Anwendung der Leninschen Revolutionstheorie auf die aktuellen Verhältnisse dar. Die differenzierte Behandlung der Bündnisfrage als zentrales theoreti13
sches Problem sowie ihrer praktischen Konsequenzen und Probleme war die Grundlage für die Inangriffnahme einer „wirklich bolschewistischen Massenpolitik" 5 durch die K P D . Wilhelm Pieck erläuterte auf der Brüsseler Parteikonferenz „neue Formen und Methoden in der Massenarbeit" 6 , sie berücksichtigten die politischen Erfahrungen der letzten Jahre vor der Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland und die sich seitdem vollzogenen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen. D i e von Dimitroff entwickelte Kampftaktik des „Trojanischen Pferdes" wurde von Wilhelm Pieck an einer Reihe von Beispielen und Möglichkeiten konkretisiert. In diesem Zusammenhang analysierte die Führung der K P D auch ihre bisherigen Methoden in der Agitation und Propagandaarbeit und zog weitreichende Schlußfolgerungen. Sie betrafen vor allem die stärkere Berücksichtigung des Adressaten, also das Schreiben in einer verständlichen Sprache, die stärkere Anknüpfung an die Lebensinteressen der deutschen Werktätigen sowie eine klare Bestimmung der Probleme der proletarischen Einheitsfront und der antifaschistischen Volksfront. Indem sie sich an alle potentiellen Bündnispartner wandte, ging die K P D daran, die zentrale Aufgabe, die „Herstellung der Aktionseinheit aller Teile der Arbeiterklasse und die Schaffung der antifaschistischen Volksfront aller friedliebenden deutschen werktätigen Menschen im Kampfe gegen die faschistische Diktatur" 7 zu verwirklichen. D i e systematische ideologische Auseinandersetzung mit dem Faschismus als Ideologie und Politik erhielt einen neuen Stellenwert. In der Fixierung der zentralen Aufgaben auf allen Gebieten des Kampfes gegen den Faschismus waren auch Literatur und Kunst einbegriffen. D a s von Friedrich W o l f formulierte Programm der proletarisch-revolutionären Kunst „Kunst ist Waffe" galt jetzt mehr denn je, erforderte aber neue theoretische und praktische Überlegungen. Wilhelm Pieck sprach in seinem Schlußwort auf der Brüsseler Konferenz von der Notwendigkeit, eine besondere „Volksfrontliteratur" zu schaffen, die „zu den breitesten Massen in ihrer Sprache spricht und durch die wir sie in der Richtung des antifaschistischen Kampfes beeinflussen. Wir müssen dabei berücksichtigen, daß an der Volksfrontbewegung Menschen und Gruppen verschiedener Interessen, 14
verschiedener Weltanschauungen, verschiedener Vorstellungen und Vorurteile teilnehmen werden. Für diese Literatur können wir deshalb auch nicht jene Agitation gebrauchen, die n u r (Hervorhebung - S. B.) von der Arbeiterklasse verstanden wird."8 Mit diesem Begriff „Volksfrontliteratur" war ähnlich wie bei Lenins Verwendung des Begriffs „Parteiliteratur" die gesamte Breite der Presse, Publizistik, Broschürenliteratur bis hin zur Belletristik gemeint: er zielte weniger auf Inhalt und Form als auf die Funktion dieser Literatur im aktuellen politischen Kampf und bedeutete nicht das Aufgehen von schöngeistiger Literatur in politischer Agitation, als „sei die Literatur eine Angelegenheit irgendeiner Unterabteilung der Abteilung Agitprop"9. In dem zitierten Satz Piecks von dem Nichtbrauchbarsein jener Agitation, die nur die Arbeiterklasse versteht, lag die Aufgabe der proletarisch-revolutionären Literatur begründet, Wirkungen auf breiteste Schichten zu erzielen, von ihnen gelesen zu werden. Daß es sich hierbei auch und in erster Linie um das Problem der künstlerischen Vervollkommnung handelte, versteht sich bei Programm und Anspruch dieser Literaturbewegung von selbst. Es vollzog sich so eine Entwicklung, in deren Verlauf sich die proletarisch-revolutionäre Literatur zur sozialistischen profilierte, und zwar in dem Maße, wie sie es verstand, sich als Organ des Kampfes des gesamten werktätigen Volkes, als seine Interessenvertreterin zu begreifen. Bereits in den Jahren 1933 bis 1935 waren von den proletarisch-revolutionären Schriftstellern und Künstlern bedeutende Schritte und Aktionen unternommen worden, um den von Dimitroff 1935 herausgestellten Mangel in der politischen Arbeit der KPD, „das Sektierertum und linken Doktrinarismus"10 zu überwinden. Das geschah z. B. 1932 im Zusammenhang mit der Neuorientierung der Arbeit der Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller (IVRS), deren deutsche Sektion der 1928 gegründete BPRS war. Ausgehend vom Beschluß des ZK der KPdSU(B) vom April 1932 Über den Umbau der literarisch-künstlerischen Organisationen, der die Auflösung der Russischen Assoziation proletarischer Schriftsteller (RAPP) zur Folge hatte, wunden als Arbeitsziele der IVRS u. a. neu formuliert: „. . . der systematische Kampf gegen die Vorbereitung eines imperialistischen Krieges gegen die Sowjet15
union und die V e r e i n i g u n g a l l e r friedliebend e n K r ä f t e (Hervorhebung - S. B.), die Aneignung des klassischen literarischen Erbes, die Erforschung von Problemen der künstlerischen Methode der revolutionären Literatur, die Unterstützung der progressiven Künstler der Welt" 11 . Um diese Ziele zu erreichen, war es notwendig, die Fragen der Organisiertheit neu zu stellen und zu lösen. Im Auftrag der IVRS, deren Sekretariatsmitglied er seit 1930 war, reiste Johannes R. Becher nach seiner erzwungenen Emigration aus dem faschistischen Deutschland zwischen 1933 und 1935 zweimal in die wichtigsten europäischen Emigrationsländer. Ziel seiner Bemühungen war es, Wege und Möglichkeiten zur Verwirklichung dieser Politik der IVRS zu eruieren, Vorschläge zu unterbreiten und konkrete Maßnahmen einzuleiten. Seine von diesen Reisen an die IVRS geschriebenen Berichte vermitteln ein genaues Bild von der Lage der exilierten deutschen Schriftsteller, ihrer politischen und künstlerischen Probleme. Das theoretische Arbeitsprogramm der sozialistischen Literatur als Zentrum der antifaschistischen Literatur wird hier bereits umrissen: Klären und Ausarbeiten von Fragen des Erbes, der künstlerischen Methode, der Humanismus-Diskussion und des Problems „Nation". Zunächst galt es organisatorische Formen des Zusammenschlusses zu finden. Daß sich die Sammlungsbewegung der deutschen antifaschistischen Schriftsteller dabei von vornherein als Teil der internationalen Vereinigung aller progressiven Schriftsteller gegen den Faschismus verstand und von Becher so angestrebt wurde, verdeutlichte der bereits von ihm im Sommer 1933 eingebrachte Vorschlag, die „gründliche Vorbereitung einer Weltkonferenz aller antifaschistischen Schriftsteller"12 zu beginnen. Schon der im Sommer 1934 stattfindende I. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller hatte - wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird neben seiner Bedeutung für die Entwicklung der sowjetischen Literatur eine weitreichende internationale Rolle bei der Formierung gegen den Faschismus gespielt. Die hier von Becher gehaltene Rede mit dem programmatischen Titel Das große Bündnis faßte die bereits gewonnenen Erfahrungen aus der Praxis zusammen und zielte auf die Weiterentwicklung des Literaturbündnisses. Von diesem Moskauer Schriftstellerkongreß 16
gingen entscheidende Impulse für die danach unmittelbar in Angriff genommene Vorbereitung des I. Internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur aus. In einem Brief an die IVRS vom Dezember 1934 1 3 berichtet Becher von der Tätigkeit des nach seinem Verbot im faschistischen Deutschland in Paris neugegründeten Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller (SDS) und von dessen Vorstellungen über eine „Konferenz aller fortschrittlichen Kräfte der Literatur". Die vom SDS für geeignet angesehenen Losungen zur Vorbereitung und Sammlung der „breitesten Kräfte der Literatur" finden sich in den sieben Themenkomplexen des Pariser Kongresses wieder. Sie stellten also ein Programm dar, dessen Diskussion von allen fortschrittlich und humanistisch gesinnten Schriftstellern für wichtig gehalten wurde. 14 * Die Einberufung des Kongresses oblag als den Vertretern des gastgebenden Landes einer Gruppe französischer Schriftsteller mit Romain Rolland, Henri Barbusse und André Gide an der Spitze. Diese Initiative wurde bald aktiv von den progressiven Schriftstellern anderer kapitalistischer Länder unterstützt. Die IVRS hatte durch ihre jahrelangen Bemühungen um die Sammlung der fortschrittlichen Schriftsteller der Welt die wichtigste inhaltliche und organisierende Vorarbeit für das Zustandekommen des Kongresses geleistet. Nicht zuletzt durch die bereits erwähnte Tätigkeit Bechers, der als Vertreter der IVRS für Westeuropa in Paris tätig war, hatte sie direkten Anteil an der Vorbereitung und Organisierung genommen. Der vom 21. bis 25. Juni 1935 stattfindende Kongreß vereinte Schriftsteller aus 37 Ländern. „Noch niemals in der Geschichte der Weltliteratur hatten sich so viele erstklassige fortschrittliche Schriftsteller vereinigt, wie auf dem Pariser Kongreß zur Verteidigung eines Zieles - zur Verteidigung der Kultur - gegen den Faschismus", schrieb Iwan K . Luppol rückblickend im Vorwort des 1936 in Moskau erschienenen Kongreßprotokolls. 15 Die deutsche Delegation war die zweitstärkste dem Umfang nach, in ihr waren die verschiedenen Strömungen innerhalb der deutschen exilierten Literatur vertreten. Zu einem besonderen Die mit einem Stern gekennzeichneten Ziffern verweisen auf Sachanmerkungen.
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Höhepunkt gestaltete sich das Auftreten des „Mannes mit der schwarzen Maske", des illegalen Vertreters der unterdrückten revolutionären Literatur im faschistischen Deutschland. Auf dem Kongreß gab es trotz unterschiedlicher Weltanschauungen und künstlerisch-ästhetischer Konzeptionen eine gemeinsame Basis für alle Teilnehmer: den Willen zur Verteidigung der Kultur und den Kampf gegen den Faschismus. Ein weiterer allgemeiner Aspekt war, daß auf der Tribüne des Kongresses „unwillkürlich ein besonderer Tagesordnungspunkt" erörtert wurde: „Es gab fast keinen Redner", wie Luppol formuliert, „der sich nicht in irgendeiner Weise auf die Erfahrungen und Praktiken der kulturellen Errungenschaften der Sowjetunion bezogen hätte. So erfolgte auf dem Kongreß die völlige de-jure Anerkennung der Sowjetunion auf dem Gebiet der Kultur". 10 Das gemeinsame Fundament des Kongresses und der auf ihr gegründeten Internationalen Assoziation der Schriftsteller zur Verteidigung der Kultur und ihres Ständigen Büros wurde in der auf der Abschlußsitzung angenommenen Resolution bestimmt. Dabei wurden zugleich die Grenzen dieser Konzeption deutlich, wenn es in Punkt 8 der Entschließung hieß: „Das Büro der Vereinigung, bestehend aus Schriftstellern verschiedener philosophischer, literarischer und politischer Richtungen, wird immer bereit sein, a u f d e m G e b i e t d e r K u l t u r gegen Krieg, Faschismus und jegliche Gelfahren, die der Zivilisation drohen, zu kämpfen". 17 * (Hervorhebung - S. B.) Es handelte sich bei der Losung von der Verteidigung der Kultur also um eine Kompromißformel, deren „mobilisierender und organisierender Charakter" darin bestand, daß „sie den Feind bezeichnete, das Gemeinsame im Kampf gegen den faschistischen Gegner hervorhob"18. Becher hatte sein Referat Im Zeichen des Menschen und der Menschheit zum vierten Tagesordnungspunkt - „Der Humanismus" - gehalten. Er ging davon aus, daß auf dem Kongreß, der im Zeichen des Humanismus stehe, Schriftsteller sind, „die sich die Aufgabe gestellt haben, die großen Ideale des Humanismus in ihrem Werk zu bewahren und Schriftsteller, die mit ihrem Werk jener Kraft dienen, die heute einzig und allein die Verwirklichung jener Ideale verbürgt. Diese einzige und alleinige Kraft ist die Arbeiterklasse"19. Das 18
Bündnis der „Bewahrenden" und der „Kämpfenden", die Verbindung des Besten der Vergangenheit mit dem Kampfe der Arbeiterklasse sei zukunftsträchtig. Die hier von Becher vorgenommene Bestimmung der historisch neuen Qualität des proletarischen oder realen Humanismus und die Klarstellung der historischen Mission der Arbeiterklasse im Kampf gegen Faschismus und Imperialismus war eine Position, die nur von der sozialistischen Literaturbewegung eingebracht werden konnte und die für die Perspektive der literarischen Entwicklung richtungweisend war. Er führte einen Gedanken aus seiner Rede auf dem Moskauer Schriftstellerkongreß von 1934 weiter, wo er die Frage, ob denn „dieser Humanismus in der alten, überlieferten Form" noch geeignet sei, die Sache der Menschheit und des Fortschritts wirklich auszudrücken, gestellt und verneint hatte. Maxim Gorki war in seinem Pariser Beitrag und der Grußbotschaft 20 * ausführlich auf dieses Problem eingegangen. Er hatte u. a. das Verständnis des bürgerlichen Kulturbegriffs in seiner historischen Entwicklung untersucht, in diesem Zusammenhang den Inhalt des bürgerlichen Humanismusbegriffs mit den gesellschaftlich-politischen und ökonomischen Verhältnissen in den kapitalistischen Ländern konfrontiert und daraus den Schluß gezogen: „Die Geschichte hat uns mit äußerster Klarheit gezeigt, daß die Logik des Humanismus dem Verständnis zweibeiniger Wölfe und Wildschweine nicht zugänglich ist, und daß es auf der Welt nur eine Klasse gibt, die in der Lage ist, die weltweite menschliche Bedeutung des Humanismus zu verstehen und zu fühlen, diese Klasse ist das Proletariat." 21 Auch der Leitartikel der Prawda vom 21. Juni 1935 zum Pariser Kongreß definierte den Sowjethumanismus als proletarischen Humanismus, der mit dem „historischen Humanismus der Bourgeoisie nichts gemein" habe. 22 * Und weiter hieß es in der Prawda: „Der Humanismus der Bourgeoisie hatte den Zweck, die Klassen zu versöhnen, er lehrte den Proletarier in dem realen Ausbeuter einen erfundenen ,Allgemein-Menschen' zu sehen. Die proletarische Revolution schöpft, mit Karl Marx zu sprechen, ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft". 23 An diesem Zitat ist ablesbar, daß die Humanismus-Diskussion in der Sowjetunion einerseits und unter den Antifaschisten außer-
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halb des ersten sozialistischen Landes andererseits jeweils spezifische Funktionen zu erfüllen hatte: In der Sowjetunion ging es vordringlich darum, im Rahmen der Zielstellung der neuen Etappe der sozialistischen Kulturrevolution nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse die besonderen Qualitäten des proletarischen oder realen Humanismus herauszuarbeiten und zu propagieren; für die Schaffung eines antifaschistischen Bündnisses der Exilierten (und auch der Nazigegner innerhalb Deutschlands) stand im Vordergrund, wie auch auf der Grundlage eines bürgerlichen Humanismus und eines bürgerlichen Demokratieverständnisses die gemeinsame Basis des Bündnisses gegen den Faschismus zu finden war. 24 Auf den historischen Zusammenhang beider Debatten verwies ein redaktioneller Kommentar im Literaturny kritik, er setzte die Proklamation der durch die KPdSU praktisch zu verwirklichenden Prinzipien des sozialistischen Humanismus in direkte Beziehung zum Pariser Schriftstellerkongreß, auf dem die fortschrittlichsten Schriftsteller der Welt sich unter der Losung des „wahren Humanismus" zur Sowjetunion bekannt hätten. 25 Erwähnt werden muß hier, daß dieses Bekenntnis oft weit von einem realen Verständnis der Probleme beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft entfernt war, wie es z. B. der Reisebericht André Gides nach seinem Sowjetunionaufenthalt von 1936 deutlich zeigte. 26 Die Artikel zum Humanismus-Problem im Wort und anderen Exilzeitschriften in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre sowie die Diskussionen darüber zeigten anschaulich, daß in dem Bekenntnis zum Humanismus die Bestimmung des „Positiv-Gemeinsamen" (Kurella) gegen den Faschismus möglich war. Daß damit allerdings kein Verwischen der Unterschiede von klassischem bürgerlichem und sozialistischem Humanismus sowie den jeweiligen Begriffsinhalten von Freiheit, Glück, Demokratie und Persönlichkeit gemeint war, machte besonders Alfred Kurella in seinen Beiträgen zu diesem Thema der dreißiger Jahre deutlich.27 Ebenso klar hatte Gorki als Ziel des „wahren Humanismus" die „Änderung aller Grundlagen des sozialökonomischen Daseins unserer Welt" bestimmt. 28 Der zweite Problemkreis in Bechers Rede betraf das E r b e : 20
Befreiung des Erbes aus den Händen derer, die es widerrechtlich in Besitz genommen hatten. Neben dieser Verteidigungsfunktion gegenüber den faschistischen Kulturverfälschungen ging es darum, die revolutionäre, sozialistische Literaturkonzeption in ihrem Verhältnis zum E r b e fundiert auszuarbeiten. D e r Kampf um das weltliterarische E r b e wurde so zum Bestandteil der Einheits- und Volksfrontpolitik. Becher hatte schon in seinem Reisebericht von 1934 aufmerksam gemacht auf die entscheidende Rolle des Erbes für die Gewinnung der Sympathisierenden bzw. „der uns noch Fernstehenden", auf die „unmittelbare Verbindung zur Vergangenheit" 2 9 . Im Verlaufe der großen Debatten der deutschen exilierten Schriftsteller um Humanismus und Realismus sollte sich sehr bald diese Einschätzung bestätigen und die politische Brisanz dieser Problematik erweisen. D e r Einfluß und die Stellung der sozialistischen Literatur innerhalb des Bündnisses mit den „Meistern des Wortes", den „großen Bewahrern des Erbes", hing u. a. wesentlich von der Behandlung und Klärung dieses Problems ab. Ein dritter Gedankenkomplex in Bechers Rede betraf das Problem W e l t l i t e r a t u r . E r ging davon aus, d a ß auf diesem Kongreß der irreal gewordene Begriff einer Weltliteratur wieder eine höchst aktuelle Bedeutung erlangt habe und hält zugleich die Neufassung des Begriffs Weltliteratur für notwendig. Diese Neufassung sei möglich, „weil inzwischen etwas Großes und Entscheidendes geschehen ist und damit auch das Bild einer zukünftigen Literatur dicht in unsere Nähe rückt" 3 0 . Dieses Große ist der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion, der gleichermaßen das Erfassen von drei Zeiten - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - möglich mache. Dieser Gedanke korrespondiert mit Gorkis Auffassung vom sozialistischen Realismus als einer Gestaltungsmethode, die es gestattet, gewissermaßen drei „Wirklichkeiten" darzustellen: „ . . . wir müssen nicht nur die beiden Wirklichkeiten kennen - die der Vergangenheit und die der Gegenwart . . . W i r müssen auch noch die dritte Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Zukunft kennen . . . und sie gleichsam sofort in unseren Alltag einbeziehen und darstellen. Sonst begreifen wir nicht, was die Methode des sozialistischen Realismus ist." 3 1 Das Nachdenken über die Problematik einer neuen Welt21
literatur war zu diesem Zeitpunkt möglich und nötig geworden durch die literarische Entwicklung der letzten zehn Jahre. Becher versucht hier die von der IVSR entwickelte Konzeption einer „Literatur des Weltproletariats" für die veränderten historischen Bedingungen weiterzuführen. Der „Literatur der Arbeiterklasse", die „durch eine mächtige, internationale Bewegung getragen und gesichert ist", 32 weist er innerhalb dieser neuen Weltliteratur den zentralen Platz an. 3 3 Er sieht die Bedeutung des Kongresses 'darin, daß sich eine „Weltkraft" manifestiert, „das Beste der Vergangenheit [sich] verbündet mit dem Kampfe der Arbeiterschaft". 34 Die theoretische Klärung des Verhältnisses von Nationalem und Internationalem gewinnt in dieser Zeit und in diesem Zusammenhang an praktischer Wichtigkeit. In diesem kollektiven Erarbeitungsprozeß der sozialistischen Literaturbewegung spielten die Ausführungen von Dimitroff auf dem VII. Weltkongreß der KI eine spezifische Rolle. Die von ihm in schöpferischer Anwendung des Leninschen Erbes getroffene Bestimmung des Verhältnisses der Arbeiterklasse zur nationalen Frage einschließlich der Analyse des bürgerlichen Nationalismus und die Bestimmung einer „wirklichen Volksikultur" als „national der Form und sozialistisch dem Inhalt nach" (die Herausbildung einer solchen Kultur vollziehe sich bereits in der Sowjetunion als Wirklichkeit) wurde Orientierungspunkt und Grundlage bei der Ausarbeitung der Grundprobleme der sozialistischen und bürgerlichantifaschistischen Literaturbewegung im Exil. 3 5 Solche Probleme waren z. B . : ein erweitertes Funktionsverständnis der Literatur, Fragen der schöpferischen Methode und realistischer Gestaltungprinzipien. Von hierher dazu angeregt, bemüht sich Becher verstärkt um die Erkenntnis und Propagierung der besonderen Rolle der Sowjetliteratur, ihres internationalistischen Gehalts und ihrer nationalen Besonderheiten. Auch dabei kann er auf die bereits erreichten Ergebnisse in der Zusammenarbeit der sowjetischen und deutschen proletarisch-revolutionären Schriftsteller vor 1933 zurückgreifen und von ihnen ausgehen, aber das reale Erleben der sowjetischen Literaturverhältnisse schafft gänzlich andere Einblicke und ermöglicht weiterreichende Verallgemeinerungen. 22
Die Bestimmung der Aufgaben der sozialistischen Literatur als Zentrum der antifaschistischen deutschen Literatur im Kampf gegen Faschismus und Imperialismus war ein Hauptanliegen von Bechers publizistischem Bemühen. Sein besonderes Interesse mußte deshalb ein Vortrag Georgi Dimitroffs zum Thema Die revolutionäre Literatur im Kampf gegen den Faschismus finden, den dieser auf einem antifaschistischen Abend im Moskauer Haus der Sowjetschriftsteller Ende Februar 1935 gehalten hatte und der in Heft 5 der Internationalen Literatur veröffentlicht wurde. Dimitroff ging von einer klaren Funktionsbestimmung der internationalen revolutionären Literatur aus: „Man muß das künstlerische Schaffen ganz entschieden in den Dienst der proletarischen Revolution und des Kampfes gegen den Faschismus und Kapitalismus, des Kampfes zur Mobilisierung und revolutionären Erziehung der Massen stellen" 3 6 . Er betonte die „ungeheure Rolle der Literatur bei der Erziehung einer Generation von Revolutionären". Von dieser Persönlichkeits- und bewußtseinsbildenden Rolle der Literatur her formulierte er eine Reihe von Forderungen an die Literatur, die ihr zu Massenwirksamkeit verhelfen sollen: sie betrafen die revolutionäre Thematik, die Mensc'hengestaltung und Heldenfindung. In diesem Zusammenhang äußerte er sich sehr kritisch zur zeitgenössischen revolutionären Literatur und ihrer - seiner Meinung nach - zu großen Teilen verschenkten Wirkungsmöglichkeiten. Vor allem das Fehlen von vorbildhaften Gestalten sah er als ernsthaften Mangel für den „Prozeß der Revolutionierung der Arbeitermassen, der Millionen der werktätigen Menschheit" 37 an. Dimitroff forderte die Schriftsteller auf: „Gebt uns in künstlerischer Form sichertreffende Kampfwaffen . . . das revolutionäre Proletariat braucht wenigstens einen einzigen kleinen Cervantes, der ihm eine eben solche Waffe im Kampf geben könnte. Der Quichote war die stärkste Waffe in den Händen der Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen den Feudalismus, gegen die Aristokratie". 3 8 Dimitroff bekannte, daß seine Geduld nicht immer ausreiche, um „unsere revolutionäre Literatur" zu lesen, und meinte, daß sie auch bei den Arbeitern keinen Anklang fände. Dies vor allem deshalb, weil es keine nachahmenswerten literarischen Gestalten und Vorbilder gäbe. Gerade dieser Teil 23
von Dimitroffs Ausführungen war es offensichtlich, der Becher im März 1935 zu einem Brief an Dimitroff, seinen Vortrag betreffend, veranlaßt haben mag. 39 Er bestätigte voll die Grundrichtung der Dimitroffschen Überlegungen zur Notwendigkeit, „Heldenschicksale der revolutionären Bewegung zu schaffen", wendet sich aber gegen die Unterschätzung der Erfolge der proletarischen Literatur. Es sei eine Tatsache, daß die internationale proletarische Literatur gerade in den letzten Jahren große Fortschitte gemacht habe, er verwies neben Louis Aragon, Jean Guehenno vor allem auf Willi Bredels Roman Die Prüfung und auf Werke von Anna Seghers, Adam Scharrer, Oskar Maria Graf, Erich Weinert und Bertolt Brecht. Becher zielt direkt auf Dimitroffs Frage nach der Wirkung der revolutionären Literatur, wenn er über Die Prüfung ausführt: „In dem Buch Bredels gibt es viele und starke vorbildliche Szenen und ich kann es mir nicht anders denken, als daß einer, der dieses Buch gelesen hat, eine Gefangenschaft besser durchmacht und sich dort besser und stärker verhält, als wenn er dieses Buch nicht gelesen hätte. Das ist ganz gewiß schon ein Maßstab, den wir an den Wert eines Buches legen können" 40 . Die berechtigten Einwände, die Becher hier als Mitbegründer der proletarisch-revolutionären Literatur Deutschlands gegenüber dem zu negativ und pauschal ausgefallenen Urteil Dimitroffs geltend macht, resultierten bei ihm auch aus der genauen Kenntnis der schwierigen und oft deprimierenden Existenzbedingungen gerade der exilierten deutschen p r o l e t a r i s c h e n Schriftsteller. Ohne einer Selbstgefälligkeit der revolutionären Schriftsteller das Wort reden zu wollen, setzte sich Becher für eine konkrete und differenzierte Einschätzung des bisher Erreichten ein. Nur so können für ihn auch die neuen großen Aufgaben der Literatur bewältigt werden. Für die Gewißheit dessen spräche, daß es eine „Anzahl von Schriftstellern gibt . . ., die unserer großen revolutionären Sache dienen und die auch dem Maßstab ihres Talents nach imstande sind, die außerordentlich schwierigen Probleme des Klassenkampfes in der Epoche des Imperialismus zu bewältigen". Die entscheidende Frage in diesem Dialog Dimitroff-Becher, mit welcher schöpferischen Methode und mit welchen künstlerischen Mitteln die als notwendig erkannten Aufgaben 24
der Literatur bewältigt werden sollten, wird für die sozialistische Literaturbewegung der dreißiger und vierziger Jahre ein ständiges Arbeitsproblem und entscheidender Diskussionsgegenstand.
Beiträge zur sowjetischen Kunstdiskussion Das genaue Datum der Ankunft Johannes R. Bechers in Moskau im Herbst 1935 konnte bis heute nicht exakt ermittelt werden. Nur so viel scheint sicher, daß es vor dem 7. November, dem Jahrestag des Sieges der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, lag. Dafür spricht eine Meldung in der Moskauer Abendzeitung Wetscbernaja Moskwa: hier wird unter der Uberschrift Die Ankunft Johannes R. Bechers (Nr. 253 des Jahres 1935, vermutlich vom 2. November) mitgeteilt, daß der revolutionäre deutsche Schriftsteller Johannes R. Becher gemeinsam mit Ilja Ehrenburg, vom I. Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur aus Paris kommend, in Moskau zu den Oktoberfeierlichkeiten eingetroffen sei. Was hier festgestellt wurde, bedeutete für Becher den Beginn seines achten und längsten Aufenthalts in der Sowjetunion. 41 * Er sollte von zehnjähriger Dauer sein, und diese Jahre wurden von Becher später als die entscheidenden seines Lebens bezeichnet. Zum Zeitpunkt seiner Ankunft standen die Hauptstadt und das ganze Land im Zeichen schöpferischer Initiativen zur Realisierung der auf dem XVII. Parteitag der KPdSU(B) (1934) beschlossenen Aufgabe: der Erfüllung des zweiten Fünfjahrplanes (1933-1937). Kultur und Kunst sollten u. a. einen Beitrag leisten „zur Überwindung der Überbleibsel des Kapitalismus . . . im Bewußtsein der Menschen, bei der Umwandlung der ganzen werktätigen Bevölkerung des Landes in b e w u ß t e und a k t i v e Erbauer der . . . sozialistischen Gesellschaft".« Die Sowjetunion war mit Beginn des Zweiten Fünfjahrplans in die Periode der Vollendung der sozialistischen Rekonstruktion der Volkswirtschaft eingetreten. Als dieser Plan vorfristig zum 1. April 1937 dank kollektiver Anstrengungen der sowjetischen Werktätigen, der Partei und Regierung er-
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füllt werden konnte, war zugleich die grundlegende Aufgabe der sozialistischen Revolution - die Schaffung einer neuen, sozialistischen Wirtschaft - gelöst. Sozialistische Produktionsverhältnisse waren in allen Zweigen der Volkswirtschaft durchgesetzt worden, damit hatte der Sozialismus in der UdSSR gesiegt. Mitte der dreißiger Jahre zeichnete sich auch eine neue Etappe der sozialistischen Kulturrevolution a b : Sozialistische Kultur und Kunst wurden immer mehr von a l l e n Schichten rezipiert, und sie erwiesen sich zunehmend als international ihrem Charakter nach. Die politisch ideologischen und sozialen Voraussetzungen dafür waren in den Jahren seit 1917 geschaffen worden: Beseitigung der Machtpositionen der Ausbeuterklassen in der Kultur, im Bildungswesen, produktive Aneignung des internationalen Kulturerbes, Kampf gegen die dem Sozialismus feindliche Ideologie, beginnende sozialistische Umerziehung der Bauernmassen. Ebenfalls um die Mitte der dreißiger Jahre war in der Sowjetunion eine sozialistische Intelligenz herangewachsen, die auf dem Boden der revolutionären Weltanschauung stand und die Interessen der Arbeiter und Bauern vertrat. 4 3 Diese Entwicklung hatte sich für den Kreis der literarischen Intelligenz bereits auf dem I. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller (17. August bis 1. September 1934) deutlich manifestiert. Genauso aufschlußreich wie der Verlauf des Kongresses war die Art und Weise seiner Vorbereitung. Bereits im Mai 1932, wenige Wochen nach dem historischen Aprilbeschluß des ZK der KPdSU(B), konstituierte sich aus den bisherigen literarischen Organisationen der RSFSR ein Organisationskomitee unter der Leitung von Gorki zur Vorbereitung des Kongresses. In den folgenden zwei Jahren wurde der Kongreß von sowjetischen Schriftstellern, Kritikern, Literaturpropagandisten und -aktivisten sowie Lesern intensiv vorbereitet. Nach kollektiver Verständigung über Prinzipien und Schaffensmethode der Sowjetliteratur und auf Grund des zusammengetragenen analytischen Materials zum Entwicklungsstand der zahlreichen nationalen Literaturen innerhalb der Sowjetunion (auf dem Kongreß waren zweiundfünfzig nationale Literaturen vertreten) war die Vereinigung aller sowjetischen Schriftsteller in einem 26
Verband möglich und historisch notwendig geworden. Das auf dem Kongreß angenommene Statut enthielt neben dem Ziel und den Aufgaben des Verbandes als kollektives Diskussionsergebnis erste Überlegungen zur Spezifik der Methode des sozialistischen Realismus: „Der sozialistische Realismus, der die Hauptmethode der sowjetischen schönen Literatur und Literaturkritik darstellt, fordert vom Künstler wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Wahrheitstreue und historische Konkretheit der künstlerischen Darstellung muß mit den Aufgaben der ideologischen Umgestaltung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus verbunden werden". 4 4 Weiter hieß es: Der sozialistische Realismus enthalte außerordentliche Möglichkeiten für das künstlerische Schaffen, für die Entwicklung schöpferischer Initiative und die Wahl mannigfaltiger Formen, Methoden und Genres. Zugleich wurde zur weiteren Ausarbeitung theoretischer Fragen des sozialistischen Realismus aufgefordert, dies war vor allem für die sowjetische Literaturwissenschaft die Hauptaufgabe der nächsten Jahre. Worin bestand nun die Bedeutung des Kongresses für die zahlreich anwesenden ausländischen Schriftsteller? Aus ihren Beiträgen und Berichten spricht als wichtigster Eindruck das Erleben realer sozialistischer Gesellschafts- und damit neuer Literaturverhältnisse, die sich besonders in der aktiven Teilnahme der Bevölkerung an dem Kongreß manifestierten. Diese Wirkungsmöglichkeiten von Literatur in einem sozialistischen Land zeigten den kommunistischen Schriftstellern der kapitalistischen Länder die Perspektive ihres Kampfes. Für die bürgerlich-humanistischen Schriftsteller waren sie Anlaß zum Nachdenken über die prinzipiell anderen Möglichkeiten von Kunst und Kultur in einer sozialistischen Gesellschaft. Zugleich wurden die unterschiedlichen Existenzbedingungen und revolutionären Kampfweisen deutlich. So trugen z. B. die deutschen emigrierten Schriftsteller ihre politischen Aufgaben und künstlerischen Arbeitsprobleme hier vor; diese unterschieden sich in vielem von denen der Sowjetschriftsteller. 27
Insbesondere Friedrich Wolf erörterte am Beispiel der Dramatik, daß bei „gleichem Endziel" Sowjetdramaturgie und revolutionäre Dramaturgie des Westens au,f Grund des verschiedenen historischen Entwicklungsstandes „durchaus variierende Aufgaben in der Thematik als auch in der Behandlung der Formprobleme"45* zu erfüllen hätten. Der zugespitzte Klassenkampf in den westlichen kapitalistischen Ländern verlange das „politische Kampfstück", in dem sowjetischen Theater, das dem sozialistischen Aufbau diene, wären andere Formen möglich. Zugleich meldete Wolf Bedenken gegen einige Tendenzen im sowjetischen Theater an, die er nicht für revolutionär hielt. Gudrun Düwel hat die Wolfsche Einschätzung des Sowjettheaters um die Mitte der dreißiger Jahre sehr eingehend und differenziert untersucht; sie arbeitet sowohl unberechtigte bzw. einseitige Züge in der Kritik Wolfs heraus als auch den rationalen Kern seiner Einwände: „Denn neben dem Schematismus zeigten sich damals unter anderem gerade im Genre der lyrischen Komödie erste Anzeichen jener Konfliktlosigkeit, die, theoretisch begründet und gerechtfertigt, in späteren Jahren zeitweise die fruchtbare Entwicklung der sowjetischen Dramatik hemmen sollte" 46 . Wolfs Verteidigung des „politischen Theaters" gegen eine Abwertung als „publizistisch" wies schon auf Diskontinuitäten zur literarischen Entwicklung der zwanziger Jahre hin und nahm bereits seine eindeutige Stellung zu den großen Debatten Ende der dreißiger Jahre vorweg, in denen diese Art der Weiterführung proletarisch-revolutionärer Kultur und Kunst von einer Reihe Diskutanten als „Agitka" abgetan wurde. Deshalb meldeten auch fast alle deutschen Diskussionsredner heftigen Widerspruch zum Referat Karl Radeks an über Die moderne Weltliteratur und die Aufgaben der proletarischen Kunst, der die Leistungen der internationalen proletarisch-revolutionären Literaturbewegung abwertete. Auch die bündnispolitische Orientierung im Referat, die - ausgehend von der politischen Alternative Faschismus o d e r proletarische Revolution - im speziellen Fall die Alternative faschistische oder revolutionäre Literatur implizierte, entsprach nicht den historischen Bedingungen und Erfordernissen. Radek unterschätzte mit seiner Dreiteilung der Weltliteratur in eine 28
„apologetische", „neue proletarische" und eine „Literatur der Schwankenden" 4 7 den politischen Entwicklungsstand der bürgerlichen kritischen Realisten und die potentielle Bündnisfähigkeit der sogenannten Modernisten. Sie wurden von dem - als notwendig postulierten - Bündnis ausgeschlossen. Sehr differenzierte und ausgewogene Vorstellungen zum Bündnisproblem entwickelte Becher in seinem Kongreßbeitrag. E r ging von der erforderlichen „Herstellung des großen Kampfbündnisses, der gemeinsamen Front gegen Faschismus und imperialistischen K r i e g " 4 8 aus und suchte die gemeinsamen Grundlagen dafür auf: H a ß gegen den Faschismus, humanistische Zuversicht und gemeinsame progressive Traditionen. E r analysierte den Werdegang der deutschen proletarisch-revolutionären Literatur aus ihren zwei Quellen: den Arbeiterschriftstellern und den aus dem bürgerlichen Lager gekommenen Schriftstellern. E r meinte, daß in Zukunft diese beiden E l e mente oder Quellen verschmelzen, sich gegenseitig fördern und unterstützen und so im alltäglichen engen Bündnis mit dem Kampf der Arbeiter die Literatur des sozialistischen Realismus entstehen werde. Durch Analyse der Epochenvorgänge fand er die Ursachen für die Krise der Literatur des b ü r g e r l i c h e n Realismus und betonte, d a ß dessen beste Vertreter bereits die progressiven Klassenkräfte zu erkennen begännen. Am Beispiel Heinrich Manns und Lion Feuchtwangers wies Becher auf Bündnismöglichkeiten hin, wobei er weltanschauliche Widersprüche dieser bürgerlichen Demokraten und Unterschiede zu ihnen nicht verwischte. Becher erwartete von dem Kongreß eine „große befruchtende Wirkung auf unsere weitere literarische Tätigkeit". Tatsächlich wies der I. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller mit seiner Forderung nach neuen künstlerischen Qualitäten und einer reicheren ästhetischen Kultur auf wichtige Aufgaben der kommenden Jahre hin und markierte damit die Richtung der weiteren literarischen Arbeit nicht nur der Sowjetschriftsteller und ihrer Verbandsarbeit. Die ab 1935 jährlich stattfindenden Plenartagungen des Vorstandes des Sowjetischen Schriftstellerverbandes hatten den Charakter von Arbeitskonferenzen. Das im März 1935 einberufene zweite Ple-
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num des Vorstandes des Schriftstellerverbandes befaßte sich vornehmlich' mit Fragen der Literatur- und Kunstkritik. Die Erörterung dieses Problems wurde für notwendig gehalten angesichts der „traurigen Tatsache, daß die Kritik auf dem Kongreß 1934 nichts von ihrem Vorhandensein habe verlauten lassen" (M. Gorki). Gorki warnte deshalb auch in einem Brief an den Sekretär des Vorstandes des Sowjetischen Schriftstellerverbandes, Alexander S. Schtscherbakow, in dem er sich auf dessen Thesen bezog, vor einer allzu „allgemeinen" und „positiven" Einschätzung des Standes der Literaturkritik. 49 In dem Artikel Die Bilanz des zweiten Plenums trifft Schtscherbakow eine differenziertere Einschätzung. Er zitiert Äußerungen Molotows auf dem Sowjetkongreß der Räte, in denen er sich mit dem Schriftstellerkongreß von 1934 beschäftigt hatte: „Als größte Unzulänglichkeit der Kritik bezeichnete Molotow die schwache Ausarbeitung der Theorie, der Probleme der sozialistischen Ästhetik und führte aus, daß diese Arbeit nur erfolgreich fortschreiten könne, wenn die kritische Aneignung des literarisch-kritischen Erbes in Angriff genommen werde" 50 . Gorki bezeichnete in diesem Zusammenhang als Voraussetzung für die Verbesserung der Kunstkritik die unbedingte Notwendigkeit, sich eine „einheitliche und klare Meinung über die Frage des sozialistischen Realismus" als „Methode und Technik", als „Arbeitswahrheit" zu erarbeiten. 51 Das dritte Plenum des Vorstandes des Sowjetischen Schriftstellerverbandes fand Mitte Februar 1936 in Minsk statt. Es beschäftigte sich mit der belorussischen und baschkirischen Sowjetliteratur und mit Problemen der sowjetischen Lyrik. Auf dem Gebiet der lyrischen Genres waren die Auseinandersetzungen um eine sozialistische Entwicklung seit der Oktoberrevolution besonders intensiv und nachdrücklich ausgetragen worden. Fritz Mierau schreibt hierzu: „In den Mittelpunkt der nationalen Debatten . . . rückte die sowjetische Lyrik, weil sie - in unterschiedlicher Weise bewußt - in verkürzter Form alle Grundprobleme der hundertjährigen russischen Befreiungsbewegung aufgenommen und dem Urteil der siegreichen sozialistischen Revolution unterworfen hatte." 52 Die Diskussionen um Funktion, Gestalt und Vielfalt der Lyrik hielten seit 1928 30
unvermindert an und waren auf dem Kongreß 1934 ablesbar gewesen.53 In Vorbereitung des dritten Plenums war es wiederum Gorki, der auf wichtige Fragen der sowjetischen Lyrik hinwies. In einem Brief vom De2ember 1935 an Alexander Surkow zu dessen Lyrikthesen (es handelte sich um Thesen zum Referat, das Surkow auf dem Plenum halten sollte) hatte er - ausgehend von einer kritischen Analyse der Literatur den „Zusammenhang von literarischem Gegenstand, Funktion der Literatur und biographischer Kultur" verdeutlicht. Er hielt es für unumgänglich, daß gestritten wird: „Wir müssen unbedingt klären, worum es geht, warum bleiben Poesie und Prosa so hinter der Stimmung der Menschen zurück, deren tätige Energie und deren Arbeitspathos die Welt verändern, nicht nur innerhalb der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken". 54 Ein weiterer Mißstand, von Gorki konstatiert, war das ungenügende Wahrnehmen der „Verantwortung für die Welt" durch Poesie und Literatur überhaupt. Gorki, für den bekanntlich die Entwicklung einer „oboronnaja literatura" (Verteidigungsliteratur) seit Beginn der dreißiger Jahre eine vordringliche Aufgabe der Sowjetliteratur war, führt in diesem Zusammenhang aus, daß „die Motive der Verteidigung unsere Dichter nicht bewegen und daß es keinen revolutionären Haß gibt" 55 . Das Konzept einer „Verteidigungsliteratur" war von Gorki als Konkretisierung der gesellschaftlichen Funktion der sowjetischen Literatur gedacht. Der Begriff korrespondierte mit dem 1934 auf dem Kongreß diskutierten Terminus „Antikriegsliteratur", bedeutete aber mehr. Gorki zielte damit auf den internationalistischen Gehalt und die soziale Repräsentanz der sozialistischen Sowjetliteratur, auf ihren „grashdanstwenny" (gesellschaftlichen, staatsbürgerlichen) Charakter. Dieses Konzept blieb nicht nur Theorie. Die deutschen emigrierten Schriftsteller lernten die praktische Umsetzung kennen: z. B. in Gestalt der 1931 gegründeten Literarischen Vereinigung der Roten Armee und Flotte (LOKAF) und ihrer Zeitschrift gleichen Namens, ab 1933 Snamja. Dieses monatlich erscheinende Journal betrachtete als seine Aufgabe die Organisierung einer Verteidigungsliteratur, die eng verbunden ist mit dem Leben 31
des Landes und den Erfordernissen des sozialistischen Aufbaus. 56 Darüber hinaus wollte Snamja - nach den Worten Wsewolod Wischnewskis, eines ihrer profiliertesten Schriftsteller, ein künstlerisches Zentrum von Schriftstellern sein, die n e u e Wege der weltrevolutionären Literatur suchen.57 Die Zeitschrift druckte und diskutierte progressive Literatur aus vielen Ländern und setzte sich für Eisenstein, Dowschenko und damit für neue sozialistische Kunstformen ein. In unmittelbarer Vorbereitung des Minsker Plenums fand Anfang Februar 1936 in Leningrad eine sechstägige Lyrik-Diskussion statt. Die Literaturnaja gaseta vom 10. Februar 1936 meldete die Beendigung dieser Diskussion der Dichter und Kritiker, kündigte die Fortsetzung der Debatten für das Allsowjetische Plenum in Minsk an und berichtete u. a. über das Auftreten Johannes R. Bechers am letzten Diskussionstag. Becher war in seinem Beitrag von einer Einschätzung der proletarischen Poesie ausgegangen: „Früher waren die Grenzen der proletarischen Poesie sehr eng. Gedichte, die nicht mit sozialer und Klassenthematik verbunden waren, wurden aus dem Gesichtskreis der proletarischen Poesie verbannt, wir waren „poetami politiki (Dichter der Politik)." Dann führte er einen Gedankengang weiter, den er 1935 in seinem Referat auf dem Pariser Schriftstellerkongreß in die Aufforderung gefaßt hatte: Nichts brach liegen lassen. Alles besetzen, was im Menschen einen Wert hat! „Dadurch, daß wir uns über die Themen Natur, Liebe, Tod auschwiegen, war es möglich, daß sich die faschistische Poesie ihrer bemächtigte. Kein einziges Problem des Lebens darf man für zweitrangig halten. Ein wirklicher Dichter, der die großen Traditionen der Weltpoesie fortsetzt, läßt keinen einzigen Abschnitt des Lebens aus, erfüllt ihn mit seinem Inhalt, gibt ihm seine Form." Als eines der größten Probleme, die immer die Literatur bewegen, bezeichnete Becher die „Bestimmung des Menschen", und er sah die Lösung dieses Problems als revolutionärer Schriftsteller im Lande der Sowjets in der Stachanowbewegung, „im Antlitz neuer Menschen und Gefühle". In diesem Zusammenhang kritisierte Becher die mangelnde „emotionale Kraft" in einer Reihe von Gedichten über die Stachanowbewegung. Am Ende 32
des Becherschen Beitrages heißt es: „Wenn wir nicht wollen, daß man über unsere Zeit sagt, sie war voller Leidenschaften, aber über sie erfährt man [nur] aus den Zeitungen und nichts darüber in der Poesie, dann müssen wir hart und angestrengt arbeiten". 58 * Becher reflektierte hier über eine für die sowjetische wie die deutsche sozialistische Literatur gleicherweise sichtbare Tatsache: über die neuen Anforderungen an eine sozialistische Poesie, die ihre Thematik zu erweitern und den Menschen als Träger der gesellschaftlichen Prozesse, als „ganzen Menschen", zu zeigen und ein ausgewogenes Verhältnis von rationalen und emotionalen Gestaltungsmitteln zu finden hatte. Der Terminus „Dichter der Politik" wird von ihm kritisch verwendet. Das ist Ausdruck seines zu dieser Zeit problematischen Verständnisses von politischer Dichtung, die, seiner Meinung nach, nur die unmittelbaren Formen des Klassenkampfes erfassen könne. Die in diesem Zusammenhang stehende Tendenz zu einer ungenauen historischen Wertung der proletarisch-revolutionären Literatur wird in den nächsten Jahren erst in dem Maße überwunden, wie sie als eine unersetzbare Etappe der weiteren Herausbildung der sozialistischen Literatur begriffen wird. An dem Mitte Februar in Minsk stattfindenden Plenum nahm Becher als einer von insgesamt zweihundertfünfzig Delegierten aller nationalen Literaturen, die im Sowjetischen Schriftstellerverband vertreten waren, teil. In einem redaktionellen Bericht der Internationalen Literatur unter dem Titel Sammlung, Klärung wird die Veranstaltung als Zeichen der praktischen Ergebnisse der 1934 gestellten Aufgaben gewertet: Jetzt lagen z. B. die dort vermißten Übersetzungen der Literaturen der Völker der Sowjetunion vor. „So standen in Minsk alle großen Fragen der spezifisch dichterischen Bildgestaltung zur Diskussion: Fragen der Einheit des subjektiv-individuellen Themas und seiner objektiv-sozialen Verallgemeinerung (Typisierung), Streitfragen des sozialistischen Realismus in der Lyrik, woran sich vielfach ein Meinungsaustausch über echte und falsche Volkstümlichkeit und der sogenannten ,folkloristischen' Elemente der Kunst knüpfte. Hart gerieten die verschiedenen Strömungen immer dann aneinander, wenn es um die theoretische und praktische Ausweitung des klassischen Erbes 3
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ging."59* Das zentrale Thema des Plenums hatte A. Surkow in seinem Vortrag Zu einer volkstümlichen Lyrik des Sozialismus umrissen. Er hatte den Kampf um eine neue Qualität der sowjetischen Lyrik als den Kampf um eine volkstümliche Lyrik des Sozialismus definiert und ausgeführt: „Sozialistische Volkstümlichkeit beruht bei sorgsamer Pflege nationaler Formen auf der internationalistischen Natur der sozialistischen Revolution . . . Kampf um eine volkstümliche Lyrik heißt Streben nach höchster künstlerischer Einfachheit, die nur erreicht, wer die Beherrschung kompliziertester Verfahren mit einem klaren Begriff vom Thema und von der poetischen Idee verbindet".60 In diesem Zusammenhang hatte er die Dichtung Wladimir Majakowskis für das Studium des sozialistischen Realismus in der Lyrik als außerordentlich fruchtbar bezeichnet. Tatsächlich stellte die Rezeption des Majakowskischen Werkes in den nächsten Jahren eine ständige produktive Herausforderung an die Lyriker dar. Becher schaltete sich mit seinem Diskussionsbeitrag Aus der Welt des Gedichts direkt in die Auseinandersetzungen um den Gegenstand und die Aufgaben der Lyrik ein: „Es ist ebenso unsere festliche wie unsere alltägliche Welt, es ist keine andere Welt, keine ins Jenseits verflüchtigte. Es ist die Welt der Grausamkeiten, der Konzentrationslager, die Welt der illegalen Arbeit, es ist die Welt, vor die Stalin hintritt mit seiner Rede über Stachanow, unsre Welt, vor der Mikojan Bericht erstattet über das Geheimnis des Sattwerdens - unsere Welt der Begeisterung und des Jubels." 61 * Becher hält es für gut, wenn sich ein Dichter im Detail mit dem Alltag beschäftigt. Solch eine Beschäftigung bewahre ihn davor, allzu hastige und ekstatische Sprünge zu vollführen, das Pathos erfahre die nötige nüchterne Korrektur. Er bringt hier Goethes Begriff des Gelegenheitsgedichts in die Debatte ein, auch der größte Dichter solle sich nicht zu vornehm dünken, Gelegenheitsgedichte zu schreiben. Ist er wirklich ein bedeutender Dichter, könne die Gelegenheit, die er bedichtet, eine langlebige und große Angelegenheit werden. Becher betont die vielfältigen Möglichkeiten revolutionärer Lyrik und die Notwendigkeit, über die Gattungsgrenzen der Lyrik hinauszublicken. Die Dichter 34
sollten Entdeckungsfahrten, wie sie z. B. die Reportage unternehme, aufmerksam verfolgen; die Reporter hätten die meisten Dichter an Kühnheit dadurch übertroffen, daß sie unbekannte Stoffgebiete entdeckten. Zur realistischen Gestaltungsweise führte Becher aus: „[Sie] wird bei uns häufig ersetzt dadurch, daß man geschwätzig wird, daß man erklärt oder deklamiert." Bs drohen „Phrasendürre" und „Klischeetod". Hier findet sich eine Parallele zu Gedanken, die der Dichter bereits im Sommer 1933 in einem Vortrag in Moskau formuliert hatte: „Gegen die Phrase, die Langeweile und gegen das ,allgemeine' Geschwätz muß man unnachsichtig vorgehen. Die Schwatzatmosphäre schafft keine Literatur, sondern vertreibt sie. Wir brauchen Wortverantwortung und Sprachbewußtsein."62 Diesen Vortrag hatte Becher in der intensiven Vorbereitungsphase auf den I. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller als „Beitrag zur Diskussion über den sozialistischen Realismus"63 gehalten und seine Thesen an eigenen Gedichten verdeutlicht. Es handelte sich um Plakatverse und gereimte Wahllosungen, die zum Teil noch in Deutschland wirksam werden konnten. Sie erschienen 1933 in Moskau in dem Gedichtband An die Wand, zu kleben. Er enthielt auch ein Gedicht mit dem gleichen Titel wie der Vortrag: Gegen die Phrase, gegen die Langeweile und das allgemeine Geschwätz- Becher karikiert hier einen phrasenhaften Redestil in der sozialdemokratischen Partei, attackiert ihn aber ebenso in der kommunistischen Parteiarbeit, bezieht sich selbstkritisch mit ein und stellt an die KPD die Forderung nach einer massenwirksamen Agitation: Wenn wir noch lernen, so zu sprechen, daß uns die Massen auch verstehn, Ist's nicht mehr weit, um aufzubrechen Und über ihn (den Klassenfeind - S. B.) hinwegzugehn.64 Daß Becher jetzt in Minsk wieder vor Schematismus, Klischees und Phrasen warnt, zeigt die Kontinuität des Bemühens, Gestaltungsfragen zu meistern. Die künstlerische Bewältigung der Darstellungsprobleme stand für beide Literaturen: die sowjetische und die sozialistische deutsche. Sie wurde spezifisch realisiert. 3*
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Es gibt in Bechers Beitrag auch kritische Bemerkungen zum Stand der Literaturkritik. Vorherrschend sei eine Kritik, der der „spezifisch-poetische Charakter" nicht zugänglich sei, sie mache dort halt, wo 'das Gedicht eigentlich erst beginne. Von einer Kritik, die zu einer „Schule" werden könne, müsse man Auskunft erwarten über Metrik, Symbolik, Metapher und anderes. Abgesehen von der überspitzt negativen Beurteilung immerhin hatte die deutsche marxistische Literaturkritik in den vorangegangenen Jahren einiges zur qualitativen Entwicklung der sozialistischen Literatur beigetragen65 - , ging es Becher hier um ein Problem, das mit der Qualifizierung der sozialistischen Bewegung insgesamt zusammenhing: Die Führungsrolle konnte die sozialistische Literatur innerhalb des antifaschistischen Schriftsteller-Bündnisses nur beanspruchen, wenn sie den revolutionären Inhalten auch eine künstlerisch adäquate Form zu geben imstande war. Unter diesem Aspekt verfolgte Becher auch die sowjetischen Literaturdiskussionen. Er meinte, daß sie ein reichhaltiges Material für die Ausbildung einer führenden Kritik böten.66 Hier wird ein Problem deutlich, das sich generell für die deutschen Schriftsteller in der Sowjetunion stellte. Sie mußten eine Beziehung zwischen den in einem spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhang stehenden sowjetischen Kunstdebatten und der Entwicklung der antifaschistischen Literatur bedroht und verfolgt vom deutschen und internationalen Faschismus - herstellen, die der Eigenart beider gerecht werden konnte. Das betraf z. B. die Formalismus-NaturalismusDebatte, die im März (10.-31. 3.) 1936 mit einer Konferenz der Moskauer Schriftsteller zu diesem Problem begann und die mit der Veröffentlichung einer Reihe kritischer Artikel in der Prawda einen Höhepunkt fand. In einem redaktionellen Artikel der führenden literaturwissenschaftlichen Zeitschrift der dreißiger Jahre Literaturny kritikf^* wurden Ursachen und Anliegen dieser Debatten erläutert: Die verschiedenen unerfreulichen Erscheinungen in der Kunst seien auf den ungenügend scharfen und nachhaltigen Kampf mit dem Formalismus, der „meistverbreitetsten Erscheinung in der bürgerlichen Kunst", zurückzuführen. Die Bekämpfung des Formalismus, der eine „rein bürgerliche" Er-
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scheinung sei, eine Art künstlerischer Bürokratismus, stelle die notwendigste Entwicklungsbedingung der sozialistischen Kunst dar. Inhaltlich handele es sich beim Formalismus um das Voraussetzen und Herausstreichen des formalen Moments, die „Entartung der Literatur zu einer Sammlung von Kunstgriffen". Diese Auffassungen seien von verschiedenen Theoretikern des Formalismus fundiert ausgearbeitet worden. Zum Naturalismus hieß es: E r stelle „formalen Realismus" dar, sei ein „degenerierter Nachfahr eines großen Realismus", verhalte sich gleichgültig gegenüber dem lebendigen Leben, gegenüber den realen Menschen. Gegenstand der Auseinandersetzung war, wie aus dem Zitat hervorgeht, der Formalismus in der Kunst und die Formale Schule in der Literaturwissenschaft. Die Produktivität der Debatte um die Formale Schule litt darunter, daß in der berechtigten Kritik an der Praxis der Formalisten, die die literarischen Phänomene in ihrer ersten Phase weitgehend außerhalb ihrer sozialen Zusammenhänge untersuchten, auch die positiven Einzelergebnisse ihrer Spezialstudien und ihre neuen wissenschaftlichen Ansätze negiert wurden. 68 * In der Debatte Mitte der dreißiger Jahre wurde nicht zur Kenntnis genommen, daß die Vertreter der Formalen Schule ihre Theorien im Ergebnis der heftigen marxistischen Kritik der zwanziger Jahre weiterentwickelt und idealistische Momente überwunden hatten. Die von ihnen versuchte Entdekkung der spezifisch künstlerischen Gesetzmäßigkeiten und ästhetischen Kriterien, die Begründung des Funktionsbegriffs und neue Fassung des Formbegriffs stellten wichtige Diskussionsgegenstände für die sich entwickelnde marxistische Ästhetik dar. „Die offene Stelle in den Theorien des russischen Formalismus entstand vor allem dadurch, daß die Frage nach den individuellen und kollelktiven Trägern des Literaturprozesses, d. h. das Problem der .Präsenz der Gesellschaft' (Werner Krauss) in den Werken und literarischen Formen keiner konsequenten Lösung zugeführt wurde." 69 Unter „Formalismus in der Kunst" wurde in der Debatte eine Überbewertung der Form im Verhältnis zum Inhalt verstanden. In diesem Sinn war die Grundrichtung der Diskussion bei allen Extremen und Vereinfachungen im einzelnen 37
lichtig. 70 Gorki hatte sie in einem Artikel begrüßt; aber auch davor gewarnt, mit dieser Angelegenheit allzuschnell und „nur in Worten" fertig zu werden. Er beklagte die „historischkulturelle Unkenntnis und die technische Unwissenheit" 71 der sowjetischen Schriftsteller, die sich in der Diskussion offenbart hätte. Gorki hatte das Problem der Form in seiner geschichtlichen Entwicklung und in seiner Beziehung zu dem durch sie ausgedrückten Inhalt beleuchtet. Damit wurde die Notwendigkeit einer materialistischen Formanalyse betont und eine primitive Ansicht jeder Formanalyse als prinzipiell formalistisch abgelehnt. Diese Polemik richtete sich gegen die vulgärsoziologische Methode in der Literaturwissenschaft. Auf welche Weise reflektierten nun die deutschen Schriftstelleremigranten die eben skizzierten Probleme? Als repräsentatives Zeugnis kann hierfür ein umfangreicher Atikel von Ernst Ottwalt dienen. Er erschien in der Internationalen Literatur 1936 unter dem Titel In diesen Tagen. Die Überschrift meint die „in diesen Tagen das gesamte Kulturleben der Sowjetunion bewegenden heftigen Debatten". Ottwalt schreibt über die Stildebatten in den vier Künsten, die zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden seien: „Will man den Inhalt der Stildebatten in Literatur, Musik, bildender Kunst und Architektur kurz zusammenfassen, so läßt sich sagen, daß in allen Künsten die Debatten gegen experimentelle Formspielereien ultralinker Schulen verlaufen." 72 Er stellt die Beziehung der Debatten zu den sich in der neuen Etappe der sozialistischen Kulturrevolution vollziehenden Prozessen fest und bestimmt als die „tiefere Wurzel aller Debatten und Dispute" den „neuen Menschen". „Die Überwindung der Reste des Kapitalismus im Bewußtsein der Menschen, diese welthistorische Aufgabe, deren einmalige Bedeutung nicht überschätzt werden kann, hat die Stildebatten in den Künsten des Sowjetlandes notwendig gemacht". 73 Von diesem „großen historischen Aspekt" her wird klar, „warum das Verständnis der Kulturprobleme der Sowjetunion von entscheidender Bedeutung für den gesamten Weltkampf gegen den Faschismus, für die Kultur wird." In der Teilnahme am „Kampf um den neuen Menschen" werde sich zeigen, „ob die wahre, antifaschi38
stische Literatur" der Größe dieser Aufgabe gewachsen sei. Die vollständige Identifizierung mit dem Anliegen der Debatte - scharfer Kampf gegen den Formalismus, der die sozialen Funktionen negiert74 - , die hier ablesbar ist, ergab sich aus der Prämisse, daß unter Formalismus eine Kunstrichtung verstanden wurde, die in Formspielereien bestand. Daß es im Verlaufe der Debatte zu problematischen bzw. falschen Schlußfolgerungen für die Literaturentwicklung kam, soll am Beispiel des Diskussionsbeitrages von Georg Lukäcs verdeutlicht werden. Er hatte ihn unter dem Titel Rasskas ili opisanie (Erzählung oder Beschreibung) im Literaturny kritik (Heft 8/ 1936) in russischer Sprache publiziert. Lukäcs kommt in seiner Untersuchung der Darstellungsmethoden des Beschreiben« und des Erzählens zu dem Ergebnis, daß das Beschreiben naturalistisch sei bzw. formalistisch ausarte und die Schwächen der Sowjetliteratur wesentlich auf die Anwendung dieser letztlich aus der kapitalistischen Vergangenheit stammenden Methode zurückzuführen seien. Seine Beispiele aus der Sowjetliteratur (Gladkow, Ehrenburg, Tretjakow, Olescha) zeigen, daß seine apodiktische Alternative (Erzählen o d e r Beschreiben) sowohl ästhetisch unproduktiv war, weil vom wirklichen Kunstprozeß weit entfernt, als auch politisch gefährlich, weil sie Schriftsteller, die seiner Meinung nach formalistische Methoden - gleich Überreste des Kapitalismus - anwandten, als Klassenfeinde definierte. Das mußte sich besonders schädlich auswirken, nachdem Stalin 1937 die falsche These von dem sich im Land zuspitzenden Klassenkampf bei fortschreitendem Weg zum Sozialismus aufgestellt hatte. Bekanntlich diente sie in der Praxis zur Begründung von Massenrepressalien, die ungerechtfertigt und ungesetzlich waren.75* In diesem Zusammenhang kam es im ideologischen Bereich zu Dogmatisierungen bestimmter Richtungen und Auffassungen; im philosophischen Denken zu einem Ablösen der Dialektik vom Materialismus, „wodurch der Materialismus wieder ungeschichtlich und die Dialektik wieder abstrakt wird"76. Eine Folge der falschen Stalinschen These war z. B. die in der Literaturwissenschaft vertretene Theorie der „Konfliktlosigkeit", die in der literarischen Praxis ihre Entsprechung hatte. Sie orientierte vorrangig auf die Gestaltung antagonistischer Konflikte mit 39
dem Klassenfeind und verhinderte, „daß Widersprüche neuer, nichtantagonistischer Qualität als Motor der E n t w i c k l u n g im Sozialismus erkannt und auch als Grundlage literarischer Konfliktgestaltung erkundet wurden"77. Die Verabsolutierung des „positiven Helden" hatte z. B. für die Profilierung der sowjetischen Satire sehr hemmende Konsequenzen.78 Johannes R. Becher versuchte in seinem Essay Wachstum und Reife die Anregungen der Formalismus-Debatte und der neuen gesellschaftlichen Aufgabenstellung für die Kunst zu verarbeiten. Der Aufsatz war zunächst als Beitrag zur sowjetischen Diskussion gedacht. Er entstand aus der Zusammenarbeit mit den Wolgadeutschen Sowjetschriftstellern. D i e deut-
schen Schriftstelleremigranten sahen sich veranlaßt, bei der Entwicklung der sowjetdeutschen Kultur und Literatur, insbesondere bei der Überwindung der vorhandenen „sprachlichen Niveaulosigkeit" 7 9 in der Wolgadeutschen Literatur be-
hilflich zu sein.
Becher, der zum Kongreß 1934 als Delegierter der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen gekommen war, hatte die solidarische Verpflichtung der deutschen emigrierten Schriftsteller den sowjetdeutschen Dichtern gegenüber erkannt und bereits Anfang 1937 mit dem Ausarbeiten eines Briefes 'begonnen, der „ein kameradschaftliches Beieinander der deutschen antifaschistischen und der sowjetdeutschen Dichter" einleiten sollte. In dem Manuskript (Entwurf zu einem Brief An die Dichter der deutschen Wolgarepublik vom 12. März 1937) 80 * schreibt Becher, daß es ihn nach einjährigem Beobachten der sowjetdeutschen Literatur dränge, seine Meinung zu formulieren: als Freund wolle er offen seine Auffassung darlegen. Es käme darauf an, sich zum Nutzen „unserer deutschen sozialistischen Literatur gegenseitig zu helfen und hie und da etwas auszugleichen". Die Analyse ergibt allgemein - nur in Ausnahmefällen wird am konkreten Material erörtert - ein recht negatives Bild der sowjetdeutschen Literatur, sowohl was Gestaltungsfragen, Sprachmeisterung als auch ungenügende Verarbeitung des nationalen Erbes angeht. Es waren wohl der vorwiegend unbefriedigende Gesaipteindruck, den der Brief erwecken konnte und Bedenken, im Sinne einer Aburteilung und nicht einer konkreten Hilfelei40
stung verstanden zu werden, die Becher veranlaßten, das Manuskript grundlegend zu verändern. Das Ergebnis ist dann 'Wachstum, und Reife-, nur noch der Untertitel - Bemerkungen Zur Dichtung der Wolgadeutschen Sowjetrepublik - verrät die ursprüngliche Bestimmung. Die Konsequenzen dieser Änderung waren: Aus der direkten Ansprache der sowjetdeutschen Dichter wird eine Erörterung von Grundfragen sozialistischer Dichtung, bisherige Ergebnisse werden bilanziert und noch zu erreichende Positionen markiert. Davon ausgehend, daß „die Sowjetunion zu einer großen Heimat der deutschen Dichtung geworden ist", bestimmt Becher die Funktion des Schriftstellers und die Möglichkeiten der Dichtung: „Ein Schriftsteller müßte in einem ganz besonderen Sinn ein Durchleuchter und Aufklärer sein . . . Und jeder, dem es mit einer echten und wahren Literatur ernst ist, muß demnach den Bestand der UdSSR schützen, nicht nur in Bekenntnissen und Aufrufen, vor allem auch in seinem Werk und durch sein gesamtes menschliches Verhalten." 81 Um solche Dichter auszubilden, seien vor allem Fleiß, Lernbesessenheit, Bildung und Wissen vonnöten. Dieses „Erziehen zu Dichtern" erfordere das Finden von Vorbildern ebenso wie die Meisterung der Form. „Wer Großes zu sagen hat, der spricht das Große einfach, klar und entschieden aus. Ohne unnützes Beiwerk und irgendwelchen formalistischen Schnickschnack." 82 Aus dem notwendigen Studium der Klassik seien vor allem zwei Lehren zu ziehen: Auch in der Dichtung kommt es auf den Menschen an und die Auffassung, daß die Form die Funktion habe, den Inhalt klar und kräftig herauszuarbeiten. Becher entwickelt den Gedanken, daß Formspielereien nur vom Inhalt ablenken würden, diesen zu verschlingen drohten; sie würden sich einstellen, wenn ein Dichter dem Inhalt nicht gewachsen sei. Die „geschichtlich kräftige Luft" in der Sowjetunion lasse weder Platz für eine Schilderung platter Gewöhnlichkeit noch für exklusive Formspielereien. Seine Überlegungen zum Verhältnis von Inhalt und Form waren eine kontinuierliche Festsetzung seiner Position in den Debatten des BPRS, wo um dieses Problem heiß gestritten worden war. Die Frage nach n e u e n Formen hatte Becher, dies resümierend, 41
in seinem Kongreßreferat 1934 mit der Forderung nach anderen, neuen Formen, die den „neuen Inhalten unseres Klassenkampfs" entsprächen, beantwortet. Genau diesen Aspekt hatte auch Bertolt Brecht betont, als er 1939 rückblickend zum Wesen der Formalismus-Diskussion schrieb: „Die sehr heilsame Kampagne gegen den Formalismus hat die produktive Weiterentwicklung der Formen in der Kunst ermöglicht, indem sie die Weiterentwicklung des sozialen Inhalts als eine absolut entscheidende Voraussetzung dafür nachwies" 83 .
*
Probleme des Erbes und Tradition
Wichtige Anregungen vermittelten die sowjetischen Literaturdiskussionen auch beim Studium und bei der kritischen Aneignung des weltliterarischen Kulturerbes. Hier trafen für Becher zwei Tendenzen aufeinander, die seine sich in diesen Jahren entwickelnde Erbekonzeption nachhaltig beeinflußten. Eine Tendenz war die vom VII. Weltkongreß der K I festgestellte Notwendigkeit, das Kulturerbe für den antifaschistischen Kampf, bei der Gewinnung von allen potentiellen Bündnispartnern zu nutzen. Die andere Tendenz zeigte sich darin, daß es in der sowjetischen Kunstpraxis und Literaturtheorie unabdingbar geworden war, das Verhältnis zum Erbe, den nationalen und internationalen Traditionen zu klären. Beide Tendenzen waren eng miteinander verknüpft. Parallel zu den theoretischen Debatten der sowje• tischen Schriftsteller im Zeitraum 1932 bis 1934 wurden von der literarischen Öffentlichkeit und den Literaturkritikern und -Wissenschaftlern die bis dahin verbreiteten Literaturtheorien einer Prüfung unterzogen. Neben der Formalen Schule, von der schon die Rede war, galt sie vor allem der eng mit dem sowjetischen Proletkult und der RAPP verbundenen Richtung, die von deren Kritikern als „Vulgärsoziologie" charakterisiert wurde. Sie verabsolutierte einige soziologische Auffassungen Plechanows und ging von einer „dogmatischen Vorstellung der klassenmäßigen Determiniertheit der Kunst" 84 aus. Die so vulgarisierte Auffassung vom Verhältnis zwischen Basis und Überbau führte auf dem Gebiet der Literaturgeschichte 42
zu nihilistischen Urteilen über wichtiges Kulturerbe. Die weitere Profilierung der sozialistischen Literatur erforderte aber ein differenzierteres Herangehen und „Aufheben" progressiver Errungenschaften der Weltkultur. Es ging um die Anwendung der Leninschen Erkenntnis, nach der der Marxismus seine weltgeschichtliche Bedeutung als Ideologie des revolutionären Proletariats dadurch erlangt habe, daß er die wertvollsten Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters keineswegs ablehnte, sondern sich vielmehr alles, was in der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll war, angeeignet und verarbeitet hatte.85 Lenins Arbeiten über Tolstoi und über die proletarische Kultur sowie die Schriften von Marx und Engels zu Kunst und Kultur waren in diesem Klärungsprozeß von entscheidender Bedeutung.86* Eine besonders wertvolle Arbeit leistete deshalb A. Lunatscharski, als er 1932 für den sechsten Band der Literaturenzyklopädie die umfangreiche Studie Lenin und die Literaturwissenschaft vorlegte. Sie stellte einen ersten Versuch der Systematisierung der Leninschen Auffassungen über Kultur und Kunst dar und war geeignet, in der Auseinandersetzung mit den Vulgärsoziologen die Möglichkeiten einer marxistischen Literaturtheorie zu demonstrieren. Dem grundsätzlichen Charakter dieses Aufsatzes trug auch die Veröffentlichung in deutscher Sprache 1935 in Heft 1/2 der Internationalen Literatur Rechnung. Mitte der dreißiger Jahre war die Überwindung der Vulgärsoziologie ein Hauptproblem für die sowjetische Literaturwissenschaft.87 Ein aus dem Literaturny kritik übernommener Beitrag von M. Rosenthal in der Internationalen Literatur verdeutlichte das. In dem Aufsatz Von pseudomarxistischen Kritikern und sozialer Analyse erläuterte dieser führende Literaturtheoretiker Charakteristika der vulgärsoziologischen Methode: „In der Methodologie verschiedener Literaturforscher . . ., die Verfechter und Vertreter der Vulgärsoziologie sind, fällt die Fülle der sogenannten .Klassenanalysen* auf . . . Die soziale Analyse ist bei diesen Literaturforschern kein Prozeß, in dem sich die Klassenwertung des Schriftstellers herauskristalli43
siert. Die soziale Analyse besteht lediglich in metaphysischer Anpassung an den a-priori-Begriff der Klasse oder Klassengegner." 88 * Rosenthal forderte zu Recht die h i s t o r i s c h e Fundierung des sozialistischen Realismus. Im Ergebnis dieser Diskussionen kam es zur „Rehabilitierung und gesellschaftlichen Erläuterung solcher Begriffe wie .historisch-nationale Traditionen', .klassisches Erbe', Volkstümlichkeit', .Humanismus', die jahrelang direkt (und noch häufiger indirekt) entstellt und herabgesetzt worden waren. Der Diskreditierung der historischen Vergangenheit und des klassischen Kulturerbes der Sowjetvölker, der sektiererischen Unduldsamkeit gegenüber den großen historischen und kulturellen Erscheinungen und ihrer vulgären Deutung unter dem Vorwand der .Klassenanalyse' wurde ein Ende gemacht" 89 . Einen Höhepunkt erreichte die Debatte gegen die Vulgärsoziologie anläßlich des 1937 in nationalem Maßstab gefeierten Puschkin-Jubiläums (100. Todestag), das monatelang unter intensiver Anteilnahme der Bevölkerung und Beteiligung aller Kulturschaffenden vorbereitet worden war. Gerade das Werk Puschkins war in der Vergangenheit als „feudal-optimistisch" oder „dekadent-adelig" abgestempelt worden. Das vierte Plenum des Sowjetischen Schriftstellerverbandes, das vom 22. bis 26. Februar 1937 in Moskau tagte, war dem Werk und der Persönlichkeit Puschkins gewidmet. Seit 1917 waren Persönlichkeit und Wirken Puschkins vor allem für die Entwicklung der sowjetischen Lyrik Gegenstand heftigster, aber produktiver Auseinandersetzungen gewesen. 90 In den wissenschaftlichen Arbeiten der Jahre 1936 und 1937 wurde eine marxistische Wertung Puschkins versucht, die Größe und Grenzen seines Werkes erfaßte. Das war besonders wichtig im Hinblick auf die in den Schulen ¡benutzten Lehrbücher, die weitgehend von der vulgärsoziologischen Methode geprägt waren. 9 1 Am 10. Februar 1937, dem 100. Todestag Puschkins, veröffentlichte die Deutsche-Zentral-Zeitung (DZZ) unter dem Titel Begegnung mit Puschkin Bechers Beitrag zum Jubiläum. „Ich hatte von Puschkin bisher wenig gelesen. Die Sowjetunion hat mir auch diesen großen Dichter nahegebracht . . . Während im Ausland die Klassiker vielfach zu leeren Museums-Figuren geworden sind oder zum Ausbeutungsobjekt einer Unzahl von 44
Epigonen, feiert die klassische Dichtung in der Sowjetunion eine Auferstehung voller Unmittelbarkeit und Lebendigkeit".92* Er nannte 2wei Eigenschaften, die ihn an Puschkin faszinierten: Würde und Wahrhaftigkeit. Er sah eine „offenkundige Verwandtschaft Puschkins mit Goethe" in dem Sinne, daß beide „den wahren Gehalt der menschlichen Brust aussprechen". Beide zeichne Einfachheit des Stils aus. Das Werk und die Persönlichkeit Puschkins als eines „Erziehers zur Dichtung", eines „Reinigers und Erneuerers" bezeichnet Becher als geeignet, „gewisse Unarten, die besonders aus dem Expressionismus und der neuen Sachlichkeit herrühren", in der Literatur jetzt endlich zu überwinden. Damit sprach er der Klassik eine formale Vorbildwirkung zu, was für ihn die Gefahr zu problematischen Verabsolutierungen bergen sollte. Zu nutzen suchte Becher auch Puschkins Überlegungen zur Wichtigkeit der Umgangssprache des Volkes für die poetische Sprache, zur Wechselwirkung beider sowie zur Spezifik der poetischen Sprache. Auch der Anstoß zur erneuten Beschäftigung Bechers mit Heinrich Heine ging vom sowjetischen Kulturleben aus. Anläßlich des 140. Geburtstages Heines kündigte z. B. die Verlagsgenossenschaft für Ausländische Arbeiter (VEGAAR) in Moskau für 1937/38 eine vierbändige Subskriptionsausgabe seiner Werke in deutscher Sprache an. Der Beitrag Bechers in der Deutschen Zentral-Zeitung Aus Heines Vermächtnis93 ist kurz, aber für die Art des Becherschen Traditionsbezugs in dieser Phase typisch. Die Art und Weise seiner Erberezeption wird davon bestimmt, wie das jeweilige dichterische Werk oder die Dichterpersönlichkeit den „Prozeß der Selbstverständigung" erleichtern. Es ist aufschlußreich, daß Becher das „Vermächtnis Heines" vor allem von der Persönlichkeit des Dichters her entwickelt, weniger von dessen literarischem Werk oder ästhetischen Prinzipien. Gerade in dieser Zeit festigt sich bei ihm die Überzeugung, daß die Persönlichkeit des Dichters ausschlaggebend für die Qualität einer Literatur sei. Über die Ursachen der anhaltenden Wirkung des Heineschen Werkes schrieb er: Heine war solch ein allumfassender, menschlicher Dichter und vermochte dadurch bis heute mit seinem Werk nicht nur Teile des Menschen, sondern den g a n z e n M e n s c h e n zu ergreifen. Er bezeichnete Heine als einen „Vor45
kämpfer für die Wiedergeburt einer großen deutschen Dichtung", der diesen Kampf unter den schwersten Bedingungen der Emigration aufgenommen habe. In der Anwendung des Begriffs „politischer Dichter" auf Heine zeichnet «ich ein neues Verständnis bei Becher ab. „Der politische Dichter beschränkte sich für Heine nicht auf Teilgebiete des Lebens, nichts Lebenswichtiges schied er aus oder vernachlässigte es, er umfaßte das ganze Leben . . ," 94 Die so verstandene politische Dichtung polemisierte gegen eine verengte Auffassung von der politischen Funktion der Kunst, wandte sich gegen „jede lebensfremde klassizistische Erstarrung, wie auch gegen jene banalen Verenger, die der Poesie ausschließlich eine direkte, augenblicklich berechenbare Funktion zuerkennen wollen" 95 . Diese Überlegungen lassen erkennen, wie Becher sich in dieser Phase um eine differenziertere Auffassung von der Funktion der Kunst bemühte. Horst Haase hat in größerem Zusammenhang darauf hingewiesen: „War sie (die Kunst - S. B.) bisher ausschließlich als Waffe im Klassenkampf betrachtet worden, so erkannte Becher jetzt, daß sich ihre Rolle darin nicht erschöpft; jedenfalls nicht in dem Sinne, wie bisher der Klassenkampf von ihm aufgefaßt worden war, nämlich vor allem in seinen unmittelbar politischen Formen. Die Kunst wurde ihm jetzt im umfassendsten Sinn ein Instrument, das den ganzen Menschen zu erfassen und umzugestalten vermag, das ihn nicht nur von einer Seite her, der politisch-öffentlichen, angreift, sondern ihn in allen Sphären seines Denkens und Fühlens berührt." 96 Diese Erkenntnis führte dann allerdings bei Becher zeitweilig dazu, in undialektischer Weise politische Dichtung (mit ihren didaktischen und agitatorischen Formen) als „Spezialität und Routine" und Dichtung, die „Durchdringung und Aneignung des gesamten Lebensprozesses" umfasse, gegenüberzustellen. 97 D a ß es auch in der sowjetischen Diskussion ähnliche Tendenzen gab, erwies sich in dem seit dem Minsker Plenum ausgetragenen Streit um die sowjetische politische Lyrik. J. Usijewitsch hatte 1937 in einem Artikel auf die in der Literaturkritik vorherrschende problematische Praxis aufmerksam gemacht, die Lyrik in zwei Richtungen einzuteilen: eine „grash46
danskoje" (gesellschaftliche) und eine „lyrische". Die erste arbeite mit einseitig publizistischen Mitteln, die andere mit ebenso einseitigen „intimen" Versen. Usijewitsch signalisierte das Fehlen von wissenschaftlichen Kriterien zur Einschätzung der Lyrik. Weder die ästhetische Absage an die „Agitka" noch der Vorwurf des „Apolitischen", der gegen bedeutende Lyriker erhoben wurde, reiche aus, die wirklichen Literaturprozesse, in denen die beiden angeblichen Richtungen einander durchdrangen, zu begreifen und einzuschätzen.98 Becher hatte 1934, in direkter Widmung und thematischer wie gestalterischer Anlehnung an Heine, sein Versepos Deutschland. Ein Lied vom Köpferollen und von den „nützlichen Gliederngeschrieben. Ihm war damit seine erste große Zeitgeschichtsbilanz gelungen. Daß solche produktiven Formen der Erbeaneignung jetzt in den Hintergrund traten, ist mit der bei ihm in dieser Zeit vorherrschenden lyrik-ästhetischen Orientierung auf die Hochklassik zu erklären. 100 Ein drittes Beispiel da^ür, wie in dieser Phase die literarische Erbeaneignung vorrangig über die Persönlichkeit des Dichters erfolgt, sind Bechers Aufsätze über Gorki. Schon vor 1934 gab es neben sporadischen Bemerkungen über den Dichter eine Fülle von Zeugnissen, die eine intensive Beschäftigung mit dem Werk Gorkis belegen. So hat z. B. Edgar Weiss für die Periode vor 1934 an einem umfangreichen Material im Detail nachgewiesen, daß sich „die Entwicklung der literaturtheoretischen Auffassungen Bechers in Richtung auf eine sozialistisch-realistische Konzeption unter dem fördernden Einfluß Gorkis vollzog" 101 . Auch die stärkere Zuwendung zur Publizistik schreibt Weiss überzeugend dem Einfluß der publizistischen Arbeiten Gorkis zu. Der Tod Gorkis 1936 war Anlaß für Becher, sich über den „großen Charakter", die „wahre und echte Größe" Gorkis zu verständigen. Die Ursachen findet Becher darin, daß Gorki „eins war mit seinem Werk". „Diese Persönlichkeit wuchs gerade deshalb so tief und breit, weil ihre Wurzeln in den besten und gesündesten Boden eingelassen waren: in den Boden seiner Klasse . . ." 102 Ein Jahr später stellt Becher, ausgehend davon, daß die Erfüllung des Vermächtnisses des großen Humanisten eine Lebensfrage für die Entwicklung unserer Lite47
ratur sei, einen direkten Bezug zwischen dem wiederentdeckten klassischen literarischen Erbe und der Klassizität Gorkis her. Dessen Werk wird als „realistisch-zeitgenössische Vervollkommnung des klassischen Ideals" (einer universellen und harmonischen Persönlichkeit) bezeichnet. Daraus leitet Becher ab, daß Gorki uns „unter allen Klassikern am nächsten steht, ist er doch ein Klassiker unserer Zeit, in ihm hat die Übereinstimmung von Literatur und Politik ihren besten Ausdruck gefunden". 103 * Bemerkenswert an diesem Aufsatz ist - wie die sowjetische Literaturwissenschaftlerin L. M. Jurewa betont die Art und Weise der Anwendung des Gorkischen literaturprogrammatischen Erbes auf die aktuellen Aufgaben der deutschen antifaschistischen Literatur. 104 Becher zitiert längere Passagen aus der letzten theoretischen Arbeit Gorkis Über Formalismus (Frühjahr 1936) zum Problem demokratischer Literaturdiskussionen und einer schöpferischen Literaturkritik. Die von Gorki aus der Analyse der sowjetliterarischen Öffentlichkeit gezogenen Lehren, eine „grundsätzliche Diskussion zu führen, die Niveau habe und nicht mit Unbeweisbarem, Unkontrollierbarem oder gar hinterhältigen Anwürfen operiere" 1 0 5 , waren auch für die Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Exilliteratur anwendbar. Die Notwendigkeit einer sachlichen und konstruktiven Diskussion erwies sich sehr bald in den in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre beginnenden großen Exildebatten um Realismus, Traditionsverständnis und Profil der antifaschistischen Literatur. Es war bereits darauf hingewiesen worden, daß es für die sozialistische Literatur unerläßlich war, sich neben der kritischen Aneignung des klassischen humanistischen Kulturerbes auch ein neues Verhältnis zu den jüngsten literarischen Bewegungen und Traditionen, z. B. zum kritisch-bürgerlichen Realismus, wie er sich im Schaffen Heinrich Manns repräsentierte, zu erarbeiten. In seiner Kongreßrede 1934 hatte Becher Heinrich Mann, „der die Feder des Romanciers mit der des politischen Streiters vertauscht habe", „tiefes Verständnis für die Grundkräfte unserer Epoche" 1 0 6 bescheinigt. Zugleich kritisierte er, daß Heinrich Mann auch manches Wort gegen den Kommunismus gesagt habe. Auch Feuchtwanger habe zwar von der proletarischen Revolution gesprochen, schrecke jedoch 48
vor ihr zurück, sowie auch Heinrich Mann noch Furcht habe vor den Gewalten dieser Revolution, obwohl allein durch sie das Joch der Despotie gebrochen werden könne und sie allein der Zukunft den Weg bahne. 1 0 7 Becher bezeichnete klar die weltanschaulichen Unterschiede, aber als wichtiger betonte er zu jener Zeit die Gemeinsamkeiten für das „große Kampfbündnis". Für die Einigung und Sammlung der antifaschistischen Schriftsteller gewann in diesem Zusammenhang die geschichtliche Perspektive und das Ziel der Volksfrontbewegung an Bedeutung. Auf der Brüsseler Konferenz der K P D 1935 war diese Frage erörtert und 1937 in dem Entwurf zu einer Plattform der deutschen Volksfront mit der Losung der demokratischen Republik beantwortet worden. 1 0 8 Daß es sich dabei nicht um den generellen Verzicht auf das Errichten einer proletarischen Diktatur handelte, sondern um eine Entscheidung, der eine realistische Einschätzung des derzeitigen Bewußtseinsstandes der Klassenkräfte zugrunde lag, erläuterte Wilhelm Pieck 1937: „Wenn die Kommunisten in ihrem Entwurf einer Plattform zur Schaffung der Volksfront die Losung der demokratischen Republik und nicht die Losung der proletarischen Diktatur aufstellten, so berücksichtigten sie dabei, daß zur siegreichen Durchführung des Kampfes für den Sturz des Hitlerfaschismus nicht nur die Arbeiter, sondern auch der Mittelstand und die Bauernschaft und alle diejenigen notwendig sind, die sich von dem barbarischen Faschismus befreien wollen . . . Es wäre ein Selbstbetrug, anzunehmen, daß die Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse, der Mittelstand und die Bauernschaft schon bereit wären, für die Sowjetmacht zu kämpfen. Dafür müssen sie erst noch gewonnen werden". 1 0 9 Das Durchsetzen dieser politischen Linie auf literaturpolitisch-praktischem Gebiet erforderte auch von den sozialistischen Schriftstellern ein kritisches Umdenken. Im Jahre 1937 zeichnet sich eine neue Qualität in der Zusammenarbeit zwischen marxistischen Literaturkritikern und bürgerlich-humanistischen Schriftstellern im antifaschistischen Kampf ab: „Sie überprüften ihre politischen und ästhetischen Konzeptionen. Das Bechersche Sonett ,Die Brüder' wirkte repräsentativ für das besser werdende Verhältnis zwischen bürgerlichen Schriftstellern und marxistischen Kritikern". 1 1 0 4
Barck
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Über Thomas und Heinrich Mann heißt es in diesem Sonett: Er (Thomas Mann - S. ©.) zögert manchmal, wenn er rückwärts schaut. Er möchte das Vergangne nicht verlieren. Viel 'Großes ist von dort ihm anvertraut. Er soll es in die Zukunft überführen. Der Bruder aber hat es schon gewagt. Er will sich ganz der Zukunft anvertrauen. Er wird zum Bild, von Tausenden befragt. Er ruft die Völker auf aus ihrem Grauen. 1 1 1 Ein Ausdruck dieser Entwicklung ist auch eine Prosaarbeit Bechers über Heinrich Mann, der bekanntlich seit 1936 Vorsitzender des Ausschusses zur Schaffung einer deutschen Volksfront war und dort eine von Dimitroff und dem Z K der K P D außerordentlich hoch geschätzte Arbeit leistete. Es handelt sich um das 1937 geschriebene Vorwort zur russischen Ausgabe des Romans Der Kopf. Becher ordnet das Werk in die historische Entwicklung des deutschen bürgerlichen Romans ein, der sich dadurch auszeichne, daß er in hohem Maße an den „gesellschaftlichen Konflikten" vorbeiging. Heinrich Mann habe seit Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit an dem „großen deutschen Roman" gearbeitet in dem Bewußtsein, daß „ein großer Romancier in unserer Zeit ein scharfer Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft sein muß" 112 . Obwohl er zeitweilig seinen Stil manieriere und die Menschen sich unter seinen Händen in Schemen verwandeln, werden „große soziale Probleme gestellt und die bürgerliche Wirklichkeit zornig attackiert". In diesem Bemühen komme der Trilogie Das Kaiserreich der erste Platz zu. Die Armen wertete Becher als das schwächste Glied dieser Trilogie, weil „die Realität der Arbeiterbewegung" sich nicht verkörpere, „naive Abstraktheit" vorherrsche. Becher zitiert eine längere kritische Selbstaussage Heinrich Manns über Den Kopf und fügt hinzu, daß vor allem auch „die Hoffnungslosigkeit und der Mystizismus" des Romans kritikwürdig seien. Der Roman ist für Becher Zeugnis eines langen beschwerlichen Weges, der vom Autor an einem wichtigen Abschnitt der Geschichte Deutschlands durchlaufen 50
werde. „Der Heinrich Mann des heutigen Tages unterscheidet sich deutlich von dem des gestrigen und vorgestrigen." Becher bringt als Zitat eine längere Äußerung Heinrich Manns über das Wirkungsproblem der antifaschistischen Literatur und ihrer Helden. Heinrich Mann hatte auf seinen 1936 in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) veröffentlichten Gedenkartikel über den ermordeten Arbeiter Rudolf Claus eine Resonanz aus Deutschland bekommen: „ . . . deutsche Widerstandskämpfer schrieben mir einen Brief, der mich auf dunklen Wegen erreichte und der als erstes gereinigt werden mußte. Ich erfuhr, d a ß Tausende deutsche Arbeiter über mich und besonders über meine Worte, die ich dem rühmenden Gedenken Rudolf Claus' gewidmet hatte, informiert waren. Ich bin glücklich, daß es heute Deutsche gibt, die man als wirkliche Helden bezeichnen kann. Ich habe niemals zuvor solch ein Gefühl gekannt. Über diese Helden zu schreiben, ist eine heilige Verpflichtung, eine Ehrensache". 113 * Diese Erkenntnis korrespondiert direkt mit der schon an anderer Stelle beschriebenen Dimitroffschen Aufgabenstellung für die antifaschistische Literatur: die Gestaltung von proletarischen Heldenschicksalen. Sie weist zumindest im Programm die große Nähe von Heinrich Manns Position dazu aus. Hervorzuheben an Bechers Einschätzung ist weiterhin, daß er die Romane und die Publizistik Heinrich Manns als Einheit begriff - im Unterschied etwa zu Georg Lukäcs, der diese dialektische Einheit, ein vorrangiges Charakteristikum der deutschen antifaschistischen Literatur, nicht erkannte und sie in „politische Kampfprosa" einerseits und „Dichterisches" andererseits auflöste. 114
Das Prinzip der Organisiertheit der sozialistischen Literaturbewegung Eine wichtige Aufgabe im politischen Kampf um die antifaschistische Volksfront war der organisatorische Zusammenschluß aller Faschismusgegner, die Schaffung von geeigneten Gremien und Zirkeln, in denen praktisch wie theoretisch für die Volksfront gearbeitet werden konnte. Sie stand auch vor allen deutschen emigrierten Schriftstellern. Die Wiedergrün4*
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dung des SDS in Paris, die Gründung der Internationalen Schriftstellerassoziation zur Verteidigung der Kultur, die Gründung der Deutschen Freiheitsbibliothek waren solche koordinierenden Organisationsformen. Die größten Erfahrungen bei der organisierten Tätigkeit einer literarischen Bewegung hatten ohne Zweifel die s o z i a l i s t i s c h e n Literaturen in den verschiedenen Ländern gesammelt. In diesem Prozeß hatte die internationale revolutionäre Literaturbewegung mit ihren Organisationsformen, dem Internationalen Büro revolutionärer Schriftsteller (IBRS) und ab 1930 der IVRS die wichtigste Rolle gespielt. 115 Der BPRS, die deutsche Sektion der IVRS, stellte mit den kommunistischen Schriftstellern im Zentrum das wichtigste Instrument für die Herausbildung der proletarisch-revolutionären Literatur in Deutschland dar. 116 Als Teil der IVRS war die Entwicklung des BPRS von der Anwendung des Leninschen Prinzips der Parteiliteratur bestimmt gewesen. Die intensive Erarbeitung des Gehalts von Lenins Schrift Parteiorganisation und Parteiliteratur (1905) vollzog sich in verschiedenen Etappen. Es ist das Verdienst des sowjetischen Literaturwissenschaftlers Stanislaw Roshnowski, diesen Prozeß im einzelnen untersucht zu haben. 117 Eine zentrale Frage war dabei die konkrete Verwirklichung der Leninschen Forderung: „Die literarische Betätigung muß ein Bestandteil der o r g a n i s i e r t e n , planmäßigen, vereinigten sozialdemokratischen Parteiarbeit werden". 118 Die Theorie der Organisation war von Lenin als ein Kernstück seiner Revolutionstheorie entwikkelt worden, ihre Bedeutung erstreckte sich auch auf das Gebiet der Kulturrevolution. Die Erkenntnis von der Organisation als dem entscheidenden Bindeglied zwischen revolutionärer Theorie und gesellschaftlicher Praxis lag den internationalistischen Bemühungen um die Organisierung der revolutionären Literaturen zugrunde. Es ist deshalb nur gesetzmäßig, wenn sich bis heute die Angriffe bürgerlicher Theoretiker auf das Prinzip der Parteilichkeit und der Organisiertheit in der sozialistischen Literatur konzentrieren. Was von ihnen als vulgäre Abwertung der Literatur und Kunst, als deren Unterordnung unter die Belange der Politik interpretiert wurde, stellte gerade die neue Qualität der sozialistischen Literatur 52
gegenüber den „krämerhaften" bürgerlichen Literaturverhältnissen dar. 119 Kollektivität und Organisiertheit, funktionaler Zusammenhang von literarischer Produktion, Verbreitung und Rezeption kennzeichnen die sozialistischen Literaturverhältnisse. Sie können sich selbstverständlich unter herrschenden bürgerlichen Literaturverhältnissen nur begrenzt verwirklichen. So war z, B. die Arbeit des BPRS und anderer Kulturorganisationen der deutschen Arbeiterklasse in der Weimarer Republik ständig gestört und den vielfältigsten Behinderungen und Verboten ausgesetzt gewesen. Ihre Tätigkeit wurde von der Klassenjustiz verfolgt. Die von der Arbeiterklasse und ihren Verbündeten geschaffenen Organisationen sowie ihre Presseorgane bildeten ein mächtiges Gegengewicht zu den bürgerlichen Kulturinstitutionen. Die Errichtung der faschistischen Diktatur bedeutete nicht nur Verbot der politischen Parteien, sondern auch der proletarischen Kulturorganisationen und der Arbeiterpresse. Dabei konnte der BPRS trotz Terror noch bis 1935 in Deutschland tätig sein und die illegale Zeitschrift Stich und Hieb herausbringen. Die vom Naziterror erzwungene Emigration beendete zunächst auch die Existenz aller bisherigen Organisationen vom BPRS war schon die Rede - der revolutionären deutschen Schriftsteller. Damit waren zwar die Formen, aber nicht das Prinzip der Organisiertheit in Frage gestellt. Die in der KPD organisierten kommunistischen Schriftsteller beschlossen in ihren Parteiaktiven, Möglichkeiten für neue Organisationsformen zu suchen und zu verwirklichen. Dabei kam es im Sinne der Einheits- und Volksfrontpolitik darauf an, Formen zu finden, die das antifaschistische Bündnis der Schriftsteller auch organisatorisch zu festigen vermochten. In den einzelnen Exilländern wurde entsprechend den jeweiligen bestehenden Möglichkeiten verfahren. Im folgenden einige Bemerkungen zur organisatorischen Tätigkeit der in der Sowjetunion lebenden Schriftsteller. Es wurde schon an anderer Stelle ausgeführt, daß auf dem Pariser Schriftstellerkongreß 1935 eine Internationale Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der Kultur begründet wurde, die auf neuer Stufe und in weiterem Rahmen an die Erfahrungen der IVRS anknüpfen konnte. Bereits auf dem 53
I. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller 1934 hatte Sergej Tretjakow, Sekretariatsmitglied der I V R S und repräsentativer Mittler zwischen der sowjetischen und der progressiven westeuropäischen Literatur 1 2 0 * die Frage gestellt, ob die I V R S mit ihrer Vereinigung r e v o l u t i o n ä r e r Schriftsteller nicht einen zu engen Rahmen setze: „Baut das nicht eine Schranke auf vor jenen Schriftstellern, die zu uns kommen, ein großes künstlerisches und allgemeines Gewicht haben, die sich dabei aber auf den unangenehmen Rang eines bloßen Mitläufers plaziert fühlen . . . E s kommt vor, daß ein Schriftsteller bei seinen Vorurteilen zweifelt, ob er wirklich diese Bezeichnung für sich in Anspruch nehmen darf - und trotzdem ist er gleichzeitig ein Antifaschist und somit unser Verbündeter im Kampf. Folglich muß unsere internationale Arbeit auf der Losung basieren: Kampf mit dem allgemeinen Feind - Kampf gegen den Faschismus. Im Namen der Ideen echter Menschlichkeit, deren einziger Träger und Verfechter das Proletariat ist". 1 2 1 Durch die weitere Entwicklung wurden Tretjakows Zweifel bestätigt; in einem Brief vom 22. Dezember 1935 teilte er seinem Freund Oskar Maria Graf als Neuheit die Liquidierung der I V S R mit und bezeichnet dies, nach der Organisierung der neuen Vereinigung auf dem Pariser Kongreß, als „natürlichen Schritt" 1 2 2 . In einem Brief vom 25. Dezember 1935 weist er Graf dazu erläuternd auf den Umstand hin, daß die Funktionen der internationalen Schriftstellerverbindungen nach dem Pariser Kongreß zur Assoziation zur Verteidigung der Kultur übergegangen sind. 1 2 3 * Damit waren auch die B e fürchtungen Bechers, die er als Sekretariatsmitglied der I V R S geäußert hätte, d a ß die Auflösung der I V R S noch vor der Neugründung einer anderen sie ersetzenden Institution erfolgen könnte, gegenstandslos geworden. 1 2 4 Als Becher und eine Vielzahl sozialistischer Schriftsteller verschiedener Länder in das Sekretariat der Internationalen Vereinigung der Schriftsteller zur Verteidigung der Kultur gewählt wurden, zeigte sich in dieser hohen Repräsentanz der sozialistischen Schriftsteller die allgemeine Anerkennung ihrer Arbeit in der I V R S und die angestrebte Kontinuität der B e mühungen beider Vereinigungen. Über das organisatorische Leben der neuen Vereinigung ist - sieht man von der Kon54
greßbewegung ab - wenig bekannt 125 , sicher scheint nur, daß sie die Tradition der IVRS, in Ländersektionen zu arbeiten, fortsetzte. 126 Wie sahen nun die Organisationsformen der in die Sowjetunion emigrierten Schriftsteller aus? Am 2. April 1933, kurz nach seiner Flucht aus dem faschistischen Deutschland, referierte Becher auf einer Versammlung der deutschen Schriftsteller in Moskau über das Arbeitsprogramm der hier lebenden deutschen Schriftsteller. Er schlug u. a. die Bildung von Arbeitsgemeinschaften vor. Die Versammlung folgte seinem Vorschlag und beschloß zunächst die Gründung von drei Arbeitsgemeinschaften: für Lyrik und Experimentalf orm (Leitung: Johannes R. Becher), für erzählende Prosa (Leitung: Andor Gabor), für Theorie und Kritik (Leitung: Hans Günther). Mit dieser Organisationsform konnte an die besten Erfahrungen des BPRS angelknüpft werden, hier wurden die politischen und künstlerischen Aufgaben diskutiert und beraten. Am 14. Juni 1933 konstituierte sich die Moskauer Ortsgruppe des in Deutschland verbotenen BPRS/IVRS. Die Deutsche Zentral-Zeitung, das Organ der deutschen Werktätigen in der UdSSR, berichtete in einer ständigen Rubrik Deutsche Schriftsteller, Ortsgruppe Moskau und später Deutsche Schriftsteller des Sowjetverband.es bzw. Deutsche Sektion des Unionsverbandes der Sowjetschriftsteller regelmäßig von Veranstaltungen, Diskussionen und Vorhaben der Arbeitsgemeinschaften sowie vom sonstigen Verbandsleben. Die Spannweite der Aktivitäten reichte dabei - um nur einige wenige zu nennen - von deutschen Leserkonferenzen in Moskauer Großbetrieben bis zu Diskussionen über bürgerlichen und proletarischen Humanismus, über die Novellen von Ernst Ottwalt oder einen Vortrag Alfred Kurellas über Nietzsche. Es fanden Debatten über Bredels Vortrag Detailschilderung bei Zola und Fallada und Paul Reimanns Referat Methoden zur Erforschung des Erbes statt. 127 Neben dieser engeren Verbandsarbeit gab es ein umfangreiches Tätigkeitsfeld in der sowjetischen Öffentlichkeit. Dazu gehörten der Klub der Werktätigen „Ernst Thälmann" sowie die Bibliothek für ausländische Literatur, die Lesungen und Diskussionen veranstaltete. In dem 2000 Mitglieder umfassenden Klub der Werktätigen 55
„Emst Thälmann" waren alle in Moskau lebenden Deutschen organisiert. Hier fanden politische Diskussionen und gesellschaftliche Zusammenkünfte statt. Die Deutsche Zentral-Zeitung berichtete am 2. Februar 1937 von einer im Klub veranstalteten Kundgebung der deutschen Arbeiter und Spezialisten, auf der Wilhelm Pieck und Wilhelm Florin zum Thema Vier ]ahre Kampf gegen die faschistische Diktatur gesprochen hatten. W. Pieck hatte in seiner Rede u. a. die in Moskau arbeitenden deutschen Genossen darauf hingewiesen, daß sie nicht weitab von der Kampffront ständen und daß es deshalb wichtig sei, die Klubarbeit noch besser auszubauen. 128 Die deutschen Schriftsteller nahmen die ihnen dabei zufallenden Aufgaben sehr ernst, wie die folgende Aufzählung, die nur einen Teil ihrer Arbeit erfaßt, zeigt. Im Klub wurden zwei Literaturzinkel gegründet, die sich mit literarischen Werken wie Die Räuber, Kabale und Liebe, Don Carlos und Dichtern wie Heine und Büchner beschäftigten. (Leitung: Fritz Erpenbeck und Franz Leschnitzer). Als ständiger Bestandteil der Klubarbeit wurde eine Diskussions- und Vortragsreihe über die antifaschistische Literatur und ihre Neuerscheinungen eingerichtet. Hier lasen z. B. Willi Bredel aus seinem noch unveröffentlichten Buch Dein unbekannter Bruder (29. März 1937), Erich Weinert zu Ehren Ernst Thälmanns (17. April 1937), Hedda Zinner aus Reise durch den Kaukasus (17. Juni 1937), Friedrich Wolf aus Veter kehrt heim (25. April 1937), Hugo Huppert aus Moskau (27. Mai 1937). Außerdem fanden eine Reihe von Gedenk- und Gedächtnisveranstaltungen und Vorträge statt. So referierte Georg Lukäos über Georg Büchner und Ludwig Börne (24. März 1937) und über die Entwicklung der Sowjetliteratur (28. Oktober 1937), Erich Weinert sprach über Eugène Pottier und las Verse von ihm (23. April 1937). 129 * Zu ihrer Tätigkeit, die viel Zeit und Kraft neben der schriftstellerischen Arbeit in Anspruch nahm, gehörte auch die Mitgestaltung der Deutschen Zentral-Zeitung, die sich ähnlich wie Der Kämpfer, das Organ der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen, um ein höheres Niveau im Gebrauch der deutschen Literatursprache bemühte. 56
Am 10. Februar 1938 erschien in der Deutschen ZentralZeitung ein Artikel von Karl Stürmer über Die Deutsche Sektion des Schriftstellerverbandes, so wie sie ist™. Darin übt der Autor in Auswertung eines in der Prawda abgedruckten Briefes über die unzulässige Arbeit des Sowjetischen Schriftstellerverbandes scharfe Kritik an der Tätigkeit der Deutschen Sektion und ihrer leitenden Körperschaft, der Deutschen Kommission. Die von Stürmer vorgebrachten Einwände, mangelnde kollektive Arbeit, geringe Mitarbeit an den in Moskau erscheinenden deutschsprachigen Literaturzeitschriften, das Fehlen systematischer Diskussionen und kontinuierlicher Zusammenkünfte, resultierten nicht aus der konkreten Kenntnis der Problematik. So konnte in der Antwort der Deutschen Sektion bereits am 17. Februar 1938 festgestellt werden, daß der Artikel auf ungenügenden Informationen beruhe und nicht geeignet sei, ein richtiges Bild von der Tätigkeit der in der Sowjetunion lebenden deutschen antifaschistischen Schriftsteller zu geben. 131 Auch die Redaktion der Deutschen Zentral-Zeitung mußte in einer Anmerkung mit Bedauern feststellen, daß der Artikel von Stürmer nicht den tatsächlichen Verhältnissen entspräche und daß von den Schriftstellern neben ihrer schöpferischen Arbeit eine umfangreiche gesellschaftliche Aktivität entfaltet werde. Diese Debatte stand in direktem Zusammenhang mit der gleichzeitig geführten Diskussion um die Arbeit des Sowjetischen Schriftstellerverbandes, die durch den schon erwähnten Brief in der Prawda vom 26. Januar 1938 ausgelöst worden war. Der Brief Über Mängel in der Arbeit des Sowjetischen Schriftstellerverbandes war von einer Reihe führender sowjetischer Schriftsteller mit Alexej Tolstoi an der Spitze unterschrieben. Dort hieß es u. a.: „Der sowjetische Schriftsteller kann nicht schweigend zusehen, wie sich die Organisation, die eine schöpferische Vereinigung der Kunstarbeiter sein sollte, bürokratisiert . . ," 132 Auch im Literaturny kritik wurde wiederholt dazu Stellung genommen. In redaktionellen Kommentaren der Hefte 2/3 und 4 des Jahres 1938 ging es insbesondere um folgende Probleme: Die Organisation und die Methoden des Sowjetischen Schriftstellerverbandes seien administrativ und bürokratisch, es herrsche ein antidemokra57
tischer Arbeitsstil, der Verband sei infolge der schlechten Arbeit seiner Leitung zum Hindernis für die Entwicklung der Sowjetliteratur geworden, er ha'be weder eine Verbindung zu den Schriftstellern noch zur Kritik oder zu den Lesern. 133 Diese Diskussionen waren es sicher, die die deutschen Schriftsteller veranlaßten, auch ihre Verbandsarbeit zu überprüfen. Über die Tätigkeit der Deutschen Sektion liegen uns neben Briefwechsel und statistischem Material drei wichtige Dokumente vor: der Rechenschaftsbericht für die Jahre 1938 und 1939 sowie das Protokoll einer Plenartagung vom März 1940. Die genannten Dokumente sind im Zentralen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (Moskau) nur in russischer Sprache erhalten 134 * (Übersetzung s. Anhang). Die Deutsche Sektion unterstand der Auslandskommission des Sowjetischen Schriftstellerverbandes, die von Kolzow und Tretjakow, später von Apletin geleitet wurde. Der Rechenschaftsbericht des Jahres 1938 belegt, daß im März dieses Jahres eine „Reorganisierung der Deutschen Sektion" durchgeführt und ein Büro aus fünf Mitgliedern gewählt wurde (Becher [Präsident], Georg Lukäcs, Adam Scharrer, Fritz Erpenbeck, Olga Halpern-Gäbor [Sekretär]). In diesem Zusammenhang wird von der notwendigen Umgestaltung und Aktivierung der gesamten Arbeit gesprochen. Der Bericht vermittelt ein lebendiges Bild vom Leben der deutschen Schriftstelleremigranten, ihrer Schaffensprobleme und ihrer gesellschaftlichen Arbeit. Zu erfahren ist, daß in einer Serie von literarischen Abenden, „die eine große Bedeutung für die antifaschistische Literatur hatten", z. B. über den Expressionismus (Vortragender: Alfred Kurella) gesprochen wurde, daß es Vorträge von Georg Lukäcs über Die klassische Form des historischen Romans und Das marxistisch-leninistische Herangehen an das Kulturerbe sowie von Bela Baläzs über Das Szenarium gab. Auch der Rechenschaftsbericht für 1939 weist eine vielseitige Tätigkeit der deutschen Schriftsteller aus. Dort werden auch die besonderen Arbeitsprobleme deutlich, wie sie sich nach dem im August abgeschlossenen Nichtangriffspakt mit Deutschland stellten. Es galt Formen antifaschistischer Tätigkeit zu finden, die den Vereinbarungen 58
dieses Vertrages nicht widersprachen. Der „verantwortungsschwere Beschluß über einen Nichtangriffspakt mit Deutschland" war von der Sowjetunion gefaßt worden, als „alle anderen Möglichkeiten zur Gewährleistung der Sicherheit der UdSSR erschöpft waren . . . Die Sowjetunion gewann durch den Vertrag einige Zeit, sich auf die Verteidigung vorzubereiten und entging der Gefahr eines Zweifrontenkrieges in einer für sie äußerst ungünstigen Situation". 135 Es ging also nicht, wie von antisowjetischer Seite gerne behauptet wird, um ein Abgehen vom Kampf gegen den Faschismus, sondern um vorübergehend andere Kampfformen und Kampfebenen. Im Rechenschaftsbericht wird die besonders intensive Arbeit der Sektion seit August 1939 betont, als sich eine Neuorientierung der literarischen Tätigkeit notwendig machte. In dieser für die deutschen Schriftsteller komplizierten Situation bewährte sich die Zusammenarbeit mit dem Sowjetischen Schriftstellerverband. Mit seiner Hilfe konnten neue Stoffe in Angriff genommen werden, langfristige Verträge sicherten die materielle Existenz. Die Übersetzungstätigkeit wurde jetzt intensiviert und sie wurde von Diskussionen über theoretische und praktische Fragen der Übersetzungsmethodik begleitet. In dem Protokoll von 1940 wird von Becher gerade die umfangreiche Übersetzertätigkeit als politisch und kulturell bedeutungsvoll eingeschätzt. Eines der wichtigsten Resultate dieser Arbeiten war die unter der Leitung von Alfred Kurella entstandene Übersetzung der Werke Taras Schewtschenkos. Schon bestehende Beziehungen zum sowjetischen Film wurden gefestigt, die Erarbeitung von Filmszenarien für sowjetische Verfilmungen wurde zu einer wichtigen Aufgabe. Insbesondere Friedrich Wolf war hier erfolgreich, nach seinen Szenarien wurden Professor Mamlock (1938) sowie Der Kampf geht weiter (1939) von sowjetischen Filmschaffenden produziert. Zu den wichtigsten Arbeiten der deutschen antifaschistischen Schriftsteller und damit zum Verantwortungsbereich der Deutschen Sektion gehörte die ständige Mitarbeit an den in der Sowjetunion erscheinenden deutschsprachigen Presse59
organcn. Das waren neben der Tageszeitung Deutsche Zentral-Zeitung, die Internationale Literatur, Das Wort (Moskau), Der Kämpfer (Engels) sowie Sturmschritt (Charkow). Mit der Internationalen Literatur war Becher nicht nur als Autor verbunden; er wirkte auch ein Jahrzehnt als ihr Chefredakteur. Als Folge des schon mehrfach erwähnten Beschlusses des ZK 'der KPdSU von 1932 war die Zeitschrift der IVRS, Literatur der Weltrevolution in Internationale Literatur umbenannt worden. 136 * Mit dieser Namensänderung verband sich eine Neuprofilierung der Zeitschrift, die auch darin ihren Ausdruck fand, daß die verschiedensprachigen Ausgaben eigene Länderredaktionen erhielten. Als Verantwortlicher für die deutsche Ausgabe war Ende 1932 im Auftrag der Agit-Prop-Abteilung beim ZK der KPD Hans Günther nach Moskau delegiert worden. Ab He,ft 3/1933 erscheint Becher im Impressum als verantwortlicher Redakteur der deutschen Ausgabe, Günther als sein Stellvertreter. Aus Bechers Reiseberichten von 1933 und 1934 geht hervor, daß er der Leitung der IVRS eine Reihe wichtiger Verbesserungsvorschläge für Verbreitung, Anlage und Gestaltung der Internationalen Literatur übergeben hatte. So wurde z. B. sein Vorschlag einer monatlichen Erscheinungsweise ab 1935 realisiert. Becher hatte im Zusammenhang mit der Gründung der Neuen Deutschen Blätter von der Rolle der Zeitschrift „als eines wichtigsten (!) O r g a n i s a t i o n s m o m e n t s der antifaschistischen Kräfte in der Literatur" 137 (Hervorhebung S. B.) gesprochen. Diese organisierende Seite der Zeitschriften trat im Exil stärker in den Vordergrund als vor 1933. Die Periodika waren neben den postalischen Verbindungen oft die einzige Artikulation«- und Kommunikationsmöglichkeit der geographisch weit voneinander entfernt lebenden Schriftsteller. In dem Maße, wie die faschistische Okkupations- und Expansionspolitik die Reisemöglichkeiten radikal einschränkte und unterband, wuchs die Bedeutung der Zeitschriften als Forum der Exilierten. Nach der Auflösung der IVRS gehörte die deutsche Ausgabe der Internationalen Literatur wie die anderen fremdsprachigen Ausgaben zum Verantwortungsbereich der Aus60
landskommission des Sowjetischen Schriftstellerverbandes, sie war dessen Organ. Das 1933 bestimmte Profil der Zeitschrift wurde beibehalten: E r s t e n s wurden in den fremdsprachigen Ausgaben vor allem Werke revolutionärer Schriftsteller des jeweiligen Landes sowie hervorragende Werke revolutionärer Schriftsteller anderer Länder gedruckt, z w e i t e n s stellte sich die Zeitschrift die Aufgabe, breite Kreise der Intelligenz in den kapitalistischen Ländern mit der Literatur, Kunst und Kultur der UdSSR bekanntzumachen, d r i t t e n s setzte sie sich kritisch mit reaktionärer und faschistischer Literatur auseinander. 138 Die zweite der genannten Aufgaben führte dazu, daß ein Drittel des Inhalts in a l l e n Länderausgaben gleich war. Das beschriebene Profil der Zeitschrift entsprach auch den beiden Adressaten: dem ausländischen und dem sowjetischen Leser. Das bestimmte den Charakter der Internationalen Literatur, machte deren Besonderheit aus, und dadurch unterschied sich die deutsche Ausgabe der Internationalen Literatur von vornherein von den deutschsprachigen Exilzeitschriften. Die Gemeinsamkeit mit den bedeutendsten von ihnen bestand darin, daß sie auf literarischem Gebiet die Politik der proletarischen Einheits- und antifaschistischen Volksfront vertrat. Ab Heft 1/1937 erschien die Zeitschrift unter dem Titel Internationale Literatur / Deutsche Blätter. Sie folgte damit einem Vorschlag von Egon Erwin Kisch aus Prag und betonte so die Beziehung zu den eingestellten Neuen deutschen Blättern.139* In einer redaktionellen Bemerkung zum neuen Untertitel hieß es u. a.: „International sind und bleiben unsere Deutschen Blätter ihrem Mitarbeiter- und Leserkreis nach, international auch durch die grundsätzlich angestrebte Weite ihres Horizonts, international endlich im Sinne der neuen Humanität, die getragen ist vom Lebens- und Friedenswillen der werktätigen Schichten aller Völker . . . Internationale Literatur / Deutsche Blätter machen die Mitarbeit von keinerlei Parteibekenntnis abhängig. Sie wollen einen Sammel- und Stützpunkt bilden für die literarischen Kräfte aller Richtungen, die gegen Faschismus, Krieg und Entmenschung die Waffe des gestalterischen, kritischen und theoretischen Schaffens ein61
setzen." 140 Eine Durchsicht der Jahrgänge erweist, daß dieses Programm eingelöst wurde. In welchem Grade und mit welchen Methoden dies geschah, hätte eine bis heute noch ausstehende und hier nicht zu leistende Analyse der Internationalen Literatur / Deutsche Blätter zu belegen. Sie könnte auch die Leistung Bechers als Chefredakteur dieser einzigen während des Zeitraums 1935 bis 1945 kontinuierlich erscheinenden deutschsprachigen Zeitschrift deutlicher machen. Eine der wichtigsten Exilzeitschriften, Das Wort, erschien ebenfalls in Moskau. Schon 1935 auf dem Pariser Kongreß war unter den Delegierten über die Notwendigkeit einer literaturkritischen Zeitschrift, die auf dem Boden der Volksfront möglichst viele Schriftsteller vereinen könnte, diskutiert worden. Erpenbeck schreibt dazu 1970 im Nachwort zum Reprint der Zeitschrift Das Wort: „Es dürfte übrigens kaum bekannt sein, daß der Gedanke, neben der thematisch und ideologisch deutlich umgrenzten Internationalen Literatur eine s p e z i f i s c h d e u t sche L i t e r a t u r z e i t s c h r i f t der V o l k s f r o n t herauszugeben, von Johannes R. Becher ausging und von ihm schon lange vor dem Pariser Schriftstellerkongreß mit A. Fadejew . . . eingehend diskutiert wurde". Weiter heißt es bei Erpenbeck, daß es sich bei der Internationalen Literatur um eine deutschsprachige Zeitschrift mit langjähriger marxistischrevolutionärer Tradition handelte: „Eine Doublette zu schaffen, wäre demnach sinnlos gewesen". 141 Dank maßgeblicher Unterstützung von Maxim Gonki, Michail Kolzow und Alexander Fadejew wurde im Februar 1936 die Genehmigung für die Herausgabe des Wortes erteilt. In dem Beschluß des Narkompros RSFSR (Volksbildungskommissariat) wird empfohlen, die literaturkritische Zeitschrift als Organ der Deutschen Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbandes, deren Vorsitzender Becher war, herauszugeben.142 Sie sollte alle im Exil lebenden deutschen Schriftsteller zusammenführen. In einem intensiven Briefwechsel mit den Emigranten in den verschiedensten Exilländern, der hauptsächlich von Willi Bredel, Johannes R. Becher, Fritz Erpenbeck, Maria Osten, Wieland Herzfelde von Moskau aus geführt wurde, rang man um die Spezifik der neuen Zeitschrift. Im Ergebnis dieser Verständi62
gungen wurde in der redaktionellen Vorbemerkung zu Heft 1/1938 die Konzeption der Zeitschrift so umrissen: „Mitarbeiten können alle Schriftsteller deutscher Sprache, deren Wort dem Dritten Reich nicht dient und die um Klarheit in der Front des kämpferischen Humanismus ringen". 143 Es gibt viele Belege dafür, wie hoch die Leistung und Funktion der beiden in Moskau erscheinenden Zeitschriften von den Emigrierten eingeschätzt wurde. 144 Eines der interessantesten Zeugnisse über Wechsel Verhältnis und Abgrenzung beider Zeitschriften ist ein Brief Willi Bredels an Fritz Erpenbeck vom 2. Februar 1938. Es heißt darin u. a.: „. . . unsere Hauptaufgabe ist die deutsche Literatur, deutsche Thematik . . . der Hauptakzent die antifaschistische Antikriegsrichtung. Faktisch nähert sich die IL mehr an uns an, als wir an sie. Der einzige Bereich, der uns zweifelsohne beiden eigen ist, ist die Literaturtheorie, weil hier die Probleme von internationaler Bedeutung sind. Jedoch erörtern wir diese Probleme vorwiegend an Beispielen aus der deutschen Literatur, während die IL sie vorwiegend aus dem Bereich der russischen und französischen Literatur wählt . . . Wir kennen keine Konkurrenzgefühle im negativen Sinne des Wortes, kein ,Wegschnappen' - im Gegenteil, wir schicken uns oft gegenseitig Artikel, die mehr für den einen oder anderen geeignet sind." 145 Die Konzeption des Wortes war antifaschistisch-demokratisch, es war ein „wahres Kind der Volksfront" 146 . Auch die Internationale Literatur / Deutsche Blätter arbeitete für die Volksfrontbewegung, hatte aber noch spezifische Aufgaben wahrzunehmen und konnte andere Akzente setzen.147 Die gemeinsame Kampffront gegen den Faschismus sprach jedoch dafür, daß die Internationale Literatur / Deutsche Blätter im Frühjahr 1939 das Erbe des Wortes antreten konnte. Die sowjetische Literaturwissenschaftlerin Soja Petrowa hat in der bisher einzigen Dissertation über Das Wort das Programm und die Leistung dieser Zeitschrift im Vergleich zu anderen Exilorganen untersucht. Dabei hat sie u. a. einer der beliebtesten antikommunistischen Spekulationen - die Interpretation der Einstellung des Wortes - den Boden entzogen. S. Petrowa beschreibt, wie durch die faschistische Okkupation Österreichs, des Sudeten-Gebiets und der Tschechoslowakei 63
die Auslieferung der Zeitschrift in diesen Gebieten unmöglich wurde, was einen schweren Schlag für die materielle Basis des Wortes bedeutete. Da es auch in einer Reihe anderer Länder Vertriebsschwierigkeiten gab, konnte nur noch mit den sowjetischen Subscribenten gerechnet werden. Unter diesen Umständen wandte sich die Leitung des Verlages „Das internationale Buch", wo Das Wort erschien, am 31. März 1939 an die Redaktion der Zeitschrift: „Nach gründlichem Studium der Möglichkeiten einer besseren Verbreitung der Zeitschrift ,Das Wort', besonders nach der Okkupation Österreichs und der Tschechoslowakei, und auch ihres Absatzes in anderen Ländern, muß der Verlag leider ernsthafte Zweifel über ihre Rentabilität äußern. Deshalb wird die Zeitschrift, beginnend mit der Nummer vier, mit der deutschen Ausgabe der .Internationalen Literatur' verschmolzen. Es versteht sich von selbst, daß die .Internationale Literatur' in entsprechendem Maße umgewandelt wird. Sie wird nicht nur die Verbindungen zum ständigen Autorenstab des .Wortes' halten, sondern sie zu erweitern suchen. Die materielle Basis der .Internationalen Literatur' wird verstärkt, der Honorarfonds des .Wortes' wird ihr überstellt. Die Manuskripte, die dem ,Wort' zur Veröffentlichung eingereicht wurden, werden der .Internationalen Literatur' übergeben."148 Mit diesem Dokument wird die Unhaltbarkeit der These über den Zusammenhang von der Einstellung der Zeitschrift und dem ein halbes Jahr später abgeschlossenen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, sowie über die angebliche Distanzierung von der Volksfrontpolitik, evident. Hinter solchen Thesen steht das Bestreben, die sowjetische Außenpolitik am Vorabend des Zweiten Weltkrieges zu diffamieren. Es hat sich in Moskau eine Reihe von Manusikriptlisten erhalten, die - von Becher quittiert - die Redaktionen gewechselt haben. Daß es bei der Verschmelzung beider Zeitschriften eine Menge praktischer Probleme zu lösen gab, die ideologische Konsequenzen zeitigen konnte, ist belegt durch einen Brief Bechers vom 13. Mai 1939 an Fadejew, den damaligen Sekretär des Sowjetischen Schriftstellerverbandes. Darin informiert Becher den sowjetischen Schriftsteller darüber, daß in der Angelegenheit der Überführung des Valuta64
fonds vom Wort zur Internationalen Literatur bisher leider nichts geschehen sei und entgegen den brieflichen Mitteilungen an Feuchtwanger, Brecht und Bredel als den Herausgebern selbst die noch für Heft vier des Wortes fest angenommenen Beiträge deshalb nicht honoriert werden konnten. Becher weist auf die daraus unter Umständen erwachsenden schwerwiegenden politischen Folgen hin: „Schon haben wir einige Briefe erhalten, die uns mehr oder weniger empört vorwerfen, daß wir unsere Verpflichtungen nioht einhalten. Insbesondere geraten wir deutschen Schriftsteller, die hier in Moskau sind, und die in der Redaktion tätigen Genossen ganz besonders in eine außerordentlich schwierige Situation, da man uns persönlich dafür verantwortlich maciht, daß wir diese Dinge nicht in Ordnung bringen. Selbstverständlich wird diese Konstellation von unseren Feinden aufs äußerste ausgenutzt, Mißtrauen und Zersetzung sind die Konsequenzen und es würde jahrelanger Arbeit bedürfen, um diese wieder gutzumachen."149 Hier handelte es sich um vereinzelte bürokratische Hemmnisse in der Zusammenarbeit mit dem Sowjetischen Schriftstellerverband, dessen Entwicklungsprobleme an anderer Stelle angedeutet wurden. Bekanntlich sicherten die recht hohen in Valuta transferierten Honorare den exilierten Schriftstellern in den kapitalistischen Ländern einige Wochen ihre Existenz. Das belegen der Briefwechsel des Wortes und der Internationalen Literatur, sowie die Selbstaussagen der Schriftsteller dazu. Auch bei der umfangreichen deutschsprachigen Verlagstätigkeit in der Sowjetunion war nach der dominanten politischen Bedeutung die Honorarfrage ein nicht unwesentlicher Faktor. Die wichtigsten deutschsprachige Bücher herausgebenden Verlage waren die Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR (VEGAAR, Moskau, Leningrad), Meshdunarodnaja kniga, Das internationale Buch (Moskau), der Verlag für Fremdsprachige Literatur (Moskau), der Staatsverlag der nationalen Minderheiten der USSR (Kiew, Charkow), der Deutsche Staatsverlag (Engels). Nach Ermittlungen des Leipziger Bibliothekswissenschaftlers Horst Halfmann sind - bei einigen Dunkelziffern - in diesen und einer Reihe kleinerer 5
Barck
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Unternehmen in der Sowjetunion 281 Werke exilierter Schriftsteller, Politiker, Wissenschaftler und Künstler in einer Mindestauflage von 2 1 7 9 6 7 5 Exemplaren erschienen. 150 Diese Verlagstätigkeit, die von einer beträchtlichen Übersetzungsarbeit deutscher antifaschistischer Literatur ins Russische begleitet wurde und an der die hier lebenden deutschen Schriftsteller in Form von Publikationsvorschlägen und Gutachten aktiv beteiligt waren (s. Anhang), erweist eindringlich die internationalistische Politik der Sowjetunion, ihre zentrale Rolle für die gesamte antifaschistische Emigration. Ähnliche Verlagsmöglichkeiten für progressive Literatur gab es in keinem anderen Land. Auch darin zeigt sich die Unhaltbarkeit von Versuchen, die Sowjetunion als e i n Exilland n e b e n anderen zu behandeln und ihr dabei die führende Rolle für den internationalen antifaschistischen Kampf abzusprechen.151 Ohne Zweifel bestand ein Hauptproblem der Exilierten die Isoliertheit von Deutschland und den deutschen Lesern auch für die in die Sowjetunion emigrierten sozialistischen Schriftsteller, jedoch war deren Lage gegenüber den in einigen kapitalistischen Ländern politischer Verfolgung ausgesetzten und sich in materieller Not, physischem und psychischem Elend befindenden Emigranten grundsätzlich anders. Sie lebten im ersten sozialistischen Land der Welt, das ideelle Heimat war und die politische Zukunft auch für Deutschland wies, nahmen teil am sozialistischen Aufbau. Sie arbeiteten in materieller Sicherheit, hatten umfangreiche Publikationsmöglichkeiten und waren geachtete Mitglieder der sowjetischen Gesellschaft. Die von ihnen gemachten Erfahrungen, das Erlebnis der neuen Gesellschaftsverhältnisse und die Teilnahme am kulturellen Geschehen wurden für ihr künstlerisches Werk unersetzbar. Es war eine Selbstverständlichkeit kommunistischer Solidarität, daß sich die in der Sowjetunion lebenden Schriftsteller in besonderer Weise für ihre Kollegen in anderen Ländern verantwortlich fühlten. Gemeinsam mit den sowjetischen Schriftstellern und Organisationen suchten sie nach Wegen, die Lage dieser Emigranten zu erleichtern. Im folgenden sollen stellvertretend für andere zwei Beispiele stehen. In der sowjetischen Zeitung Za rubeshom (Im Ausland)
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vom Mai 1936 ist ein Zeugnis aktiver Hilfeleistung dokumentiert. Unter der Überschrift Hilfe für deutsche Schriftsteller wird von einer Hilfsaktion sowjetischer Schriftsteller für deutsche Antifaschisten in Frankreich berichtet. Die Redaktion veröffentlicht vier Antwortbriefe deutscher antifaschistischer Schriftsteller, die sich für die ihnen geschickten Lebensmittel-Pakete bedanken. Drei der abgedruckten Briefe sind aus Sicherheitsgründen ohne Absender. Der vierte ist von Egon Erwin Kisch, an Fjodor Gladkow gerichtet. Aus Kischs Brief geht hervor, daß Olga Halpern-Gäbor diese Hilfsaktion organisiert hatte, sie war Redaktionsmitglied der Internationalen Literatur und Sekretärin der Deutschen Sektion. Kisoh formuliert in seinem Brief treffend die mehrschichtige Bedeutung dieser Art brüderlicher Solidarität: „Sie können sich nicht vorstellen, Genosse Gladkow, welchen Eindruck auf uns, aus Deutschland Vertriebene, diese Geschenke sowjetischer Schriftsteller gemacht haben. Erstens - ist die Mehrzahl auf Wochen vom Hunger befreit. Schon das wäre ein großes Glück. Zweitens - gab die Masse dieser Geschenke den Schriftstellern den Beweis, daß die Sowjetunion vorzügliche Produkte hat. Jetzt sehen alle, daß man sich bei Ihnen aus dem Gefühl echter Solidarität und im Geiste des wahren Internationalismus um Kollegen, die in anderen Ländern leben, kümmert. Es mag vielleicht paradox klingen, aber diese Geschenke waren für uns sowohl eine politische wie literarische Hilfe" 152 . Im Nachlaß der Deutschen Sektion findet sich ein weiteres Beispiel solidarischer Aktivität sowjetischer und deutscher sozialistischer Schriftsteller. Es handelt sich um einen Briefwechsel zwischen Becher und Alexej Tolstoi vom Juni/Juli 1940, 153 * zu einem Zeitpunkt also, als deutsche emigrierte Schriftsteller, z. B. Friedrich Wolf, Hans Marchwitza, Rudolf Leonhard u. a., in französischen Konzentrationslagern interniert und von der Auslieferung an das faschistische Deutschland bedroht waren. Becher und Tolstoi verständigen sich über die Namen der gefährdeten Schriftsteller und die Möglichkeiten ihrer Befreiung. Im Ergebnis dieser Bemühungen konnte z. B. F. Wolf nach der Verleihung der sowjetischen Staatsbürgerschaft durch Repatriierung in die Sowjetunion entkommen. 5»
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Proletarische Klassenhilfe für die spanisohe Republik leisteten im Kollektiv der Internationalen Brigaden aus Moskau kommend Willi Bredel und Erich Weinert. Die in der Sowjetunion Verbliebenen verfolgten leidenschaftlich die Berichterstattung von den Fronten. Die Zeitschriften Das Wort und die Internationale Literatur brachten Kommentare, Reportagen und Berichte über Spanien von Egon Erwin Kisch, Willi Bredel, Michail Kolzow und anderen. Johannes R. Becher, der sich nach Angaben von Lilly Becher als einer der ersten als Spanienkämpfer gemeldet hatte, durfte auf Wunsch der Parteiführung nicht nach Spanien fahren. Das bedeutete für ihn „den schwersten Verzicht seines Lebens"154. Um so aufmerksamer verfolgte er die spanischen Ereignisse. In dem Madrid betitelten Gedicht heißt es dazu: Das ist das Schwerste: wenn in einem Land Der Aufstand losbricht, und du liest nun täglich Die Meldungen, und mit dem Finger fährst Du auf und ab die Karte, suchst die Orte, Die oft genannten - und du selbst bist weit, Weit weg von dort . . . Es ist wie eine Schande, Sie quält dich Tag und Nacht. Das ist das Schwerste.. . 155 Im Namen der in Moskau lebenden deutschen Schriftsteller verfaßt er am 18. Juli 1938 anläßlich des zweijährigen Heldenkampfes einen Gruß an die Kameraden in Spanien. Darin heißt es u. a.: „Die Waffe des Schriftstellers ist das Wort. Und doch gibt es Anlässe, wo sich zum Wort die Tat gesellt, wo die Tat für die Verbindlichkeit des Wortes einstehen muß und es zeitweilig verstummen macht. Der Freiheitskampf des spanischen Volkes war für viele der besten Schriftsteller aller Nationalitäten ein solcher Anlaß." 156 Der II. Internationale Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur 1937 (Valencia/Madrid/Paris) zeugte vom Einsatz der fortschrittlichen Schriftsteller der Welt und von ihrem aktiven Bemühen, im antifaschistischen Kampf die jeweils geeignetste Waffe - das Wort, die Tat oder beides zusammen einzusetzen. 68
Die kollektive und organisierte Aktivität der deutschen Schriftsteller in der Sowjetunion, auf die hier mit einigen Beispielen verwiesen wurde, spricht deutlich für die Kontinuität der Bemühungen der sozialistischen Schriftsteller um die antifaschistische Einheitsfront auf literarischem Gebiet. Zugleich zeigt sich, daß sich in den Jahren des härtesten Klassenkampfes das Prinzip der Organisiertheit bewährte und neue Dimensionen gewann, wobei mit dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion die Schriftsteller erneut vor Organisationsproblemen standen. Sie werden an anderer Stelle behandelt.
Publizistische Arbeiten im Umkreis der Realismusdebatte Exkurs I: Zu einigen theoretischen Grundfragen der sozialistischen Literaturentwicklung Die folgenden Ausführungen möchten einige politische und literarische Grundprobleme, die sidh im Verlaufe der Realismusdebatte abzeichneten, benennen. Dabei können hier keine neuen Ergebnisse zu dem Problemkreis angeboten werden, da dieser weit über den Gegenstand der vorliegenden Arbeit hinaus detaillierterer Untersuchungen bedürfte. Vielmehr soll mit dem Versuch einer Zusammenfassung das Wesen dieser Auseinandersetzungen, der historisch-politisch-literarische Bezugskreis speziell für Bechers publizistische Arbeiten deutlich gemacht werden. Ausgangspunkt muß die bereits erläuterte Aufgabenstellung für die sozialistische Literaturbewegung sein, wie sie seit dem VII. Weltkongreß der KI und der Brüsseler Parteikonferenz der KPD 1935 bestand. Der politische Auftrag an die Literatur verlangte, mit allen Mitteln und Möglichkeiten das Zustandekommen der antifaschistischen Volksfront zu befördern. Dabei fiel den sozialistischen Schriftstellern als dem bewußtesten Teil innerhalb des antifaschistischen Bündnisses die führende Rolle zu, ebenso wie den proletarischen Einheitsfrontbestrebungen innerhalb der Volksfrontbemühungen. Zuvor jedoch ein Rückgriff: Die erste Frage, die sich bei der Sichtung der Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen stellt, ist
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die nach den Beziehungen zu den in der ersten Etappe der sozialistischen Literaturbewegung im 20. Jahrhundert erarbeiteten Positionen, nach den Resultaten der literaturtheoretischen Arbeit im BPRS, wie sie u. a. ablesbar sind in der Zeitschrift des BPRS Die Linkskurve. Auch hierbei geht es nicht darum, Analyse und exakte Erörterung der gesamten Problematik zu leisten, zumal umfangreiche Forschungsergebnisse dazu vorliegen.157 Eine Aufgabe auf theoretischem Gebiet, neben der organisatorischen und propagandistischen Tätigkeit, war zunächst die Bestimmung des historisch Neuen der proletarisch-revolutionären Literaturbewegung: Unter „proletarisch-revolutionärer Literatur" wird eine Literatur verstanden, „die die Welt vom Standpunkt des revolutionären Proletariats aus sieht und gestaltet"158. Diese Selbstdefinition sagt etwas aus über Gegenstand, Parteilichkeit und Widerspiegelungscharakter der Literatur. Der Begriff proletarisch-revolutionäre Literatur in diesem Inhalt wurde später von der Forschung akzeptiert und der Terminus für die Kennzeichnung „dieses Bestandteils des sozialen und nationalen Kampfes der KPD seit 1918" für die Zeit vor 1933 verwandt, „weil er sowohl die Klassenbasis als auch den politischen Radius (dieser Literatur - S. B.) angemessen bezeichnete".159 Zugleich faßte der Begriff die Funktion dieser Literatur im gesellschaftlichen Leben; die Losung: Literatur ist „Waffe im Klassenkampf" wurde im Sinne des Leninschen Prinzips der Parteiliteratur verstanden. Das Doppeladjektiv „proletarischrevolutionär" kennzeichnete dabei die beiden Hauptbestandteile. Diese Erkenntnisse wurden in intensiv geführten Auseinandersetzungen um Charakter und Quellen der proletarischrevolutionären Literatur errungen, wobei neben den entscheidenden positiven sowjetischen Einflüssen auch eine Reihe fehlerhafter Auffassungen, vor allem der RAPP, übernommen worden sind.160 Eine weitere Frage, über die sich die neue Literatur selbstverständigen mußte, war die nach den künstlerischen Möglichkeiten und Darstellungsweisen, nach Methoden und Techniken, mit deren Hilfe die gestellten Aufgaben am besten verwirklicht werden konnten. Es ging also um die ästhetischen Möglichkeiten, die Gegenstände der proletarisch70
revolutionären Literatur zu bewältigen, und zwar in einer Weise, die dem aktivierenden, bewußtseinsbildenden Ziel der Literaturbewegung am besten entsprach. Es war das Problem der schöpferischen Methode, das hier und in den nächsten Jahren auch international (vor allem in den nationalen Sektionen der IVRS) diskutiert wurde und dann 1934 auf dem I. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller im Ergebnis kollektiver Anstrengung als Methode des sozialistischen Realismus charakterisiert werden konnte.161 Die theoretischen Diskussionen im BPRS konnten dank der hier waltenden Kollektivität produktiv geführt werden. Die intensiven Wechselbeziehungen zu den sowjetischen Debatten gaben entscheidende Impulse. So traten z. B. nach der Charkower Konferenz von 1930 verstärkt theoretische Probleme in den Vordergrund der Arbeit des BPRS. Die letzten Jahre seines legalen Wirkens und seiner Zeitschrift standen im Zeichen des Ringens um wichtige Schaffensfragen, als deren wichtigste das Realismusproblem begriffen wurde. Es galt die Kriterien des neuen, des sozialistischen Realismus gegenüber dem bürgerlichen zu finden. Die Debatte um dieses Problem weitete sich insbesondere nach Georg Lukäcs' Beitrag Reportage oder Gestaltung (1932) zu einer Polemik aus, in der sich unterschiedliche konzeptionelle Auffassungen über die Gestaltungsmöglichkeiten herausbildeten. Dabei begriffen diejenigen, die von der gesellschaftlichen, aktuellen Funktionssetzung der Kunst als oberstem Kriterium für ästhetische Gestaltung ausgingen, dieses Problem vorrangig unter dem Aspekt von Kunst als jeweils konkret gesellschaftlicher Praxis: „Trotz mancher gradueller Unterschiede in der Beurteilung der neuen Gestaltungsmöglichkeiten und Formen zeichnete sich bei Alexander Abusch, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Alfred Kurella, Franz Carl Weiskopf und anderen Kritikern im Gegensatz zu Georg Lukäcs die gemeinsame Grundauffassung ab, daß die Gestaltungsmöglichkeiten primär aus der sich verändernden gesellschaftlichen Wirklichkeit erwachsen."162 Noch weitgehend ungeklärt blieben Fragen der Umfunktionierung künstlerischer Formen und Gestaltungsmöglichkeiten, eines Teilproblems der produktiven Aneignung und „Verwertung" (H. Eisler) des Erbes. Umstritten blieb auch, ob der 71
neue Inhalt in alten Formen darstellbar war oder gesetzmäßig nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten verlangte. Diese Probleme konnten durch die Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland und die erzwungene Emigration der sozialistischen Schriftsteller nicht mehr ausdiskutiert werden. Und es spricht nur für die Kontinuität der theoretischen Bemühungen der sozialistischen Literaturbewegung, daß diese Diskussionen, wenn auch unter neuen gesellschaftspolitischen Aspekten, in den Zeitschriften des Exils weitergeführt wurden. 1 6 3 J a mehr noch, in der geschichtlich angespannten Situation der deutschen antifaschistischen Emigration erwies sich die politische Brisanz dieser literarischen Kontroversen in aller Schärfe. Daß es sich dabei nicht um ein akademisches Streitgespräch exilierter Intellektueller über ästhetische Details handelte, sondern um das angestrengte Ringen der wichtigsten Vertreter der revolutionären deutschen Literatur um eine kämpferische einheitliche antifaschistische und sozialistische Literatur als Bestandteil der Einheits- iund Volksfrontbemühung der KI und KPD, hat besonders Werner Mittenzwei herausgearbeitet. Ohne Zweifel stellt die Debatte mit ihren, wenn auch stark differierenden Einzelergebnissen den Höhepunkt literaturtheoretischer Verständigung der Schriftsteller und Kritiker in den dreißiger und vierziger Jahren dar. Mittenzwei spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einer „Literaturdebatte großen Stils", die „neben der Sickingendebatte . . . zu den wichtigsten Dokumenten der marxistischen Ästhetik gezählt werden müsse" 164 . Der unmittelbare Anlaß, der die Auseinandersetzung provozierte, waren zwei Aufsätze zum Problem des Expressionismus von Klaus Mann und Alfred Kurella 1 0 5 . Die Redaktion stellte sie zur Diskussion mit der Bemerkung, daß hier eine Frage angeschnitten werde, deren Beantwortung von grundsätzlicher Wichtigkeit zu sein scheine: die nach den Grundlagen und dem Wesen des Expressionismus. Auf die in diesen Beiträgen erfolgte Darstellung und Beurteilung des Expressionismus reagierte eine Reihe von Schriftstellern, Künstlern und Kritikern. 1 6 6 * In der Debatte darüber, ob der Expressionismus eine literarische Strömung sei, die als Teil einer antifaschistischen Tradition anzusehen sei, auf die man sich stützen könne, wird bei aller Differenz der Antworten 72
im Detail eines klar: das Bemühen um die Fixierung und Lösung der aktuellen Aufgaben antifaschistisch-demokratischer und sozialistischer Literatur. E s ging also nicht nur um den Expressionismus als eine vergangene Literaturströmung, sondern um eine Grundfrage des Erbeverständnisses der antifaschistisch-demokratischen und sozialistischen Literatur. D a bei zeigte sich in zunehmendem Maße (1935 hatte die K P D darauf orientiert, das klassische E r b e für den antifaschistischen Kampf nutzbar zu machen 1 6 7 ), daß es 'bei der Klärung dieser ästhetischen Fragen um entscheidende politische Voraussetzungen für die Herstellung der antifaschistischen Volksfront ging. In welchem Maße es gelang, die humanistischen Werte der Vergangenheit zu mobilisieren, Traditionen und Erbebezüge herzustellen und im Kampf gegen den Faschismus für die Gewinnung von Bündnispartnern unter den Schriftstellern fruchtbar zu machen, die mit ihren künstlerischen Werken wiederum spezifische Einwirkungsmöglichkeiten hatten, bestimmte nicht unwesentlich den Kampf gegen den Faschismus. E s war bereits an anderer Stelle deutlich geworden, wie nutzbringend für die sozialistische Literatur die Klärung der E r b e auffassung bei der Gewinnung der „Meister des Wortes" (Becher) war. D i e Nutzung und Aufbereitung theoretischer Leistungen vergangener bürgerlicher Literaturen und die Anwendung des Marxismus-Leninismus auf das Gebiet der Ästhetik waren schon im B P R S versucht und begonnen worden (etwa die Bemühungen K . A . Wittfogels um eine marxistische Ästhetik und die Arbeiten von G . Lukäcs 1 6 8 *). E s wurde schon darauf verwiesen, an welche im B P R S erarbeiteten Ergebnisse im Exil angeknüpft werden konnte und welche Probleme noch der Erörterung bedurften. Letzteres betraf vor allem die G e staltungsmöglichkeiten: Besteht eine direkte Kausalität von Klassenlage - Weltanschauung - Darstellungsmethode (künstlerische Formen, Mittel, Techniken)? Sind literarische Mittel und künstlerische Formen ideologisch an eine bestimmte Klasse gebunden oder gibt es die Möglichkeit der Umfunktionierung? Dabei bejahte die Mehrzahl der sozialistischen Kritiker und Schriftsteller die vielseitige Anwendung der verschiedensten Formen und Techniken, wenn damit eine größtmögliche
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ästhetisch-politische Wirkung auf den Leser verbunden war. 1 6 9 * Theoretisch weit über diese Debatte hinausweisende Beiträge leisteten Hanns Eisler mit seiner Auffassung von der „Eigengesetzlichkeit des künstlerischen Materials" 170 und Walter Benjamin mit seiner Analyse des Kunstwerks im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. Brechts bedeutende Arbeiten zum sozialistischen Realismus, wesentlich provoziert durch Lukäcs' Diskussionsführung, konnten - da nur partiell publiziert - in der Debatte nicht tragend werden. Die theoretisch umfangreichste und in ihrer politischen Konsequenz weitreichendste Konzeption wurde von Lukäcs vorgetragen. Er hatte seine Positionen seit 1932 (Veröffentlichungen in der Linkskurve) kontinuierlich ausgearbeitet und sich vor allem bei der Erschließung klassischer und realistischer Traditionen Verdienste um die sozialistische Literaturbewegung erworben. Auf die Wurzeln seiner Realismuskonzeption (seine politische Vorstellung von „revolutionärer Demokratie" als abstraktem Ideal und die daraus abgeleitete Fetischisierung literarischer Formen) kann hier nur verwiesen werden. 171 Für die Praxis der antifaschistischen Literatur lehnte er den Einsatz neuer Gestaltungsmöglichkeiten ab. Wie schon erwähnt, nutzte er die politisch-literarische Diskussion von 1936 (sowjetische Formalismus-Naturalismusdebatte) „um im Windschatten dieser Polemik seine These .Erzählen oder Beschreiben' zugunsten der ausschließlichen Entscheidung für das Erzählen zu führen. Er beschuldigte Schriftsteller, die Elemente des Beschreibens in ihren Werken anwandten, des Naturalismus. Die Beschreibung wurde für ihn zu einer Methode des Kapitalismus." 172 Die politische Schädlichkeit dieser Auffassungen zeigte sich auch in der vorrangigen Orientierung Lukäcs' auf den Kampf gegen die Dekadenz, wie er sie verstand - und nicht etwa gegen den Faschismus. Jüngste Versuche, dies in Frage zu stellen, halten angesichts der Fakten nicht stand. 173 * Denn nicht nur 1938 (Es geht um den Realismus), sondern auch noch ein Jahr später (im Briefwechsel mit Anna Seghers) ist die tendenzielle Unterschätzung der faschistischen Ideologie und Kunst auffällig. 174 * Auch der neueste Versuch einer Ehrenrettung Lukäcs' als dem kongenialen Verfechter der Volksfrontstrategie und Taktik auf 74
literaturpolitischem Gebiet kann nicht gelingen,175 denn es war gerade das „Verwischen der Klassengegensätze" (Mittenzwei), das von einer falsch verstandenen Bündnispolitik zeugte. Das theoretische Verständnis der proletarischen Einheitsund antifaschistischen Volksfrontpolitik der K I und der KPD, die jene von Lenin entwickelten Prinzipien kommunistischer Bündnispolitik auf die aktuellen politischen Verhältnisse anwandten, war auch Voraussetzung für die richtige praktische Anwendung. Bei Lukäcs ist dies Verständnis einseitig: Er verabsolutiert eine „revolutionäre Demokratie" und trennt undialektisch demokratische und sozialistische Zielsetzung voneinander. Die Verselbständigung der „revolutionären Demokratie" und die ungenügende Beachtung der Hegemonie des Proletariats in den Klassenkämpfen zeigten den Unterschied zur Politik der K I an. Zugleich lag in der scheinbaren Affinität seiner Demokratievorstellung mit der Volksfrontpolitik die Wirkung seiner Theorien begründet. Objektiv wurde durch Lukäcs' normative und vergangenheitsorientierte Konzeption der Entwicklung einer breiten antifaschistischen Volksfront geschadet, darüber hinaus wurde die Diskussion um Gestaltungsfragen und Formprobleme innerhalb der sozialistischen Literaturbewegung in eine unproduktive Richtung gelenkt. Ihre Folgen zeigten sich auch in der Literaturwissenschaft und wurden erst nach 1956 einer umfassenden kritischen Wertung unterzogen. Auch daß die Erbedebatte relativ praxisfremd, entfernt von den konkreten Klassenkämpfen verlief, hängt mit Lukäcs' normativem Herangehen zusammen. Das hatte neben Anna Seghers vor allem Brecht erkannt, der auf den Klassencharakter des Faschismus rekurrierte und auf der Ableitung der Ästhetik aus den Bedürfnissen des Klassenkampfes bestand. 176 Bechers Reflexion der theoretischen Debatten In den redaktionellen Schlußbemerkungen des Wortes zur Realismusdiskussion war resümierend festgestellt worden, daß die Teilnehmer im Verlauf der Debatte zu zentralen, lebenswichtigen Problemen der deutschen antifaschistischen Literatur vorgestoßen waren: „Formalismus . . . und Realismus sind 75
aber . . . die künstlerisch-ideologische Widerspiegelung bestimmter historischer Geschehnisse, deren Begründung und Erfassung für den antifaschistischen Kampf der Volksfront eine Kernfrage ist." 177 In der Deutschen Zentral-Zeitung erschien unter dem Titel Schöpferische Diskussion bei den antifaschistischen Schriftstellern in Moskau - Scharfe Stellungnahme gegen den Expressionismus ein ausführlicher Bericht über zwei in diesem Zusammenhang stehende Diskussionsabende über den Expressionismus. Der mit D. S. zeichnende Autor (David Schellenberg) erläuterte darin zunächst, wodurch das Interesse für den Expressionismus - eine Kunstrichtung der jüngsten deutschen Vergangenheit - geweckt worden war, nämlich dadurch, daß „der deutsche Faschismus (im Herbst vorigen Jahres) die expressionistische Kunst zum Gegenstand eines demagogischen Feldzuges gegen fortschrittliche Kunstbestrebungen gemacht hatte" 178 . In den daraufhin einsetzenden „lebhaften Diskussionen" in den „Kreisen der antifaschistischen Emigration" hätten sich „Fehler" eingeschlichen: „Es wurde fälschlich versucht, aus der Tatsache, daß der Faschismus den Expressionismus als .entartete Kunst' ablehnte, die Schlußfolgerung zu ziehen, die Antifaschisten müßten alleine schon deshalb diese Kunstrichtung in Schutz nehmen. Verschiedene Teilnehmer der Pressedebatte versuchten den Expressionismus als eine im wesentlichen fortschrittliche Etappe der Kunstentwicklung hinzustellen, aus der die moderne antifaschistische Kunst und Literatur etwas zu lernen habe." 1 7 9 Im weiteren werden die Thesen aus Kurellas Referat vorgestellt: Expressionismus als antirealistische, bürgerliche Kunstrichtung, die die große reife Kunst verneint, Sackgasse der modernen Kunstentwicklung. Der Expressionismus habe dazu beitragen, die Abwehrkräfte gegen den Faschismus zu schwächen, „weil er starke Kader, revolutionär gesinnte deutsche Künstler auf einen falschen, vom Volk wegführenden Weg drängte". Als Ergebnis der Aussprache wird eine weitgehende Übereinstimmung darüber konstatiert, daß der Expressionismus als „Erbgut für die antifaschistische Literatur" abzulehnen sei. Die Diskussion (einschließlich der in den Zeitschriften geführten) sei als „erste Auseinandersetzung der antifaschistischen Schriftsteller über ein Kunstproblem der 76
jüngsten Vergangenheit im ganzen zwar positiv zu bewerten: sie offenbarte den Willen, zu einer gemeinsamen literarischen Plattform der Volksfrontbewegung zu kommen". Kritisch sei zu vermerken, daß es wünschenswert gewesen wäre, „wenn das Thema ein etwas weniger abseitiges, ein mehr aktuelles gewesen wäre". Die Fruchtbarkeit der Diskussion habe sich in der Praxis zu erweisen, ob durch sie u. a. „der Übergang unserer Schriftsteller zur Schaffung von Werken beschleunigt wird, die fähig sind, Millionenmassen zu begeistern und ihren Kampfwillen zu stärken". Die Behauptung von der weitgehenden Übereinstimmung in der Ablehnung des Expressionismus als „Erbgut" für die antifaschistische Literatur entsprach mehr dem Wunsch des Verfassers als den Tatsachen - das hatte der Verlauf der Debatte selbst erwiesen.180 Auch die „Abseitigkeit des Themas" hatte sich ja nicht bestätigt. F. Erpenbeck, der eigentliche Initiator der Debatte, berichtet, daß einige führende Genossen, unter ihnen vor allem Becher, mit ähnlicher Begründung solch eine Diskussion ablehnten.181 Die Ursachen für Bechers Haltung können nur vermutet werden, da er sich weder damals noch später dazu geäußert hat. Man kann mit einiger Berechtigung annehmen, daß es zum großen Teil politische Vorbehalte waren, die ihn, der durch seine führende Rolle im deutschen Expressionismus als Sprecher geradezu prädestiniert war, von einem Eingreifen abhielten. Er wird befürchtet haben, daß durch die Schärfe der Argumentation der Kreis von noch zu gewinnenden Bündnispartnern sich unzulässig verengen könnte. Hinzu kam eine gewisse theoretische Unsicherheit in der Beurteilung des Gegenstandes. Sie resultierte wesentlich daraus, daß Becher für sich selbst die expressionistische Vergangenheit noch ungenügend bewältigt hatte. So gewann er auch erst viel später ein weitgehend objektives Verhältnis dazu.182 Ein Jahr vor seinem Tod (1958) notiert er im 208. Abschnitt seines Poetischen Prinzips rückblickend zur Debatte zwischen Lukäcs und Anna Seghers: „Was mich anbetrifft, so kann ich heute nicht mehr den Standpunkt von Lukäcs so unbedingt teilen wie damals in der Zeit des Erscheinens jener so außerordentlich wichtigen und interessanten Korrespondenz. Mir erscheint, Georg Lukäcs hat zum Beispiel bei der Beurteilung des Ex77
pressionismus diese Richtung allzu gewalttätig mit einem politischen Etikett versehen. Auch Anna Seghers gegenüber werden von Lukäcs in dem Briefwechsel nur allzu eilfertig politische Argumentationen herangezogen, ohne die Probleme ästhetisch genügend diskutiert zu haben . . ,"183. Auch seine exponierte Stellung als Chefredakteur der Internationalen Literatur mag ihn veranlaßt haben, sich an der Debatte nicht direkt zu beteiligen. In dem schon in Paris begonnenen Roman Abschied, nimmt die Darstellung der expressionistischen Zeit einen wesentlichen Platz ein. So enthält der Roman u. a. Bechers gewichtigen Beitrag zum Expressionismusproblem. Wir wissen nichts über direkte Bezüge zur Expressionismusdebatte im Wort, aber es wird angenommen, daß Becher die Arbeit am Abschied erst 1937/1938 in Moskau wieder aufgenommen und abgeschlossen hat.18,5* Wenn man den Roman ausschließlich unter diesem Aspekt werten wollte, könnte man sagen: ihm gelingt eine differenzierte Wertung dieser Literaturströmung, was ihren Wert und ihre Grenzen betrifft. Entscheidenden Anteil daran hatte das von ihm gefundene Leitmotiv vom „Anderswerden", das sich als tauglich erweist, „eine komplette Soziologie der imperialistischen Ära anklingen zu lassen"183. Im „Anderswerden", dem ein „Abschiednehmen" vorangeht, ist das Weiterleben von Wichtigem, Wertvollem eingeschlossen: „Vergiß das viele Gute nicht, mahnt es dich, und es warnt dich zugleich: Gib acht! Schau nach, was du mitnimmst"186. Das hier formulierte Verhältnis zum Erbe und zur Vergangenheit im weitesten Sinne war produktiv und differenziert. Becher brauchte allerdings noch Jahre, ehe er in der Praxis diese Haltung gegenüber dem Expressionismus einnehmen konnte. Georg Lukäcs hatte in seiner Rezension des Abschied (1941) bei einer insgesamt sehr positiven Einschätzung zugleich in der von Becher gewählten Form des Ich-Romans Gefahren für die „epische Totalität" gesehen. Er gestand Becher zwar einen „künstlerisch wirklich Neuland erschließenden Stil" 187 zu: „Diese Bändigung des Erlebnisstromes der äußersten Subjektivität zur epischen Gestaltung der objektiven Wirklichkeit ist echtes Neuland"188, aber diese berge zugleich die Gefahr einer „Einlinigkeit der Handlungsführung, die jeder großen 78
Epik, also auch der des Romans widerspricht". Das Interessanteste an dieser Rezension ist, daß sich Lukäcs durch diesen Roman gezwungen sah - wollte er Becher nicht der Dekadenz zurechnen - seine ablehnende und abwertende Haltung gegenüber modernen Gestaltungsmitteln und Formen zu revidieren. Was er in der Realismusauseinandersetzung noch kategorisch verneint hatte - die Möglichkeit der Umfunktionlerung von künstlerischen Formen - , hier exemplifiziert er es. Er schreibt: „Das Originelle und Neuland Erschließende an diesem Roman liegt gerade darin, daß Becher die ins Realistische umkehrbaren Elemente in der modernen Literatur erkannt, sie sich zu eigen gemacht und verwendet hat." 189 Auf den von Becher verwendeten „Stil der modernsten Erzählkunst seit Joyce" eingehend, kommt Lukäcs zu der bemerkenswerten Erkenntnis, daß „wenn zwei das gleiche tun (Joyce und Becher - S. B.) es aber nicht immer das gleiche ist". Gleichzeitig nutzt Lukäcs Bechers Roman - noch deutlicher die Lyrik (wie noch gezeigt werden wird) - zur Polemik gegen andere Schriftsteller und deren Schreibweisen: „ . . . schließlich bedeutet das energische Hervorheben so vieler negativer Züge seines Helden einen sehr gesunden Bruch mit der schematischen Tradition vieler fortschrittlicher Schriftsteller" 190 . Das richtet sich offenbar gegen bedeutende Vertreter der proletarisch-revolutionären Literatur wie Bredel und Marchwitza, die sich, bei anderen Gegenständen, gerade in dieser Zeit um die Darstellung positiver Helden bemühten. Die Fragestellungen der Realismusdebatte werden von Becher in einer Reihe theoretischer Aufsätze in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre aufgenommen. Er kann dabei an bereits entwickelte Vorstellungen über Profil und Charakter der deutschen antifaschistischen Literatur anknüpfen. In der Regel entwickelt er seine Auffassungen von der eigenen lyrischen Produktion her, generalisiert sie aber in Beziehung auf realistische Gestaltung und Finden des neuen Menschenbildes. Als Schlüsselfrage bleibt dabei bestimmend: das kulturelle Erbe und seine Aneignung als Voraussetzung einer neuen Qualität der Literatur, die Gewinnung einer „hohen Konzeption" der Literatur. In der Voranzeige zum Glückssucher und die sieben Lasten 79
hat Becher die Bedingungen dieses Entwicklungsprozesses benannt: „Für das Absterben des Alten und für das tägliche Neuwerden, für eine lebendige Solidität ist uns hier in der UdSSR alles gegeben" 191 , und er zählt drei Teilhaber an seinen Gedichten auf: die große Dichtung und Kunst der Vergangenheit, idie UdSSR und das unterdrückte deutsche Volk. Tatsächlich erreichte Becher mit diesem Gedichtband eine neue Stufe in seiner dichterischen Entwicklung, die sich in einem reichen Ideengehalt und der Vielfalt der verwendeten Formen und Stilmittel auswies. Die Analyse dieses Gedichtbandes - der auch von einer Reihe bekannter bürgerlicher Autoren wie z. B. Heinrich Mann als wichtiges literarisches Ereignis begrüßt wurde - mit dem Nachweis der neuen Qualität der Erbeaneignung sowie des neuen Wirklichkeitsverhältnisses in bezug auf die Sowjetunion ist von Horst Haase überzeugend vorgenommen worden. In unserem Zusammenhang ist die Tendenz zur Gedankendichtung aufschlußreich. In der hier wieder entdeckten Form des Sonetts gibt es eine Reihe von Gedichten, in denen die theoretischästhetische Fragestellung und Problemerörterung selbst lyrischer Gegenstand wird. Das betrifft z. B. das Nachdenken über die poetischen Möglichkeiten der Sonettform im Trunkenen Sonett: Oh, ich bin trunken von der Trunkenheit Des neuen Lebens. Kann nicht an mich halten, Ich möchte dehnen mich und mich entfalten Und möchte Stimme sein auch eurer Zeit! 192 Hier wird die Frage nach der Berechtigung der Traditionsaneignung dieser Gedichtform an der Wirklichkeit überprüft. Analoges gilt für die zahlreichen historischen Porträtgedichte auf bedeutende Persönlichkeiten de« nationalen und internationalen Geschichte und Kultur. Als Beispiel, wie auch hier die Erbeaneignung problematisiert und nach ihrem Stellenwert befragt wird, einige Zeilen aus dem Sonett Cervantes:
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Er steht am Tor einer Zeit als Wächter Um abzuwehren die vergangenen Leiden! Empfängt sie, wenn sie nahen, mit Gelächter Er läßt uns heiter vom Vergangenen scheiden. Er hat das Lachen ehrlich sich erstritten, Hat sich durch eine Zeit hindurch gekämpft Und oft scheint uns der Lachende zu bitten: „Lacht bitte mit!" Sein Lachen wird gedämpft Von der Erinnerung vergangener Leiden. Braucht u n s e r Lachen, um von sich zu scheiden. 193 Becher hatte diesen Aspekt seiner Erbeaneignung bereits im Reisebericht von 1934 betont, wenn er von seinen im antifaschistischen Kreis vorgetragenen Sonetten als einer „provokanten Form unseres Verhältnisses zur Vergangenheit" 194 sprach. In der Voranzeige erläuterte er seine „Heimkehr ins Sonett": „Jeder Dichter trägt in sich ein Traumbild vom Vollendeten Gedicht. Die Sehnsucht nach einer menschenwürdigen und geordneten Welt setzt sich auch in der Form durch. In meinem Fall mußte es eine besonders verläßliche, standhafte und geschlossene Form sein, die mir schwierigste - ein Bollwerk gegen das Zerfluten". 195 Neben diesen subjektiven Faktoren war es die Eignung dieser lyrischen Aussageform, das „spezifisch Politische und Geschichtsphilosophische auszudrücken, ohne die erkenntnisvermittelnde Funktion der Dichtung allzu offen hervortreten zu lassen" 196 , womit Bechers Hinwendung zum Sonett erklärt werden kann. Willi Bredel hat über die heftigen Diskussionen zu Bechers Sonettdichtung in Moskau berichtet: „Die meisten hielten sie (die Sonettform - S. B.) für antiquiert und ihre Strenge und Gebundenheit für ungeeignet, freien Gedanken, echtem Empfinden künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Andere sprachen von einer Flucht aus der Gegenwartsdichtung, von literarischer Verspieltheit, einer neoklassizistischen Marotte." 197 Auch die bekannte Kritik Stephan Hermlins aus dem Jahre 1946, Becher sei in „neo-klassizistischer Glätte und konventioneller Verseschmiederei" gelandet 198 , 6
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gründete sich auf die zum Teil routinehafte Handhabung des Sonetts. Dieses Verdikt, das von Mißlungenem her ausgesprochen wurde, in seiner Verallgemeinerung nicht zutraf und von Hermlin später in seiner Globalität zurückgenommen wurde, hatte Becher im Tagebuch 1950 „immerhin zu denken gegeben". In den dreißiger Jahren waren zudem die problematischen Seiten im Gebrauch der Sonettform nur tendenziell vorhanden. In jüngster Zeit sind Versuche unternommen worden, aus der Tatsache, daß im Exil sowie innerhalb Deutschlands Sonette geschrieben worden sind, eine angebliche Einheit von nichtfaschistischer Literatur in Deutschland und antifaschistischer Exilliteratur zu konstruieren. So behauptet Hans Dieter Schäfer in einem von Manfred Durzak herausgegebenen Sammelband mit dem anspruchsvollen Titel Die deutsche Exilliteratur 1933-1945 in seinem Beitrag über Johannes R. Becher die a l l e i n i g e Beziehung der Becherschen Sonette zu denen der Naturmagier wie Oskar Loerke, Wilhelm Lehmann und zu Vertretern wie Josef Weinheber und Georg Britting. Das wird im Zusammenhang mit alten antikommunistischen Klischeevorstellungen wie der von dem angeblich „entscheidenden Bruch" in Bechers Dichtung im Exil oder der Aufteilung seines Werks in „Gebrauchskunst des Funktionärs" und in „höchst subjektive und ,formelitäre' Arbeiten"199 vorgetragen. Die von Schäfer versuchte Annäherung des sozialistischen Dichters an die genannten Autoren, von denen bekanntlich Weinheber und Britting zwischen reaktionärem profaschistischem Engagement und individualistischen Vorbehalten schwankten, läuft auf eine Entpolitisierung der Exilliteratur hinaus. Das zeigt sich auch darin, daß die Tatsache des Sonettschreibens einer Reihe bedeutender Widerstandskämpfer, Autoren der Literatur des antifaschistischen Widerstandskampfes, gar nicht erst in den Gesichtskreis von Schäfer gerät. Hier wäre die Betonung einer ideellen Einheit am Platz gewesen. In der wissenschaftlich ernsterzunehmenden Arbeit Form als Protest. Das Sonett in der Literatur des Exils und der inneren Emigration fragt Theodore Ziolkowski nach den Gründen des tatsächlich auffälligen Phänomens der vielen Sonette in diesem Zeitraum - sowohl im Exil als auch 82
innerhalb Deutschlands. Der Autor sagt Wesentliches über die Geschichte und die Spezifik dieser Dichtungsform. Auch für Bechers Sonettkunst - sie wird in seiner Untersuchung als einziges Beispiel aus dem E x i l behandelt - trifft er wichtige Feststellungen. Bechers Sonettlehre wird sogar zum ästhetischen Maßstab. Aber auch Ziolkowski nivelliert, zentriert von der Vorstellung, daß es „die Form an sich ist, welche die Kontinuität der Gattung bewährt" 200 , den ideellen und ästhetischen Unterschied zwischen den Sonetten Bechers und einigen Vertretern der inneren Emigration. Selbst die Unterschiede zwischen Schriftstellern wie Weinheber, Haushofer, Diettrich, Hagelstange, Niebelschütz werden von Ziolkowski verdeckt, wenn er sie alle gleichermaßen als Vertreter des „anderen Deutschland" bezeichnet. Für die Entstehung und Wirkung der Sonette spielt es dann eigentlich keine Rolle, ob man im faschistischen Deutschland oder - wie Becher in der sozialistischen Sowjetunion lebt. Die ausschließliche Konzentration auf die F o r m des Sonetts spart die eigentliche inhaltliche Analyse dieser lyrischen Ausdrucksform - etwa bei Becher - aus und hat zur Folge, daß die entscheidenden Unterschiede bei der Handhabung des Sonetts innerhalb Deutschlands und im Exil verdeckt werden. In seinen programmatischen Aufsätzen stellt Becher in diesen Jahren bewußt die neuen Elemente der Literaturentwicklung in den Vordergrund. In Maß und Richtung (1937) heißt es: „Für das Bemerkenswerteste in der Entwicklung der deutschen antifaschistischen Literatur halte ich die Versuche, die bestrebt sind, uns aus einer wohl jahrzehntelangen Verengung herauszuführen und auf diese Weise mitzuschaffen an dem Entstehen einer wahrhaft nationalen deutschen Volksliteratur . . . diese Versuche der Vertiefung und Erweiterung stehen im Zusammenhang mit der Wiederbelebung 'des Menschlichen im Dichter und Kunstwerk . . . der Mensch will auch in der Dichtung sein menschliches Reich finden, darin er leibt und lebt . . . der Mensch will in der Dichtung im besten Sinne bei sich sein." 201 Notwendig erscheint ihm die „Einordnung des Literaturabschnittes in den Verlauf der gesamten deutschen Litera6'
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tur . . . denn der Verzicht auf das Fortgesetzte bedeutet zugleich auch den Verlust jedes Objektiven." Entgegen dieser richtigen Erkenntnis neigte Becher jedoch gerade jetzt zu einer Verengung seiner Gesamtkonzeption, insofern er zu einer ungerechtfertigten Aburteilung der Ergebnisse der proletarisch-revolutionären Literatur tendierte. So wird die „bisherige Dichtung" als „schematisierend, psychologisierend, assoziierend in der Epik", als „verhinderte Durchdringung und Aneignung des gesamten Lebensprozesses" in der Lyrik, eingeschätzt. Im Zusammenhang mit der Sonettdiskussion bezieht er nachdrücklich gegen „hartnäckige Verenger und verengte" Stellung, die von „hartnäckiger Feindschaft gegen das Poetische" erfüllt seien und die „grobschlächtige Aktualität mit Dichtung" verwechseln. 202 Becher betont forciert, daß es nicht seine Absicht sei, G e b r a u c h s w e r t e zu liefern. Diese Polemik gegen den Gebrauchswert, worunter er hier eine direkt politisch wirkende Kunst versteht, operative Formen, die unmittelbar in den Klassenkampf eingreifen, bezeichnet deutlich die problematische Position, zu der Becher durch die Einseitigkeit seiner Erberezeption und mangelnde historische Dialektik in der Einschätzung der literarischen Entwicklung in dieser Phase gelangt. Seine eigne dichterische Praxis steht zu seinen Äußerungen im Widerspruch - die gelungene Fortführung des politischen Gedichts, ein Erbe der proletarisch-revolutionären Phase, zeigt das. Diese Wendung gegen eine Gebrauchskunst im Sinne einer flachen politischen Dichtung war ohne Zweifel von Lukäcs' Theorie zu diesem Gegenstand beeinflußt. Lukäcs hatte z. B. den Glückssucher in seiner Rezension von 1938 zu einer heftigen Polemik gegen die „reine, politische Lyrik" benutzt und Bechers Gedichte als lobendes Gegenstück zu dieser Art Lyrik mit ihren „gereimten rhythmisierten Parteilosungen" 203 herausgestellt. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre entwickelte Becher seine Auffassungen von der Persönlichkeit, vom Verhältnis Individuum und Gesellschaft durch das verstärkte Studium der marxistischen Klassiker (er bezieht sich wiederholt auf die 1937 erstmals erschienene Veröffentlichung von Marx/Engels Über Kunst und Literatur) und durch die Er84
arbeitung der ästhetischen Prinzipien der deutschen klassischen Ästhetik. „Die große Lehre, die wir aus der klassischen Dichtung ziehen können, ist die: es kommt auch in der Dichtung auf den Menschen an. Der Charakter, die Persönlichkeit sind es, um die sich die Poesie kristallisiert und die der Poesie ihren eigentlichen Halt geben." 204 Charakter und Persönlichkeit, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit als Voraussetzung jedes echten künstlerischen Schaffens - diese Bestandteile vereinigt Becher zu seiner „Konzeption der Selbstgestaltung", die er unter dem Einfluß der Hegeischen Lyrikauffassung entwickelt. H. Haase hat gezeigt, wie das Studium der Kunstauffassungen Goethes dazu beitrug, „die sich . . . in der Nachfolge Hegels herausbildende einseitige Überbetonung des Subjektiven einzuschränken, ohne sie allerdings völlig aufzuheben"205. Von diesem seinem poetischen Prinzip her erfolgt die große Aufmerksamkeit für den Dichter als Persönlichkeit, denn der Dichter soll sich in seiner Ganzheit selbst gestalten. In der Voranzeige wird das so vorgetragen: „Die Kunst fängt im Künstler selbst an. Mißratene Gestalten sind nur die Zeichen eigener Ungeordnetheit. Wem die eigene Gestaltung mißlingt, wird nichts Durchgestaltetes zustande bringen . . . Wie auch könnte ein Dichter Vorbildliches zeigen, wenn in ihm nichts Vorbildliches lebendig wäre!" 2 0 6 Dieses poetische Prinzip, später in den Bemühungen umfassend ausgearbeitet, das auf der Vorstellung von der Repräsentanz und der Kompetenz des Dichters für seine Zeit basiert („indem er sich gestaltet, gestaltet er seine Zeit" 207 ) wird hier begründet. 208 * Daß Becher diese Konzeption als seine eigene empfand und keinesfalls als Norm oder vorbildlich hinstellen wollte, hat er nachdrücklich hervorgehoben. In der literaturkritischen Praxis der dreißiger Jahre erlag er mitunter dieser Tendenz, wenn er lyrische Werke, die anderen Maximen folgten, abwertend beurteilte. 209 Das Prinzip der Selbstgestaltung hat die Tendenz, von der Aneignung der Wirklichkeit abzulenken, deshalb konnte und kann es nur in beschränktem Maße repräsentativ für die sozialistische Lyrik sein. (Bechers eigene lyrische Praxis folgte ihm nur bedingt.) Mitte der fünfziger Jahre, als die sozialistische National85
literatur auch ihre Traditionen bestimmen mußte, erwies es sich als notwendig, dieses Prinzip entscheidend zu relativieren. „Indem Becher das Wesen der Lyrik zunächst nur in der Selbstgestaltung des Dichters sah, geriet er ja nicht nur in Konflikt mit seiner eigenen Dichtung der zwanziger Jahre, sondern auch die Lyrik Brechts, Weinerts, Majakowskis, Eluards, Nerudas u. a. ließ sich dergestalt nicht fassen." 210 Eines der Probleme, das in den Literaturdebatten der emigrierten Schriftsteller immer mitdiskutiert wurde, war das der Volkstümlichkeit. Das war bei den Wirkungsabsichten der antifaschistischen Schriftsteller nur zu natürlich und wurde zusätzlich angeregt durch sowjetische Diskussionen darüber. Dabei hatte Alfred Kurella im Schlußwort der Realismusdebatte feststellen müssen, daß dieser Begriff noch weitgehend „ungeklärt" sei, und Fritz Erpenbeck hatte der Erörterung dieses Problems seinen Beitrag gewidmet. 211 Becher bestimmte 1937 Volkstümlichkeit so: „Das Volk ist Vorbild. Das Volk ist die beste Schule der Einfachheit. Man kann nicht ,ins Volk' gehen, ein Dichter, der es unternimmt, ausgerüstet mit der Absicht, über das Volk zu schreiben, zum Volk sich herabzulassen, wird nichts Volkstümliches zustande bringen. (Bei Brecht wird eine ähnliche Haltung als .volkstümlich von oben herab' charakterisiert.) Im Volke lebend, vom Volke lernend . . ." 212 Becher reflektiert über die Beschaffenheit einer „wahrhaft nationalen deutschen Volksliteratur", die sich durch „Einfachheit und Volkstümlichkeit" auszeichne. Die Sprache erhält dabei eine spezifische Funktion: „Wer sein Volk liebt, wird diese Liebe auch auf die große Dichtung des Volkes und auf die Sprache übertragen. Behandeln wir die Sprache fahrlässig, so ist dies auch ein gleichgültiges liebloses Verhalten gegenüber unserem Volk, das diese Sprache geschaffen hat." 213 Voraussetzung für Volkstümlichkeit ist auch Liebe zum Volk, und die Parteilichkeit einer volkstümlichen deutschen Literatur muß konkret bestimmt werden: „Sie (die Literatur - S. B.) wird überzeugungskräftig gestalten können, daß, wer Deutschland wahrhaft liebt, sich gegen Volksfeinde und Vaterlandsverräter empören muß, die heute in Deutschland herrschen." 214 In dem Bemühen, Volkstümlichkeit so86
zial und historisch konkret, aus den Aufgaben der Realität, dem Kampf gegen den Faschismus zu bestimmen, liegt der Unterschied etwa zu Lukäcs' Bestimmung dieser Kategorie. 215 * Zugleich ist jedoch nicht zu übersehen, wie die Konzeption Lukäcs' von einer „demokratischen Volkstümlichkeit" (gegenüber einer „liberalen Volksfremdheit"), die darin bestehe, „Richtlinien und Losungen zu finden, die aus diesem Volksleben die fortschrittlichen Tendenzen zu neuem, politisch wirksamem Leben erwecken", Becher beeinflußte. 216 Und zwar in Zusammenhang mit seiner Klassikrezeption. Das wird besonders eklatant, wenn Becher 1938 als Aufgabe formuliert: „. . . die Volkstümlichkeit der Klassiker zu erreichen, solche volkstümlichen Gestalten zu schaffen, wie deren die klassische Literatur zahlreiche aufweist, damit das gestaltete Bild für die vom Faschismus geknechteten Volksmassen zum Vorbild der Erhebung werde." 217 So wenig stimmig die angenommene Volkstümlichkeit der Klassik literaturhistorisch war, so problematisch mußte sich die alleinige Bindung der antifaschistischen Literatur an klassische Traditionen in der Praxis auswirken. Becher überschätzte offenbar die Möglichkeiten einer direkten Weiterführung dieser Traditionen. Horst Haase hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen: Bei Bechers Aufnahme volkstümlicher Elemente der lyrischen Gestaltung handelt es sich um eine direkte Übernahme bestimmter Formen aus dem klassischen (und romantischen) Erbe; dagegen gab es keine Aufnahme oder Weiterführung volkstümlicher Elemente und Formen des 20. Jahrhunderts, die von der Arbeiterklasse entwickelt worden waren (Agitprop u. a.), also aus der gegenwärtigen künstlerischen Produktion des Volkes. Haase konstatierte, daß das Problem der a k t u e l l e n volkstümlichen Formen bei Becher in diesen Jahren keine Rolle gespielt und der Begriff Volkstümlichkeit in diesem Sinne nirgends verwendet wurde.21® Damit wird ein wesentliches Moment dieses Begriffes ignoriert jenes, das Brecht in seiner Definition „was volkstümlich heißt" mit „ihre (der breiten Massen — S. B.) Ausdrucksform aufnehmend und bereichernd" bestimmt hatte. 219 Bei unserer Erörterung sind wir von einem Begriffsverständnis von Volkstümlichkeit ausgegangen, wie es Brecht am 87
umfassendsten und überzeugendsten ausgearbeitet hat: „Volkstümlich heißt: den breiten Massen verständlich, ihre Ausdrucksform aufnehmend und bereichernd / ihren Standpunkt einnehmend, befestigend und korrigierend / den fortschrittlichsten Teil des Volkes so vertretend, daß er die Führung übernehmen kann, also auch den anderen Teilen des Volkes verständlich / anknüpfend an die Traditionen, sie weiterführend / dem zur Führung strebenden Teil des Volkes Errungenschaften des jetzt führenden Teils übermittelnd." 220 In neuesten literaturwissenschaftlichen Publikationen wird der Unterschied der Begriffe Volkstümlichkeit-Volksverbundenheit reflektiert und gegen die oft synonyme Verwendung beider Termini polemisiert. 221 In dem von uns behandelten historischen Zeitraum der dreißiger und vierziger Jahre wird vorrangig „Volkstümlichkeit" verwendet, und zwar in einem inhaltlich b e i d e Begriffe umfassenden Sinne. Der Begriff „Volksverbundenheit" taucht lediglich bei Lukäcs, und auch bei ihm nur vereinzelt als „Verbundenheit mit dem Volk" auf, sonst verwendet er „Volkstümlichkeit". Es erscheint uns deshalb nicht angemessen, wenn die heutige Begriffsdifferenzierung historisch zurückprojiziert wird und „Volkstümlichkeit" durch „Volksverbundenheit" ersetzt wird. 222 In dem programmatischen Aufsatz Von den großen Prinzipien in unserer Literatur versucht Becher ein Resümee deutscher Literaturentwicklung der letzten Jahre. Er beginnt mit der Einschätzung jüngster literarischer Prozesse: sieht in der „Verbindung des Humanistischen mit dem Volkstümlichen, des Freiheitlichen mit dem Heimatlichen" die Anfänge einer „wahrhaft nationalen deutschen Volksliteratur", einer „Renaissance der deutschen Literatur" 223 (bewußt eine Begriffsprägung Heinrich Manns aufnehmend) 2 2 4 Dabei handele es sich um eine Entwicklung, die sich in voller Übereinstimmung mit den politischen Notwendigkeiten befinde, wie sie auf dem VII. Weltkongreß der KI dargelegt worden seien und wie sie dem Charakter der Volksfrontbewegung entsprächen. Der gegenwärtige literarische Zustand biete ein kompliziertes, an Varianten reiches Bild, wobei die verschiedenartigen geographischen Standorte auch verschiedenartige Stufen des 88
Klassenkampfes darstellen. Dieser differenzierten Einschätzung fügt Becher folgende problematische Beurteilung der deutschen Literaturentwicklung unmittelbar vor 1933 hinzu: ein Teil der linken Literatur habe sich in einem Zustand des Experimentierens und der avantgardistischen Abgeschlossenheit befunden; „auch der Arbeiter-Literatur gelang es kaum, die sozialen und nationalen Interessen des deutschen Volkes . . . zu gestalten" 2 2 5 . Zur Begründung dieser These über die mangelnde Wirkung der Arbeiterliteratur zitiert Becher aus Engels Brief an M i ß Harkness die Passage über die Tendenz. Es wird deutlich, daß mit dem Begriff „Arbeiter-Literatur" hier die proletarisch-revolutionäre Literatur gemeint ist. In dieser Terminologie drückt sich eine veränderte Wertung aus. D e r bisher für die kleinbürgerlich-sozialdemokratische Dichtung im Stil von Lersch, Bröger verwendete Begriff Arbeiterliteratur dient jetzt zur Kennzeichnung der proletarisch-revolutionären Literatur. 2 2 6 D i e fehlerhafte „tendenzielle Gleichsetzung avantgardistischer Isolierung bürgerlicher Literatur mit der klassenmäßigen Operativität der revolutionären Arbeiterliteratur" 2 2 7 war zweifellos eine Folge der Argumentationsweise von Georg Lukacs. Weiterhin spricht Becher davon, daß sich die Überwindung dieser Verfalls- und Isolierungstendenzen (genannt waren die „linke Literatur" und die „Arbeiter-Literatur") in der Emigration im Zeichen des „realistischen Durchbruchs" vollziehe. Auf die in der U d S S R lebenden Schriftsteller eingehend, hebt er hervor, daß der Aufbau des Sozialismus mit der Vermenschlichung der gesellschaftlichen Beziehungen aufs beste alle realistischen Bestrebungen unterstütze: „Der sozialistische Realismus ist gerade der treffendste Ausdruck des neuen universellen und harmonischen Menschen." 2 2 8 * Das Zentrum des Aufsatzes bildet die Erbekonzeption. Becher begründet die Notwendigkeit, das Eribe zu studieren und zu pflegen als Gesetzmäßigkeit sozialistischer Literaturauffassung. Es sei deshalb kein Zufall, daß die Wiederentdeckung des Erbes in der U d S S R ihren Ausgang nahm. „Schon diese Tatsache dürfte die Ansicht widerlegen, als ob wir ,einzig' helfen müßten, klassisches Material, das für den antifaschistischen Kampf geeignet ist, auszusondern und zu präparieren." 2 2 9 Dieser
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Satz richtete sich direkt gegen Auffassung und Formulierungen von Hanns Eisler, die dieser gemeinsam mit Ernst Bloch in dem Beitrag Die Kunst zu erben1530 in der Realismusdebatte formuliert hatte. Eisler hatte u. a. auf das „Wie" der „Erbmethode", der kritischen Verarbeitung des historischen Erbes unter dem Gesichtspunkt der Funktion im antifaschistischen Kampf hingewiesen und von daher die Aussonderung, Auswahl von Geeignetem und Präparation gefordert. Diese Wendung gegen Eisler, die den einzigen direkten Bezug zur Realismusdebatte bei Becher belegt, beruhte auf seinem Mißverstehen des Zusammenhangs von Eislers politischem Anliegen und dessen Erbekonzeption. Eisler hatte deutlich unterschieden: zwischen der Aufgabe der Antifaschisten innerhalb Deutschlands, die die von der faschistischen Kunstbürokratie zugelassene Klassik im revolutionären Sinne interpretieren sollten, und der Aufgabe der Antifaschisten außerhalb Deutschlands, die klassisches Material, das für diesen Kampf geeignet ist, aussondern und präparieren sollten. „Das verpflichtet aber weiterhin, das historische Erbe, dem Mißbrauch der Nazis gegenüber durchaus kritisch zu verarbeiten". 231 Es war kein Zufall, daß der Satz vom Aussondern und Präparieren klassischen Materials in dem die Realismusdebatte abschließenden Aufsatz von Lukäcs Es geht um den Realismus sowie in Eislers und Brechts Stellungnahmen eine Rolle spielte, ging es doch um eine zentrale methodische Frage bei der Erbeaneignung der antifaschistischen Literatur. Eislers und Brechts Ausgangspunkte waren vor allem die aktuellen Produktionsprobleme der antifaschistischen Künstler. Für die politische Wichtigkeit der von Eisler mit Blick auf die „Praxis der Antifaschisten in Deutschland" formulierten Aufgabe spricht sein in Heft 1/2 1938 der Internationale (hg. vom ZK der KPD) veröffentlichter Artikel Mit Musik kämpfen; dort erläutert er in dem Abschnitt Unsterbliche Bundesgenossen die oben beschriebenen Anforderungen an die Antifaschisten innerhalb Deutschlands. Eisler entwickelte hier, auch Gedanken eines Vortrags von 1935 fortsetzend, 232 die vielfältigen Möglichkeiten des revolutionären Kampfes in Deutschland auf kulturellem Gebiet und beschrieb zwei Arten des Verhaltens zu den großen Kunstwerken der Vergangenheit: An-
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betung, Verehrung, Gläubigkeit und ein kritisch-historisches Herangehen. Ohne sich damit im Widerspruch zu Eisler zu befinden, betont Becher, daß es auf „Menschengestaltung", das „Künstlerische" ankäme, ein politisches Bekenntnis genüge nicht. Der Vulgärmarxismus habe gerade diese zweite Seite des Künstlers (wie weitgehend er als Menschengestalter den unmenschlichen barbarischen Tendenzen seiner Zeit Widerstand leiste) ignoriert. Deshalb habe Georg Lukäcs recht, wenn er die Klassiker als Maßstab und Vorbild für eine reiche und tiefe Menschengestaltung setzt und die progressive und erzieherische Wirkung von Schriftstellern wie Gorki und Rolland, Thomas und Heinrich Mann bestehe gerade darin, daß sie in ihrem Werk die unmenschlichen und unkünstlerischen Tendenzen ihrer Zeit bekämpften; durch ihr Werk wehe der große lebendige und befreiende Geist der klassischen Periode. An diese Lukäcs-Äußerung anschließend entwickelt Becher seine Realismusauffassung: „Der Realismus ist seinem Wesen nach durchaus demokratisch. Er verträgt es am wenigsten, aus sich ein Rezept für Epigonen zu machen, er bildet keine Schule, so kann auch ein Maxim Gorki in jenem schlechten oberflächlichen formalistischen Sinne keine Nachahmer finden . . . Der Realismus ist alles andere als einförmig. Da er das Leben am wahrheitsgetreuesten widerspiegelt, setzt er keine anderen Grenzen als die unermeßlichen Grenzen des Lebens selbst." 233 Dieser Satz, auch in Zusammenhang mit der 1936 vorgetragenen Auffassung über Wesen und Erscheinung im Gedicht 234 gesehen, verdeutlicht den großen Einfluß von Lukäcs auf Bechers Verständnis der Leninschen Widerspiegelungstheorie als dem Kernstück der sozialistischen realistischen Methode: So tritt jetzt beim Wirklichkeitsbegriff die Perspektive in den Hintergrund - ein Gedanke, den Becher 1935 schon einmal in Aufnahme und Weiterführung von Gorkis Theorie der drei Wirklichkeiten formuliert hatte. Ohne Zweifel stellte die Debatte um das künstlerische Erbe und die schöpferische Methode der Literatur eine neue Qualität der sozialistischen Literaturentwicklung dar. Und der z. B. in der Internationalen Literatur erfolgte Abdruck von Texten klassi91
scher Dichter (Goethe, Schiller, Hölderlin), literaturgeschichtlicher Abhandlungen über die Dichter und Philosophen der klassischen Periode bot ein gutes Diskussionsmaterial. Problematisch und einseitig war es allerdings, wenn aus der Literatur vergangener Epochen normative Modelle für die Gegenwart konstruiert wurden. Dagegen wandten sich in der Auseinandersetzung vor allem Eisler und Becher, aber auch Anna Seghers. Über Bechers Methode der Erbeaneignung schreibt Horst Haase, daß er zeitweilig das kritische Element, das in Lenins Forderung der Aneignung des Erbes der Weltkultur immanent enthalten ist, gegenüber einigen Bereichen des klassischen Erbes partiell aufgegeben zu haben scheint. So entbehre Bechers Goethe-Bild beispielsweise jener Widersprüchlichkeit, die etwa Engels bei aller Hochschätzung des klassischen Dichters im Leben und Schaffen Goethes aufgedeokt habe. 235 Die Realismusdiskussion im Wort hatte seinerzeit erwiesen, wie kompliziert die Anwendung der Volksfrontpolitik auf literarischem Gebiet war. Brecht als einer der drei Herausgeber der Zeitschrift hatte z. B. befürchtet, daß die Debatte, wenn sie so weitergehe, die Produktion blockiere. 236 Er verzichtete im Interesse der Geschlossenheit der antifaschistischen Volksfront auf die Publikation seiner Beiträge 237 * und empfahl den Abbruch der Debatte, weil sie die Gegensätze unerträglich verschärfen würde, was im Interesse der Antihitlerfront zu vermeiden sei. 238 Von der gleichen Ansicht geleitet, schrieb er im März 1937 an Becher einen Brief, in dem er ihn um Hilfe und Vermittlung in einer „ärgerlichen Sache" bat. 239 Diese bestand darin, daß Julius Hay, ein in deutscher Sprache schreibender, emigrierter ungarischer Dramatiker, darauf insistierte, daß ein von ihm, als Entgegnung auf einen Aufsatz von Bernhard Reich über die antifaschistische Dramatik, verfaßter Artikel 240 * im Wort abgedruckt werden sollte. Dieser Aufsatz, „an Invektiven reich, an Inhalt arm", stelle einen Angriff auf jede Tarnung auf dem Theater dar. Hay wolle Dimitroffs Trojanisches Pferd partout nicht auf die Bühne lassen. Brecht wies auf die abstrakte und schädliche Betrachtungsweise dieses Problems in bezug auf das Schreiben und Aufführen getarnter Stücke in demokratischen Ländern hin: „Diese Leute wie Hay haben über ihren forma92
listischen Interessen alles Praktische des wirklichen Kampfes einfach vergessen." Er habe in einem freundlichen Brief an Hay den Abdruck des Aufsatzes abgelehnt und bitte nun Becher, die Genossen aufzuklären, warum der Abdruck zu diesem Zeitpunkt nicht erfolgen kann. „Es muß nur verhindert werden, daß jetzt in der Emigration ein öffentlicher literarischer Formenstreit entsteht, der unbedingt größte Schärfe annehmen würde, wie Hay-s Artikel zeigt, und daß literarische Versuche, die Wahrheit über den Feind in getarnter Form durchzuschmuggeln, diesem denunziert und dadurch sabotiert werden. Kurz, wir können keinen Hay-Schnupfen brauchen." 241 Der Artikel erschien im Wort nicht. Denkbar ist aber eine Publikation in anderen Zeitschriften. 242 * Hay galt in der Sowjetunion besonders nach seinem Stück Haben als d e r große sozialistische Dramatiker, vor allem Lukäcs interpretierte seine psychologisch großangelegten Charakterdarstellungen als d e n (sozialistischen) Realismus, der den „Abstraktionen undramatischer Lehrstücke" gegenüberzustellen war. Bernhard Reich gibt an, daß Hay nicht nur Brecht gegenüber, sondern auch gegenüber Friedrich Wolf (dem man vorwarf, daß er zu sehr Handlungen liebe und ungenügend psychologisch gestalte) als echter großer Dramatiker herausgestellt wurde.243 Für Brecht bildeten Lukäcs und Hay das theoretische Zentrum der „Moskauer Clique", die er eine der Einheitsfront schädliche Politik betreiben sah. 244 * Tatsächlich spielte Lukäcs eine bestimmende Rolle, was sich u. a. auch in seiner Wahl in die Leitung der Deutschen Sektion zeigte. Er orientierte die Moskauer Emigrantengruppe mit seiner die Bedeutung der Klassik und der Literatur des 19. Jahrhunderts verabsolutierenden Erbeauffassung und seiner weitgehend normativen Realismuskonzeption forciert gegen die bisherigen Ergebnisse der sozialistischen Literaturbewegung, besonders gegen die Werke der proletarisch-revolutionären Phase. Neuestes Zeugnis dafür ist ein 1972 erstmalig in deutscher Sprache publizierter Aufsatz von Lukäcs über Gustav von Wangenheim (1935), in dem er nachweisen will, daß die „Hauptschwierigkeit für den Durchbruch zum sozialistischen Realismus im Drama" 245 das Lehrstück (-proletarisch-revolutionär) bildet. 93
Becher gehörte in dieser Zeit zum engsten Kreis um Lukäcs und wurde stark von dessen Anschauungen beeinflußt. Sein teilweise „unfreundliches Verhältnis" zu Willi Bredel, Friedrich Wolf oder Hans Marchwitza ist auf diesen Einfluß zurückzuführen.246 Ein deutliches Indiz war z. B., daß Becher z w e i Aufsätze über Julius Hay veröffentlichte und nicht einen über Friedrich Wolf, Maxim Vallentin oder Gustav von Wangenheim. In einem kurzen Artikel über das Stück Haben schätzt Becher 1938 Hay als bedeutendes Talent, beeinflußt von Büchner und Gorki, ein. Das in der Sowjetunion entstandene Stück zeuge von der geschichtsbildenden Kraft des Sowjetunionaufenthaltes für einen emigrierten Künstler. 247 * Zwei Jahre später, 1940, schrieb Becher einen umfangreichen Aufsatz zu Hays Stück Der Putenhirt, der nur in russischer Sprache veröffentlicht wurde. Er zeigt besonders deutlich den Einfluß der Lukäcsschen Theorien und seines Begriffssystems. Hay wird als d e r wahre Menschengestalter, der mit „Kenntnis und Aufrichtigkeit Gestalten aus dem Volk zeichnet", beschrieben. Er vermittele „ein treues Bild der Wirklichkeit" und beweise die Richtigkeit des Goetheschen Satzes erneut, daß derjenige, dem es nicht gelingt, sich über die Natur zu erheben, notwendigerweise unterhalb der Natur bleiben muß. Die Bedeutung seines Realismus sei um so höher einzuschätzen, weil es gerade in der „linksgerichteten Literatur des Westens" zahlreiche Anhänger des „epischen" oder des „revuehaft ausgestatteten dokumentarischen Dramas" gäbe, die sich unter einem revolutionären Vorzeichen den Auflösungstendenzen des Kapitalismus anpaßten. 248 * Aber auch die proletarisch-revolutionäre Literatur könne angesichts Hays „vollwertiger Gestaltung der Menschen aus dem Volk" nicht bestehen: „Gerade in der Entwicklung unserer Literatur muß darauf als auf ein besonderes Verdienst hingewiesen werden. Noch sind uns jene Art von Dramen, Romanen etc. in schlechter Erinnerung, worin uns zwar mit nicht geringem deklamatorischem oder losungshaftem Aufwand der Sieg des Volkes versichert wird, die Träger des Sieges aber in einer menschlich verkümmerten Art erscheinen, uns auf diese Weise wenig Vertrauen einflößend, daß sie den Sieg je erringen könnten." 2 4 9 * Für die in den kapitalistischen Ländern entstehende, 94
gegen den imperialistischen Völkermord gerichtete Literatur komme es darauf an, die Lehren etwa aus dem Expressionismus zu ziehen, der unzweifelhaft gegen den Krieg gerichtet gewesen sei, dessen künstlerische Methode aber diese kriegsgegnerische Wirkung außerordentlich abgeschwächt und ihn in weitesten Kreisen nur als Kuriosum ha'be erscheinen lassen. Abgesehen von einigen deutlich bei Lukács entlehnten Formulierungen (z. B. „wahre Menschengestaltung") ist an dieser Arbeit besonders problematisch, daß Becher hier in gleicher Weise eine Front aufbaute gegen die sogenannten „Linksbürgerlichen" und „Deklamatoren und Agitatoren" ( = proletarisch-revolutionär) und damit wenig zu einer differenzierten und historisch-konkreten Einschätzung dieser literarischen Erscheinungen beitragen kann. Die vielgespielten Dramen Hays entsprachen offensichtlich auch dem von Konstantin Stanislawski auf den sowjetischen Bühnen durchgesetzten „szenischen Realismus". Bela Balázs schrieb im Wort 1938 über den Zusammenhang zwischen der neuen Etappe der sozialistischen Kulturrevolution und der großen Ehrung Stanislawskis bei gleichzeitiger Absetzung Meyerholds. Er wies auf die Ansprüche des neuen Theaterpublikums Ende der dreißiger Jahre hin, auf die wachsende Bedeutung der Persönlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft. Die neue Sowjetintelligenz, das sowjetische Volk verstehe die Meyerholdsche „überpersönliche Kunst" nicht, Shakespeare und Goethe, Puschkin und L. Tolstoi dagegen verstehe es. 250 * Die hier formulierte ausschließliche Bindung der sozialistischen Kunst an das bürgerliche Erbe, das es zu vollstrecken gelte sowie die Auffassung, Volkstümlichkeit nur mit konventionell tradierten Formen zu erreichen, diese Sicht ist Folge negativer, das literarische Leben dogmatisierender Erscheinungen, die mit „der Verletzung der Leninschen Prinzipien des Partei-, Staats- und des kulturellen Aufbaus in Zusammenhang standen" 251 *. Wie einseitig die Balázssche Argumentation ist, wird klar, wenn man daran denkt, daß Brecht zur gleichen Zeit das revolutionäre Kunstschöpfertum des Proletariats betont: daß das Volk die (künstlerischen) Mittel nach dem Zweck befrage, „denn die Argumente der Arbeiter waren niemals literarische oder theater-ästhetische" 252 . Und 95
Eisler stellt folgende Überlegungen zur Möglichkeit der Zusammemführung der politischen und ästhetischen Avantgarde an: „Mit neuen künstlerischen Mitteln kommt man in einer so dringenden und zwingenden Weise an das soziale Bewußtsein der Massen heran, daß das Niveau nicht als Hindernis, sondern als wirksamstes Moment des Kunstwerkes empfunden wird." 253 Im Sommer 1938 starb Stanislawski. Becher veröffentlichte im Namen der Deutschen Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbandes eine sachliche Erklärung in der sowjetischen Fachzeitschrift Sowjetskoje isskustwo mit dem Titel Ein Meister großer Menschenkunst / Zum Tode von K. Stanislawski. Darin wird Stanislawski als der führende Vertreter der sowjetischen Theaterkunst gewürdigt, der seinerzeit auf seinen Gastspielen im Westen den Beweis für den Übergang zur sozialistischen Kultur demonstriert hatte. „In unserer Arbeit auf dem Gebiet des sowjetischen Theaters, in unserem Kampf für die Schaffung einer Volks- und fortschrittlichen deutschen Bühnenkunst, zeigte Stanislawski uns den Weg zum Realismus, zum Humanismus." 254 * Das Erbe dieser führenden Persönlichkeit gelte es fortzuführen im Kampf gegen die faschistischen Barbaren und weiterzugehen auf dem Wege Stanislawskis. Ein in der Realismusdebatte aufgeworfenes Problem wurde 1939 in einem Dialog zwischen Peter Wieden und Georg Lukdcs in der Deutschen Zentral-Zeitung weiterdiskutiert. Wieden hatte in einem Aufsatz über die Internationale Literatur u. a. die Frage gestellt, wie weit es möglich sei, die Gesetze des sozialistischen Realismus von der Sowjetliteratur „einfach" auf jegliche andere Literatur zu übertragen. Seiner Meinung nach seien im Kampf gegen den Faschismus, gegen die Zerrbilder des verfaulenden Kapitalismus nicht nur die Mittel des sozialistischen Realismus gestattet. Im Kampf gegen den Faschismus werde es nicht immer möglich sein, die Welt „nur realistisch" darzustellen. Formen wie Pamphlet, Polemik, Apokalypse und ähnliches seien legitim. Er würde es für falsch halten, von vornherein alle anderen künstlerischen Ausdrucksmittel zu verurteilen. 235 Lukäcs fühlte sich in seinen Intentionen gründlich mißverstanden und antwortete vier Wochen
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später unter dem Titel Grenzen des Realismus?. E r verweist zunächst auf sein in dem Aufsatz Es geht um den Realismus dargelegtes Konzept. Dieser Aufsatz habe die Grundlinie der Internationalen Literatur vertreten: „Es geht also - wieder und nicht erst jetzt - einfach um den Realismus, und n i c h t um den sozialistischen Realismus. In dem Aufsatz wird von den sozialistischen Realisten nur Maxim Gorki genannt, aber stets zusammen mit Romain Rolland, Thomas und Heinrich Mann." Lukäcs hebt also das hervor, was ihnen allen gemeinsam ist, nämlich den „ R e a l i s m u s ü b e r h a u p t " , 2 5 6 Mit dem Hinweis auf den „Realismus überhaupt" war allerdings die Einschätzung der Literaturströmungen des 20. Jahrhunderts, um die es Wieden ging, nicht möglich. Sein Einwand signalisierte eine Leerstelle in Lukäcs' System und eine wichtige Aufgabe für die marxistische Kunsttheorie. Wiedens in den sechziger Jahren unternommener Versuch, zur Lösung dieses Problems beizutragen, scheiterte jedoch an dem von ihm entwickelten idealistischen Wirklichkeitsbegriff. 2 5 7
P r o p a g a n d i s t i s c h e T ä t i g k e i t f ü r die d e u t s c h e antifaschistische L i t e r a t u r Überzeugt von der Wichtigkeit der Aufgaben, die der Literatur in diesen Jahren gestellt waren, wirkte Becher aktiv als Propagandist der deutschen antifaschistischen Literatur. Davon zeugen u. a. zwei umfangreiche Aufsätze, die er im Mai und Juni 1939 unter dem Titel Im Exil und Literatur in der Verbannung in der Literaturnaja gaseta veröffentlichte und von denen wir bis heute den deutschen Originaltext nicht kennen. 2 5 8 * D i e Artikel sollen den sowjetischen Leser mit den Schriftstellern und Werken der deutschen antifaschistischen Literatur bekannt machen, über Probleme und Schwierigkeiten informieren. Sie tragen Überblickscharakter und sind unter dem Einfluß der Berner Pateikonferenz (Januar 1939) konzipiert, auf der als Hauptaufgabe die Schaffung der Aktionseinheit aller Kräfte der deutschen Arbeiterklasse und der Volksfront aller Hitlergegner beschlossen worden war. 2 5 9 Becher definiert die deutsche antifaschistische Literatur als eine 7
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Literatur, die gegen die faschistische Barbarei kämpft und sich damit an vorderster Front des Kampfes für die Ideale einer besseren Zukunft der Menschheit, für Humanismus, Volkstümlichkeit, Menschenwürde und die revolutionäre Erneuerung der Welt befindet. Die Gemeinsamkeit der antifaschistischen literarischen Emigration bestehe in dem unversöhnlichen Kampf für die fortschrittlichen Zukunftsideale. Becher versucht einen Gesamtüberblick über die exilierte Literatur, Ziel seines ersten Aufsatzes ist, über Tatsachen zu informieren, welche die „komplizierten Wege der hervorragenden Vertreter der früheren ,linken' Literatur Deutschlands zur Volksfront beleuchten" - ein Tatbestand, der mit „Wiedergeburt" vieler deutscher Schriftsteller im Exil benannt werden könne. Dabei wird die Entwicklung Thomas Manns zu einem Vertreter des kämpferischen Humanismus besonders hervorgehoben. Auf das starke Interesse am historischen Stoff und Thema bei den emigrierten antifaschistischen Schriftstellern eingehend, erklärt Becher: „Es ist anzunehmen, daß mit dieser literarischen Gattung von den Dichtern der Versuch unternommen wird, die geschichtlichen Entwicklungsgesetze der Völker und der Menschheit tiefer zu erfassen." 260 Das sei der Fall bei Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig. Es folgen Bemerkungen über Bertolt Brecht und Anna Seghers: Brechts ausgezeichnete Werke seien erfüllt von Zorn und Haß und flammenden Aufrufen zum Kampf gegen den Faschismus. Seine Deutschen Satiren und Kleinen Stücke enthielten eine meisterhafte Gestaltung der Lebensverhältnisse in HitlerDeutschland. Anna Seghers letzte vier große Romane wiesen die künstlerische Reife dieser äußerst begabten Dichterin aus, die Erweiterung ihres politischen Gesichtskreises und die Bereicherung ihrer schöpferischen Methode. Als wertvolle Bestandteile der antifaschistischen Literatur werden die Werke von Oskar Maria Graf, Egon Erwin Kisch, Adam Scharrer, Theodor Plivier, Friedrich Wolf, Ludwig Renn, Gustav Regler, Willi Bredel, Erich Weinert gewertet. Die zu den besten Leistungen der deutschen antifaschistischen Literatur gehörenden Dramen Hays und das in Moskau „erstarkende Talent des hervorragenden deutschen Literaturwissenschaftlers und Theoretikers Georg Lukäcs" werden hervorgehoben. Lukäcs 98
setze die Tradition von Franz Mehring fort, indem er seine literarische Methode durch die Ideen der klassischen Schule der russischen Literaturkritik bereichere. 261 * Im zweiten Aufsatz Literatur in der Verbannung informiert Becher die Leser der Literaturnaja gaseta über die ungeheuren Schwierigkeiten des Emigrantendaseins der deutschen Schriftsteller in den kapitalistischen Ländern und über ihr diesen Schwierigkeiten trotzendes Schaffen. Er berichtet von Leonhard Frank, Alfred Döblin, Carl Zuckmayer, Ernst Weiß, Stefan Zweig, Bodo Uhse, Hans Marchwitza. Ein größerer Teil des Artikels ist den deutschen antifaschistischen Schriftstellern gewidmet, die in der Sowjetunion leben und arbeiten: Bela Baläzs, Fritz Erpenbeck, Gustav von Wangenheim, Adam Scharrer, Hedda Zinner, Hugo Huppert, den Kritikern Georg Lukacs, Andor Gabor, Alfred Kurella. Als allgemein im Schaffen dieser Schriftsteller bezeichnet Becher die Erweiterung der thematischen Grenzen und die Bewältigung neuer Gattungsformen sowie die breite und vielseitige Üfoersetzungstätigkeit. Die letztere sei für den Erfahrungsaustausch zwischen der deutschen antifaschistischen und der sowjetischen Literatur von großer Bedeutung. Gesondert geht Becher auf die Tätigkeit der deutschsprachigen Österreicher Stefan Zweig, Franz Werfel, Joseph Roth, Fritz Brügel ein. Dabei wertet er Joseph Roth in einem überraschend umfangreichen Teil in Anlehnung an Lukacs als „Realisten wider Willen". In beiden Artikeln weist sich Becher als genauer Kenner der literarischen Entwicklung aus, sie enthalten ein ausgewogenes Urteil. So z. B. wenn er die Breite der antifaschistischen Literaturbewegung als Einheit der Gegensätze begreift und nicht als Gegeneinanderausspielen der einzelnen Gruppen ansieht. Becher distanziert sich erstmalig von dem Begriff „Linke Literatur", indem er ihn in Anführungsstriche setzt und spricht nachdrücklich von der positiven Leistung Bertolt Brechts. 262 * Da Becher einen Überblick über die deutsche Exilliteratur geben will, ist es verständlich, wenn er die Gemeinsamkeiten der literarischen Entwicklung in den Vordergrund stellt und in diesem Zusammenhang auf eine Wertigkeit der einzelnen Teile der antifaschistischen Literatur verzichtet 7'
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(etwa der Kennzeichnung der sozialistischen Literatur als Kernstück der antifaschistischen Literatur). Aufschlußreich ist ein Vergleich dieser literarhistorischen Einschätzung mit der von Lukäcs, die etwa aus der gleichen Zeit stammt. Lukäcs unterscheidet in seiner Beschreibung der „Literatur unserer Zeit" erstens die offen antirealistische und apologetische Literatur, zweitens die Literatur der sogenannten Avantgarde, deren Haupttendenz die Entfernung bzw. Liquidierung des Realismus sei, drittens die Literatur der bedeutenden Realisten dieser Periode. Die proletarisch-revolutionäre Literatur wird also gar nicht erfaßt 263 . Becher hingegen sieht in den skizzierten Aufsätzen die antifaschistische Literatur als eine Literatur, die sowohl die proletarisch-revolutionäre als auch die „frühere Linke", die bürgerlich-kritischen Realisten und - wie noch zu sehen sein wird - die im Innern Deutschlands geschriebene antifaschistische Literatur umfaßt. Mit dieser Einschätzung wies sich Becher als kompetenter Sprecher der antifaschistischen Literatur aus. Zum fünfzigsten Geburtstag Erich Weinerts (1940) schreibt Becher einen Aufsatz, der eine differenzierte Beurteilung von dessen Leistung enthält. Er kennzeichnet den besonderen Stellenwert dieser Dichtung: „Erich Weinert hat den Weg freigelegt und offengehalten, der die Literatur mit den lebendigsten Kräften ihrer Zeit verbindet: mit dem Befreiungskampf des Proletariats. Neue Kräfte strömten von dorther der Literatur zu, neue Inhalte, neue Gestalten, neue Formen . . . Kühne Hoffnungen erstanden, weite Aussichten . . . so feiern wir heute Erich Weinert als Dichter, als Klassenkämpfer, als den Genossen." 264 Mit der Herausstellung des historisch Neuen der politischen Dichtung Weinerts ist für Becher die Grundlage für eine differenzierte Beurteilung der proletarisch-revolutionären Lyrik (damit auch seiner eigenen) gegeben. Für die exilierten deutschen Schriftsteller und Kritiker war es eine ständige Aufgabe und politische Verpflichtung, die politischen und kulturellen Prozesse innerhalb Deutschlands zu verfolgen. So wurde z. B. in der Internationalen Literatur und im Wort regelmäßig über die faschistische Kulturpolitik und eventuelle Widerstandshaltungen dazu informiert, Neuerscheinungen aus Deutschland fanden Platz im Rezensionsteil. 100
Becher beschäftigte sich in dem Aufsatz Literatur im Exil mit dem Verhältnis von Exilliteratur, antifaschistischer Literatur in Deutschland und faschistischer deutscher Literatur: Da gäbe es zunächst die antifaschistischen Schriftsteller, die es bei Tarnung ihrer Opposition dem Faschismus gegenüber zu großer Virtuosität gebracht hätten, dann eine Gruppe von Schriftstellern, die sich im ersten Jahr der Hitlerdiktatur gleichzuschalten versuchten, bald darauf aber von der Demagogie der Naziregierung enttäuscht worden seien und das in ihren Werken zum Ausdruck gebracht hätten. Beide Gruppen bilden die „innere Emigration", deren literarische Tätigkeit künftig Ergebnisse zeitigen werden, die schon heute nicht nur vom literarischen Standpunkt aus bewertet werden sollten, (daneben existiere die offizielle Literatur des faschistischen Deutschland, der jeder künstlerische Wert abgehe und die von einem kleinen Kreis literarischer Dilettanten produziert wird). Die Einbeziehung der Literatur der sogenannten inneren Emigration in dem Aufsatz ist wichtig für die Fragestellung Bechers, wie und ob im Dritten Reich Bündnispartner zu gewinnen seien: Hiermit ist einmal mehr belegt, daß die Bezeichnung historisch in den dreißiger Jahren entstand und gebräuchlich war, und zwar in einem durchaus nicht pejorativen Sinn. Die Problematik der Literatur der inneren Emigration bedarf jedoch einer kurzen Erläuterung. Es ist das Verdienst des sowjetischen Literaturwissenschaftlers Ilja Fradkin, in dem 1958 veröffentlichten Aufsatz Die Literatur des antifaschistischen Widerstands in Deutschland 1939-1945 erstmalig die Literatur in Deutschland mit nichtfaschistischem Charakter in dieser Zeit untersucht zu haben 265 . Zwei Thesen Fradkins die erste behauptete die Unmöglichkeit des l e g a l e n Erscheinens anti- bzw. nichtfaschistischer Literatur im Dritten Reich, die zweite betraf die Herleitung des Begriffes „innere Emigration" aus den Auseinandersetzungen n a c h 1945 - sind von Wolfgang Brekle in seiner Dissertation (1967), der bis heute einzigen umfassenden Darstellung der antifaschistischen Literatur innerhalb Deutschlands in der Zeit von 1933 bis 1945, widerlegt worden. 266 * Brekle weist die Entstehung und Verwendung des Begriffs „innere Emigration" für die Zeit v o r 1945 nach, und zwar
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in einem positiven Sinn. Er definiert: „Zur Literatur der inneren Emigration wird die Literatur gezählt, deren Autoren wie die Schriftsteller des Exils von der Nazi-Ideologie nicht beeinflußt waren, humanistische Werke schrieben und sich von der faschistischen Politik nicht gleichschalten ließen. Unter innerdeutscher antifaschistischer Literatur wird der Teil dieser Literatur verstanden, der als Mittel des antifaschistischen Widerstandes oder als Ausdruck antifaschistischer Haltung zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geschrieben wurde. Die innerdeutsche antifaschistische Literatur - auch als Widerstandsliteratur bezeichnet - ist ein Bestandteil der Literatur der inneren Emigration, und zwar ihr aktivster und - von der gesellschaftlichen Funktion her betrachtet - ihr wertvollster." 267 Die Verwendung des Begriffs „innere Emigration" in d i e s e m Sinn ist begründet. Becher verwendet ihn in dem Aufsatz von 1939 bereits in diesem weiten Sinne. Allerdings hat die Auseinandersetzung um diesen Begriff nach 1945 und seine Inanspruchnahme etwa für Gottfried Benn oder Ernst Jünger das von Brekle vorgeführte Einteilungsschema problematisch erscheinen lassen. Im Band 10 der Geschichte der deutschen Literatur wird der Terminus bereits einschränkend gebraucht: Es wird deutlich unterschieden zwischen einer Literatur, „die innerhalb Deutschands - meist illegal, manchmal auch legal - Widerstand gegen den Faschismus leistete, und einer sich auf den inneren geistigen Vorbehalt beschränkenden Literatur der ,inneren Emigration'" 268 . Gleichzeitig werden hier die Gemeinsamkeiten der Literatur des antifaschistischen Widerstandes und der antifaschistischen exilierten Literatur herausgearbeitet. In einer anderen Arbeit, von 1938, schreibt Becher: „In Deutschland selbst gibt es außer den illegalen literarischen Dokumenten eine öffentliche Literatur, die in den mannigfaltigsten verstecktesten Formen ihren Protest gegen das herrschende Regime zum Ausdruck bringt. In den Gedanken vieler Schriftsteller lebt die Konzeption gesellschaftskritischer Werke, die sich mit dem Dritten Reich beschäftigen und die nur auf die Gelegenheit warten, niedergeschrieben zu werden." 269 Und in einem einer faschistischen „Dichter-Tagung" in Weimar gewidmeten Aufsatz heißt es: „Mancher Dichter 102
ist uns bekannt, der, angewidert von der stumpfsinnigen Stramm-Steh-Dichtung und dem spießerhaften Muff anderer offiziell geförderter Erzeugnisse sich längst den wahren Werten der Literatur zugewandt hat, eine heimlich geschriebene oder nur in Gedanken aufgezeichnete Dichtung ist vorhanden, deren Veröffentlichung zu einer welterschütternden Anklage des herrschenden Regimes würde." 270 Diese Erwartungen wurden bekanntlich von der innerdeutschen nichtfaschistischen Literatur nicht erfüllt, nur der Widerstandsliteratur gelang es in einer Reihe bedeutender Werke, diesen Vorstellungen zu entsprechen. Dieser Wunsch Bechers - und die Hoffnung auf realistische kämpferische Werke innerhalb Deutschlands wurde von vielen Exilierten geteilt - war verständlich, er wurde aber gespeist von einer nicht den Realitäten entsprechenden Einschätzung der Verhältnisse im faschistischen Deutschland. In dieser Zeit neigte Becher zu einer gewissen Überbewertung des innerdeutschen Widerstandes, die er als Haltung und Handlung, dem deutschen Volk in seiner G e s a m t h e i t zuschrieb. Das hing eng zusammen mit seiner Idealisierung des „deutschen Menschen", die er erst in den vierziger Jahren überwand. Philosophische Fundierung des Literaturkonzepts und weltliterarischer Standort In zahlreichen Selbstzeugnissen und im dichterischen Werk Bechers seit den zwanziger Jahren sind drei Haupteinflußfaktoren aus dem Umkreis der Sowjetunion ablesbar: die Persönlichkeit und das Werk Lenins, die Sowjetliteratur und die klassische russische Literatur. Ende der dreißiger Jahre beschäftigte sich Becher intensiv mit Lenin, wobei der äußere Anlaß durch Gedenktage gegeben war. So entstanden anläßlich des fünfzehnten Todestages (1939) und des siebzigsten Geburtstages (1940) von Lenin zwei Aufsätze. Beide wurden nur in russischer Sprache veröffentlicht, deutsche Originale existieren nicht.271 Im Aufsatz Mein Weg zu Lenin beschreibt Becher seinen Weg zu Lenin als einen Weg „durch die Hölle des Weltkrieges", „von einem instinktiven Parteiergreifen für die russische 103
Revolution bis zum Eindringen in das verborgene Wesen des revolutionären Prozesses". Becher bestimmt die Bedeutung Lenins für seine Entwicklung: Er entdeckte bei ihm die geheimen Triebfedern des Krieges, Lenins Lehre vom Imperialismus eröffnete ihm Inhalt und Richtung der geselllschaftlichen Strömungen, zwischen denen er bis dahin blind umhergeirrt war, durch Lenins Lehre vom Staat und der Revolution wurde er mit einem Wissen ausgerüstet, das ihm half, in den herannahenden historischen Kämpfen den richtigen Platz zu finden. Lenin vermittelte Becher die Überzeugung von der welthistorischen Mission der revolutionären Partei des Kommunismus, er erschloß ihm die Gestalt des großen russischen Schriftstellers Leo Tolstoi. Becher erinnert sich an die Orte, in denen Lenin im Ausland gelebt hat (München, Zürich, Berlin): „Wie oft, wenn wir an diesem Haus vorübergingen (Klopstockstraße, Stadtbezirk Moabit - S. B.) blickten wir zu den Fenstern von Lenins Zimmer hinauf und versuchten, uns selbst zu sehen - mit seinen Augen. Und jeder von uns fragte sich (mit .uns' sind die Genossen der Parteiorganisation gemeint - S. B . ) : Wie würde Lenin zu Deiner Arbeit stehen ?"272* Der zweite Aufsatz Der Allernächste verallgemeinert diese subjektiven Erfahrungswerte und versucht eine zusammenfassende Darstellung des philosophischen, politischen und tätig praktischen Wirkens Lenins, dessen Bedeutung für die progressive Menschheit. In Lenin, dem kühnen Streiter der Partei, dem Philosophen und Theoretiker des Marxismus, dem vortrefflichen Kenner der Werke Leo Tolstois und dem Freunde Maxim Gorkis, sieht Becher einen „universalen Menschen, wie ihn die proletarische Revolution hervorgebracht hat". „Gedanke und Tat bilden bei ihm eine Einheit" - eine harmonische, allseitig entwickelte Persönlichkeit. Er erinnert an die Versuche der Intelligenz des alten Westens, die damals durch die entsetzliche Realität des ersten Weltkrieges aufgescheucht war und durch den Krieg zur Anerkennung der großen Wahrheit, daß die (Welt umgestaltet werden muß, gelangte, den „neuen", „ganzen", den „vollkommenen" Menschen zu finden. „Das war eine Ze ; t tragikomischer Experimente! Das war eine Zeit maßloser Kräfteverschwendung und grandioser 104
Träume." Nur der Leninismus kann verhindern, daß die Träume vom neuen Menschen und das Streben nach einem neuen Leben nicht tragikomisch scheitern. „Er gibt uns eine genaue Kenntnis von den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung." Von hieraus folgert Becher für das Menschenbild und den Realismus: „Der neue Mensch muß ein Realist sein, anders kann er gar nicht sein." Als einen Aspekt eines realistischen Verhältnisses zur Wirklichkeit sieht Becher bei Lenin die Fähigkeit, das „Kleine mit dem Großen und das Große mit dem Kleinen zu verbinden". Weiterhin nennt er: Meisterung der „Dialektik", die Durchdringung der Dinge und Erscheinungen und das Aufdecken ihres Wesens und ihrer Bedeutung. 2 ' 3 Damit verweist Becher auf den Zusammenhang von marxistischer Weltanschauung und realistischer Gestaltung, auf ein aktuelles Problem in den literatur-theoretischen Debatten um den Realismus (vgl. Exkurs II). Dieter Schiller hat auf die Bedeutung dieses Aufsatzes innerhalb der Diskussionen um das sozialistische Menschenbild als Grundproblem der Entfaltung des sozialistischen Realismus in den dreißiger Jahren hingewiesen. Er geht auch darauf ein, daß der Lukäcssche Aufsatz Das Ideal des harmonischen Menschen in der bürgerlichen Ästhetik bei der Konzipierung von Bechers Lenin-Aufsatz unverkennbar eine Rolle gespielt hat. Zugleich analysiert Schiller die tiefgreifenden Unterschiede beider Auffassungen. So weist er u. a. in Lukäcs' Urteil über Gorki nach, daß dieser nur den Zusammenhang mit der Tradition des bürgerlichen Humanismus, nicht aber die neue Qualität im Werk des sozialistischen Realisten erfaßt hat. „Der Vermenschlichiungsprozeß im Kampf der revolutionären Arbeiterbewegung wird dadurch aiuf die bloße Verwirklichung des in der bürgerlichen Gesellschaft nicht realisierbaren Ideals des harmonischen Menschen reduziert." 274 Schiller betont mit Recht, daß Becher demgegenüber die qualitativ neuen Züge des sozialistischen Humanismus hervorgehoben und die universale Persönlichkeit Lenins nachdrücklich als Ergebnis der proletarischen Revolution gekennzeichnet hat. Becher sah in dem Verhältnis Lenin-Gorki die Beziehung eines Politikers zu einem Künstler auf produktive, vorbildhafte Weise realisiert. 275 Darüber reflektierte er, der Einfluß 105
beider Persönlichkeiten verbindet sich daher in der Erörterung. So etwa in den gleichzeitig mit den Lenin-Arbeiten entstandenen Gorki-Artikeln von 1939 und 1940. In Der politische Dichter diskutiert er dieses schon früher in Angriff genommene Thema (1937 über Gorki und Heine) zentral und bestimmt erneut seine Auffassung von einem politischen Dichter am Beispiel Gorkis: „Gorki wirkte wahrhaft politisch, indem es ihm gelang, alle Lebensäußerungen und Lebensinteressen seines Volkes in vielgearteten und reichgegliederten Gestalten zusammenzufassen, er vertiefte und erhöhte das Leben seines Volkes." Merkmale seiner künstlerischen Methode sind: das Besondere ist mit dem Allgemeinen verwoben, das Gewöhnliche und Bedeutende durchdringen einander, sie ist frei von falscher Aktualität, Thema und Mittel sind sich adäquat, Gorkis Darstellung erfolgt ohne scheinoptimistische Lösungen, seine Werke sind im Goethischen Sinne realistisch („Wem es nicht gelingt, sich über die Natur zu erheben, der muß notwendigerweise unterhalb der Natur bleiben"). Die Grundlage eines solchen Schaffens sieht Becher in Gorkis „unerschütterlicher Liebe zu seinem Volk, die zugleich die unerbittliche Feindschaft all denen gegenüber einschließt, die die menschliche Gesellschaft zur Menschenhölle" werden ließen. Zum Bild des politischen Dichters gehört das ständige Gespräch mit dem Volk, auch in publizistischer Form: „Keine dieser zahlreichen Äußerungen Gorkis sinkt in Phraseologie ab, niemals gibt er sich politisierend, das Aligcmein-Bekannte, von ihm ausgesprochen, erscheint neuartig und erstmalig. Wo er als Bekenner vor uns hintritt, hat die Bekenntnis seiner Weltanschauung Grund und Boden." Abschließend fordert Becher die Schriftsteller auf, sich öfter und gründlicher die Frage vorzulegen: „Wie haben wir das Vermächtnis verwaltet, das uns die Literatur der Vergangenheit hinterlassen hat? Wie verhält sich unser Schaffen zu dem Gorkis, der zu den edelsten Gestalten unseres literarischen Vermächtnisses gehört?" 276 Daß Becher diese Aufforderung an sich seihst immer wieder stellte, zeigt seine kontinuierliche Beschäftigung mit Gorki. Becher konfrontiert Gorki als politischen Dichter mit jenen nach aktuellen Effekten haschenden „politisierenden Dichtern", die 106
ihre Kräfte darin erschöpfen, politische Ereignisse mit künstlerischen Illustrationen zu versehen, er konfrontiert ihn aber ebenso mit den l'art pour l'art Künstlern. Hier wirkt die schon erwähnte Tendenz mit, die operativ politische Dichtung und die sogenannte modernistische Literatur gleichermaßen abzuwerten. Auch die Bemerkung, daß Gorki ein politischer Dichter wie Äschylus, Dante, Shakespeare, Cervantes und Goethe sei und in einer Reihe mit Puschkin und Tolstoi stehe, ist von zwei Seiten zu betrachten. Einerseits wird die Funktion dieser Dichter als Repräsentanten der jeweiligen progressiven Bestrebungen ihrer Zeit betont, andererseits wird zugleich das historisch neue Moment des mit dem Proletariat verbundenen politischen Dichters im 20. Jahrhundert vernachlässigt. Auch der ein Jahr später geschriebene Aufsatz Ein Leuchtfeuer flammt unverlöschlich fragt nach der aktuellen Bedeutung277* In ihm analysiert Becher - ein Jahr nach Beginn des zweiten Weltkrieges - , wie bei Gorki die aktuellen Fragen des Krieges, seiner Ursachen und Folgen behandelt werden. Das Fazit lautet: „Die Forderung Lenins, das Geheimnis, mit dem sich jeder Krieg umgibt, zu enthüllen, wird von Maxim Gorki in seinen Streitschriften meisterhaft erfüllt." Als „streitbarem Menschengestalter" gelang es ihm wie keinem anderen Dichter seiner Zeit, die nationalen Eigentümlichkeiten der allgemeinen Zersetzung (der gewaltige soziale Auflösungs- und Umschichtungsprozeß, wie er um die Jahrhundertwende anhebt) so anschaulich zu machen, daß sie zugleich „Schicksale weltgeschichtlicher Tragik" repräsentierten. Die Größe der Kunst Gorkis sieht Becher in der Gestaltung des Werdens und Gewordenseins menschlicher Individuen. Er wendet hier das für seine eigene Person und sein Schaffen zeitlebens zentrale Motiv vom Anderswerden auf Gorki an: „Jedes Gewordensein verheißt auch ein Anderswerden. In jeder der verunglückten Kreaturen weist uns Gorki die Keime zu einem vollwertigen Menschen nach. Darin übertrifft Gorki alle zeitgenössischen Dichter, daß er die menschliche Gesellschaft in ihrer Bewegtheit und Entwicklung zu erfassen vermag und dabei die ungeheuren Widerstandskräfte entdeckt, die an der kapitalistischen Unterdrückungsmaschinerie zu 107
revolutionären Bruchstellen werden." 278 Die Grundlage dafür sieht Becher in Gorkis „kämpferischer Aneignung der Wirklichkeit". Auch in dem Gorki gewidmeten Gedicht aus dem Glückssucher ist von dessen Haltung zur Realität die Rede: „Der „Bittere" hieß er, weil er Bitteres nicht In Süßes fälschte und was bitter war, Das Bittere nannte. Denn die Bitternis War groß. Welch ein Geschmack, wie widerlich War Um Und Wir
diese Armut! Tief muß man sie kosten, ihren bitteren Kern herauszuspucken, um zu sagen: so, jetzt sind voll des Leids. Genug der Bitternis." 279
Dieser Realismus zeichne Gorki allen jenen gegenüber aus, „die sich bei der Darstellung der kapitalistischen Zersetzung solcher Methoden bedienen, die aus der Zersetzung selbst stammen und die jede realistische Darstellung verengen oder verkümmern müssen". Hier wird deutlich, daß Becher die Lukäcssche, weitgehend formalistische Dekadenzkonzeption unkritisch übernimmt, derzufolge die Darstellungsweise, Methode oder Technik aus der „Zersetzung" (Verfall) her notwendigerweise künstlerische Auflösung (von Becher als „Atomisierungstendenz" bezeichnet) nach sich ziehe. Beide übersehen, daß die neuen Darstellungsweisen ursächlich durch neue Wirklichkeiten bedingt sind und daß die Möglichkeit der „Umfunktionierung" von Techniken und Formen besteht, was Becher ja selbst im Abschied z. B. bei der Anwendung des inneren Monologs produktiv vorgeführt hatte. Die Bechersche Gorkirezeption der späten dreißiger Jahre bestätigt eine bereits getroffene Aussage: Seine Erbekonzeption und sein Traditionsverständnis werden zentriert von seiner „Konzeption der Selbstgestaltung des Dichters". So wird in erster Linie eine Beziehung zur Persönlichkeit des Dichters hergestellt. Das gleiche Prinzip liegt dem ebenfalls 1940 entstandenen Aufsatz über Majakowski Der Weltentdecker zugrunde. (Es 108
handelt sich um den einzigen Versuch Bechers zu einer Gesamteinschätzung Majakowskis.) Dabei ist der Begriff des Weltentdeckers für Becher nicht neu. 1938 veröffentlichte er unter diesem Titel ausgewählte Gedichte in deutscher Sprache,280 damit diese Charakterisierung auf sich selbst anwendend. Der äußere Anlaß für den nur in russischer Sprache in der Prawda veröffentlichten Aufsatz über Majakowski war der zehnte Todestag des Dichters, der in der sowjetischen Öffentlichkeit mit großem Engagement begangen wurde. Neben vielen Artikeln erschienen allein sechzehn Bücher über das Werk Majakowskis. Eine dreibändige deutsche WerkAusgabe, von Hugo Huppert und Franz Leschnitzer betreut, wurde im Verlag Das Internationale Buch vorbereitet. Die Internationale Literatur / Deutsche Blätter brachte in Heft 4/1941 einen abschließenden Bericht über das MajakowskiJahr. Wie aus den Erinnerungen Hugo Hupperts an Majakowski hervorgeht, bezeichnete interessanterweise Georgi Dimitroff im Februar 1941 eine dreibändige deutsche Majakowski-Ausgabe als unzureichend, er empfahl eine fünfbändige. Die Begründung, die Dimitroff gibt, erhellt die aktuelle Beziehung zu den Aufgaben der deutschen antifaschistischen Literatur und den Hintergrund, auf dem sich eine produktive Majakowski-Aneignung zu vollziehen hatte. „Dimitroff meinte, es sei hoch an der Zeit, Majakowskis Erbe in seiner ganzen Größe auch den deutschen Antifaschisten bekannt zu machen. Ja mehr noch, es gelte der fortgeschritterenen deutschen Literatur vom besten, begabtesten Sowjetdichter her eine Erfahrung zuzuleiten. Dimitroff knüpfte daran einige Bemerkungen über die zersetzenden Einflüsse der Anti-Ästhetik .nihilistischer' Desperados am Rande westeuropäischer, vornehmlich französischer Abstraktkunst. Insonderheit erwähnte er die radikalen ,Mystiker-Epigonen' der surrealistischen Lyrik von damals: Einflüsse, Einflüsterungen von umso bedrohlicherer Virulenz, als der Reiz einer formalen Perfection die Anziehungskraft bürgerlicher Poesie auch im Kreis der antifaschistischen Literatur einigermaßen verlockend mache. Die Bekanntschaft mit der auch im formalen Sinn höchst originellen, ja überwältigenden Art Majakowskis wäre hier, wie 109
er meinte, das wirksame Gegengift, das treffliche Allheilmittel gegen die .Attraktionen der Verwesung'" 281 . Was Becher anging, so begann seine Bekanntschaft mit dem Werk Majakowskis in den zwanziger Jahren. 1923/24 hatte er das Poem 150000000 und fünf Gedichte von Majakowski nachgedichtet. (Zwei weitere Nachdichtungen - Mysterium Buffo und Wolke in Hosen - blieben unveröffentlicht und gingen 1933 bei der Flucht Bechers aus Deutschland verloren.) Edgar Weiss hat die Nachdichtungen Bechers sehr sorgfältig analysiert und als ein ideelles, thematisches und formales Novum für Becher bezeichnet, mit etwa zweihundert Seiten Umfang bilden sie einen beachtlichen Komplex im Vergleich zu Bechers eigenem literarischen Schaffen in dieser Zeit. Da Becher die russische Sprache nicht beherrschte und auf Rohübersetzungen angewiesen war, hatte es von vornherein' erhebliche Grenzen für eine adäquate Nachdichtung gegeben. Weiss schreibt dazu: „Nur stellenweise vermag er, die künstlerische Höhe des Originals nacherlebbar zu machen. Der Wert seiner Nachdichtung (hier ist vom Linken Marsch die Rede - S. B.) besteht darin, daß sie dem revolutionären Geist und Pathos des Originals echten Ausdruck verlieh und damit dem deutschen Leser einen entscheidenden Wesenszug des sowjetischen Dichters und seines Werkes nahebrachte." 282 Becher selbst hatte rückblickend in den fünfziger Jahren zu seinen Nachdichtungen ein sehr kritisches Verhältnis; er vermerkte die Hinfälligkeit seiner Nachdichtungen, als neue Übersetzungen, die aus der Originalsprache schöpften, entstanden (Hugo Huppert und Franz Leschnitzer) und die seinen Bemühungen schon deshalb überlegen sein mußten. 283 Jedoch arbeitet Weiss mit Recht die historische L e i s t u n g Bechers heraus und bestimmt - obwohl er in einer Fülle direkter Analogien, Umbildungen, Themenübernahmen im Becherschen Werk dieser Zeit Majakowskis Einfluß nachweisen kann - das Verhältnis Bechers zu Majakowski als ein schöpferisches, das frei ist von platter Nachahmung. Hugo Huppert ist 1940 in einem umfangreichen Artikel in der russischen Ausgabe der Internationalen Literatur Die deutsche Neuschöpfung Majakowskis, (einer Art Kommentar aus der Werkstatt des Nachdichters) zu einem ganz 110
ähnlichen Ergebnis gekommen. Es heißt dort: „1924 veröffentlichte Johannes R. Becher unter der Überschrift ,W. Majakowski - 150 Millionen' ein Poem, das nicht eine Überset2ung war, sondern eine poetische Paraphrase der großen Parabel von Iwan und Wilson. Die Bechersche Übersetzung verdient Anerkennung und Dankbarkeit, weil er zum ersten Mal die Aufmerksamkeit der breiten Massen der proletarischen Leser Deutschlands auf diesen großen sowjetischen Dichter lenkte, auf seine weltpolitische Thematik und seine scharfen Fragen, die er aufwarf. Eine nähere Vorstellung über Charakter und Stil des Originals ,150000000' gab diese Übersetzung wie auch die folgenden, die Becher nach Rohübersetzungen anfertigte, nicht." 284 Für das starke Interesse, das Becher an Majakowskis Person und Werk hatte, gibt es zahlreiche Belege. Eines der interessantesten Selbstzeugnisse Bechers hat Sergej Tretjakow überliefert. Er zeichnete ein 1933 geführtes Gespräch mit Becher auf und publizierte es 1934 im Literaturny kritik. Auf die Frage Tretjakows, wie er den Unterschied zwischen Weinert und sich - übertragen auf die sowjetische Literatur - bestimmen würde, hatte Becher geantwortet: „Genaue Entsprechungen gibt es nicht. Ganz grob gesagt, ist Weinert eine Art deutscher Demjan Bedny und ich ein Majakowski. Weinert ist der militante Poet, der Journalist, der die Dinge täglich mit einem Zeitungsvers angeht. Aus den Zeitungen reüssiert der Vers als Witzwort oder Chanson. Eine Sache übertrifft die andere an aktuellem Flair. Ich stehe journalistisch erst am Anfang. Bei mir ist mehr formales Experiment." 285 * Aus einem erst 1963 in Moskau entdeckten und publizierten Dokument - dem Stenogramm einer Rede Bechers auf einem Majakowski-Gedenkabend am 17. Dezember 1936 im Polytechnischen Museum in Moskau - läßt sich die bisherige Annahme von zwei persönlichen Begegnungen der b^den Dichter erhärten.286 Becher spricht von zwei persönlichen Begegnungen mit Majakowski: in Berlin und in Moskaiu. Er nennt Majakowski den „auferstandenen Rimbaud". Über Majakowskis internationale Bedeutung sagt er in direkter Ansprache an den Dichter: „Lieber Genosse Majakowski! Du
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bist das Beispiel und Vorbild für uns alle. Es erübrigt sich von dem Ruhm in Deinem eigenen Land zu sprechen, aber man muß sagen, daß Deine Rhythmen und Reime vibrieren und brausen auch dort, in unserem illegalen vaterländischen Widerstand in Deutschland, sie brausen und schwingen entlang den Schützengräben der Madrider Front, sie brausen und schwingen zusammen mit den Rhythmen der katatonischen und baskischen Dichter, sie schwingen - sie beflügeln uns . . ," 287 In dem Aufsatz Der Weltentdecher (1940) geht Becher der Bedeutung Majakowskis für die Weltliteratur nach. Zugrunde liegt auch hier - wie schon erwähnt - die Auffassung von der Selbstgestaltung des Dichters in der Lyrik. Majakowskis revolutionäre Weltbedeutung sieht Becher darin, „daß es dem Dichter in glänzender Weise gelungen ist, in seinen Werken sich selbst als frei sich entfaltende s o z i a l i s t i s c h e P e r s ö n l i c h k e i t (Hervorhebung - S. B.) darzustellen". In der Lyrik, bemerke Hegel in seiner Ästhetik, bestimme das Subjekt als solches „Form und Inhalt". Die Darstellung der sozialistischen Persönlichkeit gelänge Majakowski, weil er sich untrennbar mit den nationalen und revolutionären Interessen seiner Zeit verbunden und damit den Begriffen Patriotismus, Wahrheit, Ethik einen neuen Inhalt verliehen habe. Im Mittelpunkt seiner Lyrik stehe der Mensch, das Menschliche in konkreter Gestalt, sein ,Wirklichkeitsgefühl' ermögliche es ihm, „von einer gewaltigen Höhe, der Höhe der siegreichen Revolution, die ganze Welt zu überschauen und sie in der Dichtung neu zu entdecken". Majakowskis „titanische Persönlichkeit", basierend auf der Einheit von Revolutionärem und Menschlichem, konnte deshalb begeistert „Ja" sagen, „in welchen poetischen Werken haben wir wohl sonst noch diese von ganzem Herzen kommende leidenschaftliche Zustimmung vernommen". Ein wichtiger Gedanke Bechers in diesem Artikel ist der von der weltliterarischen Repräsentanz einer sozialistischen Lyrik vom Range Majakowskis. In der Verpflichtung der Lyrik zur sozialistischen Internationalität sah Becher eine Gesetzmäßigkeit, und er stellte sogleich auch den direkten Bezug zu den Aufgaben der deut112
sehen antifaschistischen Literatur her. Er hebt hervor, daß Majakowski der Sänger eines neuen Patriotismus sei und sein Adressat zugleich die „gesamte internationale proletarische Öffentlichkeit". Voraussetzung dafür ist, daß man „Dichter der Epoche" sei, der die Lebenskräfte der Epoche in ihrer Tiefe und Vielfalt in sich vereine. In diesem Sinn ist Majakowski für Becher ein klassischer Dichter, der den „klassischen Leitsatz, Dichter der Epoche zu sein, durch realistischen Inhalt bereichert und durch revolutionäre Erfahrung" ergänzt habe. Die Frage, ob Majakowski eine Schule begründet habe oder ob er Nachahmer fand, erscheint Becher ebenso unangebracht wie eine Interpretation, die nur die eigenartige Verskunst, die ungewöhnlichen Reime und Rhythmen des Dichters berücksichtigt. Die Betonung der weltrevolutionären Wirkung des g e s a m t e n Majakowski, der Persönlichkeit und des Werkes erfolgte offensichtlich unter doppeltem Aspekt, einmal gegen eine eventuelle epigonale Nachfolge Majakowskis, zum anderen aus Bechers eigener theoretisch-poetologischer Konzeption (Selbstgestaltung), einer im wesentlichen anderen lyriktheoretischen Auffassung. So hat Becher z. B. in den fünfziger Jahren sein Gedicht auf Majakowski aus dem Band Der Glückssucher und die sieben Lasten (1938), das in Terzinen verfaßt ist, als e i n e A r t p o e t i s c h e r K r i t i k an dem vers libre Majakowskis bezeichnet. 288 Die in diesem Aufsatz enthaltene Feststellung von der „Poesie als lebenswichtigem Instrument, das die neu entstandene Gesellschaft befähigt, sich selbst zuverlässig zu kontrollieren" 289 , von Majakowski exemplarisch verwirklicht, wird Becher später in den Bemühungen auf die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR anwenden und erweitern. Das konzeptionell Wichtigste dieses Aufsatzes ist der Gedanke der internationalistischen Verantwortung einer nationalen sozialistischen Literatur, des Zusammenhangs von sozialistischem Patriotismus und proletarischem Internationalismus. Hier liegt ein wichtiger Baustein seines Programms einer deutschen sozialistischen Nationalliteratur. Obgleich aus Äußerungen Lilly Bechers bekannt ist, daß Becher Majakowskis Entwicklung vom Futurismus zum revolutionären Schriftsteller parallel zu seiner eigenen Entwick8
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lung vom expressionistischen Dichter zum revolutionären Schriftsteller sah 290 , findet sich in dem Essay keinerlei Hinweis auf den Futurismus Majakowskis. Die Ursache ist auch hier in dem noch zwiespältigen Verhältnis Bechers zur eigenen expressionistischen Vergangenheit zu suchen. Das Herausstellen der gelungenen Synthese von Gesellschaftlich-Revolutionärem und Privat-Persönlichem bei Majakowski deutet darauf hin, daß Becher einen wesentlichen Entrwicklungsunterschied zwischen sich und Majakowski sah. Tamara Motyljowa hat in einem Aufsatz zum fünfzigsten Geburtstag Bechers (1941) diesen Unterschied wie folgt zu bestimmen gesucht: „Majakowski hat schon als Junge die Schule des illegalen, bolschewistischen Kampfes durchgemacht. Im Vorkriegsdeutschland gab es jedoch keine bolschewistische Partei. Majakowski konnte schon vor der Oktoberrevolution seine Selbständigkeit gegenüber dem kleinbürgerlichen Revoluzzertum der Futuristen leichter und schneller geltend machen als Becher gegenüber dem Expressionismus."291 Exkurs I I : Zur sowjetischen Lukacs-Debatte von 1940 Aus den Erinnerungen von Lilly Becher geht hervor, daß Becher die literaturkritischen sowjetischen Debatten Ende der dreißiger Jahre genau verfolgt hat. Sie erwähnt dabei insbesondere eine „große Diskussion" kurz vor Kriegsbeginn, in der Georg Lukäcs und Michail Lifschitz eine entscheidende Rolle gespielt hätten. 292 Wenn wir uns im folgenden einigen Fragen dieser Diskussion zuwenden, so deshalb, weil es sich dabei um Probleme handelte, die relativ kontinuierlich schon während der dreißiger Jahre diskutiert und die - durch die Persönlichkeit Georg Lukäcs' - mit der deutschen Literaturentwicklung direkt verbunden waren. Zum Verständnis dieser Auseinandersetzungen ist ein kurzer Rückblick notwendig. In Heft 2/3 1935 veröffentlichte die Zeitschrift Literaturny kritik das Stenogramm einer in der Literatursektion des Instituts für Philosophie der Kommunistischen Akademie geführten Diskussion zu einem Vortrag von Lukäcs über Probleme einer Romantheorie^*. Die Mo114
natszeitschrift Literaturny kritik war im Sommer 1933, zur gleichen Zeit wie das Organisationskomitee zur Vorbereitung des I. Allunionskongresses der Sowjetschriftsteller, gegründet worden. Sie wollte in Auseinandersetzung mit den Pseudotheorien der RAPP eine marxistische Literaturtheorie entwikkeln, ihr Kampf galt der Vulgärsoziologie. Als Hauptbeitrag dazu wurde die Klärung der Probleme um das Wechselverhältnis von Weltanschauung und künstlerischer Methode angestrebt. Die Veröffentlichung der oben genannten Diskussion ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Lukács wird in der Folgezeit einer der führenden Theoretiker dieser Zeitschrift, die meisten seiner Arbeiten erscheinen hier zuerst in russischer Sprache. 2 9 4 * Bei seinem Vortrag handelte es sich um einen Textentwurf für die Literaturnaja enziklopedija. Aus dem Stenogramm geht hervor, daß es in der Diskussion neben positiven Stimmen eine Reihe von Einwänden in folgender Richtung gab: Die Entwicklung des Romans sei nicht historisch dargestellt worden; bei Lukács gäbe es eine unkritische Übernahme der idealistischen Terminologie von Hegel und ihre Transponierung in die materialistische Sprache; der Begriff Klasse tauche nicht auf; der Grundwiderspruch des Kapitalismus werde im Widerspruch von Individuum und Gesellschaft gesehen. 295 * Diese Argumente zielten auf problematische Punkte der Lukácsschen Konzeption. Der Literaturny kritik hatte sich bei seinem Vorhaben, die marxistische Ästhetik zu entwickeln, zunächst das Ziel gestellt, das Problem des Realismus, der realistischen Methode, durch die Bestimmung des Verhältnisses von Weltanschauung und künstlerischer Methode zu erhellen. Dabei bildeten sich in der Literaturwissenschaft zwei Richtungen heraus. Die einen - die Voprekisten (vopreki = trotz, entgegen) vertraten, ausgehend von der Engelsschen Äußerung über den „Sieg des Realismus" bei Balzac, die verabsolutierende Auffassung, daß realistische Gestaltung t r o t z konservativer bzw. reaktionärer Weltanschauung möglich sei. Die anderen - die Blagodaristen (blagodarja = dank, infolge) - behaupteten das Primat der Weltanschauung gegenüber der künstlerischen Methode. G. Pospelow weist in seinem analyti8»
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sehen Aufsatz Die methodologische Entwicklung der sowjetischen Literaturwissenschaft (1967) nach, daß auf beiden Seiten nur ein Teil der Wahrheit lag, daß die Verabsolutierung der einen oder der anderen nicht zu einer Lösung führen konnte. Er spricht von potentiellen Möglichkeiten, in der Vereinigung der Vertreter beider Theorien zu neuen Lösungen zu kommen, „aber die gesellschaftliche Atmosphäre, in der diese Auseinandersetzungen stattfanden, förderte das nicht . . . schon dadurch, daß mit großer politischer Schärfe der Reihe nach verschiedene abstrakte Klassentheorien kritisiert und mit der Bezeichnung .vulgär,soziologisch' abgestempelt wurden. 296 * Die Ausarbeitung der Theorie der realistischen Methode, ihrer qualitativ neuen Stufe, des sozialistischen Realismus, die durch die Konsolidierung der literarischen Kräfte nach der Durchführung des I. Allunionskongresses der Sowjetschriftsteller begünstigt wurde, erhielt die größte gesellschaftliche Aktualität . . . Deshalb konnten die Voprekisten leicht die Blagodaristen besiegen und einen neuen entscheidenden Schritt in der Begründung ihrer methodologischen Position tun." 297 Dieser bestand u. a. in der Einführung der Begriffe „narodnoje natschenije" (Volksbedeutung, Volkssinn, vergleichbar unserem Begriff Volksverbundenheit) und „narödnost" (Volkstümlichkeit). Mit Hilfe dieser Begriffe sollte das Kulturerbe für die sozialistische Gesellschaft produktiv gemacht werden. In den Diskussionen von 1936 um diese Termini wurden sie abstrakt, losgelöst vom jeweiligen konkreten historischen Inhalt des Begriffes „Volk" verwendet. Auch hier erfolgte zu Unrecht eine Berufung auf Lenins Tolstoi-Analyse, der bekanntlich von der konkreten Klassenlage und Volksstruktur ausgegangen war. 298 Mitte der dreißiger Jahre bildete sich in der sowjetischen Literaturwissenschaft eine Gruppe heraus, die sich selbst „nowoje tetschenije (Neue Strömung) nannte. Sie wurde angeführt von Lifschitz und Lu'käcs und einigen „Voprekisten"; das Organ der Gruppe war vor allem der Literaturny kritik. Die „Strömung" hatte sich folgende wichtige Aufgaben gestellt: Zurückweisen der Vulgärsoziologie sowie Ausarbeiten von Methoden, die es erlaubten, das Erbe der Vergangenheit in seiner historischen Bedingtheit und aktuellen Bedeu-
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tung für die gegenwärtige sozialistische Literatur und Kunstentwicklung zu untersuchen. Dabei ging sie allerdings, wie Pospelow ausführt, in bewußter Abgrenzung von der „Klassenanalyse" der Vulgärsoziologen so weit, nur noch in Kategorien wie „humanistisch", „demokratisch" und ähnlichem zu sprechen, ohne den jeweiligen konkreten Inhalt dieser Begriffe zu definieren. Ein weiteres Kennzeichen ihrer Arbeiten war die fast völlige Ignorierung der Besonderheiten nationalgeschichtlicher Entwicklungen zugunsten „eines weltgeschicht^ liehen Maßstabes" 299 . Hauptsächlich die insbesondere von Lukács ausgearbeitete und verabsolutierte These des „Realismus wider Willen" veranlaßte eine Reihe sowjetischer Literaturwissenschaftler, die Progressivität der Ansichten für sowjetische Schriftsteller als wichtigste Bedingung des künstlerischen Schaffens bezeichneten, zu heftigem Widerspruch. Im Herbst 1939 begann eine bis Ende 1940 dauernde „aktive und im Ton äußerst scharfe Diskussion" (Pospelow) um diese Fragen. Hauptgegenstand war neben den Arbeiten von Lifschitz das 1939 in russischer Sprache erschienene Buch von Lukács Zur Geschichte des Realismus300, das einige seiner in den dreißiger Jahren entstandenen Arbeiten enthielt. In dieser Debatte ging es nicht etwa um die Klärung literarhistorischer Spezialfragen, sondern vielmehr um das Problem der Erbeaneignung in der sozialistischen Gesellschaft, bei dessen Lösung mit der marxistisch-leninistischen Erforschung vergangener Kulturen begonnen werden mußte. Deshalb begrüßten auch die Gegner der „Strömung" diesen Meinungsstreit. So bescheinigte etwa E . Knipowitsch Lukács durchaus die Wichtigkeit der Fragestellung, das Problem der antagonistischen Entwicklung der Klassengesellschaft und das widersprüchliche Verhältnis von Weltanschauung und Schaffensmethode bei den großen Künstlern der Vergangenheit zu untersuchen.301 Die L ö s u n g dieser Frage bei Lukács jedoch wurde von den „Strömungsgegnern" als falsch eingeschätzt. Seiner These vom „Realismus wider Willen", eines Realismus also, der trotz der reaktionären bzw. illusionären weltanschaulichen Basis des jeweiligen Künstlers zustande kommt, traten sie mit folgenden Argumenten gegenüber: Die Tatsache von großen realistischen Werken von Künstlern be117
grenzter weltanschaulicher Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse könne nicht aus dieser ihrer Begrenztheit allein erklärt werden, sondern nur aus der Widersprüchlichkeit der Ganzheit ihrer weltanschaulichen Ansichten; es gehe nicht an, einzelne Ansichten von Schriftstellern in den Rang einer Weltanschauung zu erheben. Eine vorbildhafte Lösung dieses Problems biete Lenin in seiner Tolstoi-Analyse. So argumentierten z. B . W . Kirpotin und M. Serebrjanski. Für ein differenziertes Herangehen setzte sich W . G r i t ein. Am umstrittenen Beispiel von Baizac demonstrierte er seine Auffassung: „. . . die progressiven Seiten seiner Anschauungen (Balzacs S. B.) formulierten seinen großen Realismus, die konservativen bedrängten und begrenzten ihn. Hölzernes Denken und unhistorischer Schematismus sind Feinde des Marxismus." 3 0 2 E i n weiterer Diskussionspunkt war der Begriff „Volkstümlichkeit". Kirpotin analysierte die ungenaue Handhabung des Begriffes „Volk" bei Lu'käcs. Serebrjanski betonte die Notwendigkeit, bei der Bestimmung der „Volkstümlichkeit" von den progressiven Elementen etwa bei Tolstoi auszugehen (im Sinne der Leninschen Tolstoi-Analyse), er verwies auf die dialektische Methode bei Lenin. I. Altmann attackierte einen „pseudowissenschaftlichen Okjektivismus", der in Wahrheit ein beispielloser Subjektivismus sei. Seiner Meinung nach verfälsche die „Strömung" die marxistische Literaturtheorie in der Erbefrage, wenn sie z. B . große Künstler der Vergangenheit mit einem abstrakt bleibenden Kriterium der Volkstümlichkeit versehe. Der im Prinzip richtige Kampf gegen die Vulgärsoziologie habe zur Preisgabe des Klasseninhalts beim Begriff Volk geführt. Altmann versuchte seinerseits „Volkstümlichkeit" zu bestimmen: Der Begriff umfasse die großen volksbefreienden, humanistischen Ideen, Ideen der Arbeit und Freiheit, des Kampfes gegen jegliche Unterdrückung, d. h. die fortschrittlichsten Ideen der Vergangenheit. D i e „Strömung" habe vergessen, daß „Volkstümlichkeit" nicht etwa den Klasseninhalt ausschlösse, sondern ihn entscheidend bestimmte. Das Ignorieren des Klasseninhalts im Schaffen großer Künstler der Vergangenheit habe es ermöglicht, unmarxistisch mit Begriffen wie „Volk", „Humanismus", „Menschheit", „Fortschritt" zu operieren. Nirgends gebe es eine konkrete Ana118
lyse des Klassenkampfes des jeweiligen Landes und der jeweiligen Epoche. Altmann sah die Lösung der von der Vulgärsoziologie nicht beantworteten Frage (nach den großen Werken, die im Widerspruch zu den Weltanschauungen ihrer Schöpfer standen) darin, daß in den Widersprüchen des künstlerischen Schaffens die vorwärtsweisende Seite der Widersprüche gesucht werden müsse - jenes Neue, welches das Alte besiegt. 303 In der Diskussion spielte weiterhin die Marxsche Theorie von der ungleichmäßigen Entwicklung der materiellen und der geistigen Sphäre (Verhältnis Basis - Überbau) und die Hegeische These vom „notwendigen Absterben der Kunst in der neuen Zeit" eine Rolle. Insbesondere Lifschitz wurde vorgeworfen, daß er die Auffassung von Marx unhistorisch verallgemeinere und unzulässigerweise zum allgemeinen Gesetz erhebe. Andere Streitpunkte waren: die Bedeutung der Französischen Revolution für die Literaturentwicklung, die Überschätzung des Thermidor bei Lukäcs, das Werk von Balzac, Stendhal, Goethe, das Verhältnis von Liberalismus und Demokratismus. W. Jermilow befaßte sich in seinem Beitrag zur Debatte mit Lukdcs' Verhältnis zur sowjetischen Literaturentwicklung. Er stellte fest, daß Lukäcs die Problematik der Dekadenz unmittelbar auf die sowjetische Literatur übertrage und lediglich die M ö g l i c h k e i t der Überwindung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung im Sozialismus zugestehe; damit leugne er die schon reale Existenz eines neuen Typs von Schriftsteller. Bezeichnend für den Literaturny kritik sei, daß er sich so gut wie gar nicht mit der Analyse der Sowjetliteratur beschäftige, und wenn, dann traktiere er sie mit der These von der „Plakativität". 304 * Dieser Kritik an der Debatte, die sich vor allem gegen die ungenügende Einbeziehung der a k t u e l l e n literarischen Probleme richtete, war es zuzuschreiben, daß auf Beschluß des ZK der KPdSU(B) der Literaturny kritik mit der Nummer 3/1940 sein Erscheinen einstellen mußte. In dem Beschluß des ZK Uber Literaturkritik und Bibliographie heißt es, daß die Zeitschrift isoliert von den Schriftstellern und der Literatur herausgegeben worden sei. Der Zustand der Literaturkritik
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sei äußerst miserabel, eine entscheidende Ursache dafür sei die Abkapselung der Literaturkritik von den Schriftstellern in einer selbständigen Sektion für Kritik beim Sowjetischen Schriftstellerverband. Der Hauptmißstand sei die Ignoranz gegenüber der Sowjetliteratur, die Literaturkritiker nähmen nicht teil an ihrer Formierung. Der Beschluß verfügte die Auflösung der Kritikersektion; die Literaturkritiker sollten künftig in den einzelnen Sektionen des Verbandes (Dramatik, Prosa, Lyrik) arbeiten. 3 0 5 In einer Sitzung des Präsidiums des Sowjetischen Schriftstellerverbandes mit einem Kritiker-Aktiv im April 1940 wurde diese Einschätzung bestätigt. E s wurden Meinungen zurückgewiesen, denen zufolge die Sowjetliteratur etwas Zweitrangiges war und man forderte dazu auf, von der allgemeinen Bestimmung des sozialistischen Realismus zur konkreten Analyse des gegenwärtigen literarischen Reichtums der multinationalen Sowjetliteratur überzugehen. 306 In der Debatte waren auch gewichtige Einwände gegen die Lukäcssche Dekadenzkonzeption vorgebracht worden: diese wurde auf seine Verfallstheorie (von Hegel her entwickelt) zurückgeführt und in ihrem Formalismus begriffen. E s wurde festgestellt, daß die gesellschaftliche Entwicklung sich nicht in „reinen Kategorien" vollziehe, nach denen etwa die Schriftsteller des letzten Dreiviertels des 19. Jahrhunderts nur bürgerliche Ideologen, nicht aber die „abtrünnigen Kinder der Bourgeoisie" waren. N . Wiljam-Wiknont z. B. führte aus, daß die „Strömung" ihr „tödliches Schema" (d. i. untrennbare Verbindung von künstlerischer Meisterschaft und reaktionärer Weltanschauung) auch auf die gegenwärtige Literatur des Westens übertrage und damit dem sowjetischen Leser ein undifferenziertes und falsches Bild der Entwicklungswege dieser Literaturen vorstelle. 3 0 7 E s ist hier nicht möglich, die Entgegnungen der Vertreter der „Strömung" auf solche Vorwürfe und Attacken im einzelnen darzulegen. Im wesentlichen wurden die ursprünglich entwickelten Auffassungen wiederholt und den Widersachern ein abstraktes und unmarxistisches Literaturverständnis vorgeworfen. Im Verlauf der Diskussion bildete sich in der Wertung des 120
Verhältnisses von Methode - Weltanschauung - Realismus ein differenzierteres Herangehen heraus; die mangelnde Dialektik bei der Konfrontation der Positionen von „vopreki" und „blagodarja" war erkannt und diese als zwei Seiten einer Wahrheit begriffen worden. 308 Eine interessante Lösung dieser komplizierten Beziehungen war schon im Sommer 1939 in einem redaktionellen Artikel der Literaturnaja. gaseta versucht worden. Er verwies auf die Gefahren, die entstünden, wenn von der Vulgärsoziologie zu einem Vulgärhumanismus übergegangen würde. Weiter heißt es dort: „ . . . ein schöpferischer Marxismus schließt in sich jenes ein, was wir gewöhnt sind, ,Klassenanalyse' zu nennen, und wendet sie nicht für unsinnige soziologische Bestimmungen an, sondern dafür, alles Wertvolle in der Weltkunst in Abgrenzung von den Erscheinungen des Verfalls und der Reaktion zu bestimmen." 309 Im Ergebnis der Debatte wurde vor allem die Übertragung der „Vopreki-Theorie" auf sozialistische Verhältnisse zurückgewiesen und als Verkennen des qualitativen Unterschieds zwischen bürgerlichem und sozialistischem Realismus charakterisiert. Der Zwiespalt zwischen „objektivem Realismus" und den politisch-gesellschaftlichen Anschauungen des Schriftstellers konnte nicht Grundlage des Schaffens sozialistischer Schriftsteller sein, das bedeutete Objektivismus, wie J . Revai später (1950) in Hinblick auf diese Debatte schrieb. 310 Es ging bei unserer Darstellung einiger Fragen dieser großen literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung im wesentlichen darum, die Argumente gegen die Lukácssche Realismuskonzeption zu skizzieren. Von den deutschen Schriftstelleremigranten und Kritikern wurden die Debatten aufmerksam verfolgt. 311 Das gilt auch für Becher, der sich regelmäßig aus der sowjetischen Presse übersetzen ließ. 3 1 2 * So ist unter Umständen die von Becher in seinem Lenin-Aufsatz von 1940 prononciert vorgetragene Auffassung über die Beziehung von marxistischer Weltanschauung und realistischer Gestaltung auch im Zusammenhang mit dieser Diskussion zu sehen. Bei diesem Exkurs ging es nicht um eine Analyse der Auffassungen von Lukács. Es sei nur angemerkt, daß die Widersprüchlichkeit seines literaturtheoretischen Systems (welches 121
abhängt von seiner philosophischen Grundkonzeption) in dieser Debatte nicht voll nachgewiesen werden konnte. So blieb z. B. außerhalb der Diskussion, d a ß Lukäcs Anfang der dreißiger Jahre die später von ihm so heftig bekämpfte, vulgärsoziologische Betrachtungsweise in Anwendung auf spätbürgerliche Literatur selbst praktiziert hatte, indem er eine direkte Verbindung von Klassenlage - Weltanschauung literarischer Methode hergestellt hatte; so erklärt sich z. B. seine Ablehnung der Ottwaltschen Romane. Diese Methode wandte er auch später bei der Analyse bürgerlicher Autoren des 20. Jahrhunderts an, und er stützte sich dabei auf seine Konzeption der Auf- bzw. Abstiegsphasen der bürgerlichen Klasse. Was die Literatur des „gestaltenden Realismus" betraf, so entwickelte er hier seine Divergenzkonzeption von Klassenlage und Weltanschauung, vom „objektiven Realismus", vom „Diktat der Wirklichkeit". Danach war dieser Realismus Ergebnis des „falschen Bewußtseins" der Dichter, ein „Triumph des Realismus". Da aber der Realismusbegriff bei ihm an eine bestimmte Schreibweise (vornehmlich die des bürgerlichen Romans des 19. Jahrhunderts) gebunden bleibt, wandte er bei der Beurteilung derjenigen bürgerlichen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, die sich nicht dieser Schreibweise bedienten, nicht die Divergenztheorie, sondern die Verfallskonzeption an. 313 Dabei unterscheidet Lukäcs allerdings in seiner Theorie zwischen „politischer und sozialer Weltanschauung", die nicht die erste Rolle spiele, und einer „im Schriftsteller konkret wirksamen erlebten Vorstellung von Gesellschaft und Geschichte" 314 , die ausschlaggebend für Komposition und Realismus sei. In einem Rückblick von 1968 bestimmt Lukäcs genau hierin den Kern der damaligen Auseinandersetzung: „1939-1940 brach als Folge des russischsprachigen Erscheinens meines Buches ,Beiträge zur Geschichte des Realismus' . . . eine sehr lebhafte Diskussion aus. Diese Diskussion . . . gründete sich in der Hauptsache auf die Frage, inwieweit man auf die Literatur das Prinzip des Sieges des Realismus anwenden könnte, das Marx schon in der ,Heiligen Familie' eingeführt hatte und das eine große Rolle in den letzten Briefen von Engels spielte und den Leitgedanken der Studien Lenins 122
über Tolstoi bildete. Würde man die .Idealität* der Literatur vergewaltigen, wenn das künstlerisch gestaltete Weltbild, das in der Schöpfung sich enthüllt, als Maßstab (Norm) des literarischen Wertes die bewußte Weltanschauung des Autors ersetzt, in der die aktuellen Stellungnahmen, die auf der Tagesordnung der Partei stehen, direkt ausgedrückt werden?" 315 * Diese Unterscheidung von „künstlerisch gestaltetem Weltbild" und „bewußter Weltanschauung" wurde in der Debatte nicht hinterfragt und führte zu der extremen Gegenüberstellung der Blagodaristen und Voprekisten. Sie hing eng zusammen mit Lukâcs' Polemik gegen den „direkten Ausdruck" und seiner Auffassung von der Unmittelbarkeit des künstlerischen Schaffens, die er in dem Briefwechsel mit Anna Seghers anläßlich der Realismusdebatte entwickelt hatte. Einige Texte, die Lukâcs im Kontext der Debatte von 1939/1940 verfaßte, hat Claude Prévost 1974 in französischer Übersetzung erstmals publiziert. Sie vermitteln einen genaueren Einblick in den Verlauf der Debatte; die Auseinandersetzung mit seinen sowjetischen Kollegen wird von Lukâcs hier direkter geführt als in den damals publizierten Stellungnahmen. Insbesondere seine Ausführungen zur Perspektive des sozialistischen Realismus sowie seine Position im Streit um die politische Dichtung, die in einer Unterstützung der Position von J. Usijewitsch und ihrer Berufung auf Majakowski bestand, modifizieren das bisherige Bild der Debatte. 316 *
Bechcrs Publizistik im Kampf gegen den imperialistischen Krieg und als Entwurf für ein demokratisches Nachkriegsdeutschland
(1941-1945)
Der am 22. Juni 1941 verübte faschistische Überfall auf die Sowjetunion bestimmte endgültig den Charakter des zweiten Weltkrieges: Aus einem imperialistischen Aggressionskrieg wurde der gerechte antifaschistische und antiimperialistische Beifreiungskaimpf der Völker gegen das faschistische Deutschland und seine Verbündeten. Der Große Vaterländische Krieg des Sowjetvolkes entschied mit den Ereignissen an der deutsch-sowjetischen Front Ablauf und Ausgang dieses von den deutschen Faschisten und Imperialisten geplanten und ausgelösten Eroberungsfeldzuges. D i e K P D hatte auf der Berner Konferenz (30. Januar bis 1. Februar 1939) angesichts der drohenden Kriegsgefahr die Erhaltung des Friedens als die wichtigste Aufgabe herausgestellt, ihr Programm zielte auf den Sturz des Hitlerregimes als Mittel, den Frieden zu erhalten - und auf den Aufbau eines neuen demokratischen Deutschland. Zugleich hatte die K P D für den Fall eines Krieges als dringlichste Maßnahmen beschlossen: Verstärkung der Einheits- und Volksfront mit dem Ziel der sofortigen Beendigung des Krieges. Zwei Tage nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion forderte das Z K der K P D in einem Aufruf das deutsche Volk zum Kampf gegen diese Aggression auf. E s begründete den Zusammenhang von Sturz des Naziregimes und Beendigung des Krieges: „Unser Feind steht im eigenen L a n d : Die faschistischen Landsknechte des Großkapitals, die Kriegsgewinnler sind unser Feind. Der gemeinsame Sieg der Roten Armee und der um ihre nationale Freiheit kämpfenden unterdrückten Völker wird auch der Sieg unseres deutschen Volkes sein". 3 1 7 Die Kommunisten und ihre Verbündeten nahmen in diesem 124
Sinne den Kampf an allen Fronten auf. Die meisten der in der Sowjetunion lebenden deutschen Schriftsteller stellten sich noch im Juni der Roten Armee zur Verfügung. Die in den dreißiger Jahren erarbeiteten Prinzipien der sozialistischen Literaturbewegung wurden jetzt einer Bewährungsprobe unterworfen. Die Einheit von Wort u n d Tat - besonders seit Spanien Teil sozialistischer Literaturkonzeption - mußte mit neuer Intensität unter Beweis gestellt werden. Die Auseinandersetzung mit der faschistischen Ideologie und ihren Auswirkungen auf alle Lebensbereiche - eine wichtige Aufgabe des ideologischen Kampfes seit dem VII. Weltkongreß der K I - gewann jetzt neue Dimensionen. Konnten doch die Erfolge dieser Arbeit bei den deutschen Soldaten sowie der deutschen Bevölkerung einen wichtigen Faktor zur baldigen Beendigung des Krieges bewirken. Die KPD-Führung hatte bereits in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre in ihrer illegalen Presse eine große Anzahl von Artikeln zur Auseinandersetzung mit der faschistischen Ideologie und ihren Teilbereichen veröffentlicht. 318 Dabei kam es im Sinne des VII. Weltkongresses der K I darauf an, das Verhältnis der Arbeiterklasse und ihrer Partei zur Frage der Nation und ihrer Geschichte offensiv darzustellen. Die Berner Parteikonferenz bildete einen Höhepunkt in dieser Arbeit der K P D . Der hier von ihr geforderte „Kampf um die Rettung der deutschen Nation" und die in dem Aufruf Wir Kommunisten und die deutsche Nation erfolgte Benennung der wahren Kämpfer für die deutsche Nation bildete die wichtigste Grundlage für die spätere Vermittlung der Erkenntnis, daß der faschistische Überfall auf die Sowjetunion „der verhängnisvollste Schlag gegen die Lebensinteressen der deutschen Nation" 319 war. Seit seiner Rede auf dem Pariser Schriftstellerkongreß 1935 hatte sich Becher als Publizist wiederholt mit den Problemen Vaterland, Nation und Volk beschäftigt. E r nahm damit eine Aufgabe des VII. Weltkongreß der K I wahr: ein marxistischleninistisches Bild von der Geschichte des eigenen Volkes zu gewinnen und zu propagieren, um den gegenwärtigen Kampf mit den revolutionären Traditionen des deutschen Volkes verbinden zu können. Diesem Anliegen hatte sich die sozialistische 125
Literaturbewegung in der Beschäftigung mit dem kulturellen Erbe verpflichtet gewußt und gerade dadurch nationalliterarische Repräsentanz anstreben können. Die antifaschistische Literatur verdankte der Volksfrontpolitik Entscheidendes bei ihrem Werden zu einer „nationalen, revolutionären Literatur" 3 2 0 . Die bisherige Darstellung versuchte, einige Etappen dieses Prozesses anhand der publizistischen Arbeiten Bechers nachzuzeichnen. Dabei blieb die Entlarvung der faschistischen Ideologie - ein wesentliches Moment bei der Erarbeitung der weltanschaulich-politischen Grundlagen der Volksfrontbewegung - bisher weitgehend ausgespart. Dies soll jetzt nachgeholt werden, zumal nach 1939 bzw. nach 1941 die geschichtsphilosophische Fragestellung, die politisch-ideologische Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus in Bechers publizistischem Schaffen eine z e n t r a l e Rolle spielt; bisher Geleistetes partiell auch aufgehoben und auf einer qualitativ höheren Ebene weitergeführt wird. Bei Bechers Bemühungen um die Bewältigung der nationalgeschichtlichen und weltpolitischen Problematik dürfte die auf der Berner Konferenz nachdrücklich erfolgte Bestimmung der Nation in ihrem sozialen Gehalt den größten Einfluß gehabt haben. Zielpunkt seiner ideologischen Selbstverständigung war die Konzeption für eine sozialistische Nationalliteratur, die er, gemeinsam mit anderen, vor allem dann nach 1945 weiterentwickelte. 321 Bei der Verständigung über diese Konzeption kommt Bechers publizistischen Arbeiten in diesen Jahren ein hoher Stellenwert zu. Bei aller Fragwürdigkeit einer thematischen Rubrizierung, die von der für Becher typischen Verbindung aller ihn zu diesem Zeitpunkt gerade beschäftigenden Fragen absehen muß und die eine notwendige Überschneidung von Problemen von vornherein einkalkuliert, lassen sich im wesentlichen drei Themenkreise benennen, die im Zusammenhang mit der Erarbeitung dieser Konzeption stehen: e r s t e n s die Auseinandersetzung mit der faschistischen Ideologie, Kulturpolitik und der faschistischen Literatur, z w e i t e n s die Bemühungen um ein marxistisches Geschichtsbild insbesondere nach 1941 und die Entwicklung des Programms einer künftigen Kulturpolitik, d r i t t e n s die Ebene der Literaturkritik mit der Erbeproblematik im Zentrum. 126
Auseinandersetzung mit faschistischer Ideologie, Kulturpolitik und Literatur Einen ersten bedeutenden Beitrag zur marxistischen Auseinandersetzung mit der faschistischen Ideologie hatte Hans Günther bereits 1935 mit seinem erfolgreichen Versuch einer komplexen Darstellung der Ideologie des Nationalsozialismus {Der Herren eigener Geist) geleistet. Er analysierte in diesem Buch, das auf Veranlassung Georgi Dimitroffs gedruckt wurde und den Delegierten des VII. Weltkongresses vorlag, die faschistische Ideologie mit den Methoden der marxistisch-leninistischen Ideologiekritik 322 - und arbeitete die „Klassengrundlage und klassenmäßige Entstehungsgeschichte der faschistischen Weltanschauung" 323 heraus. Günthers Buch hatte erwiesenermaßen eine große Rolle in den Diskussionen um die Volksfront und ihre politisch-ideologischen Grundlagen gespielt. 324 * Günther hatte im Vorwort (einem fingierten Gespräch zwischen einem kommunistischen und einem „linksbürgerlichen" Schriftsteller über die Einheits- -und Volksfront und die Faschismuskritik) als seinen Adressaten neben den Schriftstellern die deutschen Arbeiter bestimmt, „die an den Fragen der faschistischen Ideologie nicht weniger interessiert seien" 325 *. Dabei wandte er sich sowohl gegen eine nur logische immanente Widerlegung der faschistischen Ideologie als auch gegen eine Unterschätzung dieser Ideologie. Beide Methoden und Richtungen waren vor allem bei bürgerlichen Antifaschisten ausgeprägt. Becher, der zu dieser Zeit noch in Paris war, schrieb über Günthers Buch an Willi Bredel: „Ich muß offen gestehen, ich habe nach solcher Lektüre geradezu Heißhunger. Das Buch ist für mich persönlich sehr wertvoll, und ich möchte Dich bitten, ob Du uns nicht zehn Exemplare schicken kannst, damit wir eine Arbeitsgemeinschaft damit ausfüllen können." 326 Seitdem dürfte Becher diese Problematik kontinuierlich verfolgt haben. Davon zeugen eine Reihe von Bemerkungen in seinen Aufsätzen der dreißiger Jahre. Größere Arbeiten direkt zu diesem Problemkreis finden wir erst ab 1938. In diesem Jahr veröffentlichte Becher in der Iswestija vom 1. August den Aufsatz Eine untaugliche Waffe. 127
Becher geht davon aus, daß es den Faschisten auch weiterhin gelingen wende, ihr Machtsystem und ihren Kriegsapparat zu vervollkommnen, daß sich aber diese „Waffe" letztlich als untauglich erweisen werde, da es sich dabei um ein „den wahren nationalen Interessen zuwiderlaufendes, voliksfremdes und volksschädliches Instrument handele". Der Aufsatz ist noch weitgehend von Illusionen über die Wirkung der faschistischen Ideologie geprägt. („Der moralische Zustand des deutschen Volkes ist jedoch in keiner Weise so beschaffen, daß er die Faschisten zu irgendwelchen kühnen Hoffnungen berechtigen könnte".) Becher unterschätzt noch den Terrormechanismus im Dritten Reich. „ D a s deutsche Volk verhält s