Das erste Jahrzehnt: Literatur und Kulturrevolution in der Sowjetunion [Reprint 2022 ed.] 9783112617243, 9783112617236


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German Pages 236 [237] Year 1974

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Das erste Jahrzehnt: Literatur und Kulturrevolution in der Sowjetunion [Reprint 2022 ed.]
 9783112617243, 9783112617236

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Nyota Thun

Das erste Jahrzehnt

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Nyota Thun

Das erste Jahrzehnt Literatur und Kulturrevolution in der Sowjetunion

Akademie-Verlag • Berlin

1973

Erschienen im Akademie -Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1973 by Akademie-Verlag, Berlin Lizenznummer: 202 • 1 0 0 / 3 3 5 / 7 3 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4110 Bestellnummer: 752 375 7 (2150/12) • LSV 8035 Printed in G D R E V P 7,50

Inhalt

Anstatt einer Einleitung

7

„Der lebendige, schöpferische Sozialismus ist 'das Werk der Volksmassen selbst" Revolution und Kultur Kunst und Politik Revolution und Kultur aus Gorkis Sicht Bloks „Musik" der Revolution Kulturprognosen und Kulturpraxis

18 18 29 41 53 59

Feiertag der Kunst

70

„Schule der Lebensbeobachtung" Tempel oder Fabrik Massenkunst und Proletkult Was hat die Sowjetmacht der Kunst gegeben?

. . .

70 79 88 100

Revolutionskonzept und ästhetische Systeme

105

Erkundung eines „neuen" Realismus Neue Ökonomische Politik und Kultur Ideologie und Kunst Proletarische Kultur und Proletkult Kulturrevolution Streit um den Realismus

105 118 124 131 139 147

Literaturprozeß und Literaturprogrammatik Literaturpolitik und Parteilichkeit . ; Epochenaufgabe der Literatur Auf der Suche nach einem neuen Menschenbild . . . Beispiel für die Welt Resümee Abkürzungen Anmerkungen Personenregister

161 161 175 184 196 206 211 213 230

5

Anstatt einer Einleitung

„Immer mehr (wenn auch mit Verspätung!) gelange ich zu der Überzeugung, die Zeit der Arbeit, in großen Lettern gesetzt, ist gekommen. Arbeiten muß man, Sachen, Pyramiden, Brücken und so fort schaffen, die die von der Menschheit aufgespeicherte Kraft verschlingen. Rußland muß endlich aufhören zu leiden und zu jammern; es muß leben, atmen und viel und zielstrebig arbeiten. Nicht von ungefähr hat die Geschichte rauhe, nüchterne, starke Mensohen in den Vordergrund gestellt. Sie schlagen unser jahrhundertealtes Gerümpel (ich spreche von der seit eh und je hin- und herschwankenden russischen Seele) kurz und klein und rammen an seine Stelle einen kräftigen Pfahl in den Boden für ein bisher noch .unbekanntes, aber, nach dem Pfahl zu urteilen, offensichtlich dauerhaftes Gebäude... Wie sehr tut uns jetzt die Genesung vom .unnützen Traum' not sowie eine Erleuchtung, um die Welt als eine reale, grausame, irdische zu erkennen -so wie sie in Wirklichkeit ist . . . " (GSP 252) Leonows Bekenntnis zur schöpferischen Krait der Rievolutionsepoche war das Bekenntnis eines Künstlers, der in ständiger Zwiesprache mit der Zeit die ihn umgebende neue Welt in seinem Werk auszudrücken bemüht war. Nach einem umgestülpten Ausspruch von La Rochefoucauld könne man sagen, „die Geschichte verbirgt das Kleine und erhebt das wahrhaft Große, so wie der Wind die Kerze löscht und die Flamme des Feuers anfacht"1. Das Große auch im Kleinen zu erkennen, die „Formel" zu finden für den neuen Menschen, für seine auf das Morgen gerichtete Tat, der achtundzwanzigjährige Leonow sah darin die Grundaufgabe der Literatur. Seine eigenen Werke - die Romarie Die Dachse (1924) und Der Dieb (1927) 7

sowie mehrere Erzählungen - waren ein bedeutender Beitrag zur Sowjetliteratur. Leonows Worte spiegeln das Problem wider, das ihn beim Schreiben des Theaterstücks Untilowsk nach der gleichnamigen Erzählung bewegt. Im Grunde war hier bereits das Hauptanliegen seines nächsten Romans, Das Werk im Urwald (1930), formuliert. Nach dem Dieb war er einen „gewaltigen, kühnen Schritt vorwärts" gekommen. (Gorki 30, 186) Das erste Jahrzehnt der Sowjetliteratur zählt zu den erregendsten Literaturepochen, die die Geschichte kennt. Vom Roten Oktober bis zum Oktober 1927 entwickelte sich die Literatur außerordentlich dynamisch. Infolge der ungeheuren Schwierigkeiten bei der Ablösung der alten Kunstepoche durch eine neue und infolge der sich auch in der literarischen Produktion spiegelnden harten Klassenauseinandersetzungen erkannten noch nicht viele Zeitgenossen die ganze Tragweite der neuen künstlerischen Errungenschaften. Es bedurfte allerdings keiner größeren geschichtlichen Distanz, um herauszufinden, in welcher Richtung das literarische „Grundgesetz" der Epoche wirkte. Die widersprüchlichen, komplizierten Beziehungen zwischen den verschiedenen literarischen Kräften, die Heftigkeit der literarischen Debatte mit ruckartigen Verlagerungen des Epizentrums mitunter von einem Jahr zum anderen, schließlich die Spannungen in jedem Künstler selbst - all das waren im Grunde Erscheinungsformen jenes revolutionären Prozesses, der sich in der Tiefe der Kunst selbst in Übereinstimmung mit der Revolutionierung aller gesellschaftlichen Bereiche vollzog. Eckpunkte dieses Prozesses waren Bloks Poem Die Zwölf (1918) und Majakowskis Poem Gut und schön (1927), Majakowskis Mysterium bufto (1918) und Iwanows Theaterstück Panzerzug 14-69 (1927), Malyschkins Erzählung Der Fall von Dair (1921), Iwanows Partisanen (1921) und Fadejews Roman Die Neunzehn (1927). Diese Linien kennzeichnen die konzentrierten Anstrengungen der Literatur, aller ihcer Gattungen, sich der neuen revolutionären Wirklichkeit zu bemächtigen. Neuanfang und ästhetische Entdeckung, langanhaltende literarische Wirkung waren durchaus nicht immer so eng miteinander verbunden wie im Falle von Bloks epochaler Leistung. 8

Und andererseits enthielt selbst ein so großartiger Auftakt der Revolutionslyriik wie Die Zwölf durchaus nicht, auch nicht im Ansatz, die ganze Vielschichtigkeit poetologischer Konzeptionen und lyrischer Ausdrucksmöglichkeiten, die dieses erste Jahrzdhnt sowjetischer Dichtkunst prägte. Die genannten Eckpunkte wie auch die neuen Traditionslinien watien im literarischen Leben des Jahres 1927 nicht so klar sichtbar wie heute. Über Trenjows Ljubow Jarowaja und Bulgakows Die Tage der Turbins, 1926 uraufgeführt, wurde im Jubiläumsjahr in der Konfrontation beider Stücke debattiert. Die „eigentümliche Anhäufung nicht geringer Vorzüge wie offensichtlicher und großer Mängel" (AVL 3, 325) des Bulgakowschen Dramas wurde angesichts der in Trenjows Stück vermittelten großen historischen Wahrheit der Epoche besonders stark empfunden. Fast gleichzeitig erschienen Oleschas Roman Neid und Majakowskis Oktoberdiöhtung Gut und schön. Während Oleschas Buch sofort heftige Diskussionen für und wider die Darstellung der zentralen Charaktere auslöste, fand Majakowskis Poem in literarischen Kreisen zunächst relativ wenig Resonanz. Der Vorgriff auf die kommende Epoche im Zeichen der Planjahrfünfte wurde von vielen als Rhetorik empfunden. Fadejew erläuterte diesen Sachverhalt zwei Jahrzehnte später: „ . . . selbst wir, aus den unteren demokratischen Schichten hervorgegangen, in gewissem Maße auch Bahnbrecher der Sowjetliteratur, verstanden nicht gleich Größe und Bedeutung dieses Poems. Wir beurteilten es vom eng literarischen Standpunkt. Uns gefiel nicht das Deklarative. Vor dem zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution, als . . . vieles im Land noch sehr schwer war, sprach Majakowski in seinem Poem von einem Land, in dem sich die neue Lebensordnung schon gefestigt hat. Er sprach von seiner innersten Beziehung zur sowjetischen Heimat Viel von dem, was in ihm (dem Poem - N. T.) nur vorweggenommen war, hat sich verwirklicht. Das Poem Gut und schön war fürwahr prophetisch."2 Von den Schriftstellerkollegen und von der Kritik noch wenig verstanden, fand sich Majakowski auf öffentlichen Lesungen von den Arbeitern bestätigt. In seinem Referat Zehn ]abre kultureller Aufbau auf der Jubiläumssitzung des Zentralexekutivkomitees der UdSSR vom 16. Oktober 1927 bezeichnete

9

Lunatscharski idas Poem als einen „großartigen Fanfarenstoß zu Ehren unseres Feiertags. In ihm ist keine einzige falsche Note. Bei Arbeitern ruft es Begeisterung hervor." 3 Es habe zehn Jahre bedurft, bis das erreicht wurde. Der Kritiker I. Bespalow war einer der wenigen, die Gut und schön sofort nach seiner Veröffentlichung als ein „bedeutendes Werk in sozialer und künstlerischer Hinsicht" bezeichneten: „Der Reichtum der Reime - jeder von ihnen ist unerwartet und originell, die Vielfalt der Rhythmen - aus ihnen ist mal der Straßenkampf, mal die ,castuska', mal der Schritt der Millionen herauszuhören, die literarische Parodie - alles wurde mobilisiert, um im Poem das Pathos der Revolution wiederzugeben."4 Diese Aufgabe habe der Dichter im wesentlichen gemeistert, obwohl, wie der Rezensent eingangs schrieb, die Rhetorik oft noch im Widerspruch zum Inhalt stehe. Innere Verbindungen zwischen Bloks Die Zwölf und Majakowskis Oktober-Poem, auf die heute die sowjetische Forschung verweist, wurden seinerzeit noch nicht entdeckt. Insgesamt fand Gut und schön noch keine seiner literarischen und politischen Bedeutung adäquate Wertung. Diese wenigen Tatsachen stecken bei weitem noch nicht das gesamte Polemikfeld der literarischen Debatte ab. Da wäre Pilnjak zu nennen mit seiner ¡bis heute sehr unterschiedlich interpretierten Erzählung Iwan Moskwa (1927), die nach ihrer ideellen Grundkonzeption die Absage an die -Gestaltung des Kommunisten als Träger des gesellschaftlichen Fortschritts darstellte, oder der Streit um Neuerscheinungen von Malaschkin (Mond von rechts, 1927), Romanow und anderen zum Problem der geschlechtlichen Beziehungen zwischen jungen Menschen der neuen Gesellschaft. Fadejews Bürgerkriegsroman Die Neunzehn fand sofort eine fast einmütige Wertung als eine bedeutende literarische Erscheinung: „Die Neunzehn wühlen den Leser nicht durch Belehrungen, nicht durch Reden auf, sondern durch die künstlerische Darstellungsweise, durch beeindruckende Farben, durch die gelungene Enthüllung der individuellen wie der kollektiven Psyche. Der Autor zieht keine Schlußfolgerungen, er zwingt den Leser, diese selbst zu finden . . . Unbestritten haben wir es mit einem wirklichen Künstler zu tun, der mit einfachen, 10

wirklich künstlerischen Mitteln auf Verstand und Gefühl zu wirken versteht . . . Die Neunzehn setzen erfolgreich die Linie der proletarischen Literatur fort, die auf das vertiefte Studium der Psyche des Menschen der Revolution gerichtet ist."5 Der Roman sei eine „erfreuliche Etappe" in der Entwicklung der Sowjetliteratur. Lunatscharski nannte Gladkows Zement und Fadejews Die Neunzehn als Bestätigung daifür, daß „der proletarische Schriftsteller nicht nur neben den alten Meister getreten ist, sondern ihn mitunter einfach übertroffen hat"6. Das Jähr 1927 stand im Zeichen eines ersten größeren Epochenvergleichs der Literatur. Diese Bilanzierungen, erfolgten sie von marxistisch-leninistischen Positionen an Beispielen aus allen kulturellen Bereichen, förderten höchst beachtliche Erscheinungen zutage und erschlossen zehn Jahre Literaturund Künsten twicklung unter der Diktatur des Proletariats als einen gesetzmäßigen Prozeß. Auf der Festsitzung verschiedener Literatur- und Kunstverbände am 11. November 1927 in Moskau nannte Fadejew zwei Kriterien, nach denen die bisherigen Errungenschaften näher bestimmt wenden könnten: „Erstens: Was haben wir auf verschiedenen Gebieten der Kunst im Vergleich zu den Idealen des Sozialismus, Kommunismus erreicht, zu denen wir uns bekennen? Und ferner: Was haben wir im Vergleich zu jenen Höhen auf allen Gebieten der Kunst erreicht, die die uns vorangegangenen Klassen erreichten?" Und er schlußfolgerte: Gemessen an diesen Kriterien, ¡befinde sich die proletarische Kunst zunächst noch etwa auf dem Niveau der ursprünglichen Akkumulation. Andererseits entwickelte Fadejew folgerichtig: „Wir haben gemeinsam solche enormen Schichten der Arbeiterklasse und der Bauernschaft in das gesellschaftlich-fkulturelle Leben einbezogen wie keine Klasse in der gesamten geschichtlichen Wirklichkeit der Vergangenheit ...". Das beweise, „in nicht ferner Zukunft werden wir eine so enorme Anzahl von lebendigen Trägern der künstlerischen Kultur haben wie nie zuvor in der Geschichte. Zweifellos gibt uns das die Gewißheit, daß wir tatsächlich jene enorme Höhe erreichen, die wir als die ideelle Hegemonie der proletarischen Kunst bezeichnen."7 Dieses Zeugnis ist für unsere Untersuchungen auch in methodischer Hinsicht aufschlußreich. Die bedeutendsten Künstler 11

der Revolutionsepoche, zu ihnen zählte Fadejew bereits in den zwanziger Jahren, bewerteten ihr eigenes Schaffen, eine literarische Neuerscheinung nicht nach der Kunst immanenten "Maßstäben. Sie beurteilten ein Werk, seinen Beitrag für die Literatur nach seiner Funktion im revolutionären Prozeß der sich herausbildenden neuen, sozialistischen Gesellschaft, ohne dabei spezifisch künstlerische Aspekte außer acht zu lassen. Die bedeutenden Leistungen auf dem Gebiet der Literatur, bildenden Kunst, Musik, des Films bestätigten die Richtigkeit der marxistisch-leninistischen Theorie von der Freisetzung der schöpferischen Kräfte des Volkes in der sozialistischen Revolution. „Nach der Machtübernahme in unserem Land hat die Arbeiterklasse bewiesen, daß sie die Rolle eines wirklichen Trägers des neuen menschlichen Fortschritts übernommen hat", hieß es in der Entschließung des Zentralexekutivkomitees der UdSSR zu LunatscharskLs Referat Zehn Jahre kultureller Aufbau. „Das Proletariat bahnt sich den Weg zu allen Errungenschaften der Kultur und des Wissens und kümmert sich gleichzeitig sehr sorgfältig um die 'Entwicklung und Bildung aller Werktätigen und aller Nationalitäten der UdSSR." Alle Künste haben die Aufgabe, die revolutionäre Gegenwart widerzuspiegeln, um den Anforderungen der Epoche gerecht zu werden. „Die Kunst ist nicht mehr ein Privileg der Besitzenden; sie wird immer mehr zum Eigentum der werktätigen Massen."8 Diese Schlußfolgerungen aus der zehnjährigen kulturellen Entwicklung auf Grund der bereits erreichten künstlerischen Leistungen und Erfahrungen waren außerordentlich wichtig in Anbetracht der sowjetischen wie auch der internationalen proletarischen Literaturbewegung dieser Epoche. E r s t e n s : Der Klassenkampf nahm bekanntlich in den ersten nachrevolutionären Jahren auch auf dem Gebiet der Kunst und Literatur äußerst scharfe Formen an. Die erbitterten Feinde der Oktoberrevolution gingen ins Ausland. Mit ihnen verließen Rußland auch einige Vertreter der demokratischen Richtung innerhalb der russischen Literatur. „Schmeljow ist mit seinem Sohn in die Ukraine gefahren; jetzt ist er wohl auf der Krim. Iw. Bunin ist in Odessa. Schriftsteller, Künstler, Musiker - all das flieht ins Ausland", schrieb Sera12

fimowitsch im September 1918 aus Moskau. „Hier aber ist brodelndes Leben, brodelnde Arbeit. Und seltsam, alle, die mir einst nahestanden, mit denen ich gearbeitet habe, sind zurückgeschreckt, sind mir fremd geworden."9 Sie prophezeiten den „Verfall" der russischen Kultur und scheuten sich nicht, antisowjetische Verleumdungen zu verbreiten. Selbst ein historisch so kurzer Zeitabschnitt wie diese ersten zehn Jahre, von denen zudem vier vom Bürgerkrieg gezeichnet waren, bestätigte nicht die düsteren Prophezeiungen der Weißemigranten, sondern das weit vorausschauende kulturschöpferische Programm der Bolschewiiki. Tagespresse und Literaturzeitschriften registrierten diesen Sachverhalt. Tatsachen bezeugten: Eine Gesellschaftsordnung, die in so wenigen Jahren auf dem Gebiet der Literatur, des Films, der bildenden Kunst neue Maßstäbe setzte, konnte nicht kunstfeindlich sein. Andererseits waren die im Ausland verfaßten Werke russischer Emigranten fast ausnahmslos eindeutige Beweisstücke, daß sich ihre Verfasser ein für allemal aus der Geschichte der russischen Literatur selbst ausgebürgert hatten. „Alles in allem ist die Literatur der Emigration im offensichtlichen Verfall begriffen", schrieb der Kritiker Woronski. Bunin werde zwar von vielen wegen seiner künstlerischen Meisterschaft geschätzt, „sein kalter Fatalismus, das fehlende Vertrauen in den Menschen, sein Mystizismus sind jedoch kaum attraktiv . . . Schmeljow schreibt über uns bösartige und dumme Pasquille, Mereshikowski ist langweilig, Tschirikow schlecht und völlig ausgelaugt . . . Die Ernte ist hier dürftig". 10 Gorki verfolgte diesen Vorgang sehr aufmerksam und zugleich mit wachsendem Abscheu: „Tagtäglich sehe ich zwei bis drei Emigrantenzeitungen durch", schrieb er im Mai 1927 an Prischwin. „Glauben Sie, es fällt schwer, russische Menschen zu beobachten, die sich derart von Rußland gelöst haben, für Rußland kein Empfinden mehr haben, die Zuckungen seiner Wiedergeburt nicht begreifen wollen - oder schon nicht mehr begreifen können? - und Tag für Tag sich gegenseitig einreden, das seien Zuckungen seiner Agonie." (GSP 346) Besonders empörte ihn die Aufforderung Sinnaida Gippius', man solle nicht über die BolschewLki schreien, sondern „sie schweigend hängen". 13

Gorkis im Oktober/November in .der Prawda bzw. Iswestija veröffentlichte Artikel Zehn Jahre und Altes und Neues, seine Glückwünsche für .den „neuen russischen Menschen, den Erbauer eines neuen Staates", riefen in Emigrantenkreisen Bestürzung hervor. Die Hoffnung, den in Italien lebenden Schriftsteller gegen das Sowjetland ausspielen zu können, mußten sie endgültig begraben. Gorki wurde verleumdet, beschimpft. Er antwortete in einem öffentlichen Brief An die Anonymen und Peudohymen. (MG 24, 301-303) Einige Monate später erschien sein Artikel Über die Literatur der Weißemigranten. Gorki zog einen Schlußstrich unter die literarische Tätigkeit von Dm. Mereshowski, S. Gippius, P. Struwe, Ju. Aichenwald u. a. und fällte über sie ein vernichtendes Urteil. Angesichts der im Sowjetland begonnenen „Sache unseres Jahrhunderts", der Herausbildung einer völlig neuen Lebenshaltung - „das Schicksal ist uns kein Richter, wir sind die Herren unseres Schicksals", enthüllte er die ganze Erbärmlichkeit ihres antisowjetischen Geschreis „im Namen der Menschlichkeit". (MG 24, 349-350) Die Geschichte war über sie hinweggeschritten. In der Literatur hatten sie ausgespielt. Kuprin und Marina Zwetajewa fanden in den .dreißiger Jahren noch als einzige die Kraft, offen ihren Irrtum einzugestehen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Sie kehrten in ihre Heimat zurück, an die Seite der sowjetischen Schriftsteller. Z w e i t e n s : Anfang der zwanziger Jahre entwickelten sich Literatur und Kunst zunächst noch im Zeichen harter ideologischer Auseinandersetzungen. Neue Formen des „Kampfes zweier antagonistischer Kulturen, zweier Klassenideologien in Zusammenhang mit dem Sieg der proletarischen Revolution in einem Land" 11 bildeten sich heraus. Der Klassengegner war in die Defensive gedrängt, er hatte seine Vorrangstellung in allen kulturellen Bereichen eingebüßt und versuchte nun, vermittels philosophischer Systeme .und idealistischer Kulturtheorien wieder an Boden zu gewinnen. Demgegenüber konnte eine wirklich revolutionäre Literatur entstehen, wenn sie sich ihrer neuen gesellschaftlichen Funktion bewußt wurde und ihr Wesen als s o z i a l i s t i s c h e Literatur ausbildete. Voraussetzung war die völlige Übereinstimmung mit dem gesellschaftlichen Prozeß. 14

Die Kommunistische Partei und insbesondere Lenin richteten ihre besondere Aufmerksamkeit darauf, das gesamte kulturelle Leben auf die Praxis zu orientieren und die ideologische Arbeit - Verbreitung der marxistischen Weltanschauung - zu intensivieren. Das von Lenin entwickelte Programm der sozialistischen Kulturrevolution hatte zum Ziel, die werktätigen Massen zur Leitung des Staates zu befähigen. Die in der ersten Etappe der Kulturrevolution getroffenen Maßnahmen parteilicher und staatlicher Organe sollten zunächst ein bestimmtes Kulturniveau erreichen helfen, das zur Schaffung der Grundlagen des sozialistischen Aufbaus unbedingt notwendig war. Auch die Künste wurden in diesen allgemeinen Prozeß der sozialistischen Kulturrevolution einbezogen. Schriftsteller und Theoretiker begannen, diese neuen Beziehungen zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen innerhalb der Diktatur des Proletariats zu durchdenken und aus ihnen die neue Funktion und auch die Spezifik der Literatur albzuleiten. In diesen Jahren entwickelte sich die marxistische Kulturund Kunsttheorie. Lenins umfassendes Kulturprogramm wurde jedoch erst nur von wenigen wirklich verstanden. Am kompliziertesten war dieser Prozeß, sobald einige Theoretiker Lenin verfälschten und sich im gleichen Atemzug auf ihn beriefen. Noch zu Lebzeiten Lenins verfocht Trotzki die These, daß sich in der Ubergangsphase vom Kapitalismus zum Kommunismus keine proletarische Kultur und folglich auch keine proletarische Literatur entwickeln könne. Die Aufgabe des Proletariats beschränke sich zunächst darauf, sich die bürgerliche Kultur und Literatur anzueignen, sie zu assimilieren, währenddessen der künstlerische Fortschritt Angelegenheit ausschließlich der nichtproletarischen Künstler sei. Wenn die Periode des „Lernens" bei der überlieferten Kultur abgeschlossen sei (Trotzki sprach von einem jahrzehntelangen Prozeß), höre das Proletariat schon auf, Proletariat zu sein. Somit komme es erst gar nicht dazu, eine eigene Kultur zu schaffen. In der klassenlosen Gesellschaft habe die Kultur bereits keinen Klassencharakter mehr. Trotzki räumte lediglich ein, daß in dieser Übergangsphase (Diktatur des Proletariats) das Proletariat der Kultur einen gewissen Stempel aufdrückt. 15

Einflüsse dieser Theorie Trotzkis sowie seiner ästhetischen Auffassungen (das Intuitive, Unbewußte sei das entscheidende Moment im künstlerischen Schaffensprozeß u. a.) lassen sich bis Ende der zwanziger Jahre in der sowjetischen Literaturkritik nachweisen, wenngleich nur bei einer kleinen Gruppe, im wesentlichen bei einigen wenigen Kritikern, die sich zum theoretischen Programm der literarischen Vereinigung Pereval bekannten. Um den zehnten Jahrestag erfolgte der Ausschluß von Trotzki und Sinowjew aus der KPdSU (B).12 Der Kampf der Partei gegen den Trotzkismus wurde auf breiter Front geführt. Die künstlerischen Errungenschaften des ersten Jahrzehnts und deren theoretische Verallgemeinerung vom marxistisch-leninistischen Standpunkt waren daher zugleich ein wichtiger Beitrag zur restlosen Überwindung der antileninistischen Kulturauffassung Trotzkis und seiner Anhänger. Noch zu der Zeit, als Trotzki erstmalig diese Thesen zu verbreiten suchte, das heißt in den Jahren 1922/23, wurden sie bereits in der kulturellen Praxis ad absurdum geführt. Die Kulturdebatte Mitte der zwanziger Jahre widerlegte sie unmißverständlich. Der Beschluß des ZK der KPR (B) Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der Literatur (1925) bekräftigte die leninistische Linie in der Kultur- und Kunstpolitik. Zehn Jahre nach dem Roten Oktober hatten genügt, um endgültig allen revolutionsfeindlichen Kulturkonzeptionen im eigenen Land den Boden zu entziehen. D r i t t e n s : „Heute ist die junge Literatur eine kollektive Angelegenheit der Klasse, die die Macht über das riesige Land in ihre Hände genommen, ihrem Willen unterworfen hat und energisch und erfolgreich in ihm eine neue Kultur, ein neues Leben aufbaut. Diese Arbeit muß eine unbestreitbare erzieherische Bedeutung für die Werktätigen der ganzen Welt haben, und das hat sie auch! Die russische Arbeiterklasse kann mit Recht sagen, daß sie dem Begriff des A l l g e m e i n m e n s c h l i c h e n tatsächlich einen allgemeinmenschlichen Inhalt gibt, den sich das Proletariat aller Länder zu eigen macht." (Gorki, Über Literatur 155.) Die erste internationale Konferenz proletarischer und revolutionärer Schriftsteller bekräftigte diese Feststellung Gorkis. Sie tagte vom 15. bis 16. 16

November 1927 in Moskau. 13 Ziel der Konferenz war, eine internationale Vereinigung revolutionärer Schriftsteller zu schaffen. Im Mittelpunkt des Meinungsaustausches standen gesetzmäßig die Erfahrungen der Sowjetliteratur. In der Entschließung zu den zwei Hauptreferaten von Lunatscharski und Awerbach wurde dieser internationale Aspekt besonders herausgestellt: „Die Literatur der UdSSR hat im wesentlichen bereits die Etappe der .ursprünglichen Akkumulation* durchschritten und ist in die Phase der allgemeinen Entfaltung eingetreten, vorwiegend auf Grund eines neuen realistischen Stils. Die Konferenz hebt die außerordentliche erkenntnistheoretische und erzieherische Bedeutung dieser Literatur hervor. Erstmalig hat sie eine in sich geschlossene Weltanschauung, die harmonisch mit der kommunistischen Ideologie verbunden ist, in die Weltliteratur eingebracht."14 In der internationalen revolutionären Literaturbewegung wuchs das Interesse nicht nur für die Errungenschaften der Sowjetliteratur - für die Werke Gorkis, Majakowskis, Furmanows, Fadejews, Iwanows, Babels, Malyschkins. Die Alternative bürgerliche Kulturkrise - siegreiche Kulturrevolution in der Sowjetunion lenkte die Aufmerksamkeit auch auf die neuen Beziehungen Literatur und Gesellschaft, Literatur und Kultur innerhalb der Diktatur des Proletariats. Die Dokumente des VI. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale 1928 belegen das Programmatische dieses in der Kulturgeschichte der Menschheit neuartigen Vorgangs.

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Thun

Der lebendige, schöpferische Sozialismus ist das Werk der Volksmassen selbst" Revolution und Kultur

Am zehnten Tag nach dem Oktoberumsturz verkündete Lenin: „Die lebendige schöpferische Tätigkeit der Massen, das ist der Hauptfaktor des neuen öffentlichen Lebens . . . Der Sozialismus wird nicht durch Erlasse von oben geschaffen . . . Der lebendige, schöpferische Sozialismus ist das Werk der Volksmassen selbst." (Lenin 26, 283) Alle Werktätigen waren aufgerufen, sich dieser Verantwortung bewußt zu werden: „Genossen! Werktätige! Denkt daran, daß i h r s e l b e r jetzt den Staat verwaltet! Niemand wird euch helfen, wenn ihr euch nicht selber vereinigt und nicht a l l e A n g e l e g e n h e i t e n des Staates in e u r e Hände nehmt. E u r e Sowjets sind von nun an die Organe der Staatsgewalt, bevollmächtigte, beschließende Organe. Schließt euch um eure Sowjets zusammen. Stärkt sie. Ohne auf jemand zu warten, geht selbst ans Werk, beginnt von unten. Stellt die strengste revolutionäre Ordnung her, unterdrückt schonungslos jeden Versuch, . . . Anarchie hervorzurufen . . . . . .Nehmt die g a n z e Macht in die Hände e u r e r Sowjets! Schützt und hütet wie euren Augapfel den Boden, das Getreide, die Fabriken, die Maschinen, die Produkte, das Verkehrswesen - das alles wird von nun an g ä n z l i c h euer Eigentum, wird Gemeineigentum des ganzen Volkes sein. Nach und nach werden wir, . . . auf Grund der p r a k t i s c h e n Erfahrungen der Bauern und Arbeiter, fest und unbeirrt zum Sieg des Sozialismus voranschreiten . . . " (Lenin 26, 294-295) Ein staatliches Organ wie die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten hatte es in der Geschichte noch nicht ge18

geben. Hätte die schöpferische Volkskraft der revolutionären Klassen nicht die Sowjets hervorgebracht, so wäre die proletarische Revolution in Rußland eine hoffnungslose Sache gewesen, stellte Lenin fest. In Staat und. Revolution hatte er die Marxsche Lehre vom Staat auf Grund der revolutionären Erfahrungen Rußlands weiterentwickelt und die Rolle und die Bedeutung der Diktatur des Proletariats bestimmt. Vor 1917 war es in Rußland gelungen, eine proletarische Partei neuen Typus zu schaffen. Nach der Errichtung der Diktatur des Proletariats übernahm sie die Führung beim Aufbau eines Staates neuen Typus: „Durch die Erziehung der Arbeiterklasse erzieht der Marxismus die Avantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifen und d a s g a n z e V o l k zum Sozialismus z u f ü h r e n , die neue Ordnung zu leiten und zu organisieren, Lehrer, Leiter, Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten zu sein bei der Gestaltung ihres gesellschaftlichen Lebens ohne die Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie." (Lenin 25, 416-417) Die Sicherung der Sowjets, dieser wichtigen Errungenschaft der Oktoberrevolution, hing in entscheidendem Maße davon ab, wie die Werktätigen selbst die ihnen übertragenen Rechte und Pflichten nutzten. Es bedurfte einer umfassenden Bildungsarbeit, um sie zu befähigen, den Staat auch tatsächlich zu verwalten. Der neuernannte Volkskommissar für Bildungswesen, A. Lunatscharski, appellierte am 31. Oktober (13. 11.) in einem Aufruf an die Bürger Rußlands, bei der Verwirklichung der von der Revolution gestellten kulturellen Aufgaben mitzuwirken. Lunatscharski entwickelte zwei Hauptaufgaben: Beseitigung des Analphabetentums als Grundlage einer umfassenden Wissensvermittlung in a l l e n Bevölkerungsschichten sowie Volksbildung im marxistisch-leninistischen Sinn als Entwicklung neuer Persönlichkeiten. Der sozialistische Staat werde und müsse die entsprechenden Einrichtungen schaffen, um den werktätigen Massen den erstrebten Zugang zu fundierten Kenntnissen und allen Wissensgebieten zu ermöglichen. Aber Schule, Bücher, Theater, Museen, Klubs seien nur Vermittler im Prozeß einer sozialistischen Volksbildung auf breitester Grundlage. Ein entscheidender Faktor seien „die Kritik und z*

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die schöpferische Kraft der Massen selbst", „denn Wissenschaft und Kunst ¡haben nur in einigen ihrer T e i l e eine allgemeinmenschliche Bedeutung: Sie erfahren grundlegende Veränderungen bei jeder tiefgreifenden Klassenumwälzung." Die revolutionäre Volksregierung werde daher auf dem Gebiet der Volksbildung die mächtige kulturelle Aufklärungsbewegung unter den Arbeitern wie den Bauarn mit allen Mitteln unterstützen und ihr den Weg ebnen. Erste praktische Maßnahmen zum Aufbau eines arbeitsfähigen Volkskommissariats wurden eingeleitet. Lunatscharski schloß im Sinne des Aktionsprogramms der bolschewistischen Partei: „Die Gewähr der Rettung des Landes liegt in der Mitarbeit ihrer lebendigen und wahrhaft demokratischen Kräfte. Wir vertrauen, daß die vereinigten Anstrengungen des arbeitenden Volkes und der ehrlichen, aufgeklärten Intelligenz das Land aus der qualvollen Krise heraus und durch die völlige Volksherrschaft in das Reich des Sozialismus und der Verbrüderung der Völker führen werde." 15 Die Perspektiven, die der Rote Oktober allen Gebieten der •Kultur eröffnete, faszinierten Lunatscharski. Gleichzeitig war er sich der hohen persönlichen Verantwortung bewußt, die er als Volkskommissar für die Realisierung des Bildungsprogramms der Kommunistischen Partei und der Sowjietregierung wie überhaupt für alle kulturellen Belange trug. Die Wirklichkeit war jedoch außerordentlich kompliziert und widerspruchsvoll. Die Nachricht von den Kämpfen gegen die Truppen der Provisorischen Regierung in Moskau, von Zerstörungen im Kreml erschütterten Lunatscharski und veranlaßten ihn, am 2. (15.) November beim Rat der Volkskommissare sein Rücktrittsgesuch einzureichen.16 Er sei machtlos, diesen in sein Verantwortungsbereich fallenden Vorgängen Einhalt zu gebieten. Die bürgerliche und „sozialistische" Presse hatte, wie sich später herausstellte, über das tatsächliche Ausmaß dieser Zerstörungen irreführende Meldungen verbreitet. Lunatscharskis Wunsch wurde nicht stattgegeben. Lenin habe ihm „gehörig den Kopf gewaschen", erinnerte sich Lunatscharski später, und unter anderem gesagt: „Wie können Sie dem einen oder anderen alten Gebäude, so schön es auch sein mag, eine solche Bedeutung beimessen, wenn es darum geht, einer Ge20

sellschaftsordnung das Tor aufzustoßen, die fähig ist, eine alle Träume dier Vergangenheit übertreffende Schönheit zu schaffen?" (LL 46) Einen Tag später verfaßte Lunatscharski den Aufruf Schätzt das Volksgut. In diesem Dokument bekannte er, in den Tagen eines erbarmungslosen Krieges, der Zerstörung von Werten, sei es unbeschreiblich schwer, Volkskommissar für das Bildungswesen zu sein. „Allein die Hoffnung auf den Sieg des Sozialismus als die Quelle einer neuen höheren Kultur" habe ihn veranlaßt, auf seinem Posten zu bleiben. „DoCh ich bitte euch flehentlich, Genossen, unterstützt mich, helft mir. Behütet für euch und eure Nachkommen die Schönheit unseres Landes. Seid treue Wächter dies Volksgutes . . . Bald werden auch die unwissendsten Menschen, die durch die Unterdrückung so lange in Finsternis gehalten wurden, aufgeklärt sein und verstehen, welche Quelle der Freude, der Kraft und der Weisheit die Kunstwerke sind." 17 Lunatscharski erläuterte, was für bedeutende kulturelle Reichtümer das werktätige Volk durch die siegreiche sozialistische Revolution als Erbe übernommen hat: „Gebäude einzigartiger Schönheit, Museen, angefüllt mit seltenen und schönen, lehrreichen und die Seele erhebenden Gegenständen, Bibliotheken mit gewaltigen geistigen Werten usw. All das gehört jetzt wirklich dem Volk." (LL 46-47) Die Mittellosen und ihre Kinder werden dank diesem Erbe die früheren besitzenden Klassen sehr schnell an Bildung übertreffen und sich zu neuen Menschen entwickeln, zum Besitzer der alten Kultur und zum Schöpfer einer bisher noch nie dagewesenen neuen Kultur. In einem kurz danach veröffentlichten Artikel gestand Lunatscharski öffentlich ein: „Ich hatte mich entschlossen, vom Posten des Kommissars zurückzutreten, der unmittelbar für das künstlerische Eigentum des Volkes verantwortlich ist. Damit wollte ich das Entsetzliche der in dieser Hinsicht entstandenen Lage unterstreichen. . . . Die Dinge in Moskau erwiesen sich nicht als so schlimm. Aber das Entscheidende war: Das Proletariat brachte seine Betrübnis so bewegend und zugleich so entschlossen zum Ausdruok, sogar angesichts eines solchen Schrittes der Selbstentfernung nur von einer Spezialaufgäbe, 21

daß mir mehr denn je klar wurde, 'die Arbeiter und Soldaten Petrograds, die Helden des Umsturzes, fragen sich in diesen Tagen besorgt: Erweist sich die parteiliche Intelligenz, aus der sich ihr Stab zusammensetzt, auf der Höhe der Situation? Was für Meinungsverschiedenheiten es auch immer unter uns geben mag, wir haben nicht das Recht, den an sich schon zahlenmäßig schwachen zentralen Staatsapparat, dessen sich das werktätige Volk in seinem ersten selbständigen Kampf vorläufig zu bedienen gezwungen ist, zu desorganisieren." (LL 48) In diesem knapp skizzierten Vorgang aus den ersten zehn Tagen der Sowjetmacht war die gesamte Problematik des kulturellen Neuaufbaus nach der Machtübernahme durch das Proletariat gebündelt. Der neue Staat und seine Organe, die Sowjets, betrachteten sich als die Beschützer und Hüter aller natürlichen, materiellen und geistigen Reichtümer des Landes. Die Volksmassen waren sich jedoch in ihrer Gesamtheit noch nicht bewußt, was für unermeßliche Schätze das angetretene Erbe barg und welche große historische Verantwortung für das weitere Schicksal der Kultur ihnen damit übertragen war. Daraus erwuchsen neue bedeutende Aufgaben im Rahmen des umfassenden Bildungsprogramms, dem Lenin vom ersten Tage der Revolution an seine besondere Aufmerksamkeit widmete. Lunatscharski war bekanntlich in jenen Tagen nicht der einzige Volkskommissar, der vor der komplizierten Lage zurückschreckte und voreilige Entschlüsse faßte, ohne die Situation genau zu analysieren. Lenin sagte in diesem Zusammenhang: „Die Macht gehört unserer Partei, die sich auf das Vertrauen der breiten Volksmassen s t ü t z t . . . Nur der wird siegen und die Macht behaupten, der an das Volk glaubt, der bis auf den Grund der lebendigen Schöpferkraft des Volkes tauchen wird." (Lenin 26, 284 u. 287) Dieser unerschütterliche Glaube an das Volk, schrieb Nadeshda Krupskaja, habe Lenin in den schwierigsten Stunden der jungen Sowjetmacht stets geholfen, Entscheidungen zu treffen und, gestützt auf die werktätigen Massen, den Kampf fortzusetzen. In seinen Mitarbeitern, unter ihnen auch Lunatscharski, hatte Lenin das Vertrauen in die schöpferischen Potenzen der revolutionären Masse immer wieder gestärkt. Die Praxis des revolutionären Kampfes bestätigte die richtige Einschätzung der potentiellen Kräfte des Volkes 22

seitens der Partei. So wurde schließlich das Vertrauensverhältnis zur Partei der Bolschewiki unter der Führung Lenins und damit zu den Volksmassen die entscheidende Frage, die auch jeder einzelne der Intellektuellen für sich zu lösen hatte, wollte er sein Verhalten zur Oktoberrevolution, zur revolutionären Veränderung aller Lebensbereiche bestimmen. Und hier schieden sich die Geister. In diesen Tagen und Wochen zeigte sich, wie brüchig, irreal die Vorstellungen vieler russischer Intellektueller und vor allem vieler Künstler vom Volk waren. Nur wenige 'begriffen, warum das Bild, das sie sich vom Volk geformt hatten, nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Die Ursache des Zusammenbruchs ihres Weltbildes und folglich ihrer ästhetischen Konzeptionen suchten sie nicht bei sich - sie wähnten sie Ln den Volksmassen, glaübten sich von ihnen verraten, verstoßen. Die •besten Vertreter der künstlerischen Intelligenz hatten seit Jahrzehnten an der Spitze der fortschrittlichen gesellschaftlichen Bewegung in Rußland gestanden. Nun aber konstatierten sie fassungslos: Der revolutionäre Aufbruch des Volkes und die Lösung aller bisherigen gesellschaftlichen Bindungen vollzogen sich faktisch ohne sie, obwohl sie an der Vorbereitung durch ihr Werk und ihr öffentliches Auftreten nicht selten Anteil hatten. Viele Künstler sahen ihre bisherige gesellschaftliche Stellung und Wirkung gefährdet. Das tiefe Krisenbewußtsein, das sich in ihren Kreisen ausbreitete, hatte ideologische und auch materielle Ursachen. In dem Moment, als das Land ihrer Hilfe und Unterstützung dringend bedurfte, schwankten sie, betrachteten sie die Revolution als eine Gefahr für die Kultur, insofern sie ihren Platz in der revolutionären Erhebung der Volksmassen nicht gefunden hatten und das Schöpferische in der sozialistischen Revolution nicht erkannten. Ihr Mitgefühl mit den Erniedrigten und Beleidigten reichte im Oktober 1917 nicht aus, um die historische Tragweite des Geschehenen zu begreifen. Sie schreckten vor den Waffen in den Händen der Arbeiter und Bauern zurück, sahen häufig nur ihre zerstörerische Wirkung. „Was glauben sie denn?" wandte sich Alexander Blok im Januar 1918 an die russischen Intellektuellen, „Daß die Revolution eine Idylle ist? Daß Schöpfertum auf seinem Wege nichts zerstört?" (AAB 6,16) 23

Den „Mann mit dem Gewehr", den „bärtigen Soldaten", der sich in den Tagen der Revolution die 'Sympathie der Massen erwarb, und seine weltgeschichtliche Mission verstanden die meisten von ihnen nicht. Der Abgrund zwischen ihnen und dem Volk - den Arbeitern, Bauern und Soldaten - war aufgerissen. „Die Schriftsteller, die so ergreifend, so schön über den armen Mushik geschrieben haben, befanden sich auf der einen Seite des Abgrunds, der Mushik aber auf der andern." 18 Die russischen Künstler standen am Scheideweg. Das Zertrümmern der altgewohnten Lebensbeziehungen führte zum Zusammenbruch ihrer bürgerlichen Humanismuskonzeption. Die Revolution war für sie „erste Konfrontation mit ihren Idealen". „Es war ein bitterer Kelch. Und er ging an niemandem vorüber. Die starken Geister leerten ihn und blieben bei dem Volk, die schwachen entarteten oder gingen zugrunde."19 Das mangelnde Vertrauen in die schöpferischen Kräfte der Volksmassen trieb viele in die Emigration. Von dort verkündeten sie, beeinflußt von den reaktionären Staats- und Kulturtheorien der entmachteten Klasse, düstere Zukunftsbilder: „Dämmerung senkt sich herab, erhellt vom Feuerschein der verlöschenden Brände unserer Kultur." 20 Wie auch immer der eine oder andere seine individuelle Entscheidung wider die Revolution als eine „ästhetische" im Namen der „Rettung der russischen Kultur" zu motivieren suchte, mit seiner Entscheidung stellte er sich gegen das russische Volk. Erschüttert registrierte Alexander Blok diesen Vorgang: „Es vollzieht sich etwas Ungewöhnliches (wie überall): Die .Intellektuellen', Menschen, die die Revolution propagiert hatten, die .Propheten der Revolution', wurden zu ihren Verrätern. Diese Feiglinge, Aufwiegler, Parasiten des bürgerlichen Gesindels. Ich hielt diese Literaten lange (allzu lange) für etwas Besonderes (und glaubte), sie seien Auserwählte. Da haben wir meine Abstraktheit". (AAB 7, 318) „Dichter, die da geglaubt hatten, sie seien für ,süße Töne' geboren, verwandelten sich in leidenschaftliche Publizisten. In ihrer Einsamkeit aufgescheuchte Künstler, die sich mit intimsten Stoffen befaßt hatten, verließen den Elfenbeinturm . . .". 21 Die Anhänger des l'art pour l'art gaben ihre „apolitische" Haltung auf. Viele mißbrauchten ihre Feder für haßerfüllte kon24

terrevolutionäre Ausfälle gegen die Bolschewiki. Was für subjektive Momente den einzelnen Schriftsteller auch immer zur Emigration bewogen hatten, dieser Schritt war eine verhängnisvolle und tragische Entscheidung gegen die eigenen schöpferischen Potenzen. „Die Emigranten aller Arten und Parteien sind ein verlorenes Volk. Bereits heute", schrieb Garki 1925 an Wolnow. „Wenn Sie wüßten, was aus Bunin geworden ist und wie schlecht er schreibt! Und Kuprin ist ein übler Monarchist." (GSP 60) Und 1927 an Prischwin: „Unsere geisteswissenschaftliche Intelligenz, über ganz Europa in alle Winde zerstreut, hat erstaunlich schnell ihr Gesicht verloren". (GSP 346) Der ideologische Differenzierungsprozeß innerhalb der russischen Intelligenz vollzog sich äußerst qualvoll und kompliziert. Lenin sah in diesem Vorgang eine historische Gesetzmäßigkeit. „Kein Wunder", schrieb er im März 1918, „daß an den schwierigen Punkten dieser schroffen Wendung, wo ringsum das Alte unter schrecklichem Getöse und Krachen birst und zusammenstürzt, während daneben unter unbeschreiblichen Qualen das Neue geboren wird, mancher von Schwindel befallen, von Verzweiflung erfaßt wird, mancher vor der mitunter allzu bitteren Wirklichkeit unter den Fittichen schöner, hinreißender Phrasen Rettung sucht." (Lenin 27, 146) .Das Alte schien häufig idyllisch verklärt. Der ausweglosen Kulturkrise in der bürgerlichen Welt wurden sich viele erst fern der Heimat bewußt. Die Ergebnisse des ersten Weltkrieges hatten in Westeuropa eine tiefe Resignation ausgelöst. Spenglers Untergang des Abendlandes war Ausdruck dieser in den Kreisen der westlichen Intelligenz verbreiteten Depression wie auch ihrer wirklichkeitsfremden und im Grunde reaktionären Vorstellungen von der „Rettung der Kultur". Insbesondere die der Intelligenz entstammende junge Generation hatte in den Schützengräben den Glauben an den menschlichen Fortschritt verloren, während die demobilisierten klassenbewußten Arbeiter nach dem Vorbild Sowjetrußlands eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch revolutionären Umsturz erkämpfen wollten. Unter dem Eindruck der sozialen Erschütterungen und der Krisensituation in der westlichen Welt blieb bei vielen emigrierten russischen Intellektuellen die Ernüchte25

tung über die von ihnen pathetisch gegen die Revolution verteidigte „Kultur" nicht aus, denn „im Namen der Rettung dieser Kultur inszenierte man die Blockade Sowjetrußlands, finanzierte man die Koltschak, Denikin, Judenitsch und Wrangel, schickten die Verbündeten Landungstruppen, zog man .Drahtverhaues' . . .". 22 Eine realere Einschätzung der Vorgänge in Sowjetrußland setzte sich Anfang der zwanzigr Jahre auch in Emigrantenkreisen durch und stellte sie vor die Alternative: entweder mit Rußland oder gegen Rußland. Einen anderen Weg gab es nicht. Unter der Losung „smena vech" riefen einige zum „Gang nach Canossa", zur Zusammenarbeit mit den „verhaßten" Bolschewiki auf, in der Hoffnung, die alten Positionen in der NÖP-Zeit zurückzuerobern. N. S. Trubezkoi, Sawizki und andere entwickelten eine „neue" kulturphilosophische Theorie. Diese sogenannte eurasische Konzeption besagte: Die europäische Kultur stehe am Abgrund. Die neue Kultur komme aus dem Osten und enthülle eine „neue allgemein menschliche Wahrheit". Die Leiden Rußlands seien sein Golgatha. Diese mystischen Erwartungen des Lichts aus dem Osten und der Glaube an die prophetische Mission Rußlands fanden seinerzeit unter den emigrierten russischen Intellektuellen breiten Widerhall. F. Stepun, Berdjajew und andere führten ihre Kritik an Spengler in dem 1922 in Moskau erschienenen Band Oswald Spengler und der Untergang des Abendlandes von dieser Position. Lenin war über Publikationen dieser Art höchst beunruhigt und hielt eine Auseinandersetzung mit Spengler in Sowjetrußland überhaupt für überflüssig. Nur wenige wurden sich ihrer Fehlentscheidung bewußt und distanzierten sich von diesem Rückzug in reaktionäre Kulturtheorien als einer „Brücke" zurück zur russischen Heimat. Sie begannen zu begreifen, daß es für sie aus der tiefen ideologischen und schöpferischen Krise nur einen Ausweg gab: Anerkennung der Sowjetmacht, ehrliche Zusammenarbeit mit den Bolschewiki. Alexej Tolstois Entscheidung - er kehrte 1923 nach Sowjetrußland zurück - war die einzig richtige Konsequenz aus dieser Einsicht. Andererseits war dies der erste, allerdings entscheidende Schritt zur Überwindung veralteter Denkmodelle. Im Vorwort zur Berliner Ausgabe des Romans 26

Der Leidensweg (1922), später unter dem Titel Die Schwestern veröffentlicht, schrieb Tolstoi: „Das Künftige steht als schwarzer Nebel vor Augen. Verzweifelt blicke ich um mich: Ist Rußland tatsächlich eine Einöde, ein Friedhof, ein gewesener Ort? Nein, zwischen Gräbern sehe ich Millionen Menschen. Die bitterste Bitternis des Leidens haben sie ausgekostet und das Land nicht der Verwüstung preisgegeben, die Seele nicht der Finsternis. Dein Name sei gelobt, Russisches Land." 23 Schreibend löste sich Tolstoi von eigenen Vorbehalten, die ihn wie viele Intellektuelle in die Emigration, andere ins Lager der Konterrevolution getrieben hatten. Roschtschins Worte verdeutlichen die tiefe Ursache ihrer Verzweiflung: „Im russischen Volk ist kein Verstand, kein Wille mehr - allein die aus dem dunkelsten Innern hervorbrechenden Instinkte des bäuerlichen Menschen sind am Werk.. .". 24 Die kritische Haltung des Autors zu dieser Einstellung wird in den Worten Telegins deutlich: „Ich betrüge mich selbst und betrüge Dascha. Ich bin erbost, wenn man mir sagt, Rußland gehe zugrunde. Aber außer diesen Herzen tue ich nichts, damit es nicht zugrunde geht. Entweder ich lebe jetzt bewußt ehrlos weiter oder.. .".25 Noch schreckte Telegin vor diesem „oder" zurück. Aber der Leser ist überzeugt, Telegin wird nicht mehr lange einer Entscheidung ausweichen. Während Roschtschin Rußland endgültig verloren glaubt, beschwört Telegin Bilder der russischen Geschichte herauf. Außerhalb seines eigenen Ichs sucht er etwas, was ihn aus seiner Lethargie herausreißt. Aber dieser erneuerte Vaterlandsbegriff mußte ebenso wie der verlorengegangene so lange noch ein abstrakter bleiben, wie Telegin vom Volk getrennt war, wie er den sich in der Wirklichkeit vollziehenden Ablösungsvorgang der entscheidenden historischen Kraft nicht erkannte und sich nicht b e w u ß t auf die Seite des Volkes stellte. Die Überwindung eines solchen undifferenzierten Volksbegriffes wurde in der Revolutionsepoche für die Intelligenz tatsächlich zur Kernfrage. Das war eine spezifische historische Gesetzmäßigkeit der dritten Etappe der russischen Revolution. Mit Gefühlen und Emotionen, verletzter Eigenliebe oder ein27

facher Sympathie für das Volk war seitens der Intelligenz die Grundfrage ihrer Stellung innerhalb der sozialistischen Revolution und ihres Übergangs zu einem „neuen Typ der geistigen Produktion" 26 nicht zu lösen. Lenin hatte auf das Dilemma als Folge des ersten Weltkrieges hingewiesen: entweder die gesamte Kultur zugrunde richten und selbst zugrunde gehen oder auf revolutionärem Wege den Sozialismus errichten und einen dauerhaften Frieden sichern. Die Erkenntnis der sozialistischen Revolution als einer zutiefst humanistischen und kulturschöpferischen Tat stellte sich auch in den Kreisen nicht automatisch ein, die ohne Vorbehalte die Sowjetmacht sofort anerkannten. Sie setzte die Übereinstimmung der individuellen Kultur- und Kunstvorstellungen mit der Gesellschaftsprogrammatik der Diktatur des Proletariats voraus. Das bedeutete: Vertrauen in die schöpferische Arbeit, die die revolutionären Massen unter der Führung der Kommunistischen Partei vollbrachten, und aktive Teilnahme an diesem welthistorischen Prozeß, am sozialistischen Aufbauwerk der Millionenmassen. Das hieß: Aufgabe jeglicher illusorischer Vorstellungen von der messianistischen Führungsrolle der Intelligenz bei der revolutionären Neuordnung aller gesellschaftlichen - damit auch der kulturellen - Bereiche. Befördert wurde dieser ideologische Wandlungsprozeß vornehmlich durch drei Faktoren: Erstens erwies sich die Arbeiterund-Bauern-Macht entgegen allen kulturpessimistischen Prognosen als ein großartiger Förderer von Wissenschaft, Technik und Kunst. Zweitens wurde in die umfassende Bildungs- und Aufklärungsarbeit, die von Jahr zu Jahr systematischer durchgeführt wurde und in deren Mittelpunkt auf nachdrückliche Forderung Lenins die Lehre des wissenschaftlichen Sozialismus rückte, auch die Intelligenz einbezogen. Und drittens führten die neuen kulturschöpferischen Bedürfnisse und Betätigungen der revolutionären Massen das bürgerliche Geschrei von der „Kulturlosigkeit" der proletarischen Revolution ad absurdum. Die Beseitigung der Ausbeutung setzte die jahrhundertelang gewaltsam unterdrückten schöpferischen Fähigkeiten und Initiativen der Volksmassen frei. Auf diese Weise entwickelte sich bereits im ersten Jahr der Sowjetmacht das neue Kulturbewußtsein der revolutionären Arbeiter, Soldaten und Bauern, 28

denn „in den härtesten Prüfungen hört das Proletariat nicht auf, von der Schaffung einer neuen Kultur zu sprechen, unter gleichzeitiger Aufnahme alles dessen, was es an Bestem in der Wissenschaft und Kunst der Welt gibt . . . Ein Beweis dafür, daß sich der Proletarier als Mensch, in großen Lettern gesetzt, erhoben hat, daß eigentlich er Prometheus ist, der neue Wege entdeckt." (AVL 7, 200)

Kunst und Politik „Die kommunistische Revolution ist dos radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, daß in ihrem Entwicklungsgange am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird." (MEW 4, 481) Diese im Kommunistischen Manifest gegebene weitvorgreifende geniale Bestimmung jener Umwälzung, die sich mit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auch in den Köpfen der revolutionären Massen vollzog, bildet zugleich die theoretische Grundlage der größten aller Kulturrevolutionen in der Menschheitsgeschichte. Die Zerschlagung des alten Machtapparats in einem revolutionären Akt - dieser „Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit" (MEW 20, 264) erforderte zunächst noch bedeutende Anstrengungen zur Sicherung und Festigung der revolutionären Errungenschaften. Es bedurfte des „selbständigen historischen Schöpfertums der Mehrheit der Bevölkerung, vor allem der Mehrheit der Werktätigen", um „die Produktion t a t s ä c h l i c h zu v e r g e s e l l s c h a f t l i c h e n " und damit alle menschlichen Beziehungen auf sozialistischer Grundlage umzustülpen. Diese „positive oder auch schöpferische Arbeit" (Lenin 27, 231), die das Proletariat im Bündnis mit der von ihm geführten armen Bauernschaft nach der Oktoberrevolution zu vollbringen hatte, stand im Mittelpunkt aller theoretischen wie praktischen Erwägungen Lenins nach Errichtung der Sowjetmacht. Aus der nüchternen Einschätzung der Kluft zwischen dem schöpferischen Programm der Revolution und der materiellen wie kulturellen Armut in Rußland leitete er die praktischen 29

Aufgaben in der ersten Etappe der Kulturrevolution ab. Die Hebung des niedrigen Kulturniveaus der Massen - eine Folgeerscheinung der katastrophalen vorrevolutionären Zustände war eine der Grundvoraussetzungen des vollen Sieges des Sozialismus. Lenin betrachtete daher die sozialistische Revolution selbst als eine gigantische kulturschöpferische Tat. Seiner Theorie der sozialistischen Kulturrevolution liegt die Erkenntnis zugrunde, daß die Umwälzung auf dem Gebiet der Kultur als Teil des bedeutenden ökonomischen, politischen und sozialen Umbruchs des Roten Oktobers zu begreifen und in der Praxis in Übereinstimmung mit den umfassenden Aufgaben der Diktatur des Proletariats zu verwirklichen ist. Er forderte daher mit Nachdruck eine systematische kulturelle Aufklärungsarbeit unter den Volksmassen. Andernfalls sah er die sozialistische Veränderung aller gesellschaftlichen Beziehungen, damit auch die Realisierung der neuen Organisationsformen der Sowjetmacht, gefährdet. Das niedrige Kulturniveau bewirke noch zunächst, „daß die Sowjets, die nach ihrem Programm Organe der Verwaltung d u r c h d i e W e r k t ä t i g e n sein sollen, in Wirklichkeit Organe der Verwaltung f ü r d i e W e r k t ä t i g e n sind, einer Verwaltung durch die fortgeschrittene Schicht des Proletariats, nicht aber durch die werktätigen Massen selbst". (Lenin 29, 168-169) Bereits 1917 bis 1918 waren die unter Lenins Leitung gefaßten staatlichen Gesetze und Beschlüsse „Ausdruck eines bestimmten, theoretisch und praktisch begründeten Systems von Maßnahmen des sozialistischen Staatswesens."27 Sie zielten auf die Lösung der für den kulturellen Aufbau unumgänglichen Schwerpunktaufgaben und damit auf die Unterordnung aller Bereiche des staatlichen Lebens - auch der Kultur - unter den gesamtstaatlichen Aufbau. Jede dieser Maßnahmen diente der allseitigen Entwicklung der Produktivkräfte und wurde zu einem Mittel des Kampfes um die Festigung der neuen Produktionsverhältnisse. Das Dekret Über die Presse vom 28. Oktober (10. 11.) 1917, eines der ersten Gesetze nach dem Oktoberumsturz, enthielt das Verbot von konterrevolutionären Presseorganen. In der Begründung wurde der Begriff der „Pressefreiheit", auf den sich die bürgerliche Presse berief, energisch zurückgewiesen. Hinter ihm verberge sich „faktisch 30

die Freiheit für die besitzenden Klassen..., die den größten Teil der Presse in ihren Händen konzentriert haben - die Freiheit, das Bewußtsein der Massen ungehindert zu vergiften und es zu verwirren" 28 . Die bürgerliche Presse sei eine der stärksten Waffen der Bourgeoisie. Sie in ihren Händen zu lassen, sei nicht minder gefährlich als Bomben und Maschinengewehre. Diese Feststellung stützte sich aiuf die heftigen Angriffe der bürgerlichen Blätter gegen die Sowjetmacht. „Die oppositionellen Zeitungen", registrierte John Reed, „heute verboten und morgen unter neuem Namen wieder auftauchend, überschütteten das neue Regime mit ihrem Sarkasmus."29 Sie kämpften erbittert um ihre „Pressefreiheit" und fanden dabei die Unterstützung von Vertretern der Menschewiki und den linken Sozialrevolutionären. Eine Woche nach der Gesetzesannahme verlangten sie eine erneute Erörterung des Problems auf der Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees. Im Resolutionsentwurf der Fraktion der Bolschewiki und in der Rede zur Pressefrage deckte Lenin den Mechanismus der vom Kapital abhängigen Pressefreiheit auf und entwickelte ein umfassendes Programm zur Befreiung der Presse und des gesamten Druckereiwesens aus der Abhängigkeit vom Kapital: „Die Arbeiter- und Bauernregierung versteht unter Pressefreiheit die Befreiung der Presse vom Joch des Kapitals, die Überführung der Papierfabriken und Druckereien in Staatseigentum, das gleiche Recht für jede Gruppe von Staatsbürgern, die eine bestimmte zahlenmäßige Stärke erlangt (z. B. 10 000), über einen entsprechenden Teil der Papiervorräte und der Druckereifcapazitäten zu verfügen". (Lenin 26, 277) Lenin ¡erinnerte: „Wk haben .auch früher erklärt, .daß wir -die 'bürgerlichen Zeitungen verhieten werden, wenn wir die Macht übernehmen. Duldet man das Erscheinen solcher Zeitungen, so heißt das, daß man aufhört, Sozialist zu sein. Wer da sagt: ,Laßt die bürgerlichen Zeitungen erscheinen', versteht nicht, daß wir mit ganzer Kraft dem Sozialismus entgegensteuern." (Lenin 26, 280) Die heftige Debatte über die Pressefreiheit und die Annahme der Resolution der Bolschewiki mit eindeutiger Stimmenmehrheit30 waren eine Bestätigung der Leninschen These. 31

Im politischen Tageskampf der Diktatur des Proletariats nahm die Pressefrage bereits seit den ersten Tagen eine zentrale Stellung ein. Unter Lenins Leitung setzte die bolschewistische Partei konsequent das Prinzip der Parteilichkeit durch. Sie stützte sich hierbei auf die reichen Erfahrungen der Parteipresse vor 1917 sowie auf wichtige Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus. Lenins Arbeit Parteiorganisation und Parteiliteratur aus dem Jahre 1905 bildete die theoretische Grundlage tzur Lösung der neu herangereiften Fragen unter den veränderten politischen Bedingungen nach dem Sieg der proletarischen Revolution. Die Prawda schaltete sich in die Propagierung der Maßnahmen ein, die auf Grund des Dekrets über die Presse eingeleitet wunden. Am 12. Februar 1918 berichtete sie über die Verfügung des Komitees für das Pressewesen beim Petrograder Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten, das Erscheinen der Zeitungen Rossija, Delo und Wolja Strany „wegen Verleurodung und Abdruck von politischen Artikeln, die gegen die Arbeiter- und Bauernregierung gerichtet sind", einzustellen. Ferner 'brachte sie eine Meldung über die bevorstehende erste öffentliche Sitzung des Revolutionären Pressetribunals am nächsten Tag, auf der über die Zeitungen Fiter, Wremja, Delo Naroda, Nascbi wedomosti und Togeblat verhandelt werden sollte. Am 13. Februar polemisierte W. Bystrjanski in dem Artikel Was ist die Pressefreiheit in der bürgerlichen Gesellschaft? gegen die kläglichen Versuche der sogenannten „Marxisten" und „Sozialisten", die von ihnen gepriesene „Pressefreiheit" zu retten: „Nur die von proletarischen Organisationen ernannten Journalisten können als Vertreter der öffentlichen Meinung betrachtet werden", wenn auch nicht der gesamten Bevölkerung, so doch ihrer wichtigsten Schichten. Demgegenüber hätten die bürgerlichen Zeitungen stets nur den Willen e i n e s kapitalistischen Unternehmers zum Ausdruck gebracht. Solche Meldungen und Artikel theoretischen Charakters erschienen in diesen ersten Monaten der Sowjetmacht häufig. Sie vermitteln einen Einblick in den harten Klassenkampf, der sich seinerzeit noch auf dem Gebiet der Presse abspielte. Die erhöhte Aufmerksamkeit der Partei und von Lenin selbst für die Entwicklung der sowjetischen Presse erklärt sich 32

gerade aus der zentralen Rolle aller Presseorgane bei der Durchsetzung des politischen, ökonomischen und kulturellen Programms der jungen Sowjetmacht. Söbald Lenin das „.glänzende' Irrlicht", die „Pressefreiheit", aufflackern sah, bekämpfte er es erbarmungslos und entwickelte den engen Zusammenhang von Pressefreiheit und Freiheit der politischen Organisation, „denn die Presse ist Mittelpunkt und Grundlage der politischen Organisation". „Es gilbt auf der Welt kein einziges Land, das für die Befreiung der Massen vom Einfluß der P f a f f e n u n d G u t s b e s i t z e r so viel getan hätte und noch täte wie die RSFSR. Diese Aufgabe der .Pressefreiheit' erfüllten und erfüllen wir b e s s e r a l s i r g e n d j e m a n d auf der Welt. Pressefreiheit bedeutet in der ganzen Welt, wo es Kapitalisten gibt, die Freiheit, Zeitungen zu k a u f e n , Schriftsteller zu k a u f e n , die .öffentliche Meinung' im I n t e r e s s e d e r B o u r g e o i s i e zu bestechen,zu kaufen und zu fabrizieren Die Pressefreiheit in der RSFSR, die von bürgerlichen Feinden aus aller Welt umringt ist, wäre die Freiheit der p o l i t i s c h e n O r g a n i s a t i o n für die Bourgeoisie und ihre treuesten Diener - die Menschewiki und Sozialrevolutionäre." (Lenin 32, 529) Die ersten kulturpolitischen Maßnahmen der jungen Sowjetmacht zur Neuregelung des gesamten Presse- und Verlagswesens schufen zunächst die m a t e r i e l l e n Voraussetzungen, damit alle Presse- und Kultureinrichtungen revolutionsfeindlichen Einflüssen entzogen werden konnten. Bereits 1905 hatte Lenin für die Parteipresse gefordert: „Verlage und Lager, Läden und Leseräume, Bibliotheken und Buchvertriebe alles das muß der Partei unterstehen und ihr rechenschaftspflichtig sein. Diese ganze Arbeit muß vom organisierten Proletariat verfolgt und kontrolliert werden, das dieser ganzen Arbeit, ohne jede Ausnahme, den lebendigen Atem der lebendigen proletarischen Sache einhauchen . . . muß." (Lenin 10, 31) Unter der Diktatur des Proletariats mußten entsprechende Bedingungen für das g e s a m t e Pressewesen geschaffen werden, um eine klare ideologische Ausrichtung aller dieser Mittel, die> Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus zu sichern. Nur auf diese Weise konnte die gesamte literarische 3

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Tätigkeit im Lande der Sowjets tatsächlich „zu einem T e i l der allgemeinen proletarischen Sache" (Lenin 10, 30) werden. Auf dem VI. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale wurden diese Erfahrungen folgendermaßen zusammengefaßt: „a) Nationalisierung der Druckereien; b) Monopolisierung des Zeitungs- und Verlagswesens; c) Nationalisierung der großen Kinounternehmen, Theater usw.; d) Ausnutzung der nationalisierten Mittel der geistigen Produktion für eine großzügige politische und allgemeine Aufklärung der Werktätigen und für den Aufbau einer neuen sozialistischen Kultur auf proletarischer Klassen grundlage."31 Die Medien der künstlerischen Kommunikation, bisher ein Machtinstrument ausschließlich in den Händen des zaristischen Staatsapparats, mußten in ein Instrument der Diktatur des Proletariats verwandelt werden. Am 29. Dezember 1917 (11. 1. 1918) wurde das Dekret Über den Staatsverlag erlassen. Außer wichtigen organisatorischen Fragen enthielt es detailliert ausgearbeitete Direktiven zur Herausgabe der russischen Klassiker. 32 Vorgesehen waren vollständige wissenschaftliche Ausgaben und vor allem billige Volksausgaben zum Selbstkostenpreis, zu Vorzugspreisen oder auch unentgeltlich zur Verteilung an die Bibliotheken. Ein staatlicher Kredit in Höhe von anderthalb Millionen Rubel sollte beantragt werden. Eine Kommission beim Volkskommissariat für Bildungswesen nahm bereits im Januar 1918 ihre Arbeit unter denkbar ungünstigen Bedingungen auf. Ein großer Teil der alten Fachkräfte lehnte die Mitarbeit ab. 33 Nicht minder hemmend wirkten sich verbreitete sektiererische Angriffe gegen die Drucklegung russischer Klassiker durch den Staatsverlag aus, mit der Begründung, der Verlag propagiere proletariatsfeindliche Dichter und Ideen. Nadeshda Krupskaja wies derartige Beschuldigungen in Zusammenhang mit einer Werkausgabe Shukowskis scharf zurück: „Das Kommissariat wird nahezu der Verbreitung des Zarismus bezichtigt. Sehen Sie, in der vollständigen Werikausgabe Shukowskis gibt es eine Hymne Gott schütze den Zaren. Was geschieht, wenn die Werke Shukowskis einem Arbeiter in die Hände kommen? 34

Liest er Gott schätze den Zaren, wird er dann momentan zu einem Feind der Sowjetmacht? Ist das so? Wenn man Angst hat, daß einem Arbeiter die Hymne Gott schütze den Zaren in die Hände kommt, so hält man ihn doch für einen Dummkopf . . . Was glaubt man denn, ist er ein Kind, das man bevormunden muß: Lies nur Agitationsliteratur, über den Popen und den Kulaken, wie man auf kommunistische Weise leben muß und so fort." 34 Eine vollständige Werkausgabe Puschkins sei dann auch unzulässig - und überhaupt, die gesamte Klassik werde „verdächtig". Solche Auffassungen, schlußfolgerte N. Krupskaja, führen logischerweise zur Vernichtung des gesamten Eribes, obwohl natürlich niemand ernsthaft davon spricht. Alexander Blak nahm als Mitglied der Kommission zur Herausgabe 'des literarischen Erbes an den häufig sehr heftigen Debatten über die neuenverlegerischenRichtlinien teil: „Sowird ein Ausgabentyp erarbeitet (nicht akademisch, sondern ein verbreiteter Volks- und Schultyp), auf gutem Papier, exakt, mit besten Illustrationen . . . knappem Vorwort und Anmerkungen ...". (AAB 7, 322) Und obgleich .das Dekret Uber die Einführung der neuen Orthographie erst ab 15. Oktober 1918 Gesetzeskraft erlangte (erste Durchführungsbestimmungen wurden noch Ende des Jahres 1917 erarbeitet), wurde bereits im Januar, vornehmlich dank der Initiative Lunatscharskis, beschlossen, diese Ausgaben der russischen Klassiker nach den neuen orthographischen Regelungen zu drucken. Besondere Bedeutung maß Lenin dem Bibliothekswesen bei. Kurz nach der Machtübernahme empfahl er Lunatscharski, sich mit 'Bibliothekswissenschaftlern zu beraten, welche Formen Fernleihe, Wanderbibliotheken - am effektivsten sind, damit 'das Buch möglichst schnell viele Leser erreichte. Mit der Beseitigung des Analphabetentums werde die Nachfrage nach dem Buch bedeutend ansteigen, „und wenn wir das Buch nicht in Umlauf bringen und diesen nicht um ein mehrfaches beschleunigen, kommt es zu einem Buchhunger".35 Noch im November 1917 galb Lenin der öffentlichen Bibliothek in Petrograd klare Direktiven zur Instandsetzung und Reorganisierung mit der Begründung: „Um an der Revolution vernünftig, sinnvoll und erfolgreich teilzunehmen, muß man lernen." (Lenin 26, 328) 3*

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Am 17. Juli 1918 wurde dann das Dekret zum Schutz der Bibliotheken erlassen - die Beschlüsse waren zuvor auf einer staatlichen Konferenz über das Bibliothekswesen diskutiert worden. 1919 wurde über Reformen in den wichtigsten Bibliotheken des Landes nach den modernsten Errungenschaften der damaligen Bibliothekstechnik beraten. Hatte es in Rußland noch keine Bibliothekarschule gegeben, so wurden nun erstmalig Kurse und Seminare zur Ausbildung von Bibliothekaren eingerichtet.36 Diese Tatsachen belegen die enge Verbindung der Neuordnung des gesamten Presse- und Verlagswesens einschließlich der Verteilung über Bibliotheken, Dorflesestuben, Klubs usw. mit der Politik der Partei auf dem Gebiet der Kunst und Literatur. Organisatorisch wurde sie gefestigt durch den Sachverhalt, daß die Zeitschriften und Zeitungen infolge des Mangels an Papier und Druckereikapazität jahrelang fast ausschließlich die Mittler zwischen Autor und Leser waren. In einem PrawdaArtikel erläuterte Lenin die Direktiven des Zentralkommitees der KPR an die im Volkskommissariat für Bildungswesen arbeitenden Kommunisten (im Zusammenhang mit der Reorganisation des Kommissariats) vom 5. Februar 1921 und entwikkelte konkrete Vorschläge, damit trotz der Papierarmut alle „die Möglichkeit haben, sich durch die Zeitungen zu informieren". Lenin bewies, wie täglich Papier für zwei Tageszeitungen mit einer Auflage von je 125 000 eingespart werden könnte. „Und in jeder dieser Zeitungen könnte man dem Volk jeden Tag ernsthaftes und wertvolles Lesematerial bieten, b e s t e u n d k l a s s i s c h e B e l l e t r i s t i k (Hervorhebung - N. T.), allgemeinbildende Lehrbücher, Lehrbücher über Landwirtschaft und Industrie. " (Lenin 32,127) Damit übernahm die sowjetische Presse i n s g e s a m t die von Lenin bereits 1905 der Parteipresse gestellte Aufgabe, „der heuchlerisch freien, in Wirklichkeit aber mit der Bourgeoisie verbundenen Literatur die wirkliche freie, o f f e n mit dem Proletariat verbundene Literatur gegenüberzustellen" (Lenin 10, 33-34). Lenin erläuterte: „Zur Festsetzung aber zwischen dem, was parteimäßig und was parteiwidrig ist, dient das Parteiprogramm, dienen die taktischen Resolutionen und das Statut der 36

Partei ...". (Lenin 10, 32-33) Die Literatur befreite sich im Prozeß des revolutionären Umbruchs aller gesellschaftlichen Bereiche endgültig von der „Sklaverei der Bourgeoisie" und verschmolz „mit der Bewegung der wirklich fortgeschrittensten und bis zu Ende revolutionären Klasse". (Lenin 10, 34) Demnach konnte sie ihre neue, von der proletarischen Revolution zugewiesene Funktion nur in dem Maße wahrnehmen, wie sie die Illusion einer klassenfreien Literatur und Kunst überwand - „das wird erst in einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft möglich sein" (Lenin 10, 33) - .und sich ihrer neuen Bestimmung bewußt wurde. Gerade in dieser Hinsicht galt es, noch viele Mißverständnisse und Vorbehalte abzubauen. Innerhalb der künstlerischen Intelligenz, die sich bedingungslos auf die Seite der Sowjetmacht stellte, zeichneten sich in dieser Frage noch sehr unterschiedliche, widersprüchliche Tendenzen ab. Die Ursache waren unklare, illusionäre Vorstellungen vom Verhältnis Kunst und Revolution sowie ästhetische Programme, die häufig noch im bürgerlichen Kunstbetrieb wurzelten. Nur in einem langwierigen komplizierten Prozeß konnten hier neue Formen der Beziehungen von Kunst und Gesellschaft entwickelt und ihre planmäßige Lenkung und Leitung durch Partei und Staat realisiert werden. Wenige Tage nach der Ernennung Lunatscharskis zum Volkskommissar für Bildungswesen appellierte er an die literarisch-künstlerische Intelligenz Petrograds, sich im Smolny zu einer Beratung einzufinden. Als einzige erschienen Majakowski, Meyerhold, Altmann, Blök und Iwnew. Bekannt ist Majakowskis lapidare Eintragung: „Anerkennen oder nicht anerkennen? Eine solche Frage gab es für mich (und für andere Moskauer Futuristen) gar nicht. Das war m e i n e Revolution." (WWM 4, 24) Ein Jahr später, als Lunatscharski heftig gegen einige falsche und schädliche Tendenzen der Futuristen polemisierte, erinnerte er daran, 'daß diese seinerzeit als erste der Revolution ihre Hilfe angeboten und sich als gute Organisatoren erwiesen hatten. Dennoch erfolgte die Anerkennung der neuen Macht zunächst spontan. Dem Kontra in bezug auf den alten bürgerlichen Kunstbetrieb hatten sie zunächst kein neues schöpferisches Programm entgegenzusetzen. So berichtet Majakowski 37

in Nur keine 'Erinnerungen ... zehn Jahre später von den ersten Versammlungen im Verband der Kunstschaffenden nach der Oktoberrevolution: „Erstmals erfuhren viele Künstler, daß es außer Ölfarben und Preisen für ihre Bilder auch noch irgendwelche politischen Fragen gab Entgegengesetzte Vorschläge entstehen und spitzen sich zu. Jemand fordert die Schaffung einer Kommission zum Schutz der Altertumsdenkmäler. Und sogleich kommt der Vorschlag, ich glaube von dem Künstler Lew Bruni, ,eine Kommission zur planmäßigen Zerstörung der Kunst- und Altertumsdenkmäler zu schaffen' . . . Jemand bittet, einen zerstörten Gutshof zu schützen: er sei doch auch ein Denkmal der alten Zeit. Und sogleich O. Brik: ,Die Gutsbesitzer waren reich, daher sind ihre Herrenhäuser Altertumsdenkmäler. Die Gutsbesitzer existieren seit langem, daher ist ihre Kunst alt. Die Altertumsdenkmäler schützen bedeutet, die Gutsbesitzer schützen. Nieder!" ( W M 12,150-151) Auf der Versammlung vom 17. (30.) November 1917 protestierte der sogenannte „lirike Block" gegen die „Eroberung der Macht auf dem Gelbiet der Kunst durch die Bolschewiki" und forderte völlige Autonomie in allen Kunstfragen. Als einziger lenkte Majakowski mit den Worten ein: „Man muß die neue Macht begrüßen und mit ihr Kontakt aufnehmen." ( W M 12, 215) Aber wie unklar derzeit auch noch seine Vorstellungen von Kunst und Revolution waren, beweist sein Offener Brief an die Arbeiter vom März 1918, seine These: „Die Revolution des Inhalts - der Sozialismus-Anarchismus - ist ohne die Revolution der Form - den Futurismus - undenkbar Eins ist uns klar - wir haben die erste Seite der allgemeinen Kunstgeschichte aufgeschlagen." ( W M 12, 9) Majakowski und eine Gruppe ihm Gleichgesinnter nannten sich seinerzeit „Gruppe der kommunistischen Futuristen", um sich von jenen Futuristen abzugrenzen, die nach 1917 das revolutionäre Rußland verlassen hatten. „Wir lehnten das ab", erinnerte sich Lunatscharski. „Sie sollten auf die übliche Weise in die Partei eintreten, wie alle anderen."37 Andererseits war jedoch Majakowski zu diesem Schritt noch nicht 38

bereit, wie aus einer Notiz in seiner Autobiographie zum Jahr 1918 hervorgeht: „Ging öfters in den ,Proletkult' bei der Krziñska. Warum nicht in die Partei? Die Kommunisten arbeiteten an den Fronten. Auf dem Felde der Kunst und des Unterrichts einstweilen nur Kompromißler. Mich würde man sicher zum Fischfang nach Astrachan schicken." (WWM 4, 25) Das Vertrauensverhältnis zur Partei und auch zum Volkskommissariat für Bildungswesen war seinerzeit bei Majakowski noch ungenügend entwidkelt. Und es bedurfte einiger Jahre, bis er sich völlig mit der kommunistischen Partei identifizierte, bis er in seinem Lenin-Poem die Partei als „einzige Gewähr der Vollendung" (WWM 2, 380) bezeichnete und in Mit aller Stimmkraft seine „hundert gut parteigetreuen Bücher" als sein „bolschewistisches Parteibuch" (WWM 2, 423). Ergebnis dieser geistig-künstlerischen Entwicklung war das ehrliche Bekenntnis: „Ich löse mich nicht von der Partei und halte es für meine Pflicht, alle Beschlüsse dieser Partei zu erfüllen, obwohl ich kein Parteibuch besitze." ( W M 12, 432) Der Bruch mit der von Walter Benjamin so treffend bezeichneten, im bürgerlichen Kunstbetrieb eingespielten Gewohnheit, „daß ein erheblicher Teil der sogenannten linken Literatur keine andere gesellschaftliche Funktion besaß, als der politischen Situation immer neue Effeikte zur Unterhaltung des Publikums abzugewinnen"38, vollzog sich nicht von heute auf morgen. Majakowski begriff als einer der ersten von den „linken" Künstlern diesen tiefen Wandel der Funktion der Dichtkunst. Die Wirklichkeit konfrontierte ihn mit einem neuen Auditorium, das ihn zwang, nicht nur seine Einstellung zu ihm, sondern auch seine künstlerische Produktion zu überprüfen. Zunächst noch - im Januar 1918 - trat Majakowski im Moskauer Poeten-Café auf. Die „einstweilen liebe und lustige Anstalt", vorläufig des Dichters einzige Erwerbsquelle, hing ihm schon bald zum Halse heraus. Der Spaß, ein zwielichtiges Publikum mit schockierenden Versen zu „Teufels Großmutter zu schicken", verebbte. Er suchte Zugang zu der „Million neuer Menschen", las seine Verse im Polytechnischen Museum: „Eine Masse Volkes war da, wie bei einer Sowjetkundgebung." (WWM 4, 255) Das bunte Programm Tannenbäumchen der 39

Futuristen befriedigte ihn nicht lange. Er las aus seinen vorrevolutionären Poemen Ein Mensch und Krieg und. Welt. Der Aufschrei des Dichters aus dem Jahre 1916 beeindruckte: „der Freie, / nach welchem ich schreie, / der Mensch - / ist im Kommen, / ich habe ihn vernommen, / glaubt mir, / vertraut mir: / ich bürge dafür!" (WWM 2, 80) Vor Petrograds roten Matrosen konnte der Dichter jedoch nur mit poetisch gestalteten Mitteilungen über ihren Kampf bestehen, das heißt mit auf die Revolution bezogenen Dichtungen. Majakowski spürte das sehr wohl und schrieb für sie seinen hinken Marsch. Das war ihre Sprache! Solche direkten Begegnungen von Autor und neuer Zuhörerschaft - Ausdruck der tiefen Veränderungen innerhalb des gesamten Literaturbereiches - waren ein entscheidendes Bindeglied zwischen Dichter und Volk und beförderten indirekt die kritische Überprüfung der persönlichen Haltung zur Sowjetmacht, zu ihren parteilichen und staatlichen Organen. Nicht zufällig kristallisierten sich bereits in den ersten hitzigen Debatten mit den die Revolution anerkennenden Künstlern zwei Prablemkomplexe heraus: das Verhältnis zur Führungsrolle der Partei in allen Kunstfragen und zu den von ihr angeleiteten staatlichen Organen sowie das Verhältnis zum künstlerischen Erbe. In diesem Zusammenhang sind auch die oft unlauteren Polemiken zwischen den einzelnen Kunstrichtungen und -gruppen zu betrachten, die jeweils für sich in Anspruch nahmen, als einzige die neue proletarische Kultur und Kunst zu vertreten. 1918 betraf das insbesondere den Proletkult und die Futuristen. Das neue Machfibewußtsein - die werktätigen Massen verkörperten von nun an selbst die Staatsmacht - bildete sich in den Kreisen der künstlerischen Intelligenz nur allmählich, häufig erst über qualvolle Umwege heraus. Und es bedurfte einer zähen, zielstrebigen politisch-ideologischen Aufklärungsarbeit unter der Führung der Kommunistischen Partei, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, daß auch Kunst und Literatur ein Teil der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung sind und keinen Anspruch auf Autonomie erheben können. Es war das besondere Verdienst Lenins, daß er von Anfang an konsequent auf der Verwirklichung der Führungsrolle der Partei in a 11 e n 40

gesellschaftlichen Bereichen bestand. Die gesamte juristische und faktische Verfassung der jungen Sowjetrepublik beruhte darauf, „daß die Partei alles nach einem einheitlichen Prinzip berichtigt, festlegt und aufbaut, damit die mit dem Proletariat verbundenen kommunistischen Elemente dieses Proletariat mit ihrem Geist durchdringen, es sich unterordnen, es von dem bürgerlichen Betrug frei machen können" (Lenin 31, 361), den die neue Gesellschaft nur in einem harten, jahrelangen Kampf völlig überwinden konnte. Abseits vom Kampf des Proletariats stehen, völliger Mangel an Klassenbewußtsein, sagte Lenin 1920, bedeute in der gegenwärtigen Weltsituation, „abseits von der gesamten internationalen Politik zu stehen". (Lenin 30, 360) Den Zusammenhang zwischen der Spezifik der Kunst und ihrer Parteilichkeit hat erst die marxistisch-leninistische Ästhetik entwickelt. „Das wesentliche Geheimnis der Kunst ist selbstverständlich das künstlerische Bild, das heißt die nur der Kunst eigene Fähigkeit, Verallgemeinerungen ohne Abstraktionen zu treffen . . . In den Köpfen von buchstäblich Milliarden Menschen . . . schafft sie menschliche Typen und Typen von Umständen, die Jahrtausende leben . . . als echte lebendige Wirklichkeit, als irgendein Don Quijote oder Hamlet usw." 39 Lunatscharskis weiteren Überlegungen lag der Gedanke Lenins zugrunde, daß Parteilosigkeit eine bürgerliche Idee, Parteilichkeit eine sozialistische Idee ist: „Und immer war die Kunst eine Waffe des sozialen Kampfes. O f t war sie nur nicht mutig genug, nicht ehrlich genug, um das einzugestehen. Der Künstler, der Ideologe der Kunst hat oft verschleiert, daß sie eine Klassenkunst ist Wir können mit Stolz sagen: ja, die Kunst ist parteilich." 40

Revolution und Kultur aus Gorkis Sicht „In diesem Petersburg des Heldentums, des Hungers, der Epidemien, des Schweigens befand sich ein Mann, der scheinbar ganz für sich stand, in Wirklichkeit jedoch den Mittelpunkt einer Bewegung bildete, die damals zu wachsen begann. Die41

ser Mann war Gorki! In seiner Bewegung begann die Intelligenz für die Sowjets zu arbeiten. . . . Gorki verfügte über verschiedene Mittel der Beeinflussung. Das wichtigste unter ihnen war seine Persönlichkeit . . . Gorki hatte der ganzen übrigen Intelligenz gegenüber den Vorzug, daß sein Leben mit der Geschichte der Revolution verflochten war und ihr angehörte. Er bildete gleichsam die Biographie seines Jahrhunderts. Deshalb war die Tatsache, daß er sich diesseits der Barrikaden, bei der Revolution befand, etwas Natürliches, und sein Appell konnte auch nicht den Schatten des Zufälligen oder der Berechnung haben. Sein alter Ruhm aber, sein Einfluß in der Kunst und damit seine Macht über die Geister waren so groß, daß sie einer Mehrung nicht bedurften. Ein ironisch veranlagter Mensch könnte meinen, Gorkis Zauberschalmei halbe mit seiner Brotration zu tun gehabt. Aber damals sahen alle, d a ß keine Kriegslist dahinter steckte; ja auch d a s hat Gorki für die Kultur getan. Er selber war ein Bestandteil von ihr und konnte eben nichts anderes im Sinn haben, als sie am Leben zu erhalten." (Fedin 392-393) Gorkis unermüdliche Aktivität im revolutionären Petrograd, von Fedin zu einem faszinierenden Zeit- und Charakterbild verdichtet, betraf die wesentlichen Seiten des kulturellen Neuaufbaus. Einige Kommissionen, denen Gorki angehörte bzw. deren Vorsitz er innehatte, waren von ihm selbst ins Leben gerufen worden. Er arbeitete in der Organisation Kultur und Freiheit, in der Liga für Sozialerziehung und der Union für Kunstschaffende. Er war Mitglied der Kommission zum Schutze der Kunstschätze und des Rats der Ermitage, kümmerte sich um die Einrichtung von örtlichen Museen. In der Kommission zur Verbesserung der Lage der Wissenschaftler sorgte er sich nicht nur um die Gesundheit führender Wissenschaftler - um Brot, Brennstoff, Medikamente und um ihre materielle Besserstellung. Er suchte nach Mitteln und Wegen, damit sie ihre wissenschaftliche Arbeit fortsetzen konnten, damit die russische Forschung zur Mehrung des materiellen Wohlstands des Volkes Nutzen bringt. Einige Vorschläge Gorkis wurden durch Lenins Vermittlung vom Rat der Volkskommissare gründlich geprüft und erlangten Gesetzeskraft, so zum Beispiel der Be-

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Schluß Über die Bedingungen, die die wissenschaftliche Arbeit des Akademiemitglieds I. P. Pawlow und seiner Mitarbeiter gewährleisten vom 24. Januar 1921. Ferner beteiligte er sich an der Ausarbeitung der Pläne der Akademie der Wissenschaften zur Erforschung der natürlichen Schätze des Landes. Seine besondere Fürsorge galt der Literatur- und Kulturgeschichte - der Pflege und Verbreitung des literarischen Erbes, der kulturellen Aufklärung unter den revolutionären Arbeitern und Soldaten sowie der Förderung junger Talente. Gorki wurde zum Direktor des Literaturinstituts der Akademie der Wissenschaften, des heutigen Puschkin-Hauses, ernannt. Das Haus der Künste in Petrograd wurde von ihm gegründet. Seine Heimstätte fand es in einem ehemaligen Adelspalast. Hier versammelten sich Petrograds bekannteste Schriftsteller, Maler, Musiker. Und schließlich wurde über Gorki die Verbindung vieler Intellektueller und neugegründeter Institutionen zum Volkskommissariat für Bildungswesen aufrechterhaltene, „wobei Goriki selber so etwas wie ein Volkskommissariat für Bildungswesen war" (Fedin 405). Ohne Rücksicht auf die Kraft und die eigene Gesundheit - Gorki erkrankte infolge von Unterernährung an Skorbut, seine Lungenkrankheit verschlimmerte sich zusehends - tat er alles nur erdenklich Mögliche für die Kultur, für die Bewahrung des reichen Kulturerbes und für die Entfaltung der kulturschöpf erischen Kräfte im Lande der Sowjets. Gorkis Beitrag zur Kulturrevolution ist in seinem gesamten Umfang - dokumentarisch belegt - bisher noch nicht dargestellt worden. Die Impulse, die von seiner unermüdlichen, an Besessenheit grenzenden Tatkraft ausgingen, hinterließen lang nachwirkende Spuren in allen kulturellen Bereichen. Gleichzeitig war sein Wirken in den ersten nachrevolutionären Jahren gezeichnet von ernsthaften Widersprüchen zur Kulturkonzeption der Bolschwiki. Sie waren auch die Ursache der Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm .und Lenin, über die Gorki ein Jahrzehnt später in seiner Skizze W. I. Lenin mit großer Offenheit geschrieben hat. Als einzige „Kraft, die in der Lage gewesen wäre, die Macht zu übernehmen und das Dorf gesellschaftlich zusammenzuschließen", betrachtete Gorki 1917 „die wissenschaftliche, technische - überhaupt die qualifi43

zierte Intelligenz" „zusammen mit der sozialistischen Arbeiterintelligenz". Gorki. bangte um diese „einzig aktive Kraft in Rußland" - „das ganze quantitativ verschwindend kleine, qualitativ heldenhafte Heer politisch erzogener Arbeiter und die gesamte ehrlich revolutionäre Intelligenz der russischen Bauernschaft". Er fürchtete, diese Kraft werde „wie eine Handvoll Salz in den abgestandenen Sumpf des Dorfes" geworfen und löse sich spurlos in ihm auf, „ohne etwas im Geist, in der Lebensweise, in der Geschichte des russischen Volkes verändert zu haben" (LG 52). Infolgedessen sah er die Kultur gefährdet, denn die wissenschaftliche wie auch die Arbeiterintelligenz hielt er auf lange Zeit für „das einzige Zugpferd vor dem schweren Wagen der russischen Geschichte". Die Volksmassen indessen bedürften der „Lenkung von außen". Gorki hatte daher geschlußfolgert: Die Revolution könne nur dann erfolgreich sein und das gesamte Leben erneuern, wenn sie zunächst geistig, das heißt in den Köpfen der Menschen erfolge. Danach erst könne sie auf den Straßen, im Barrikadenkampf vollzogen werden. „So dachte ich vor dreizehn Jahren", gestand Gorki, „und so - irrte ich mich." (LG 54) „,Alle bis auf den letzten Mann sind von dem Wirbel der Wirklichkeit erfaßt, die so verworren ist wie nie. Sie sagen, daß ich das Leben zu sehr vereinfache? D a ß wegen der Vereinfachung der Untergang der Kultur droht, wie?' Das ironische, charakteristische: ,Hm, hm . . . ' Der scharfe Blick wird noch schärfer, und mit gesenkter Stimme fährt Lenin fort: ,Nun, Ihrer Meinung nach sind Millionen von Bauern mit Gewehren in den Händen keine drohende Gefahr für die Kultur, nein? Sie denken, die Konstituierende Versammlung wäre mit dem Anarchismus fertig geworden? Sie, der Sie so viel Lärm schlagen um den Anarchismus auf dem Dorf, sollten unsere Arbeit besser verstehen als andere verstehen. Der russischen Masse muß etwas sehr Einfaches, ihrem Verstand außerordentlich Zugängliches gezeigt werden. Sowjets und Kommunismus - das ist einfach."' (LG 59-60) Die Freundschaft mit Lenin, das tiefe Vertrauen, das Lenin ihm entgegenbrachte, obwohl er mit ihm unnachgiebig stritt, waren in diesen Jahren des Suchens für Gorki entscheidend,

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um das Verhältnis Revolution und Intelligenz, Intelligenz und Volk von leninistischen Positionen zu sehen und damit den zutiefst humanistischen Charakter der revolutionären Erhebung der Volksmassen in vollem Umfang zu begreifen. Im Mittelpunkt dieses jahrelang geführten Zwiegesprächs zwischen dem Politiker und dem Schriftsteller ging es um das Schicksal der Revolution, um das Schicksal der Kultur. Ursache der Meinungsverschiedenheiten war der unterschiedliche Blickpunkt, von dem aus jeder von ihnen die revolutionären Ereignisse bewertete: „Sie haben sich auf eine Position begeben," schrieb Lenin an Gorki am 31. Juli 1919, „wo Sie a u ß e r s t a n d e s i n d , das Neue im Leben der Arbeiter und Bauern, das sind neun Zehntel der Bevölkerung Rußlands, unmittelbar zu beobachten; wo Sie gezwungen sind, Bruchstücke aus dem Leben der früheren Hauptstadt zu beobachten, aus der die Blüte der Arbeiter an die Front und aufs Land gegangen ist und wo verhältnismäßig viele stellungslose und arbeitslose Intellektuelle zurückgeblieben sind, die Sie s p e ziell . b e l a g e r n ' ... Hier muß man entweder aktiver Politiker sein, oder man muß, wenn einem der Sinn nicht nach Politik steht, als Künstler beobachten, wie das Leben auf neue Art aufgebaut wird... auf dem Lande oder in einer Fabrik in der Provinz (oder an der Front). Dort ist es leicht, durch einfache Beobachtung das sich zersetzende Alte vom aufkeimenden Neuen zu trennen."(LG 198,199) Und noch schärfer in seinem Brief vom 15. September desselben Jahres: „Sich durch das Gewinsel verrotteter Intellektueller aufreiben lassen und nicht schreiben - ist das etwa nicht der Untergang für einen Künstler, ist das etwa nicht eine Schmach?" (LG 203) Lenin glaubte an Gorki, kämpfte um ihn. Er war überzeugt, daß Gorki seinen Irrtum erkennen, daß er zu einer realen Einschätzung der schöpferischen Kraft der Volksmassen wie auch der Rolle der Intelligenz im revolutionären Umbruchsprozeß des gesamten Lebens und insbesondere der Kultur gelangen werde. Das von Gorki an Lenin so gerühmte „sehr ausgeprägte Gefühl für Menschen" ( L G 75), seine sichere Urteilskraft, „wie sie in einigen Jahren sein würden" ( L G 28), bewährte sich auch 45

ihm gegenüber. Lenin vertraute der revolutionären Lebenserfahrung Gorkis, seiner engen Bindung an die Arbeiterklasse seiner Fähigkeit, allen Dingen auf den Grund zu gehen, obwohl er sich mitunter von Emotionen hinreißen ließ. , Kurz vor seinem Tod ließ sich Lenin von Nadeshda Krupskaja aus Gorkis Skizze über Korolenko und Meine Universitäten vorlesen sowie den von ihm seinerzeit kritisierten Artikel Wladimir lljitsch Lenin (1920). „Vor meinen Augen sehe ich Iljitschs Gesicht", erinnerte sich Nadeshda Krupskaja in einem Brief an Gorki, „wie er zuhörte und zum Fenster hinaus in weite Fernen schaute - er zog das Fazit seines Lebens und dachte dabei an Sie." (LG 289) Die Tatsache, daß Gorki wieder begonnen hatte, Romane zu schreiben, und schreibend sein Leben wie das Leiben seines Volkes aus historischer Sicht tiefer durchdachte, war für Lenin sicher Bestätigung seines Vertrauens in Gorkis große künstlerische und politische Kraft. „Ein rätselhafter Mensch sind Sie," sagte er einmal scherzhaft zu Gorki, „in der Literatur, scheint es, sind Sie ein guter Realist, aber den Menschen gegenüber - ein Romantiker. Bei Ihnen sind alle Opfer der Geschichte? Wir kennen die Geschichte, und wir sagen den Opfern: Stürzt die Altäre, zerstört die Tempel, fort mit den Göttern! Aber Sie wollen mich überzeugen, daß die kämpferische Partei der Arbeiterklasse vor allem verpflichtet ist, es den Angehörigen der Intelligenz so angenehm wie möglich zu machen." (LG 78-79) Gorki fand bei Lenin jegliche Unterstützung, um die Arbeitsund Lebensbedingungen bedeutender Wissenschaftler und Künstler zu verbessern - jedoch nicht aus Mitgefühl oder gar Mitleid, von dem sich Gorki mitunter leiten ließ, sondern aus der realen Einsicht, daß die Intelligenz einen wesentlichen Beitrag zum kulturellen Neuaufbau zu leisten vermag und zu leisten hat. Allerdings forderte Lenin von den von der Sowjetmacht geförderten Intellektuellen, daß sie sich' in ein positives, produktives Verhältnis zur Sowjetmacht, zur revolutionären Arbeiterklasse setzen und erkennen, was für „ungeheure, dankbarste Aufgaben" sich ihnen auftun: „Sie zu verstehen und sie zu erfüllen, wäre das Zoll dafür, daß die proletarische Revolution auch ihnen weit das Tor geöffnet hat, das ins Freie führt, heraus aus dem niedrigen Zustand ihrer Lebensbedin46

gungen, die das .Kommunistische Manifest' so unübertrefflich charakterisierte." 41 Aus diesem Grunde schätzte Lenin Gorkis Initiative sehr hoch ein, prüfte ernsthaft alle an ihn herangetragenen Tatsachen, Bitten um Unterstützung - ließ keine Möglichkeit ungenützt, um von Seiten der Partei und der Sowjetmacht das Vertrauensverhältnis zwischen der Diktatur des Proletariats und der Intelligenz zu festigen, jedoch unter der Voraussetzung, daß sie sich loyal verhielt. Allen feindlichen Handlungen gegenüber war er unnachgiebig und forderte ihre strenge Ahndung nach den Gesetzen der neuen Staatsordnung. Bs ergäbe sich jedoch ein falsches Bild, würde auf Grund des geschilderten Disputs zwischen Lenin und Gorki über das Verhältnis der revolutionären Partei der Arbeiterklasse zur Intelligenz geschlußfolgert, Gorkis nur schwerlich zu überschätzender Beitrag für den kulturellen Neuaufbau, seine außerordentlich vielfältige -und unermüdliche Initiative auf vielen Gebieten erschöpfe sich in den ersten nachrevolutionären Jahren in der Unterstützung der Intelligenz, in der Fürsprache für Wissenschaftler und Künstler bei den entsprechenden parteilichen und staatlichen Organen. Gorki ging es an erster Stelle um die Kultur, um die Bewahrung und schöpferische Aneignung des Kulturerbes sowie die Schaffung einer neuen, sozialistischen Kultur, jedoch nicht um der Kultur selbst willen, sondern um der Volksmassen willen, die er als die Träger des kulturellen Fortschritts im Sozialismus begriff. Wenn er auch im Moment .diese Kräfte unterschätzte, so war er von ihren schöpferischen Potenzen - nicht zuletzt aus seiner eigenen Lebenserfahrung - zutiefst überzeugt. Diese Potenzen zu fördern und zu entwickeln, darauf war all sein Tun gerichtet. Und darin lag der gesellschaftliche Nutzen seiner Arbeit im Rahmen der Kulturrevolution. Mit aufrichtiger Bewunderung schrieb er von Lenin: „Er hat die potentielle Kraft seines Volkes richtig eingeschätzt." (GL 78) Gorki begriff das in vollem Umfang erst später. Aber zweifellos hat Lenins Einfluß, sein Vorbild, Gorki in seiner Aktivität gestärkt. Gorki suchte den Kontakt zu Menschen, denen bisher der Zugang zur Kultur versagt gelblieben war. Er kümmerte sich um die Beseitigung des Analphabetentums, lehrte an der ersten Arbeiterfakultät in Petrograd. Als 1919 bei der Politabteilung 47

der Baltischen Flotte ein Literaturzirkel gegründet wurde, übernahm er die Leitung. Drei Monate lang bis zu seiner Erkrankung nahm er regelmäßig an den Veranstaltungen teil, analysierte mit den Roten Matrosen literarische Werke, hielt Vorlesungen über die Reichtümer der Menschheitskultur. Und das waren keine Einzelbeispiele. Zwei von Gorki ins Leben gerufene Unternehmen vor allem verdeutlichen, wie tief sein kulturelles Wirken in dem Kulturprogramm der revolutionären Arbeiterklasse und seiner Partei verwurzelt war und wie eng die Bindung an die Partei und das Volkskommissariat für Bildungswesen. „Auf einer der letzten Sitzungen des Großen Künstlerischen Rates der Petrograder Theater- und Dramaturgieabteilung", heißt es in einer Zeitungsnotiz vom Juni 1919, „hielt Gorki ein umfassendes Referat über die Aufgaben und das Repertoire der Theater und Lichtspielhäuser. In Anbetracht dessen, daß die Darstellung der charakteristischen Momente der Kulturgeschichte eine große erzieherische (im Sinne der Vermittlung eines historischen Bewußtseins) wie auch künstlerische Bedeutung haben könnte, hält es Gorki für an der Zeit, einen Zyklus dramatischer Bearbeitungen aus der russischen wie der europäischen Geschichte aufzuführen." (LL 658) Lunatscharski unterstützte den Plan Gorkis und ergänzte ihn in der Richtung, daß solche Aufführungen auf die Straße verlegt und mit großen Volksfesten - beispielsweise dem 1. Mai - verbunden werden sollten. Damit knüpfte er an erste große Massenaufführungen an. So wurde zum ersten Jahrestag des Roten Oktobers in Moskau eine Pantomime der Revolution gespielt und zum 1. Mai 1919 in Petrograd die III. Internationale. Eine Notiz von Alexander Blok belegt, daß auf Gorkis Anregung solche „historischen Bilder" bereits vorher in Auftrag gegeben waren. Die Petrograder Theaterabteilung gründete unter Gorkis Vorsitz eine Sektion für historische Massenaufführungen (.»historische Bilder"). Ihr Ziel bestand darin, „in der anschaulichen Form von Theater- und Filmvorführungen eine künstlerischwissenschaftliche Darstellung der charakteristischsten Momente aus der Geschichte der geistigen und materiellen Kultur von der Urgesellschaft bis hin zur Gegenwart zu vermitteln" (LL 659). In der Zeit vom 26. August 1919 bis 1. März 1920 fanden 48

allein fünfundvierzig Beratungen des Redaktionskollegiums statt. Gorki brachte selbst einige Szenen über die Kultur der Urmenschen zu Papier. Lunatscharski schrieb nach mehrfacher Beratung mit Gorki das Projekt für eine Massenaufführung auf dem Roten Platz anläßlich des III. Kongresses der Komintern. Dieser „großartige Plan" sah vor, „daß die Menschheit durch Moskaus Straßen zieht ...". Vom Urmenschen an sollten die einzelnen Etappen der Entwicklung des Menschen, der Kultur vorgeführt werden und schließlich mit dem „Triumph des Menschen" abschließen, „der sich selbst bestätigt fühlt, der feststellt, daß er Tausende von Feinden hat, daß er jedoch trotzdem . . . so viel erreicht hat und so groß ist, daß ihm um die Zukunft nicht bange ist" (LL 660). Der Regisseur K. A. Mardshanischwili sollte zusammen mit dem Künstler I. M. Rabinowitsch diese Pantomime für ein Publikum von etwa fünfzigtausend Menschen inszenieren. Weitere Einzelheiten über dieses von Gorki initiierte großartige Vorhaben der „historischen Bilder" vermittelt ein Aufsatz Bloks: „Das junge Rußland, das sich nach dem revolutionären Sturm aufzurichten beginnt, in der Masse jedoch in ein solches Dunkel gehüllt ist, daß sich vor der bevorstehenden schöpferischen Arbeit unüberwindbare Hindernisse auftürmen, muß immer neue Mittel zur Aufklärung der Massen ausfindig machen." (AAB 8, 442) Die Verbindung zwischen den Ereignissen der Geschichte müsse herausgearbeitet werden, und zwar vermittels eines „poetischen Gefühls", das die gesamte Welt als ein Ganzes erfassen will - die gegenwärtige wie die vergangene. Dieses neuartige Natur- und Geschichtsgefühl (das „Unendliche ist im Endlichen gegenwärtig") betrachtete Blok als einen wesentlichen Bestandteil der „wahrhaften Romantik", unter deren Zeichen sich der Neuaufbau vollziehe. Blok war von Gorkis Idee fasziniert und entwarf in seinem Auftrag den Plan zu einigen „historischen Bildern". Als Grundprinzip einer solchen Serie bezeichnete Blok den Kampf der Kultur mit den Elementarkräften - das heißt mit der Natur wie auch mit der entfesselten menschlichen Natur. Gorki hingegen interessierte vor allem die Menschwerdung des Menschen: „Auf dem Hintergrund der Lebensweise (der Urmenschen - N. T.) soll der Zuschauer den Prozeß der Ver4

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gegenständlichung und Personifizierung der Eindrücke begreifen - Fetischismus und Animismus. Man muß die zweibeinigen Lebewesen durch alle ihren Sinnen zugängliche Erschütterungen führen und zeigen, was sie veranlaßte, um sich herum und über sich gute und böse Gottheiten zu schaffen. Daneben muß der Prozeß der Systematisierung der Eindrücke vor sich gehen die Artbeit des praktischen Denkens, das später zum wissenschaftlichen wird." 42 So beschrieb Gorki in seinen knappen Notizen, wie er sich die Erfindung des Rads vorstellte und pantomimisch dargestellt haben wollte. Als Themen für „historische Bilder" nannte er unter anderem: Prometheus, elysäische Kulte, Mysterien, Olymp, die Dialoge des Sokrates und Piaton, die Bergpredigt, Leben und Predigt des Buddha, Petrarca. Beispielsweise schlug er auch Hans Sachs vor. Im Mittelpunkt von Gorkis kulturgeschichtlichem Konzept standen die Erfindungskraft des Menschen und der Reichtum seines schöpferischen Denkens durch die Jahrtausende. Die geplante Serie „historischer Bilder" sollte im Rahmen des gigantischen Kultur- und Bildungsprogramms der jungen Sowjetmacht die spontanen Massenaufführungen der revolutionären Arbeiter und Soldaten - ihre Rückbesinnung auf den gesetzmäßigen historischen Weg zur Oktoberrevolution - in ein System bringen. Diesem Ziel lag ein weiteres großangelegtes Projekt zugrunde: die Herausgabe der bedeutendsten Werke der Weltliteratur in dem von Gorki 1918 gegründeten Verlag Wsemirnaja literatura. 1919 erschienen in Petrograd der Katalog des Verlages „Wsemirnaja literatura" beim Volkskommissariat für Bildungswesen mit einem in vier Sprachen (russisch, französisch, englisch, deutsch) gedruckten Vorwort Gorkis und ferner der Katalog der Literatur des Ostens. „Ich denke, es wäre nicht schlecht", schrieb Gorki an Lenin Anfang des Jahres 1919, „diese Liste in alle europäische Sprachen zu übersetzen und sie nach Deutschland, England, Frankreich, in die skandinavischen Länder usw. zu schicken, damit die Proletarier des Westens sowie die A. France, Wells und verschiedene Scheidemänner mit eigenen Augen sehen, daß das russische Proletariat nicht nur kein Bartbar ist, sondern den Internationalismus be50

deutend weiter faßt als sie, die kultivierten Leute, und daß es unter den abscheulichsten Bedingungen, die man sich nur vorstellen kann, in einem Jahr das zu tun imstande war, worauf jene schon längst hätten verfallen sollen." (LG 188-189) Es war beabsichtigt, Bücher herauszugeben, „die in verschiedenen Ländern seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts bis heute, seit Beginn der Großen Französischen Revolution bis zur Großen Russischen Revolution erschienen sind". Sie sollten dem Leser die Möglichkeit bieten, „sich in allen Einzelheiten mit der Entstehung, dem Wirken und dem Zerfall literarischer Schulen, mit der Entwicklung der Technik von Vers und Prosa, mit dem wechselseitigen Einfluß der Literatur der verschiedenen Nationen und überhaupt mit dem Verlauf der literarischen Evolution in ihrer historischen Folgerichtigkeit von Voltaire bis Anatole France, von Richardson bis Wells, von Goethe bis Hauptmann und so weiter bekannt zu machen". 43 So Gorki in seinem Vorwort. Ihrer Breite nach sei dies die erste und einzige Ausgabe in Europa. Mit ihr setze sich das russische Volk 'bereits zu Beginn seiner neuen Tätigkeit ein würdiges Denkmal. Mit der Literatur des Ostens sollte der Versuch unternommen werden, die literarischen Denkmäler des Ostens a l s B e s t a n d t e i l d e r W e l t l i t e r a t u r erstmalig ins Bewußtsein 'der russischen Menschen zu heben. Dieses seinerzeit tatsächlich einmalige Projekt umfaßte eine neue Bibel-Übersetzung sowie auch die kritische Tübinger Ausgabe, die Literatur Chinas, Japans, Ti'bets, der Mongolei, Persiens, der Araber, Türken usw. bis einschließlich des indischen, ägyptischen und assyrischen Epos. „Die Staatsmacht muß diese Sache tatkräftig unterstützen", wandte sich Gorki an Worowski, den seinerzeitigen Leiter des Staatsverlags der RSFSR, „denn das ist das bisher größte, wirklich kulturelle Unternehmen, das sie realisieren kann." (LL 673) Das Projekt konnte im geplanten Umfang nicht verwirklicht werden, obwohl Papier, Druckereikapazität, Geld in großzügiger Weise zur Verfügung gestellt worden waren. Diskrepanzen zwischen Entwurf kultureller Maßnahmen und realen Möglichkeiten waren- zu jener Zeit in Anbetracht der schwierigen materiellen Situation des jungen Sowjetstaates 4*

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und des Mangels an Fachkräften unausbleiblich. Und manch großartige Idee mußte noch auf Jahre zurückgestellt werden. Als Gorki an dem Plan für den Verlag Wsemirnaja literatura arbeitete, äußerte er im Gespräch mit Lenin den Gedanken, eine Hochschule für Literatur einzurichten, an der Sprachwissenschaft, Fremdsprachen - des Westens und des Ostens - , Folklore, Geschichte 'der russischen Literatur, Geschichte der Weltliteratur gelehrt werden sollten. „Allumfassend und blendend", wandte Lenin ein. „Gegen das Allumfassende habe ich nichts, aber - blind machen wird es die Leute, wie? Eigene Professoren haben wir in diesem Fach nicht, und die bürgerlichen werden uns solch eine seltsame Geschichte vortragen... Nein, jetzt können wir so etwas nicht auf die Beine stellen." (LG 77) Vierzehn Jahre sollten vergehen, bis Gorkis erneuter Vorschlag aufgegriffen wurde und Kalinin Ende des Jahres 1932 den Beschluß zur Gründung des Instituts für Weltliteratur unterschrieb, in dem viele von Gortki bereits 1918 entwickelten Ideen unter neuen Bedingungen verwirklicht werden konnten. Gorki, seit Jahrzehnten mit der russischen Arbeiterbewegung und ihrer Partei aufs engste verbunden, empfand in den ersten Jahren nach dem Oktoberumsturz ¡besonders stark den Drang der Massen nach Wissen, Bildung. Ihr Glaube an die nahende Weltrevolution beinhaltete die Idee einer Weltkultur auf der Grundlage des proletarischen Internationalismus. War ihre Beziehung zu den Schätzen der Kultur, zur Literatur und bildenden Kunst, zum Theater, zur Geschichte auch häufig noch naiv, so drückte sich darin doch eine bereits völlig neue Beziehung der siegreichen Klasse zu allen Erscheinungen der Wirklichkeit aus - zur Geschichte des eigenen Volkes wie zur Geschichte der gesamten Menschheit. Insofern waren die unter Gorkis Leitung ausgearbeiteten umfassenden kultur- und literaturhistorischen Unternehmen zugleich Ausdruck dieses neuen Kulturbewußtseins der herrschenden Klasse. Ferner beweisen die Dokumente der Revolutionsepoche: Solche umfangreichen Projekte wie die Herausgabe der Weltliteratur und das Nachspielen der Kulturgeschichte der Menschheit durch die revolutionären Massen konnten tatsächlich nur auf dem Boden der sich real herausbildenden neuen Beziehungen zwischen Staat und Kultur entstehen. Eine wesentliche Voraussetzung war die Ge52

wißheit, daß die Förderung der Kultur und im engeren Sinne der Künste im ureigensten Interesse des Arbeiter-und-BauernStaates lag. Soweit es unter den gegebenen harten Bedingungen des Kriegskommunismus überhaupt nur möglich war, wurden Gorkis Initiativen auch von Lunatscharski in seiner Eigenschaft als Volkskommissar gefördert. Dadurch festigte sich Gorkis Vertrauen wie auch das Vertrauen der mit ihm zusammenarbeitenden Intellektuellen in die neue Staatsmacht und in die Kulturarbeit der Partei - ein Vertrauen, das in den Kreisen der Intelligenz wesentlich davon bestimmt wurde, inwieweit das Land der Sowjets zur Heimstätte der Menschheitskultur wurde. Blök würdigte dieses Wirken Gorkis: „Das Schicksal hat Maxim Gorki als dem größten Künstler unserer Tage eine große Bürde auferlegt! Es bat ihn zum Mittler zwischen Volk und Intelligenz erkoren, zwischen zwei Seiten, von denen beide weder sich selbst noch einander wirklich kennen." (AAB 6, 92) Objektiv war jedoch Gorkis Beitrag für die junge sozialistische Kultur viel tiefer und umfassender: „Die gewaltige, außerordentliche Bedeutung Gorkis beruht darin, daß er der erste große Schriftsteller des Proletariats ist, daß die Klasse, die berufen ist, die Menschheit zu retten, indem sie sich selbst rettet, sich in ihm erstmalig künstlerisch bewußt wird, so wie er sich philosophisch und politisch in Marx, Engels und Lenin bewußt wurde." (AVL 2, 141)

B/oks „Musik" der Evolution „Der Humanismus in der Form, in der wir ihn aus dem Evangelium und der Heiligen Schrift unserer Künstler über das russische Volk, über das Leiben kennen, dieser Humanismus ist eine schlechte Sache, und A. A. Blok war, glaube ich, als einziger nahe daran, das zu verstehen." (Fedin 412) Im Verlag Wsemirnaja literatura arbeiteten Gorki und Blok eng zusammen, „Gorki konnte nicht anders als ihn bewundern - als Menschen und als Erscheinung. Aber Gorki, der Künstler und Philosoph, lebte trotz seines damaligen Skeptizismus - völlig verschieden von Blok - in einem sehr lebensbejahenden Element." (Fedin 414) Blok hingegen lebte in einer eigenen Vor53

stellungswelt, die für viele seiner Zeitgenossen rätselhaft blieb, obwohl er seinerzeit eine beachtliche gesellschaftliche Tätigkeit entfaltete und im Blickpunkt der literarischen Öffentlichkeit stand. Trotz dieser Verschie'denartigkeit gab es seinerzeit zwischen 'beiden viele Berührungspunkte, die sich vorrangig aus der Verlagsarbeit ergaben. Gesetzmäßig konzentrierten sich viele ihrer Überlegungen auf das Problem von Kultur und Humanismus im revolutionären Prozeß. Für den einen wie den anderen war idas weder eine abstrakte Frage noch eine Frage, von deren Beantwortung ihre Einstellung zur Revolution a'bhing, denn Gorki wie auch Blok hatten sich beide, wenn auch unter verschiedenen Voraussetzungen, von Anfang an aus die Seite der Revolution gestellt. Ihre verlegerischie Arbeit, die Bestimmung einheitlicher Auswahlprinzipien setzten eine klare Kultur- und Humanismuskonzeption voraus. Bloks Referat Heine in Rußland. (1919) vor dem Redaktionskollegium veranlaßte Gorki zu der Bemerkung: „Zwischen uns liegt eine Distanz gewaltigen Ausmaßes. Ich bin so ein Realist, dennoch ist mir verständlich, was Sie sagen. Ihr Referat halte ich für prophetisch." (AAB 7, 356) Gorki grenzte sich von Blok ab und brachte ihm gleichzeitig großes Interesse entgegen. Er schlug ihm daher vor, auf einer der nächsten Redaktionssitzungen die lim Heine-Referat entwickelte Humanismus-Auffassung näher zu erläutern. In seinem Tagebuch notierte Blok drei theoretische -und praktische Grundthesen zu seinem Vortrag Der Zusammenbruch des Humanismus. Erstens: Auswahlprinzipien für die Wsemirnaja literatura. Zweitens: In der Kunst ist die Hauptsache die emotionale Beziehung des Künstlers zur Wirklichkeit - in Bloks Terminologie die „Musik". Die Kunst entstehe aus der engen Wechselwirkung zwischen der Musik der schöpferischen Persönlichkeit und der Musik, die in der Tiefe der Volksseele, der Seele der Masse erklingt. Aus der Vereinigung dieser beiden elektrischen Ströme entspringe die Kunst. Alle Erscheinungen der Kunst um der Kunst willen stünden folglich im Widerspruch zum eigentlichen Wesen der Kunst. Und drittens: Das bewußte Ausweichen vor politischen Urteilen sei ein umgekehrter Humanismus, die Zertrümmerung dessen, was nicht teilbar ist. Weitere Aufschlüsse über Bloks Gedankengänge vermittelt 54

der Plan zu einer Vorlesung, datiert vom 5. April 1920: „Revolution Kultur irgendwo eine tiefe Verbindung sie wird nicht verstanden Vanderveldes Lüge . . . Kunst, Kultur, Revolution, Zivilisation. Wie sie anordnen - die Reihenfolge ist wichtig. Meine Bestimmung: Kultur Revolution Zivilisation. Bestimmung der gegebenen Wechselbeziehung (die traurige Tatsache fixieren). Was verlieren w.ir mit der Kunst?" (AAB 6, 486) Blok war Idealist. Der Vernunft des Menschen könne er nach „diesem Krieg und am Vorabend unvermeidbarer, noch grausamerer Kriege" (Gorki 15, 332) nicht mehr vertrauen, bekannte er Gorki. Daraus resultiert ein gewisser Kulturpessimismus, der sich am deutlichsten in seiner Trennung von Kultur und Zivilisation offenbarte. Für Blok war die Kultur etwas Ganzheitliches auch in der bürgerlichen Gesellschaft, wobei er unter Kultur offensichtlich nur die geistigen Werte faßte. Der Zivilisation gegenüber verhielt er sich hingegen äußerst skeptisch. Das anschaulichste Beispiel für ihre „Verdorbenheit" sah er in der Anpassung an den gemeinsten und größten Krieg, den die Welt je erlebt hatte. Die Zivilisation habe durch ihr „antimusikalisches" Einvernehmen mit diesem Krieg sich selbst das Todesurteil geprochen. Rußlands Volksmassen brauchten daher keine Zivilisation, lautete seine Schlußfolgerung. Für Gorki war diese These unannehmbar und unverständlich, insbesondere in einem Zeitalter, das so reich an Erfindungen und wissenschaftlichen Entdeckungen ist. In Bloks Ideen sah er daher ein Zugeständnis an das „Skythentum", an die den russischen Massen eingeimpfte Abneigung gegen das Staatswesen.44 Diese Gedankengänge waren ihm fremd. Der „Zusammenbruch des Humanismus" war für Blok gleichbedeutend mit dem Sieg der Revolution über den Antihumanismus: „Der ganze Mensch ist in Bewegung geraten, er ist aus einem jahrhundertelangen Traum der Zivilisation erwacht. Der Geist, die Seele und der Körper sind von einer stürmischen Bewegung erfaßt. Im Wirbelsturm der geistigen, politischen und sozialen Revolutionen, die ihre kosmischen Entsprechungen haben, wird eine neue Auswahl vorgenommen, formiert sich der neue Mensch." (AAB 6, 114) An diesem neuen Menschen hob Blok als das entscheidende Merkmal das Artistische, Künstlerische anstelle des Intellekts hervor, 55

das heißt ein reich entwickeltes Gefühlsleben zur Wahrnehmung der neuen Wirklichkeit, der „Musik" der Revolution. Bloks Grundthese von einer neuen menschlichen Persönlichkeit, von einem neuen Humanismus, an den 1er fest glaubte, blieb abstrakt. Die Erkenntnis vom Wesen und Inhalt der proletarischen Revolution blieb ihm verborgen. Dennoch flüchtete er sich nicht in eine reine Gedankenwelt, sondern sah seine Aufgabe gerade darin, alles zu tun, damit die Menschen die „Musik" der Revolution vernehmen - als einzigen Weg zu einem besseren Menschsein. Darin lag eine gewisse Folgerichtigkeit seines öffentlichen Auftretens nach der Oktoberrevolution, seines Wirkens für die Kultur. „Alles, was er bis an das Ende seiner Tage schrieb, wurde nicht anders geschrieben als Die Zwölf - mit unverwandelbarer Leidenschaft und unvergänglicher Trauer des Herzens." (Fedin 445) Am 1. Februar 1918 war Alexander Bloks Artikel Intelligenz und, Revolution erschienen. Er fand sofort in der Öffentlichkeit eine breite Resonanz. Für und wider Blak wurde gleichbedeutend mit für und wider die Revolution. In diesem Aufsatz hatte er als einer der ersten Vertreter der vorrevolutionären künstlerischen Intelligenz allen denen den Kampf offen angesagt, die lamentierten: „Rußland geht zugrunde", „Rußland existiert nicht mehr", „Ewiges Gedenken Rußlands". Es sei eine Schande, Rußland zu beklagen und zu beweinen zu einem Zeitpunkt, da ein „revolutionärer Zyklon" über das Land hinwegbraust, es von allen ¡bindenden Fesseln befreit und alles von Grund auf neu gestaltet, „damit unser verlogenes, schmutziges, trostloses und abscheuliches Leben gerecht, sauber, froh und schön wird. (AAB 6, 12) Fasziniert lauschte Blok der „Musik" der Revolution. In dem Tosen und Rasen des Wirbelsturms vernahm er die Klänge einer lang ersehnten Zukunft, einer neuen Menschlichkeit. Wider seinen Artikel hatte sich ein Sturm der Entrüstung erhoben: „Mereshkowski läßt einen bevorstehenden Boykott durchblicken," registrierte Blok am 26. Januar in seinem Tagebuch. „Sologub (!) erwähnt in seiner Rede, daß A. A. Blok, den ,wir geliebt haben', sein Feuilleton gegen die Popen an dem Tag druckt, an dem das Alexatider-Newski-Kloster (!) zerstör;: wird . . . " (AAB 7, 321) Letzte Bemerkung bezieht sich offen56

sichtlich auf Bloks Feststellung: „Was glauben Sie denn? Daß die Revolution eine Idylle ist? Daß Schöpfertum auf seinem Wege nichts zerstört?" (AAB 6, 16) „Warum wird denn ein alter Dom 'beschädigt? - Weil hier ein verfetteter Pope hundert Jahre lang... Bestechungsgelder annahm und mit Wodka handelte. . . Ich weiß, was ich sage. Das läßt sich nicht umgehen. Verschweigen kann man .das nicht; sie aber schweigen." (AAB 6,15) Offensichtlich noch unter dem Eindruck dieser sich zuspitzenden feindlichen Ausfälle gegen seine Person wie auch unter dem Einfluß der neuen Wirklichkeit schrieb Blok am 13. Mai 1918 als Antwort auf einen seinerzeit nicht veröffentlichten Fragebogen Was ist jetzt zu tun?: „Der Künstler muß wissen, daß es das Rußland, wie es einmal war, nicht ¡mehr gibt und nicht mehr geben wird... Die Welt ist in ein neues Zeitalter eingetreten. J e n e Zivilisation, j e n e s Staatswesen, j e n e Religion . . . haben ihre Existenz verloren. Und diejenigen, die Zeuge ihrer Todeszuckungen sind, müssen jetzt ihrer Fäulnis und Verwesung 'beiwohnen." „Der Künstler muß vor Zorn gegen alles erglühen, was den Leichnam wieder auffrischen will", und dazu müsse er sich das „Wissen um die Größe der Epoche" (bewahren, dürfe nie die ^soziale Ungleichheit" vergessen und den tiefen Inhalt dieser beiden Worte weder vom Pseudohumanismus noch von Sentiments verwässern lassen. (AAB 6, 59) Bloks Artikel Intelligenz und Revolution trug wesentlich zur Klärung der Fronten in den harten Klassenkämpfen auf ideologischem Gebiet bei wie auch zur Selbstverständigung über das Schicksal der Kultur und die Stellung des Künstlers in der Revolution: „Der Künstler muß sich darauf vorbereiten, noch größere kommende Ereignisse in sich aufzunehmen, und zugleich in der Lage sein, sich vor ihnen zu beugen." (AAB 6, 59) Die Distanz zwischen Künstler und Volksmassen wird somit in Bloks Konzeption nicht aufgehoben. Gorki war zwar der Meinung, wie Fedin bezeugt, Blok sei von der Ideologie der Revolution nur wenige Schritte entfernt. Aber selbst dort, wo er von der schöpferischen Kraft des Volkes sprach, faßte er sie stets ausschließlich als eine ideelle. Dadurch blieben ihm die entscheidenden schöpferischen Quellen der sozialistischen 57

Revolution, ihr zutiefst 'humanistischer Charakter, ihre historische Bedeutung für die Kultur und Zivilisation der Menschheit verschlossen. Von einem der vielleicht ungewöhnlichsten Versuche, Blok ganz auf idie Seite der Bolschewiki herüberzuziehen, erzählte Lew Nikulin. Das revolutionäre, hungernde Petrograd erlebte 1918 ein seltsames Schauspiel: Larissa Reisner und Alexander Blok hoch zu Pferd, in lange Gespräche vertieft. Was konnte schon die unerschrockene, kluge Revolutionärin im Sinn gehabt haben, wenn nicht die völlige ideologische Umstimmung des Dichters, der in der Revolution nur der Stimme seines Herzens folgte. Die zeitgenössische sowjetische Kritik verwies bereits damals auf den Widerspruch zwischen den Erfordernissen des Tages und Bloks Vorstellung von einem künstlerischen Menschen („celovek-artist"), der allein in der Zeit der Kämpfe und Stürme zu leben und zu handeln vermag. Sie warnte vor der Illusion poetischer Erleuchtungen - diese führten höchstens zu allzu verspäteten oder allzu verfrühten Schlußfolgerungen. Nur exakte Analyse und ein klarer logischer Gedanke seien imstande, eine dauerhafte Grundlage für die neue Gesellschaft zu schaffen. Der Aufsatz Intelligenz und. Revolution wurde als das einzig bleibende Beispiel einer „poetischen Aufwallung" gewürdigt, „die durch die Aufwallung des ganzen Volkes in jenen unvergeßlichen ersten Revolutionstagen hervorgerufen war". „In der Literatur der Oktoberepoche gibt es keine Zeilen, .die mit solcher Kraft unsere vor kurzem noch .atheistische' und .sozialistische' Intelligenz getroffen haben." 45 Auch die Prawda bestätigte bereits zehn Tage nach Erscheinen des Aufsatzes die tagespolitische Bedeutung von Bloks Bekenntnis zur revolutionären Veränderung der Beziehungen von Volk und Intelligenz, Gesellschaft und Kunst. Konstantin Fedin hat die besondere Stellung Bloks innerhalb der ideologischen Auseinandersetzungen der künstlerischen Intelligenz wohl am treffendsten charakterisiert: Mit Blok war „eine frühere, alte Epoche dahingegangen..., jene Epoche, die noch die Revolution erlebt und einen ersten Schritt in ihre Bereiche getan hatte, als ob sie hätte zeigen wollen, in welcher Richtung man gehen müsse; dann war sie, erschöpft von ihrem langen Wege, zusammengebrochen. Es wurde offenkundig, daß 58

niemand mehr v o n d o r t einen solchen Schritt tun werde; sollte ihn a'ber jemand dennoch wiederholen, so würde darin nicht der gleiche Mut, nicht die gleiche Sehnsucht nach der Wahrheit des Künftigen, wie Blok sie bekundet hatte, enthalten sein. Viele Menschen verstanden, daß die höchsten Erwartungen der Dichtkunst nun in die Zukunft verlegt waren. Aber einer fühlte wie der andere, daß Blok die Tragödie der Vergangenheit nicht mit ins Grab nahm, sondern uns als lebendige Mahnung, als geschichtliches Erbe hinterließ." (Fedin 473-474)

Kulturprognosen und Kulturpraxis Es lag im Wesen der Oktoberepoche, der Einmaligkeit und Neuheit ihres Programms, daß noch einige Jahre lang zum Teil schroffe Widersprüche zwischen den Anforderungen an die Kultur als Ganzes und den Vorstellungen von einer neuen, sozialistischen Kultur und Kunst 'bestanden. Während einerseits 'dank der weibsichtigen Kulturpolitik der Kommunistischen Partei und vorrangig Lenins bereits in 'diesen ersten Monaten die Grundlagen einer neuen Entwicklung aller kulturellen Bereiche geschaffen wurden, verliefen andererseits die theoretischen Diskussionen zumeist noch albstrakt, isoliert von den unmittelbaren Aufgaben, die Literatur und Kunst innerhalb der sozialistischen Kulturrevolution zu lösen hatten. Die Direktiven der Partei und Lenins wurden häufig nicht begriffen - ganz abgesehen von Erscheinungen offener Sabotage, die 1918 noch an der Tagesordnung waren. Die Vorstellungen von einer sozialistischen Kulturpolitik - ihrer parteilichen und staatlichen Leitung - waren daher selbst im Volkskommissariat für Bildungswesen nicht immer realisierbar. Lenin schätzte Lunatscharski als einen „Spezialisten" außerordentlich hoch ein und äußerte über ihn: „Dieser Mann weiß nicht nur alles und ist nicht nur begabt - dieser Mann erfüllt jeden Parteiauftrag und erfüllt ihn ausgezeichnet." (LL XXXIII) Weitaus komplizierter verhielt es sich mit dem Stab seiner Mitarbeiter im Volkskommissariat. Die theoretische Bestimmung der kulturellen Schwerpunkt59

aufgaben stellte die progressive russische Intelligenz vor die Alternative, Zukunftsbild und Revolutionswirklichkeit in ein System zu bringen, das mit der Konzeption der neuen sozialistischen Gesellschaft übereinstimmte. Die Vorahnung der Entfaltung gigantischer menschlicher Schöpferkräfte begeisterte sie für die sozialistische Revolution. Diese echte Begeisterung basierte jedoch meist, wie wir im Falle Bloks sahen, nicht auf der Kenntnis der realen gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze. Nicht selten gaib es daher in ihrer Vorstellung zwischen Zukunftsentwurf und Tagessituation keinerlei Verbindung. In die Antizipation künftiger Vorgänge drangen utopische Züge, während die systematische Überwindung momentaner Umbruchserscheinungen und -Schwierigkeiten aus dem Blickfeld schwand. Lenin registrierte voller Sorge diese Tendenzen, erkannte ihre Gefahr und stellte ihnen die in der Praxis zu lösenden Aufgaben gegenüber. Die sowjetische Publizistik der Revolutionsepoche veranschaulicht deutlich den Verlauf der theoretischen Diskussionen. Mit dem Artikel Die Oktoberrevolution als ein neues kulturelles Zeitalter46 eröffnete die Prawda am 10. Februar 1918 eine neue Artikelserie unter der Rubrik Oktoberrevolution und Kultur. Die Redaktion wandte sich an ihre Leser mit der Aufforderung: „Autoren, auch wenn sie nicht zur Partei der Bolschewiki gehören, aber aufrichtig mit ihrem Wissen und ihrem Talent dem Volk dienen wollen, werden gebeten, ihre Artikel und Übersichten über Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Wissenschaft, Kunst, Literatur, Philosophie, des Rechtswesens, der Pädagogik usw. einzuschicken. Die Verleger werden gelbeten, ihre Ausgaben zur Rezension einzusenden." Der erste Artikel war mit „Intellektueller aus dem Volke" unterzeichnet, dahinter verbarg sich I. Knishnik-Wetrow, einem fortschrittlichen russischen Historiker und Journalisten. Hauptanliegen dieses programmatisch angelegten und zugleich polemisch scharf zugespitzten Aufsatzes war der Nachweis, daß die Oktoberrevolution nicht zur Zerstörung der Kultur führt, wie in haßerfüllten Ausfällen über die „Kulturlosigkeit" der revolutionären Massen behauptet wurde: „Es liegt im Wesen der Kultur, daß sich ihre Qualität nicht verringert, sondern eher erhöht in dem Maße, wie sich ein immer größerer Kreis 60

von Menschen die Kultur aneignet." Die realen Voraussetzungen hierfür seien geschaffen: Aufhebung des Großgrundbesitzes, Nationalisierung der Banken, des Handels und vieler Betriebe, Verkürzung der Arbeitszeit, staatliche und Arbeiterkontrolle der Produktion... Je mehr Menschen Tolstoi, Shelley oder Goethe lesen wenden, desto mehr könne sich die Kultur insgesamt entfalten, zumal die Monopolstellung der besitzenden Klasse bei der Schaffung und Aneignung kultureller Werte, die einseitige Unterordnung unter ihre „launenhafte Protektion oder ihre ausgefallenen Liebhabereien" endgültig beseitigt sind. Die Übereinstimmung mit Lenins Feststellung in seiner Arbeit Parteiorganisation und, Parteiliteratur ist offensichtlich: „Das wird einie freie Literatur sein, weil sie nicht einer übersättigten Heldin, nicht den sich langweilenden und an Verfettung leidenden .oberen Zehntausend' dienen wird, sondern den Millionen und aber Millionen Werktätigen." (Lenin 10, 34) - Knishnik-Wetrow schlußfolgerte: „ . . . durch die Berührung mit der Mehrheit des Volkes wird die Kultur nicht vereinfacht, sondern komplizierter und reicher." Zum kulturellen Erbe schrieb Knishnik-Wetrow: „Das Volk will sich die gesamte Kultur, ihre gesamte jahrhundertelange Entwicklung, als Ganzes aneignen." Es „schafft nicht aus einem Nichts heraus, sondern nur aus dem Erbe der gegenwärtigen und vergangenen Kultur" und „begreift die historische K o n t i n u i t ä t u n d G e s e t z m ä ß i g k e i t , die der Kultur ihrem Wesen nach zu eigen sind". Sodann zeichnete der Autor das Bild der sich entwickelnden „Volkskultur" in ihrer Blüte. Dieses Zukunftsbild bleibt jedoch, gemessen an den sich in der damaligen Wirklichkeit vollziehenden komplizierten kulturellen Prozessen, abstrakt und trägt im Schlußteil utopisch-messianistische Züge. Zwar verwies 'der Verfasser darauf, daß von der alten Kultur nur das angeeignet werde, „was im gegebenen Augenlblick für die politisch-soziale Anwendung wertvoll ist", aber klare Vorstellungen sowie praktische Schlußfolgerungen aus dem Gesagten fehlen. Darüber hinaus wird der Begriff „Volk" undifferenziert angewandt, abstrahiert von .dem neuen gesellschaftlichen Charakter der Produktionsverhältnisse und den realen Klassenkräften, die sich in dieser historischen Phase der Revolution herauskristallisierten. Am 61

deutlichsten wird dies dort, wo der Autor die sich herausbildende „Volkskultur" mit der Kultur im alten Athen vergleicht, als das ganze Volk, wie es im Artikel heißt, am politischen und sozialen Aufbau des Staates beteiligt war. Knishnik-Wetrow bezeichnete die forschrittlichen Intellektuellen als „Hirten" des Volkes - ein Beweis dafür, daß er die neuartige Beziehung von Volk und Intelligenz nicht begriff. Insofern vermochte er trotz einiger richtiger Grundgedanken in Übereinstimmung mit der marxistischen Kulturtheorie keine Antwort auf viele in der revolutionären Praxis neu herangereiften kulturellen Fragen zu geben. Die Redaktion verwies in einer Fußnote auf den kurz zuvor erschienenen Aufsatz von Blok Intelligenz und Revolution im Anschluß an Knishnik-Wetrows Äußerung, daß die Kulturschaffenden, die sich nicht auf die Seite des Volkes stellen, unweigerlich vom Volke verstoßen werden. Bloks mutiges Bekenntnis zur Revolution wurde von der Prawda als beachtliche Erscheinung gewertet, daß sich auch in den Reihen der künstlerischen Intelligenz im Sinne obigen Artikels Kräfte finden, die sich nicht vom Volk abkehren. Eine Woche nach Knishnik-Wetrows Aufsatz, am 17. Februar, erschienen in der Prawda zum Thema Oktoberrevolution und Kultur weitere Artikel. In seinem Beitrag Theaterperspektiven47 analysierte W. Beguschewski die „Möglichkeit (ja Unvermeidbarkeit) der Ablösung des Publikums, die durch die Revolution vom 25. Oktober gegeben ist". Sie habe buchstäblich diejenigen beflügelt, „die sich nach einer Renaissance des Theaters sehnten und diese Renaissance nicht in der Verinnerlichung, nicht in einem aristokratischen Charakter des Theaters sahen, sondern im Gegenteil in seiner Verlagerung auf die Plätze der Städte". Meyerholds Hinwendung zum Volkstheater vergangener Epochen sei ein fruchtbarer Ansatz in dieser Richtung. Gleichzeitig untersuchte Beguschewski die Aufhebung des Konflikts erwischen Schauspieler und sattem Publikum, das bisher dem Schauspieler die Rolle eines Hofnarren zugewiesen hatte: „Jetzt wird der Schauspieler spüren, daß er wirklich eine große Sache vollbringt, wenn er die Menschen an die Kunst heranführt, die ihrer bedürfen und fähig sind, die Kunst in sich aufzunehmen und etwas für sich selbst 62

aus dem Theater nach Hause zu tragen." Diese neue Bestimmung des Schauspielers - statt „Hofnarr" „Lehrer" - werde ihm seine hohe Verantwortung gegenüber dem neuen Publikum bewußt werden lassen. Wie das neue Theater aussehen werde, sei allerdings noch nicht abzusehen, aber gewiß sei: „Wir befinden uns am Vorabend einer großen Theaterepoche." L. Kormtschii stellte in Eine vergessene Waffe (Das Kinderbuch)^ kritisch fest: Das Kinderbuch ist zur Zeit noch eine Waffe in den Händen der Bourgeoisie, die den Kindern in belletristischer Form Achtung vor dem Besitz, der Kirche und den Vorgesetzten eingeimpft hatte, um sie für ihre egoistischen Ziele als Kanonenfutter gefügig zu machen. Es sei an der Zeit, die Kinder auf ihre neue Rolle vorzubereiten, die ihnen in der Welt vorbestimmt ist. Das Kinderbuch müsse all das Neue, das sich in Wirklichkeit durchsetzt, „in ein straffes System bringen" und in der kindlichen Psyche ein festes Fundament zur Bewältigung der künftigen Aufgaben errichten. (Nach einem halben Jahr, am 23. Oktober, veröff entlichte die Prawda einen bereits detaillierten Plan des Volkskommissariats für Bildungswesen zur Herausgabe der Kinderliteratur nach neuen Grundsätzen.) Bezeichnend für diese beiden Beiträge ist, daß auch sie noch nicht konstruktiv in die Kulturdebatte eingreifen, obwohl sie •bereits von allgemeinen Fragestellungen zur konkreten kulturpolitischen Aufgabenstellung überleiten. Aber weder in theoretischer Hinsicht noch in bezug auf praktische Vorschläge zur Bewältigung der neuen Aufgaben in der höchst angespannten politischen Situation waren sie ein wirklicher Schritt nach vorn. Die Redaktion 'der Prawda setzte die Artikelserie Oktoberrevolution und Kultur nicht mehr fort. „Die gefundene Form - lange theoretische Problemartikel - hatte sich nicht bewährt", erläutert ein sowjetischer Forscher diese Maßnahme. „Die Zeitung ist kein Traktat. Man mußte weiter suchen . . .". 49 Die knappen Antworten auf Leserfragen unter der Rubrik Briefkasten - nur fünf erschienen im letzten Quartal des Jahres 1918 - entsprächen weit eher dem Charakter einer Tageszeitung. Aber diese Erklärung trifft nicht den Kern der Sache. Die Kluft zwischen allgemeinen Erörterungen mit nicht selten „schönen" Zukunftsvisionen und der Alltäglichkeit elementarer 63

kulturpolitischer Erfordernisse war zu offensichtlich. Die Durchsicht der folgenden Zeitungsnummern bestätigt dies eindeutig. Das imperialistische Deutschland brach den Waffenstillstand und begann eine Großoffensive an der gesamten Front. Am 21. Februar nachts izwei Uhr beschloß der Rat der Volkskommissare das von Lenin ausgearfbeitete Dekret Das sozialistische Vaterland, ist in Gefahr! und appellierte an die Arbeiter, Bauern und Soldaten, alle Mittel zum Schutze der Republik einzusetzen. Am gleichen Tag erschien in der Prawda Lenins Artikel Über die revolutionäre Phrase und ein Tag später Über die Krätze, beide mit Karpow unterzeichnet. In dieser kritischen innen- und außenpolitischen Situation polemisierte Lenin scharf gegen die „Wiederholung revolutionärer Losungen ohne Berücksichtigung der objektiven Umstände bei der jeweiligen Wende der Ereignisse und beim gegebenen Stand der Dinge, wie sie gerade zu verzeichnen sind" - gegen die revolutionäre Phrase, „wunderbare, hinreißende, berauschende Losungen, denen der reale Boden fehlt". (Lenin 27, 1) In seinem folgenden Artikel bezeichnete er sie unumwunden als eine „Abart der Krätze", die aufs energischste zu bekämpfen sei: „Nicht selten wird diese Entstellung (einfacher, unbestreitbarer Wahrheiten - N. T.) aus den besten, edelsten, erhabensten Motiven vorgenommen, .einfach', weil man bekannte theoretische Wahrheiten nicht verdaut hat oder in kindisch-täppischer, schülerhaft-sklavischer Weise diese Wahrheiten bei unpassenden 'Gelegenheiten wiederholt (die Leute verstehen nicht, wie man zu sagen pflegt, ,was wohin gehört'), aber deswegen hört die Krätze nicht auf, eine abscheuliche .Krätze zu sein." (Lenin 27, 19) Beide Artikel beziehen sich nicht auf die in der Prawda geführte Kulturdiskussion, denoch ist ein Zusammenhang unverkennbar. Mit den Artikeln Über die revolutionäre Phrase und Über die Krätze begann Lenin den offenen, konsequenten Kampf um den Abschluß eines Friedensvertrages mit dem imperialistischen Deutschlaad. Die Alternative lautete: Sein oder Nichtsein der jungen Sowjetrepublik. Jegliches abstrakte Theoretisieren betrachtete Lenin daher als eine ernste Gefahr für die Revolution. Bereits im Dezember 1917 hatte er in seiner

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Arbeit Wie soll man den Wettbewerb organisieren? auf sie hingewiesen und auf die sofortige Lösung vordringlicher Aufgaben in der Praxis orientiert: „Sie (die Arbeiter - N. T.) müssen begreifen, daß jetzt alles auf die P r a x i s ankommt, daß gerade jener geschichtliche Augenblick eingetreten ist, wo die Theorie in die Praxis umgesetzt wird, durch die Praxis belebt, durch die Praxis korrigiert, durch die Praxis erprobt wird, wo die Marxschen Worte sich bewahrheiten: Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme' - jeder Schritt der praktischen, wirklichen Zügelung und Beschränkung, der restlosen Erfassung und Überwachung der Reichen und Gauner ist wichtiger als ein Dutzend ausgezeichneter Betrachtungen über den Sozialismus. Denn ,grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum'." (Lenin 26, 411) Der Presse und insbesondere dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei, der Prawda, widmete Lenin daher seine besondere Aufmerksamkeit, gab knappe, unmißverständliche Direktiven oder schaltete sich an entscheidenden Wendepunkten der Entwicklung, wie in jenen kritischen Februartagen, selbst in die propagandistische Arbeit ein. Was nützten letzten Endes alle schönen Prognosen über die neue Kultur und Kunst, solange die einfachsten Grundfragen der Existenz des jungen Sowjetstaates nicht gelöst waren? Daher lehnte Lenin so entschieden „alle die intelligenzlerischen Hirngespinste, alle die .proletarischen Kulturen'" ab und stellte ihnen „das Abc der Organisation" (Lenin 29, 361) entgegen. Ohne die unmittelbare Verbindung der kulturpolitischen Praxis mit der neuen Organisation der Arbeit auf sozialistischer Grundlage und ohne die Heranziehung der breiten Massen zur Verwaltung des Staates, auf deren Verwirklichung mit „eiserner Disziplin" Lenin Partei und Staatsführung orientierte, konnten auch die Fragen einer neuen Literatur- und Kunstentwicklung nicht gelöst werden. Diesen Systemzusammenhang von Ökonomie, Ideologie und Kultur hat Lenin wiederholt herausgearbeitet und daraus die spezifischen Aufgaben der einzelnen Teilgebiete theoretisch wie praktisch abgeleitet. In den Märztagen des Jahres 1918 tagten der Außerordentliche VII. Parteitag der KPR (B) sowie der Außerordentliche 5

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IV. Gesamtrussische Sowjetkongreß. Zur selben Zeit schrieb Lenin die Arbeit Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht. In diesen Dokumenten wird der Begriff „Kultur" nur an wenigen Stellen verwandt. Die Grundorientierung auf die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in sechs Thesen zusammengefaßt, enthielt jedoch im Kern das gigantische Kulturprogramm der Diktatur des Proletariats. „Führen kann die werktätigen und ausgebeuteten Massen nur eine Klasse, die ohne Schwankungen ihren Weg geht, nicht kleinmütig wird und auch bei den mühsamsten, schwersten und gefährlichsten Übergängen nicht in Verzweiflung gerät. Hysterische Aufwallungen brauchen wir nicht. W i r b r a u c h e n Baden gemessenen S c h r i t t der e i s e r n e n t a i l l o n e d e s P r o l e t a r i a t s . " (Lenin 27, 268; Hervorhebung - N. T.) Als eine der wichtigsten Aufgaben des Tages bezeichnete Lenin den Übergang zur dritten Etappe der Revolution - den Übergang von der „rotgardistischen Attacke auf das Kapital" zum ökonmischen Aufbau des Sozialismus. Maßnahmen zur Hebung der Arbeitsdisziplin und Arbeitsproduktivität traten auf die Tagesordnung - die Verbindung des „stürmischen, wie Hochwasser im Frühling über die Ufer tretenden Versammlungsdemokratismus der werktätigen Massen . . . mit e i s e r n er Disziplin während der Arbeit". (Lenin 27, 262) Voraussetzung zur Bewältigung dieser Aufgabe war „die Hebung des Bildungs- und Kulturniveaus der Masse der Bevölkerung" (Lenin 27, 248) unter Ausnutzung des mächtigen Strebens zum Licht, des Drangs nach Wissen, der in den Massen außerordentlich stark war und dem sich nun dank den neuen Organisationsformen, den Sowjets, breiter Spielraum zur Entfaltung der bis dahin gewaltsam unterdrückten Initiativen bot. Zu diesem Zweck müsse der staatliche Bildungsapparat richtig organisiert werden. Gerade aber hier fehle es noch an Erfahrungen, wie überhaupt in allen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Bereichen die „Wahl neuer Methoden, die der neuen objektiven Situation entsprechen", mit außerordentlichen Komplikationen verbunden war. Man müsse begreifen, „daß sich in der Partei, die das revolutionäre Proletariat führt, nicht die Erfahrungen sammeln und die Fertigkeiten entwickeln konnten, die für große, auf Millionen und 66

aber Millionen von Bürgern berechnete organisatorische Unternehmungen notwendig sind, daß die Änderung der alten, fast ausschließlich agitatorischen Traditionen eine sehr langwierige Sache ist". (Lenin 27, 252-253) Es lag also im Wesen der sozialistischen Revolution, das sie zum vollständigen Sieg über die bürgerliche Ordnung der kulturschöpferischen T a t der Volksmassen bedurfte. Der Neuorganisierung des gesamten Volksbildungswesens galt die beondere Aufmerksamkeit und Fürsorge der Partei und der leitenden, staatlichen Organe. Am 9. (22.) November 1917 wurde laut Beschluß des Rates der Volkskommissare eine Staatliche Kommission für Bildungswesen unter Leitung Lunatscharskis gebildet. Ihr unterstanden u. a. auch eine Abteilung für Wissenschaft und eine Abteilung für Kunstfragen. Die Kommission sollte die Zusammenarbeit zwischen den Fachkräften und den gesellschaftlichen Institutionen sichern und sich bei allen Maßnahmen von gesamtstaatlichen Interessen leiten lassen. Wenige Monate später entwickelte Nadeshda Krupskaja ein umfassendes Programm der neuen sozialistischen Schule. Sozialistisch werde sie nicht dadurch, „daß an ihrer Spitze Sozialisten stehen, sondern daß ihr Ziel den Bedürfnissen der sozialistischen Gesellschaft entspricht"50. Als Hauptaufgabe bezeichnete sie die Heranbildung von Menschen, „die eine in sich geschlossene, durchdachte Weltanschauung ha'ben, die genau begreifen, was in der Natur und im gesellschaftlichen Leben um sie herum vorgeht; von Menschen, die in Theorie und Praxis zur Arbeit j eder Art - physischer und geistiger vorbereitet und in der Lage sind, ein vernünftiges, inhaltsvolles, schönes und freudvolles gesellschaftliches Leben aufzubauen"51. Ohne solche Menschen konnte der Sozialismus nicht errichtet wenden. Lenin izog niemals eine Gernzlinie zwischen den rein erzieherischen und den sozial-ökonomischen Aufgaben. Er betrachtete sie als eine Einheit. Danach bewertete er die Tätigkeit aller Kultur- und Kunsfieinrichtungen, was keinesfalls die Anerkennung der spezifischen Funktion von Kunst und Literatur im Leben des Volkes ausschloß. Wie für alle gesellschaftlichen Bereiche hatte auch für sie die Hauptaufgabe der 5«

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sozialistischen Kulturrevolution Gültigkeit, „allseitig e n t w i c k e l t e und a l l s e i t i g geschulte Menschen, die a l l e s m a c h e n k ö n n e n , zu erziehen, zu unterweisen und heranzubilden. Dahin steuert der Kommunismus, dahin muß und w i r d er gelangen, aber erst nach einer langen Reihe von Jahren. Der Versuch, heute dieses künftige Ergebnis des vollkommen entwickelten, vollkommen gefestigten und herausgebildeten, vollkommen entfalteten und reifen Kommunismus praktisch vorwegzunehmen, wäre gleichbedeutend damit, einem vierjährigen Kind höhere Mathematik beibringen zu wollen." (Lenin 31, 35) Die größten Schwierigkeiten in der Kunst- und Literaturpraxis des jungen Sowjetstaates ergaben sich gerade aus dem Versuch, das „künftige Ergebnis" einer vollkommen ausgebildeten sozialistischen Kunst vorwegzunehmen. Und die Erfahrung lehrte, wie sehr „jeder Schritt wirklicher Bewegung" tatsächlich wichtiger war „als ein Dutzend Programme". Neue Kulturtheorien und Aktionsprogramme der Künstler ultralinker bis rechter - schössen wie Pilze aus dem Boden. Sie wurden zur Arena offen oder versteckt geführter scharfer ideologischer Auseinandersetzungen. Viele, die als Vertreter revolutionärer Kunstauffassungen im Zeichen des Roten Oktober auftraten, propagierten einseitige, in vorrevolutionären antibürgerlichen Vorstellungen verhaftete Konzeptionen. Was jedoch 1917 objektiv fortschrittlich war, hemmte bereits ein Jahr später den künstlerischen Fortschritt. Fehler und Überspitzungen auf Grund mangelnder Erfahrungen bei der Schaffung einer erstmals h e r r s c h e n d e n sozialistischen Kunst waren unvermeidlich. Der Drang nach freier schöpferischer Betätigung in verschiedener Form in den revolutionären Massen wie unter den revolutionär gesinnten Kunstschaffenden - war groß, ebenso die Ungeduld, schon heute, sofort eine n e u e Kunst und Literatur zu schaffen, die der Größe des historischen Augenblicks, dem F e i e r t a g d e s V o l k e s , adäquat sind und in denen „kein Quenchen der alten Zeit" mehr enthalten war. Gleichzeitig war der bürgerliche Einfluß noch relativ groß. Vielerorts funktionierten noch Einrichtungen und Gepflogenheiten des bürgerlichen Kunstmechanismus. Objektive, zeitgebundene Übergangsschwierigkeiten wurden von konservativen 68

Kräften genutzt, um Neuerungen entgegenzuwirken und innere konterrevolutionäre Bestrebungen auf ideologischem Gebiet zu nähren. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Einkreisung und der militärischen Intervention waren sie teilweise äußerst aggressiv. Diese neuen Formen des Kampfes zweier antagonistischer Kulturen nach dem Sieg der proletarischen Revolution in e i n e m Land diktierten nicht nur Wege und Mittel der auch auf künstlerischem Gebiet ausgetragenen Klassenauseinandersetzungen. Sie bestimmten noch einige Jahre nach dem Roten Oktober die Differenzierung der literarischen Kräfte. Vor 1917 war „die gesamte theoretische Tätigkeit Lenins aufs engste mit dem praktischen revolutionären Kampf sowie mit der gesamten revolutionären Bewegung als Ganzes verbunden" gewesen. Nach dem Sieg der sozialistischen Revolution, der Schaffung des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates „verlagerte sich das Epizentrum in Lenins Wirken in Richtung auf die lebendige tagtägliche revolutionäre Praxis" des jungen Sowjetstaates. Das betraf gleichermaßen alle Bereiche der geistigen Produktion. Lenins gewaltige wissenschaftliche und publizistische Vorarbeit vor, während und nach der Revolution fand nun im Leben reale Verwirklichung.52 Diese Grundorientierung, konsequent in der parteilichen und staatlichen Leitung durchgesetzt, war die Voraussetzung für die Entwicklung einer sozialistischen Kunst und Literatur. Allgemeine Kultur- und Kunstdebatten waren da wenig ergiebig. Die Widersprüche zwischen Kunstpraxis und Revolutionsalltag konnten nur durch erste p r a k t i s c h e Schritte auf dem Wege der sozialistischen Kulturrevolution gelöst werden. Theoretische Neuansätze wurden nur fruchtbar in der dialektischen Aufhebung des Gegensatzes von Realität und Zukunftsvision sowie in der scharfen Abgrenzung von allen Erscheinungen der bürgerlichen Ideologie, die bis in die ästhetischen Programme einiger einflußreicher literarischer Gruppierungen eindrangen.

Feiertag der Kunst

„Schule der

'Lebensbeobachtung

„Ich bin fest überzeugt, daß das Proletariat seine eigene Belletristik hervorbringen kann, so wie es unter großen Anstrengungen und gewaltigen Opfern seine eigene Tagespresse geschaffen hat", schrieb Gorki 1914 im Vorwort zu einem Sammelband proletarischer Schriftsteller. „Die mutigen Kräfte des Proletariats, die quantitativ immer mehr anwachsen, erreichen auch qualitativ eine immer höhere Kulturstufe." Und an die Leser - Arbeiter — gerichtet: „Vielleicht sind Sie sich selbst nicht bewußt, merken Sie gar nicht, wieviel Sie geleistet haben, aber die kommenden Generationen der russischen Arbeiter und die ganze proletarische Welt unseres Planeten werden zweifellos aus ihrem Beispiel gewaltige Kräfte für den Kampf um die Weltkultur schöpfen." (Gorki, Über Literatur 106, 107,109) Innerhalb von .drei Monaten waren auf eine Annonce des Petersburger Verlages Priboi 450 Manuskripte von 94 Autoren eingegangen. Die meisten stammten aus der Feder von Menschen, idie körperlich arbeiteten. 15 Autoren .waren politische Häftlinge bzw. schrieben aus der Verbannung. Der Verlag stellte sich die Aufgabe, mit weiteren Ausgaben dieser Art „die literarischen Kräfte des Proletariats zu vereinen und zusammenzuschließen"53. Der Krieg vereitelte dieses Vorhaben. Einige in der Anthologie vertretene Autoren - Samobytnik (A. Maschirow), M. Gerassimow, I. Filiptschenko - zählten nach 1917 zu den bekanntesten Arbeiterdichtern. (In den nächsten Sammelband proletarischer Schriftsteller, 1917 im Petrograder Verlag Parus erschienen, nahm Gorki erstmalig auch zwei Erzählungen von Wsewolod Iwanow auf.) Dieser sichtbare Erfolg einer quantitativ wie qualitativ 70

wachsenden Arbeiterliteratur selbst in den Jahren der schärfsten Reaktion war vorrangig das Verdienst der bolschewistischen Parteipresse. Die Iskra, Organ der SDAPR, begründete Anfang des Jahrhunderts diese Tradition. In einer redaktionellen Erklärung aus dem Jahre 1900 forderte Lenin die „Schaffung einer gemeinsamen, prinzipienfesten Literatur, die imstande wäre, die revolutionäre Sozialdemokratie ideologisch zu vereinen". (Lenin 4, 351) Drei Jahre später faßte der II. Parteitag der SDAPR eine Entschließung Über die Parteiliteratur. In Lenins Resolutionsentwurf wurde die Notwendigkeit betont, „eine umfassende allgemeinverständliche sozialdemokratische Literatur für alle Schichten der Bevölkerung und insbesondere für die Massen >der Arbeiterklasse zu schaffen". (Lenin 6, 471) 54 Obwohl in diesen Dokumenten noch nicht von der Belletristik gesprochen wurde, so bezeugen doch die in der Iskra behandelten Probleme der Kunst und Literatur, daß auch das künstlerische Wort in die Agitationsarbeit der Partei einbezogen wurde. Erstmalig wurde auf ihren Seiten Gorki als ein „weltberühmter Schriftsteller" bezeichnet.55 Die Iskra leistete einen ersten Beitrag zur Erschließung jener „Weltbedeutung . . . , die gegenwärtig die russische Literatur gewinnt". (Lenin 5, 381) Von ihr sprach Lenin unter Hinweis auf die Verbindung der revolutionären Bewegung mit einer fortgeschrittenen revolutionären Theorie. In 'der Arbeit Parteiorganisation und Parteiliteratur faßte schließlich Lenin das Prinzip der Parteilichkeit als ein Prinzip, das für a l l e Bereiche der Literatur, einschließlich der künstlerischen, verbindlich ist. Und unter diesem Aspekt bestimmte er auch die neue Funktion, die die fortschrittliche russische Literatur im revolutionären Kampf des russischen Proletariats zum Sturz der Ausbeuterordnung zu erfüllen hatte. Diesen Grundsatz bat Lenin nie aus dem Gesichtskreis verloren. Das beweist ein weiteres Dokument jener Zeit, der Beschluß des ZK der SDAPR vom 27. bis 29. Dezember 1913 (9.-11. 1. 1914) über die Prawda, der unter Lenins Leitung angenommen wurde. Als erster Punkt von dreizehn Maßnahmen zur vielseitigeren inhaltlichen Gestaltung der Zeitung heißt es: „Unbedingt mehr Belletristik geben." (LLI 566) Ferner wurde eine stärkere Einbeziehung von Demj an Bedny in die Zeitungs71

arbeit gefordert - der Abdruck von Gedichten und Feuilletons aus seiner Feder. Zu jener Zeit wurden auch Samobytnik, A. Pomorski, D. Odinzow u. a. durch Veröffentlichungen in der Prawda und in anderen Parteizeitungen bekannt. In der Zeit der unmittelbaren Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes wie auch nach dem siegreichen Oktoberumsturz hielt die Redaktion der Prawda - nach der Zerschlagung der Druckerei im Juli 1917 bis zur Oktoberrevolution erschien sie illegal unter dem Namen Proletari, Rabotschi und Rabotschi put - an dieser Tradition fest, wenngleich sich nun entsprechend der neuien Funktion des künstlerischen Wortes Inhalt und Darstellungsweise grundlegend wandelten. Regelmäßig schalteten sich Schriftsteller, vorwiegend Arbeiterdichter, mit ihren Versen in die aktuellen politischen Debatten ein und brachten zugleich das neue revolutionäre Weltgefühl der siegreichen Klasse zum Ausdruck: I. Loginow, I. Sadofjew, W. Kirillow, Ja. Berdnikow. Der meist gedruckte Dichter war Demjan Bedny. Einige seiner satirischen Gedichte erschienen auch unter dem Pseudonym Mushik Wredny (der „gefährliche arme Bauer"). In den Tagen vor und nach dem Oktoberumsturz wurde sein Poem Über den Boden, die Freiheit und das Arbeiterlos in Fortsetzungen veröffentlicht. Es war das seinerzeit beeindruckendste literarische Zeugnis des historischen Kampfes der revolutionären Massen um ihre Befreiung am Vorabend des Roten Oktober. Bednys Dichtungen hatten eine nachhaltige Wirkung auf die junge sowjetische Lyrik. In den literarischen Kämpfen jener Zeit trat Bedny, Dichter und Publizist, als ein leidenschaftlicher parteilicher Verfechter einer kämpferischen, volksverbundenen Dichtkunst auf. 56 * In Anbetracht des Analphabetentums entwickelten sich zahlreiche neue Formen der Kommunikation von Autor und Leser. Das gedruckte Wort in den Zeitungen - auch die Gedichte und Feuilletons - erreichte vielerorts seine eigentliche Bestimmung zunächst nur über den mündlichen Vortrag. Bednys Poem, auf Soldatenmeetings verlesen, verdeutlicht exem* Als Lesehilfe wurden die Ziffern durch einen Stern gekennzeichnet, die sowohl Literatur- oder Quellennachweise als auch Sachanmerkungen enthalten.

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plarisch solche vor der Revolution unvorstellbaren neuen Mittel und Möglichkeiten, Massenwirksamkeit selbst unter den Bedingungen von Analphabetentum und beschränkter Verteilung zu erreichen. Das Mitteilungsbedürfnis der revolutionären Kämpfer über das soeben Durchlebte wuchs. Oft kaum des Lesens und Schreibens kundig, brachten sie, mit ungelenker Hand Buchstaben neben Buchstaben setzend, gereimte un d ungereimte Verse zu Papier und trugen sie wie ein kostbares Gut in die Redaktionen, in der Hoffnung, gedruckt zu werden. So berichtete Serafimowitsch, vom Moskauer Sowjet zum Chefredakteur der Literatur- und Kunstzeitschrift Twortschestwo ernannt, von einem ausgemergelten Soldaten, der ihm in der Redaktion ein Stück Packpapier mit nur mühselig zu entziffernden Worten überreichte. Der Strom solcher literarischen Erstlinge, häufig in Versform verfaßter Korrespondenzen, riß nicht mehr ab. Während des Bürgerkriegs füllten sie die Spalten der Tageszeitungen und Zeitschriften. Die Redaktion von Twortschestwo sah sich bald zu der Erklärung gezwungen: Infolge des Ansturms von eingesandten Arbeiten, insbesondere von kleineren Artikeln, Gedichten und Korrespondenzberichten, sei sie nicht mehr in der Lage, allen Autoren zu antworten. Bereits im März 1918 hatte sich die Zeitung Krasnaja swesda in ähnlicher Weise geäußert. Die Verfasser von hoffnungslos schlechten Versen sollten über scharfe Kritik nicht beleidigt sein. Verseschreiben ohne Talent sei auch eine Art Krankheit. Nicht gedruckte Verse, die keinerlei Begabung erkennen lassen, würden vernichtet. Die neue Presse betrachtete es als eine ihrer wichtigen Aufgaben, Talente zu wecken, Begabungen zu fördern. Literarische Wettbewerbe waren an der Tagesordnung. Die Prawda druckte am 17. Februar 1918 folgende Mitteilung: Die vom Allrussischen Arbeiter- und Bauernsowjet gegründete Literatur- und Kunstzeitschrift Os buduschtsche) mysli bitte um Einsendung literarischer Werke und Zeichnungen, „die vorwiegend den Charakter des Volksschaffens haben". Die besten sollten gegen Honorar veröffentlicht werden. In der Presse tauchten zahlreiche neue Namen auf. Viele Autoren haben später nicht weitergeschrieben und gerieten in Vergessenheit. Viele fielen im 73

Bürgerkrieg. Ein Großteil von ihnen arbeitete in der Folgezeit als Arbeiter- und Bauernkorrespondenten für die örtliche und zentrale Presse. Bis Mitte der zwanziger Jahre wuchs ihre Zahl auf hundertfünfzigtausend an. Diese Mitarbeit erwies sich häufig fruchtbarer als der Versuch, das Selbsterlebte in Versform aufzuzeichnen. Die meisten der jungen Schriftsteller, die in den zwanziger Jahren bekannt wurden, waren in der Zeit des Kriegskommunismus aus der Schule der Zeitungsarbeit hervorgegangen. Nicht selten waren auch sie mit noch ungelenken Gedichten erstmalig an die Öffentlichkeit getreten. Die Schlußbemerkung aus der redaktionellen Erklärung zum Erscheinen der ersten Nummer der Zeitschrift Twortschestwo bewahrheitete sich: „Einmal hervorgebrochene Schöpferkraft erstarrt nicht mehr. Sie steckt an. Sie ruft ihrerseits neue Schöpferkraft hervor. Dem Leser zu einer solchen schöpferischen ,Ansteckung' zu verhelfen - das ist die Aufgabe." 57 „Die proletarische Revolution hat eine ganze gewaltige Schicht neuer, .nicht zu beschreibender' Menschen hervorgebracht. Diese Menschen lebten vor der Revolution wie kümmerliche Pflanzen dahin. Und jetzt können sie schlecht und recht schreiben und verfassen sogar Verse. Das ist das größte und erhabenste Verdienst unserer Epoche." 58 Soschtschenko sammelte die an ihn im Verlaufe einiger Jahre gerichteten Briefe und Gedichte und veröffentlichte sie im Jahre 1929 mit Kommentaren, „um das wirkliche und unverfälschte Leben zu zeigen, wirkliche lebendige Menschen mit ihren Wünsohen, ihrem Geschmack und ihren Gedanken". Aus ihren Zeilen spreche „echte Tragödie, außergewöhnlicher Verstand, naive Gutmütigkeit, Dummheit, Enthusiasmus, Spießbürgertum, Gaunertum und schreckliches Analphabetentum." 59 Sie fesselten Soschtschenko als ein Stück wahres Leben mit der ganzen Fülle seiner guten und schlechten Seiten und nicht zuletzt auch als ein Zeugnis, wie diese Menschen, die erst wenige Jahre schreiben konnten, ihre Gedanken sprachlich faßten. Gorki rühmte dieses Büchlein als ein Dokument des interessanten Prozesses einer engeren Bindung von Schriftsteller und Leser, Schriftsteller und Leben. (GSP 163) Fragen der Literatur und Kunst wurden seinerzeit fast in 74

der gesamten Presse - in den örtlichen Zeitungen wie auch in den Armeezeitungen - behandelt. Selbst Zeitungen mit einem spezifisch ökonomischen oder beruflichen Profil hatten zumeist eine Abteilung für Belletristik und Kunstkritik. Diese Erscheinung ist offensichtlich „aus dem enormen Drang der Massen zum künstlerischen Schaffen zu erklären, häufig auch aus dem Bemühen der Redaktionen, die Zeitschriften .lebendiger' zu gestalten"60. Hatten die spontanen poetischen und publizistischen Äußerungen vieler Autoren auch nur geringen literarischen Wert, so war doch ihre Bedeutung für die Entwicklung einer sozialistischen Laienkunst sowie für die Entwicklung neuer Talente, die in den künftigen Jahren das Gesicht der Sowjetliteratur entscheidend bestimmten, außerordentlich groß. Fadejew, Furmanow, der Odessaer Kreis: W. Katajew, Bagrizki, Ilf und Petrow, Paustowski, Babel und Olescha, ferner Issakowski, I. Katajew, Platonow, Besymenski und viele andere begannen ihr „literarisches" Leben in den Zeitungsredaktionen. Diese waren ihr „Zuhause", ihre „Universität", ihr erstes „Parteilehrjahr", selbst wenn der eine oder andere bereits früher zu schreiben begonnen hatte. Die tagtägliche redaktionelle „Kleinarbeit" war eine hervorragende „Schule der Lebensbeobachtung" (Fedin 262). Künftige Prosaiker übten sich zunächst auch im Verseschreiben. Ihre ersten Vorbilder waren nicht selten D. Bedny, W. Kirillow, I. Filiptschenko, P. Bessalko, A. Gastew, S. Gorodezki - sie hatten in die sozialistische russische Arbeiterdichtung neue Inhalte und Formen eingebracht. Aus dem Streben, dem neuen Weltgefühl der Epoche poetischen Glanz zu verleihen, suchten die „Jungen" zunächst nach Symbolen, allegorischen Bildern, allumfassenden Metaphern, deren Motive Natur und Kosmos, der griechischen und christlichen Mythologie, der Revolutionsgeschichte entlehnt waren. Das spezifische Klima der Zeitungredaktionen in den Jahren des Kriegskommunismus wurde in einigen Erzählungen der zwanziger Jahre der Nachwelt überliefert. In der liebenswerten Gestalt des Dichters Gulewitsch aus der Novelle Der Poet (1928) setzte Iwan Katejew diesem neuen Dichtertyp ein bleibendes Denkmal, der in den Redaktionen der Armeezeitungen geformt wurde und in sich den Widerspruch zwischen poeti75

schem Höhenflug und tagtäglicher Zeitungsaribeit austrug. Konstantin Paustowskis Erzählung Reporter Krys (1922) beschreibt den schwierigen Neuanfang „im Lande der Revolution, der Kälte und der Helden" - die bis zur Selbstaufopferung gehende Begeisterung für eine kleine Aufgabe im Namen der großen Revolution: „Sowjetischer Journalist sein bedeutet, das Leben einfangen, es Tag für Tag in die bleiernen Satzspalten bannen, es unter die Massen, in die Städte und Dörfer, auf die entlegensten Bahnhöfe, in die Fabriken und auf die Schiffsdecke bringen und Spannung, Zorn, Freude, Aktionen auslösen. Und idas alles, obwohl man weiß, daß man morgen den neuen Tag mit ebensolchen Zeilen einfangen muß, daß eine Zeitung nur einen Tag lebt, daß das Gestern bereits verklungen ist und ein neues, ohrenbetäubendes Heute heran drängt. Auch Krys aus Peressyp, der Brandreporter des Stanok, wußte von diesem seltenen Glück." 61 Nur wenige Monate nach dem Roten Oktober wurden die ersten neuen Literaturzeitschriften gegründet. Zunächst übernahmen sie noch viele Gepflogenheiten aus der Zeitungsarbeit: Die von ihrer Arbeit besessenen Redakteure, materiell zumeist kaum sichergestellt, wohnten in den Redaktionen. Pläne, über mehrere Nummern reichende Vorstellungen, gab es noch nicht. Man lebte von Heft zu Heft, wie die Beiträge gerade eingingen. Die Redakteure schrieben für eine Nummer mehrere Artikel unter verschiedenen Namen. Die literarischen Werke trugen den Stempel des unmittelbar gestalteten Zeiterlebnisses. In den Kultur- und Kunstdebatten gerieten die Zukunftsvorstellungen zu den Erfordernissen des Revolutionsalltags in Widerspruch. Während jedoch die Tageszeitungen vorrangig den aktuellen politischen Ereignissen gewidmet waren und schon allein aus diesem Grund, wie wir am Beispiel der Prawda sahen, allgemeine Erörterungen über die neue Kultur und Kunst auf die Dauer nicht ergiebig waren, setzte sich diese Erfahrung in den ersten neuen Literaturzeitschriften erst später durch. Selbst in einer so interessanten Zeitschrift wie Twortschestwo ging allmählich immer sichtbarer die Verbindung zur Revolutionswirklichkeit verloren, aus der gerade die Massenkunst der Bürgerkriegsepoche ihre stärksten Impulse und Wirkungsmöglichkeiten schöpfte. 76

Ihr Erscheinen wie das einiger anderer seinerzeit gegründeter Zeitschriften wurde nach einigen Jahren eingestellt. An ihre Stelle traten neue, umfangreiche Zeitschriften, die im literarischen Leiben der zwanziger Jahre eine bedeutende Rolle spielten. Ihr Profil wurde von dem zunehmenden Reichtum an literarischen Werken bestimmt, während 1917-1921 die Literaturdebatte, Zukunftsvorstellungen von der neuen Kunst überwogen. In Rußlands Literaturbewegung war trotz aller Anfangsschwierigkeiten etwas völlig Neues im Entstehen. Das Bedeutendste an diesem Vorgang innerhalb der Journalistik war die Herausbildung einer neuen Auffassung von Literatur, das Bewußtwerden ihrer neuen Funktion - ein Prozeß, der sich über mehrere Jahre erstreckte und von heftigen Geburtswehen begleitet war. Im literarischen Leben Rußlands hatten die literarischen Zeitschriften und Almanache stets eine große Bedeutung. Viele bleibende Zeugnisse der russischen Literatur wurden in ihnen erstmalig gedruckt. Die politischen, philosophischen und ästhetischen Auseinandersetzungen der Zeit wurden auf ihren Seiten ausgetragen. Um sie gruppierten sich bestimmte literarische Richtungen. Die fortschrittliche Literaturbewegung verdankte ihre große öffentliche Wirkung vornehmlich ihnen. Nur aus dieser Praxis der russischen Berufsschriftsteller heraus wird der ganze Umfang der „Katastrophe" verständlich, der sich die meisten von ihnen in den Jahren 1917-1918 plötzlich konfrontiert sahen. Die alte russische Journalistik - mit Ausnahme der bolschewistischen Parteipresse - befand sich eindeutig auf der Seite der Konterrevolution. Alle verzweifelten Versuche, durch neue Zeitschriften oder die Herausgabe von nach außen hin politisch nicht gebundenen Sammelbänden die Beschlüsse des Revolutionären Pressetribunals zu umgehen, waren im Sommer 1918, in einer der schwierigsten Situationen des jungen Sowjetlandes, endgültig zum Scheitern verurteilt. Alle noch großzügig geduldeten antisowjetischen Organe wurden eingestellt.62 Dadurch verstärkte sich in den Kreisen der Berufsschriftsteller die Überzeugung, „daß das Leben eins, die Literatur ein anderes sei. Das Leben war der Krieg, die Revolution das Brot, das Brennholz. Doch was war die Literatur?... 77

. . . neben den Berufsliteraten, die der Ansicht waren, daß die Literatur tot sei, und auf diese Weise sich selbst entweder zu den Toten oder zu den Unsterblichen zählten, griffen während der Revolution ungeahnt viele Menschen, ¡besonders junge, zur Feder, und zwar zu Zwecken, die mit den Überlegungen der Berufsliteraten in beiner Weise übereinstimmten..., weil sie von dem Bedürfnis gedrängt wurden, ihren Lebenserfahrungen einen Sinn zu geben, obwohl sie sich der Natur ihrer Beweggründe selten bewußt waren, besonders, wenn sie mit iden höheren Forderungen der Kunst zusammenstießen." (FedLn 424-425) Auf Grund der eigenen Erfahrung bezeugte Fedin, welche Momente einer neuartigen Berührung mit der Revolutionswirklichkeit ihn seinerzeit als Schriftsteller geformt hatten. Die „Episode von Sysran" war der ¡Beginn seiner literarischen Laufbahn. Für diejenigen, die schließlich im Schreiben ihre Berufung sahen, für die Literatur und Kampf um die Sowjetmacht ein und 'dasselbe waren, begann ein nicht leichter Weg. Schwer war nicht allein der Weg zu literarischer Meisterschaft, der von Babel so eindrucksvoll beschriebene Kampf mit den Tatisachen, von denen jode für s,ich genommen so fesselnd war, daß sie wert war, aufgezeichnet zu werden - das Ganze aber war nicht interessant. Die größte Schwierigkeit war das Auffinden eines klaren ästhetischen Programms - das Einordnen in den von nooh vielen Ungereimtheiten, Illusionen, Widersprüchen geprägten Literaturprozeß, das Mitbestimmen seines Profils. Das Erreichen künstlerischer Reife in Übereinstimmung mit den von der Revolution gestellten nieuen Aufgaben war in der Tat nicht konfliktlos, nicht einfach. Das lag nicht nur am subjektiven Vermögen, am literarischen Talent, an der ideologischen Klarheit des einzelnen. Die literarischen Gruppierungen, die unter verschiedenen Losungen der Revolution dienen wollten, dabei häufig das Wesen der Revolution und ihre Bedeutung für die Kunst einseitig interpretierten, bestimmten zunächst weitgehend die Meinungsbildung in der Öffentlichkeit. Die Schriftsteller, die das Gewehr mit der Feder vertauschten, wurden mit einer völlig neuen Situation konfrontiert. Die Kampffronten waren nicht mehr so klar markiert. Man stritt um die n e u e Kunst, um Programme, Mittel und Formen. Herrschte über das Ziel Einverständnis, so waren die Wege 78

zu diesem Ziel heiß umstritten. Extreme Auffassungen rieben sich aneinander Die Gefahr einer sich vertiefenden Kluft zwischen Revolutionswirklichkeit, gesellschaftlichem Anspruch an die Kunst und Kunstprogrammatik wurde von vielen nicht •rechtzeitig erkannt. Und manch ein Schriftsteller brauchte Jahre, bis er bei der Selbstüberprüfung des eigenen Weges voller Überzeugung sagen konnte: „Mein Charakter als Mensch, meine Arbeit, das, was ich lehre und wohin ich lenken möchte, ist . . . ein Bestandteil des Aufbaus der sozialistischen Kultur, an der ich mitwirke."63

Tempel oder Fabrik In der Zeit des Kriegskommunismus erhöben vornehmlich zwei Richtungen jeweils für sich den Anspruch, die neue proletarische Kultur und Kunst zu vertreten: der Proletkult und die sogenannten Linken, häufig auch einfach Futuristen genannt, obwohl sich Majakowski und seine engsten Freunde von der vor 19l7 entstandenen futuristischen Bewegung in einigen Grundfragen wesentlich unterschieden. Die Anhänger beider Gruppen bekämpften sich in der Presse und auf öffentlichen Foren sehr heftig. Ihre Ansichten berührten sich jedoch in einigen Punkten mehr, als das ihnen bewußt war. Die Kunstdebatte der kommenden Jahre erbrachte den Beweis. In der ersten nachrevolutionären Phase, von Lunatscharski treffend als die „Plakat- und Meetingperiode" bezeichnet, ergab sich für die „Linken" auf allen Gebieten der Kunst zunächst ein sehr vielfältiges und reiches Betätigungsfeld. Die Verbindung von Dichtkunst, bildender Kunst und Theaterkunst eröffnete ungeahnte Möglichkeiten zur Revolutionierung der künstlerischen Ausdrucksformen. In der Kunstgeschichte gab es tatsächlich kaum eine Epoche, in der so fruchtbare Neuansätze aus den engen Wechselbeziehungen aller Kunstarten gewonnen wurden. Wort, Gestik, Pantomime, Bühnenbild, Plakat, Musik, Farbe, Monumentalikunst, später auch die Fotomontage (der Film wurde erst in den zwanziger Jahren von dieser Entwicklung erfaßt) zielten als Ganzes auf eine geballte agitatorische Wirkung unter den Massen. Das Streben der „Linken", auf 79

diese Weise die alten Kunstformen und -einrichtungen zu sprengen, war durchaus Ausdruck einer schöpferischen Beziehung zur neuen Wirklichkeit. Die von Majakowski, Kamenski und Burljuk am 15. März 1918 unterzeichnete Deklaration, Dekret Nr. 1 über die Demokratisierung der Künste - Zaunmalerei und Wandmalerei, erhob eine neue ästhetische Richtung zum Programm der sozialistischen Kunst. Unter der Losung: „Mögen die Straßen zum Feiertag der Kunst für alle werden", vereinigten sich Futuristen, Suprematisten, Konstruktivisten u. a. 64 Das Provokative gegen den bisherigen Umgang mit Kunst drückte der öffentlichen Schaustellung künstlerischer Betätigung und den neuen Formgebungen seinen Stempel auf. Die bürgerliche Kunst, so sagte man, blühte nur „um den heimischen Herd". Bislang waren bedeutende Kunstwerke nur wenigen Betrachtern, vornehmlich den Besitzern, zugänglich. Die Revolution hatte den Kunstschaffenden eine völlig neue Richtung gewiesen: „Die dekorative Ausstattung der Gebäude, Wandmalerei, effektvolle Gruppierung der Göbäude lenken die Schaffenskraft der Künstler auf einen neuen Weg. Mehr noch: Die Kunst dringt aus den vier Wänden auf die Straße."65 Schönheit nicht mehr für einen einzelnen, Schönheit für die ganze Stadt - aber Schönheit .und Harmonie nicht im klassischen Sinn. Man sah ,sie in den „dekorativen Möglichkeiten, die die mit farbigen Flächen und Blöcken operierende gegenstandslose Kunst"66 auszuschöpfen suchte. Das Leben werde nach Tagen gemessen. Die Revolutionsepoche sei keine Zeit monumentaler künstlerischer Vorhaben, die eine ruhige Synthese erfordern. Die Literatur werde als führende Kunstart von der Architektur und Plastik abgelöst. Auf der Spitze der Pyramide einer solchen einmaligen Kunst erhöbe sich „der stolze, freie Bezwinger des Weltalls, der Erbauer dies Kosmos, der titanische Mensch, der Gott-Mensch, der Sohn des Lichtbringers Prometheus"67. Diese Kunstauffassung sah sich auch in Gastews freien Gesängen Poesie des Arbeitsschlags bestätigt - in der Darstellung der Maschinen als „Mittel zur Umgestaltung und Umstülpung des Weltalls, als Symbol eines allmächtigen .Arbeiter-Schöpfer-Menschen'"68. Der 1. Mai 1918 war der erste öffentliche Test solcher gemeinsamen Bemühungen: „Viele Plätze und Straßen der Stadt 80

sind geschmückt, teilweise imit großem Geschmack, der den Organisatoren, Künstlern, zur Ehre gereicht. Plakate. Sicher, ich bin fest überzeugt, die Plakate -werden Unwillen hervorrufen. Es ist ja auch so leicht, die Futuristen zu beschimpfen. Im Grunde blieben vom Kubismus und Futurismus nur die Exaktheit und das Großflächige der allgemeinen Form sowie die grellen Farben, die für die Malerei unter freiem Himmel, bestimmt für einen gigantischen hunderttausendköpfigen Betrachter, so wichtig sind. Und mit welcher Begeisterung ging die künstlerische Jugend an diese Aufgabe heran. Viele haben vierzehn bis fünfzehn Stunden hintereinander, ohne sich aufzurichten, an riesigen Leinwänden gearbeitet. Sie malten einen Arbeiterriesen und einen Bauernriesen und setzten dann in deutlichen Buchstaben darunter: ,Das Rote Petrograd geben wir nicht auf!' oder ,Die ganze Macht den Sowjets 1"' Lunatscharski sprach in diesem Zusammenhang von einer Verschmelzung des Suchens der jungen Künstler mit dem Suchen der Menge nach einem neuen Ausdruck des «evolutionären Weltgefühls. Selbst wenn noch nicht alles befriedigte, so komme bereits „etwas Großes und Erfreuliches in Bewegung"69. Besonders beeindruckte Lunatscharski die Aufführung von Mozarts Requiem in einem Saal des Winterpalais, die tiefe Ergriffenheit, mit der diese Musik aufgenommen wurde. Zuvor hatte er einige einführende Worte über das Werk, über Mozart gesprochen, über das neue Verhältnis zum Tod, über den Triumph der menschlichen Persönlichkeit durch den historischen Sieg der Idee der Menschlichkeit. „Wir gedenken der Opfer der Revolution in einer wahrhaft würdigen Weise"70, schlußfolgerte Lunatscharski aus dieser einzigartigen Verbindung alter Kunst mit dem Inhalt der proletarischen Revolution. Neue Kunst und klassische Musik, Meetings und Laienkunst gestalteten den 1. Mai zu einem wahren Festtag des befreiten Volkes. Auf den ersten Jahrestag der Oktoberrevolution ¡bereiteten sich die Künstler mit noch größerem Elan vor. In Petrograd inszenierten Meyerhold und Majakowski Mysterium buffo, von Majakowski als die „heroische, epische und satirische Darstellung" der Epoche angekündigt. Die Großstädte waren mit 6

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Tausenden Metern Leinwand ausgeschmückt, die mit ihren Losungen und grellen Farben den Straßen und Plätzen ein neues - revolutionsgemäßes - Antlitz verleihen sollten. Altmann hatte allein über fünfzehntausend Meter Stoff mit der Hand bemalt und unter anderem die Alexander^Säule auf dem retrograder Schloßplatz durch neue Form- und Farbgdbung völlig verwandelt. Diese Verkleidung war ein symbolischer „revolutionärer" Akt zur Zerstörung der althergebrachten Kunstformen unid der Denkmäler der alten Zeit. Das ä u ß e r e Bild der Oktoberfeiern wurde somit von den „Linken" bestimmt. Ihr I n h a l t war jedoch weitaus reicher und vielfältiger, aber davon wind noch zu sprechen sein. Diese Form der Kunstäußerungen zur Ausgestaltung des Revolutionsfeiertages des Volkes wucde zum Gegenstand heftiger Debatten. Die Angriffe kamen interessanterweise nicht nur von selten der Vertreter einer realistischen Kunst. Sie wurden auch von ultralinken Positionen geführt und veranschaulichten die komplizierte Verquickung von kühnem Experiment mit Elementen einer Kunstrevolte. In dem Artikel Zu den Ergebnissen der Oktoberfestlichkeiten, mit N. P. - vermutlich N. Punin - unterzeichnet, wurde die Ausschmückung der Stadt mit alten Gewohnheiten und Gepflogenheiten zu den „Zarentagen" verglichen. Das Sich-Ergötzen an solchen Verschönerungen sei ein Überbleibsel der alten Zeit. Die „Methode der Zerstörung" solcher Traditionen habe man nicht konsequent genug angewandt. Ausnahmen seien lediglich der Urdzki-Platz - Baumreihen wunden in eine glatte Fläche verwandelt - und der umgestaltete Sockel der Alexander-Säule.71 Auf einem Forum (24. 11. 1918) zum Thema Tempel oder Fabrik unter der Leitung von D. Sterenberg entwickelte N. Punin ein Programm, das unter dem Begriff „Produktionskunst" in den folgenden Jahren wiederholt zur Debatte stand und vom 1924 gegründeten Literaturzentrum der Konstruktivisten LZK - in abgewandelter Form zum ästhetischen Credo erhoben wurde: „Noch ist es verfrüht, von proletarischer Kunst zu sprechen. Sie gibt es noch nicht. Aber sie kommt... Das künsderische Verständnis des Proletariats prägt das uns umgebende gesamte Alltagsleben. Die bürgerlichen Künstler ent82

warfen nur Verschönerungen. Für sie arbeiteten die Arbeiter. Die Arbeiter schufen ihrerseits die Dinge. Sie haben ein praktisches Verständnis für die Gegenstände. Es muß eine völlig neue Kunstära anbrechen. Das Proletariat schafft neue Häuser, neue Straßen, neue Gelbrauchsgegenstände." In der Zeit des Kollektivismus seien die alten Formen der Produktion und Konsumtion von Kunst nicht mehr brauchbar. Im Zeichen der allgemeinen Veränderungen müßten sich auch die künstlerischen Gepflogenheiten von Grund auf wandeln. Für das Proletariat sei die Kunst kein heiliger Tempel, den es als passiver Betrachter betritt, sondern die Aribeit, die Fabrik, die für alle Kunstgegenstände produziert. Majakowski griff diesen Gedanken auf: „Die Kunst soll nicht in toten Tempeln - Museen konzentriert sein, sondern überall - auf Straßen, in Straßenbahnen, Fabriken, Werkstätten und Arbeiterwohnungen."72 Ihre erste Nummer vom 7. 12. 1918 eröffnete die Zeitung Iskusstwo kommuny mit Majakowskis Gedicht Befehl an die Armee der Kunst. Vier Verszeilen wurden zur Losung der sich zu ihrem Programm bekennenden Künstler: „Die Straßen sind unsere Pinsel. / Die Plätze unsere Paletten . . . [ Auf die Straßen Futuristen/Trommler und Poeten!" Während Majakowski in den folgernden Jahren, ohne die Bindung zu seinen Freunden aufzugeben, vornehmlich durch die Praxis der ROSTA-Fenster 73 - üiber die Einbringung des Alltags ins Gedicht - die linken Überspitzungen überwand und eine neue Synthese von proletarischer Kulturprogrammatik und sozialistischem Humanismus anstrebte, verfestigten sich in den Kreisen der „linken" bildenden Künstler die Modellvorstellungen von einer reinen „Produktionskunst". Institute zu ihrer Entwicklung wurden gefordert. Die durchaus positiven Ansätze zur Förderung der angewandten Kunst, angepaßt an die neuen Bedürfnisse der Massen, waren unter den gegebenen schwierigen materiellen Bedingungen kaum zu verwirklichen. Die Hauptgefahr der mit Nachdruck verfochtenen Grundthese Punins, Briks und anderer - nur die geschaffenen materiellen Dinge seien die Kunstwerke der Zukunft - lag in dem radikalen Bruch mit der gesamten überlieferten Kunst und in der aggressiven Frontstellung gegen alle Bemühungen um eine 6»

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realistische Kunst, die aus dem Wesen und Inhalt der Revolutionsepoche neue Darstellungs weisen ableitete. Die Losung eines bevorstehenden „Oktobers der proletarischen Kunst", in Meyerholds Theorie vom „Theater-Oktober" auch auf das Theaterleben übertragen, bedeutete nichts anderes als die Tabula-rasa-Theorie, zu der sich anfangs auch Majakowski bekannte, obwohl er bereits zu jener Zeit sein Verhältnis zum Erbe zu überprüfen begann: „Für den Bau der neuen Kultur ist eine Tabula rasa erforderlich... Da erweist sich der Oktoberbesen als unentbehrlich." (WWM 4, 44) Die Iskusstwo kommuny wurde als Ausgabe der Abteilung für bildende Kunst beim Volkskommissariat für Bildungswesen angekündigt. Die erste Nummer erschien ohne klare Konzeption, ohne einen festen Redaktionsstab. (NM 581-582) Ein Konflikt mit dem Programm und den Aufgaben des Volkskommissariats war unausbleiblich. Am 29. Dezember 1918 druckte die Zeitung Lunatscharskis Artikel Ein Löffel Gegengift. Der Volkskommissar verwies auf den eklatanten Widerspruch zwischen den gewaltigen Anstrengungen aller staatlichen und parteilichen Institutionen zum Schutze der Kunstschätze und dem Sachverhalt, daß „ein offizielles Organ 'Unseres Kommissariats die gesamten künstlerischen Werte von Adam bis Majakowski als einen Haufen Gerümpel darstellt, der zu zerstören sei". Die Futuristen seien zwar unter den ersten Künstlern gewesen, die der Revolution geholfen und sich als gute Organisatoren erwiesen haben. Zutiefst beunruhigten ihn jedoch zwei Tendenzen der neuen Zeitung - „die zerstörerischen Neigungen im Verhältnis zur Vergangenheit und das Bestreben, im Namen einer bestimmten Schule zu sprechen und gleichzeitig im Namen der Macht aufzutreten". (AVL 2, 206-208) Am gleichen Tage kam es auf einem Forum im LassalleHaus Über die alte und die neue Kunst zur öffentlichen Konfrontation zwischen Punin und Lunatscharski. Punin räumte ein, die neue Kunst kämpfe gegen die alte, nicht weil sie schlecht sei, nicht weil sie nicht als historisches Material dienen könne, sondern weil sie Einfluß auf die neue Kunst beanspruche. Er rief daher auf, mit dem ehrfürchtigen Verhalten gegenüber den Denkmälern der Vergangenheit endgültig zu 84

brechen, damit die Jungen zusammen mit dem Proletariat die große künstlerische Kultur der Zukunft schaffen könnten. Lunatscharski lehnte eine so schroffe Gegenüberstellung von alter und neuer Kunst, von allen bisherigen künstlerischen Schulen und dem Futurismus kategorisch ab. Im Sinne der Leninschen Theorie von den zwei Kulturen innerhalb jeder Nationalkultur forderte er ein differenziertes Herangehen an das gesamte kulturelle Eribe. Die Sowjetmacht lasse die alten Denkmäler von niemandem zerstören. Sie sei überzeugt, daß das Proletariat ihr das zu danken wisse und von all dem, was sorgsam bewahrt wurde, das auswählen werde, was es zum Aufbau der neuen Kultur brauche. Entschieden distanzierte er sich vom Programm der Futuristen. Man dürfe nicht vergessen, unter welchen Voraussetzungen diese Richtung seinerzeit entstanden war: „Wenn man vom Futurismus insgesamt nicht als von einer proletarischen Kunst sprechen kann, so kann man doch von einigen Künstlern der futuristischen Richtung sagen, daß sie dem Proletariat nahestehen."74 In Lunatscharskis Verhalten Majakowskis gegenüber, das durchaus nicht unkritisch war, wie der Artikel Ein Löffel Gegengift beweist, zeigten sich auch in den folgenden Jahren stets das aufrichtige Bemühen, alle Ansätze einer neuen ästhetischen Grundposition zur künstlerischen Bewältigung der neuen Wirklichkeit zu fördern, und aufrichtige Freude ü'ber alle literarischen Erfolge. Mit der 19. Nummer vom 13. April 1919 stellte die Zeitung ihr Erscheinen ein. Der Widerspruch zur gesamten Kulturpolitik des Volkskommissariats für Bildungswesen war auf die Dauer nicht mehr vertretbar. Ein ähnlicher Konflikt reifte zwischen dem Volkskommissar und der ihm unterstellten Theatera'bteilung unter der Leitung von Meyerhold heran. In Meyerholds Inszenierung von Majakowskis Mysterium buffo - die Dekorationen schuf der Suprematist K. Malewitsch - wurden „Plakat und Meeting" in die Theatersprache übersetzt. Ferner nahm sie bereits fünf Jahre vor Eisensteins berühmtem Artikel Montage und Attraktionen einige wesentliche Elemente der Montage solcher zum Teil aus der Zirkuskunst übernommenen Attraktionen - Harlekinade, Monologe, akrobatische Tricks, Meeting, Posse u. ä. - vorweg.75 Luna85

tscharski, aufgeschlossen gegenüber allen Experimenten einer neuen Kunst, stellte sich seinerzeit in dem hitzigen Meinungsstreit um Stück und Aufführung auf die Seite Majakowskis und Meyerholds. Unverkennbar ließen aber auch sie sich von dem Wunsch leiten, „das gesamte ästhetische System des alten Theaters, ,bis auf den Grund' zu zerstören"76. Das Programmatische der Meyerholdschen Konzeption offenbarte sich in der Konfrontation zu den Akademischen Theatern auf einer Theaterberatung im Volkskommissariat am 12. Dezember 1918, fünf Wochen nach der umstrittenen Aufführung von Mysterium buffo. Meyerhold forderte von allen Theatern unverzüglich radikale Veränderungen in bezug aiuf eine politische Aktivierung von Repertoire und Inszenierung und stieß dabei auf den Widerstand von Nemirowitsch-Dantschenko und Stanislawski, die sich seinerzeit noch gegenüber allen Neuerungen im Theaterleben verschlossen und vor übereilten Schritten warnten. Zwischen Jushin und Lunatscharski spitzte sich die Debatte um die Frage der Autonomie des Theaters zu. Lunatscharski bestand auf dem Recht der staatlichen Leitung schon allein deshalb, weil der Staat die Theater finanziert. Ferner vertrat er die Auffassung, daß auch die staatlichen Theater ihr Repertoire erneuern und um neue künstlerische Wege ringen müßten. Er versicherte sie jeglicher Unterstützung seitens des Volkskommissariats. Dennoch verhärteten sich die „Fronten", nicht zuletzt durch heftige Attacken der „Linken" gegen die Akademischen Theater und durch Meyerholds forcierte Propagierung einer unausbleiblichen Revolution im Theater, dem „Theater-Oktober", auf den Seiten des Westnik teatra, des offiziellen Organs der Theaterabteilung des Volkskommissariats.77 Lunatscharski, in ¡seiner Eigenschaft als Volkskommissar für das Bildungswesen auch für das gesamte Theaterwesen verantwortlich, legte in einem offiziellen Dokument vom 20. November 1920 nochmals die beiden Hauptaufgaben der Sowjetmacht auf dem Gebiet des Theaters fest: erstens Förderung eines revolutionären Theaters für die Massen und Hebung seines künstlerischen, kulturellen und politischen Niveaus sowie zweitens Unterstützung der besten Theater aus der vorrevolutionären Zeit, die auf Grund ihrer guten künstlerischen Traditionen der be86

sonderen Fürsorge des Staates bedürfen. Gleichzeitig verfügte Lunatscharski: Meyerhold unterstehen als Leiter der Theaterabteilung alle russischen Theater mit Ausnahme der Staatlichen Akademischen Theater in Petrograd und Moskau - letztere wurden unmittelbar dem Volkskommissar unterstellt. Lunatscharski wollte auf diese Weise voreiligen Eingriffen Meyerholds vorbeugen, die nicht mit den allgemeinen staatlichen Richtlinien übereinstimmten. Lunatscharski erinnerte sich später, 'daß er sich gerade in dieser Frage mit Lenin beraten habe. Das Repertoire des Akademischen Theaters sei zwar alt, aber das proletarische Publikum besuche gerne diese Aufführungen. Und wie 'das Publikum, so werden sich allmählich auch die konservativen Theater verändern. Einen radikalen Bruch halte er, Lunatscharski, für gefährlich, zumal die „linken" Kräfte im Theaterleben jegliche Kontinuität, das Anknüpfen an die fruchtbaren Traditionen der Vergangenheit entschieden negierten. Lenin meinte, Lunatscharski solle darüber nur nicht vergessen, „auch das Neue zu unterstützen, das unter dem Einfluß der Revolution entsteht. Mag es anfangs auch noch schwach sein. Hier kann man nicht nur ästhetische Urteile fällen, sonst hemmt die alte, reifere Kunst die Entwicklung einer neuen. Sie selbst wird sich wohl auch verändern, aber um so langsamer, je geringer die Konkurrenz junger Erscheinungen sie anspornt." (AVL 3, 465)78 Mit dem Ende des Kriegskommunismus und dem Beginn der NÖP-Periode mußte sich auch die Agitationskunst der ersten Revolution&jahre auf neue Aufgaben umstellen. Die tieferen Zusammenhänge dieser Veränderungen, die innerhalb der gesamten Kultur in Übereinstimmung mit dien gesamtstaatlichen und ökonomischen Prozessen vor sich gingen, werden im nächsten Kapitel noch ausführlicher dargelegt. Hier sei nur vermerkt, daß Lunatscharski am 1. Mai 1921 Meyerhold von seinem Posten als Leiter der Theateräbteilung entband. Im August wurde auch das Erscheinen der Zeitung Westnik teatra eingestellt. Lunatscharski erläuterte diesen Schritt: „Der begeisterte Wsewolod Emilewitsch setzte sich sofort auf das Streitroß futuristischen Typs und führte die Anhänger des ,Theater-Oktoiber' zum Sturm gegen die .konterre87

volutionären' Festungen des Akademismus. Bei aller Vorliebe für Meyerhold mußte ich mich von ihm trennen. Eime so einseitige Politik widersprach nicht nur meinen Auffassungen. Sie widersprach auch den Auffassungen der Partei. Es lohnt sich daran zu erinnern, daß 'die Umstände der damaligen Zeit überhaupt den linken Künstlern, zum Beispiel auf dem Gebiet der bildenden Kunst, die Möglichkeit gaben, in gewisser Hinsicht eine Art Halbdiktatur auszuüben, und daß das Zentralkomitee der Partei in einem besonderen Beschluß das Mißverhältnis zwischen den futuristischen 'künstlerischen Formen und den wirklichen Anforderungen des nachrevolutionären gesellschaftlichen Lebens darlegte... Jedenfalls mußte ich, das möchte ich wiederholen, in voller Übereinstimmung mit dem Kollegium des Volkskommissariats und mit den Direktiven der Partei, die extreme Linie Meyerholds vom staatlich-administrativen Standpunkt für nicht länger vertretbar anerkennen."^ Die Entbindung Meyerholds von seiner staatlichen Funktion zog in keiner Weise Beschränkungen seiner Regiearbeit nach sich. Lunatscharski verfolgte weiterhin mit großem Interesse seine Inszenierungen. Er verteidigte ihn gegen einseitige Kritiken, ohne die Grenzen seiner künstlerischen Experimente zu übersehen.80 1923 wurde Meyerhold als einer der ersten mit dem Titel Volkskünstler der RSFSR ausgezeichnet. Dieselbe Linie verfolgte das Volkskommissariat gegenüber allen Experimenten der „linken" Künstler. Es war stets bestrebt, ihre Bemühungen um eine neue revolutionäre Kunst so weit zu fördern, wie sie der Revolution Nutzen bringen konnten. 81

Massenkunst und Proletkult Zu gleicher Zeit, als die „Linken", trotz gravierender Unterschiede ihrer ästhetischen Programme häufig summarisch als Futuristen bezeichnet, mit viel Elan und ehrlicher Begeisterung versuchten, mit den Mitteln der Kunst das Antlitz der Städte zu „revolutionieren", entwickelte sich der Proletkult zu einer weitverzweigten Organisation, deren Einfluß nach der Okto88

berrevolution sprunghaft unter dien werktätigen Massen anstieg. Beide Richtungen haben zweifellos, wenn auch unter verschiedenen Voraussetzungen .und mit unterschiedlicher Zielsetzung, trotz gegenseitger scharfer Angriffe, der jungen revolutionären Kunstentwicklung wesentliche Imulse verliehen, indem sie sich um eine M a s s e n k u n s t bemühten. Den „Linken" fehlte allerdings jede Massenbasis, die der Proletkult anfangs hatte. Allein schon der große Zustrom zu den Proletkult-Studios legte die Vermutung nahe, daß mit dem Proletkult jene neue Bewegung verbunden war, in der sich die siegreiche Klasse erstmalig als Schöpfer der neuen Literatur und Kunst bewußt wurde. Er konnte sich auf die großzügige Förderung der staatlichen Organe stützen. Lunatsdharski war in den ersten nachrevolutionären Jahren den Proletkult-Einrichtungen gegenüber äußerst aufgeschlossen. Ihnen wurden zahlreiche konfiszierte Adelspaläste und Villen der 'Großbourgeoisie übergeben als „Stätten für Versammlungen, Konzerte und Beratungen eben der Bevölkerungsklassen . . . , die dafür arbeiteten, daß diese Paläste errichtet weiden konnten, die diese Paläste im Verlauf von Jahrhunderten errichteten und die man nicht einmal auf eine Werst an diese Paläste heranließ 1". (Lenin 29, 23) Am 6. November 1918 nahm Lenin an einer Veranstaltung des Moskauer Proletbult zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution teil. In seinen kurzen Begrüßungsworten unterstrich er, daß das Proletariat erst jetzt die Möglichkeit habe, „eine der Stätten der proletarischen Kultur zu besuchen" (LLI 431). Die Kunst, die früher ein Monopol der Bourgeoisie war, liege nun in den Händen des Proletariats. Erst jetzt könne es sich frei schöpferisch betätigen. Der Proletkult erwarb sich seinerzeit bedeutende Verdienste bei der Entwicklung der Laienkunst sowie bei der Heranziehung breiter Bevölikerungsschichten zur Aneignung der Kunst auf neue Art und Weise. Er organisierte unter anderem Lesungen neuer proletarischer Dichtungen, Konzerte, Aufführungen von Revolutionsstücken mit eigenen Kräften und kümmerte sich um die Drucklegung und Verbreitung von Arbeiterliteratur. An der Popularität von Gastews .Gedichtsammlung Poesie des Arbeitsschlags war er maßgeblich beteiligt. Studios zur Entwicklung junger Talente auf dem Gebiet der Dicht89

kunst, Malerei und Bildhauerei wurden eingerichtet. Kunstverständnis und Drang zur schöpferischen Selbstbetätigung, insbesondere auf dem Gebiet des Theaters, wurden bei den Arbeitern geweckt. 1919, im Jahre seiner weitesten Verbreitung, zählte der Proletkult bereits vierhunderttausend Mitglieder. „Zu Tausenden strömte die Jugend in alle möglichen Studios und Schulen... Die Volksmassen durchlebten eine Periode des gierigen In-sich-Aufnehmens der Theateratmosphäre und der Elemente des Theatralischen." (AVL 3, 93) Die Frühformen sozialistischer Laienkunst - Massenaufführungen revolutionärer Stoffe, pantomimische Darstellung der eigenen Revolutionserlebnisse, Agitationsvers und -plakat - erhielten fruchtbare Ansätze einer neuen proletarischen Kunst, in der naive Kunstauffassungen mit abstrakten Zukunftsentwürfen verschmolzen. Bogdanows Schema von einer in der „Retorte" erzeugten „proletarischen Kultur" erwies sich insofern als Hemmnis, als diese unmittelbaren künstlerischen Äußerungen nicht von einem der Revolutionsepoche adäquaten, auf die Praxis orientierten Standpunkt durchdacht und angeleitet werden konnten. Die Nichtbewältigung der gestellten Aufgaben in bezug auf die Entfaltung einer 'breiten künstlerischen Bewegung lag nicht im Prinzip der Förderung junger proletarischer Elemente, nicht im Bemühen um eine neue Laienkunst auf breiter Massenbasis. Die Grenzen lagen im Programm der Arbeit, in ihrer theoretischen Ausrichtung. Die literarische Ernte dieser Bewegung war insgesamt nicht sehr ergiebig82, obgleich einige Namen von Proletkult-Dichtern mit ihren Werken in die frühe Geschichte der Sowjetliteratur eingegangen sind: W. Kirillow, M. Gerassimow, W. Alexandrowski.83 W. Kasin und N. Poletajew standen nur eine kurze Wegstrecke an ihrer Seite. Auf dem Gebiet der Prosa ist lediglich das Romanfragment Kusma Darow von P. Bessalko zu nennen, eine der ersten Darstellungen „eines wirklich heroischen Charakters der Revolutionszeit". Ein Vergleich dieses Werkes mit Pilnjaks zu gleicher Zeit entstandenen Erzählungen über die Revolution, die er später in seinen Roman Das nackte Jahr einmontierte, gibt interessante Aufschlüsse über die verschiedenen ästhetischen Grundpositionen, von denen aus beide Autoren die Ereignisse des Bürgerkrieges gestalteten.84 90

Bessalko war mit den besten Traditionen der russischen Arbeiterliteratur verbunden; Pilnjak knüpfte an die Schule Remisows an. „Wäre die Serie von Erzählungen, die das ganze Leben des revolutionären Arbeiters schildern sollten, fertig geworden", schrieb Lunatscharski, „so hätten wir ein Kunstwerk, das kaum in der Form dem Pelle Andersen-Nexös nachstehen würde, aber interessanter wäre, weil die Erlebnisse eines russischen revolutionären Arbeiters viel bunter sind als die eines dänischen. Seine halbphantastische Erzählung Der Diamant des Ostens löst ausgezeichnet praktisch die Frage, ob ein proletarischer Schriftsteller allgemein menschliche Motive erzählen darf und wie er sie aufzufassen hat." 85 Bessalko starb Ende des Bürgerkrieges an Flecktyphus. Innerhalb der Proletkult-Bewegung fanden die Schriftsteller auf die Dauer wenig Befriedigung. W. Alexandrowski, M. Gerassimow, W. Kasin, W. Kirillow, N. Poletajew u. a. traten daher Anfang der zwanziger Jahre aus dem Proletkult aus und schlössen sich in der Vereinigung Kusniza (Schmiede) zusammen. 1921 veröffentlichten sie ihr erstes Manifest, in dem sie die völlige Freiheit der Themenwahl proklamierten, im Gegensatz zum Programm des Proletkult, das den „Kollektivismus" des in der Produktion tätigen Menschen als einzigen Gegenstand der „proletarischen" Literatur anerkannte. Hingegen lösten auch sie sich noch nicht von vulgärsoziologischen Vorstellungen. „In der Abkapselung von Schriftstellern nichtproletarischer Herkunft war diese Tendenz am stärksten ausgeprägt. Aus ihren Reihen ging eine relativ stänke Gruppe von Prosaikern hervor: F. Gladkow, N. Ljaschko, A. Nowikow-Priboi, W. Baohmetjew. Ihre Entwicklung verlief aber bereits unabhängig von dem Programm dieser Gruppe. Sie setzten neue Akzente. Die poetischen Versuche der Proletkult-Dichter wurden Anfang der zwanziger Jahre zum Anachronismus. Manch einetbegriff nicht die Zeichen der neuen Zeit. Entstanden in der Zeit des Kriegskommunismus, spiegelten ihre Verse die „Schwächen der damaligen proletarischen Dichtkunst wie auch die Tendenzen ihres künstlerischen Reifens", das revolutionärromantische Pathos jener Jahre. „Ihre Schwäche war nicht die Romantik, sondern daß die romantische Tendenz n i c h t den 91

o b j e k t i v e n Verlauf der Revolution a u s d r ü c k t e , n i c h t mit der bolschewistischen Romantik, dem ,Traum* im Leninschen Sinne des Wortes, ü b e r e i n s t i m m t e . " 8 6 In seiner Gesamtheit hatte der Proletkult einen heterogenen Charakter. Die unterschiedliche soziale Zusammensetzung in den örtlichen Organisationen sowie ihre praktische Tätigkeit wurden erst in jüngster Zeit eingehender untersucht. Aber gerade diese Tatsache ist von -entscheidender Bedeutung, um eine reale Einschätzung der Grenzen ihres produktiven Beitrages zum Aufbau einer neuen Kultur zu geben. Alle „neulinken" Apologeten des Proletkults von Klaus-Diieter Seemann bis Helga Gallas übersehen geflissentlich diesen Tatbestand.87 Der Einfluß des Kleinbürgertums war insgesamt noch recht groß, das Klassenbewußtsein des Proletariats in der Mehrheit noch ungenügend gefestigt. Die bewußtesten Kräfte kämpften im Bürgerkrieg bzw. hatten leitende Funktionen in den staatlichen Organen. Dadurch waren der ideologische Einfluß und der soziale Druck solcher kleinbürgerlichen Elemente auf die proletarischen Massenorganisationen außerordentlich stark.88 So leitete Andrej Bely, der seinerzeit durchaus keine engen Bindungen zur proletarischen Revolution hatte und sich erst 1932 öffentlich zur neuen gesellschaftlichen Funktion der Literatur in der sozialistischen Gesellschaft bekannte, einen Moskauer Proletkult-Zirkel. Und das war kein Einzelbeispiel. Die Leitung lag fast ausschließlich in den Händen von bürgerlichen Intellektuellen, die der gesamten Organisation unter Ausnutzung der mangelhaften Bildung der Masse ihrer Mitglieder ein pseudorevolutionäres Programm oktroyierten. Es geriet immer offensichtlicher in Widerspruch einerseits zu dem Bildungshunger, der insbesondere die Jugend für diese Arbeit begeisterte, und andererseits zur kulturpolitischen Orientierung der Kommunistischen Partei. Außer Schwierigkeiten rein materieller Natur war dies übrigens einer der entscheidenden Gründe, warum die Arbeit, in den einzelnen Studios seit 1920 zahlenmäßig wie auch inhaltlich erheblich zurückging. Der Verband, proletarischer kultureller Aufklärungsorganisationen (Proletkult) hatte sich bereits Anfang Oktober 1917, kurz vor dem Oktoberaufstand, in Petrograd konstituiert. Die 92

Leitung lag in den Händen einiger ehemaliger Anhänger der von Lenin 1910 scharf kritisierten „Wperjod"-Gruppe: A. Bogdan ow, P. Leibedew-Poljanski, F. Kalinin, P. Kershenzew u. a. Hatte die Proklamierung einer relativ selbständigen proletarischen Kulturbewegung vor der Oktoberrevolution auf Grund des Kampfes gegen die ausgesprochen kulturfeindliche Politik der Provisorischen Regierung eine gewisse Berechtigung, so mußte die auch weiterhin vertretene Autonomie - absolute Selbständigkeit gegenüber den Sowjets, der Partei und den Gewerkschaften - von vornherein die schöpferische Produktivität der Anfangsphase untergraben. Der mit Nachdruck proklamierte Führungsanspruch auf allen kulturellen Gebieten seitens der Leitung und die entscheidend von Bogdanow ausgearbeitete theoretische - idealistische - Grundkonzeption der Organisation fanden in den führenden Organen des Proletkult - Grjaduschtschee in Petrograd und Proletarskaja kultura in Moskau - schon bald Widerspiegelung. Ein Vergleich mit Lenins Schrift Materialismus und Empiriokritizismus (1908) sowie mit seinem Artikel Über die Fraktion der „Wperjod"Leute (1910) belegt, mit welcher Konsequenz Bogdanow und seine Anhänger an ihren unmarxistischen philosophischen Auffassungen festhielten und wie wenig sich im Inhalt der von ihnen strapazierten verschwommenen Begriffe „proletarische Philosophie" und „proletarische Kultur" im Grunde geändert hatte. Die Negierung des künstlerischen Erbes sowie die sektiererischen Auffassungen (nur das Proletariat könne eine proletarische Kunst schaffen) - häufig werden sie schlechthin mit dem Proletkult identifiziert - waren demnach nur ein Teilaspekt der ihrem Wesen nach idealistischen Kunsttheorie, die Bogdanow der Organisation aufzuzwingen suchte.89* Dieses Moment beunruhigte die Parteiführung am allermeisten. Über das künstlerische Erbe gab es in den Proletkult-Organisationen keine einheitliche Auffassung. So schrieb P. Bessalko in seinem Artikel Zur Auffassung von der proletarischen Kultur: „Wenn jemand darüber beunruhigt ist, daß die proletarischen Schöpfer nicht bemüht sind, die Leere auszufüllen, die das neue Kunstschaffen vom alten trennt, so sagen wir: Um so besser, wir brauchen keine Kontinuität."90 In Heft 8 druckte dieselbe Zeitschrift einen Auszug aus Knishniks Prawda-At93

tikel mit der diametral entgegengesetzten These ab: „Es (das Volk - N. T.) begreift die historische K o n t i n u i t ä t u n d G e s e t z m ä ß i g k e i t , die der Kultur ihrem Wesen nach zu eigen sind."91 Die Tatsache, daß die Zeitschrift Knishniiks Artikel auszugsweise .unter dem Titel Ein Jahr Kampf um die proletarische Kultur zusammen mit den Proletkult-Thesen von zwei weiteren Autoren veröffentlichte, beweist die Inkonsequenz ihrer Erbe-Auffassung wie aber auch die Abstraktheit der Thesen Knishniks, die in dieser allgemeinen Form der Redaktion noch annehmbar erschienen. Etwa zur gleichen Zeit verkündete Bogdanow, auf dem Gebiet der Kunst habe das Proletariat zwei große Aufgäben zu lösen: selbständiges Schöpfertum und Aneignung der überlieferten Kunstwerke, die er allerdings von einem einseitigen, vulgärsoziologischen Standpunkt aus interpretierte. Die extreme Position Wladimir Kirillows in seinem berühmten Gedicht Wir fand demnach innerhalb der Organisation durchaus keine ungeteilte Zustimmung. Kirillow hatte hier programmatisch verkündet: Das Proletariat wirft die „Last des drückenden Erbes" ab, denn die „Mädchen im hellen Reich des künftigen werden schöner sein als die Venus von Milo". In 'diesem Punkt berührten sich die Auffassungen des Proletkult und der Futuristen. In seinem polemischen Artikel Der Futurismus und. die proletarische Kultur92 verwies Bessalko auf die Duplizität von Kirillows Versen und Majakowskis Gedicht Zum freuen zu früh (1918), in dem Majakowski Raffael, Rastrelli und Puschkin mit den Weißgardisten in eine Reihe gestellt hatte. Be&salko distanzierte sich von diesen Überspitzungen und „entschuldigte" lediglich Kirillow. Diese Parole aus den Anfängen des Proletkult hätten ausschließlich jene beschämen sollen, die während der Mosikauer Kämpfe davongelaufen sind. Aber auch Majakowskis Affront nahm er die Spitze: In einem Petrograder Proletkult-Klub habe der Dichter erzählt, nachts lese er Puschkin und am Tage beschimpfe er ihn. Dieses Eingeständnis Majakowskis war alles andere als .ein Kuriosum. Es deutete jenen tiefen Umwandlungsprozeß an, der sich ,im Dichter, in seinem Verhältnis zum literarischen Erbe zu vollziehen begann - ein Prozeß, der gerade über eine neue Beziehung zu Puschkin entscheidend beförder.. 94

wurde. Von einem tieferen Verständnis für Puschkin als „Schlüssel" zur Gewinnung neuer ästhetischer Positionen sprachen in diesen Jahren auch Blok, Brjussow, Jessenin. Die Verirrung in ibezug auf das kulturelle Erbe war auf die von völlig falschen Ausgangspositionen geführten Inhalt-FormDebatten zurüdkzuführen, ganz abgesehen von den an Einfluß gewinnenden theoretischen Konzeptionen der sogenannten „formalen Schule" und insbesondere Schklowskis. Der Trugschluß lautete: Alle Ratschläge, bei Tschechow, Tolstoi oder anderen russischen Klassikern zu lernen, seien Nonsens, da der Klasseninhalt ihrer Werke von der Form nicht zu trennen und infolgedessen auch ihre Form für die neue, proletarische Literatur unbrauchbar sei. Wenngleich dieser theoretische Streit vorwiegend nur unter den intellektuellen Führern des Proletkult ausgefochten wurde und er in den proletarischen Massenorganisationen selbst nur geringen Widerhall fand, so waren doch die schädlichen Auswirkungen auf das Programm der kulturellen Massenarbeit nicht zu übersehen. Durch die einseitige Interpretation des Klasseninhalts des gesamten Erbe und seiner Funktion standen diese Tendenzen im eklatanten Widerspruch zu den kulturpolitischen Maßnahmen des Sowjetstaates: großzügige Drucklegung von Werken der russischen Klassik und der Weltliteratur, Heranführung der Massen an Aufführungen bedeutender russischer und ausländischer Theaterstücke, Öffnung der Museen, die nach der Übernahme von Werken aus Privatsammlungen unermeßliche Kunstschätze erstmalig der Öffentlichkeit zugänglich machten. Das Proletariat sollte vom gesamten fortschrittlichen Erbe Besitz ergreifen. Die Hauptaufgabe bestand vor allem darin, daß die Proletkult-Studios infolge des organisatorisch begründeten Anspruchs, einzig und allein d i e proletarische Kultur zu schaffen, zu sektiererischen Bildungsstätten wurden, in denen nur eine chemisch reine „proletarische" Literatur und Kunst gepflegt wurden. Nadeshda Krupskaja signalisierte bereits am 23. März 1918 in dem Prawda-Artikel Uber proletarische Kultur diesen Grundfehler des Proletkults: „Man spricht jetzt viel von der proletarischen Kultur, wobei man unter proletarischer Kultur die Einrichtung von Arbeiter-, Theater- und Gesangs95

zirkeln, Klubabenden, die Drucklegung von Erzählungen, die Arbeiter geschrieben haben, usw. versteht. Das ist alles ein gute Sache - aber das ist noch keine proletarische Kultur; bestenfalls ist das ein winziges, mikroskopisches Teilchen der allgemein proletarischen Kultur. Nicht hier liegt gegenwärtig das Schwergewicht. Das Schwergewicht liegt in der Schaffung neuer Formen des gesellschaftlichen Lebens, die die Entwicklung der proletarischen Kultur fördern und ihren Einfluß auf die gesamte Bevölkerung ausdehnen . . . Denn die Festigung der proletarischen Kultur, die Ausdehnung ihres Einflusses auf die gesamte Bevölkerung ist eine unbedingte Voraussetzung zur Verwirklichung des Sozialismus. Der Sozialismus ist erst .dann möglich, wenn sich die Psyche der Menschen von Grund auf verändert. Sie zu verändern, ist die Aufgabe, die vor uns steht."93 Dieser Aufsatz korrespondiert eindeutig mit Lenins Auffassung. Seine scharfe Auseinandersetzung mit dem Proletkult setzte jedoch erst später ein. Dennoch wurden die ersten Anzeichen der grundlegenden Meinungsverschiedenheiten bereits 1918 sichtbar. Am 17. September richtete Lenin an die Erste Gesamtrussische Konferenz des Proletkults ein Schreiben. Als eine der Hauptaufgaben für den Sieg der sozialistischen Revolution bezeichnete er hier, „daß die Arbeiterklasse zu h e r r s e h e n lernt und für die Übergangszeit vom Kapitalismus zum Sozialismus die H e r r s c h a f t praktisch ausübt". Die Notwendigkeit der Herrschaft des Proletariats begründete er unter anderem mit dem „ Z u s a m m e n s c h l u ß der gesamten, vom Kapitalismus eingeschüchterten, geknechteten und zersplitterten Masse der Werktätigen und Ausgebeuteten um die Arbeiter in den Städten, im engsten Bündnis mit ihnen". Die ersten Erfolge in dieser Richtung sah Lenin darin, daß die Arbeiter mittels der Sowjets begonnen hatten, den Staat zu regieren. Sie hätten jedoch häufig diese Aufgabe noch nicht richtig begriffen und seien „zu z a g h a f t bei der Heranziehung von Arbeitern zur R e g i e r u n g des Staates". Lenin schloß daher mit dem Aufruf: „Kämpft dafür, Genossen! Die proletarischen kulturellen Aufklärungsorganisationen sollen dabei mithelfen. Darin liegt die Gewähr für unsere weiteren Erfolge und für den endgültigen Sieg der sozialistischen Revolution". (Lenin 28, 84) 96

Die Prawda veröffentlichte die gesamten Materialien der Konferenz unter der Rubrik Kulturelle Aufklärungsarbeit, die die Redaktion im Herbst 1918 ausschließlich für Veröffentlichungen des Proletkults zur Verfügung stellte. Unter dieser Überschrift war auch am 19. September Lenins Schreiben an die Konferenz in Petitdruck erschienen und gleich im Anschluß daran ein Bericht über die Rede von Lebedew-Poljanski, der mit Nachdruck die organisatorische Selbständigkeit des Proletkults verkündet hatte. So wurde weiterhin an der bereits bei Gründung der Organisation vor der Oktoberrevolution beschlossenen These festgehalten: Der Proletkult ist die kulturell-schöpferische Klassenorganisatiori des Proletariats, so wie die Arbeiterpartei seine politische Organisation ist und die Gewerkschaften seine ökonomische Organisation verkörpern. War die konsequente Abgrenzung der Proletkult-Organisation vom Volksbildunigsminiisterium der Kerenski-Regierung seinerzeit eine reale Notwendigkeit gewesen, so begriffen ihre Theoretiker nicht die grundlegend veränderte gesellschaftliche Situation nach dem Oktoberaufstand. Ihre weiterhin proklamierte Unabhängigkeit ¡bedeutete nun faktisch „Unabhängigkeit" von der Sowjetmacht, das heißt, die Organisation versuchte, sich aus den neuen gesellschaftlichen Systembeziehungen herauszulösen, die einzig und allein die Entfaltung einer neuen Kultur ermöglichten. In dem Rechenschaftsbericht, der in der Zeitschrift Proletarskaja kultura abgedruckt wurde, scheute man sich sogar nicht, Lenins Anliegen zu verfälschen und in das Programm des Proletkults einzufiunktionieren: „Die ganze Bedeutung der Arbeit des Proletariats in der gegebenen Richtung unterstrich auch Genosse Lenin in seinem Grußschreiben an die Konferenz." 94 Obwohl es keinerlei Dokumente darüber gibt, ob Lenin unmittelbar auf diese seltsame Verbindung seines Schreibens mit den Proletkult-Thesen Bogdanows und seiner Anhänger auf den Seiten der Prawda reagiert hat, so steht doch fest, daß diese Entwicklung - die sich vertiefende Kluft zwischen Tagessituation und „intelligenzlerischen Hirngespinsten" über eine „proletarische Kultur" - von ihm mit Besorgnis registriert wurde. Einen Tag später, am 20. Septemlber, an dem die Konferenz ihren Abschluß fand, veröffentlichte Lenin in der 7

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Prawda den Artikel Über den Charakter unserer Zeitungen. Seine Aufforderung an die Presse, die Massen mehr „an lebendigen, 'konkreten Beispielen und Vorbildern aus allen Lebensgebieten zu erziehen und zugleich einen sachlichen, schonungslosen, wahrhaft revolutionären Krieg gegen den k o n k r e t e n Träger des,Übels" - die „Hüter der Traditionen des Kapitalismus" - zu führen, war zugleich ein klares Aktionsprogramm für alle kulturellen Bereiche, einschließlich der Literatur und Kunst. Seine Kampfansage an „politisches Wortgeprassel" und „intelligenzlerische Betrachtungen" sowie sein Appell, dem Aufbau des N e u e n durch die Arbeiter- und Bauernmassen hei ihrer Arbeit in der P r a x i s mehr Aufmerksamkeit zu widmen und zu kontrollieren, „wie weit dieses Neue k o m m u n i s t i s c h ist" (Lenin 28, 88), muß zugleich als Antwort auf den Verlauf der Konferenz des Proletkults begriffen werden. Ein weiteres Dokument aus dem Jahre 1921, mit zum Teil gleichen Formulierungen, beikräftigt diese Schlußfolgerung. In dem Artikel Über die Arbeit des Volkskommissariats für Bildungswesen kritisierte Lenin „die ,Passion' für allgemeine Betrachtungen und abstrakte Losungen" (Lenin 32, 117), einen Grundmaingel auf vielen Gebieten der Volksbildung. Er forderte: „Weniger politisches Wortgeprassel, wieniger allgemeine Betrachtungen und abstrakte Losungen, an denen sich unerfahrene Kommunisten erquicken, die ihre Aufgabe nicht verstehen, mehr Produktionspropaganda unid vor allem sachliche, geschickte, dem Entwicklungsniveau der Massen angepaßte Auswertung der praktischen Erfahrungen". (Lenin 32, 125) Die proletarischen kulturellen Aufklärungsorganisationen der Proletkult - hatten Lenins Aufruf vom 17. September 1918 nicht ¡beherzigt. Die Ergebnisse der Ersten Gesamtrussischen Konferenz ließen daran feeinen Zweifel. Die Proletkult-Organisationen, in großzügiger Weise gefördert, erfüllten nicht die in sie gesetzen Erwartungen. Lenin setzte sich mit aller Energie für die Schaffung einer wahrhaft proletarischen Kultur ein und begrüßte alle Einrichtunigen, die dem Proletariat Zugang zu Bildung unid Kunst verschafften. Vom Programm des Proletkults und von einigen seiner Gepflogenheiten grenzte er sich jedoch entschieden ab und gebrauchte daher, wenn er von ihm 98

sprach, den Begriff proletarische Kultur stets in Anführungszeichen. Lächerliche Phrasen, die nur auf dem Papier standen, waren ihm verhaßt. Als eines der Haupthindernisse der kulturellen Entwicklung 'bezeichnete er die Versuche von Vertretern der bürgerlichen Intelligenz, „die neu geschaffenen Bildungseinrichtungen der Bauern und Arbeiter immer wieder als das günstigste Feld für ihre privaten Hirngespinste auf dem Gebiet der Philosophie oder der Kultur" zu mißbrauchen. Dabei würden „auf Schritt und Tritt die albernsten Vierdrehungen für etwas Neues ausgegeben . . . , überspanntes und unsinniges Zeug als rein proletarische Kunst und proletarische Kultur aufgetischt". (Lenin 29, 324) Auf Grund der historischen Erfahrungen der revolutionären Arbeiterbewegung, „daß nur die Weltanschauung des Marxismus die Interessen, die Auffassungen .und die Kultur des revolutionären Proletariats richtig zum Ausdruck 'bringt" (Lenin 31, 308), galt Lenins Hauptsorge der ideologischen und moralischen Umerziehung der werktätigen Massen. Alle kulturpolitischen Maßnahmen der jungen Sowjetmacht waren daher vorrangig auf die Entwicklung und Förderung der Produktivkräfte gerichtet. Der Proletkult isolierte sich. An sich sei er keine schlechte Sache, meinte Lenin Ende 1920. Es sei gut, wenn die Arbeiter Stücke verfassen, Verse schreiben, Zeitschriften und Bücher herausgeben, in ihren Klubhäusern selbstTheater spielen, wenn sie sich in allen Kunstarten schöpferisch betätigen und vervollkommnen. Schlecht sei nur, wenn über die Proletkult-Organisationen versucht wird, fremde ideologische Einflüsse einzuschleusen. (LLI 712) Der Proletkult verschloß sich vor der Aufgabe, die „gesamte, vom Kapitalismus eingeschüchterte, geknechtete und zersplitterte Masse der Werktätigen und Ausgebeuteten um die Arbeiter in den Städten, im engsten Bündnis mit ihnen" zusammenzuschließen. Er verschloß sich vor der Notwendigkeit, die Beschlüsse des VIII. Parteitages (1919) und die im neuen Parteiprogramm festgelegten Maßnahmen auf dem Gebiet der Volksbildung auch für die eigene Arbeit als verbindlich anzuerkennen. Dadurch engte er von vornherein sein Wirkungsfeld ein und konnte den gewachsenen Aufgaben nach Beendigung 'dies Bürgerkrieges in keiner Weise gerecht werden. Eine 7»

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Krise deutete sich schon 1920 an, als der Aufschwung der ersten beiden Jahre sichtlich albnahm. Auch Gorki warnte auf einer Zusammenkunft des Proletkults im März 1920 vor sektiererischer Abkapselung: „Es ist äußerst wichtig, jetzt zu verstehen, daß die ganze Macht dem Proletariat gehört, daß ihm viel gegeben ist, aber auch viel von ihm gefordert wenden wird. Sehr viel. Sie, die proletarischen Literaten, sind jetzt nioht nur gegenüber dem Proletariat, sondern gegenüber dem ganzen Volk verpflichtet, Rede und Antwort zu stehen. Die Verantwortung ist gewachsen . . . Wir sind heute genötigt, uns nicht nur an unseneinen zu wenden. Schließlich meldet ja auch die Bauernschaft Ansprüche an die Revolution an. Und das mit Recht: sie hat Anteil an ihr . . . Die Schaffung einer neuen Kultur ist Sache des ganzen Volkes. Auf enge, zunftgeburudene Standpunkte muß dabei verzichtet werden. Die Kultur ist eine ganzheitliche Erscheinung . . . Man muß nach Wegen suchen, um mit den Bauernmassen einig zu werden. Denn was geschieht sonst? Sie erziehen das städtische Proletariat, während gleichzeitig auf dem Lande der Glaube der Tanjkas und Maschkas weitergedeiht. Leicht einzusehen, welche Folgen zu erwarten sind." (Fadin 395, 397) Gerade weil der Proletkult - seine führenden Ideologen Anspruch auf die g e s a m t e Kultur erhob, auf die Führungsrolle in allen kulturellen Bereichen, indessen nur sehr beschränkte und verworrene theoretische Ansichten vertrat, führte die Partei die Auseinandersetzung mit ihm - im Vergleich zu anderen Vereinigungen - am konsequentesten und schärfsten. Gorki hatte sich dieser Frage der Leninschen Position angenähert, obzwar noch nicht in jener 'allumfassenden Weise. Anfang der zwanziger Jahre setzte Lenin die Kulturrevolution auf die Tagesordnung.

Was hat die Sowjetmacht der Kunst gegeben? Gegen Ende des Bürgerkrieges stellte der parteilose Kunsthistoriker A. Sidorow die Frage: Was hat die Sowjetmacht der Kunst gegeben?95 Er analysierte die zweijährige Praxis der sowjetischen Kunstpolitik und gab einen eindrucksvollen Übet100

blick über jene von Lunatscharski in seinem Disput mit den „Linken" erwähnten gewaltigen Anstrengungen aller staatlichen und parteilichen Institutionen zum Schutze der Kunstschätze. Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen stand die bildende Kunst. Dennoch enthält der Aufsatz Verallgemeinerungen, die auf alle Gebiete der Kunst zutreffen und die .Gesamtsituation weitaus besser charakterisieren, als dies seinerzeit ausschließlich von den Positionen des Proletkults oder der „linken" Künstler erfolgte. An erster Stelle untersuchte Sidorow das kulturgeschichtliche Novum: die Kunst als ein Mittel der gesamtstaatlichen Politik. Aus dem ästhetischen Wesen der Kunst, vermittels eines lebendigen Bildes das menschliche Bewußtein zu aktivieren und über die menschlichen Sinne - Sehen, Hören- die Wahrheit zu „zeigen", leitete er die organisierende 'Kraft der Kunst ab, von der eigentlich erst jetzt bewußt gesprochen werde. Die Sowjetmacht habe gespürt, welch große Hilfe die Kunst beim Aufbau einer neuen Lebensweise sein kann, und habe die Kunst zu propagandistischen Zwecken herangezogen. Am überzeugendsten habe sich dies in einer Kunstart gezeigt, über die bisher nur abfällig gesprochen wurde, in der Plakatkunst: „Die eigentliche Bestimmung des Plakats besteht darin, daß es an der Häuserwand, auf der Straße, auf dem Platz sofort viele anspricht, daß es aussagekräftig ist und von der Menge, Menschen verschiedener Bildung und verschiedenen Standes, verstanden wird. Das Plakat muß von ferne sichtbar sein."96 Grelle Farben, eine ausdrucksvolle Bildersprache und monumentale Formen bezeichnete er als seine wichtigsten Eigenschaften. Anstelle der noch übermäßig vorhandenen Vorliebe für das Allegorische forderte Sidorow 'das realistische Plakat, wie es u. a. von D . Moor und P. Apait geschaffen wurde. Testversuche mit Betrachtern verschiedener sozialer Herkunft hätten das bestätigt. Sidorows Beobachtungen deckten sich mit Lunatscharskis Feststellung: Die Revolution konnte „auf die Kunst nicht nur Einfluß nehmen", sie aus der „schlimmsten Dekadenz", „dem puren Formalismus" erretten und sie auf diese Weise wieder ihrer eigentlichen Bestimmung zuführen. Die Revolution „ b r a u c h t e die Kunst auch . . . und . . . war bestrebt, die 101

Kunst zu Agitationszwecken sich anzupassen". Agitationstheater und Agitationsdichtung 'waren ebenso wie das Revolutionsund Bürgerkriegsplakat Beweise dieser neuen Wechselbeziehungen von Wirklichkeit und Kunstäußerungen. Zwar „waren solche Errungenschaften, wo die Agitationskraft mit wirklicher künstlerischer Tiefe eins wurde, sehr selten 97 ." Dennoch gingen sie in die Grundlagen der sowjetischen Kunst und Literatur ein und lieferten erste bunstpraktische wie kunsttheoretische Lös-uiigen von Wesen und Funktion der neuen revolutionären Kunst und Literatur. An zweiter Stelle nannte Sidorow die Rolle der Kunst zur Verschönerung des Lebens, der Städte und Gebäude. Schönheit der Stadt anstelle von Städtegestaltung. Auch daran denke natürlich die Sowjetmacht. Als ersten Versuch einer systematischen Verschönerung der Hauptstädte wertete er die Anfänge einer neuartigen Monumentalkunst, Denkmäler für hervorragende Revolutionäre und bedeutende Kulturschaffende sowie die großen Volksfeste. Siidorows Analyse der ersten Erfolge und Mißerfolge bei der Schaffung einer neuen Monumentalkunst erklärt den Umfang der Schwierigkeiten, die es bei der Verwirklichung der staatlichen Beschlüsse zu überwinden gab und die Gegenstand eines häufigen Meinungsaustausches zwichen Lenin und Lunatscharski waren. Bekanntlich war Lenin höchst ungehalten darüber, daß unter der Anleitung des Volkskommissariats für Bildungswesen neue Denkmäler viel zu langsam und nicht in der erforderlichen künstlerischen Qualität entstanden, trotz der großzügigen finanziellen Mittel, die hierfür von der Sowjetmacht zur Verfügung gestellt wurden. Aufmerksamkeit verdienen auch Sidorows Bemerkungen zur Ausgestaltung der Städte zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution. Er sprach in diesem Zusammenhang von einem „in seiner Art grandiosen Kunstexamen im gesamtstaatlichen Maßstab" 98 . Er teile nicht die Befürchtungen vieler Künstler, daß der Staat ausschließlich die „linken" Kunstrichtungen auf Kosten anderer fördere. Die Leiter der Kunstpolitik hätten wiederholt betont, daß sie zur Unterstützung jeder l e b e n d i g e n schöpferischen Kunstrichtung bereit sind. Eine gewisse Verbindung zwischen der „linken" Kunst und dem revolutionären Umbrüch der Lebensformen sah er darin, daß sich die 102

Futuristen, Suprematisten iu. a. das Ziel gestellt hatten, das Sehvermögen zu „revolutionieren", wie es jede Revolution mit dem Bewußtsein der Menschen tut. Und hier hätten sie tatsächlich etwas erreicht. Aber der Versuch einer monumentalen Verschönerung der Stadt ausschließlich mit Hilfe der „linken" Kunst habe keinen Erfolg. Der Tag der Roten Armee habe das anschaulich bewiesen. Besonders würdigte Sidorow schließlich als dritten Punkt den Schutz der Kunst- und Altertumsdenkmäler und die Entwicklung der Museen. Hier habe sich die Sowjetmacht im eigentlichen Sinne des Wortes als P i o n i e r erwiesen. Bereits kurz nach der Oktoberrevolution erfolgte die Übergabe sämtlicher Kunstschätze in die Hände des Volkes. Die S a m m l u n g von Kunstwerken, die sich in Privatbesitz und in Kirchen befanden, ihre A u f s t e l l u n g in öffentlichen Museen und Galerien bzw. ihre Restaurierung, wenn es sich um wertvolle Gebäude handelte, und schließlich die R e t t u n g von Kunstwerken, die dem Verfall und der Vernichtung preisgegeben waren - diese Tätigkeit der dem Volkskommissariat für Bildungswesen und den örtlichen Sowjets unterstellten entsprechenden Abteilungen könnte in ihrem gesamten Umfang noch nicht völlig übersehen werden. Durch die Nationalisierung wurden die Kunstsammlungen durch unschätzbare Werte bereichert. Was früher in den Salons der Reichen verborgen und selbst dem Spezialisten nur vom Hörensagen bekannt war, sei nun allen zugänglich. Ein wertvolles Remibrandt-Gemälde wurde in einem dunklen Gang des Kremlpalastes entdeckt und im Rumjanzew-Museum ausgestellt. Die Öffnungszeiten der Museen richteten sich nach der Arbeitszeit der Werktätigen. Neue Museen, wie beispielsweise ein Museum der Kunst Asiens, wurden erstmalig eröffnet. Alte Baudenkmäler, Fresken, Gemälde, Ikonen wurden von den meisten im 19. Jahrhundert vorgenommenen Übermalungen befreit und in ihrer ursprünglichen Schönheit wieder sichtbar. Kunstexperten fuhren durchs Land, an die Oka und Wolga, nach Siirtbir.sk, Archangelsk und Wologda und sammelten dort Kunstschätze, von deren Existenz bisher niemand etwas gewußt hatte. Und all das war nur dank hoher staatlicher Zuschüsse möglich - in Monaten und Jahren, in denen die Sowjetmacht um Sein oder

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Nichtsein kämpfte. „Zweifellos sind unsere in vieler Hinsicht so äußerst schweren Tage ein F e i e r t a g der Kunst."99 Igor Grabar erinnerte sich Jahre später an das einzigartige Phänomen widersprüchlichster Tendenzen innerhalb der Abteilung für Kunst im Volkskommissariat für Bildungswesen. Während sie, die Kunstexperten, sich um Museen und den Schutz von alten Kunstschätzen kümmerten, befaßten sich die Künstler .mit der „Zerstörung" der alten Kunst. 100 In diesem' Widerspruch lag eine 'bestimmte Gesetzmäßigkeit. Wie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens führte auch auf dem Gebiet der Kunst der Weg zu neuen Errungenschaften nur über das kühne Experiment, über das Auffinden von neuartigen Verbindungen zwischen dem Neuen und dem Alten. Bs bedurfte einer klugen Kulturpolitik, damit weder das Alte das Neue hemmte, noch das Neue das Alte vernichtete. Am Schluß seiner Betrachtungen würdigte SJdorow die Tatsache, daß die umfangreiche Tätigkeit auf dem Gebiet der Kunst in den Dienst der künstlerischen Aufklärung des Volkes gestellt wurde. Und er fragte: „Welches westeuropäische Land hat den großen Künstler Leonardo da Vinci, dessen Jubiläum in diesem Jahr stattfand, auf einer solchen Volksversammlung wie wir in Moskau geehrt?" Viele Beispiele bewiesen: „Die künstlerische Aufklärung steht auf einem absolut festen Fundament." Auch in dieser Hinsicht erlebe Rußland erstmalig einen derartigen F e i e r t a g seiner Kunst. Er selbst, ein parteiloser Kunstspezialist, sei zu der Überzeugung gelangt: die Tätigkeit der Sowjetmacht auf künstlerischem Gelbiet ist ein durchaus nachahmenswertes und fortzusetzendes Beispiel, wie sich ein Staat zur Kunst und zu seinen Denkmälern zu verhalten halbe."101

Revolutionskonzept und ästhetische Systeme

Erkundung eines „neuen" Realismus „ . . . die Literatur 'blieb nicht abseits von dem geologischen Chaos unserer schweren und heroischen Jahre. Sie nahm aktiven Anteil am Aufbau eines neuen Lebens mit all seinen Erschütterungen und Aufschwüngen. Sie wartete nicht nach der klassischen Regel, bis alles gefestigt ist, um sich in Muße, nach reiflichem Überdenken, mit Abstand von den ersten Eindrükken und Stimmungen ruhig an die Arbeit zu machen. Im Gegenteil, sie nahm die ganze chaotische Ordnung der neuen Tage in sich auf, mit deren Leidenschaftlichkeit und oft auch all deren Kurzsichtigkeit. Sie verschmolz mit dem organischen Streben des neuen Rußlands, zerriß die Ketten der Kanons und päpstlichen Segnungen. Das war ihr Pathos, ihre historische Rolle, ihr Verdienst . . . Und war sie auch eine zeitgebundene Übergangsliteratur - sie war in Rußland und mit Rußland in den Tagen seiner kosmischen Aufschwünge und Rückschläge. Das war ihre absolute Wahrheit." 102 Fünf ibis sechs Jahre nach dem Roten Oktober überprüften Schriftsteller, Kritiker und Leser: Wo steht die Literatur heute? Was hat sie erreicht? Wohin führt ihr Weg? Wladimir Lidin erinnerte sich, wie er im Jahre 1919 - er hatte in den Reihen der Roten Armee gekämpft - das Empfinden für die Natur verloren hatte, wie sie plötzlich aufhörte, auf ihn zu wirken. Die auf ihn einstürmenden neuen Gesichter waren gleich einer Wiedergeburt - mit ihnen werde er von nun an leben: „In die erhabene Ruhe der Landschaft drang der Bürgerkrieg ein. Und die Landschaft verblaßte angesichts der Größe und des Schreckens .von Leben und Tod der Menschen. Das ist doch die Logik der Dinge! Und mit Genugtuung und Erschauern verspürte ich das Chaotische dieser Jahre." 103 105

Lidins Erzählung Inga (1925), nach deren Motiven Klabund 1927 das Theaterstück Die Erde brennt verfaßt hatte, ist auf diesem Kontrast von unberührter Landschaft und unaufhaltsamem Einbruch der Revolution dn die entferntesten Winkel des Landes aufgebaut. Die „Befreiung des zur Ikone reduzierten Mädchens zum realen Löben"104 wird zum Symbol. Die Natur wird von dynamischer Unruhe erfaßt: „Weithin erstreckt sich Kolas Felsgestein, bis an das Eismeer, Felsen und Moos, und die kriechende Birke. Und die weiße Eismöwe fliegt vorüber. Groß geht die Sonne über Kola auf, und ihre Glut dringt ins Gestein. Die Erde brennt, brennt . . .".105 Lidins neues Natur-Mensch-Gefühl, durchdrungen von dem Glauben an das neue aufblühende Leben, war erfüllt von der Spannung zwischen der Ehrfurcht gebietenden Erhabenheit der Natur - ihrer Mahnung, „wie wenig der Mensch eigentlich erst geschaffen hat" - und dem „Chaos" der neuen Lebensformen, die auf neue Weise organisiert werden. Hier finde die Literatur Weite und Spielraum der Stoffwahl. Sein ästhetisches Credo faßte Lidin in die Worte: „Insofern unser gesamtes Leben sich neu formiert, ist es unumgänglich, daß sich auch die Literatur formiert, organisiert . . . Diesen Weg der Organisation, den Weg der psychologischen Lebensbeschreibung der lebendigen Persönlichkeit unserer Epoche, den Weg eines lebendigen Epos (einer Epopöe in der Tat und nicht ad hoc) muß unsere Literatur einschlagen, will sie leben. Und kraft einer solchen harmonischen Übereinstimmung mit der Gesellschaft wird sie außerdem große Themen der Kontroverse im Weltmaßstab erobern - den großen historischen Konflikt zwischen zwei Welten ...".«« Im gleichen Band wie Lidin äußerten sich „Über die Kunst und über sich selbst" Alexej Tolstoi, Iwan Kassatkin, Boris Pilnjak, Jewgeni Samjatin, Nikolai Ninkitin, Nikolai Ognew, Wsewolod Iwanow, Lidija Sejfullina u. a. Hart nebeneinander standen einander ausschließende Auffassungen. Die meisten Beiträge stimmten jedoch überein im ehrlichen Ringen um eine Neubestimmung der Literatur - in der Wertung des Erreichten und in einer klaren Sidht ihrer künftigen Konturen. In der ganz persönlichen Beziehung des jeweiligen Autors zu seinem künstlerischen Anliegen spiegelte sich überwiegend eine 106

neue Beziehung von Gesellschaft und Kunst, mit allen Schwierigkeiten eines solchen Übergangs. Lediglich zwei Schriftsteller brachen aus dieser Gesamtkonzeption aus: Pilnjak und Samjatin. Dieser Bruch verdeutlicht die Schroffheit noch bestehender Gegensätze, die Notwendigkeit einer eindeutigen Stellungnahme als Künstler für oder wider die Revolution im Prozeß des Wendens einer neuen Literatur. Pilnjak entwickelte ein ästhetisches Programm, das er in seinem nächsten Roman Maschinen und, Wölfe (1925) realisierte: Rußland habe die Revolution von sich abgestreift. Ringsum sei tiefe Stille. Er betrachte die Revolution nicht als eine Revolution der Bolschewiki, sondern als eine „Revolution der Maschine, des Stahls". Der Feldblume, dem Teufelskraut, über 'das er 'bisher geschrieben hatte, wolle er nun die „Maschinenbluime" gegenüberstellen - eine in mathematische Formeln gelbannte Welt. Pilnjak polemisierte gegen die Parteilichkeit in der Literatur, gegen das Recht der Partei auf Leitung der Kunstprozesse und im Grunde auch gegen Lenins Forderung, die Keime des Neuen künstlerisch zu gestalten. Insofern es in Rußland noch keinen Kommunismus gebe, könne es auch keine kommunistische Literatur gelben. Sie sei in die „Hinterhöfe der Agitationsliteratur" verbannt. Politik und Literatur vertrügen sich nicht. Die „Großen" der Literatur, die sich der Politik verschrieben haben, seien nicht mehr produktiv. Als Beweis nannte er Serafimowitsch. Pilnjak ahnte nicht, daß fast gleichzeitig mit seiner düsteren Prognose Der eiserne Strom, einer der bedeutendsten Bürgerkriegsromane, im Druak erschien. Pilnjak forderte von der Literatur: „ . . . es ist weitaus vernünftiger zu schreiben, daß Rußland an den Abenden im Dunkel sitzt, als daß die Elektrifizierung durchgeführt wird." 107 Er spielte auf das neuerbaute Kraftwerk von Kaschira an, über das seinerzeit viel geschrieben wurde. Eine solcherart praktizierte Idealisierung und „Verewigung" der Hunger- und Typhusjahre, des alten bettelarmen Rußlands Pilnjak war nicht der einzige Fürsprecher einer solchen Kunst - kritisierte Lenin auf dem XI. Parteitag (1922): „Es gab bei uns sogar Dichter, die schrieben, daß in Moskau Hunger und 107

Kälte herrsohen, .während es früher schön und sauber war, blühen jetzt Handel und Schwarzmarkt'. Es gibt bei uns eine ganze Reihe derartiger poetischer Erzeugnisse." (Lenin, 33, 268) Lenin erklärte solche Stimmungen aus der spezifischen ökonomischen und politischen Situation der NÖP-Zeit. Binnen 'kurzier Zeit stellte sich heraus, inwieweit es sich bei dem einen oder anderen tatsächlich um eine „gedrückte Stimmung" unter der Last der negativen Erscheinungen dieser Periode handelte oder aber um eine zum Programm erhobene ästhetische Konzeption, die prinzipiell den Grundtendenzen der sowjetischen Literaturentwicklung widersprach und von einem unmarxistischen Revolutionsfeegriff abgeleitet war. Am offensichtlichsten wird dies in Samjatins Artikeln unter dem vielsagenden Titel Über Literatur, Revolution, Entropie und Sonstiges, in seinem Eingeständnis ; Das Gesetz ¡der Revolution sei kein sozialistisches, es sei ein Gesetz des Universums, folglich unendlich wie das Zahlensystem selbst. Das formale Merkmal der leibendigen Literatur sei demnach dasselbe wie ihr inneres Merkmal: „Verzicht auf die Wahrheit, das heißt auf das, was alle wissen und was ich bis zu dieser Minute wußte - das Abweichen von den kanonischen Bahnen, von der breiten Wegstrecke."108 Samjatin formulierte die Ästhetik der abstrakten Kunst: „Die Wissenschaft und die Kunst gleichen sich im Projizieren der Welt auf ¡bestimmte Koordinaten. Der Unterschied der Formen ist nur ein Unterschied der Koordinaten. Alle realistischen Formen sind Projektionen auf unibewegliche ebene Koordinaten der euklidischen Welt." In der Natur gebe es diese Koordinaten nicht, sie seien eine Abstraktion, eine Irrealität. „Folglich ist der Realismus irreal. Unvergleichlich näher der Realität ist das Projizieren auf sich schnell bewegende gekrümmte Oberflächen - das, was die neue Mathematik und die neue Kunst gleichermaßen tun . . . Die Grundmerkmale der neuen Form - Schnelligkeit der Bewegungen (Sujet, Sätze), Verschiebung, Krümmung (in der Symbolik und Lexik) - sind nicht zufällig. Sie sind die Folge der neuen mathematischen Koordinaten." 109 Sicherlich sei die neue Form für viele unverständlich. Aber zu Euklid könne man nicht mehr zurück. Samjatins formale Übertragung der nichteuklidischen Geo108

metrie auf die Ästhetik, auf die Literatur war die totale Absage an die Möglichkeit und Notwendigkeit einer realistischen Gestaltung der Wirklichkeit - das Bekenntnis zur „absurden" Literatur. Nicht zufällig erldbte sein 1924 in England gedruckter Roman Wir in den letzten Jahren im Westen eine „Wiederauferstehung". Dieses bösartige Pasquill auf die Sowjetgesellschaft war die Flucht in eine Welt des Phantastischen und Absurden. Die programmatische Verbindung einer antirevolutionären, antileninistischen Weltanschauung mit einer antirealistischen Kunstauffassung bedeuteten den offenen Bruch Samjatins mit seiner Umwelt. Er verharrte in seiner feindlichen Haltung zum revolutionären Prozeß, in der Überzeugung, die er in seinem Artikel Ich befürchte 1921 idargelegt hatte: Die Revolution bedeute den Untergang der Literatur. In der sowjetischen Literaturbewegung der kommenden Jahre blieb Samjatin isoliert. 1932 verließ er die Sowjetunion. Pilnjak hingegen durchlief einen äußerst komplizierten Prozeß. Er suchte nach künstlerischen Möglichkeiten, um die ganze Widersprüchlichkeit der Epoche ins literarische Bild zu setzen. Ihn faszinierte der Zusammenprall der entfesselten menschlichen Instinkte und Beziehungen mit der revolutionären Veränderung des gesamten menschlichen Seins. Das Unverständnis für die eigentlichen Triebkräfte der Revolution bewirkte, daß er das rationale, organisierende Moment nicht in den Bolschewiki, der Kommunistischen Partei entdeckte, sondern es mit der Technik, den Maschinen verband. Diese in seinem Schaffen relativ kurze Phase war von einer gewissen Folgerichtigkeit. Gorki verurteilte Pilnjaks Auffassung von der Welt als einem völligen Chaos und das Umsetzen dieses chaotischen Weltempfindens in ein ästhetisches System. Lunatscharski schrieb an den Schriftsteller, er fürchte, Pilnjak werde nie die Revolution erfühlen, die „großen Linien des gigantischen Wachstomsprozesses des Mensdhen, in großen Lettern gesetzt". Er zeichne nur äußere Züge der Physiognomie der Revolution. In der Wirklichkeit gäbe es jedooh Menschen, die in die Geschichte eingehen: „Viele von ihnen haben durchaus sterbliche Namen. Selbst zu den sich verflüchtenden Tagen, die sie erleben, verhalten sie sich von einem monumentalen Standpunkt. Dabei erscheint ihnen 'das Monumentale dieser Verall109

gememerung ganz natürlich als irgendeine Stufe auf der großen Zeitleiter." 110 Der jahrelange Streit mit Pilnjak war zugleich ein Streit 11m Pilnjak. Noch in den zwanziger Jahren zeigten sich interessante Neuansätze in seinem Schaffen.111* Wenngleich die einzelnen Beiträge zu literaturästihetischen Fragen in dem zitierten Band nicht aufeinander Bezug nahmen, so ist doch eine innere Polemilk nicht zu übersehen. Eingeleitet wurde das Buch von Alexej Tolstois Literarischen Notizen. Als Aufgabe der Literatur bezeichnete Tolstoi die Erkenntnis der grandiosen Vorgänge der Zeit, als ihr allgemeines Ziel die „sinnliche Wahrnehmung des Großen Menschen". Und er fragte: „Wo steht eigentlich die Literatur? Die einen zerstörten, die anderen verblüfften, die dritten mühten sich ab, um sich auf die Höhe der Zeit zu erheben, die vierten machten sich schließlich daran zu beschreiben, was wir jeden Tag mit eigenen Augen sehen."112 Indes ¡zog über das Land der „Hurrikan der Revolution" hinweg. Heroisches und Tragisches zeichnete seinen Weg. Wo sind die Prosaiker, wo die Dramatiker, die „in großen Epopöen Willen, Leidenschaften und Taten von Millionen" 113 erfassen? Unter den jungen Prosaikern gebe es viele echte Begabungen. Aber sie verstrickten sich zumeist in Details: „Spannende Minuten, Ereignisse, Zufälle, Stimmungen - aber das Ganze wird nicht sichtbar. Menschen huschen vorüber, aber der Mensch ¡selbst fehlt." 114 Tolstoi forderte den „ l e b e n d i g e n T y p der Revolution". Dem Ästhetizismus stellte er die„Literaturdes m o n u m e n t a l e n R e a l i s m u s " gegenüber: „Ihre Aufgabe ist das Menschenschöpfertum, ihre Methode das Erschaffen eines Typs, ihr Pathos das allgemein menschliche Glück - Vervollkommnung, ihr Glaube die Größe des Menschen. Ihr Weg führt zum höchsten Ziel: den Typ des großen Menschen zu schaffen, mit all seiner Leidenschaftlichkeit, in seiner höchsten Anspannung." 115 Iwan Kassatkin griff diesen Gedanken auf. Zwar zweifelte er an dem Vermögen, bereits jetzt, heute große Synthesen zu schaffen, zweifelte an der Fähigkeit, das Innere des Menschen der Revolutionszeit mit (künstlerischen Mitteln zu analysieren. Aber sei nioht auch der Alltag kunstwürdig? Eines vor allem fehle noch der neuen Literatur, darin stimmte er mit Tolstoi überein - die epochengemäße Darstellung der „gigantischen 110

Leistungen und der schrecklichen Blöße aller Beziehungen im menschlichen Zusammenleben"116. Die Literatur erinnere noch allzu oft an Krylows Fabel Der Elefant und der Mops. Über den Mops sei bereits so gut wie alles gesagt, aber den Elefanten habe man dabei aus den Augen verloren. Von dieser Position wird auch Andrej Soibols sarkastischer Angriff auf einige zweifelhafte Erscheinungen auf dem Büchermarkt verständlich, die den russischen Leser „in den Klauen" halten und derer man in der NÖP-Zeit nicht Herr werde: „Tarzan, der Sohn Tarzans, der Enkel Tarzans - mit einem Wort, die ganze zahlreiche und fruchtbare Sippschaft der Tarzans . . . hat den russischen Schriftsteller verdrängt." Aber daß selbst Komsomolzen zu diesen kleinbürgerlichen Machenschaften eines Burroughs greifen, sei nicht zuletzt die Schuld der Schriftsteller selbst: „Wir wühlten in Kleinigkeiten, während das Leben ringsum diese Kleinigkeiten dem Untergang preisgab. . . Wir schufen bestenfalls Chroniken, als ringsum alles vom Strudel erfaßt wurde, in stürmischer Bewegung war." Kampfansage an jegliche Exotik, an eine schwülstige, wortreiche, inhaltsarme Literatur - Programmatik eines Helden, der „das ganze Leben feinsäuberlich mit einem elektrischen Pflug umpflügt" 117 . So 'bedeutsam diese Betrachtungen der Schriftsteller über die Literatur und über sich selbst waren, so tief sie hineinleuchteten in die Schwierigkeiten und Widersprüche des Literaturprozesses Anfang der zwanziger Jahre, ein SpiegeLbild der tatsächlichen Vorgänge gaben sie nidht. Schriftsteller, die in diesen Jahren einen entscheidenden Beitrag leisteten, kamen nicht zu Wort, mit Ausnahme von zwei bis drei Autoren wie Ws. Iwanow und Sejfullina, die dieses Gespräch über literatnirästhetische Fragen auf Grund der eigenen künstlerischen Erfährungen weitaus produktiver hätten gestalten können. Aber offensichtlich waren sie noch nicht in der Lage, dieses „Eigene", „Selbstentdeckte", „¡Neue" klar zu formulieren. Offensichtlich trug die Zusammenstellung der im Band vertretenen Autoren einen zufälligen Charakter. Selbst wenn diese „Buntheit" beabsichtigt war, so kam doch der spezifische Charakter der einzelnen Richtungen - Kassatikin beispielsweise war ein Erzähler ausgesprochen bäuerlicher Prägung - nicht in jedem Fall zum Ausdruck. 111

Trotz dieser Einschränkung ist der Einblick in sich neu formierende bzw. einseitig verfestigte Schriftstellerästhetiken aus 2wei Gründen für unsere Untersuchungen höchst aufschlußreich: E r s t e n s : Er demonstriert sehr anschaulich die These der marxistischen Literaturtheorie von der untrennbaren Einheit künstlerischer Konzeptionen mit dem ideologischen Kampf und von den inneren Wechselbeziehungen zwischen ihnen. Selbstverständlich sind zur Fixierung der Literaturlbewegung und zur Bestimmung des Standorts eines literarischen Werkes innerhalb dieser Bewegung nicht die Deklarationen des jeweiligen Schriftstellers entscheidend. Oft genug gerieten sie in Widerspruch zur eigenen künstlerischen Praxis, insbesondere wenn sich die Autoren zum Programm einer literarischen 'Gruppe bekannten. Majakowskis Wirken innerhalb der Linken Front (LEF) wie auch Faidejews Auftreten in der Russischen Assoziation Proletarischer Schriftsteller (RAPP) umd ihre zur gleichen Zeit geschaffenen Werke verdeutlichen das sehr klar. Entscheidend sind in erster Linie die ästhetischen Leistungen, die in ihnen mit künstlerischen Mitteln realisierten Mensch-WirklichkeitsBeziehungen und der Beitrag ides jeweiligen Werkes für den literarischen Fortschritt. 118 * Die im einzelnen noch darzustellende von der Partei geforderte ideologische Arbeit unter den Schriftstellern war demnach kein administrativer Eingriff in die Lösung ästhetischer Grundprobleme der Literaturepoche. Sie war ein organischer Bestandteil der Eroberung neuer ästhetischer Positionen in den zwanziger Jahren. Z w e i t e n s : Die marxistische Kritik hatte schon seit einigen Jahren von einer bevorstehenden Blüte des Realismus in der sowjetischen Literatur gesprochen (A. Lunatscharski, V. Brjussow, A. Woronski) und zwar zu einer Zeit, als sich in der jungen Sowjetliteratur erst neue realistische Tendenzen zu formieren begannen. Die in dem Buch Schriftsteller über die Kunst und über sich selbst (1924) enthaltenen Betrachtungen über die neuen Aufgalben dies Schriftstellers aus der subjektiven Sicht des jeweiligen Autors trafen sioh mit wenigen Ausnahmen in einem Punkt: im B e k e n n t n i s z u m R e a l i s m u s . Der Kritiker A. Leshnew hob in seiner Rezension gerade dieses Moment hervor: „Die theoretischen Voraussagen werden von einem nahezu allgemeinen Drang der im Band 112

vertretenen Schriftsteller zum Realismus bestätigt." 119 Die Dissonanzen, verbunden vor allem mit Samjatins kategorischer Ablehnung einer realistischen Kunst und Pilnjiaks Lobpreisung der „Revolution der Masdhine", zerstören nicht diesen Gesamteinidruck von einer um einen neuen Realismus ringenden Literatur. Ein „verwandelter Realismus" als „Form einer neuen synthetischen Monumentalkunst" 120 wurde 1920 auf den Seiten der Zeitschrift Twortschestwo gefordert. Waleri Brjussow sprach 1922 von der „Wendung zu einem gesunden Realismus". Lunatscharski übernahm den 1923 von dem Literaturwissenschaftler Wladimir Fritsche geprägten Begriff „sozialer Realismus". Alexej Tolstoi verband die Zukunft der Literatur mit der Tendenz zum „monumentalen Realismus". Majakowski forderte einen „tendenziösen Realismus". Der reale Hintergrund dieser Beobachtungein war folgender: Lyrik, Prosa und etwas später auch Dramatik - die Literatur in ihrer ganzen Breite und Vielfalt war Anfang der zwanziger Jahre in ein neues Stadium eingetreten. Die ersten Jahre nach 1917 hatten dem Didhter keine Zeit gelassen, in aller Ru'he über Fragen des Dichtens, der Technik und Poetik nachzudenken, schlußfolgerte Brjussow in seinem Jubiläumsartikel zum fünften Jahrestag der Oktoberrevolution. Das Neue verlangte nach unmittelbarem Ausdruck des Weltgefühls des siegreidhen Proletariats. D i e Hymnen auf die Revolution und ihre Führer, die Bilder des Aufstands und der befreiten Arbeit waren meist noch abstrakt: „Nicht ein bestimmter .Aufstand' wurde beispielsweise idargestellt: der Oktober in Moskau 1917 oder in einer anderen Stadt, sondern der Aufstand an sich oder der ,Sieg der Arbeit', wiederum außerhalb von Epoche und Land." Erst in jüngster Zeit zeichne sich die „Wendung zu einem gesunden Realismus" ab, „das Streben, die eigenen Themen konkret zu gestalten, nachdem endlich alle verheißungsvollen Worte hinausgeschrien sind" 121 . Diese Wendung war vor allem mit dem Werk junger Autoren verbunden. Sie braohten das „Neue" in die Literatur. Als einer der ersten registrierte der Kritiker A. Woronski diesen Vorgang am Beispiel der Prosa im Jahre 1922: „ . . . in Sowjetrußland kommt eine neue, eigenständige, frische, junge Lite8

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ratur zum Vorschein... Der neue Schriftsteller kriecht aus allen Ritzen. Er kommt hervor aus den Krähwinkeln, aus den Vorstädten, aus der Tiefe und Weite des Landes... Oft trägt er den Rotarmistensterm - ein vielsagendes Zeichen. Oft ähnelt er denen, die wir früher als Rasnotsehimzen bezeichneten, aber er ist ein neuer, sowjetischer Rasnotschinze aus den untersten Schichten - der echte Demos der Städte und Dörfer. Unter ihnen sind audh Vereinzelte aus ehemaligen, vorrevolutionären sozialen Schichten und Gruppen. In 'der Masse aber überwiegt ein anderes Naturell, eine andere Erlebnisform, eine andere Vergangenheit und Gegenwart, eine andere Weltauffassung und psyohisdhe Veranlagung." Unter den vielen Namen, die der Leser bereits kenne, bzw. deren erste Werke erst im Druck ¡seien, nannte Woronski: Ws. Iwanow, B. Pilnjalk, N. Nilkitin, W. Lidin, A. Jakowlew, N. Ljaschko, S. Semjonow, M. Soschtschenko, A. Newerow, N. Tichonow, K. Fedin, I. Wolnow, P. Nisowoi, A. Arossew, J. Libedinski, L. Sejfullina, F. Gladkow. Trotz vieler Unterschiede glichen sie einander in vielem: „Sie wurden im Kessel der sowjetischen Wirklichkeit geformt, schreiben über sie und schreiben anders als die ,Alten* . . .".122 Das Fremde, Alte hätten sie abgestreift, das Neue, Eigene sei jedoch erst im Entstehen. Woronski wertete diese Erscheinung als den Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte des künstlerischen Wortes Rußlands. An die reichen, schöpferischen Potenzen dieser „Jungen" wunden große Hoffnungen gedampft. Bereits 1918 sprach Blok von den noch schlummernden schöpferischen Kräften. Sie würden in der Zukunft neue Worte finden, zu denen die bisherige Literatur nidht mehr fähig ist. Die Jahre 1921-1924 waren die entscheidenden zur Ausprägung ihrer künstlerischen Individualität. Es ist daher nicht verwunderlich, daß in den Bilanzierungen des ersten Jahrfünft sowjetischer Literaturentwidklung von ihnen noch kaum gesprochen wurde. Sdholodhow, Faidejew, Leonow, Babel und andere bedeutende Prosaiker der zwanziger Jahre wurden weder von Lunatscharsiki noch von Woronski erwähnt. Erst später zogen sie die Aufmerksamkeit auf sich. Für die „Jungen", die von den Fronten des Bürgerkrieges kamen oder durch ihre Arbeit unmittelbar im Klassenkampf 114

auf Leben und Tod gestanden hatten, war es in den kritischen Jahren leichter gewesen, „durch einfache Beobachtung das sich zersetzende Alte vom aufkeimenden Neuen zu trennen". Sie waren im „Kampf von unvorstellbarer Heftigkeit" (Lenin 35, 389 )völlig aufgegangen. Er war das Grunderlelbnis ihrer Jugend, das ihr Denken und Fühlen bestimmte und sie nun zu künstlerischer Gestaltung drängte. Sie bewegte weniger der theoretische Streit um die neue Lebensweise („byt"), die sich im Alltag erst gefestigt halben müsse, bevor die neue Wirklichkeit realistisch gestaltet werden könne - diese These wurde seinerzeit von vielen Schriftstellern und Kritikern verfochten. In ihrer Vorstellung war der revolutionäre Kampf identisch mit der neuen Lebensweise des siegreichen Proletariats. Dennoch war die ästhetisohe Bewältigung des Grunderlebnisses dieser Generation weitaus komplizierter als die kompromißlose Identifikation mit der sozialistischen Revolution. Wir erinnern an Lenins Worte im Gespräch mit Gorki: „Alle, bis auf den letzten Mann, sind von dem Wißbel der Wirklichkeit erfaßt, die so verworren ist wie nie." (LG 59) Seit Bloks Poem Die Zwölf war ein verbreitetes Symbol in der Lyrik und Prosa, auch in der Graphik und im Film - so in Eisensteins Stummfilm Oktober - das Bild des Windes in verschiedenen Variationen : Schneesturm, Wirlbelsturm, Zyklon, Hurrikan... Nicht zufällig war auch das Zug- und Balinhofsmotiv verbreitet. Wir finden es in Wolnows Erzählung Der Zug (1924), in Malysch•kins bekannter Erzählung Der Zyklon (1923) - in seiner späteren Erzählung Der Zug fährt nach dem Süden (1925) wird das Momentane bereits in einer klaren Sinngebung des Zeitgeschehens aufgehoben - und auch bei Pantelejmon Romanow, der einen ganzen Zyklus von Erzählungen auf der Eisenbahn ansiedelte. Der rasche Wechsel von Beobachtungen, Stimmungen und Handlungsorten, unerwartete Begegnungen und abrupte Trennungen unterstrichen die Verworrenheit der einzelnen Situationen, die den Eindruck vom „Chaotischen" dieser Jahre schufen. In diesem Sinne sind auch Lidins Worte von der „chaotischen Ordnung der neuen Tage" zu verstehen. Ein solches Wirklichkeitsempfinden wurde durch die Unibeständigkeit eines momentanen Erlebnisses, die dramatischen Peripetien vieler militäri8»

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scher Operationen während des Bürgerkriegs vertieft. Dieses Moment ging in das ästhetische System der frühen sowjetischen Prosa und Lyrik ein. Das Hauptproblem war jedoch, den Weg zu finden, „eine wirklich planmäßige und einheitliche Organisation an die Stelle des wirren Chaos und der unsinnigen Zustände in Rußland zu setzen", das heißt die „Organisierung von Dutzenden und Hunderten Millionen von Menschen" (Lenin 29, 326). Diese Organisierung des Chaos war zugleich ein ästhetisches Problem: „Erfinden heißt in das Chaos Form, Gestalt bringen." (GSP 308) Die frühe sowjetische Prosa ging in der Mehrzahl zunächst noch einen anderen Weg als Gorki und glaubte, erst einmal dieses Chaotische fixieren zu müssen, anstatt es in seinen konkreten historischen Formen und Entwicklungstendenzen zu gestalten.123 In solchen Erscheinungen zeigten sidh auch ideologische Einflüsse der sich vorwiegend aus bäuerlichen Elementen rekrutierenden Partisanenmassen. Ihre instinktive Entscheidung für die Sowjetmacht, verbunden mit einem anarchischen Aufbegehren gegen jegliche organisierende gesellschaftliche Kraft, blieb nicht ohne Wirkung auf Schriftsteller wie Ws. Iwanow, A. Wesjoly, I. Wolnow u. a. Heroik und Grausamkeit, sozialistisches Menschheitsideal und stumpfe Resignation, neues proletarisches Weltgefühl und Eigentumsinstinkt stießen oft hart aufeinander. Hier zeigte sioh nicht selten das Unvermögen, aus dem Bannkreis der jeweiligen Einzelbeobachtung auszubrechen und die „angespannten dramatischen Prozesse der Zerstörung und des Aufbaus" (Gorki, Über Literatur 323) in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung für das Schicksal des Volkes und damit einer einzelnen Persönlichkeit zu erfassen. „Tatsachen drängten sich auf, rieben sidh aneinander, ballten sich zusammen. Jede einzelne erschien faszinierend und nichtig zugleich. Ich begriff noch herzlich wenig, daß die Kunst gerade in der Fähigkeit besteht, eine nichtige Tatsache in ein großes Ereignis zu verwandeln." 124 Ws. Iwanows Notiz bezieht sich auf die Jahre 1921-1922, die fruchtbarsten seiner ersten Schaffensperiode. Sein Briefwechsel mit Gorki aus jener Zeit beweist, wie stark ihn als Künstler das Problem beschäftigte, das Außergewöhnliche, Einmalige zum Drehpunkt einer erzählten Begebenheit zu machen. Kritiker und Wissenschaftler haben in seinen kürzeren 116

Erzählungen nur selten jenes neue Moment entdeckt, das über seine Partisanengeschicbten hinauswies: das Erfassen der inneren Logik im Verhalten e i n e s Menschen - der Ursachen seines Kampfes, seiner revolutionären Weltsicht, einer neuen Beziehung zur Wirklichkeit in den oft kaum -wahrnehmbaren feinen Übergängen vom Intuitiven zum Verstehen. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht seine Erzählung Der Kirgise Temerbej (1921). Als beispielsweise Baibel, Malysöhkin, I-wanow bereits eine kritische Distanz zu ihren bisherigen Darstellungen der Revolutionsepoche gewonnen hatten, feilte Wesjoly noch immer seinen expressiven Stil aus, den er emotional so stark auflud, daß er glaubte, ohne Satzzeichen verstanden zu werden. Andere Schriftsteller wiederum waren bemüht, als Reaktion auf die um sich greifende Ernüchterung zur Zeit der Neuen ökonomischen Politik das verloren geglaubte heroische Weltgefühl über ihr Werk wieder in die Wirklichkeit einzubringen. Lawrenjow belegte diesen Tatbestand in einer seiner früheren Autobiographien: „Die Literatur füllt eine Lücke in meinem Leben aus, die durch die Verdrängung der Romantik aus dem Leben hervorgerufen ist. In literarischer Hinsicht bin ich Romantiker." 125 Leonow hingegen bekannte zum gleichen Zeitpunkt, was der Künstler auch immer ausspricht, sein Erleben unid Fühlen in der Gegenwart wird sidh immer, und sei es zwischen den Zeilen, mitteilen. Dieses neue Wirklichkeitsempfinden - die neue sozial-politische Umwelt - bedingte Mitte der zwanziger Jahre Veränderungen in der künstlerischen Struktur der Werke über den Bürgerkrieg. Die Schriftsteller wollten tiefer und umfassender in das Durchlebte eindringen. Die Folge war: Die realistischen Grundtendenzen dominierten im gesamten Literaturstrom. In den ersten größeren Weiten über den Bürgerlkrieg, in Malyschkins Der Fall von Dair (1921), Iwanows Panzerzug 14-69 (1921), Libedinskis Eine Woche (1922), Sasubrins Zwei Welten (1922), Fadejews Gegen die Strömung (1923), Furmanows Tschapajew und Serafimowitschs Der eiserne Strom (1924), wurde durch die expressive Kraft der Verdichtung eines realen Vorgangs ein Grad der künstlerischen Verallgemeinerung erreicht, der die Grundlage einer in der Weltliteratur neuen Erzählweise schuf. Die reichen 117

ästhetischen Möglichkeiten des Episohien wurden neu entdeckt und schöpferisch weiterentwickelt. Das war ein literaturgesdhichtlich und -theoretisch einzigartiges Phänomen. Eine neue realistische - sozialistische Prosa entwickelte sich zu einer Zeit, als sich infolge der Neuen Ökonomischen Politik der Klassenkampf erneut verschärfte und infolgedessen auch im literarischen Leben neue, andersgeartete schroffe Widersprüche entstanden.

Neue ökonomische Politik und Kultur Infolge der katastrophalen ökonomischen Folgen des Bürgerkrieges und des Boykotts der ausländischen Staaten verschlechterte sich Anfang der zwanziger Jahre die materielle Lage des Sowjetlandes erheblich. Alle künstlerischen Bereiche wurden davon stark betroffen, nicht ohne die 'Schuld der westeuropäischen „Kulturvölker". Lunatscharslci 'betonte idas wiederholt. Der zunehmende Papiermangel und die sich verringernde Druckkapazität verursachten 1919/1920 einen rapiden Rückgang der Buch- und Presseerzeugnisse. Viele mit revolutionärem Elan begonnenen Vorhäben - so die Bibliothek der Weltliteratur - konnten nicht im geplanten Umfang realisiert werden. Die Schriftsteller bemühten sich häufig vergeblich um Drucklegung ihrer Werke. Ihre Anstrengungen, auf genossenschaftlicher Grundlage zumindestens eine bestimmte Anzahl von Büchern zu drucken und zu verteilen, stießen auf erhebliche objektive Schwierigkeiten. Die Lage im Staatsverlag, der praktisch das gesamte Verlagswesen koordinieren sollte, war nicht minder katastrophal. Selbst das Erscheinen der Prawda war im Sommer 1921 gefährdet. 126 Ahnliche Symptome zeigten sich auch in anderen Kulturbereichen. Die finanziellen Mittel für Laienzirkel fehlten. Das Agitationsflheater verschwand vorübergehend fast völlig. Das war allerdings nicht ausschließlich eine Folgeerscheinung finanzieller Schwierigkeiten. Mit Beendigung des Bürgerkrieges veränderten sich viele Formen der Agitation mit künstlerischen Mitteln. So übernahmen nun die Laiengruppen der roten Sol118

daten und Matrosen in ihren eigenen Klubhäusern die Funktion der Wandertheater und Agitationszüge, die in den Einheiten der Roten Armee eine operative politische Agitationsarlbeit geleistet hatten. Die staatlichen Zuschüsse für die akademischen Theater sollten gestrichen werden. Lenin, der nach der Revolution das Bolschoi Theater vor der Schließung bewahrt hatte, lehnte unter den gegebenen erschwerten Bedingungen einen staatlichen Zuschuß von einer Milliarde Rubel für das Theater kategorisch ab. Im Jahre 1922 befaßte sich das Politbüro auf mehreren Sitzungen mit dieser Frage. „Mehrmals sollte das Bolschoi Theater geschlossen werden", erläuterte Lunatscharski, „um auf diese Weise die staatlichen Ausgaben zu reduzieren. Kürzungen würden damit im Griunde nicht erreicht, denn es stellte sich heraus, die Kosten, die der Staat gegenwärtig für das Bolschoi Theater aufbringt, sind sogar geringer als die Mittel, derer es zum Schutze des Gebäudes und zur Aufrechterhaltung des Orchesters bedurft hätte, an dessen Auflösung selbstverständlich niemand je gedacht hat." (LL 313) Auf Grund herabgesetzter Subventionen für alle Theater mußten die Eintrittspreise erneut erhöht werden. Dadurch füllte die Theatersäle vorübergehend wieder ein vorwiegend kleinbürgerliches Publikum. Viele Bühnen, die von örtlichen Institutionen finanziert wurden, konnten nicht weiter bestehen. War die Zahl der Berufsschauspieler, die von einer festen Gage lebten, anfangs sprunghaft angestiegen, so reduzierte sie sich erneut beträchtlich. Viele Kunstschaffenden sahen ihre Existenz gefährdet. Widersprüche entstanden unter anderem zwischen den gewachsenen Anforderungen an das Museums- und Bibliothekswesen und den zur Verfügung stehenden Fachkräften wie finanziellen Mitteln. 127 Viele Mitarbeiter verließen im Hungerjahr die Großstädte. Bei der Planung neuer Vorhaben und von Maßnahmen zur Sicherung der wichtigsten kulturellen Einrichtungen mußten daher nicht nur die Kosten einkalkuliert werden, sondern selbst die mögliche Anzahl zusätzlicher Lebensmittelnationen. In dieser Situation beschloß der X. Parteitag (1921) den Übergang vom Kriegskommunismus zur Neuen ökonomischen Politik (NÖP). Die Wiedereinführung der Ware-Geld-Bezie119

hung zwischen Stadt und Land über den Markt, den Handel und den Geldumlauf, verbunden mit einer zeitweilig beschränkten Zulassung des Privatikapitals unter strenger staatlicher Kontrolle, hatte das Ziel, die materielle Basis für den Aufbau des Sozialismus zu sichern. Die N Ö P festigte das Bündnis des Proletariats mit der Bauernschaft und anderen kleinbürgerlichen Schichten sowie die Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Spezialisten. Diese auf die ökonomische Festigung des Landes gerichteten Maßnahmen zogen ernsthafte Schwierigkeiten nach sich - ökonomischer wie auch ideologischer Natur. Nicht wenige sahen in dieser neuen Politik nicht nur einen Rückschritt gegenüber dem Kriegskommunismus. Sie stellten unter dem Einfluß der feindlichen Propaganda überhaupt die Richtigkeit der 1917 vollzogenen sozialistischen Revolution in Frage. Lenin widerlegte dergleichen revisionistische und reformistische Theorien und entwickelte 1922 die neuen Aufgaben. Der Plan „einer direkten und vollständigen Zerschlagung des Alten, um es durch eine neue ökonomische Gesellschaftsstruiktur zu ersetzen" (Lenin 33, 91), wurde in den ersten Jahren bis Anfang 1921 konsequent durchgeführt. Nun komme es darauf an, den „ökonomischen Aufbau der Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnung" zur Hauptaufgabe zu machen, da „auf diesem Gebiet das Wichtigste, das Fundamentalste noch nicht zu Ende geführt" (Lenin 33, 93) ist. Es müsse auf neue Art an die sozialistische Wirtschaft herangegangen werden. Dazu aber müsse man „von vorne anfangen zu lernen". (Lenin 33, 264) Lenin ging davon aus, daß jede neue Stufe, die bei der Entwidklung von Produktivkräften und Kultur erreicht wird, von einer weiteren Ausgestaltung und Umgestaltung des Sowjetsystems begleitet sein muß, zumal das wirtschaftliche wie kulturelle Niveau noch sehr niedrig waren. Er forderte daher eine Umgruppierung der Kräfte, das heißt, die Parteilosen wurden stärker zur Arbeit herangezogen. Die richtige Auswahl der Menschen und die Kontrolle über die Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben bezeichnete er in seiner Rede auf dem XI. Parteitag (1922) als „Angelpunkt" des Augenblicks. Lenin stützte sich auf Tatsachen. Eine Überprüfung habe ergeben, daß von 120 Kommissionen nur 16 Kommissionen 120

notwendig seien. Wenige Wochen zuvor hatte er Majakowskis Gedicht Die auf Sitzungen Versessenen „vom politischen und administrativen Standpunkt" lebhaft begrüßt - Majakowskis Verspottung von Leuten, „'die immierzu Sitzungen abhalten, Kommissionen bilden, Pläne aufstellen - ¡bis ins Unendliche. Es hat einen solchen Typ des russischen Lebens gegeben Oblomow. Er pflegte immer auf dem Bett zu liegen und Pläne zu schmieden . . . D e r a l t e O b l o m o w i s t n o c h d a , und man m u ß i h n l a n g e w a s c h e n , s ä u b e r n , z a u s e n und w a l k e n , d a m i t e t w a s V e r n ü n f tiges herauskommt Die praktische Ausführung der Dekrete, von denen wir mehr als genug haben und die wir mit jener Hast backen, die Majakowski geschildert hat, bleibt ohne Kontrolle." (Lenin 33, 209, 210) In diesem Zusammenhang verwies Lenin auf eine wichtige praktische Seite. Es habe sich ein „unrichtiges Verhältnis zwischen der Partei und den Sowjetinstitutiomen" (Lenin 33, 293) herausgebildet. Der Rat der Volkskommissare habe jede kleine Frage dem Politbüro unterbreitet. Dies sei zur allgemeinen Praxis geworden, weil die Verbinidung zwischen dem Rat der Volkskommissare und dem Politbüro weitgehend von ihm selbst aufrechterhalten wurde. (Ein anschauliches Beweismaterial liefert der umfangreiche Dokumentenband Lenin und Lunatscharski.) Das Politbüro müsse künftig von allem „Kleinkram" befreit und die Verantwortlichkeit und Selbständigkeit der leitenden Funktionäre im Staatsapparat müßten erhöht werden, bei gleichzeitiger systematischer Kontrolle der Arbeit der Volkskommissariate und des Rats der Volkskommissare. Der Partei sei „die Gesamtleitung der Arbeit aller Staatsorgane zusammen zu überlassen, ohne die gegenwärtige allzu häufige, unregelmäßige und oft kleinliche Einmischung". (Lenin 33, 239) Dieser Übergang zu neuen organisatorischen Formen hatte selbstverständlich auch wesentliche Auswirkungen auf die Kulturpolitik. Die Schlußfolgerung lautete: die richtigen Menschen an den richtigen Platz bei gleichzeitiger Intensivierung der ideologischen Arbeit, Beseitigung der „Kluft zwischen der Größe der Aufgaben, mit deren Durchführung begonnen worden ist, und der Armut, sowohl der materiellen als auch der kulturellen". 121

(Lenin 33, 238) Die größte Schwierigkeit des Augenblicks liege in den Menschen seihst. Der Erfolg der eingeleiteten Maßnahmen hänge nicht nur von der Staatsmacht ab, „sondern noch miehr vom Reifegrad des Proletariats und der werktätigen Menschen im allgemeinen, sodann vom Kulturniveau usw.". (Lenin 33, 170) Sowohl die Kommunistische Partei als auch die Sowjetinstitutionen, die Kultur- und Bildungsarbeit leisten, sowie alle Kommunisten in den Gewerkschaften müßten dem ideologischen Kampf gegen die kleinbürgerlichen Einflüsse, Strömungen und Abweichungen weit größere Aufmerksamkeit widmen, um so mehr, als die Neue ökonomische Politik zwangsläufig zu einer gewissen Stärkung des Kapitalismus führt. Der Gegensatz zwischen den Klasseninteressen der Arbeit und des Kapitals bleibe im privaten Sektor der Wirtschaft einstweilen bestehen. Die Gewerkschaften müßten die Klasseninteressen des Proletariats in seinem Kampf gegen das Kapital in jeder Hinsicht und mit allen Mitteln verteidigen. Im kulturellen Leben vertieften sich erneut die Widersprüche zwisohen den neuen sozialen Formen und den noch bestehenden bzw. wieder auflebenden Einrichtungen des alten bürgerlichen Kunstbetriebs. Der Einfluß der neuzugelassenen Privatverlage auf das Buch- und Zeitschriftenwesen nahm zu allerdings stand die hohe Zahl der Privatverlage in keinem Verhältnis zu ihrem praktischen Nutzen. Mit staatlicher Genehmigung wurden viele Bücher im Ausland gedruckt. Die Finanzierung erfolgte aus Privathand. Der ideologische Kampf auf dem Büchermarkt verschärfte sich. In literarischen Kreisen lebten einige Formen der bürgerlichen Boheme wieder auf. Extremistische, ultralinke und kleinbürgerliche Dichter produzierten slich in neugegründeten Klubs und Kaffeehäusern vor einem zum Teil fragwürdigen Publikum, den sogenannten NÖP-Leuten, nach der bewährten Methode: den Zuhörer schockieren. Die Partei- und staatlichen Organe standen vor der Aufgabe, unter den erschwerten materiellen Bedingungen die Errungenschaften der ersten Revolutionsjahre izu bewahren und weiter auszubauen, indem sie die im neuen Gesellschaftssystem liegenden Möglichkeiten einer zielgerichteten Kulturpolitik nutzten. Lenin forderte: Verbindung der gesamten ideologischen Ar122

beit in allen Bereichen der Kultur mit den neuen ökonomischen Hauptaufgaben. An diesem historischen Zeitpunkt setzen die „modernen" Revisionisten und „neuen Linken" ihre Kritik an der Kulturund Kunstpolitiik der ¡KPdSU an. Lenin und die Partei hätten auf diese Weise die proletarische Kulturrevolution „von oben" abgewürgt, das Ziel, eine proletarische Kultur und Kunst zu schaffen, aufgegeben und allen neuen fruchtbaren Experimenten auf ¡künstlerischem Gebiet ein En.de gesetzt. Allen marxistischen Darstellungen der tatsächlichen Vorgänge liege eine „Verwechslung von sozio-ökonomischen Hypothesen der Partei mit sozio-ökonomischen Realitäten" zugrunde. Obgleich sich dieser Vorwurf gegen die KPD zu einem späteren Zeitpunkt von der KPdSU ist an dieser Stelle nur in Klammern die Rede - richtet, so wird hier doch das methodologische Grundprinzip zur ¡Stützung der eigenen Hypothesen formuliert, daß Bogdanows Definition 'der proletarischen Literatur revolutionär gewesen sei, während Lenin „in Fragen der Kunst nicht revolutionär gedacht hätte. 128 Ohne große Schwierigkeiten läßt sich nachweisen, daß alle Konstruktionen dieser oder ähnlicher Art auf einer verblüffenden Unkenntnis der Theorie und Praxis der sozialistischen Revolution in Rußland basieren. Das übliche Schema lautet: Proleükult-Organisationen = kulturelle Massenbewegung = proletarische Kulturrevolution, „von der russischen. Arbeiterbewegung selber getragene Kulturrevolution". 129 * Damit wird der Trugschluß der Theoretiker des Proletkults kritiklos übernommen: Die Beziehungen zwischen 'kultureller Aktivität der Massen und staatlichen Organisationsformen im kapitalistischen System werden mechanisch auf idas sozialistische Gesellschaftssystem übertragen. Während sich im Kapitalismus die Aktivität der Massen auch auf dem Gebiet des Bildungswesens nur im Kämpf g e g e n die staatliche Bildungspolitik durchsetzen kann, sind in der Diktatur des Proletariats alle Formen und Mittel der staatlichen und parteilichen Bildungspolitik darauf gerichtet, daß sich der Drang der Volksmassen nach Wissen, 'Bildung, künstlerischer Selbstbetätigung maximal entfalten kann. Das war eine Lebensfrage des jungen Sowjetstaates! Die spezifischen Aspekte von Literatur und Kulturrevolution 123

sind aus dem gesamten Bildungsprogramm der Sowjetmacht abzuleiten, andernfalls bleiben entscheidende Faktoren, die auf den Literaturprozeß einwirkten, 'unberücksichtigt. Ideologie und Kunst Am 25. Juni 1918 unterschrieben Swerdlow als Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees und Lenin als Vorsitzender des Rats der Volkskommissare den Beschluß über die Sozialistische Akademie für Gesellschaftswissenschaften. Die Sektion für Wissenschaft sollte sich mit der Erforschung von Fragen des Sozialismus und Kommunismus auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften, der Philosophie und der Naturwissenschaften befassen .und Gesellschaftswissenschaftler ausbilden. Die Sektion Lehre und Ausbildung trug den Charakter einer Hochschule für Gesellschaftswissenschaften. Sie sollte die Lehre des wissenschaftlichen Sozialismus und Kommunismus unter den Volksmassen verbreiten und auf diese Weise dazu beitragen, daß die Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung auf der Grundlage der sozialistischen Weltanschauung durchgeführt wird. 130 Duroh diesen Beschluß wurde ein „einheitliches Zentrum zur Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften" geschaffen. Die Sozialistische Akademie entwickelte sich zu einem wichtigen Instrument der Partei, um die ideologische Arbeit im gesamtstaatlichen Maßstab zu koordinieren und die Gesellschaftswissenschaften mit den Interessen des proletarischen Staates in Ubereinstimmung zu bringen.131 Diese und eine Reihe weiterer Einrichtungen der „außerschulischen" Bildung Institut der Roten Professur, Swerdlow-Universität u. a. schufen die Voraussetzungen dafür, daß in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens der wissenschaftliche Sozialismus schöpferisch angewendet werden konnte. Im Mittelpunkt des neuen Parteiprogramms - es wurde auf dem VIII. Parteitag (1919) angenommen - stand die „Forderung nach größtmöglicher Entwicklung der Produktivkräfte" 132 . Die Partei betrachtete diese Aufgabe nicht nur als eine rein ökonomische. Das gesamte Volksbildungs- und Sozialprogramm verfolgte das gleiche Ziel. Das seit 1917 errichtete neue Schul124

und Bildungssystem sollte weiter ausgebaut und vorrangig Arbeitern der Zugang zu den Hochschulen ermöglicht werden. Breiteste Entfaltung der Propaganda der kommunistischen Ideen bei voller Nutzung des Apparats und der Mittel der Staatsmacht wurde für die gesamte Bildungsaribeit für verbindlich erklärt. „In der Periode der Diktatur des Proletariats, d. h. in der Periode, in der die Voraussetzungen für die volle Verwirklichung des Kommunismus geschaffen werden, soll die Schule nicht nur die Prinzipien des Kommunismus im allgemeinen vermitteln, sondern sie muß dem ideologischen, organisatorischen und erzieherischen Einfluß des Proletariats auf die halbproletarischen und nichtproletarischen Schichten der werktätigen Massen Geltung verschaffen, um eine Generation zu erziehen, die fähig ist, den Kommunismus endgültig zu verwirklichen." (Lenin 29, 95) Beachtung verdient noch ein von Lenin vorgeschlagener Punkt zur Neuregelung der nationalen Beziehungen: „Die Arbeiter jener Nationen, die im Kapitalismus Unterdrücker waren, . . . müssen nicht nur die tatsächliche Gleichberechtigung unterstützen, sondern auch die Entwicklung von Sprache und Literatur der werktätigen Massen der früher unterdrückten Nationen fördern, um alle Spuren (des aus der Epoche des Kapitalismus überkommenen Mißtrauens und der Entfremdung zu tilgen." (Lenin 29, 111) So wurde bereits im neuen Parteiprogramm die Entwicklung und Förderung aller nationalen Literaturen verankert. In die gigantische Bildungsarbeit der kommenden Jahre wurden die Volksmassen des Ostens einbezogen, „die bisher ein Objekt der internationalen Politik des Imperialismus waren und für die kapitalistische Kultur und Zivilisation nur als Düngemittel existierten" (Lenin 30, 144). Die kurz nach dem Oktoberumsturz angenommene Deklaration der Rechte der Völker Rußlands, die allen Nationalitäten innerhalb der Diktatur des Proletariats völlige Gleichberechtigung sicherte, war die Grundlage einer in der Weltgeschichte ibisher einmaligen schöpferischen Zusammenarbeit von Nationalitäten eines sehr unterschiedlichen Kulturniveaus im Geiste des proletarischen Internationalismus. Im neuen Parteiprogramm wurde ferner unterstrichen: 125

„ . . . die Entwicklung der Produktivkräfte verlangt den unverzüglichen breiten und allseitigen Einsatz der vom Kapitalismus als Erbe hinterlassenen Spezialisten auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik, ungeachtet dessen, daß sie in der Mehrzahl unvermeidlich von der bürgerlichen Weltanschauung und von bürgerlichen Gewohnheiten durchdrungen sind." 133 Die Zeit des harten Kampfes mit ihnen und der Sabotage sei vorbei. Die Linie lautete: keinerlei politische Zugeständnisse an diese Schicht und sofortige Unterdrückung von konterrevolutionären Aktionen bei gleichzeitiger konsequenter Ausmerzung jeglicher Selbstüberheblichkeit, 'die Werktätigen könnten den Kapitalismus und die bürgerliche Ordnung überwinden, „ohne bei den bürgerlichen Spezialisten zu lernen, ohne von ihnen Nutzen zu ziehen, ohne eine lange Schule der Arbeit an ihrer Seite durchzumachen"134. Lenin bezeichnete das Programm als „ein 'höchst wirksames Material für die Propaganda und Agitation". (Lenin 29, 208) Wenngleich von der Schaffung einer neuen Kunst und Literatur und ihrer hohen gesellschaftlichen Funktion im sozialistischen Staat an dieser Stelle noch nidht die Rede war - lediglich von den überlieferten alten Kunstschätzen, die allen Werktätigen zugänglich zu machen sind, so ist der Zusammenhang zwischen den Grundprinzipien der ideologischen Arbeit der Partei unter der -werktätigen Bevölkerung und der seinerzeit vom Volkskommissariat £ür Bildungswesen durchgeführten Kunst- und Literaturpolitik eindeutig. Theoretisch ergab sich dieser Zusammenhang aus der marxistischen Lehre von den engen Wechselbeziehungen zwischen materieller und geistiger Produktion. In der Praxis waren entsprechend den spezifischen Formen und Wirkungsmöglichkeiten der ¡künstlerischen Produktion Wege zu erkunden, um die veränderte Stellung und Rolle der Kunst und Literatur im neuen Gesellschaftssystem zu erkennen, zu fördern und zu festigen. Obwohl der ideologische Kampf hier andere Formen annahm als beispielsweise auf ökonomischem oder naturwissenschaftlichem Gebiet und demnach dem Zusammenwirken zwischen „alten" und „jungen" Künstlern weit größere Hindernisse entgegenstanden, so galt es auch hier, die Ideen des Marxismus zu verbreiten, sektierische Tendenzen gegenüber nichtproletarischen Künstlern zu unterbinden und 126

rechtzeitig alle Ansätze einer wirklich neuen, sozialistischen Kunst zu erkennen und zu entwickeln. Das Verhältnis zum künstlerischen Erbe wurde nicht zufällig zu einem Sohlüsselproblem der gesamten Kulturpolitik nach der Oktoberrevolution, ida hier schroffe Widersprüche zwischen .den kulturellen Maßnahmen der parteilichen und staatlichen Organe und den Bestrebungen einflußreicher künstlerischer Gruppierungen am offensten in Erscheinung traten. Auf künstlerischem Gebiet war zunächst idie Gefahr unwiderbringlicher Verluste und Einbußen - von ider „Bilderstürmerei" bis zur Propagierung einer pseudorevolutionären Kunst - am allergrößten. Es ist anzunehmen, .daß 'Lenin aus diesem Grunde den im Parteiprogramm enthaltenen Punkt über die alten ¡Kunstschätze formuliert und ins (Parteiprogramm eingebracht hat. 135 Die genaue Durchsicht der Dokumente der folgenden Parteitage sowie der Reden und Schriften Lenins beweist, mit welöher Konsequenz das Programm der KPdSU (B) in der jeweils veränderten politisch-ökonomischen Situation verwirklicht wurde. Die im neuen Gesellschaftssystem liegenden Möglichkeiten einer sozialistischen Kulturpolitik wurden intensiviert. Der X. Parteitag (1921) forderte eine verstärkte Propaganda- und Agitationsarbeit. Praktische Maßnahmen zur Schulung der Arbeiter - unter anderem die Schaffung von vier großen Bildungsstätten nach dem Voribild der Swerdlow-Universität - wurden eingeleitet. Auf dem XI. Parteitag (1922) gelangte Lenin zu der Schlußfolgerung: Die Neue Ökonomische Politik sichere dem Sowjetland ökonomisch und politisch vollauf die Möglichkeit, das Fundament der sozialistischen Wirtschaft zu errichten. Es 'komme „nur" auf die kulturellen Kräfte des Proletariats und seiner Avantgarde an. (Lenin 33, 237-238) Der Parteitag unterstützte die von Lenin ausgearbeitete Linie. In der Resolution über die Presse und Propagandaarbeit heißt es: „In Anbetracht der Bemühungen der Bourgeoisie, vermittels der Literatur und Kulturarbeit die werktätigen Massen zu beeinflussen, vertritt der Parteitag die Meinung, daß diesem Einfluß eine tatkräftige politische Arbeit entgegengesetzt werden muß." 136 Zur Unterbindung der antisowjetischen Tätigkeit einiger be127

sonders aktiver ideologischer Kräfte sah sich die Sowjetregierung auch zu scharfen administrativen Maßnahmen gezwungen. Berdjajew, Frank, Stepun u. a. wurden des Landes verwiesen. Um die praktische Umsetzung der Parteibeschlüsse in der Arbeit des Volkskommissariats für Bildungswesen mit seinen sehr umfangreichen und vierzweigten Aufgaben zu sichern, wurden einige Maßnahmen getroffen. Am 28. Oktober 1920 wurde .der Hauptausschuß für politisch-kulturelle Aufklärung unter dem Vorsitz von Nadeshda ¡Krupskaja gebildet. 137 Am 5. Februar 1921 wurden die Direktiven des Zentralkomitees an die im Volkskommissariat für Bildungswesen arbeitenden Kommunisten erlassen.138 Das Ziel war eine effektivere Arbeit und bessere Koordinierung aller Abteilungen des Volkskommissariats, ihre systematische Ausrichtung auf die gesellschaftliche Praxis. In der von Lenin vorgeschlagenen neuen Struktur waren eine Abteilung für außerschulische Fragen, identisch mit dem Hauptausschuß für politisch-kulturelle Aufklärung, und eine Abteilung für künstlerische Fragen vorgesehen: „Der künstlerische Sektor ist als ein einheitlicher Sektor zu belassen, wobei . P o l i t k o m m i s s a r e ' aus den Reihen der K o m m u n i s t e n in alle zentralen und leitenden Institutionen dieses Sektors einzusetzen sind." (LL 236) Diese praktischen Schlußfolgerungen aus seinen Darlegungen auf der Gesamtrussischen Konferenz der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung vom 3. November 1920 bekräftigen, welch große Bedeutung Lenin einer p a r t e i l i c h e n L e i t u n g aller künstlerischen Bereiche und einer intensiveren ideologischen Arbeit auch auf diesem Gebiet beimaß. Am 13. Februar 1921 veröffentlichte die Prawda Nadeshda Krupskajas Artikel Der Hauptausschuß für politisch-kulturelle Aufklärung und die Kunst. Sie wies nach, daß die politisch-kulturelle Aufklärungsarbeit von der künstlerischen Propaganda nicht zu trennen sei. Die Revolution habe auf die emotionale Seite des Lebens die stärksten Auswirkungen gehabt. Sie habe in den Massen eine Fülle von unklaren, unbewußten Gefühlen geweckt .und sie innerlich zutiefst aufgewühlt. Daraus sei der Drang und das Streben der Kunst zu erklären, „mit Hilfe der Kunst das darzustellen, was sich im Innern vollzieht . . . Die 128

Aufgabe des Volkskommissariats für Bildungs-wesen bestand darin, die Kunst zu einer Art Resonator zu machen, der alles Kommunistische, Kollektive, Kühne und Schöne, das durch die Revolution im Inneren der Masse geweckt wurde, verstärkt. Und die Aufgabe der Kunst war es, sich ihrerseits den Massen soweit wie möglich anzunähern, Formen zu finden, . . . die den Lebensbedingungen der Massen entsprechen, sie zutiefst bewegen."139 N. Krups'kaja äußerte auch Bedenken. Die Kunst sei bisher noch keine so starke Waffe zur Erziehung der kommunistischen Gefühle, zu deren Organisierung und Festigung. Diese Aufgabe habe das Volkskommissariat noch nicht bewältigt. Zu berücksichtigen seien allerdings die noch gesetzten objektiven Grenzen innerhalb der künstlerischen Intelligenz, die Notwendigkeit, auf experimentellem Wege jene neuen Formen zu entwickeln, die tatsächlich eine Annäherung von Kunst und Massen ermöglichen. Die Futuristen hätten geglaubt, den Massen am nächsten izu stehen, wurden aber von ihnen meist nicht verstanden. Die einzigen Chancen, den Aufgaben der Epoche gewachsen zu sein, sah sie darin, alles Kommunistische zum Inhalt der organisatorischen Arbeit zu madien, ohne dabei in Utilitarismus zu verfallen, und solchen Mitarbeitern leitende Funktionen zu übertragen, die sich innerlich eng mit den Massen verbunden fühlen. N. Krupskaja trug seinerzeit die gesamte Verantwortung für die künstlerische Agitation. Walentin Katajew erinnert sich, wie sämtliche Agitationsverse aus seiner Feder von ihr durchgesehen wurden. Häufig rief sie den jungen Dichter zu sich und wies ihn auf Ungenauigkeiten und stilistische Unebenheiten ¡hin. Sie nannte ihm neue Themen und regte ihn an, „ultraaktuelle", wie sie sich ausdrückte, Verse, gereimte Losungen und Fabeln zu schreiben. Eines Tages erzählte sie ihm, Lenin sei der Meinung, die Dichter sollten sich weniger mit allgemeinem Wortgeprassel und Agitationsversen befassen und statt dessen lieber sämtliche Dekrete studieren und populäre Broschüren schreiben. Katejew griff diese Anregung auf und verfaßte unter der Anleitung von Nadeshda Krupskaja die Broschüre Die neue Wohnungspolitik.ii0 Lenins Anweisung an Lunatsöharski vom 9. April 1921, alle Mittel der Propaganda - Flugblätter, Broschüren, Wanderaus9

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Stellungen, Dokumentär- und Lehrfilme, Lehrbücher - zur Erhöhung der Torfgewinnung einzusetzen, entsprach seiner Forderung, mehr Aufmerksamkeit der sogenannten Produktionspropaganda zuzuwenden, daß heißt der Popularisierung wissenschaftlich-technischer Ideen unter der werktätigen Bevölkerung. (LL 367, 368) Die stärkere Orientierung der gesamten propagandistischen Tätigkeit, einschließlich bestimmter künstlerischer Mittel und Formen, auf die ökonomischen Hauptaufgaben ist jedoch keinesfalls mit der Propagierung der „Produiktionskunst" seitens der „Linken" und des Proletkults zu verwechseln - einer Kunstrichtung, die Lenin aufs schärfste verurteilte. Beabsichtigt war auch nicht eine pragmatische Ausrichtung der gesamten künstlerischen Betätigung je nach den tagespolitischen Notwendigkeiten in 'der Propaganda und Agitation. Das beweisen der erwähnte Artikel von Nadeshda Krupskaia sowie Lunatscharskis Aufsatz Unsere Aufgaben auf dem Gebiet des künstlerischen Lebens. Lunatscharski nannte drei Hauptaufgaben bei der künstlerischen Erziehung der Massen: 1. agitatorisch-propagandistische Arbeit mit den Mitteln der Kunst 2. Unterstützung bei der Herausbildung einer selbständigen proletarischen und bäuerlichen Kunst und 3. Popularisierung bedeutender Kunstwerke der Vergangenheit, auch wenn sie keinen unmittelbar agitatorischen oder propagandistischen Gharakter haben. (AVL 7, 244) Zwei Probleme der Literaturpolitik stellte Lunatscharski zum gegebenen Zeitpunkt in den Mittelpunkt: die Kommentierung der Werke der russischen klassischen Literatur und der Weltliteratur vom marxistischen Standpunkt sowie eine äußerst behutsame Förderung aller jungen proletarischen Dichter. Von ihnen, nur von ihnen sei „jene echte Kunst zu erwarten, in der Agitation (das heißt schlicht kommunistische Aufrichtigkeit) und Schönheit der Form (das heißt schlicht künstlerische Überzeugungskraft, Eindringlichkeit) zusammenfallen". (AVL 7, 254) Lunatscharskis Sympathien waren offensichtlich auf der Seite dieser jungen Arbeiterdichter, trotz einer gewissen Einförmigkeit ihrer poetischen Sprache, da sie an die großen realistischen Traditionen der Vergangenheit anknüpften. 130

Der Weg zu einer proletarischen, sozialistischen Kunst führe nicht über den „Futurismus". Davon war er fest überzeugt. Dennoch warnte er sehr eindringlich davor, mit administrativen Mitteln die Entwicklung der sogenannten neuen Kunst aufzuhalten. Auf 'diese Weise würden viele junge Künstler, die sehr aufrichtig zur Sowjetmacht stehen, zurückgestoßen. Einige ihrer künstlerischen Entdeckungen könnten jedoch im Verlaufe der weiteren Literaturentwicklung 'durchaus nützlich sein. Offensichtlich schätzte Lunatscharski anfangs noch nicht in vollem Umfang real die Reibungen und Widersprüche ein, die sich gesetzmäßig aus den Kontakten zwischen den revolutionär gesinnten „linken" Künstlern und der revolutionären Wirklichkeit ergeben mußten. Bereits 1918 mußte er eingestehen: „Bei meinen Bemühungen, eine Annäherung zwischen der jungen Kunst - den begabten Vertretern dieser Kunst - und den Arbeitermassen zu erreichen, stieß ich ständig auf äußerst hartnäckigen Widerstand - einen Widerstand nicht nur von Seiten der Massen, sondern auch von «eiten der besten Vertreter der Arbeiterklasse, die ablehnend den Kopf schüttelten und sagten: .Nein, das geht nicht.'" 141 Damit war eines der Grundprolbleme der neuen Kunstentwicklung formuliert: die enge Verbindung von Kunst und Volksmassen - die Volksverbundenheit der revolutionären Literatur als Voraussetzung ihrer tiefen inneren Übereinstimmung mit den großen Ideen der Epoche.

Proletarische Kultur und Proletkult Programmatisch verkündete Lenin auf dem III. Gesamtrussischen Kongreß des Kommunistischen Jugendverbands (1920): Die proletarische Kultur setzt die genaue Kenntnis, Umarbeitung und gesetzmäßige Weiterentwicklung der in der gesamten Menschheitsgeschichte geschaffenen Kultur voraus. Der Aufbau der kommunistischen Gesellschaft erfordert die Umsetzung des „ganzen heutigen Wissens" in der praktischen Arbeit. Die Erziehung zur kommunistischen Moral ist die Grundlage, um die Jugend zu gebildeten Menschen zu entwickeln, die in der 9*

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Lage sind, „sich selbständig kommunistische Anschauungen zu erarbeiten". (Lenin 31, 285) In der gemeinsamen bewußten und disziplinierten Arbeit - und nicht in der Beschränkung auf das Lesen von kommunistischen Broschüren und Büchern - verwirklicht sich das Bildungsziel der neuen Gesellschaftsordnung. Am 5. Oktober ibegann die Prawda mit dem Abdruck der Rede Lenins. Am gleichen Tage wurde in Moskau der 1. Allrussische Kongreß der Proletkult-Organisationen eröffnet, der eine entgegengesetzte Linie verfolgte. Aufgegeben wurde weder der „Organisationsplan" des Prolefikults, das heißt seine proklamierte Selbständigkeit als „künstlerisch-schöpferische Klassenorganisation" neben der politischen und ökonomischen Bewegung, neben der einseitig interpretierten Funktion von Partei und Gewerkschaften, noch die Bogdanowsche These: „Die Kunst organisiert vermittels lebendiger Gestalten die soziale Erfahrung nicht nur in der Sphäre des Gefühls und des Wollens. Infolgedessen ist sie das stärkste Mittel zur Organisierung der Kollektivkräfte, in der Klassengesellschaft der Klassenkräfte." 142 Bogdanow faßte die Kultur nur als „geistige" Kultur, betrachtete sie schließlich als ein Teilgebiet der Ideologie und abstrahierte sie völlig von der Umwelt, von der historisch konkreten praktischen Lebenstätigkeit des Menschen. Lunatscharski sprach am 7. Oktober im Auftrage Lenins. Auf Grund einer Zeitungsnotiz stellte Lenin fest, Lunatscharski habe das d i r e k t e G e g e n t e i l von dem gesagt, was mit ihm besprochen worden ist. Lunatscharski erklärte Lenin, daß seine Ausführungen in der Presse nicht exakt wiedergegeben wurden. Offensichtlich war aber sein Auftreten nicht konsequent 143 : „Wladimir Iljitsch wollte, daß wir den Proletkult an den Staat heranziehen und gleichzeitig Maßnahmen ergreifen, um ihn auch an die Partei heranzuziehen. Die Fassung meiner Rede auf dem Kongreß war ziemlich ausweichend und versöhnlerisch. Ich hielt es nicht für richtig, zum Angriff überzugehen und die versammelten Arbeiter zu verletzen. Wladimir Iljitsch wurde diese Rede in einer noch milderen Fassung vorgelegt. Er rief mich zu sich und kritisierte mich ischarf. Später wurde der Proletkult entsprechend den Anweisungen Wladimir Iljitschs umorganisiert. An seine Auflösung, das möchte ich betonen, hat er nie gedacht. Im Gegenteil, 132

für seine rein künstlerischen Aufgaben hegte er Sympathie." (AVL 7, 405-406) Die Debatte im Politbüro am 9. Oktober zu Lenins Resolutionsentwurf über den Proletkult verlief äußerst 'heftig. Lenin nahm neunmal das Wort. Offensichtlich gab es zwischen ihm und Bucharin sehr ernste Meinungsverschiedenheiten. In einer Notiz, die er Bucharin izwei Tage später auf der nächsten Politbüro-Sitzung überreichte, forderte er ihn auf, die persönlichen Meinungsverschiedenheiten aus dem Spiel zu lassen, wenn es 'doch im Namen des ZK genüge zu erklären und zu beweisen: „1. proletarische Kultur = Kommunismus 2. wird von der KPR durchgeführt 3. klass.-proletar. = KPR = S o w j e t m a c h t . Darin sind wir uns doch alle einig?" (Lenin, Briefe 6, 306) Nach weiteren Beratungen im Politbüro veröffentlichte schließlich die Prawda am 10. Dezember den Brief des ZK Uber die Proletkult-Organisationen. Der ideologische wie organisatorische Führungsanspruch des Proletkults auf dem Gebiet der Kultur wurde energisch zurückgewiesen und die Organisation im Sinne der Beschlüsse des IX. Parteitages den Partei- und staatlichen Leitungen unterstellt. In der ausführlichen Begründung heißt es unter anderem: In die Organisation seien fremde soziale - kleinbürgerliche Elemente - eingedrungen, die faktisch die Leitung an sich gerissen haben. Unter dem Anschein „proletarischer Kultur" habe man den Arbeitern bürgerliche Ansohauungen in der Philosophie, den Machismus, präsentiert, und auf dem Gebiet der Kunst habe man ihnen einen unsinnigen, verdrehten Geschmack, den Futurismus, eingeimpft. Anstatt der Jugend ernsthaft zu helfen, eine kommunistische Beziehung zu allen Fragen des Lebens und der Kunst zu gewinnen, hätten Künstler und Philosophen, die im Grunde dem Kommunismus fernstehen, ihre halbbürgerlichen „Systeme" und Hirngespinste als „proletarische Kultur" verbreitet. Nach Beendigung des Bürgerkrieges könne die Partei den kulturellen Fragen und der Volksbildung endlich mehr Aufmerksamkeit widmen und 'die Bemühungen der fortschrittlichen Arbeiter um eine allseitige Entfaltung ihrer Persönlichkeit mit allen Kräften unterstützen. Im Volkskommissariat für 133

Bildungswesen zeigten sich auf dem Gebiet 'der Kunst ähnliche intelligenzlerische Tendenzen. In der Verschmelzung der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung in den Gouvernements mit den Proletkult-Organisationen sah das Z K eine Garantie, „daß die besten proletarischen Elemente, die sich bisher in den Proletkult-Organisationen ¡zusammengeschlossen hatten, . . . der Partei helfen, der gesamten Arbeit des Volkskommissariats einen wirklich proletarischen Charakter zu verleihen". Das Z K rief zur Schaffung einer „echten, unverfälschten proletarischen Kultur" auf. 1 4 4 Ein Jahr später, am 22. November 1921, sah sich das Politbüro erneut genötigt, in einem Beschluß über den Proletkult die Plattform der sogenannten „Kollektivisten" zu kritisieren. Es appellierte an die Kommunisten innerhalb der ProletkultOrganisationen, „allen Versuchen, die materialistische Weltanschauung durch Surrogate der bürgerlich-idealistischen Philosophie (Bogdanow und andere) zu ersetzen, eine ideologische Abfuhr zu erteilen". (LLI 597) Die Partei stützte sich also auf die klassenbewußten Kräfte in den Proletkult-Organisationen, ihre p o s i t i v e n Erfahrungen, und befürwortete deren Zusammenführung mit allen auf staatlicher Ebene geschaffenen kulturellen Einrichtungen. Auf diese Weise wurde eine Zersplitterung der Kräfte unterbunden und die schöpferische Initiative der Volksmassen auf ein gemeinsames Ziel gerichtet. Die Kulturrevolution war nicht eine Angelegenheit der sich abkapselnden und von idealistischen Kulturkonzeptionen durchdrungenen Proletkult-Organisationen, sondern eine Angelegenheit der Diktatur des Proletariats, der werktätigen Massen in ihrer Gesamtheit. Die Parteidokumente der Jahre 1920-1922 zu Fragen der proletarischen Kultur tragen eindeutig Lenins Handschrift. Erfolge konnten in der Kulturarbeit nur erzielt werden, wenn sie sich auf die bewußten Kräfte des Proletariats stützte. Das war eine der wichtigsten Schlußfolgerungen. Im Herbst 1922 feierten die Bogdanowischen ProletkultThesen in einer Variante Pletnjows, des Vorsitzenden des Proletkults, ihre Wiederauferstehung - das war ein Versuch, über die Theorie einer vermeintlichen „Soziologisierung der Wissenschaft" der Kultur insgesamt Methoden aufzuzwingen, die in 134

Widerspruch zu ihren spezifischen Entwicklungsgesetzen stehen. Pletnjows Artikel An der literarischen Front (LLI 457 bis 466), am 27. September 1922 in der Prawda veröffentlicht, las Lenin sofort und versah ihn mit teils sehr scharfen Randbemerkungen. Noch am selben Tag schickte er dieses Exemplar zusammen mit einer Notiz an Bucharin: „Wozu in aller Welt unter dem Deckmantel eines wichtigtuerischen, mit sämtlichen gelehrten und Modewörtern ausgestatteten Feuilletons von Pletnjow Dummheiten veröffentlichen? . . . Der Verfasser muß nicht eine .proletarische' Wissenschaft studieren. Er muß einfach studieren . . . Das ist doch eine V e r f ä l s c h u n g des historischen Materialismus! Ein Spiel mit dem historischen Materialismus!" (Lenin 35, 532) Die Auseinandersetzung spitzte sich zu, zumal Trotzki und Bucharin für Pletnjow gegen Lenin Partei ergriffen, obzwar sie nicht offen in der Presse auftraten. Bucharin als Redaktionsmitglied der Prawda zögerte, den Abdruck der scharfen Entgegnungen Ja Jakowlews, des stellvertretenden Leiters der Abteilung für Propaganda und Agitation beim ZK der Partei, hinaus. Der Artikel Über die proletarische Kultur' und den Proletkult (LLI 598-612) erschien schließlich am 24. und 25. Oktober. Dieser Artikel war in allen grundsätzlichen Fragen mit Lenin abgesprochen und korrespondierte eindeutig mit Lenins 1925 erstmalig veröffentlichten Randbemerkungen zu Pletnjow, die Jakowlew offensichtlich kannte. In die öffentliche Diskussion schalteten sich auch N. Krupskaja und Lunatscharski ein. 145 Der Kardinalfehler von Pletnjows Konzeption beruhte auf der schematischen Übertragung der Veränderungen, die sich im Zuge der proletarischen Revolution in der Produktion vollzogen, auf den gesamten Uberbau. Das war zugleich die theoretisch untermauerte Absage an die Bewahrung, schöpferische Aneignung und Weiterführung des Kulturerbes. Aus der Verfälschung des historischen Materialismus - der Beziehungen zwischen Basis und Überbau - resultierte eine ganze Kette von Fehlschlüssen in bezug auf das künstlerische Erbe und auf die sozialen Kräfte, die die proletarische Kultur und Kunst schaffen. Pletnjow hatte verkündet: „Die Schaffung einer neuen Klassenkultur ist das Hauptziel des Proletkults. Die Entfaltung 135

und Konzentration der schöpferischen Kräfte des Proletariats auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst ist die praktische Hauptaufgabe." (LLI 457) Jakowlew (kritisierte den idealistischen Kulturbegriff Pletnjows: „Wenn wir über die .Kultur' nach den von Pletnjow erwähnten 'konkreten Erscheinungen einer .proletarischen Kultur* urteilen, so ist die Kultur auf Wissenschaft, Theater und Kunst minus ihrer materiellen Elemente zurückzuführen." (LLI 599) Und wenn man dabei noch berücksichtigte, daß nach Pletnjow die Ideologie „weiter" als die Kultur ist, so zeige sich das ganze terminologische Durcheinander. Auf Grund der materiellen und kulturellen Rückständigkeit Rußlands stellte Jakowlew drei kulturelle Hauptaufgaben zum gegebenen Zeitpunkt Pletnjows Konstruktionen gegenüber: Arbeitsorganisation wenigstens nach dem „bürgerlichen europäischen oder amerikanischen Muster", Einführung elementarer kultureller Gepflogenheiten, das heißt Kampf gegen die Kopflaus, gegen alle rückständigen Lebensgewohnhieiten, und schließlich Beseitigung des Analphabetentums. Pletnjow wolle die in Rußland noch fehlende „bürgerliche Kultur" elementarste Formen der Kultur - überspringen und ignoriere dabei völlig das praktische Leben, die auf Rußland noch lastende Rückständigkeit. Illusionär waren auch Pletnjows Vorstellungen von einer bereits endgültig herausgebildeten Klassenmoral des Proletariats, vor allem des Industrieproletariats, ohne Berücksichtigung des hohen Anteils der analphabetischen bäuerlichen Elemente in den Fabriken. Dieses „phantastische Modell des Arbeiters", das den Überlegungen des Proletkults zugrunde gelegt ist, sei irreal. Während die Revolution nicht ohne Enthusiasmus und Elemente der Phantastik vollbracht werden konnte, so sei .„Phantastik' gegenwärtig unnötig und schädlich, sobald sie jene Aufgaben verdrängt, die von den augenblicklichen Bedingungen bestimmt werden und die 'den wirklichen Interessen des Proletariats entsprechen". (LLI 603) Schaffung einer „proletarischen Kultur" a u s s c h l i e ß l i c h mit den Kräften des Proletariats sei die mechanische Übertragung der Fehler aus den Jahren 1918-1919 gegenüber den Militärspezialisten und aus den Jahren 1919-1921 gegenüber den Wirtschaftsspeziali136

sten auf das Gebiet der Kultur. (Diese Frage tauchte in den Diskussionen der Jahre 1923-1925 mehrmals wieder auf.) Nadeshda Krupskaja, sie hatte im März 1918 als eine der ersten einseitig überspitzte Tendenzen des Proletkults signalisiert, entgegnete Pletnjow: „Die proletarische Herkunft allein genügt nicht. Das Proletariat muß erst seine eigenen Klassenaufgaben erkennen und in sich ein Klassenbewußtsein entwikkeln." 146 Man könne keine proletarische Kultur „ausbrüten". Man könne ihr höchstens den Weg ebnen. Wachsen werde sie nur auf dem Boden der Wirklichkeit. Das vom Proletkult praktizierte Abkapseln von der Umwelt, von allem Nichtproletarischen führe zu keinem Ergebnis. Die Revolution habe gezeigt, welch starke emotionale Wirkung von der Kunst ausgehen könne. Eine wirklich proletarische Kunst gebe es noch nicht, nur „einige Werke, die die Ideologie des Proletariats, seine Erfahrungen, Bemühungen und Ideale widerspiegeln"147. Clara Zetkin bezog sich offensichtlich auf diese Polemik, als sie auf dem V. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale zur Frage einer besonderen proletarischen Wissenschaft, Kunst und Kultur erklärte: „Mit Lenin verneine ich sie entschieden. Kunst und Kultur sind nicht Homunkuli, die sich in der Retorte von Ästhetisierenden nach klug ersonnenen Formeln fabrizieren lassen."148 Lunatscharski vertrat ebenfalls Jakowlews Position und wies entschieden Pletnjows Versuch zurück, in Anlehnung an die „linken" Künstler alles Psychische - Gedanken, Emotionen - aus der Kunst zu entfernen, im Glauben, damit den bürgerlichen „Geist" auszutreiben. Zur These Pletnjows: „Die bildende Kunst der neuen Welt wird eine Produktionskunst sein, oder sie wird überhaupt nicht sein" (LLI 64) und zu dem von ihm gebrauchten Bild von der Schönheit eines Flugzeugs schrieb Lunatscharski: Die hochentwickelte bürgerliche Technik bringe zweifellos neue, auf Zweckmäßigkeit gerichtete schöne künstlerische Formen hervor. Die „linken" Künstler hingegen schleppten eine Karrikatur der Maschine, des Flugzeugs (damit könne man ja nicht fliegen!) in die Literatur, Malerei, Skulptur und auf die Bühne. In der seelenlosen analytischen Kunst der Kubisten und Futuristen, von der ein Teil der Jugend begeistert ist, zeigten sich Einflüsse des Verfalls 137

der bürgerlichen Kunst trotz der hochentwickelten bürgerlichen Technik. „Die Bourgeoisie hat Wunderwerke auf dem Gebiet der Technik vollbracht. Und gleichzeitig hat sie jeglichen inneren Gehalt, Ideale, Kraft und Kühnheit des Denkens, starke Gefühle vollständig eingebüßt . . . Es liegt ein besonderer Reiz darin, wenn man sagt, ein zweckmäßig konstruiertes Flugzeug ist schön. Aber sprechen wir beispielsweise von einem schönen revolutionären Marsch. Was heißt das - ihn zweckmäßig komponieren? Von was für einer T e c h n i k kann hier die Rede sein, wenn nicht von einer künstlerischen Technik? Ein Marsch wird wie die Marseillaise als schön empfunden, wenn in ihm eine große, in Rhythmen gefaßte Leidenschaft adäquat ausgedrückt ist." (AVL 7, 292) Kritisch vermerkte Lunatsoharski zu Jakowlew, er habe den Unterschied zwischen der „materiellen" Kultur und der „geistigen" Kultur nicht genügend beachtet. Das zeige sich in der Haltung zu Ehrenburgs ästhetischem Credo in seinem Buch Und, sie bewegt sieb docb\ Lenin hatte am Rande zu Pletnjows Bemertkung über das Flugzeug vermerkt: „Richtig, aber konkret (Ehrenburg)." (LLI 464) Das veranlaßte vermutlich Jakowlew von Ehrenburg unter anderem zu zitieren: „Die Aufgabe: ein Ding konstruieren, das fliegt. Einwandfreie Genauigkeit der Berechnungen. Ökonomie des Materials. Zweckmäßigkeit jedes Details. Durchdachte Proportionen. Klarer Plan. Sorgfältige Ausführung. Im Ergebnis ein wirklich schönes Ding." (LLI 611) Jakowlew hatte eine Charakteristik der schwankenden politischen Haltung Ehrenburgs zu jener Zeit gegeben und gleichzeitig hinzugefügt, daß sich in diesem Buch eine neue, frische Einstellung zur Kunst zeige. Lunatscharski hingegen sah in Ehrenburgs Propagierung der industriellen Kunst keinen produktiven Ansatz der neuen proletarischen Kunst, die vielmehr nach Gedankentiefe und Emotionalität strebe: „Das neue Leben hat sein eigenes Tempo und sein eigenes Feuer, das in den ersten Schritten des künstlerischen Schaffens wahrhaft begabter proletarischer Künstler zum Ausdruck kommt." Sie werden sich auf die besten Leistungen der Weltkultur stützen, ohne sich jedoch ihnen unterzuordnen. So beurteilte Lunatscharski die „Prognose in bezug auf die proletarische Kultur" (AVL 7, 293). 138

Desgleichen warnte Lunatscharski vor einer Gleichstellung der proletarischen Kulturbewegung zum gegebenen Zeitpunkt mit Überwindung von Analphabetentum und Kampf gegen die Kopflaus - Tendenzen dieser Art sah er in Jakowlews Artikel. Diese Korrektur sollte in den künftigen Debatten um den Leninschen Kulturbegriff noch eine wichtige Rolle spielen. In dieser Situation schrieb Lenin einige seiner vielbeachteten Bemerkungen zur sozialistischen Kulturrevolution.

Kulturrevolution „Während wir über proletarische Kultur und ihr Verhältnis zur bürgerlichen Kultur geschwatzt haben", notierte Lenin am 2. Januar 1923 in den Tagebuchblättern, „bieten uns die Tatsachen Zahlen dar, die zeigen, daß es bei uns sogar um die bürgerliche Kultur sehr schwach bestellt ist." (Lenin 33, 447) Der Fortschritt selbst im Vergleich zu den zaristischen Zeiten gehe zu langsam voran - dies als „strenge Warnung und ein ernster Vorwurf an die Adresse derjenigen, die in Träumereien von der .proletarischen Kultur' geschwelgt halben und bis jetzt schwelgen". (Lenin 33, 448) Lenin schrieb von der noch bestehenden „halbasiatischen Kulturlosigkeit", forderte wirksame Schritte, damit „auf dem Boden der proletarischen Errungenschaften tatsächlich ein einigermaßen hohes Kulturniveau" erreicht wird. Und am 2. März in Lieber weniger, aber besser: „Für den Anfang sollte uns eine wirtlich bürgerliche Kultur genügen, sollte es uns genügen, wenn wir ohne die besonders ausgeprägten Typen vorbürgerlicher Kultur auskommen, d. h. der Beamten- und Leibeigenschaftskultur usw. In Kulturfragen gibt es nichts Schädlicheres als Übereile und Leichtfertigkeit." (Lenin 33, 474) Diese Äußerungen werden bis heute von Theoretikern des Anti'kommunismus und Revisionisten „moderner" Prägung verfälscht. Lenins Kulturbegriff wird auf die Aneignung der elementarsten kulturellen - einschließlich hygienischen - Gewohnheiten der entmachteten Bourgeoisie reduziert. Seine 139

Theorie von den zwei Kulturen innerhalb der bürgerlichen Nationalkultur wird einfach eliminiert. Nach dieser Version bedeutet die von Lenin geforderte Kulturrevolution als Vorbedingung für die Entwicklung des Sozialismus nichts anderes als Verbreitung der bürgerlichen Kultur unter den Volksmassen.149 Konstruktionen dieser Art dienen der offen reaktionären oder auch geschickt verschleierten (was auf dasselbe hinausläuft) Verbiegung der marxistisch-leninistischen Kulturtheorie. Trotzkis Patenschaft ist unverkennbar. Da ist wieder die Rede von der „Pflicht und Chance der Intellektuellen, die Macht von außen und innen her auseinanderzumanövrieren"150, von ihrer Führungsrolle auf ideologischem Gebiet und von der Unfähigkeit des Proletariats, eine sozialistische Kultur und folglich auch eine sozialistische Kunst und Literatur zu schaffen. Geschult an idealistischen Denkmodellen der Hypertrophierung aller geistigen Werte, versuchen die Kritiker Lenins, heute wie damals, in der Rolle von „Hütern der Kultur" die Gewohnheiten und Gepflogenheiten der auf Privateigentum basierenden Gesellschaftsformation zu zementieren. Der Kern der in zwei Jahrzehnten entwickelten Kulturauffassungen Lenins, ihre Verallgemeinerung und Weiterentwicklung unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats in der Theorie von der sozialistischen Kulturrevolution wird nicht verstanden oder wissentlich verfälscht. Insofern laufen die Kritiken an Lenins Theorie von „neulinken" oder „modernen" revisionistischen Positionen auf ein und dasselbe hinaus: Lenin wird abgesprochen, auf dem Gebiet der Kultur eine wirklich r e v o l u t i o n ä r e Politik verfochten zu haben. Dergleichen mögliche und noch zu seinen Lebzeiten praktizierte Entstellungen bewegten Lenin am allerwenigsten. Seine äußerst scharfe Polemik Anfang des Jahres 1923 gegen die Verfechter einer „proletarischen Kultur" und ihre Theorien von der in Bausch und Bogen als reaktionär zu verwerfenden bürgerlichen Kultur war Ausdruck seiner wachsenden Besorgnis um die Folgen eines solchen Revoluzaertums. Wir wiederholen nochmals: Als den „Angelpunkt des Augenblicks", das „Kettenglied" zur Errichtung des Fundaments der sozialistischen Wirtschaft 140

bezeichnete Lenin im März 1922 die „Kluft zwischen der Größe der gestellten Aufgaben und der nicht nur materiellen, sondern auch kulturellen Armut. An der Spitze der Massen muß man stehen, sonst sind wir ein Tropfen im Meer. ,Die Periode der Propaganda durch Dekrete' ist vorbei. Die Massen werden nur sachliche praktische Arbeit, p r a k t i s c h e n E r f o l g in der wirtschaftlichen und kulturellen Arbeit verstehen und schätzen." Folglich ist die Hauptaufgabe: „Auslese der Menschen und Kontrolle der Durchführung!" (Lenin 36, 559) Als ernste Gefahr nannte er Anzeichen kommunistischen Hochmuts, Analphabetentum und Bestechlichkeit. Damit Worte nicht Worte bleiben, müsse die gesamte Arbeit „an den p r a k t i s c h e n Erfolgen beim wirtschaftlichen Aufbau" (Lenin 36, 539) überprüft werden. Lenin setzte die sozialistische Kulturrevolution auf die Tagesordnung, die Verlagerung des Schwergewichts im Land auf die „friedliche, organisatorische .Kulturarbeit": „Uns genügt nun diese Kulturrevolution, um ein vollständig sozialistisches Land zu werden, aber für uns bietet diese Kulturrevolution ungeheure Schwierigkeiten sowohl rein kultureller (denn wir sind Analphabeten) als auch materieller Natur (denn um Kultur zu haben, braucht man eine bestimmte Entwicklung der materiellen Produktionsmittel, braucht man eine (bestimmte materielle Basis)." (Lenin 33, 461) Als Teil der ökonomischen, politischen und sozialen Umwälzungen hat die Kulturrevolution dieselben Ziele wie diese und zugleich ihre ganz spezifischen Aufgaben, ihre spezifischen Mittel und Wege, um die b e w u ß t e Teilnahme der werktätigen Massen am gesellschaftlichen und politischen Leben zu garantieren. Umfassende Entfaltung ihrer schöpferischen Aktivität war eine der wichtigsten Voraussetzungen ¡beim Aufbau des Sozialismus. Diese praktischen Schlußfolgerungen, die Lenin aus den objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats für die kulturellen Bereiche zog, bereicherten die marxistische Revolutionstheorie. Sie hatten auch prinzipielle Bedeutung für die internationale revolutionäre Bewegung, obgleich Sowjetrußland auf 141

Grund der kulturellen Rückständigkeit der Massen spezifisch nationale Aufgaben zu bewältigen hatte. Im Zentrum von Lenins Theorie der Kulturrevolution standen folgende Gesichtspunkte: E r s t e n s : Orientierung der Kulturarbeit auf die gesellschaftliche Praxis, auf die „ p r a k t i s c h e menschlich-sinnliche Tätigkeit" (Marx) zur revolutionären Veränderung von Natur und Gesellschaft. In diesem Prozeß verändert der Mensch nicht nur seine Umwelt, sondern auch sich selbst. Lenins geniale Fähigkeit, die allgemeinen theoretischen Gesetzmäßigkeiten des wissenschaftlichen Sozialismus auf die Praxis anzuwenden, war es zu verdanken, daß sich die Propagierung des Kommunismus „auf die praktische Leitung des staatlichen Aufbaus" (Lenin 31, 366) einstellte. Sie konnte nicht mehr wie bisher im alten Stil sich mit der Erklärung „an Beispielen, was Kammunismus ist" (Lenin 31, 365) begnügen, mit der Erläuterung des Parteiprogramms anstelle einer klaren Darlegung der Schritte, „wie aus dem Zustand der Finsternis herauszukommen ist". (Lenin 31, 515) „Dringende Kleinarbeit" auf kulturellem Gebiet war das Gebot der Zeit sowie energische Zurückweisung derjenigen, die in allgemeinen Phrasen über die „proletarische Kultur" verharrten. „ . . . die Vol'ksimassen sind nirgends so an wahrer Kultur interessiert wie ibei uns; nirgends werden die Fragen dieser Kultur so tiefschürfend und so folgerichtig gestellt wie bei u n s . . . " . (Lenin 33, 448) Es sei daher nicht zu verantworten, daß beispielsweise für technische Fragen des Verlagswesens immer noch viel mehr Kraft und Zeit aufgewendet würden als für die Aufgabe, die Zahl der Menschen, die lesen und schreiben können, schneller zu erhöhen, damit die Buchproduktion zu größerer politischer Wirksamkeit gelangt. - Lunatscharski berichtete Jahre später von erschütternden Tragödien, die sich vor seinen Augen abgespielt hatten, weil der Drang der Menschen nach Bildung in der Weite des Landes bei weitem nicht befriedigt werden konnte. - Wie wichtig eine grundlegende Veränderung in der von Lenin vorgegebenen Richtung war, beweist die seinerzeit über mehrere Nummern der Zeitschrift Petschat i revoljuzija geführte Diskussion über eine Reorganisation des Verlagswesens ohne irgendwelche Ergebnisse. 142

Lenin stellte die Aufgabe, zur Festigung des Bündnisses zwischen dem Proletariat und der Landbevölkerung „dem Dorf bei seiner kulturellen Entwidklung zu helfen". (Lenin 31, 451) Bereits wenige Monate später wurde in der Presse an praktischen Beispielen erläutert, wie Lenins Vorschlag verwirklicht wurde, über Patenschaftsverträge den städtischen Arbeiter wirklich zu einem Vermittler der kommunistischen Ideen unter dem Dorfproletariat zu machen. 151 Lenin forderte auf kulturellem Gebiet: Bewußtheit, Planmäßigkeit und Systematik in der Durchführung; Verhinderung einer Verbürokratisierung der neu geschaffenen Organisationsformen. Z w e i t e n s : Führungsrolle der Kommunistischen Partei bei der Schaffung • einer eigenen, von der Arbeiterklasse als herrschender Klasse geprägten Kultur, Verwirklichung des Prinzips der Parteilichkeit in Wissenschaft, Kunst und Literatur. „Verbreitung der wissenschaftlichen sozialistischen Ideologie und Organisierung des ganzen geistigen Löbens des Volkes nach den Prinzipien dieser Ideologie" 152 , mit dem Ziel, die Werktätigen zu 'befähigen, die in jeder Entwicklungsetappe wirkenden objektiven Gesetzmäßigkeiten zu beherrschen und zu nutzen. Aus den jeweils gegebenen Erfordernissen sind die konkreten Mittel und Wege albzuleiten, damit die im jahrzehntelangen Klassenkampf gewonnenen Erfahrungen und Ideen von allen -Werktätigen angeeignet werden. Lenins letzte philosophische Arbeit, Uber die Bedeutung des streitbaren Materialismus (1922), in die Geschichte als Lenins philosophisches Vermächtnis eingegangen, enthält das Programm zur Vermittlung von fundierten marxistischen Kenntnissen, der kommunistischen Weltanschauung, in allen Bevölkerungsschichten. Unter den Bedingungen eines sich verschärfenden ideologischen Kampfes infolge der Neuen ö k o nomischen Politik unterstrich Lenin die Bedeutung des Bündnisses von Kommunisten und Nichtkommunisten. Er forderte eine kluge atheistische Propaganda, um die in Finsternis gehaltenen Millionenmassen aus ihrem religiösen Schlaf zu wecken und sie für eine bewußte Kritik an den verschiedenen Religionen zu interessieren. Beträchtliche Teile der werktätigen Bevölkerung, der noch an die private Kleinwarenproduktion 143

gebunden war, konnten nicht sofort und automatisch mit der sozialistischen Revolution zu Anhängern der marxistischen Weltanschauung werden. Lenin wandte sich nachdrücklich gegen alle unmarxistischen, mechanischen Vorstellungen von den historischen Gesetzmäßigkeiten, unter denen sich die geistige Kultur der sozialistischen Gesellschaft herausbildet. 153 Besondere Bedeutung maß Lenin dem Bündnis der Kommunisten mit den Vertretern der modernen Naturwissenschaft bei. Die moderne Naturwissenschaft komme in der Phase so tiefgreifender revolutionärer Entdeckungen auf allen ihren Gebieten ohne philosophische Schlußfolgerungen nicht mehr aus, das heißt ohne das Begreifen der eigenen wissenschaftlichen Resultate vom Standpunkt des dialektischen Materialismus. Um den Erscheinungen verschiedener reaktionärer philosophischer Schulen und Richtungen in der gegenwärtigen Naturwissenschaft nicht hilflos gegenüberzustehen, müsse man begreifen, „daß sich ohne eine gediegene philosophische Grundlage keine Naturwissenschaft, kein Materialismus im Kampf gegen den Ansturm der bürgerlichen Ideen und gegen die Wiederherstellung der bürgerlichen Weltanschauung behaupten kann". (Lenin 33, 219) Das verstand Lenin unter einem „streitbaren Materialismus", unter Verbreitung der kommunistischen Weltanschauung in einem konsequenten, klug durchdachten ideologischen Kampf. D r i t t e n s : Schöpferische Bewahrung, Aneignung und Weiterführung aller kultureller Werte, die die Menschheit im Verlaufe ihrer Geschichte geschaffen hat. Die ablehnende Haltung gegenüber den Traditionen der Vergangenheit, die seinerzeit aus verschiedenen Motiven verbreitet war, basierte auf falschen Vorstellungen vom streitbaren Materialismus.154 „In den Oktobertagen halben wir die kapitalistische Macht besiegt und die Macht selbst übernommen. Jetzt gehen wir einem neuen, grandioseren und erhabeneren Sieg entgegen - dem Sieg über die bürgerliche Kultur" 155 , verkündete Poljainski in der Zeitschrift des Moskauer Proletkults. Auch die „linken" Künstler begriffen den Kunstfortschritt als radikale Neusetzung sämtlicher Inhalte und Formen der Kunst wie der künstlerischen Betätigung überhaupt. „Wir 144

müssen unsere Reihen verstärken", schrieb O. Brik, „um den unvermeidlichen Oktober der proletarischen Kunst zu beschleunigen, ihm würdig zu begegnen." 156 Die Kultur konnte aber nicht von einem Tag zum anderen „reorganisiert" werden, weder durch „dekretiertes Schaffen" noch „mittels revolutionärer Gewalt" 157 . In der Auseinandersetzung mit solchen Vorstellungen verwies Lenin stets auf die Tatsache, daß sich der Marxismus „alles, was in der mehr als zwei tausend jährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll ist, aneignete und es verarbeitete". Nur auf der Grundlage dieser historischen Erfahrungen, bereichert durch die praktischen Erfahrungen der Diktatur des Proletariats, könne der „Aufbau einer wirklich proletarischen Kultur" (Lenin 31, 308) erfolgreich sein. Nicht einfache Übernahme von Kenntnissen, Gepflogenheiten und bewährten Organisationsformen der vorhergehenden Gesellschaftsformation bzw. der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder der Gegenwart, sondern ihre Einordnung in den Klassenkampf: „Die neue Klasse eignet sich alles Nützliche aus dem Erbe der bürgerlichen Welt an, um es sofort als Waffe gegen den Kapitalismus einzusetzen." (AVL 8, 422) Das betrifft bestimmte elementare Formen der Kultur im täglichen Leben ebenso wie auch die höher entwickelten Formen der geistigen Kultur: Wissenschaft, Kunst und Literatur. Gerade diese Dialektik in Lenins Erbetheorie ist immer wieder verfälscht oder ibewußt ignoriert worden, obwohl Lenin ganz eindeutig den marxistischen Standpunkt an praktischen Beispielen erläutert hat. In Tolstoi und der proletarische Kampf (1910) entwickelte er, warum künstlerische Werke der Vergangenheit trotz ihrer ideologischen Widersprüche für das Proletariat ihre Bedeutung nicht verlieren: „Das große Volksheer, aufgewühlt bis in die tiefsten Tiefen, hat mit allen seinen Schwächen und allen seinen starken Seiten in Tolstois Lehre Widerspiegelung gefunden. Durch das Studium der belletristischen Werke Leo Tolstois wird die russische Arbeiterklasse ihre Feinde ¡besser kennenlernen, bei der Untersuchung der L e h r e Tolstois aber wird das ganze russische Volk begreifen müssen, worin seine eigene Schwäche bestand, die es ihm unmöglich machte, das Werk 10 Thun

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seiner Befreiung zu Ende zu führen... Das russische Volk wird sich erst dann seine Befreiung erkämpfen, wenn es begreift, daß es nicht von Tolstoi zu lernen hat, wie man sich ein besseres Leben erkämpft, sondern von der Klasse, (deren Bedeutung Tolstoi nicht verstanden hat, die aber allein fähig ist, die Tolstoi verhaßte Welt izu zerstören - vom Proletariat." (Lenin 16, 359-360) iDie Erfahrung lehrte, daß sich ein solches produktives Verhältnis zum künstlerischen Erbe in der sowjetischen Kunstpraxis nur allmählich durchsetzte. Offenkundig sind hierbei zwei Aspekte zu unterscheiden: 1. die organisatorischen Maßnahmen und Formen der jungen Sowjetmacht zur Bewahrung und schöpferischen Aneignung des überlieferten Erbes. Die Dekrete und Beschlüsse des Rates der Volkskommissare und der zentralen Organe der Sowjetmacht im ersten Revolutionsjahr betrafen auf kulturellem Gebiet größtenteils den Schutz der Kunst- und Altertumsdenkmäler - die überlieferte Kultur. Die Begründung solcher Beschlüsse war häufig als Aufruf an die werktätigen Massen abgefaßt, sich ihrer Verantwortung als „Herren" ganz Rußlands und damit auch seiner unschätzbaren Werte bewußt zu werden. Die Sektion für 'bildende Kunst des Moskauer Sowjets der Arbeiter- und Rotarmistendeputierten diskutierte im Mai 1918 (!) Fragen der ästhetischen Erziehung und bezog selbstverständlich - darüber wurde in diesem Gremium überhaupt nicht debattiert - das kulturelle Erbe als einen wesentlichen Faktor zur „Organisierung" der ästhetischen Erziehung ein, ganz im Gegensatz zu den meisten offiziellen Erklärungen des Proletkults zu jener Zeit. Die gesetzgebenden Organe - die Sowjets als gewählte Vertretungen der werktätigen Massen - verfolgten demnach in der Praxis von Anfang an den Leninschen Kurs. 2. Traditionsbruch und Traditionsaufnahime im Kunstprozeß selbst. Hier konnte es so lange keine Klarheit geben, wie die Künstler selbst nicht neue Lösungen fanden. Charakteristisch hierfür ist Fedins Fragestellung, die allein schon als produktiver Ansatz des schöpferischen Ringens in dieser Richtung zu werten ist: „ . . . wie also stand unsere Kultur neben der Kultur unserer Vorgänger?

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Lenin hatte eine gedrängte Formel für das Verhältnis zum Erbe, zu den in der Vergangenheit erworbenen Kenntnissen und Erkenntnissen gefunden: ,Das Erbe bewahren bedeutet keineswegs, sich mit dem Ererbten zufriedengeben'. Wir 'besaßen genug ¡Kultur, um das Ererbte zu bewahren, mit dem erforderlichen Verstand das schon Vorhandene zu nutzen. Über welche Kräfte aber verfügten wir, um über das Bewahren hinauszugehen und den Bau in die Höhe zu treiben?"^ Zusammenfassend kann festgestellt werden: Die Prolefikult-Theorie von der Kulturrevolution erwies sich in der revolutionären Praxis auf die Dauer als nicht lebensfähig: Sie erfaßte nur „einige Gruppen des Proletariats und nicht die gesamte Klasse einschließlich der vielen Millionen armer Bauern". Ferner konzentrierte sie sich „ausschließlich auf künstlerische Fragen plus einiger zweifelhafter Bemühungen auf dem Gebiet der Wissenschaft. Für Lenin hingegen war die Kulturrevolution ein gigantischer Prozeß, in dessen Verlauf Millionen und alber Millionen Menschen sowie der gesamte gesellschaftliche und staatliche Organismus des riesenhaften Landes organisiert, verwissenschaftlicht und aufgeklärt werden". (AVL 8, 422) Kunst und Literatur betrachtete Lenin, unter Berücksichtigung ihrer Spezifik, als wichtige Mittel zur sozialistischen Persönlichkeitsbildung und leitete davon ihre spezifische Funktion innerhalb der Kulturrevolution, im Prozeß der Herausbildung einer neuen, sozialistischen Kultur ab. Die von der Kommunistischen Partei Anfang der zwanziger Jahre eingeleitete Kulturrevolution vollzog sich unter anderem auch im Zeichen eines erbittertem Kampfes um die Anerkennung und Verwirklichung der Leninschen Auffassungen. Dieser Prozeß selbst war ein Teil der Kulturrevolution.

Streit um den Realismus Die dargestellten Vorgänge einer sich intensivierenden Kulturdebatte Anfang der zwanziger Jahre reflektieren ein neues Herangehen an die Probleme der Kultur im Vergleich zu den Jahren 1917/18. Das Ausland registrierte schon wenige Jahre IC*

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nach der Oktoberrevolution erstaunt: Die „Prognosen" vom Verfall der Kultur im Sowjetland, wo - Mereshkowski schrie es in 'die Welt hinaus - der „Pöbel" herrscht, Hunger und Seuchen jegliche geistige Tätigkeit zum Erliegen bringen, hatten sich nicht erfüllt. Was Bernhard Reich wie viele deutsche Intellektuelle 1923 während des Berliner Gastspiels des Moskauer Kammertheaters unter Tairows Leitung empfand, war charakteristisch für die Entdeckung einer neuen Kunstwirklichkeit nach ersten Kontakten mit der jungen Sowjetkunst: „Ein Staat, in dem sich ein Theater eine für unsere Begriffe unvorstellbare große Truppe mit hervorragend gearbeiteten Dekorationen und Kostümen leisten konnte, mußte ein kunstfreundlicher Staat seinl Ein Staat, in dem ein Theater in so kurzer Zeit neue, erregende Ideen zur Welt 'brachte, konnte nur ein Staat sein, in dem zu schaffen es eine Lust sein mußte. Ich, damals Regisseur eines bürgerlichen Theaters, hatte viele künstlerische und soziale Mißstände im Theaterwesen erkannt, ohne einen Ausweg zu sehen... Seit dem Gastspiel des Moskauer Kammertheaters erhoffte ich vom Sowjettheater Klärung und Beistand." 159 Bernhard Reich empfand das Neue der sowjetischen Theaterkunst zu einer Zeit, als durch die komplizierten materiellen Bedingungen während der NÖP im Lande seihst viel stärker bestimmte Rückschritte gegenüber den ersten Revolutionsjähren spürbar waren. Lunatscharski sprach von der „Rückkehr zum kläglichen Einst" auf vielen Gebieten, aber gleichzeitig appellierte er an die Künstler: „Ich wünschte, daß 'bei allen Schwierigkeiten, bei allen schwierigen Bedingungen die Menschen dennoch fühlten, wie das Neue aus dem Böden hervordringt, daß sie sagen: ja, es ist schwer, gefährlich tragisch, aber gerade deshalb macht das Leben Spaß, weil es ringsum so viel Schöpferisches gibt. Schauspieler 'kommen zu mir und verzagen: das Theater ist dem Zusammenbruch nahe. Indes kommen Ausländer hierher und sagen: ihr habt ja einen einmaligen Aufschwung des Theaters, neue Wege, erregende Probleme: solche Theater gibt es ibei uns nicht. Eure Theater blühen auf, sind mit Knospen übersät, entfalten sich. Und das ist tatsächlich so."«» Insgesamt vermochten die Wiederbelebung kapitalistischer 148

Elemente im ökonomischen Gefüge der Kunstbereiche zur NÖP-Zeit und die sich verschärfenden ideologischen Probleme nicht, das sich in seinen Konturen bereits recht klar abzeichnende neue Bezugssystem von Kunst und Gesellschaft in seinen Grundlagen zu erschüttern. Die „Rückkehr zum Einst" war keine generelle. Viele neue öffentliche Einrichtungen - Errungenschaften des Roten Oktobers - hatten sich bewährt und wurden zu geistigen Zentren des kulturellen Lebens. In den Klubhäusern und Dorflesestüben konzentrierte sich immer stärker das kulturell-geistige Leben der werktätigen Massen. Sie wurden zum Mittler zwischen Künstler und Publikum, Schriftsteller und Leser. 161 Die staatlichen- und Parteiorgane, die örtlichen Sowjets waren bemüht, in Übereinstimmung mit dem umfassenden Bildungsprogramm der Sowjetmacht das gesamte geistig-kulturelle Leben auf die neuen sozial-ökonomischen Hauptaufgaben zu lenken. Lunatscharski verlieh 1922 der Überzeugung Ausdruck, daß in nicht allzu weiter Ferne der Sowjetstaat, nach Festigung seiner Industrie, „mit seinem Rückhalt an Steuern, mit seiner Macht über die Emission und vor allem mit seinem mächtigen Ideengehalt" sich weitaus stärker als alle Privatkapitalisten erweisen und als „grandioser (dazu wirklich kulturvoller und wirklich hochsinniger) Mäzen" all das anziehen werde, „was in der Kunst lebendig ist". Schon jetzt könne man feststellen: „Die letzthin wahrnehmbare materielle Besserstellung hat gerade bewirkt, daß es zur stärksten Einwirkung der Revolution auf den Geist des Künstlers gekommen ist." 162 Und wie sah es in der Literatur selbst aus? Welche Veränderungen zeichneten sich im Verhältnis Literatur - Staat ab? Die harten „chirurgischen" Eingriffe des Jahres 1921 in das gesamte Verlagswesen hatten zunächst die neuartigen Formen der Herausgabe und Verteilung von Literatur erheblich eingeschränkt. ökonomische Rentabilität wurde auch für die Buchproduktion eingeführt. Erst ganz allmählich wurde wieder eine schrittweise Erhöhung der Buchpublikationen und ihrer Auflagenziffern erzielt, zum Teil mit Hilfe des Privatkapitals. Das Abschwenken einiger Schriftsteller zum privaten Markt war die Folge um sich greifender materieller Unsicherheit, aber zugleich eine durchaus normale Erscheinung innerhalb der 149

Neuen ökonomischen Politik. Auf die damit verbundenen ideologischen Schwierigkeiten wurde bereits hingewiesen. Sie hatten aber noch einen spezifischen Aspekt. Hinter der nach 1917 verlbreiteten These vom sozialistischen Staat als „Mäzen" der Künste hatte sich auch die illusionäre Vorstellung verborgen: Der Staat als großartiger Förderer der Künste habe jegliche materielle Unterstützung zu geben; darin erschöpfe sich aber seine Verpflichtung gegenüber den Künsten. Alle rein künstlerischen - inhaltlichen wie poetologischem - Fragen seien Angelegenheiten der Künstler selbst. Dieser Irrtum war in einigen Schriftstellervereinigungen, bei den Serapionsbrüdern und Imaginisten ebenso wie im Proletkult, verbreitet. Nun aber mußte der Staat zeitweilig diese großzügige materielle Stützung einschränken, wenn nicht gar völlig einstellen. Diese Tatsache stellte in solchen Kreisen erneut die Rolle und den Einfluß von Staat und Partei in allen literarischen Angelegenheiten in Frage. Ferner reagierte der ideologisch noch nicht gefestigte Teil der Schriftsteller sehr schnell auf die um sich greifende „gedrückte Stimmung" unter demobilisierten Rotarmisten, deren Vorstellungen von der Revolution selbstverständlich andere waren als die äußeren Erscheinungsformen zu Beginn der N Ö P in den Städten. „Am schwersten haben es zur Zeit die Romantiker der Revolution", schrieb ein Kritiker 1922. „In unmittelbarer Nähe von ihnen ging die Erscheinung des goldenen Zeitalters in Flammen auf. Das hat ihnen das Herz verbrannt. Ihr Wille war so straff wie eine Saite .in Richtung auf einen verlockenden Punkt gespannt - und nun ist sie wohl gerissen. Es gehen bereits traurige 'Gerüchte um. Da und dort hat sich ein heimgekehrter Held des Bürgerkrieges erschossen. Den kleinlichen und schändlichen Nörgeleien hielt er nicht stand. Ein einziger Tropfen ließ die Schale überlaufen . . . wegen Nichtigkeiten." 163 Alexej Tolstoi schilderte in seiner Erzählung Blaue Städte (1925) einen solchen Zusammenbruch der großen romantischen Revolutionsidee. In mehreren literarischen Werken jener Zeit wurde die NÖP-iPeriode nur von dieser Seite gespiegelt, das heißt nur in ihren negativen Auswirkungen. Andererseits hielten die sogenannten NÖP-Leute Einzug in die Literatur. Michail Lykow aus Ilja Ehrenburgs Roman Der 150

Raffer (1925) war idie Verkörperung eines solchen zwielichtigen raffgierigen Typs, der seine große Zeit für gekommen hielt. „Wir waren indessen .Kinder der Revolution und nahmen bewußt eine Arbeit auf uns, die vielleicht über unsere Kräfte ging, aber nicht zu umgehen war", erinnerte sich Fedin. „Wir wünschten, wir waren dazu verpflichtet, wir dürsteten schließlich und endlich danach, von dem zu sprechen, was unser Leben ausmachte. Der Krieg und die Revolution waren die Grundlagen unseres Erlebens. Dieses Erleben in der Kunst wiederzugeben - das war die Aufgabe, die vor uns l a g . . . " . (Fedin 568) Diese Schriftstellergeneration bereicherte die Literatur durch neue Stoffe, eigenständige künstlerische Lösungen und trug auf diese Weise entscheidend zur Veränderung des Gesamtbilds der Sowjetliteratur bei, zum Funktionswechsel des dichterischen Grundanliegens. „Als wir nach Beendigung des Bürgerkrieges aus allen Ecken und Enden unserer unendlichen Heimat zusammenkamen - Kommunisten und noch viel mehr parteilose junge Menschen, so waren wir erstaunt; wieviel Gemeinsames unsere Biographien trotz aller unterschiedlichen individuellen Schicksale hatten . . . Welle auf Welle kamen wir zur Literatur. Wir waren viele. Wir brachten unsere persönliche Lebenserfahrung mit, unsere Individualität. Uns vereinte das Empfinden für die neue Welt als die unsrige und die Liebe zu i h r . . .". 164 Fadejew war einer unter den über hundertfünfzig neuen Namen, neuen Talenten, die seinerzeit bekannt wurden. Diese Jahre sind in die Literaturgeschichte eingegangen als Jahre der Neuformierung der literarischen Kräfte und der Anreicherung neuer Errungenschaften des Realismus. Die meist parallel - unabhängig voneinander - verlaufenden Individualentwicklungen von Furmanow, Fadejew, Babel, Scholochow, Wesjoly, Tichonow, Bagrizki, Besymenski, Soschtschenko, Surkow, Gaidar erschließen eine Gesetzmäßigkeit des Literaturprozesses Anfang der zwanziger Jahre: Das Neue, durch das 'die sozialistische Revolution Leben und Bewußtsein der Millionenmassen umgekrempelt hatte, drängte nach literarischer Gestaltung. Und es erwies sich in der komplizierten geistigen Atmosphäre der NÖP-Zeit weitaus stärker als um sich greifende Enttäuschung und Pessimismus selbst bei 151

einem Teil der ehemaligen Kämpfer des Bürgerkrieges, deren Entscheidung für die Revolution eine rein instinktive, spontane gewesen war. Proletarisches Klassenbewußtsein und revolutionäre Lebenshaltung waren stärker als die ideologischen Einflüsse bürgerlicher Elemente verschiedener Schattierungen, als sich vorübergehend wieder ausbreitendes Spießertum, das der Rote Oktober von den Straßen hinweggefegt hatte. Andererseits wuchs das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer Literatur, die den die Massen revolutionierenden Ideen künstlerischen Ausdruck verlieh und in den Menschen große, starke Empfindungen weckte, ihr revolutionäres Weltgefühl vertiefte. Der „ w a c h s e n d e D r u c k d e r W i r k l i c h k e i t a u f d i e L i t e r a t u r " 1 6 5 erklärt allgemein diese innere Gesetzmäßigkeit des Literaturprozesses und im besonderen die sich in den künstlerischen Formen abzeichnenden Veränderungen. Jeder Versuch, die sowjetische Literaturbewegung Anfang der zwanziger Jahre zu analysieren, stößt auf folgende Schwierigkeit: In welchem Wechselvierhältnis standen die sozialökonomischen und die kulturell-geistigen Prozesse, die Kulturrevolution und die Literatur? Die Überwindung sozial-ökonomischer und ideologischer Widersprüche Mitte 'bzw. Ende der zwanziger Jahre und direkte Ableitungen auf den Literaturprozeß erklären noch nicht ausreichend die Vielfalt der ästhetischen Erscheinungen und die Widersprüchlichkeit des literarischen Gesamtprozesses. Die jahrelang verbreitete Konzeption, die Ursache in der Aufsplitterung der künstlerischen Kräfte und deren allmählichen Konsolidierung zu sehen, erwies sich als unzureichend. Auch die Entwicklung des Realismus und eine tiefere Erfassung der sich in den Menschen vollziehenden Wandlungsprozesse können nicht als eine gerade Linie und auch nicht als e i n z i g e s Kriterium des Entstehens künstlerischer Neuleistungen dargestellt werden. 166 Offensichtlich ist nach komplexeren Methoden zu forschen, um den ganzen Beziehungsreichtum künstlerische Entwicklungen befördernder Faktoren zu erfassen. Die Debatte um die proletarische Kultur und die Kulturrevolution, als deren Teil sich die Künstler zu ibegreifen begannen, und die kulturpolitische Praxis der jungen Sowjetmacht erhellen, in welcher Richtung und auf welche komplizierte Weise der „wachsende Druck der 152

Wirklichkeit" die geistignkulturellen Prozesse - einschließlich der literarischen - beeinflußte. Diese enge Verklammerung deckt Zusammenhänge - Ursachen und Wirkungen bestimmte Erscheinungen - auf, ¡die ausschließlich aus literaturgeschichtlicher und -theoretischer Sicht nicht zu erklären sind. An einem Beispiel soll dies dargestellt werden. Der Meinungsstreit um Majakowskis Poem 150 000000 nahm sehr unterschiedliche Formen an. Lunatscharski berichtete von einem öffentlichen Disput zwischen ihm und O. Brik sowie R. Jakobson Anfang des Jahres 1920: „Als Majakowski . . . die 150 000 000 vorgetragen hatte, fragte ich ihn, ob er sie aufrichtig oder nicht aufrichtig geschrieben habe. Er antwortete mir nichts. Hätte er gesagt: ,Ja', so hätten die Briks auf ihn eingehackt, die behaupteten, selbst Puschkin habe nicht aufrichtig geschrieben und dergleichen mehr. Brik hat an diesem Abend zwei Fragen gewissenlos durcheinandergebracht. Er meinte, ist es nicht ein und dasselbe, ob die Säule einer Bühnendekoration aus echtem Stein gemacht oder mit Ölfarben gemalt ist, ob ein Dichter, wenn er schreibt, aufrichtig ist oder lügt, heuchelt? . . . Majakowski wagte nicht einzugestehen, daß er aufrichtig geschrieben hat. Aber er konnte nicht sagen, er habe nicht aufrichtig geschrieben, das wäre ein Verrat an sich selbst, denn er ist ein zutiefst aufrichtiger Mensch." (AVL 7, 662) Majakowski geriet also bei näherem Befragen mit der von ihm selbst verteidigten These seiner Freunde von der Gesellschaft zum Studium der poetischen Sprache (OPOJAS) in Konflikt, die behaupteten, Kunst und Aufrichtigkeit seien unvereinbare Gegensätze. Auch wenn sich Majakowski öffentlich noch zu anderen Auffassungen bekannte, so stellte er doch jede seiner Zeilen in den Dienst der Revolution. Der Dichter Majakowski war oft dem Theoretiker um viele Schritte voraus, wobei zwischen polemisch zugespitzten und höchst produktiven Thesen noch jeweils genau zu unterscheiden ist. Um die Buchfassung seines Poems führte Majakowski bekanntlich einen langwierigen Kampf. Am 5. April 1921 schickte er eine Eingabe an die Pressekommission beim ZK der KPR (B) und erhob Einspruch, daß es nur in einer Auflage von fünftausend Exemplaren gedruokt wenden soll, offen153

bar um ihm -„den Mund zu stopfen", trotz der Bescheinigung des „außerordentlichen Agitationswertes". (WWM 4, 270) Noch im April erschien im Staatsverlag die Buchausgabe von 150 000 000 ohne Nennung des Verfassers: „Veröffentliche sie anonym. Will, daß jedermann den Text ergänzen und verbessern möge. Das unternahm zwar niemand, dafür kannte jedermann den Namen des Verfassers." (WWM 2, 443) Über dem Titel stand geschrieben: Russische Föderation der Sozialistischen Sowjetrepubliken, darunter die Losung: Proletarier aller Länder vereinigt euch! Majaikowski schickte ein Exemplar Lenin mit der Widmung „Dem Genossen Wladimir Iljitsch mit kommunistischem Futuristengruß. Wladimir Majakowski." Weiterhin unterschrieben: L. Brik, O. M. Brik, Boris Kuschner, B. Malkin, D. Sterenberg, Nat. Altman. Alles in allem eine Art „Manifest", nach dem Titelblatt zu urteilen - ein quasi „vom Staat gebilligtes Musterbeispiel der neuen Kunst". (NM 212) Kurz darauf, am 6. Mai, fand der vielzitierte Meinungsaustausch zwischen Lenin und Lunatscharski statt. Lenin schob während einer Sitzung Lunatscharski die Notiz zu: „Schämen Sie sich nicht, für die Herausgäbe von Majakowskis 150 000 000 in 5 000 Exemplaren zu stimmen? Unsinn, dumm, erzblöd und prätentiös. Meiner Meinung nach soll man von solchen Sachen nur 1 von 10 drucken und dann n i c h t m e h r a l s l 500 Ex. für Bibliotheken und wunderliche Käuze. Und Lunatscharski verdient Prügel wegen Futurismus. Lenin." (Lenin, Briefe 7, 180-181) Auf der Rückseite vermerkte Lunatscharski: „Mir gefällt die Sache auch nicht besonders, aber 1. war ein Dichter wie Brjussow begeistert und forderte den Dcuck von 20 000; 2. ibeim öffentlichen Vortrag hatte der Autor offensichtlichen Erfolg, dabei auch bei Arbeitern." (NM 210) Lenin wandte sich gleichzeitig an M. Pokrowski, dem derzeitigen Leiter der Geschäfte des Staatsverlages, mit der Bitte um Unterstützung „im Kampf gegen den Futurismus und dgl.". Höchstens zwei solcher Bücher pro Jahr in einer Auflage von nicht mehr als 1 500 Exemplaren seien vertretbar. Lenins Frage: „Kann man keine zuverlässigen A n t i futuristen finden?" (Lenin, Briefe 7, 181) war eine klare Aufforderung, die Realisten mehr zu fördern. Sichtlich war Lenin von Majakowskis Widmung, von der 154

Titelei des Buches wie von dessen Inhalt - „einer 'besonderen Art von Kommunismus" - nicht sonderlich begeistert, obwohl er das Poem „interessant" fand. (NM 212) Lunatscharskis kritische Haltung zum Poem geht auch aus einem Brief an Polonski hervor: „Über Majakowski werde ich nicht schreiben. Ich gestehe dem Poem einige virtuose Vorzüge zu und vermerke schließlich mit Sympathie seine kommunistische Tendenz. Aber gleichzeitig erscheint es mir verkrampft, gekünstelt der Manier nach, etwas vulgär in einigen Mitteln oder besser Bildern. Ich müßte aus diesem Anlaß allgemein viel Unangenehmes sagen. Aber unter den jetzigen Umständen, da über die Futuristen ziemlich heftig hergefallen wird, halte ich es für unangebracht, zur Feder zu greifen." 167 Lunatscharski hielt Majakowski für einen bedeutenden Dichter, ohne die Mängel in seinen ersten nachrevolutionären Dichtungen zu übersehen. Er war der Meinung, daß das Futuristische in seinem Werk etwas Vorübergeheades ist. Es werde um so schneller verschwinden, je mehr Leute, die Majakowski achtet, ihn dafür kritisieren. (NM 574) Aber er war gegen scharfe administrative Maßnahmen - mit seinem Namen verband man ja nicht nur den Kritiker Lunatscharski, sondern vor allem den Volkskommissar - und vertraute dem gesunden Urteil der Werktätigen, an deren Reaktionen auf seine Verse sich Majakowski ständig überprüfte. Lenins Angriff gegen den Futurismus und seine scharfe Kritik an Lunatscharski erfolgten zu einem Zeitpunkt, als sich die Situation in den Höheren künstlerisch-technisdhen Werkstätten (WCHUTEMAS) äußerst zuspitzte. (Am 25. Februar 1921 hatte Lenin mit jungen Künstlern dieser Hochschule lebhaft diskutiert und aufrichtiges Interesse für ihre ihm zum Teil nicht verständlichen ästhetischen Auffassungen und ihr Schaffen bekunde. 168 ) Ausgelöst wunde die Krise mit Unterstützung einiger Vertreter des Lehrkörpers durch eine Gruppe von etwa hundertfünfzig Studenten, vorwiegend aus der Arbeiterjugend, die es ablehnte, weiterhin bei den Futuristen zu lernen. Das Lehrprogramm war in Übereinstimmung mit der Abteilung für Kunst beim Volkskommissariat für 'Bildungswesen (ISO), seinem Leiter D. Sterenberg, ausschließlich auf die Propagierung der „Produktionskunst" abgestimmt, die bis dahin keinerlei 155

nennenswerte Ergebnisse aufzuweisen hatte. Bei vielen jungen Künstlern stieß diese einseitige Ausrichtung auf offenen Widerstand. Sie forderten die Beseitigung der Monopolstellung der Futuristen und abstrakten Künstler 'und vor allem eine fundierte künstlerische Ausbildung realistischen Charakters. Am 10. Dezember 1920 wandte sich eine von ihnen gebildete Kommission an das Zentralkomitee mit 'der Bitte um Unterstützung und berief sich auf den zehn Tage zuvor veröffentlichten Brief des ZK Über den Proletkult, der eine scharfe Kritik des Futurismus enthielt. Sterenbergs Antwort war ausweichend. Die gesamte Angelegenheit wurde der Arbeiter- und Bauerninspektion übergeben. Lunatscharski setzte eine Kommission ein zur Ausarbeitung eines neuen Studienprogramms und veranlaßte gleichzeitig Maßnahmen zur Umorganisierung der ihm unterstellten Kunstabteiking. Sterenberg sollte auf seinen Vorschlag durch N. Altman abgelöst werden. Altman war einer der engsten Mitarbeiter von Sterenberg, das heißt, damit hätte sich im Grunde so gut wie nichts verändert. Lenins Besorgnis war verständlich, zumal Lunatscharski die Kandidatur von Kisselis, einem realistischen Künstler, abgelehnt hatte. In der erwähnten Notiz an Pokrowski kam das zum Ausdruck: „Kisselis, der, wie man sagt, e i n , r e a l i s t i s c h e r ' Künstler ist, soll von 'Lunatscharski wieder hinausgedrängt worden sein, während der Futurist von ihm sowohl direkt als auch i n d i r e k t gefördert wird". (Lenin, Briefe 7, 181) Die von Lunatscharski versprochene Reorganisation der Hochschule zögerte sich hinaus. Es mangelte offensichtlich noch an klaren Vorstellungen, Erfahrungen, w i e auf dem Gebiet der bildenden Kunst die Theorie nach neuen marxistischen Prinzipien zu lehren ist. Andererseits wirkte sich der radikale Bruch mit allen bisherigen Traditionen, die Grundbegriffe und -techniken der Malerei an Beispielen aus der Kunstgeschichte zu vermitteln, bereits negativ aus. Die jungen Künstler waren dn der Porträtmalerei, die in Rußland hochentwickelt war, nicht mehr ausgebildet. Der Vorsitzende des Studentenkomitees, S. Bogdanow, schrieb am 13. Juni 1921 an Lenin, es bestehe die Gefahr, daß das Sowjetland ohne gründlich ausgebildete Künstler 'bleibt. Der Staat müsse außerordentliche Maßnahmen ergreifen und seine klare Einstellung zur 156

Kunst in der Praxis durchsetzen. Eine gut fundierte Schule für bildende Kunst müsse gegründet werden.169 Eine enge Verbindung zwischen Majakowski und den Vertretern der abstrakten Kunst bestand seinerzeit in der Tat. Die Beziehung, die Lenin zwischen Majakowskis Poem und den Problemen der bildenden Künstler herstellte, gründete sich auf reale Vorgänge. In der bildenden Kunst setzte sich jedoch der Realismus später durch und weitaus komplizierter als in der Literatur. Eine erste Wendung deutete sich erst Anfang des Jahres 1922 an, auf einem öffentlichen Disput anläßlich der Eröffnung der 47. Kunstausstellung der sogenannten Wanderaussteller. L. Kazman erinnerte sich, daß Vertreter aller Kunstrichtungen anwesend waren: „Der Stalb der Künstler, die bisher auf der Bezeichnung ,Linke' beharrten, war vollständig vertreten: Sterenberg, O. Brik, Majakowski und alle ihre Kumpanen. Zugegen waren [N.] Kassatkin mit den ,Wanderausstellern' sowie sehr viele andere Künstler. Auch der Dichter Sergej Gorodezki war da und hat gesprochen. Er hatte den .Wanderausstellern' geholfen, eine Erklärung abzufassen. In diesem auf Leben und Tod geführten Disput der Abstrakten mit den Realisten, wurde die Assoziation der Künstler des revolutionären Rußland geboren...". Das ZK, an das sich diese Künstler mit der Bitte um Direktiven für ihre Arbeit gewandt hatten, unterstützte die Initiative der Realisten und gab ihnen die Empfehlung: „Geht zu den Atfbeitermassen, studiert sie, stellt sie dar. Sie werden euch die Richtung in eurer Arbeit geben. Geht in die Fabriken.. .". 17 ° Programmatisch verkündeten die Künstler in ihrem Manifest: „Es ist unsere Pflicht angesichts der Menschheit, künstlerisch-dokumentarisch den großen geschichtlichen Augenblick in seinem revolutionären Elan festzuhalten... In den monumentalen Formen des Stils des heroischen Realismus halben wir jetzt unsere Empfindungen als Künstler auszudrücken."171 Lunatscharski stellte 1925 mit Befriedigung fest, die „Wanderaussteller" 'hätten beträchtlich dazu beigetragen, daß der Futurismus seinen ursprünglichen Charakter aus der nachrevolutionären Zeit grundlegend gewandelt hat. Die Futuristen, organisiert um die Zeitschrift LEF, in einigen Theater- und Künstlergruppen, zählten nunmehr in legitimem Rahmen zu 157

den „interessanten Elementen des allgemeinen künstlerischen Aufbaus". 172 Ihre Monopolstellung sei abgebaut. Die Überspitzungen wurden größtenteils überwunden. Lunatscharsiki sah darin nicht zuletzt ein positives Ergebnis der sowjetischen Kulturpolitik, die nicht von vornherein alle Experimente auf administrativem Wege abwürgte, sondern von den starken Kräften unter den Künstlern Hilfe und Beistand erwartete. Dieses Beispiel beweist: Der „wachsende Druck der Wirklichkeit auf die Literatur" erfolgte nicht nur unmittelbar über die Berührung der Schriftsteller mit der neuen Wirklichkeit, mit dem Produktionsalltag, mit der neuen Lebensweise der Menschen. Er zeigte sich auch vermittelt in solchen „Reibungen" zwischen bereits profilierten Künstlern mit verfestigten Auffassungen und jungen zur Kunst stoßenden Kräften, die ohne Vorbehalte nach neuen Wegen suchten. Die Studenten der künstlerischen Werkstätten, die monatelang um ihr Recht auf eine vielseitige, in den realistischen Traditionen verwurzelte künstlerische Ausbildung - einschließlich der marxistischen Philosophie - und um die Errichtung einer Arbeiterfakultät kämpften, verweisen aiuf ein wesentliches Moment der geistigen Atmosphäre, das Anfang der zwanziger Jahre die Wendung zum Realismus in allen Künsten beschleunigte. Die Rückwirkungen dieser geistig-ästhetischen Kämpfe in den Kreisen der bildenden Künstler auch auf die Literatur, auf Majakowski selbst, sind unbestreitbar. Solche Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Künsten und eine gewisse Parallelität der sich in ihnen vollziehenden Prozesse waren sowohl Ausdruck der tiefgreifenden Veränderungen in allen kulturellen Bereichen als auch Ergebnis der von der Partei konsequent durchgesetzen kulturpolitischen Linie. Lenin 'kritisierte Lunatscharsiki und forderte unverzüglich klare Maßnahmen, sobald die Widersprüche in d«r Kunstpraxis besonders kraß in Erscheinung traten und die Gefahr bestand, daß die neue, auf die schöpferische Initiative des Volkes basierende Kunst in ihrer Entwicklung gehemmt wurde, daß linksradikale oder rechte Kräfte als offiziell anerkannte Kunstrichtungen auftraten. Andererseits hatte er außerordentlich viel Verständnis für das Tasten und Experimentieren auf künstlerischem Gebiet: „Jeder Künstler und jeder, der sich 158

dafür hält, nimmt als sein gutes Recht in Anspruch, frei nach seinem Ideal zu schaffen, mag das nun etwas taugen oder nicht. D a haben Sie die Gärung, das Experimentieren, das Chaotische. Aber natürlich, wir sind Kommunisten. Wir dürfen nicht die Hände in den Schoß legen und das Chaos gären lassen, wie es will. Wir müssen auch diese Entwicklung 'bewußt, klar zu leiten und ihre Ergebnisse zu formen, zu bestimmen suchen. Daran fehlt es noch, fehlt es s e h r . . . wichtig ist nicht unsere Meinung über Kunst. Wichtig ist auch nicht, was die Kunst einigen Hundert, ja einigen Tausend von einer Bevölkerung gibt, die nach so vielen Millionen wie die unsrige zählt. Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß sie in ihrem Fühlen, Denken und Wollen verbinden und emporhöben. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln. Dürfen wir einer Minderheit süßen, ja raffinierten Biskuit reichen, während es den Massen der Arbeiter und Bauern an Schwarzbrot fehlt?... Haben wir immer die Arlbeiter und Bauern vor Augen. Lernen wir ihretwegen wirtschaften und rechnen, auch auf dem Gebiete der Kunst und Literatur." 173 Wenn Lenin von der Kunst und Literatur sprach, so betrachtete er sie nie isoliert von den großen Aufgaben der Sowjetmacht, von dem Beitrag, den sie im Rahmen der Kulturrevolution leisten können und leisten müssen. Clara Zetkin hat diesen Gedanken Lenins in ihnen Reden und Schriften wiederholt aufgegriffen und propagiert - die enge Wechselbeziehung von Volkserziehung und Revolution, Kulturrevolution und ökonomischer Entwicklung. Auf dem V. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (1924) entwickelte sie den Zusammenhang zwischen dem Leninschen Kulturprogramm und dem reichen Aufblühen von Wissenschaft und Kunst. D i e „Bildung und Kultur der breitesten schaffenden Massen" sei von höchster Bedeutung dafür, „daß die breitesten Massen zunächst Wissenschaft und Kunst Empfangende und Genießende werden und daß diese Empfangenden und Genießenden auch sich zu Wissenschaft und Kunst Schaffenden entwickeln. Von ganz besonderer Tragweite für den ganzen Fragenkomplex der Volksbildung, des Aufbaus der neuen, höheren Kultur ist die 159

Erziehung durch gemeinschaftliche Arbeit für gemeinschaftliche Arbeit" 174 . Eine klare Weltanschauung, die „große, revolutionäre kommunistische Idee" gebe den Massen Kraft, wandele „Sehnsucht in Wissen, Vertrauen, Wollen" und erzeuge „eine Riesensumme sozialer Energie, die sich als Verteidigungsund Aufbauarbeit der Sowjetstaaten auswirkt" 175 . Nur eine parteiliche, zutiefst volksverbundene Literatur und Kunst hatten Anteil an diesem Prozeß der Veränderung des Menschen und seiner Umwelt. Künstler, Theoretiker und Kulturpoliti'ker waren aufgerufen, aus diesen neuartigen Wirklichkeitsbeziehungen der Kunst Schlußfolgerungen zu ziehen.

Literaturprozeß und Literaturprogrammatik

Literaturpolitik und Parteilichkeit Im Juli 1923 schrieb Lunatscharski an Woronski: „Ich bin ein großer Anhänger jener Renaissance des Realismus, den man Zumindestens theoretisch überall zu verkünden beginnt. Wir brauchen jetzt in Literatur, Theater, Malerei, Musik, Plakat, Graphik den Realismus buchstäblich wie das tägliche Brot und zwar einen Realismus, der etwa von den . . . klassischen realistischen Grundlagen ausgeht, aber natürlich von ihnen nur ausgeht und wesentlich prägnanter, demonstrativer, monumentaler ist, mit einer leichten Neigung einerseits zum Pathos und andererseits zur Farce. In beiden Fällen erkenne ich jedwede Phantastik und Hyperibolik an, unter der Voraussetzung, daß ihnen klare Ideen und große Emotionen zugrunde liegen. Ich glaube, das beginnen jetzt alle zu begreifen." Das eigentliche Anliegen dieses Briefes war die Ajufforderung, auf Grund der recht komplizierten Widersprüche zwischen den einzelnen ästhetischen Konzeptionen und literarischen Gruppen, deren Meinungsverschiedenheiten zu dieser Zeit am heftigsten auf den Seiten der Zeitschriften Na postu, Krasnaja now und LEF ausgetragen wurden, einige Grundfragen der neuen Literaturpolitik öffentlich zu diskutieren: „Soll es eine staatliche Kunstpolitik geben? Soll es eine parteiliche Kunstpolitik geben? Wie kann man die verschiedenen Auffassungen im Innern des leitenden sowjetischen Apparats und in den Kreisen der Partei in Ubereinstimmung bringen? Wer sollte auf staatlicher und parteilicher Ebene damit beauftragt werden, diese Linie konsequent durchzusetzen?" (LNM 243) Lunatscharski versicherte, er sei gegen jede „enge Linie" in der Kulturpolitik, unterstütze Weite und Vielfalt. Aber er sei entschie11

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den gegen jene Verschwommenheit und „Buntheit", die gegenwärtig auf Schritt und Tritt spürbar wären. Nicht zufällig richtete Lunatscharski diese Zeilen an Woronski, den Chefredakteur der Literaturzeitschrift Krasnaja now, drei Monate nach dem XII. Parteitag und dessen Beschluß: „In Anbetracht der Tatsache, daß in den beiden letzten Jahren die schöngeistige Literatur in Sowjetrußland zu einer starken gesellschaftlichen Kraft herangewachsen ist, die vor allem unter der Arbeiter -unid Bauer njugemd an Einfluß gewinnt, muß die Partei in ihrer praktischen Arbeit die Frage nach ider Lenkung dieser Form gesellschaftlicher Wirkung auf die Tagesordnung setzen."176 Damit wurden die staatlichen Organe, insbesondere das Volkskommissariat für Bildungswesen, verpflichtet, neue Wege und Formen der Lenkung des literarischen Prozesses zu finden. Desgleichen war die Verantwortung der Schriftsteller, Verleger, aller literaturvermitteln-' den und -propagierenden Institutionen gewachsen, die Literatur tatsächlich zu einem Instrument der ideologischen und ästhetischen Erziehung aller Werktätigen zu machen. Tatsache war: die Ausstrahlung neuer literarischer Werke auf das geistige Löben nahm an Breite und Tiefe zu, damit auch das Interesse an theoretischen Problemen und ihrer gemeinsamen Lösung. Kunstfragen wurden nun auch in solchen Kreisen diskutiert, die früher davon nicht berührt worden waren. Der Zeitpunkt war herangereift, daß Kunstschaffende, Theoretiker, Redakteure nun mehr mit staatlichen Organen, den örtlichen Sowjets (ihren Kulturabteilungen), der Abteilung für Agitation und Propaganda beim ZK, der Kulturabteilung der Allgemeinen Gewerkschaften und der Gewerkschaft für Kunstschaffende zusammenarbeiteten, „um entsprechend den umfangreichen Zielen einer wirklich großen proletarischen Kunst die Entwicklung der Kunst zu fördern".177 Der Realisierung einer klaren Literaturpolitik standen zunächst entgegen: mangelnde Erfahrungen über das Verhältnis zwischen Partei- und staatlicher Leitung und einer freien Entfaltung der Künste in einem schöpferischen Wettbewerb, separatistische und sektiererische Tendenzen, Erscheinungen des rechten Opportunismus, des Trotzkismus, wie überhaupt noch recht „bunte" Vorstellungen von den Wechselbeziehungen 162

zwischen Kultur und Ökonomie, Literatur und Kultur, Literatur und Politik. Am deutlichsten spiegelten sich diese Erscheinungen in der Literaturkritik. Sie stand noch immer im Zeichen harter Gruppenkämpfe, wenn auch unter veränderten Vorzeichen. Es ga'b noch relativ wenig klare, parteiliche Einschätzungen des Literaturprozesses, seiner Hauptentwicklungstendenzen, der bedeutendsten neuen literarischen Werke. In den Vordergrund traten gruppengebundene Interessen, die Apologie der eigenen „Plattform". Am nachdrücklichsten forderten die Theoretiker der Zeitschrift Na postu - Organ der Gruppe Okijahr - eine klare parteiliche Linie, allerdings mit dem Anspruch, selbst die einzigen Vertreter einer „richtigen" Literaturpolitik zu sein: „Außer einer marxistischen Analyse des literarischen Schaffens stellt sich die Zeitschrift Na postu ein 'bestimmtes politisches Ziel: die Linie der Partei auf dem Gebiet der Literatur korrigieren, sie zur Erkenntnis der Rolle der Literatur führen, der Notwendigkeit, die Literatur im Klassenkampf zu nutzen." 178 Die geistigen Väter dieser These sind unverkennbar. Im Vergleich zum Proletkult zeigte sich lediglich ein Unterschied: Der Autonomie-Anspruch wurde aufgegeben. Man forderte nicht mehr volle „Gleichberechtigung" als Führungskraft auf kulturellem Geibiet neben der Partei und den Gewerkschaften, deren Führungsrolle auf politischem bzw. ökonomischem Gebiet. Aber durch eine Hintertür wurde die maximalistische Forderung nach „Diktatur" wenn nicht auf gesamtkulturellem, so zumindest auf literarischem Gebiet wieder eingeschleust. Hier gäbe es noch keine feste Parteilinie, ausgenommen einzelne Maßnahmen zu Detailfragen, behaupteten die Theoretiker von Na postu. Viel wichtiger als das Verbot von konterrevolutionärer Literatur - hier seien jetzt die Fronten relativ klar - sei der Kampf gegen die „parteilose" und „apolitische" Literatur, die sioh mit dem Schein der Objektivität umgebe. In der Prawda stellten L. Awerbach, A. Besymenski, I. Wardin, G. Lelewitsch, J. Libedinski, S. Rodow u. a. folgende Hauptaufgaben der Partei auf literarischem Gebiet zur Diskussion: 1. Konzentration auf die proletarische Literatur, 2. Abgrenzung von Wecken ohne revolutionär-gesellschaftliche Bedeutung, 11«

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3. exakte Einschätzung der Werke, die zwar Gegenwartsstoffe 'behandeln, aber ohne Klassenverständnis für die historische Mission der Revolution, 4. scharfe Kritik an den Werken der sogenannten „poputtschiki", mit dem Ziel, den ideologischen Einfluß auf diese Schriftsteller zu verstärken.179 Dieses Programm der Gruppe Na postu war die offene Kampfansage an alle nichtproletarischen Schriftsteller. Anstatt die neuen Aufgäben und Ziele der Literatur zur gemeinsamen Sache aller Schriftsteller zu erklären, die oifen auf der Seite der Sowjetmacht standen, wurden die trennenden sozialen, ideologischen und poetologischen Momente in den Mittelpunkt gerückt, wurde der Klassenkampf in der Literatur auf die Tagesordnung gesetzt. Dieser bestimmte den Inhalt, die Methoden und die Formen ihres Auftretens und auch ihre Terminologie. Damit «teilte sich die Gruppe in Widerspruch zur Literatur selbst. Der Beitrag aller nichtproletarischen Schriftsteller wurde praktisch negiert. Der Hauptangriff richete sich gegen die Zeitschrift Krasnaja now, gegen die „neutrale" Linie Woronskis, der viele Werke der sogenannten „poputtschinki" abdruckte. Auf beiden Seiten verhärteten sich die Fronten. Eine erste Aussprache zwischen den beiden Gruppen über Fragen der Literaturpolitik wurde am 5. Dezember 1923 in der Unterabteilung Presse bei der Abteilung für Agitation und Propaganda des Zentralkomitees geführt. Woronski und Lelewitsch trugen ihre Thesen vor. Da aber 'beide Seiten auf ihren Positionen verharrten, wurden keine Ergebnisse erzielt. Vom 9. 'bis 10. Mai 1924, zwei Wochen vor dem XIII. Parteitag, fand in der Abteilung für Agitation und Propaganda beim ZK eine Beratung Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der Literatur statt. Eine Gruppe von 36 Schriftstellern, sie zählten zu den sogenannten „poputtschiki", wandte sich in einem Schreiben an die Presseabteilung des Z K : „ . . . Wir glauben, das Talent des Schriftstellers und seine Übereinstimmung mit der Epoche sind zwei wesentliche Eigenschaften des Schriftstellers. Diese Auffassung teilen mit uns eine ganze Anzahl von Kommunisten - Schriftsteller und Kritiker. Wir begrüßen die neuen Schriftsteller, Arbeiter und Bauern, die jetzt zur Literatur kommen. Wir sehen keinerlei Gegensatz 164

zwischen uns und ihnen und empfinden sie auch nicht als uns feindlich oder fremd. Ihre Arbeit und unsere Arbeit ist die einheitliche Arbeit der russischen Gegenwartsliteratur, die auf dem gleichen Weg dem gleichen Ziel entgegengeht. Die neuen Wege einer neuen, sowjetischen Literatur sind schwere Wege. Fehler sind unvermeidlich. Unsere Fehler wiegen bei uns selbst am allerschwersten. Aber wir protestieren gegen die wahllosen Ausfälle gegen uns. Der Ton solcher Zeitschriften wie Na postu und ihre Kritik, die außerdem noch insgesamt als die Meinung der iKPdSU ausgegeben wird, behandelt unsere literarische Arbeit bewußt voreingenommen und falsch. Wir erachten es für notwendig zu erklären, daß ein solches Verhalten zur Literatur weder der Literatur noch der Revolution würdig ist und die Masse der Schriftsteller und Leser demoralisiert. Wir Schriftsteller Sowjetrußlands sind überzeugt, daß unsere Arbeit notwendig und für Sowjettußland nützlich ist." 180 Unterschrieben war der Brief u. a. von W. Katajew, A. Jakowlew, M. Kolzow, B. Pilnjäk, S. Jessenin, M. Gerassimow, W. Kirillow, O. Mandelstam, I. Babel, A. Tolstoi, M. Prischwin, N. Tichonow, M. Soschtschenko, Ws. Iwanow, M. Schaginjan. Dieser Brief kennzeichnet einerseits die Situation, in der die Beratung stattfand, und andererseits das Vertrauen, das die genannten Schriftsteller der Partei entgegenbrachten, ihre Hoffnung auf Beistand und Unterstützung durch die Partei. Die Hauptreferate hielten Woronski und Wardin. An der Diskussion 'beteiligten sich führende Politiker, Kritiker und einige Schriftsteller. Woronski wie auch Wardin versuchten, das literarische Kräfteverhältnis und die Haltung 'der Partei aus ihrer Sicht darzustellen. Trotz einiger richtiger Fragestellungen waren jedoch ¡beide Referate ein Plädoyer für die Linie der jeweiligen Zeitschrift, für die Auffassungen der von ihnen vertretenen Gruppe. Woronski: „ . . . ich spreche nicht als Woronski, sondern als Vertreter jener Literatur, die in der Krasnaja now, in Krug, in der Kusniza, in der jüngsten Gruppe Perewal vertreten ist, d. h. im Namen fast der gesamten vorhandenen jungen Sowjetliteratur. Diese Literatur geht mit uns. Bei den Leuten von Na postu hat sie nichts zu suchen."181 Die Quintessenz lautete: Das Proletariat - sein Geist, sein Talent, seine Kräfte - war 165

nach der Revolution im wesentlichen mit Politik beschäftigt. Den künstlerischen Fragen konnte es sich kaum widmen. Daher sah Woronski während der Übergangszeit zum Sozialismus in den proletarischen Schriftstellern nicht die führende literarische Kraft. Seiner Meinung nach verwirkliche die Partei ihre Führungsrolle erstens im Kampf gegen die innere und äußere Emigrationsliteratur, zweitens in der Unterstützung aller literarischen Gruppen, die sich zur Revolution bekennen, und drittens in der „völligen Freiheit zur künstlerischen Selbstbestimmung". Woronski sprach also weder vom Klassencharakter der Literatur, ihrer Parteilichkeit, noch von der Einheit der sozial-ökonomischen, politisch-ideologischen und kulturellen Aufgaben als dem Grundprinzip der Parteipolitik auch in bezug auf alle literarischen Fragen. Wardin: „ . . . Genosse Woronski versuchte den Eindruck zu erwecken, als gäbe es bereits eine bestimmte Parteilinie in der Literatur. Hätte jedoch die Partei tatsächlich 'bereits eine solche Linie, so würden wir von Na postu, die das Gegenteil behaupten, uns in der Opposition zur Parteilinie befinden.. .". 182 Von diesem Vorwurf distanzierte sich Wardin ganz entschieden. „Wir brauchen eine kommunistische Parteizelle. Wir brauchen eine kommunistische Fraktion in der Literatur. Eine solche Zelle, eine solche kommunistische Fraktion ist die Gruppe der proletarischen Schriftsteller . . . Eine Gruppe, auf die sich die Partei stützen kann, existiert bereits. Diese Gruppe ist die Allsowjetische Assoziation proletarischer Schriftsteller (WAPP). Die Partei muß die WAPP leiten und um sie herum die parteilosen Schriftsteller gruppieren." 183 Wardin verlangte ausschließlich ein politisches Herangehen an alle Fragen der Literatur. Der „Klassenkampf", der politische Kampf diktiere die Formen der Literaturpolitik und auch das Verhalten zu den „poputtschiki". Im Gegensatz zu Woronski bezeichnete Wardin die „Wirkung auf die Massen" als entscheidendes Kriterium der Literatur, allerdings benutzte er diese These zu dem Nachweis, daß n u r die proletarische Literatur dieser Forderung Lenins gerecht werde. Woronski ist zugute zu halten, daß er einem relativ breiten Kreis junger Autoren in diesen Jahren den Weg zur Literatur geebnet hatte. Bei der Auswahl ließ er sich weder von der so166

zialen Herkunft des Schriftstellers noch von engen thematischen Gesichtspunkten leiten. Er druckte auf den Seiten seiner Zeitschrift Werke, die wesentlich das Profil der jungen sowjetischen Prosa bestimmten: Iwanows Partisanen und Panzerzug 14-69, Sejfullinas Wirineja, große Teile der Reiterarmee Babels, Gonkis Meine Universitäten und Das Werk der Artamonows, Gladkows Zement und Leonows Dachse. Als Kritiker entdeckte er als einer der ersten einige neue Züge, Errungenschaften dieses Literaturstroms. Woronskis ästhetische Grundkonzeption entwickelte sich jedoch Mitte der zwanziger Jahre nicht in Übereinstimmung mit der sich verändernden Funktion der Literatur im gesellschaftlichen Leben. Er geriet in einigen Fragen unter den Einfluß Trotzkis und zweifelte schließlich an der Möglichkeit einer proletarischen Literatur. 184 Ferner betrachtete er die Kunst ausschließlich als „Erkenntnis des Lebens." Lunatscharski wandte sich gegen die Reduzierung der Kunst auf eine besondere Methode der Erkenntnis des Lebens. Diese Polemik charakterisiert viele seiner Arbeiten iener Zeit. Gleichzeitig verwahrte er sich gegen Wardins Beurteilung eines Kunstwerkes nach rein politischen Momenten, ohne Berücksichtigung der Spezifik der Kunst. Eine solche Fragestellung sei absurd, weil sie die Kunst überhaupt in Frage stellt diese Funktion erfülle die Publizistik auch: „ . . . man darf die Frage nach der Literaturpolitik nicht ohne Berücksichtigung der besonderen Gesetze der Kunst stellen. Andernfalls können wir wirklich mit ungeschickten politischen Maßnahmen die gesamte Literatur einsargen, und zwar in einen evangelischen .verwappten' Sarg, in Ableitung von dem Begriff WAPP." 185 Lunatscharski warnte vor neuen Rückfällen in den „linken Radikalismus". Awerbachs Geschrei von einem „Aufruhr" der Schriftsteller, deren Brief Ja. Jakowlew verlesen hatte, wertete er als ein sehr ernstes Anzeichen. Seine scharfe Kritik galt auch Trotzkis Ablehnung der proletarischen Literatur. Lunatscharskis Schlußfolgerung lautete: die proletarische Literatur muß mit allen Mitteln unterstützt werden, als unsere größte Hoffnung, aber auch die .poputtschiki' dürfen wir in keinem Fall zurückstoßen."186 Die Beratung nahm eine Resolution an. Alle extremen Er167

scheinungen - linke wie rechte Abweichungen - wurden zurückgewiesen und die feindselige Haltung der Gruppen untereinander als „äußerst anormal" bezeichnet. Keine der literarischen Richtungen und Schulen habe .das Recht, im Namen der Partei aufzutreten. Der Presseabteilung des ZK wurde empfohlen, regelmäßig Beratungen mit Schrifstellern und Kritikern, Kommunisten, durchzuführen und eine „systematische Anleitung der Parteimitglieder und der parteilichen Presseorgane auf dem Gebiet der Literatur" 187 zu sichern. Die wesentlichen Punkte der Resolution wurden fast wortwörtlich in den Beschluß des XIII. Parteitages Über die Presse aufgenommen: „Die Arbeit der Partei auf dem Gebiet der Literatur muß sich im wesentlichen auf das literarische Schaffen der Arbeiter und Bauern orientieren, die sich im Prozeß des kulturellen Aufschwungs der breiten Volksmassen zu Arbeiter- und Bauernschriftstellern entwickeln . . . Die Arbeiter- und Bauernkorrespondenten sind eine neue gesellschaftliche Kraft, die — organisch mit den Arbeiter- und Bauernmassen verbunden ist." Sie seien auch als „Reserven" künftiger Schriftsteller zu betrachten; damit wurde an die Erfahrungen aus der Zeit des Bürgerkrieges angeknüpft. Auch den Schriftstellern des Komsomol sei größere Aufmerksamkeit zu widmen - „sie sind inmitten der Arbeiterjugend tätig und bringen daher in gewissem Maße ihre Stimmung zum Ausdruck". „Wichtige Voraussetzung zur Entwicklung der Arbeiter- und Bauernschriftsteller ist eine intensivere künstlerische und politische Arbeit an sich selbst und die Befreiung vom engen Gruppenwesen, mit Unterstützung der Partei und insbesondere einer parteilichen Literaturkritik." Die Begabtesten der sogenannten „poputtsohiki" seien weiterhin systematisch zu unterstützen, eine kameradschaftliche Zusammenarbeit mit den Kommunisten sei anzustreben. „In der Auffassung, daß keine literarische Richtung, Schule oder Gruppe im Namen der Partei auftreten kann oder darf, unterstreicht der Parteitag die Notwendigkeit, die Frage der Literaturkritik zu regeln, sowie eine möglichst umfassend parteiliche Behandlung der literarischen Werke auf den Seiten der sowjetischen Parteipresse. 168

Der Parteitag lenkt -die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit, eine Massenliteratur für die Arbeiter, Bauern und Rotarmisten zu schaffen."188 Vier Momente verdienen in diesem Parteidokument besondere Beachtung: 1. größere Aufmerksamkeit und materielle Unterstützung für die Arbeiter- und Bauernschriftsteller (ausdrücklich war an dieser Stelle nicht von „proletarischen" Schriftstellern die Rede), 2. bessere Zusammenarbeit mit den sogenannten „poputtschiki", 3. Entwicklung einer marxistischen, parteilichen Literaturkritik, 4. Forderung einer Literatur für die werktätigen Massen dieser Punkt war in der Resolution der Mai-Beratung nicht enthalten. Die dialektischen Wechselbeziehungen zwischen proletarischer Literatur und Volksmassen hatte die Na postu-Gruppe aus dem Blickfeld verloren. Das hatte zu einer sektiererischen Verengung des Verhältnisses von Schriftsteller und Leser, Thema und gesellschaftlichem Anspruch an die Literatur geführt. I. Maiski deckte die Ursachen dieser Erscheinung auf: Verschiebung der Akzente von einer „organischen Verbindung der proletarischen Schriftsteller mit den Massen" auf die Ausarbeitung von Programmen und deren Verteidigung in einem sehr unduldsamen Gruppenkampf. Die Folge waren grobe Vereinfachungen komplizierter ästhetischer Probleme. 189 Nicht zufällig beriefen sich auf der Beratung im ZK einige Diskussionsredner, unter ihnen Dem] an Bedny, auf die kurz zuvor veröffentlichten Erinnerungen von Clara Zetkin, an Lenins Formulierung von der Volksverbundenheit der neuen Literatur und Kunst: „Haiben wir immer die Arbeiter und Bauern vor Augen. Lernen wir ihretwegen wirtschaften und rechnen, auch auf dem Gebiete der Kunst und Literatur." 190 Selbstverständlich waren mit 'diesen Beschlüssen alle Probleme nicht sofort aus der Welt geschafft. Die parteiliche Führung des Literaturprozesses, eine Veränderung des literarischen „Klimas" waren nicht von heute auf morgen zu realisieren. Es bedurfte der Überwindung der bereits dargestellten verschiede169

nen ideologischen Tendenzen. Das Prinzip der Parteilichkeit wurde noch verbreitet einseitig interpretiert und mit administrativen Maßnahmen verwechselt. In dieser Frage gab es noch über Jahre keine völlige Klarheit. Die Literaturwissenschaft und -kritik besannen sich erst Anfang der dreißiger Jahre erneut auf dieses wichtige Kriterium der marxistisch-leninistischen Literaturtheorie und Ästhetik. 191 Die Diskussion um Trotzkis antileninistische Kultur- und Literaturkonzeption verschärfte sich 1924/25 im Zusammenhang mit dem von der Partei sehr konsequent geführten Kampf gegen seine oppositionelle Fraktionstätigkeit. 192 Die Auseinandersetzung mit Trotzkis strikter Ablehnung einer Leitung durch die Partei in kulturellen und künstlerischen Fragen, auf die sich die „neuen Linken" heute wieder stützen, gewann in den Debatten um eine parteiliche Literaturpolitik naturgemäß an Gewicht. Bucharins Zwischenruf auf der ZK-Beratung: „Welches adlige Politbüro hat Puschkin Direktiven gegeben, als er seine Verse schrieb?" 193 war nicht nur eine Zurückweisung sektiererischer Vereinfachungen - er verweist auf trotzkistische Einflüsse, obwohl Bucharin seinerzeit durchaus nicht in allen Fragen mit Trotzki übereinstimmte. Seine Haltung war aber in diesen Fragen sehr schwankend. Auch Trotzkis These, die proletarische Literatur sei eine Utopie, wurde energisch zurückgewiesen, wenngleich sie keinen breiten Widerhall gefunden hatte. Zu eindeutig entwickelte sich die Literatur entgegen den Vorstellungen Trotzkis. Die Erste Unionskonferenz proletarischer Schriftsteller im Januar 1925 kritisierte „die menschewistische (und letzthin auf Restauration zielende) Richtung" 194 dieser Konzeption. In der Resolution zum Hauptreferat wurde festgestellt, daß sich nach Trotzkis Auffassung die „Aufgabe der fortgeschrittenen Vertreter des Proletariats in der möglichst umfassenden V e r b r e i t u n g von Elementen der klassischen und der zeitgenössischen bürgerlichen Kultur erschöpft" 195 . Trotzkis These von der Angleichung der neuen Klasse an die alten Errungenschaften, von den modernen Apologeten des Trotzkismus und Revisionismus zur Zementierung der Konvergenztheorie wieder aufgefrischt, widersprach bereits zum Zeitpunkt ihrer Propagierung durch Trotzki der Realität. Der Unionskongreß prole170

tarischer Schriftsteller distanzierte sich zu Recht von diesen rechten Entstellungen. In der Grundfrage - Verwirklichung der parteilichen Linie auf dem Gebiet der Literatur - galb es jedoch auf dem Kongreß noch keine klare Haltung. Die Gruppe um die Zeitschrift Na postu war noch immer nicht bereit, ihre Forderung nach Anerkennung als kommunistische Fraktion innerhalb der gesamten literarischen Öffentlichkeit zurückzunehmen und damit ihren Anspruch, als einzige in der Literatur die Parteilinie zu vertreten und durchzusetzen. Sie bestand weiterhin auf dem „Prinzip eines beharrlichen systematischen Kampfes" der proletarischen Literatur mit dem Ziel, „die bürgerliche und kleinbürgerliche Literatur aller Arten und Schattierungen zu absorbieren"196. Der Sieg - hieß es - könne nur errungen werden, wenn das Proletariat aiuf kulturellem Gebiet ebenso eine Revolution durchführe wie auf ökonomischem und politischem Gehiet. Diese Haltung löste eine breite Diskussion in der gesamten Presse aus. Das ZK berief eine Kommission, die sich mit diesen Fragen befaßte. Frunse, Mitglied der Kommission, verurteilte die Holzhammerpolitik auf literarischem Gebiet. Schroffe administrative Maßnahmen könnten nur Schaden anrichten. Die Methoden des allgemein praktizierten Gruppenkampfes müßten endgültig ausgemerzt werden. Er setzte sich für eine unterschiedliche Taktik gegenüber den parteilosen Schriftstellern und der heranwachsenden Schriftstellergeneration ein und erinnerte in diesem Zusammenhang an eine Lehre Lenins aus der Zeit des Kriegskommunismus. Er, Frunse, habe damals die Theorie von einer einheitlichen Militärdoktrin vertreten. Lenin habe sie entschieden zurückgewiesen, mit der Begründung, die jungen Kräfte verfügten noch nicht über genügend Wissen und Erfahrung, um die Leitung des gesamten Militärwesens in die Hand zu nehmen. Frunse betonte, die literarischen Belange müßten vor allem in engem Zusammenhang mit den allgemeinen Problemen des sowjetischen Aufbaus behandelt werden. 197 Die von der Kommission erarbeitete Resolution des ZK der KPdSU (B) vom 18. Juni 1925 Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der Literatur traf verbindliche Festlegungen und 171

forderte die Schriftsteller auf, mit ihren spezifischen Mitteln aktiv am Aufbau der neuen Gesellschaft teilzunehmen. „Die Verlbesserung des materiellen Wohlstandes der Massen bewirkt in Zusammenhang mit der durch die Revolution vollzogenen Umwälzung in den Köpfen, mit einer verstärkten Aktivität der Massen, dem enorm erweiterten Gesichtskreis usw. ein gewaltiges Wachstum der kulturellen Ansprüche und Bedürfnisse. Wir sind auf diese Weise in e i n e n e u e S t u f e d e r K u l t u r r e v o l u t i o n eingetreten Teil dieser k u l t u r e l l e n M a s s e n b e w e g u n g ist die neue L i t e r a t u r b e w e g u n g der A r b e i t e r und Baue r n . . .". (Hervorhebung - N. T.) Auf Grund einer exakten Analyse der sozial-ökonomischen, politisch-ideologischen und kulturell-künstlerischen Entwicklung ist von der Einheit aller dieser Prozesse - einschließlich der literarischen - die Rede und zugleich von deren Spezifik. Die einzelnen Festlegungen der Parteibeschlüsse des Vorjahres wurden nochmals ausführlich begründet und vertieft. Kapitulantentum wie „kommunistischer Hochmut" wurden gleichermaßen scharf verurteilt. Der Arbeiterklasse als Ganzem mit allen ihren materiellen und geistigen Quellen stehe der Führungsanspruch auf literarischem Gebiet zu. Die Partei sicherte den proletarischen Schriftstellern das ihnen vierbürgte historische Recht auf Hegemonie auch in der Literatur zu, distanzierte sich aber entschieden im Sinne Lenins von allen Erscheinungen „kommunistischen Hochmuts" gegenüber den Schriftstellern anderer sozialer Klassen und Schichten. Sie sprach sich für den „freien Wettbewerb verschiedener Gruppierungen und Richtungen" aus. Jede andere Lösung dieser Frage sei eine bürokratische Scheinlösung. Erstmalig wurden in einem Parteibeschluß auch Fragen der künstlerischen Form und des Stils, neuer literarischer Methoden behandelt, aber nicht im Sinne fertiger Lösungen, von „Reglementierungen", sondern als Aufforderung, diese Fragen zu untersuchen: „Das Proletariat hat bereits heute feste Kriterien des gesellschaftlich-politischen Inhalts jedes beliebigen literarischen Werkes - solche eindeutigen Antworten auf alle Fragen bezüglich der künstlerischen Form hat es indessen bisher nicht." Die Partei forderte mit besonderem Nachdruck, mehr als 172

bisher die E n t w i c k l u n g d e r n a t i o n a l e n L i t e r a t u r e n in den zahlreichen Republiken und Gebieten der Sowjetunion zu unterstützen. Konsolidierung aller literarischen Kräfte, Orientierung auf ihre hohe gesellschaftliche Funktion - das war der Hauptinhalt des vom Politbüro bestätigten ZK-Beschlusses.198 Lunatscharski - er war an der Ausarbeitung der Thesen maßgeblich beteiligt - sah in dem Parteidokument eine Bestätigung der von ihm als Volkskommissar seit Jahren durchgeführten Kulturpolitik sowie der Linie aller parteilichen und staatlichen Einrichtungen, die sich mit Literaturfragen befaßten. In den Thesen, die er der Kommission unterbreitet hatte 199 , berief er sich auf den Beschluß des XIII. Parteitages Über die Presse, auf die konsequente Literaturpolitik der Partei, auf Lenins Lehre von der Kontinuität der kulturellen Entwicklung und Lenins klare Haltung gegenüber allen bürgerlichen Fachkräften. Die erneut entstandenen Streitigkeiten hätten eigentlich nur die „Fiktion eines innerparteilichen Streits über die proletarischen Schriftsteller" (TNSP 34) geschaffen. Zu dieser Zeit stellte Lunatscharski eine interessante'Frage: Warum wunde im neuen Parteiprogramm, angenommen 1919, nichts über die neue proletarische Kunst gesagt und lediglich von der Notwendigkeit gesprochen, die alte Kunst zu bewahren und zu verbreiten? (AVL 3, 260) Offensichtlich hielt es die Partei seinerzeit für notwendiger, schlußfolgerte Lunatscharski, zunächst das Erbe zu schützen, so lange, bis das Proletariat genügend Bildung und Fähigkeiten besitze, um eine eigene Kultur zu schaffen und auch über das Erbe ein fundiertes Urteil zu fällen, das Überlieferte ständig aufs neue zu überprüfen. Lenin habe bis zuletzt vor voreiligen Entscheidungen in künstlerischen Fragen und vor „kommunistischem Hochmut" gewarnt. Besonders gefährlich sei er auf literarisch-künstlerischem Gebiet. Sehr schnell werden schöpferische Neuansätze zerstört, die unwiederbringlich verloren sind: „Einige Genossen möchten auch jetzt noch irgendwelche Perekops in der Kultur einnehmen und auch hier militärisch verstandene Kommandohöhen besetzen. Indessen schaffen solche Handlungen nur Verbitterung und lenken das Kulturschaffen des Proleta173

riats von seinen direkten Aufgaben ab und auf den falschen Weg eines mitunter kleinlichen und unangenehmen Kampfes um die auf kulturellem Gdbiet nicht gerechtfertigte Vorrangstellung." In literarischen Fragen könne die parteiliche Leitung, die Führungsrolle der jungen proletarischen Literatur nicht durch „Befehle" verwirklicht werden, sondern einzig und allein durch das Prinzip: „eine eigene Literatur, eine eigene Kritik aufziehen und auf diese Weise tatsächlich Hegemon der Kultur werden." „Wir glauben, wir wissen doch", stellte Lunatscharski fest, „daß das Proletariat auf allen Gebieten die organisierende Klasse ist. Deshalb können wir davon sprechen, daß der erwünschte Zustand auf dem natürlichen Wege des Wachstums erreicht wird - das ist eine wichtige Korrektur zu den Überbleibseln des Kriegskommunismus, die noch hier und da auf kulturellem Gebiet zu beobachten sind." (AVL 2, 305) Die Fragen, die Lunatscharski zwei Jahre zuvor Woronski gestellt hatte, waren beantwortet. Angesprochen waren in erster Linie die Schriftsteller selbst, die Literaturkritiker. Sie hatten die Parteibeschlüsse in der Praxis zu realisieren: engere Verbindung der Literatur mit dem gesellschaftlichen Leben, tieferes Durchdenken der ästhetischen Fragen (Stil, Methode), Auffinden von Kriterien einer marxistischen Literaturkritik zur Wertung der neuen Gegenwartsliteratur, Übereinstimmung von Literaturprozeß und sozialistischer Gesellschaftsentwicklung, das heißt Bewußtwerden dieser dialektischen Wechselbeziehung zur Bestimmung der neuen Funktion der Literatur. Die parteiliche Leitung konzentrierte sich auf die Lenkung aller staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen auf diese Hauptaufgaben. Insofern hatten die Kulturdiskussionen und die Beschlüsse über die Literaturpolitik der Partei um 1925 eine so außerordentlich große Bedeutung für den literarischen Entwicklungsprozeß. Gorki sprach von der „großen erzieherischen Bedeutung" der Resolution für die Literaturschaffenden - „sie wird das russische Kunstschaffen weit nach vorn bringen". (Gorki 29, 432)

Epocbenaufgabe der Literatur „Lenin wird auf lange Zeit die Gedanken der Epoche beflügeln. Verbunden mit dem Kollektiv der arbeitenden Massen, ihrer heroischen Einstellung, wird er sowohl der Gesellschaft als auch der Literatur den Stempel seines willenstarken ,Ich' aufdrücken. Nach ihm gibt es kein Zurück mehr zu den Hamlets des Schtschigrowschen Kreises, zu Anathem, der mit dem Kopf an die eiserne Pforte des Unerkennbaren schlug... Die Gestalt des neuen H e l d e n . . . werden unsere Dramatiker und Romanautoren im Zeichen Lenins suchen, in dem Bemühen, den Charakter zu erkennen, der die Phantasie beflügelt." (A. Lwow-Rogatschewski) „Es ist die Zeit der künstlerischen Synthese. Unversiegbarer Quell seiner monumentalen künstlerischen Verallgemeinerung ist die Gestalt Lenins, ein feingeschliffener Kristall, Gestalt der Einheit in der Vielfalt... Die revolutionäre Bestimmung der russischen Literatur ist der von Lenin gewiesene Weg. Er ist von seinem Geist durchdrungen. In ihm ist sein unerschöpflicher Genius lebendig. Die russische Literatur ist die revolutionäre Avantgarde der Weltliteratur. Lenin und die Literatur sind eins." (F. Gladkow) 200 „Dieser Mensch, der menschlichste von je" (Majakowski), „die Gestalt eines echten Menschen, wie er sein soll" (Lunatscharski) - Lenin - bewegte in den Januartagen des Jahres 1924 das Denken und Fühlen der Menschen. Die literarischen Zeugnisse jener Zeit 'belegen einen einmaligen Vorgang: Der Tod Lenins hob „Lenins fortlebende Energie" (Majakowski) ins Bewußtsein als Verkörperung der die Welt verändernden menschlichen Energie. Keine einzige Debatte der zwanziger Jahre erreichte diese Tiefe und Reife der Selbstverständigung über das neue Menschenbild, frei von gruppengebundenen ästhetischen Konzeptionen. Der Politiker, Theoretiker, Staatsmann - Lenin als „großer echter Mensch dieser Welt" (Gorki) schloß die Möglichkeit einer vorgefaßten, engen Betrachtungsweise aus. Das erschütternde Ereignis streifte alles Zufällige, Private ab und lenkte den Blick auf das Grundproblem der 175

neuen Literaturepoche: die Dialektik von Masse und Persönlichkeit, Kollektiv und Individuum, Geschichte und Alltäglichkeit in einer literarischen Gestalt. Und viele Schriftsteller begriffen oder begannen zu begreifen, daß dieses künstlerische Problem nur von leninistischen Positionen zu lösen war. Majakowskis ästhetische Leistung im Lenin-Poem (1924) Vorgriff auf eine neuartige literarische Synthese von Geschichte und Mensch, Revolution und kommunistischer Moral - wurde von den Zeitgenossen noch nicht in vollem Umfang erfaßt. Offenbar war sich Majakowski selbst des Programmatischen seiner Dichtung nicht in der Weise bewußt, wie wir es heute aus der Gesamtsicht von Tradition und Neuleistung in der sowjetischen Dichtkunst sehen. Indessen begriff er einen bedeutsamen Aspekt: „Vollendete das Lenin-Poem. Rezitierte es in vielenArbeiterversammlungen.EmpfandmächtigFurchtvor diesem Poem, weil man darin leicht in simple politische Berichtmanier abgleiten konnte. Der Widerhall beim Arbeiterpublikum erfreute mich und vergewisserte mich in meiner Überzeugung, daß dies Poem notwendig war." (WWM 4, 27) 201 * Zur Selbstbestätigung war demnach für Majakowski am wichtigsten, „daß dies Poem notwendig war" oder, wie er sich einmal an anderer Stelle ausdrückte, „daß deine Übungen auf dem Gebiet der Poesie einen wirklichen Sinn haben, daß deine erhabene Arbeit zur Verbesserung des Lebens der Menschen Nutzen bringen kann". ( W M 12, 39) Die öffentliche Wirkung - die gesellschaftliche Funktion - stand also für ihn an erster Stelle und nicht 'die ansonsten mit solcher Hartnäckigkeit und auch einer gewissen Aggressivität verteidigte Konzeption einer „Wortkunst", für die „die Abfassung von Aufrufen im Kampf gegen den Typhus und die Niederschrift eines Liebesgedichts nur verschiedene Seiten ein und derselben gestalterischen Arbeit mit dem Wortmaterial" (WWM 4, 285) ist. Da Majakowski als Theoretiker des LEF, im Disput mit seinen Kritikern und Gegnern, das Recht auf eine derart neue, mit sämtlichen überlieferten literarischen Vorbildern brechende „gestalterische Arbeit mit dem Wortmaterial" - das Vergnügen und die Nützlichkeit solcher poetischen „Übungen" - verteidigte, fand sein zutiefst revolutionäres Gr.undanliegen häufig nicht genügend Beachtung. Die Kritik sprach von Widersprü176

chen in seinem Werk. Indessen war der Widerspruch zwischen Theorie, literarischem Experiment und literarischer Leistung zur Zeit des Entstehens des Lenin-Poems gar nicht so eklatant, wie aus polemisch zugespitzten Äußerungen .des Dichters geschlossen werden könnte. Kaum war das „neue Kind", die Linke Front, aus der Taufe gehoben, schon bahnten sich ernsthafte Zerwürfnisse unter den geistigen Vätern dieser Bewegung an. „Doch behalten Sie im Auge", schrieb Majakowski im Januar 1923 an N. Tschushak, „daß das Ziel unserer Vereinigung die k o m m u n i s t i s c h e K u n s t ist (als Teil der kommunistischen Kultur und des Kommunismus überhaupt 1) - ein noch verschleiertes Gebiet, das sich einstweilen genauen Berechnungen und theoretischen Erörterungen widersetzt, ein Gebiet, wo die Praxis, die Intuition oft den allerklügsten Theoretiker überholt. Laßt uns doch an diesem Aufgabenkreis arbeiten, ohne daß wir einander eine Lösung aufzwingen, doch indem wir gemeinsam unsere Urteilskraft schärfen...". (WWM 4, 292) Aber diese Meinungsverschiedenheiten entzogen sich anfangs noch der Öffentlichkeit. Auf einem Disput zu dem Thema Die ersten 'Bausteine einer neuen Kultur im Februar 1925 entzündete sich der Streit zwischen Lunatscharski und Majakowski an dem von Lunatscharski verteidigten leninistischen Prinzip der Kontinuität der Kultur, an Lunatscharskis These: „Man kann keine neue Literatur schaffen, ohne bei jemandem gelernt zu haben." Es sei in höchstem Maße gefährlich zu sagen, der proletarische Schriftsteller, der revolutionäre Schriftsteller sei Autodidakt, er habe wenn nicht gerade das Abc selbst erfunden, um so eher aber Ausdrucksweise, Stil, Thema. (NM 23) Die russische Literatur verfüge über hervorragende Werke, bedeutende revolutionäre Traditionen. An sie müsse man sich halten - nicht im Sinne einer einfachen Nachahmung, sondern einer schöpferischen Aneignung. Und wenn der proletarische Schriftsteller darüber hinausgeht, wirkungsvoller, einfacher, klarer, stärker ist - um so besser. Unter den bedeutendsten Werken der jüngsten sowjetischen Prosa nannte Lunatscharski die Erzählungen von Sejfullina und Leonows Roman Die Dachse. 12

Thun

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Majakowski widersprach: Die Futuristen hätten sich nie gegen die alte Kultur als „Studienmaterial" gewandt. Sie protestieren gegen die alte Kultur nur dann, wenn „fertige alte Beispiele zum Vorbild erklärt" (NM 34) werden. Ferner: das wirklich Neue in der sowjetischen Kunst sei mit der Linken Front verbunden. Über sie müsse man an erster Stelle sprechen und nicht über Leonow oder gar Sejfullina: „In der gigantischen hunderttausend-, millionenfachen holprigen Berichterstattung der Arbeiterkorrespondenten finden wir trotz schlechten sprachlichen Beiwerks weitaus mehr Neues als in den literarischen Werken, sagen wir, einer Sejfullina." (NM 26) Lunatscharski entgegnete: „Bei der Darstellung der Beisetzung Lenins sehen wir, daß der lebendige Mensch bereits aus seiner LEF-Form ganz heraustritt. Das darf man nicht aufhalten. Nicht nur Lew Tolstoi ist tot, auch LEF ist tot. Es ist das gekommen, was wir erwartet haben und wozu wir Sie aufgerufen haben, allerdings bisher nur in der Literatur: eine breite und zutiefst realistische Literatur." (NM 34) Lunatscharski schloß also Majakowskis Poem Wladimir lljitsch Lenin in jene Erscheinungen des „sozialen Realismus" ein, die sich in jüngster Zeit, alle Erwartungen übertreffend, entwickelt hatten. Am eigenen Beispiel hatten sich Majakowskis Worte ibewahrheitet, daß auf literarischem Gebiet „die Praxis, die Intuition oft den allerklügsten Theoretiker überholt". (Dabei ist allerdings die im Dichter „wirkende" Dialektik zwischen ästhetischer Leistung und theoretischer Anstrengung nicht zu unterschätzen.) Die gesellschaftliche Praxis - die Arbeit der Sowjets, des Hundertfünfzigmillionenvolkes in dem Beziehungsreichtum der ökonomischen, politischen und ideologischen Erscheinungen schließt die neuen Kunst-Wirklichkeit-Beziehungen ein. Kunst wird aus diesem Gesellschaftszuisammenhang nicht mehr herausgelöst. Das Lenin-Poem ist gerade deshalb für unsere Untersuchungen so aufschlußreich, nicht vom Aspekt der Themenwahl allein: „Majakowskis Konzept trägt ganz die Spur leninscher Haltung und Sprachpraxis."202 Im „Verhältnis Millionen Partei - Lenin" 203 erschließt sich in genialer Weise die Realität gewordene Gesellschaftsprogrammatik des Marxismus-Leninismus. Literatur wird auf diese Weise „notwendig", wird „zu 178

einem T e i l der allgemeinen proletarischen Sache" - sie bewegt Menschen, weil sie selber von den Schicksalen der Menschen bewegt .wird.204 Die neuen wechselseitigen Übereinstimmungen von Kunst und Revolutionswirklichkeit können nur k o m p l e x erfaßt werden. Gerichtet waren alle parteilichen und staatlichen Bemühungen letztlich auf das Hervorbringen einer solchen sozialistischen Kunst, einer derart neuartigen Weise von Kunstaneignung, Wirkung: „Die Kunst ist . . . eine soziale Kraft. Die Kunst ist eine starke Waffe der Propaganda. Von diesem Standpunkt stellt der Künstler in jedem Teil des gesellschaftlichen Lebens eine wichtige Kraft dar, die am Klassenkampf teilhat." (AVL 7, 423) Aus diesem Grunde lehnte Nadeshda Krupskaja den in der NÖP-Periode verlbreiteten Begriff „dritte Front" für die Kultur ab. Unter Berufung auf Engels' Briefe an J. Bloch (21. 9. 1890) und an C. Schmidt (27. 10. 1890) wies sie nach, daß dabei die wechselseitige Abhängigkeit aller Faktoren verloren geht, vor allem 'die „Rückwirkung" der politisch-ideologischen Bewegung auf die ökonomische.205 Den entscheidenden gesellschaftlichen wie ästhetischen Beitrag liefert ein Schriftsteller mit seinem Werk. In ihm spiegeln sich auch die komplizierten Wechselwirkungen zwischen der künstlerischen Individualität des Autors und dem Programm verschiedener literarischer Gruppen, deren Entstehen und Auflösung oder auch tiefgreifende Wandlung unter dem Einfluß des gesamten kulturellen Prozesses. Die Serapionsbrüder, verbunden durch eine enge Freundschaft, haben fast ohne Ausnahme ihre „Sitzungen" Anfang der zwanziger Jahre als schöpferische Streitgespräche beschrieben. Scherzhaft teilten sie sich in „Linke" und „Rechte" ein, tasteten sich schließlich zum Ziel eines gemeinsamen Weges vor „und erkannten zuletzt innerlich an, daß es für alle das gleiche war: die Erschaffung einer neuen Literatur der Kriegs- und Revolutionsepoche. Diese Auffassung von der Geschichtlichkeit unserer Aufgabe, die uns erst nach und nach kam, machte uns trotz aller Verschiedenartigkeit gleich" (Fedin 452). Fedin verwies auf die ersten bedeutenden Leistungen Iwanows, Tichonows, Soschtschenkos - sein Roman Städte und Jahre (1924) 12*

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nimmt unter ihnen einen bedeutenden Platz ein. Der von ihnen in die Literatur eingeführte neue Stoff habe die Konturen einer neuen literarischen Form gezogen. Dieser neue Stoff brachte tatsächlich Klarheit in die teilweise recht verworrenen Vorstellungen von Inhalt und Form, von den neuen sprachlichen Mitteln und Ausdrucksformen. Den neuen Stoff zu finden, war allerdings auch keine einfache Sache, nicht etwas, was ganz von selbst auf sie zukam. Der umfangreiche Briefwechsel der Serapionsbrüder mit Gorki erschließt die komplizierten Umwege auf der Suche nach einem gemeinsamen Weg: 'die Debatte mit Fedin über „Traber" und „Mähre"; der Iwanow gegebene Rat, die für einen Künstler unumgängliche Phantasie zu zügeln, und die Warnung vor dem Mißbrauch regionaler Ausdrücke auf Grund einer falschen Begeisterung für Remisows Schule, die Magie des Wortes; die gegenüber Slonimski geäußerte Überzeugung, literarische Ideen, Formen, Schulen und Strömungen werden von den Künstlern selbst geschaffen - neue bedeutende Werke seien niemals aus der Furcht entstanden, gegen bestimmte Methoden (im konkreten Fall: gegen die „formale Schule") zu verstoßen. Bereits der erste gemeinsame Erzählband der Serapionsbrüder veranlaßte Gorki zu der Bemerkung, das Buch sei interessant, nur fehle der Mensch: „Der Mensch wurde der Tatsache geopfert. Ich glauibe, ist nicht hier - bei der Verkleinerung des Menschen - ein bestimmter Fehler unterlaufen? Werden die Hautreize nicht als etwas anderes aufgefaßt? Schließlich erwies sich auch im Kollektivismus die Rolle der Persönlichkeit als gewaltig. Zum Beispiel Lenin. Bei Ihnen aber ist der Mensch zusammengepreßt. In jeder Erzählung wurde dem Menschen zu wenig Beachtung geschenkt. Im Leben aber erfüllt doch der Mensch seine menschliche Rolle.. .". 206 Der in die Literatur n e u eingeführte Stoff - die Kriegsund Revolutionsepoche - hatte den neuen Menschen zum Inhalt, der die Revolution vollbrachte. Andernfalls gab die Literatur nur „Blitzlichter des Lebens: ein fahrender Zug, heulender Schneesturm, Sterben, Lieben, Streiten, Dahinschleppen über Ebenen, Kämpfe. Hier eine Hand, da ein Auge, da ein aufleuchtender Kleiderfetzen. Nur der ganze Mensch wird nicht sichtbar."207 Auch der junge Fadejew glaubte seinerzeit, diese 180

sogenannte abgehackte („rublennaja") Prosa sei die einzig mögliche Form, über die Revolution zu schreiben. Seine Erzählung Hochwasser entstand unter dem Einfluß der Auffassung, ein Werk werde dynamisch, wenn es in kurzen Sätzen von zwei bis drei Worten verfaßt ist. Der von W. Kawerin beschriebene Streit zwischen Lew Lunz, dem „Cheftheoretiker" der Serapionsbrüder, und Konstantin Fedin verweist auf relativ früh beginnende Differenzierung in ihren Reihen. Er war zugleich exemplarisch für einen allgemeinen Vorgang: „Die bekannte These, über die sich die Formalisten lustig machten, zunächst das W a s , das heißt zunächst der Inhalt, und dann das W i e , das heißt die Form, lag Fedins Konzeption zugrunde. Fedin vertrat sie gegen Lunz mit aller Entschiedenheit, verwandelte sie aus einer ,Waffe der Verteidigung' in eine ,Waffe des Angriffs' ". 2 0 8 Jessenin wiederum, einer der Wortführer der Imaginisten, obwohl bereits sein Poem Pugatschow (1921) in Widerspruch zu den Deklarationen der Gruppe geriet, bezeugte nach seiner Europa- und Amerikareise (1922/23): „Ja, ich bin nicht als derselbe zurückgekehrt. Viel wur.de mir gegeben, viel genommen. Das Gegebene überwiegt... . . . von diesem Moment an hörte ich auf, das bettelarme Rußland zu lieben. Geehrte Herren! Von diesem Tage an habe ich mich noch mehr in den kommunistischen Aufbau verliebt. Zwar stehe ich in meinen Poemen als Romantiker den Kommunisten nicht nahe. Verstandesmäßig bin ich ihnen nahe und hoffe, vielleicht auch in meinem Werk." 209 Das Programm der Entwicklung und Kultur des Wortes erfährt eine wesentliche Korrektur. In Jessenins Neuformulierung der „imaginistischen" Thesen aus dem Jahre 1923 wird das künstlerische Bild nicht iniehr als Selbstzweck, unabhängig vom Inhalt, proklamiert. Die Einsicht war da: „Die Zeit ist gekommen: entweder abtreten und nicht den Himmel verrußen oder M e n s c h und E p o c h e erschaffen."210 Der endgültige Bruch mit dem ästhetischen Konzept Anfang der zwanziger Jahre wurde bald öffentlich dokumentiert: „Wir, die Begründer des Imaginismus, geben allgemein zur Kenntnis: Die 181

Gruppe Imaginisten wird in der bisher bekannten Zusammensetzung von uns für aufgelöst erklärt." 211 Dieser von Jessenin und Grusinow unterschriebene Brief an die Redaktion erschien am 31. August 1924 in der Prawda. Anna Snegina (1925) - Jessenin nannte es sein bestes Werk war ¡seine reifste poetische Leistung. Der Zugang zur Revolution wird über die Identität von lyrischem Ich und Epochenverständnis erschlossen. Majakowskis poetische Bewältigung des Lenin-Stoffes, Fedins ästhetische Aneignung des eigenen Revolutionserlebnisses, Jessenins neuer lyrischer Bezugspunkt zur russischen Heimat, das „eiserne Mirgorod" - trotz divergierender Ausgangspunkte, Wegstationen und gefundener Lösungswege beweisen sie exemplarisch die organische Zielstrebigkeit des literarischen Gesamtprozesses. Wiederum ganz anders verlief die ästhetische Entwicklung solcher Schriftsteller wie Fadejew, Furmanow, Scholochow. Biographische Daten erklären ihre innige Bindung an die Revolution, politische Reife, ihren Klassenstandpunkt, ihre Parteilichkeit. Sie begannen zu schreiben, ohne an bestimmte ästhetische Programme, Schulen gebunden zu sein. Von Scholochow wissen wir, daß er während seines ersten kurzen Moskauer Aufenthaltes Kontakt zu den Komsomolzen-Schriftstellern der Molodaja gwardija hatte. Aber von einer nachhaltigen Wirkung wird wohl kaum zu sprechen sein. Furmanow hörte anfangs Vorlesungen bei Brjussow über die Dichtkunst. Frühzeitig erwies er sich als ein feinfühliger, kluger Rezensent. Später war er Generalsekretär der MAPP und auch mit der Gruppe Oktjabr verbunden, ohne sich ihren sektiererischen Auffassungen anzuschließen. Die ersten literarischen Schritte dieser Schriftsteller vollzogen sich im wesentlichen außerhalb der Gruppeflkämpfe, aber nicht unabhängig von ihnen. Fadejew, Student am Institut für Bergbau, verfolgte sehr genau die vielfältigen literarischen Strömungen und nahm begierig die geistig-künstlerische Atmosphäre der Hauptstadt in sich auf. Das heißt, das komplizierte literarische Klima dieser Jahre forderte auch von ihnen, einen festen Standpunkt zu gewinnen, schreibend sich eine eigene ästhetische Konzeption zu erarbeiten. Es wäre eine Illusion zu glauben, daß ihr Weg als Schrift182

steiler unkomplizierter war, allein aus dem Grund, weil sie keinen Ballast alter Kunstanschauungen abzuwerfen hatten. Furmanow und Fadejew waren sich selbst gegenüber äußerst kritisch, zurückhaltend, nie selbstzufrieden, auch unsicher im eingeschlagenen Weg. Der junge Scholochow wurde häufig als Naturtalent bezeichnet, das sich rein intuitiv an sein großes Thema herangetastet habe. Seine frühen Erzählungen schließen jedoch jeden Zweifel aus: Scholochow war viel tiefer in den literarischen Traditionen (Tschechow, Tolstoi) wie auch in der neuen künstlerischen Bewegung verwurzelt, als oft dargestellt wird. Jeder von ihnen brachte von Anfang an etwas Eigenes in die Literatur: Furmanow, an Gorki geschult, die Authentizität des Berichts über die Formung des Menschen im revolutionären Kampf, Scholochow neue Konfliktstrukturen mit einer allmählich immer eigenständigeren Bauweise der Erzählung, Fadejew den Ansatz zum epischen Bürgerkriegsroman in Anlehnung an das Tolstoische Vorbild und dessen gleichzeitige Überwindung. Furmanow quälte sich mit der gattungsmäßigen Bestimmung seines Romans Tscbapajew: „1. Powest 2. Erinnerungen 3. historische Chronik... 4. Künstlerisch-historische Chronik... 5. historische Ballade... 6. Bilder 7. Historische Skizze... Wie benennen? ich weiß es nicht" 212 , notierte er in seinem Tagebuch. Gorki bestätigte ihm später dasselbe: „Der Form nach ist Tscbapajew kein Roman, keine Biographie, nicht einmal eine Skizze, sondern etwas, was gegen alle und jede Form verstößt." (Gorki, Über Literatur 500) Der neue Stoff drängte nach neuen Gestaltungsweisen. Furmanows Tscbapajew und Serafimowitschs Der eiserne Strom werden häufig in einem Atemzug genannt. Die neuartige und dabei unterschiedliche Lösung des Problems Masse - Held, ein kompliziertes Strukturproblem der gesamten Prosa dieser Zeit, wurde als bedeutende Errungenschaft der jungen Sowjetliteratur gewertet. Lunatscharski sprach von Furmanows „marxistischem Kompaß" (AVL 2, 325) - er habe ihm geholfen, sich nicht wie Pilnjak in den chaotischen Eindrücken der Revolutionswirklichkeit ¡zu verirren. Furmanow „war von Tschapajew, seinen anziehenden Eigenschaften begeistert. Aber es drängte ihn, seine Figur... mit dem Messer analytisch auseinanderzuneh183

men, um sich selbst über deren Schwächen so genau wie nur irgend möglich Rechenschaft zu geben und zu versuchen, sie praktisch zu paralysieren." Die „Erscheinung eines Führers innerhalb des sozialen Ganzen" (AVL 2, 276) habe Furmanow als Marxist in der Dialektik erfaßt. Damit bot er bereits 1923 eine von vielen Möglichkeiten realistischer Lösungen des Problems, das immer nachdrücklicher in den Mittelpunkt der Diskussionen der kommenden Jahre rückte und das nach Lenins Tod erstmalig bewußt als die Epochenaufgabe der gesamten Literatur erkannt wurde. Auf der Suche nach einem neuen Menschenbild 1923-1924, zur Zeit der komplizierten theoretischen SeLbstverständigung in sowjetischen Schriftstellerkreisen, schrieb Fjodor Gladkow seinen Roman Zement. 1925, im Januarheft der Krasnja now, begann Woronski mit dem Abdruck des Textes. Binnen kurzem lenkte es die Aufmerksamkeit im In- und Ausland auf sich. Die Bewährung der Kraft des Umsturzes in der Aufbauphase, ihre Verkörperung in Gleib Tschumalow und seinen Genossen faszinierte. „Zum ersten Mal seit der Revolution wurde darin das bedeutendste Thema der Gegenwart die Arbeit - fest angepackt und treffend dargestellt", schrieb Gorki ibegeistert an den Autor. „Vor Ihnen hat noch niemand dieses Thema mit solcher Kraft behandelt." (Gorki, Über Literatur 498) Der Roman stieß mitten ins Zentrum der von der neuen sozialistischen Literatur zu lösenden Probleme. Unvermeidlich wurde er Gegenstand der „innerliterarischen" Polemik. Lunatscharski sah darin eine gesetzmäßige Erscheinung. Ungeachtet der eigenständigen Mittel führe Gladkow die Traditionen des klassischen russischen Romans weiter, und zwar über Gorki, den Lunatscharski als das Bindeglied zwischen den großen literarischen Errungenschaften der Vergangenheit und der neuen proletarischen Literatur betrachtete. Ossip Briks vernichtendes Urteil über den Roman sei insofern symptomatisch für die von ihm vertretene Kunstrichtung.213 Als „erstes wirklich prole184

tarisches Werk" ist Zement „vom Geist unseres Aufbaus durchdrungen. In sozusagen fast monumentalem Großformat führt es uns eine Reihe typischer Ereignisse und eine Galerie typischer Figuren aus der Rekonstruktionsperiode unserer Kultur und Wirtschaft vor Augen". Unter Hinweis auf solche jungen Dichter wie Besymenski, Utkin, Doronin und Sharow stellte Lunatscharski fest: „Es zeigt sich bei ihnen allen eine interessante Tendenz: das Mitleiden und Mitfreuen an den zentralen Fragen unserer Zeit als einer Zeit des Ubergangs von der Kriegsepoche zur Epoche des kulturellen Aufbaus. Lenin hat letzteren in seinem großartigen Artikel über das Genossenschaftswesen als das Zentrum der kommenden Epoche bezeichnet." (TNSP 40) Die Literatur hatte also um 1925 auf viele Fragen eine Antwort gegeben, die jahrelang Gegenstand heftiger, teils scholastischer und teils sehr aufrichtiger Auseinandersetzungen waren. Sie entwickelte sich in Übereinstimmung mit der von der Partei gewiesenen Richtung. Beachtenswert an Lunatscharskis Urteil sind zwei Aspekte: erstens die exakte Bestimmung ¡jenes Moments im literarischen Prozeß, da echte künstlerische Neuleistungen über das Studium der russischen Klassik erreicht wurden und sich der Realismus in der Literatur durchsetzte. Und zweitens die Wertung dieses Sachverhalts als Zeichen dafür, „daß die gewaltige Mehrzahl der Schriftsteller sich die Aufgabe stellt, am gigantischen Prozeß der Selbsterkenntnis in unserem Land .mitzuwirken". (TNSP 39) Diese neue Funktionsbestimmung der Literatur leitete Lunatscharski von dem Bedürfnis der neuen Leserschaft, den Erbauern der sozialistischen Gesellschaft, nach einer Literatur und Kunst ab, die die Wirklichkeit in ihren Widersprüchen gestaltet und auf diese Weise die n e u e s o z i a l i s t i s c h e M o r a l in der Wirklichkeit selbst weitgehend herausbilden hilft. Nicht zufällig führte seinerzeit unter anderem gerade der Roman Zement Lunatscharski zu dergleichen Überlegungen über die axiologische und gnoseologische Funktion der Literatur. Das Verhältnis von Mensch und Revolutionsepoche, der neue literarische Held rückte eigentlich erst jetzt in den Mittelpunkt ernsthafter theoretischer Überlegungen und Verallge185

meinerungen, und zwar unter dem Aspekt der neuen literarischen Methode. Die neuen Vorstellungen vom Menschen und von seinen realen Möglichkeiten, die Welt auf revolutionäre Art und Weise zu verändern und zu seinen Zwecken einzurichten, waren in der neuen Gesellschaft ein revolutionierendes Moment: „So bist du also keine Wanze mehr, keine unnütze Laus, sondern ein Mensch, ein richtiger Mensch! Und da wollte ich auch leben wie ein Mensch.. .". 214 Instinktiv erfaßte Tschepajew die Bedeutung seiner Persönlichkeit im revolutionären Kampf. Diese Menschwerdung des Menschen als bewußter Gestalter seiner eigenen Geschicke - im Sinne der Vergegenständlichung seiner eigentlichen Wesenskräfte in der Welt - war Ausdruck der neuen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft. Der Mensch, wie Lunatscharski treffend bemerkte, bisher ein Wesen, das in ein Schneckenhaus eingeschlossen war, das „alle sinnlichen Eindrücke durch ein trübes Fenster, alle Laute durch eine dicke Trennwand vernahm" 215 , zerstörte das Haus, das er mit sich herumgeschleppt hatte. Er trat aus der Vereinzelung heraus. Die Welt tat sich ihm auf. In ihi wurde er sich als ein g e s e l l s c h a f t l i c h e s Wesen bewußt, das erstmalig die Geschicke der Gesellschaft im Ganzen mitbestimmt. Dieses neue Kollektivbewußtsein, das Grunderlebnis der revolutionären Massen und der sich mit ihnen verbündenden Intellektuellen in der Zeit des Kriegskommunismus, bestärkte sie zunächst in dem Glauben, daß die neuen gesellschaftlichen Bindungen auf kollektiver Grundlage, die sie innerhalb der Diktatur des Proletariats zueinander und untereinander eingingen, alles Persönliche, Individuelle verdrängen. Diese in den Proletkult-Organisationen verbreiteten und von ihnen propagierten Ideen gipfelten in dem von Lenin scharf kritisierten Dokument Wir sind, Kollektivisten! Die Dialektik von Persönlichkeit und Kollektiv im neuen Menschenbild wurde erst allmählich erschlossen, im Prozeß der Veränderung des Menschen selbst und seiner Lebensweise. Andererseits mußte sich die Literatur an ein so schwieriges Unternehmen heranwagen, die Massen als entscheidende Triebkraft einer historischen Umwälzung „kunstfähig" zu machen, sie zur literarischen „Figur" zu erheben. Ohne die Liquidierung 186

der „Mittelpunktstellung des Individuums" 216 waren Revolution und sozialistischer Aufbau nicht darzustellen. Diese Drehung um hundertachtzig Grad - vom Individuum zur Volksmasse - brachte auch einen gewissen Substanzverlust mit sich. Der einzelne Charakter interessierte nur als Teil des Ganzen, als Ausdruck einer Massenbewegung. Die alte Gorpina in Serafimowitschs Eisernem Strom ist typisches Beispiel dieser Tendenz, zugleich aber auch einer der ersten produktiven Versuche, zu verhindern, daß sich die Masse in allgemeinen Konturen verflüchtigt. Historisch betrachtet, lag dieser .¿Begrenztheit" ein in bezug auf die bisherige Literaturentwicklung provokatives ästhetisches Programm zugrunde. In den ersten Bürgerkriegsdarstellungen von Malyschkin, Iwanow, Wesjoly bewirkte das Erlelben und Gestalten des millionenfachen Aufbruchs des Volkes, das unter unbeschreiblichen Leiden und mit beispiellosem Heroismus den endgültigen Sieg der Oktoberrevolution erkämpfte, auch eine neuartige Verschmelzung von bylinenhaft heroisierten Massenszenen mit zum Teil hypertrophierten, phantastischen Details des geschilderten Vorgangs. Die ästhetische Lösung dieses Problems war in der Frühphase der ¡sowjetischen Literatur, wie wir auch an anderen Beispielen sahen, äußerst widerspruchsvoll. Lunatscharski polemisierte als Autor des historischen Dramas Thomas Campanella gegen Tendenzen einer Vermassung im Revolutionsstück. Unter Hinweis auf Lenin, auf Marx und Engels vertrat er die These, daß eine einzelne Figur die Masse weitaus besser repräsentieren könne als irgendeine farblose, undifferenzierte Menge, wenn in dieser Figur das Bewußtsein, das Gewissen der Masse •konzentriert ist. Noch weitaus 'komplizierter als das Verhältnis von 'bedeutenden historischen Persönlichkeiten und Masse im revolutionären Kampf (auch hier stellte sich die Lösung nicht einfach her) erwies sich die theoretische Erfassung jener Prozesse, die sich im Menschen selbst infolge der neuartigen Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Persönlichkeit und Kollektiv, auf Grund der sich im Sozialismus entwickelnden neuen sozialen Bindungen zwischen 'den Menschen vollziehen. Viele Irrtümer und Trugschlüsse hatten ihre Wurzel in fälschen Vorstellungen von dem zutiefst humanistischen Inhalt 187

und Ziel der proletarischen Revolution und auch in gewissen historisch bedingten objektiven Schranken, die einer umfassenden Persönlichkeitsentfaltung noch gesetzt waren. Kommunismus bedeutet „kein Verlieren der von den Menschen erzeugten gegenständlichen Welt, seiner zur Gegenständlichkeit herausgeborenten Wesenskräfte, k e i n e z u r u n na t ü r l i c h e n , unentwickelten Einfachheit zurückkehrende A r m u t " . Er ist „vielmehr erst d a s w i r k l i c h e W e r d e n , die wirklich für den Menschen gewordene Verwirklichung s e i n e s Wesens und seines Wesens als eines wirklichen"217. Das, was Marx unter wahrer menschlicher Emanzipation verstand, konnte nicht mit einem revolutionären Akt „vollendet" werden. Die Wandlungsprozesse im Menschen sind an viele objektive und subjektive Bedingungen gebunden und durchlaufen verschiedene Phasen. Es war Lenins historischer Verdienst, daß er .die allseitige Persönlichkeitsentwioklung im Marxschen Sinn in den Mittelpunkt seiner Theorie von der Kulturrevolution stellte. Lunatscharski hat wohl von allen Kulturpolitikern und -theoretikern, die eng mit Lenin zusammengearbeitet haben, den Kern dieser Leninschen Ideen am tiefsten erfaßt. Alles, was zum wachsenden Reichtum der Gesellschaft und damit zur maximalen Entfaltung der im Menschen liegenden Fähigkeiten und Möglichkeiten beiträgt, werde, wie Marx entwickelt hat, zum einzigen Kriterium menschlichen Fortschritts. Auf diese Weise griff Lunatscharski auch Lenins Gedanken auf, daß das Proletariat „den ,alten Adam' der Lohnsklaverei" (Lenin 26, 401) von sich abwirft, endlich „sich aufrichten und sich als Mensch fühlen kann... Zum erstenmal . . . bietet sich ihm die Möglichkeit, f ü r s i c h s e l b s t z u a r b e i t e n , und zwar zu arbeiten, gestützt auf alle Errungenschaften der modernen Technik und Kultur". (Lenin 26, 405) Diese Ideen gingen auch in Gorkis ästhetisches Programm vom Menschen als dem „Quell schöpferischer Energie, dem Schöpfer aller Dinge" ein, in seine Forderung an den Schriftsteller nach „Poetisierung der kollektiven Arbeit, deren Ziel die Schaffung neuer Lebensformen ist, solcher Formen, die die Macht des Menschen über die Menschen und die sinnlose Ausbeutung seiner Kraft völlig ausschließen". (Gorki, Über Literatur 160) 188

Weit größer als die objektiven Schwierigkeiten, die widersprüchlichen Entwicklungsbedingungen in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, beurteilte Lenin die subjektiven Schwierigkeiten, die in den Menschen selbst lagen, um die sich ihnen bietende historische Chance ihrer maximalen Entfaltung zur Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums voll zu nutzen. Befriedigung und Steigerung der kulturellen Bedürfnisse des Proletariats in Übereinstimmung mit der ökonomischen Entwicklung des Sowjetlandes - diese Aufgabe rückte bereits verhältnismäßig früh in das Blickfeld kulturtheoretischer Bemühungen. Fasziniert von Lenins Plan einer straffen Arbeitsorganisation und Kontrolle der Produktion, entwickelte A. Gastew 1919 in sedner programmatischen Abhandlung Tendenzen der proletarischen Kultur seinerseits eine eigene Kulturtheorie, in deren Mittelpunkt er die .¿Kultur der Arbeit" stellte. Der Kulturbegriff Gastews umfaßte anfangs ausschließlich die „materielle" Kultur. Er verkündete: Das Industrieproletariat als wachsende Klasse entfalte gleichermaßen „sowohl die lebendige Arbeitskraft, die eiserne Mechanik seines neuen Kollektivs als auch das Masseningenieurwesen, das das Proletariat in einen noch nie dagewesenen sozialen Automaten verwandelt"218. Die „Bewegung dieser komplexen Kollektive" nähere sich der „Bewegung von Dingen". Dabei ließ Gastew zunächst noch den grundlegenden Unterschied zwischen den kapitalistischen und den sozialistischen Produktionsverhältnissen außer acht, die im kapitalistischen System liegende Beschränktheit der von Taylor ausgearbeiteten Methoden zur Rationalisierung der Arbeit in bezug auf den Menschen, die Entfaltung seiner schöpferischen Wesenskräfte. In seinem späteren Artikel Aufstand der Kultur (1923) präzisierte Gastew zwar diesen Unterschied eindeutiger: „Wir befinden uns in einer nie dagewesenen Auseinandersetzung mit einem technisch ausgerüsteten kulturellen Gegner, Europa und Amerika . . . Wir müssen besonders findige K u l t u r s c h a f f e n d e ' hervorbringen. Nicht diese Schriftsteller populärer Anhäufungen von Ideen, mit denen unsere Läden vollgestopft sind. Talentierte Schöpfer - Monteure praktischer Systeme auf allen Linien der Kultur." 219 Durch die Identifikation von Kultur und Arbeitsprodukt blieben jedoch entscheidende sozial-ökonomische 189

Faktoren außerhalb seines Blickfeldes. Seine Überlegungen von der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation brachte er auf die Formel: Arbeit, Organisation und Regime = die neue 'kulturelle Orientierung, alles zusammengenommen = die Kulturrevolution. Letztere interpretierte er somit ausschließlich als Komplex technisch-organisatorischer Fähigkeiten im Bereich der menschlichen Aribeit. Lunatscharski sprach 1923 zu Recht von Gastews Ideen als der „Bilanz einer ganz eigenartigen sozial-technischen Philosophie" : „Verwandlung des Menschen in ein Anhängsel an die durch ihn selbst geschaffene, regelmäßig pulsierende Welt von Automaten". Gastew habe „offenbar aibsolut nicht begriffen, daß Kommunismus Sieg über die Maschine ist, daß der Marxismus den Menschen zum vollen Sieg über die Produktionsmittel aufruft, daß die Zukunft uns als Sprung aus der Welt der Notwendigkeit in die Welt der Freiheit erscheint und nicht umgekehrt"220. Bei Gastew beunruhigten Lunatscharski vor allem die Verkündung des Sieges der Maschine über den Menschen und die Propagierung eines „nüchternen Praktizismus", die Gefahr, daß das Rußland der Oblomows durch ein Rußland der Stolzes ersetzt wird. Nicht zufällig betitelte er einen seiner polemischen Artikel Der neue russische Mensch221. In der Konzeption, die gesamte Kultur auf den „zweckmäßig an die Arbeit angepaßten Menschen" (AVL 7, 308) einzustellen, sah er die reine Versachlichung der menschlichen Beziehungen überhaupt und insbesondere im Arbeitsprozeß, die geistige Verarmung des Menschen schlechthin. Lunatscharski verwahrte sich entschieden gegen diese Preisgabe aller humanistischen Errungenschaften der sozialistischen Revolution. Stimulierendes Moment der menschlichen Tätigkeit werde von nun an die Achtung sein, die der einzelne im Kollektiv genießt: „ . . . die neue Zeit bringt einen neuen Humanismus hervor, eine unvergleichlich höhere Bewertung des Menschen, als wir uns je vorgestellt haben." 222 Gastew, seit 1920 Direktor des neugegründeten Zentralinstituts für Arbeit (ZIT), strebte nach Verwissenschaftlichung des Arbeitsprozesses, suchte nach Formen und Wegen zur Realisierung des von Lenin geforderten „im Vergleich zum Kapitalismus höheren Typus der gesellschaftlichen Organisation der 190

Arbeit". (Lenin 29, 408-409) Anstelle einer Synthese der kapitalistischen Technik nach dem neuesten wissenschaftlichen Stand „mit dem Massenzusammenschluß b e w u ß t arbeitender Menschen, die 'die sozialistische Großproduktion ins Leben rufen" (Lenin 29, 413), bot er anfangs das Schema einer komplizierten „sozialen Konstruktion" auf der Grundlage der modernen Industrie. Somit begriff er 'die Arbeit nicht als bewußte Tätigkeit des Menschen zur Veränderung der Natur, deren Nutzbarmachung zu seinen eigenen Zwecken. Auf diese Weise operierte er aus der proletarischen Kultur, Ibei ihm identisch mit Kultur der Arbeit, die gesamte geistige Tätigkeit des Menschen heraus. Er unterschätzte die Bedeutung aller Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins für die revolutionäre Umgestaltung des menschlichen Seins, die Notwendigkeit, das gesamte gesellschaftliche Leben und damit auch die Arbeit mit sozialistischer Ideologie zu durchdringen. In der 1925 verfaßten Schrift Das soziale Banner des Zentralinsütuts für Arbeit zeigt sich bereits eine bestimmte Evolution der Ideen Gastews. Erstmalig entwickelt er den Zusammenhang zwischen den .im Arbeitsprozeß erworbenen neuen Fähigkeiten des schöpferischen Menschen und seiner Befähigung zur Ausübung seiner organisatorischen Funktionen im Staat. Hier spricht er auch erstmals von der organischen Bindung des Arbeiters an sein eigenes Produkt, in das er Tag für Tag ein Teilchen seines eigenen Ich hineinlegt. Aber der subjektive Faktor interessiert ihn weiterhin nur so weit, wie die Kunst der Regulierung der manuellen Bewegungen zum dynamischen Moment in der Psyche des Arbeiters wird und er die Falbrik nicht nur als Arbeitsstätte, sondern als Forschungsstätte betrachtet. Seine kulturtheoretischen Überlegungen, ausschließlich auf die Arbeits O r g a n i s a t i o n gerichtet, führten Gastew um 1920 - auch unter dem Einfluß bestimmter utopischer Vorstellungen jener Zeit - zu radikalen Auffassungen über die neue Kunst: Sie werde sich von ihrem lebendigen Träger, dem Menschen, völlig lösen. Aus ihr werden alle menschlichen Äußerungen, Theaterspiele, Kammermusik verschwinden. Statt Griff nach den Sternen, kosmischen Welten der ProletkultDichter, statt „Wortschöpfertum" der Futuristen - leidenschaft191

liehet Hymnus auf die Wunderwerke der Technik, auf Industriegiganten, kühne Brückenbögen, in den Himmel strebende Schornsteine, Faszination der „Dinge", der „mechanisierten Massen", der Grandiosität einier anbrechenden Technisierung des gesamten Alltags, in dem für alles Intime und Lyrische kein Platz mehr ist. Gastew vollzog selbst mit aller Konsequenz diesen Schritt. Der Sänger des Arbeitsschlages verstummte als Lyriker nach der Veröffentlichung der expressivdynamischen freien Rhythmen Ein Bündel Orders (1921): Der Vorgriff auf eine verwissenschaftlichte, durchmechanisierte Massenwelt setzt den Schlußpunkt unter die ästhetische Aktivität des Menschen im Bereich der Künste. Das Ende seiner literarischen Tätigkeit erklärte allerdings Gastew aus den besonderen Umständen seines Lebens und Kampfes als Berufsrevolutionär. Aufschluß gibt eine autobiographische Notiz: „Während des erbitterten Kampfes gegen den Zarismus und gegen das Kapital erwachte in vielen Revolutionären der Wunsch, der eigenen Stimmung künstlerische Form zu geben." Illegalität, Gefängnis, Verbannung, schroffe Gegensätze der Lebensumstände im hohen Norden, in Paris und in Petrograd all das drängte nach poetischem Ausdruck des eigenen Weltgefühls: „Daher rührt die maßlos hypertrophierte Begeisterung dieser Literatur für etwas Ungewöhnliches, der Anspruch, neue Wege zu erkunden. Wir nannten sie eine proletarische, überproletarische usw. Sobald jedoch die Revolution verhallt war und die Möglichkeit gegeben war, unmittelbar als Organisator und als Schöpfer des Neuen zu arbeiten, verebbte diese Tendenz." 2 2 3 Fast alle Gedichte der Poesie des Arbeitsschlages waren vor 1917 entstanden. Das programmatische Gedicht Wir wachsen aus Eisen (1914) wurde nach der Revolution zu einer Art Manifest der befreiten Aribeit des siegreichen Proletariats, seiner unerschöpflichen Kräfte, die Welt neu zu bauen. Von Gastews revolutionär-romantischem Pathos, mit dem er die Welt der Arbeit ibesang, ging nefben Bloks Dichtung Die Zwölf zur Zeit des Kriegskommunismus eine der stärksten literarischen Wirkungen aus. In Ljaschkos Erzählung Stille des Eisens (1919) erinnert der Schlag des Hammers, der die Stille der verödeten Werkhalle durchbricht, an die rhythmischen Hymnen Gastews, an seine Gesänge von der Arbeit des Proletariats als 192

einer der Grundlagen des menschlichen Seins. Gladkows Roman Zement ist eibenso wie Ljaschkos folgendes Werk Der Hochofen (1926) innerhalb dieser Traditionslinie entstanden, die wiederum - einschließlich Gastew - eng mit Gorkis vorrevolutionärem Werk verbunden ist. Die Widersprüche zwischen dem Dichter und dem Kulturtheoretiker Gastew Anfang der zwanziger Jahre erklären sich wiederum aus einer „hypertirophierten Begeisterung" für den „Einbruch" der Technik in die bisher vorwiegend von der Körperkraft des Proletariers bestimmten Aibeit. Mitte der zwanziger Jahre hatte Gastew bereits ein realistischeres Verhältnis zur Arbeitsorganisation auf neuen sozialistischen Grundlagen und den damit verbundenen Fragen einer neuen menschlichen Kultur. Ähnliche Widersprüche zwischen Mensch und neuer Technik gaib es in fast allen Kunstarten. Dsiga Wertow, der Entdecker einer neuen Filmchronik, verkündete 1922 in dem Dokument Wir. Variante eines Manifestes: „Wir schließen den M e n s c h e n als O b j e k t der F i l m a u f n a h m e d e s h a l b z e i t w e i s e aus, w e i l er u n f ä h i g i s t , s i c h v o n s e i n e n B e w e g u n g e n l e i t e n zu lassen. Unser Weg - v o m s i c h h e r u m w ä l z e n d e n Bürger über die P o e s i e der M a s c h i n e n zum v o l l endeten elektrischen Menschen. Die Seele der Maschine enthüllen, den Arbeiter in die Werkbank verlieben, den Bauern in den Traktor, den Maschinisten in die Lokomotive! Wir tragen die schöpferische Freude in jede mechanische Arbeit. Wir verbinden den Menschen mit der Maschine. Wir erziehen neue Menschen. Der neue Mensch, ibefreit von Schwerfälligkeit und linkischem Wesen, wind mit den genauen und leichten Bewegungen der Maschinen ein dankbares Objekt für die Filmaufnahme sein." 2 2 4 Das in Großaufnahme gezeigte „pochende Herz" der Maschine in Wertows Film Vorwärts, Sowjet! (1926) entspricht der ästhetischen Konzeption einer ganzen Kunstrichtung. Gastews wie auch Wertows Ideen waren in gewisser Weise symptomatisch für die seinerzeit verbreitet propagierte „Produktion,skurast", für die Beurteilung einer „Sache" 13

Thun

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damit auch jeder künstlerischen Äußerung - nur nach seinem p r a k t i s c h e n Gebrauchswert. Konzeptionelle Übereinstimmungen sind unverkennbar. Konstruktivisten, Kubisten, Suprematisten sprengten die überlieferten Formen der bildenden Kunst. Pate bei ihren Experimenten standen die konstruktiven Eigenschaften des Materials225, die strenge Linienführung der modernen Technik. Tatlin modellierte seine berühmte Spirale, den Turm der III. Internationale, ein seinerzeit heiß umstrittenes Projekt, dessen Ausführung allein schon an den mangelnden technischen und 'baustofflichen Mitteln scheitern mußte. Ehreniburg pries in seinem Buch Und. sie bewegt sich doch den Sieg der Ideologie der Produzenten als den Sieg der Kunst. Die Kunst sei um jeden Preis bestrebt, den Graben zuzuschütten, der sie vom Leben und der Arbeit trennt. Das sei ihre einzige Rettung. Dennoch war damit der Schritt „vom Himmel auf die Erde" noch nicht getan. Kühne Konstruktionen nach dem Modell einer künftigen Industriewelt, ungeachtet der Klassenstruktur der sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft und des Klassencharakters ihrer Kultur, losgelöst von dem den Menschen und seine Umwelt vierändernden Charakter der Arbeit unter sozialistischen Bedingungen, überbrückten nicht den Abgrund zwischen Realität und Kunst, sondern rissen ihn nur noch tiefer auf. I. Armand erinnerte sich der scherzhaften Bemerkung Lenins zu Majakowskis Losung „Den Eisenbeton in den Himmel stoßen!": „Wozu in den Himmel stoßen? Den Eisenbeton brauchen wir auf Erden." (LLI 714) In 'dien Ansichten einiger Vertreter des LEF und der Konstruktivisten zeigten sich noch jahrelang Tendenzen einer Zurücknahme, wenn nicht gar Aufhebung der abbildenden Grundfunktion sozialistischer Literatur in bezug auf das Menschenbild. „Man muß der Literatur folgende Aufgabe stellen", schrieb O. Brik 1928, „nicht den Menschen darzustellen, sondern die Sache . . . Wir beurteilen den Menschen nicht danach, was er innerlich durchlebt, sondern nach der Rolle, die er bei unserem Werk spielt.. .". 226 Brik hatte die Ideen seines Freundes Majakowski schrecklich vergröbert und dessen tiefe ideologisch-poetologische Wandlung nicht mitvollzogen. Diese langjährigen Debatten um den realen „Gebrauchs194

wert" der Kunst konnten nicht abstrakt, außerhalb der Wirklichkeit, entschieden werden. Die Entwicklung der Sowjetliteratur bereits im ersten Jahrzehnt beweist überzeugend: D i e bedeutendsten ästhetischen Leistungen errangen die Schriftsteller, die hinter den äußeren Erscheinungen der radikal veränderten und sich verändernden Realität das W e s e n der Revolutionsepoche in den sich im Menschen vollziehenden Veränderungen, in ihrer neuen schöpferischen Beziehung zur Wirklichkeit erfaßten. Gastews revolutionär-romantische Dichtungen stehen am Anfang der Bemühungen der jungen Sowjetliteratur, die Revolution vor allem im Menschen der befreiten Arbeit darzustellen in der vollständigen Hingabe des einzelnen an das weltgeschichtlich einzigartige Aufbauwerk einer neuen Welt schöpferischen Seins. Das war ihre weltliterarisch überragende Leistung. Die Debatten um die proletarische Kultur von 1920 bis 1922 wie auch um die parteiliche Leitung der Literaturprozesse und eine klare Literaturpolitik in den Jahren 1923-1925 bewiesen: D i e Kriterien für die neuen Ausdrucksarten und Wirkungsmöglichkeiten der Kunst, für den Vorstoß in ästhetisches Neuland wie auch die Grenzen aller auf Versachlichung, reiner „Konstruktion" basierenden Experimente mußten von den Kunsterfahrungen abgeleitet werden, die im Spannungsfeld von Tagessituation und Formung eines neuen Menschenbilder gewonnen wurden. Aus dem Prozeß der revolutionären Veränderung des Menschen und seiner Umwelt empfing die Kunst vielfältige neue Impulse. Und da gerade sie auf das Bewußtsein des Menschen durch die Bildhaftigkeit und Emotionalität am stärksten einzuwirken vermag, bestand ihre neuartige Grundaufgabe darin, „die revolutionäre Form des Denkens, Fühlens und Handelns im ganzen Land zu verbreiten" 227 . In seiner Rede auf dem Unionskongreß proletarischer Schriftsteller 1925 leitete Lunatscharski gerade aus der Tatsache, daß sich das Land, die Menschen selbst begreifen müssen, die hohe gesellschaftliche Funktion der Literatur ab. In der Polemik mit Woronski wies er nach: Die Kunst bildet nicht nur die Wirklichkeit ab und fällt ihr ästhetisches Urteil über die dargestellten Erscheinungen. Die in bestimmten Abbildern und Formen gestalteten Eindrücke aus dem Leben 13*

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haben einen bestimmten psychischen Effekt: „Nur der ist ein wirklich proletarischer Schriftsteller, der, ohne die Tatsachen und sich selbst zu vergewaltigen, den starken Einfluß der kommunistischen Idee 'bis zu dem Grad izu empfinden vermag, daß jede seiner Zeilen in uns das richtige Verständnis für die Tatsachen weckt und uns auf den richtigen Weg zur Einwirkung auf diese Tatsachen führt." (AVL 2, 279) Das Gefährlichste seien „falsche Gesten und falsche Worte". Die Literatur müsse alle Mittel einer größtmöglichen Wirkung auf die Psyche des anderen Menschen nützen. Auf diese Weise erfülle der Künstler „eine gewaltige parteiliche und folglich gesellschaftliche kulturelle Aufgabe". (AVL 2, 280) Einheit der abbildenden und der erzieherischen Funktion der sozialistischen Literatur in Verbindung mit dem Prinzip der Parteilichkeit - diese von Lunatscharski systematisch entwickelte Konzeption der marxistischen Ästhetik war ein wichtiger Beitrag zur Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Kulturrevolution und spezifischer Funktion von Literatur und Kunst. Ausdruck der inneren Gesetzmäßigkeit und Logik des Literaturprozesses waren Erscheinen und Wirkung von Gladkows Zement zu eben diesem Zeitpunkt.

Beispiel für die Welt Lunatscharskis erster größerer Beitrag über Furmanows Tschapajew erschien in derselben Nummer der Zeitschrift Oktjabr wie die Resolution zu Wardins Referat auf der Ersten Allunionskonferenz proletarischer Schriftsteller. Lunatscharski entwickelte am Beispiel der Bürgerkriegsromane von Furmanow und Serafimowitsch die hohe erzieherische Funktion solcher Bücher, „die uns selbst erkennen lassen und uns zugleich entwickeln". (AVL 2, 277) Sie waren die ersten bedeutenden literarischen Dokumente, „daß ein revolutionärer Krieg, wenn er tatsächlich die unterdrückten werktätigen Massen mitreißt, wenn er ihr Interesse weckt und ihnen zum Bewußtsein bringt, daß sie gegen die Ausbeuter kämpfen - daß ein solcher revolutionärer Krieg die Energie und die Fähigkeit weckt, Wunder zu vollbringen". (Lenin 30, 138) 196

Wardin forderte: „Wir sind in eine solche Etappe der kulturellen Entwicklung eingetreten, da die . A n e r k e n n u n g ' der proletarischen Literatur allein schon nicht mehr genügt, da die A n e r k e n n u n g des Prinzips der H e g e m o n i e dieser L i t e r a t u r unb e d i n g t n o t w e n d i g ist, des P r i n z i p s eines hartnäckigen systematischen Kampfes dieser L i t e r a t u r um d e n S i e g , um d i e A b s o r p t i o n aller Arten und Schattierungen der bürgerl i c h e n u n d k l e i n b ü r g e r l i c h e n L i t e r a t u r Z'228 Diese Gegenüberstellung veranschaulicht nochmals den tiefen Widerspruch zwischen Literaturprozeß und dem Programm der Gruppe Na postu: statt Beschäftigung mit der ureigensten Angelegenheit der Schriftsteller, ihren Werken und ihrer gewachsenen gesellschaftlichen Verantwortung - Verteidigung einer einseitigen Position. W. Polonski stellte rückblickend fest: „Seit Gründung des Proletkults, über die Gruppe Na postu, haben die Ideen A. A. Bogdanows tiefe Wurzeln geschlagen. Viel zu wenig Aufmerksamkeit widmete man den Anschauungen Lenins zu den Fragen, die Bogdanow mit leichter Hand auf die Tagesordnung unserer Diskussionen gesetzt hatte." 229 Der ZK-Beschluß Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der Literatur war auch in dieser Hinsicht ein entscheidender Wendepunkt. Lenins Kulturtheorie wurde gründlicher studiert. 1925 erschienen erstmalig auch Lenins Randbemerkungen zu Pletnjows Artikel An der ideologischen Front. Die kulturellen Beziehungen waren komplizierter geworden und die kulturellen Bedürfnisse der Werktätigen wesentlich gestiegen. Die materiellen Schwierigkeiten, die den gesamten kulturellen Bereich ebenfalls betroffen und die Entwicklung der Massenkunst Anfang der zwanziger Jahre teilweise gestoppt hatten, waren überwunden. Es konnte jedoch nicht einfach an die ersten bedeutenden Errungenschaften der Revolutionsjahre angeknüpft werden. Schon 1894 schrieb Lenin, die immer komplizierter werdenden Wachstumsbedingungen der Kultur könne man nicht begreifen, ohne zu bestimmen, „worin denn nun eigentlich die materiellen Grundlagen dieser Kultur und dieser Komplizierung bestehen". (Lenin 1, 249) Vor197

aussetzung einer realen Lösung der Widersprüche zwischen den gewachsenen kulturellen Bedürfnissen und den gegebenen Formen des kulturellen Lebens war eine exakte Analyse der kulturellen Prozesse und deren Beziehung zum Gesamtsystem der Gesellschaftsformation in der gegebenen Entwicklungsetappe. Jakowlew, der seinerzeit im Auftrage Lenins Pletnjows Einstellungen der marxistischen Kulturtheoriescharf zurückgewiesen hatte, eröffnete Mitte des Jahres 1925 in der Zeitschrift Bolschewik die Diskussion.230 Er polemisierte gegen Wardins Referat auf der erwähnten Konferenz, gegen die faktische Weiterentwicklung der Proletkult-Thesen, obwohl die Gruppe um Na postu sich nachdrücklich von ihnen distanzierte. Hauptgegenstand der Auseinandersetzung waren Lenins Theorie der Kulturrevolution und, davon abgeleitet, praktische Schlußfolgerungen für die Literatur. Jakowlew stützte sich in der Argumentation auf seinen von Lenin gebilligten Artikel aus dem Jahre 1922. Leider 'berücksichtigte 1er nicht .die seinerzeit von Lunatscharski gegebene Korrektur in zwei Punkten: Kultur als Einheit von „materieller" und „geistiger" Kultur, Unterscheidung der „höheren" und „elementaren" Formen der Kultur (Lenin war mit Lunatscharskis Richtigstellungen voll einverstanden 231 ). Dadurch lieferte er seinen Opponenten einige Angriffsflächen, leistete aber dennoch einen wesentlichen Beitrag zum richtigen Verständnis der Leninschen Auffassungen. Der Kardinalfehler Wardins und seiner Anhänger war die Unterschätzung der Bündnisfrage: „Durch einfache Reglementierung der Hegemonie des Proletariats und vor allem durch Vertauschen dieser Hegemonie mit einer Hegemonie der proletarischen Kultur kommen wir keinen einzigen Schritt weiter", erläuterte Jakowlew, „um die Frage der Beziehungen zwischen Arbeitern und Bauern in der Leninschen Kulturrevolution zu lösen. Die Schwierigkeit der Kulturrevolution besteht durchaus nicht darin, der gesamten Arbeiterklasse Kultur, Bewußtsein, Lesen und Schreiben, Zivilisation beizubringen. Die Schwierigkeiten und zugleich ihre Hauptaufgabe bestehen darin, die Summe der von der Arbeiterklasse in ihrem Kampf um den Sozialismus aufgespeicherten Kenntnisse, Gepflogenheiten und Ideen zu einem Instrument der Erziehung nicht nur der Arbeiterklasse selbst, sondern auch der Bauern zu machen."232 198

Die neuen Aspekte, die in dem ZK-Beschluß Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der Literatur aus dem Zusammenhang von Literatur und Kulturrevolution abgeleitet wurden, fanden in den Diskussionen der Schriftsteller und Kritiker 2unächst noch wenig Beachtung oder wurden - so von L. Awerbach - nicht verstanden. Offensichtlich bedurfte es noch weiterer literarischer Erfahrungen und intensiver theoretischer Anstrengungen, um die neuen Kunst-Wirklichkeit-iBeziehungen zugleich als Faktoren der Kulturrevolution zu begreifen.233 Als einer der ersten Schriftsteller gelangte Fadejew in dem Artikel Die Literatur und Fragen der Kulturrevolution Ende des Jahres 1932 zu der Schlußfolgerung: „Unsere Schriftsteller durchdenken immer noch ungenügend ihre Arbeit im Zeichen der sich im Lande vollziehenden Kulturrevolution der Massen.'^ Objektiv waren jedoch bereits die bedeutenden ästhetischen Leistungen und Wirkungen des ersten Jahrzehnts Ausdruck und Ergebnis des revolutionären Prozesses, der sich auf allen Gebieten der Kultur vollzog. Auch die in der vorliegenden Studie nicht untersuchten Vorstöße vieler Literaturen der 1922 in der UdSSR vereinigten Völker zu völlig neuartigen künstlerischen Ausdrucksweisen und -formen belegen diesen Vorgang, der in seinen wirklichen Dimensionen und in seiner weltliterarischen Bedeutung 1927 noch kaum zu überschauen war. Der eingangs dargestellte Epochenvergleich zeichnet lediglich die Konturen dieses zehnjährigen Weges am Beispiel der russischen Sowjetliteratur. Auf Aufzählungen von Namen und Werken wird an dieser Stelle verzichtet. Sie vermögen nicht, den ganzen Reichtum an künstlerischen Entdeckungen aufzuhellen. Hingegen verdient ein anderer Aspekt Beachtung. In der Sowjetliteratur der zwanziger Jahre waren die G r u n d l a g e n s o z i a l i s t i s c h e r L i t e r a t u r in erstaunlicher Reife ausgebildet. Diese Errungenschaften können nicht nur als l i t e r a r i s c h e Errungenschaften erklärt wergen. Möglich waren sie nur auf Grund der neuartigen Beziehungen, die sich zwischen Kunst und Wirklichkeit innerhalb der Diktatur des Proletariats entwickelten. Sicherlich war es kein Zufall, daß sich die fortschrittliche Weltöffentlichkeit gerade für diese Zusammenhänge interessierte und die Heraus199

bildung der sozialistischen Literatur in der Sowjetunion als ein kulturgeschichtliches Phänomen wertete - mitunter sogar früher als viele sowjetische Schriftsteller selbst. Die fortschrittlichen Künstler und Intellektuellen Europas und Amerikas und auch Asiens suchten Antwort, wie aus der sich nach •dem ersten Weltkrieg verschärfenden kulturelllen Krise herauszukommen war. Blieben ihnen noch viele Entwicklungsprableme des kulturellen Lebens im Sowjetland verschlossen, so konstatierten sie erstaunt das Aufblühen der gesamten sowjetrussischen Kunst, vor allem der Literatur und des Films. Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925) und Pudowkins Sturm über Asien wurden buchstäblich zu einem Kulturereignis der Welt. Sie provozierten die Frage: Wie kommt es, daß der russische Film künstlerisch plötzlich an erster Stelle in der Welt steht? Zur gleichen Zeit hatte der Sowjetstaat vor aller Welt seine Lebensfähigkeit unter Beweis gestellt. Mit Ausnahme der USA hatte 'die Mehrzahl der politisch bedeutenden Staaten die UdSSR völkerrechtlich anerkannt. Die auf dem XIV. Parteitag der KPdSU (B) (1925) beschlossene Industrialisierung zeitigte erste Ergeibnisse. Die Geschichte hatte Lenins Konzept bestätigt, das er in der Polemik ¡mit Suchanow entwickelt hatte: „Wenn zur Schaffung des Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist (obwohl niemand sagen kann, wie dieses bestimmte ,Kulturniveau' aussieht, denn es ist in jedem westeuropäischen Staat verschieden), warum sollten wir also nicht damit anfangen, auf revolutionärem Wege die Voraussetzungen für dieses 'bestimmte Niveau zu erringen, und d a n n schon, auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der Sowjetordnung, vorwärtsschreiten und die anderen Völker überholen." (Lenin 33, 464-465) Vom VI. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (1928) gingen wichtige Impulse aus, um die Erfahrungswerte des ersten sozialistischen Landes, einschließlich der für die Literatur relevanten kulturellen Aspekte, fortan mehr denn je in das Blickfeld des Klassenkampfes in den kapitalistischen Ländern rückten. Prinzipielle Bedeutung für den Kampf gegen alle opportunistischen und reformistischen Theorien hatte im Programm 200

der Kommunistischen Internationale der Nachweis, daß nur die proletarische Revolution und in ihrem Ergebnis die Diktatur des Proletariats die Arbeiterklasse befähigt, das bürgerliche Bildungsmonopol zu brechen, sich alles Wissen zu eigen zu machen und mit Hilfe der Erfahrungen beim Aufbau des Sozialismus ihr eigenes Wesen umzugestalten: „Um in den Massen kommunistisches Bewußtsein zu entwickeln und um die Sache des Sozialismus selbst durchzusetzen, ist eine die Masse ergreifende V e r ä n d e r u n g der Mens c h e n nötig, die nur in der praktischen Bewegung, in der Revolution vor sich gehen kann. Die Revolution ist also nicht nur nötig, weil die h e r r s c h e n d e Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die sie s t ü r z e n d e Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich von allem Schmutz der alten Gesellschaft zu reinigen, und so fähig werden kann, eine neue Gesellschaft zu begründen." 235 In dem Abschnitt Die Diktatur des Proletariats und die Kulturrevolution heißt es u. a.: „Das Proletariat gestaltet aber im Laufe der Revolution nicht nur sein eigenes Wesen neu, sondern auch das Wesen der a n d e r e n K l a s s e n , vor allem der zahlreichen kleinbürgerlichen Schichten in Stadt und Land, insbesondere der werktätigen Schichten der Bauernschaft. Die Arbeiterklasse läßt breiteste Massen der Kulturrevolution teilhaftig werden." 236 Die Alternative - „Bedrohung der humanistischen Kultur in Deutschland und in anderen kapitalistischen Ländern, siegreiche Kulturrevolution in der Sowjetunion" - führte um 1930 vielfach zur „Erkenntnis der Gefahren, denen die Kultur der Nation entgegenging, z u r E i n s i c h t in d i e R o l l e d e r Arbeiterklasse foei der Verteidigung der K u l t u r " 237 . Diese Einsicht hatte großen Einfluß auf die proletarisch-revolutionäre Literaturbewegung in Deutschland, auf die internationale revolutionäre Literaturentwicklung insgesamt. Bereits Mitte der zwanziger Jahre schrieb Clara Zetkin: Der „erste große Baumeister des Sozialismus" hat „nach dem furchtbaren Zusammenbruch der bürgerlichen Kultur im imperialistischen Völkermorden" vor aller Welt durch sein Aufbauwerk bezeugt, „Vorkämpfer und Träger einer höheren ge201

sellschaftlichen Zukunft" 238 ist das Weltproletariat. Die „tätige Erkenntnis" setzte sich durch, „daß Leben und Entwicklung der Kultur nur möglich sind, wenn der internationale Charakter ihres Wesens zum bewußten Prozeß wird" 239 . Fortschrittliche Literaturschaffende aus zweiundzwanizig Ländern und vier Kontinenten 'bekundeten auf der II. Internationalen Konferenz proletarischer und revolutionärer Schriftsteller in Charkow 1930 großes Interesse für die sich im Sowjetland vollziehenden kulturellen Prozesse. Literaturfragen wurden als Kulturfragen begriffen und Kulturfragen als Lebensfragen der Völker. In der Konfrontation von Sozialismus und Kapitalismus wurde dies deutlicher denn je. M. Skrypnik, Volkskommissar für ¡Bildungswesen der Ukraine, referierte in Charkow über die Kulturrevolutio in der UdSSR und A. Chalatow, Vorsitzender der Vereinigten Staatsverlage, über die Kulturrevolution und das Buchwesen. Skrypnik belegte dokumentarisch ¡die bereits erreichten kulturellen Erfolge der Sowjetunion im Prozeß der sozialistischen Umgestaltung des ganzen Landes. Dabei unterstrich er die große kulturelle Bedeutung des Übergangs zur Kollektivierung der Landwirtschaft. Auf dem Dorfe vollziehe sich zur Zeit „eine Kulturrevolution, durch die die millionenköpfige Bauernschaft vereinigt und die bäuerliche Mentalität allmählich in eine proletarische umgewandelt wird" 240 . Ausführlich legte Skrypnik bereits erreichte Erfolge dar und die noch zu leistenden Aufgäben, damit „ a l l e N a t i o n e n d e r S o w j e t u n i o n " ein einheitliches kulturelles, wirtschaftliches und soziales Niveau erreichen. Um das Klassenbewußtsein der ökonomisch und kulturell rückständigen Völker zu entwickeln, werden ihnen alle Kenntnisse in ihrer Muttersprache vermittelt. Der Zentralverlag der Völker der Sowjetunion druckte zu jener Zeit bereits Bücher in 32 nationalen Sprachen (diese Zahl ist bis heute auf über das Doppelte angestiegen!). Die Kulturentwicklung auch jeder noch so kleinen Nationalität war gesichert. Nationalistische und chauvinistische Tendenzen wurden systematisch bekämpft. Das Programm der Partei zur sozialistischen Umgestaltung auf internationalistischer Grundlage war zugleich ein umfassendes Programm zur Entwicklung einer multinationalen sozialistischen Kultur. Der 202

Kongreß in Charkow dokumentierte die große internationale Bedeutung dieser Entwicklung. Die Alternative bürgerliche Kulturkrise - siegreiche Kulturrevolution in der Sowjetunion lenkte auf die Grundfragen, die alle Delegierten in ihrem Kampf um den Kulturfortschritt der Menschheit vereinten. „Ich glaube", bekannte Franz Carl Weiskopf, „daß es unsere Aufgabe ist, daß wir nach unserer Rückkehr energischer als bisher die mit der UdSSR sympathisierenden Kreise der Intelligenz aufzuklären, ihnen alles das zu schildern haben, was wir hier gesehen und erfahren haben . . . Durch Aufklärung und Propaganda der großen Erfolge der Kulturrevolution in der UdSSR kann man bedeutende Schichten der Kleinbourgeoisie, die noch an eine kulturelle Entwicklung der Menschheit unter den Bedingungen einer sogenannten Demokratie glauben, auf unsere Seite ziehen." 241 Als eines der wichtigsten Resultate der Konferenz bezeichnete das Sekretariat der IVRS die „Beantwortung der Frage von der Möglichkeit der Entwicklung einer proletarischen Kultur (und Literatur) vor der Machtergreifung des Proletariats in den kapitalistischen Ländern". Es sei zwar nicht zu bestreiten, daß nur der Übergang der Macht in die Hände des Proletariats die Bedingungen für eine freie Entfaltung der Kultur schafft. „Eine solche Feststellung hat jedoch nichts mit den revisionistisch-opportunistischen Theorien gemein, die jede Möglichkeit einer proletarischen Kulturentwicklung in der kapitalistischen Gesellschaft verneinen und dem Proletarier nur die Rolle eines Kostgängers bei der bürgerlichen Literatur einräumen. Eben dahin führen die gemeinen Hilferdingschen Doktrinen von einer ,Kulturdemokratie'. Eben das proklamierten jetzt die Renegaten des Kommunismus ä la Thalheimer, der im Gefolge von Trotzki wiederholt, daß nur unter dem Sozialismus eine große Kunst geschaffen werden wird und daß bis dahin - sogar während der Diktatur des Proletariats die proletarische Kunst nur ,die ersten Schritte' machen kann." 242 Schriftsteller Deutschlands und Frankreichs, der Tschechoslowakei und Ungarns, Amerikas und Asiens mahnten, bekundeten und bewiesen schließlich durch ihr eigenes Werk die Kraft des Beispiels der Sowjetkunst in politischen wie schöp203

ferischen Fragen. Der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands unterstrich nach der Konferenz, die Klärung von Fragen der proletarisch-revolutionären Kultur sei für die Literatur äußerst wichtig, da „theoretische Fehler in der Bewertung der proletarischen Kultur im allgemeinen . . . auch auf die Literatur schädliche Folgen haben". 243 Das zeigte sich u. a. in der unkritischen Übernahme einiger Thesen der RAPP 244 aus Unkenntnis der entwicklungsbedingten Widersprüche in der Sowjetunion selbst. Der redaktionelle Artikel der Linkskurve, Durchbruch der proletarischen Literatur245, sowie weitere Dokumente aus jener Zeit erlbringen den Beweis, daß die speziellen Literaturprobleme in Zusammenhang mit den Perspektiven einer proletarischen Kultur behandelt wurden. Der VI. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale und die Charkower Konferenz leisteten einen schöpferischen Beitrag zur Auswertung der Errungenschaften der sowjetischen Kultur- und Literaturentwicklung durch die fortschrittlichen Kulturschaffenden in aller Welt. Sie sind zugleich ein wichtiges Kapitel in der gemeinsamen Geschichte unserer beiden sozialistischen Literaturen, deren Kontakte und Wechselbeziehungen sich Anfang der dreißiger Jahre intensivierten. Johannes R. Becher faßte den Wandlungsprozeß des Menschen - Ziel und Inhalt der kulturellen Revolution im Sowjetland - im Bild eines weltgeschichtlich neuen Kultunbewußtseins, als Realität gewordene Synthese .von Schöpfertum und Traditionsaufnahme auf sozialistischen Grundlagen. In diesem Bild ist in genialer Weise das gigantische historische Kulturkonzept Gorkis aus den ersten Revolutionsjahren eingeschlossen : „Der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion hat nicht nur die Gegenwart erschüttert und umgeschaffen - mit jedem Spatenstich in die Gegenwart gräbt er Vergangenheit auf und legt Gelände frei für den Blick in die Zukunft. Schafft Gedächtnis nach rückwärts, Visionen nach vorne. Es ist, als sei die Menschheit auf ihrem Zug durch die Geschichte auf einem Plateau angelangt, von dein aus .dem Blick drei Zeiten gleichzeitig erfaßbar sind. Eschaton, Gilgamesch, Kalidasa, Homer - jedes Arbeitskommando der Stoßbrigaden ruft Jahrtausende wach, Höhlen tönen, Säulen klingen, uralte Götterbilder blinzeln, 204

herausgesprengt aus der Verschollenheit. Hölderlin im Seemanns'klub, Hegel in der Zeltstadt der Roten Armee. . . . Hier aind nur so entsteht neuer Menschtentypus. Sprachschöpfer: Das Schweigen der Dinge wird iberedt, durchwoben von Wortfasern, und Wegstrecken in die Zukunft hinein, Gedächtnis ruft, Echo aus Fernzeiten. Hier wird der Gedanke gesät, und der Mensch umgepflügt."246

Resümee

Nach der Oktoberrevolution entwickelten sich in der Sowjetunion auch Literatur und Kunst im Zeichen der sozialistischen Kulturrevolution. An den Wendepunkten des gesellschaftlichen Prozesses kam es jeweils zu einer erstaunlichen Intensivierung der Debatten über Kultur und Literatur. Eindeutig 'bedurften die Schriftsteller der Erkenntnis dieses Zusammenhangs, um sich der veränderten gesellschaftlichen Funkdon ihrer Arbeit bewußt zu werden. Nur über ein vertieftes historisches Kulturbewußtsein gewannen sie neue Einsichten in .das Verhältnis von Tradition und Neuleistung, begriffen sie sich als ein Kettenglied in der Kulturgeschichte der Menschheit. Lenins Theorie der Kulturrevolution ist ein wichtiger methodischer Schlüssel, um die Dialektik von Kultur und Literatur in Übereinstimmung mit den jeder Etappe eigenen besonderen ökonomischen, sozialen, politischen und geistigen Bedingungen zu erfassen. Die weltliterarische Leistung der Sowjetliteratur bereits im ersten Jahrzehnt ihrer Geschichte kann nur aus den neuartigen Kunst-Wirklichkeit-Beziehungen erklärt werden, .die sich nach der siegreichen Oktoberrevolution in einem sehr komplizierten, widerspruchsvollen Prozeß herausbildeten. Diese Erfahrungen kunstpraktischer wie auch -theoretischer Natur erhalten erst im Spannungsfeld von allgemein kulturellen und spezifisch literarischen Prozessen ihre wirkliche Bedeutung für die Gegenwart. Die Aktualität der Untersuchung dieser Vorgänge ergilbt sich zugleich aus der Notwendigkeit, alle Versuche der letzten Zeit, Wesen und Inhalt der sozialistischen Kulturrevolution in der Sowjetunion von revisionistischen oder auch „neulinken" Positionen zu verfälschen, wissenschaftlich zu widerlegen. 206

In den ersten Etappen der Kulturrevolution wurden in der Sowjetunion entscheidende soziale und politisch-ideologische Probleme beim Aufbau einer neuen, sozialistischen Kultur gelöst: unter anderem Beseitigung der Herrschaft der Ausibeuterklassen auf allen Gebieten der Kultur, Bewahrung, schöpferische Aneignung und Weiterführung der bedeutendsten Errungenschaften der Menschheitskultur, Kampf gegen fremde ideologische Einflüsse, 'beginnende sozialistische Umerziehung der Bauernmassen. Die sozialistische Intelligenz, die sich bis Mitte der dreißiger Jahre herausgebildet hatte, brachte nunmehr die Interessen und die Weltanschauung der Arbeiterklasse zum Ausdruck. In der zu dieser Zeit einsetzenden neuen Etappe der Kulturrevolution - Vorkriegsjahre, Großer Vaterländischer Krieg, Vollendung des sozialistischen Aufbaus nach dem Krieg - wurde die geschaffene sozialistische Kultur zum Besitz des ganzen Volkes. Die darauffolgende Etappe der Kulturrevolution - sie entspricht der gegenwärtigen Etappe des entwickelten Sozialismus in der UdSSR - schafft schließlich die notwendigen ideologischen und kulturellen Bedingungen für den Sieg des Kommunismus. 247 Untersucht wurden im wesentlichen die Wechselbeziehungen zwischen dem literarischen Prozeß und den allgemein kulturellen Prozessen in der ersten Etappe der Kulturrevolution. Die ersten kulturellen Maßnahmen der Sowjetmacht schufen wichtige Voraussetzungen - vor allem materieller Natur (Befreiung der Kultur aus der Abhängigkeit vom Kapital) - für die Kulturrevolution, die Ende des Bürgerkrieges von der Kommunistischen Partei und den Sowjetorganen eingeleitet wurde. Sie waren Ausdruck des kulturschöpferischen Programms der sozialistischen Revolution. Die dramatischen Vorgänge um die Bewahrung des kulturellen Erbes in den Oktobertagen sowie die harten Klassenkämpfe auf ideologischem Gebiet bewiesen, daß das unter der Führung der Bolschewiki um seine Freiheit kämpfende Proletariat tatsächlich der einzige wahre Erbe der Menschheit&kultur war. Weitaus komplizierter als der Vorgang selbst war allerdings seine theoretische Erfassung. Der von Lenin bereits vor 1917 entwickelte sozialistische Kulturibegriff, der von der neuen Funktion der Arbeiterklasse im gesellschaftlichen Prozeß be207

stimmt wird, setzte sich erst in jahrelangen harten ideologischen Kämpfen gegen bürgerliche, opportunistische - trotzkistische - wie auch liöksradikale Auffassungen durch. Die schroffe Differenzierung der Kräfte, insbesondere in den Kreisen der künstlerischen Intelligenz, -verdeutlicht die enormen Schwierigkeiten des revolutionären Übergangs zu einer neuen Gesellschaftsordnung, der Diktatur des Proletariats, sowie das anfangs verlbreitete Unverständnis für das Wesen der proletarischen Revolution und ihre Kulturprogrammatik. Relativ bald kam es zu einer starken Einwirkung der revolutionären Wirklichkeit auf die Literatur- und Kunstschaffenden selbst. Die Analyse der ersten revolutionären Kunstäußerungen und der verschiedenartigen, meist gruppengebundenen Literatur- und iKunstkonzeptionen - zunächst hatten die „linken" Künstler und der Proletkult den größten Einfluß - führte zu folgenden Schlußfolgerungen: - Es ist zu unterscheiden zwischen echten künstlerischen Entdeckungen in der .¿Plakat- und Meetingsperiode" und den Grenzen der auf Revolutionierung aller Kunstmöglichkeiten zielenden Bestrebungen. - Der produktive Beitrag eines Künstlers für die neue Kunst hing von der Stellung seines Werks innerhalb der sich herausbildenden neuartigen kulturellen Beziehungen ab. - Die Debatten um eine neue Kunst - Tempel oder Fabrik, Über die alte und die neue Kunst, „Proletarische Kultur" und Proletkult - charakterisieren die komplizierten Widersprüche zwischen illusionären Kunstvorstellungen und realen Kunstbedürfnissen. Im Keim enthalten sie bereits viele - richtig erfaßte - Probleme, deren Lösung in den kommenden Jahren den Prozeß der Sellbstvenständigung der Künstler über ihre neue gesellschaftliche Aufgaben befördern sollte. - Unter dem Einfluß dieser Entwicklung gelangten einige Künstler und Kritiker bereits nach wenigen Jahren zu höchst beachtlichen Einsichten in die Rolle der Sowjetmacht bei der Weiterentwicklung der Künste. Im Zuge der Verwirklichung des Kulturprogramms der Bolschewiki wurden von Anfang an auch entscheidende Grundfragen der neuen, sozialistischen Literatur gelöst. Die Debatten um die Pressefreiheit, um die Parteilichkeit des gesamten 208

Presse- und Verlagswesens - Lenins theoretischer Beitrag und entschiedener Kampf gegen kleinlbürgerliche Illusionen - erlbringen den Beweis, daß bereits in den ersten Jahnen nach dem Oktoberumsturz theoretisch wie praktisch Erfahrungen gesammelt wurden, die bis heute in der internationalen sozialistischen Literatucbewegung Gültigkeit haben. Die Neuformierung der literarischen Kräfte und die Anreicherung neuer Errungenschaften des Realismus, des sozialistischen Realismus, vollzogen sich unter dem Einfluß der gesamten politischen und ideologischen Atmosphäre der Zeit. Wichtige Einlblicke in diesen Zusammenhang vermitteln die unterschiedlichen Positionsbestimmungen der Schriftsteller, ihre Äußerungen über die Kunst und über sich selbst. Das neue ästhetische Wesen der Literatur wurde von denjenigen unter ihnen am tiefsten erfaßt, die ihre literarische Arbeit nicht losgelöst von den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen betrachteten und auf Grund ihrer eigenen Lebenserfahrungen mit dem Revolutionsalltag eng verbunden waren, sich mit ihm identifizierten. Unter den Bedingungen der Neuen ökonomischen Politik orientierte die Partei auf eine verstärkte ideologische Aribeit. Gleichzeitig wurden die im neuen Gesellschaftssystem liegenden Möglichkeiten einer sozialistischen Kulturpolitik intensiviert. Unter den zahlreichen neuen Formen einer zielgerichteten Propaganda und Agitation wurden auch einige künstlerische Mittel entwickelt. Im Gegensatz zu der von der Kommunistischen Partei gegebenen Grundorientierung, daß sich das Bildungsziel der neuen Gesellschaftsordnung in der gemeinsamen bewußten und disziplinierten Arbeit verwirklicht, versuchten die seinerzeit recht einflußreichen Proletkult-Organisationen ein eigenes Kulturkonzept durchzusetzen, das heute wiederum von antisowjetischen Theoretikern gegen Lenins Theorie ins Spiel gebracht wird. Der theoretische Streit um Pletnjows Artikel An der literarischen Front (1922) zielte auf die grundsätzliche Abgrenzung von allen unmarxistischen Kulturauffassungen. Der Kampf der Partei gegen die idealistische Kulturphilosophie Bogdanows und seine im Grunde menschewistische politische Position sowie gegen den ideologischen wie organisatorischen 14

Thun

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Führungsanspruch des Proletkults auf kulturellem Gebiet war ein Kampf um die Anerkennung und Verwirklichung der leninistischen Kulturprogtaimmatik. Die Zuspitzung der Debatte um eine klare parteiliche Linie in der Literaturpolitik (1923-1925) war Ausdruck des gewachsenen gesellschaftlichen Bedürfnisses nach einer Literatur, die •mit ihren spezifischen Mitteln in den Prozeß der Bewußtseinsveränderung der Menschen eingriff. Neue Wege und Formen der Lenkung des literarischen Prozesses wurden erkundet, damit die Literatur in Übereinstimmung mit den Direktiven der Partei tatsächlich zu einem Instrument der ideologischen und ästhetischen Erziehung aller Werktätigen wurde. Dem entgegen standen zunächst noch einseitige Programme einzelner literarischer Richtungen und Gruppen. Die Beratung im ZK vom 9. bis 10. Mai 1924, der Beschluß des XIII. Parteitages (1924) Über die Presse und die Resolution des ZK der KPdSU (B) vom 18. 6. 1925 Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der Literatur trafen verbindliche Festlegungen und stellten Schriftstellern wie Kritikern konkrete Aufgaben, die von der neuen Stufe der Kulturrevolution abgeleitet wurden. Diese Parteidokumente bildeten auch die Grundlage für wichtige Verallgemeinerungen der sowjetischen Kultur- und Kunsterfahrungen in den Beschlüssen des VI. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale und der II. Internationalen Konferenz proletarischer und revolutionärer Schriftsteller in Charkow. Die Darstellung der Revolution im Aufbruch der Hundertfünfzigmillionen zu weltgeschichtlicher Tat und im Menschen der 'befreiten Arflbeit bestimmte die überragende weltliterarische Leistung der Sowjetliteratur bereits im ersten Jahrzehnt ihrer Geschichte. In der internationalen revolutionären Literaturbewegung wuchs das Interesse für die Werke Gorkis, Majakowskis, Furmanows, Fadejews, Gladkows, Babels, Iwanows, Serafimowitschs. Die Alternative bürgerliche Kulturkrise siegreiche Kulturrevolution in der Sowjetunion lenkte zugleich die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen von Literatur und Gesellschaft, Literatur und Kultur in der Diktatur des Proletariats als eine völlig neue Gesetzmäßigkeit der weltliterarischen Entwicklung.

Abkürzungen

AAB

AVL Fedin Gorki, Über Literatur GSP

Lenin Lenin, Briefe LG

LL

LLI LNM

MEW MG

A. A. Blok: Sobranie socinenij v vos'mi tomach (Gesammelte Werke in acht Bänden). Moskau — Leningrad 1960-1963. A. V. Lunacarskij: Sobranie socinenij v vos'mi tomach (Gesammelte Werke in 8 Bänden). Moskau 1963—1967. Konstantin Fedin: Gesammelte Werke, Band 10. Dichter, Kunst, Zeit. Aufsätze, Erinnerungen. Berlin 1959. Maxim Gorki: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. v. E. Kosing und E. Mirowa-Florin. Bd. 23. Über Literatur. Berlin und Weimar 1968. Gor'kij i sovetskie pisateli. Neizdannaja perepiska (Gor'kij und die sowjetischen Schriftsteller. Unveröffentlichter Briefwechsel). Moskau 1963. (Literaturnoe nasledstvo. Bd. 70.)">» W. I. Lenin: Werke. Bd. 1-40. Berlin 1961-1964. W. I. Lenin: Briefe. Bd. 1 ff. Berlin 1967ff. Lenin und Gorki. Eine Freundschaft in Dokumenten. Hg. v. E. Kosing und E. Mirowa-Florin. Berlin und Weimar 1970. W. I. Lenin i A. V. Lunacarskij. Perepiska, Doklady, Dokumenty (W. I. Lenin und A. W. Lunatscharski, Briefe, Berichte. Dokumente). Moskau 1971. (Literaturnoe nasledstvo, Bd. 80.) V. I. Lenin o literature i iskusstve (W. I. Lenin über Kunst und Literatur). 4. Ausg. Moskau 1969. A. V. Lunacarskij. Neizdannye materialy (A. W. Lunatscharski. Unveröffentlichte Materialien). Moskau 1970. (Literaturnoe nasledstvo. Bd. 82.) Marx/Engels: Werke. Bd. 1-39, Berlin 1957-1968. M. Gor'kij: Sobranie socinenij v tridcati tomach (Gesammelte Werke in dreißig Bänden). Moskau 1949-1956.

211

NM TNSP

WM

WWM

Novoe o Majakovskom (Neues über Majakowski). Moskau 1958. (Literatutnoe nasledstvo, Bd. 65.) Iz tvorceskogo nasledija sovetskich pisatelej (Aus dem Nachlaß sowjetischer Schriftsteller). Moskau 1965. (Literaturnoe nasledstvo. Bd. 74.) V. V. Majakovskij: Polnoe sobranie socinenij v trinadcati tomach (Gesamtausgabe in dreizehn Bänden). Moskau 1955-1961. W. W. Majakowski: Ausgewählte Werke. Hg. v. L. Kossuth. Bd. 1 - 5 . Berlin 1966-1973.

Anmerkungen

1 L. M. Leonov: O socinitel'nom otdyche (Von det Freizeit des Schriftstellers). In: 30 dnej, 1927, H. 4, S. 15. 2 A. A. Fadeev: Za tridcat'let (Aus dreißig Jahren). Moskau 1957, S. 365. 3 A. V. Lunacarskij: Desjat' let kul'turnogo stroitel'stva v strane rabocich i krest'jan (Zehn Jahre kultureller Au£bau im Lande der Arbeiter und Bauern). Moskau-Leningrad 1927, S. 114. 4 I. M. Bespalov: V. Majakowskij. Choroso. Oktjabr'skaja poema (W. Majakowskkj. Gut und schön. Oktoberpoem). In: Pravda v. 28.12.1927. 5 G. Jakubovskij: Cem volnuet Ra^grom (Warum beeindrucken Die Neunzehn). In: Molodaja gvardija, 6 (1927), H. 7, S. 164, 174. 6 A. V. Lunacarskij: Desat* let kul'turnogo stroitel'stva v strane rabocich i krest'jan (Zehn Jahre kultureller Aufbau im Lande der Arbeiter und Bauern). Moskau-Leningrad 1927, S. 112. 7 A. A. Fadeev: „My smozem dostic' versiny . . . " („Wir können die Höhe erreichen . . . " ) . In: Literaturnaja gazeta v. 2.12.1970. 8 Po dokladu t. Lunacarskogo ob itogach kul'turnogo stroitel'stva Sojuza SSR za desjat' let (Zum Referat des Gen. Lunatscharski über die Ergebnisse des kulturellen Aufbaus in der UdSSR in zehn Jahren). In: Izvestija v. 21.10.1927. 9 A. S. Serafimovic: Sobranie socinenij v 7 tt. (Gesammelte Werke in 7 Bd.). Bd. 7. Moskau 1960, S. 528. 10 Oktjabr' v iskusstve i literature. 1917—1927 (Der Oktober in der Kunst und Literatur. 1917-1927). Leningrad 1927, S. 33. 11 V. V. Gorbunov: Lenin i socialisticeskaja kul'tura. Leninskaja koncepcija formirovanija socialisticeskoj kul'tury (Lenin und die sozialistische Kultur. Die Leninsche Konzeption der Herausbildung der sozialistischen Kultur). Moskau 1972, S. 122. 12 Vgl.: Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. 3. erg. Ausg. Berlin 1971, S. 454-456. 13 Vgl.: Edgar Weiß: Johannes R. Becher und die sowjetische Literatur213

entwicklung (1917-1933). Berlin 1971, S. 111-117. (Deutsche Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen des Instituts für Slawistik. Hg. v. H. H. Bielfeldt. Nr. 53.) 14 Meádunarodnaja konferencija proletarskich i revoljucionnych pisatelej. Rezoljucija o proletliterature Sovetskogo Sojuza (Internationale Konferenz der proletarischen und revolutionären Schriftsteller. Resolution über die proletarische Literatur der Sowjetunion). In: Na literaturnom postu, 2 (1927), H. 21, S. 2. 15 A. V. Lunacarskij: Ot narodnogo komissara po prosvesceniju. Grazdane Rossiii (Vom Volkskommissar für Bildungswesen. An die Bürger Rußlands!). In: Pravda v. 31.10. (13.11.) 1917. Dt. zit. nach: John Reed: Zehn Tage, die die Welt erschütterten. Berlin 1971, S. 453-457. 16 Vgl. John Reed: Zehn Tage, die die Welt erschütterten. Berlin 1971, S. 313. 17 Ebenda, S. 466. 18 Zit. nach: Istorija russkoj sovetskoj literatury v 4 tt. 1917—1965 (Geschichte der russischen Sowjetliteratur in 4 Bd. 1917—1965). 2. verb. u. erg. Aufl. Bd. 1. Moskau 1967, S. 688. 19 Konstantin Paustowski: Die Zeit der großen Erwartungen. Berlin 1963, S. 16. 20 K. Za[j]cev: Sumerki kul'tury (Dämmerung der Kultur). Zit. nach: Pecat' i revoljucija, 2 (1921), H. 2, S. 30. 21 V. P. Polonskij: Na literaturnye temy. Izbrannye stati'i (Zu literarischen Themen. Ausgewählte Aufsätze). Moskau 1968, S. 103. 22 S. Ratomskij: Krizis kul'tury (Kulturkrise). In: Pecat' i revoljucija, 2(1921), H. 1, S. 174. 23 Gr. Aleksej N. Tolstoj: Chozdenie po mukam. Predislovie (Der Leidensweg. Vorwort). Berlin 1922, S. 3. 24 Ebenda, S. 449. 25 Ebenda, S. 453. 26 V. V. Gorbunov: Lenin i socialisticeskaja kul'tura. Leninskaja koncepcija formirovanija socialisticeskoj kul'tury (Lenin und die sozialistische Kultur. Die Leninsche Konzeption der Herausbildung der sozialistischen Kultur). Moskau 1972, S. 106-122. 27 I. S. Smirnov: Lenin i sovetskaja kul'tura. Gosudarstvennaja dejatel'nost" V. I. Lenina v oblasti kul'turnogo stroitel'stva. Oktjabr' 1917—leto 1918 g. (Lenin und die sowjetische Kultur. Die staatliche Tätigkeit W. I. Lenins auf dem Gebiet des kulturellen Aufbaus. Oktober 1917-Sommer 1918). Moskau 1960, S. 375. 28 Dt. zit. nach: John Reed: Zehn Tage, die die Welt erschütterten. Berlin 1971, S. 446. 29 Ebenda, S. 333.

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30 Vgl.: ebenda, S. 337-341. 31 Protokoll. Sechster Weltkongreß der Kommunistischen Inter. nationale. Moskau, 17. Juli bis 1. September 1928. Vierter BandThesen, Resolutionen, Programm, Statuten. Hamburg — Berlin 1929, S. 71. 32 Dekrety sovetskoj vlasti (Dekrete der Sowjetmacht). Bd. 1. 25. Oktober 1917-16. März 1918. Moskau 1957, S. 297-298. 33 Vgl.: B. S. Mejlach: Lenin i problemy russkoj literatury X I X — nacala X X vv. (Lenin und die Probleme der russischen Literatur des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts). 4. erg. Aufl. Leningrad 1970, S. 430-440 34 N. K. Krupskaja: Neosnovannye opasenija (Unbegründete Befürchtungen). In: Pravda v. 6. 2. 1919. 35 A. V. Lunacarskij: Iz oktjabr'skich vospominanij (Aus den OktoberErinnerungen). In: Vospominanija o V. I. Lenine v 5 tomach (Erinnerungen an W. I. Lenin in 5 Bd.). Bd. 3. Moskau 1969, S. 119. 36 Vgl.: A. K. Winogradow: Das Schicksal der russischen Bücherschätze. In: Das heutige Rußland. 1917—1922. Wirtschaft und Kultur in der Darstellung russischer Forscher. Teil II. Berlin 1923, S. 3—14. 37 A. V. Lunacarskij: Desjat* let kul'turnogo stroitel'stva v strane rabocich i krest'jan (Zehn Jahre kultureller Aufbau im Lande der Arbeiter und Bauern). Moskau-Leningrad 1927, S. 114. 38 Walter Benjamin: Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur. Hg. v. Gerhard Seidel. Leipzig 1970, S. 361. 39 A. V. Lunacarskij ob iskusstve (A. W. Lunatscharski über die Kunst). In: O politike partii v oblasti literatury i iskusstva (Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der Literatur und Kunst). Moskau 1958, S. 330. 40 Ebenda, S. 331. 41 Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin. Berlin 1957, S. 21—22. 42 M. Gor'kij: Plan Istorii kul'tury v inscenirovkach dlja teatra i kartinach dlja kinematografa (Plan der Kulturgeschichte in Inszenierungen für das Theater und Filmen für den Kinematographen). In: M. Gor'kij: Materialy i issledovanija (Materialien und Forschungen). Red. v. V. A. Desnickij. Leningrad 1934, S. 108. 43 Maxim Gorki: Über Weltliteratur. Hg. v. Ralf Schröder. Leipzig 1969, S. 37. 44 Maxim Gorki: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. v. E . Kosing u. E. Mirowa-Florin. Bd. 15. Durch die Union der Sowjets. Berlin und Weimar 1970, S. 329. 45 P. S. Kogan: Drama Bloka (Bloks Drama). In: Pecat' i revoljucija, 4 (1923), H. 5, S. 40. 46 Intelligent iz naroda (Pseudonym f. I. S. Blank): Oktjabr'skaja

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revoljucija kak novaja kul'turnaja èra (Intellektueller aus dem Volke: Die Oktoberrevolution als ein neues kulturelles Zeitalter). In: Pravda v. 10. 2.1918. 47 V. Begusevskij: Teatral'nye perspektivy (Theaterperspektiven). In: Pravda v. 17. 2. 1918. 48 L. Kormcij: Zabytoe oruzie. O detskoj knige (Eine vergessene Waffe. Das Kinderbuch). In: Pravda v. 17. 2.1918. L. M. Farber: Sovetskaja literatura pervych let revoljucii. 1917—1920 49 gg. (Die Sowjetliteratur der ersten Revolutionsjahre. 1917—1920). Moskau 1966, S. 31. 50 N. K. Krupskaja: Pedagogiceskie proizvedenija v. 10 tt. (Pädagogische Werke in 10 Bd.). Bd. 2. Moskau 1958, S. 16. 51 Ebenda, S. 11. 52 G. I. Kunicyn: O partijnosti chudozestvennogo tvorcestva (Parteilichkeit des künstlerischen Schaffens). In: Lenin i iskusstvo (Lenin und die Kunst). Moskau 1969, S. 142. 53 Sbornik proletarskich pisatelej. S predisloviem Maksima Gor'kogo (Sammelband proletarischer Schriftsteller. M. e. Vorw. v. Maxim Gorki). St. Petersburg 1914, S. 4. 54 Vgl.: G. I. Kunicyn: O partijnosti chudozestvennego trorcestva (Parteilichkeit des künstlerischen Schaffens). In: Lenin i iskusstvo (Lenin und die Kunst). Moskau 1969, S. 142. 55 Vgl.: Revoljucionnaja poezija. 1890—1917. Biblioteka poèta. Malen'kaja serija (Revolutionäre Dichtung. 1890—1917. Dichterbibliothek. Kleine Serie). 2. Ausg. Leningrad 1950, S. 22-23. 56 Demjan Bednys Werk vor und nach der Revolution wurde bisher in der DDR nur -wenig bekannt, seine Bedeutung ungenügend beschrieben. Hingegen zählt es zu den wichtigsten Quellen der sowjetischen Lyrik. Die in der DDR verlegten Anthologien kennzeichnen diese besondere Stellung Bednys nicht ausreichend. Hervorzuheben ist lediglich: Links! Links! Links! Eine Chronik in Vers und Plakat 1917-1921. Hg. u. komm. v. Fritz Mierau. Berlin 1970, S. 17-20. 57 Tvorcestvo (Schöpferkraft). In: Tvorcestvo, 1 (1918), H. 1, S. 1. 58 M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju (Briefe an einen Schriftsteller). Leningrad 1929, S. 30. 59 Ebenda, S. 6. 60 Ocerki istorii russkoj sovetskoj zurnalistiki. 1917—1932 (Abriß der Geschichte der sowjetrussischen Journalistik. 1917—1932). Moskau 1966, S. 11. 61 Konstantin Paustowski: Reporter Krys. In: Zeitenwende. Die Oktoberrevolution im Spiegel der frühen sowjetischen Prosa. Hg. u. m. e. Vorw. v. Nyota Thun. Berlin und Weimar 1967, S. 116.

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62 Ocerki istorii russkoj sovetskoj zurnalistiki. 1917—1932 (Abriß der Geschichte der sowjetrussischen Journalistik. 1917—1932). Moskau 1966, S. 12-20. 63 Isaak Babel: Ein Abend bei der Kaiserin. Erzählungen. Dramen. Selbstzeugnisse. Hg. v. Fritz Mierau m. Unterstützung v. Antonina Piroshkowa. Berlin 1969, S. 406. 64 Vgl.: Links! Links! Links! Eine Chronik in Vers und Plakat 1917 bis 1921. Hg. u. komm. v. Fritz Mierau, Berlin 1970. 65 V. Kerzencev: Iskusstvo na ulice (Die Kunst auf der Straße). In: Tvorcestvo, 1 (1918), H. 3, S. 12. 66 N. Radlow: Die russischen Künste von 1917—1922. In: Das heutige Rußland. 1917—1922. Wirtschaft und Kultur in der Darstellung russischer Forscher. Teil II. Berlin 1923, S. 35. 67 V. M. Frice: V poiskach novoj krasoty (Auf der Suche nach einer neuen Schönheit). In: Tvorcestvo, 1 (1918), H. 2, S. 6. 68 V. M. Frice: Torzestvujuscaja pesnja kovannogo metalla (Da? feierliche Lied des geschmiedeten Metalls). In: Tvorcestvo, 1 (1918), H. 2, S. 18. 69 A. V. Lunacarskij: Vospominanija i vpecatlenija (Erinnerungen und Eindrücke). Moskau 1968, S. 208-209. 70 Ebenda, S. 210. 71 N. P.: K itogam Oktjabr'skich torzestv (Bilanz der Oktoberfeierlichkeiten). In: Iskusstvo kommuny v. 24.11. 1918. 72 M. L-in: Miting ob iskusstve (Kunstmeeting). In: Iskusstvo kommuny v. 7.12.1918. 73 Vgl.: Links! Links! Links! Eine Chronik in Vers und Plakat 1917 bis 1921. Hg. u. komm. v. Fritz Mierau. Berlin 1970, u. a. S. 20 bis 22. 74 Zit. nach einem Zeitungsbericht: Staroe i novoe iskusstvo (Alte und neue Kunst). In: Iskusstvo kommuny v. 5. 1. 1919. 75 Vgl.: K. Rudnickij: Rezisser Mejerchol'd (Meyerhold als Regisseur). Moskau 1969, S. 228-229. 76 Ebenda, S. 233. 77 Ebenda, vgl. S. 235-237. 78 Vgl.: AVL 3, 278. 79 A. V. Lunacarskij: Teatr segodnja (Das Theater von heute). MoskauLeningrad 1928, S. 106. 80 Vgl.: AVL 3, 265. 81 Vgl.: AVL 3, 264. 82 Vgl.: AVL 7, 268. 83 Vgl.: Oktober-Land. Russische Lyrik der Revolution. 1917-1924. Hg. v. E. Mirowa-Florin u. L. Kossuth. M. e. Vorw. v. S. Paperny. Berlin 1967.

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84 Vgl.: L. M. Farber: Sovetskaja literatura pervych let revoljudi. 1917—1920 gg. (Die Sowjetliteratur der ersten Revolutionsjahre. 1917-1920). Moskau 1966, S. 199. 85 A. Lunatscharski: Eine Skizze der russischen Literatur während der Revolutionszeit. In: Das heutige Rußland. 1917—1922. Wirtschaft und Kultur in der Darstellung russischer Forscher. Teil II. Berlin 1923, S. 59. 86 A. P. Selivanovskij: V literaturnych bojach. Izbrannye stat'i i issledovanija. 1927—1936 (Von literarischen Kämpfen. Ausgewählte Aufsätze und Studien. 1927-1936). Moskau 1959, S. 329. 87 Vgl.: S. 123, 139-140, 170 dieses Buches. 88 Vgl.: V. V. Gorbunov: Lenin i socialisticeskaja kul'tura. Leninskaja koncepcija formirovanija socialisticeskoj kul'tury (Lenin und die sozialistische Kultur. Die Leninsche Konzeption der Herausbildung der sozialistischen Kultur). Moskau 1972, S. 202-203. 89 Die Bezeichnung Proletkult, ursprünglich Abkürzung für Verband proletarischer kultureller Aufklärungsorgantsationen, wurde somit zum festen Begriff für eine bestimmte kulturtheoretische Richtung. 90 P. K. Bessal'ko: K voprosu o ponimanii proletarskoj kul'tury (Zur Auffassung von der proletarischen Kultur). In: Grjaduscee, 1 (1918), H. 3, S. 3. 91 Kniznik/Karl Ozol'-Prednek/A. M.: God bor'by za proletarskuju kul'turu (Ein Jahr des Kampfes um die proletarische Kultur). In: Grjaduscee, 1 (1918), H. 8, S. 13. 92 P. K. Bessal'ko: Futurizm i proletarskaja kul'tura (Futurismus und proletarische Kultur). In: Grjaduscee, 1 (1918), H. 10, S. 10—12. 93 Zit. nach: N. K. Krupskaja ob iskusstve i literature (N. K. Krupskaja über Kunst und Literatur). Leningrad—Moskau 1963, S. 81. 94 Zit. nach: V. O. Percov: Majakovskij. 2izn' i tvorcestvo. 1918—1924 (Majakowski. Leben und Schaffen. 1918-1924). Moskau 1971, S. 49. 95 A. A. Sidorov: Dva goda russkogo iskusstva i chudozestvennoj dejatel'nosti (Zwei Jahre russische Kunst und künstlerische Tätigkeit). In: Tvorcestvo, 2 (1919), H. 10-11, S. 38-45. 96 Ebenda, S. 39. 97 Anatoli Lunatscharski: Die Revolution und die Kunst. In: Anatoli Lunatscharski: Die Revolution und die Kunst. Essays. Reden. Notizen. Dresden 1962, S. 29. 98 A . A . Sidorov: Dva goda russkogo iskusstva i chudozestvennoj dejatel'nosti (Zwei Jahre russische Kunst und künstlerische Tätigkeit). In: Tvorcestvo, 2 (1919), H. 10-11, S. 42. 99 Ebenda, S. 45. 100 I. E. Grabar': Moja zizn'. Avtobiografija (Mein Leben. Autobiographie). Moskau-Leningrad 1937, S. 274. 218

101 A. A. Sidorov: Dva goda russkogo iskusstva i chudozestvennoj dejatel'nosti (Zwei Jahre russische Kunst und künstlerische Tätigkeit). In: Tvorcestvo, 2 (1919), H. 1 0 - 1 1 , S. 45. 102 V. G. Lidin: Ob iskusstve i o sebe (Über die Kunst und über mich selbst): In: Pisateli ob iskusstve i o sebe. Sbornik (Schriftsteller über die Kunst und über sich selbst. Sammelband). Moskau 1924, S. 128 bis 129. 103 Ebenda, S. 139. 104 Dieter Schiller: Oktober-Land erobern. Dichterische Dokumente zur Zeitenwende des Roten Oktober. In: NDL, 15 (1967), H. 10, S. 191. 105 Wladimir Lidin: Inga. In: Zeitenwende. Die Oktoberrevolution im Spiegel der frühen sowjetischen Prosa. Hg. u. m. e. Vorw. v. Nyota Thun. Berlin und Weimar 1967, S. 446. 106 V. G. Lidin: Ob iskusstve i o sebe (Über die Kunst und über mich selbst): In: Pisateli ob iskusstve i o sebe. Sbornik (Schriftsteller über die Kunst und über sich selbst. Sammelband). Moskau 1924, S. 135, 136. 107 B. A. Pil'njak: Otryvki iz dnevnika (Auszüge aus dem Tagebuch). In: Pisateli ob iskusstve i o sebe. Sbornik (Schriftsteller über die Kunst und über sich selbst. Sammelband). Moskau 1924, S. 83. 108 E . I. Zamjatin: O literature, revoljucii, entropii i procem (Über Literatur, Revolution, Entropie und Sonstiges). In: Pisateli ob iskusstve i o sebe. Sbornik (Schriftsteller über die Kunst und über sich selbst. Sammelband). Moskau 1924, S. 72. 109 Ebenda, S. 74. 110 A. V. Lunacarskij: „Stupeni velikoj lestnicy vremeni . . . " („Stufen auf der großen Zeitleiter. . ."). In: Literaturnaja gazeta v. 2 . 1 2 . 1970. 111 Vgl.: Ju. A. Andreev: Revoljucija i literatura. Otobrazenie Oktjabrja i grazdanskoj vojny v russkoj sovetskoj literature i stanovlenie socialisticeskogo realizma. 20—30e gody (Revolution und Literatur. Darstellung des Oktobers und des Bürgerkriegs in der russischen Sowjetliteratur und Herausbildung des sozialistischen Realismus. 20er—30er Jahre). Leningrad 1969, S. 154—168. — Dieser erste größere Versuch einer neuen kritischen Wertung von Pilnjaks Werk vermittelt interessante Anregungen zu einer vertieften wissenschaftlichen Analyse seines Schaffens und zu dessen Einordnung in den Literaturstrom der zwanziger bis dreißiger Jahre. 112 A. N. Tolstoj: Literaturnye zametki. Zadaci literatury (Literarische Notizen. Aufgaben der Literatur). In: Pisateli ob iskusstve i o sebe. Sbornik (Schriftsteller über die Kunst und über sich selbst. Sammelband). Moskau 1924, S. 12. 113 Ebenda, S. 13. 114 Ebenda, S. 14.

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115 Ebenda, S. 15-16. 116 I. M. Kasatkin: Literaturnye uchaby. Mysli vsluch (Literarische Schlaglöcher. Ausgesprochene Gedanken). In: Pisateli ob iskusstve i o sebe. Sbornik (Schriftsteller über die Kunst und übet sich selbst. Sammelband). Moskau 1924, S. 36. 117 A. Sobol': Kosnojazycny (Stammelnde). In: Pisateli ob iskusstve i o sebe. Sbornik (Schriftsteller über die Kunst und über sich selbst. Sammelband). Moskau 1924, S. 100. 118 Selbstverständlich umfaßt der Beitrag eines Schriftstellers für den literarischen Fortschritt seine gesamte Öffentlichkeitsarbeit — sein Wirken als Dichter, als Theoretiker, als Publizist, als Mensch. Die verschiedenen „Wirkungsfelder" können nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Zwischen ihnen bestehen ständige Wechselbeziehungen — eins befruchtet das andere. Aber letztlich urteilt die Geschichte über einen Schriftsteller nach seinem Werk als dem höchsten Ausdruck seiner Stellung innerhalb der Welt. 119 A. Leznev: Pisateli ob iskusstve i o sebe (Schriftsteller über die Kunst und über sich selbst). Moskau 1924. Rezension. In: Krasnaja nov', 4 (1924), H. 3, S. 321. 120 O chudoáestvennoj politike IZO Narkomprosa (Über die Kunstpolitik der Abteilung für bildende Kunst des Volkskommissariats für Bildungswesen). In: Tvorcestvo, 3 (1920), H. 11-12, S. 28. 121 V. Ja. Brjusov: Vcera, segodnja i zavtra russkoj poézii (Das Gestern, Heute und Morgen der russischen Dichtkunst). In: Pecat' i revoljucija, 3 (1922), H. 4, S. 63. 122 A. K. Voronskij: Iz sovremennych literaturnych nastroenij (Aktuelle literarische Tendenzen). In: Pravda v. 28. 6. 1922. 123 Vgl.: N. K. Gej: Rossija Lenina i Gor'kogo. O tipologii naucnogo i chudozestvennogo myslenija (Das Rußland Lenins und Gorkis. Über die Typologie des wissenschaftlichen und des künstlerischen Denkens). In: Leninskoe nasledie i literatura XX veka. Sbornik statej (Das Leninsche Erbe und die Literatur des 20. Jahrhunderts. Gesammelte Aufsätze). Moskau 1969, S. 179. 124 V. V. Ivanov: Sobranie socinenij v 8 tt. (Gesammelte Werke in 8 Bd.) Bd. 1. Moskau 1958, S. 48. 125 Pisateli. Avtobiografii i portrety sovremennych russkich prozaikov (Schriftsteller. Autobiographien und Porträts der russischen Prosaiker der Gegenwart). Moskau 1926, S. 158. 126 Vgl. : L L 303-307. 127 Vgl.: ebenda, S. 172-173. 128 Helga Gallas: Marxistische Literaturtheorie. Kontroversen im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Neuwied-Berlin 1971, S. 15. - Vgl. auch: S. 210-212.

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129 Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland (1917—1921). Dokumente des Proletkults. Hg. v. Richard Lorenz. Sonderreihe dtv. München 1969, S. 220. — Bezeichnenderweise wurden auch drei „Regierungsdekrete" aufgenommen, allerdings ohne einen Vermerk, daß sie von Lenin unterzeichnet wurden. Das beweist die Unhaltbarkeit der These, daß auf dem Gebiet des Bildungswesens die proletarische Kulturrevolution ohne staatliche Unterstützung realisierbar sei. Hier konnte der Proletkult von Anfang an keine eigenständige Aktivität entfalten. Die unwissenschaftliche Methode, Dekrete der Sowjetmacht und weitere staatliche sowie parteiliche Dokumente mit subjektiven Äußerungen und Programmen einzelner Personen bzw. künstlerischer Organisationen zu vermengen, ist in neuesten Publikationen der BRD verbreitet. Vgl. auch: Dokumente zur sowjetischen Literaturpolitik. 1917—1932. M. e. Analyse v. Karl Eimermacher. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1972. 130 Vgl.: Dekrety Sovetskoj vlasti (Dekrete der Sowjetmacht). Bd. 2. Moskau 1959, S. 468-480. 131 Vgl.: V. V. Gorbunov: Lenin i socialisticeskaja kul'tura. Leninskaja koneepeija formirovanija socialisticeskoj kul'tury (Lenin und die sozialistische Kultur. Die Leninsche Konzeption der Herausbildung der sozialistischen Kultur). Moskau 1972, S. 166—167. 132 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. 3. erg. Aufl. Berlin 1971, S. 339. 133 KPSS v rezoljucijach i resenijach s-ezdov, konferencij i plenumov CK (Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Konferenzen und Plenen des ZK). 3. erg. Aufl. Bd. 1. Moskau 1954, S.423. 134 Ebenda. 135 Vgl.: V. V. Gorbunov: Lenin i socialisticeskaja kul'tura. Leninskaja koneepeija formirovanija socialisticeskoj kul'tury (Lenin und die sozialistische Kultur. Die Leninsche Konzeption der Herausbildung der sozialistischen Kultur). Moskau 1972, S. 182. 136 KPSS v rezoljucijach i resenijach s-ezdov, konferencij i plenumov CK (Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Konferenzen und Plenen des ZK). 3. erg. Aufl. Bd. 1. Moskau 1954, S. 642-643. 137 Vgl.: V. V. Gorbunov: Lenin i socialisticeskaja kul'tura. Leninskaja koneepeija formirovanija socialisticeskoj kul'tury (Lenin und die sozialistische Kultur. Die Leninsche Konzeption der Herausbildung der sozialistischen Kultur). Moskau 1972, S. 305—306, Ferner: Lenin 31, 357-367, und LL 228-229, 334-335. 138 Vgl.: Lenin 32, 114-127. Ferner: LL 242, 244, 261-263. 139 N. K. Krupskaja ob iskusstve f literature (N. K. Krupskaja über Kunst und Literatur). Leningrad-Moskau 1963, S. 89—90.

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140 V. P. Kataev: Novaja ziliscnaja politika (Neue Wohnungspolitik). Moskau 1922. 30 S. — Vgl.: V. P. Kataev: Kak ja pisal knigu Malen'haja ¿¡xle^naja dver' v stene (Wie ich das Buch Die kleine eiserne Tür geschrieben habe). In: W. P. Kataev: Raznoe. Literaturnye zametki, Pottrety, Fel'etony, Recenzii, Ocerki, Fragmenty (Verschiedenes. Literarische Notizen, Porträts, Feuilletons, Rezensionen, Skizzen, Fragmente). Moskau 1970, S. 41-42. 141 A. V. Lunacarskij: Iskusstvo i revoljucija. Sbornik statej (Kunst und Revolution. Gesammelte Aufsätze). Moskau 1924, S. 29. 142 Rezoljucija, predlozennaja A. Bogdanovym na Pervoj Vserossijskoj konferencii Proletarskich kul'turno-prosvetiteFskich organizad) (Von A. Bogdanow auf der Ersten Allrussischen Konferenz der proletarischen kulturellen Aufklärungsorganisationen vorgeschlagene Resolution). In: Literaturnye manifesty ot simvolizma k oktjabrju. Sbornik materialov (Literarische Manifeste vom Symbolismus bis zum Oktober. Materialiensammlung). Moskau 1929, S. 130. 143 Vgl.: LL 220-221. 144 O literature. Sbornik dokumentov (Über Literatur. Dokumentensammlung). Moskau i960, S. 132. 145 Vgl. ausführlich zu dieser Diskussion: V. V. Novikov: Iz istorii bor'by za sozialisticeskuju kul'turu. V. I. Lenin i diskussija o „proletarskoj kul'ture" i Proletkul'te 1922 goda (Aus der Geschichte des Kampfes um eine sozialistische Kultur. W. I. Lenin und die Diskussion um die „proletarische Kultur" und den Proletkult im Jahre 1922). In: Leninskoe nasledie i literatura XX veka. Sb. statej (Das Leninsche Erbe und die Literatur des 20. Jahrhunderts. Gesammelte Aufsätze). Moskau 1969, S. 310-343. 146 N. K. Krupskaja: Proletarskaja ideölogija i Proletkul't (Proletarische Ideologie und Proletkult). In: N. K. Krupskaja ob iskusstve i literature (N. K. Krupskaja über Kunst und Literatur). Leningrad-Moskau 1963, S. 87. 147 Ebenda, S. 86. 148 Clara Zetkin: Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. 3. Auswahl aus den Jahren 1924 bis 1933. Berlin 1960, S. 54. 149 Vgl.: Hermán Ermolaev: Soviet Literary Theories 1917-1934. University of California, Press Berkeley and Los Angeles 1963, S. 2. 150 Ernst Fischer: Kunst und Koexistenz. Hamburg 1966, S. 70. 151 Vgl.: E. Jaroslavskij, Kul'tsefsto v derevne (Kulturelle Patenschaft im Dorf). In: Kommunisticeskaja revoljucija, 4 (1923), H. 9, S. 12—20. Ferner: Lenin 33, 450. 152 Zum 100. Geburtstag W.I.Lenins. Thesen des ZK der KPdSU, Berlin 1970, S. 29.

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153 T. I. Ojzerman: Filosofskoe zavescanie Lenina. K pjatidesjatiletiju raboty O ^nacenii voinstvujuscego materiali^ma (Das philosophische Vermächtnis Lenins. Zum 50. Jahrestag der Arbeit Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus). In: Pravda v. 11. 3.1972. 154 Vgl.: Lenin 33, 215-216. 155 V. Poljanskij: Zlobodnevnye voprosy (Aktuelle Fragen). In: Grjaduscee, 1 (1918), H. 2, S. 1. 156 O. M. Brik: By pravy, tov. Mustakovl (Sie haben recht, Gen. Muschtakowl). In: Iskusstvo kommuny v. 22. 12. 1918. 157 I. K. Luppol: Problema kul'tury v postanovke Lenina (Das Problem der Kultur aus Lenins Sicht). In: Pecat' i revoljucija, 5 (1925), H. 5 - 6 , S. 15, 16. 158 Vgl.: Fedin 262-265. 159 Bernhard Reich: Erinnerungen an das frühe sowjetische Theater. In: Wsewolod E. Meyerhold/Alexander I. Tairow/Jewgeni B. Wachtangow: Theateroktober. Beiträge zur Entwicklung des sowjetischen Theaters. Hg. v. Ludwig Hoffmann u. Dieter Wardetzky. Leipzig 1967, S. 351. 160 Zit. nach: V. V. Gorbunov: Lenin i socialisticeskaja kul'tura. Leninskaja koncepcija formirovanija socialisticeskoj kul'tury (Lenin und die sozialistische Kultur. Die Leninsche Konzeption der Herausbildung der sozialistischen Kultur). Moskau 1972, S. 179. 161 Vgl. den informativen Band: A. M. Toporov: Krest'jane o pisateljach (Bauern über Schriftsteller). 2.erg. u. Überarb. Ausg. Nowosibirsk 1963. 162 Anatoli Lunatscharski: Die Revolution und die Kunst. In: Anatoli Lunatscharski: Die Revolution und die Kunst. Essays, Reden, Notizen. Hg. v. Franz Leschnitzer. Dresden 1962. S. 30. 163 M. Rejsner: Staroe i novoe (Altes und Neues). In: Krasnaja nov', 2 (1922), H. 2, S. 284. 164 A. A. Fadeev: Sobranie socinenij v 5 tt. (Ausgewählte Werke in 5 Bd.). Bd. 4. Moskau 1960, S. 525. 165 Ja. E. El'sberg: Ob issledovanii formoobrazujuscich faktorov i ich sootnosenij (Zur Erforschung der formbildenden Faktoren und ihrer Wechselbeziehungen). In: Problemy chudozestvennoj formy socialisticeskogo realizma (Probleme der künstlerischen Form des sozialistischen Realismus). Teil I. Moskau 1971, S. 157. Vgl. ferner: S. 168. 166 Vgl.: V. V. Ivanov: Idejno-östeticeskie principy sovetskoj literatury. Formirovanie i suscnost' (Ideologisch-ästhetische Prinzipien der Sowjetliteratur. Herausbildung und Wesen). Moskau 1971, S. 18—156. Ja. E. El'sberg: Izmenenija dejstvitel'nosti i razvitie stilej sovetskoj prozy (Veränderungen in der Wirklichkeit und Entwicklung der

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Stile der sowjetischen Prosa). In: Problemy chudozestvennoj formy socialisticeskogo realizma (Probleme der künstlerischen Form des sozialistischen Realismus). Teil I. Moskau 1971, S. 207. A. I. Metcenko: Krovnoe, zavoevannoe. Iz istorii sovetskoj literatury (Das Eigene, Errungene. Aus der Geschichte der Sowjetliteratur). Moskau 1971, S. 128-143. V. Rogovin: Problemy tvorieskogo metoda v idejno-chudozestvennoj bor'be 20-ch godov (Probleme der schöpferischen Methode im ideologisch-künstlerischen Kampf der 20er Jahre). In: Voprosy estetiki. 9. Folge. Moskau 1971, S. 64—65. Vgl. auch die Polemik mit V. Rogovin: A. L. Dymsic: Protiv ustupcivosti v idejno-6steticeskoj bor'be (Gegen Zugeständnisse im ideologisch-ästhetischen Kampf). In: Kommunist, 49 (1972), H. 11, S. 116. 167 Iz literaturnogo nasledija A. V. Lunacarskogo (Aus dem literarischen Nachlaß von A. W. Lunatscharski). In: Noyyj mir, 42 (1966), H. 9, S. 232-233. 168 Vgl.: LLI 629, 713-721. 169 Vgl.: IX 704-719. 170 Bor'ba za realizm v iskusstve 20-ch godov (Der Kampf um den Realismus in der Kunst der 20er Jahre). Moskau 1962, S. 173—174. 171 Ebenda, S. 120. 172 Iz literaturnogo nasledija A. V. Lunacarskogo (Aus dem literarischen Nachlaß von A. W. Lunatscharski). In: Novyj mir, 42 (1966), H. 9, S. 242. 173 Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin. Berlin 1957, S. 16, 17. 174 Clara Zetkin: Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. 3. Auswahl aus den Jahren 1924 bis 1933. Berlin 1960, S. 51. 175 Ebenda, S. 55. 176 KPSS v resoljucijach i resenijach s-ezdov, konferencij i plenumov CK (Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Konferenzen und Plenen des ZK). 3. erg. Aufl. Bd. 1. Moskau 1954, S. 423. 177 A. V. Lunacarskij: O chudozestvennoj politike. Doklad tov. A. Lunacarskogo na zasedanii 4-go vserossijskogo s-ezda rabotnikov iskusstva (Über die Kunstpolitik. Referat von Gen. A. Lunatscharski auf der Sitzung des 4. Allrussischen Kongresses der Kunstschaifenden). In: Izvestija v. 29. 4.1923. 178 Ju. N. Libedinskij: Klassovoe i gruppovoe (Klassengebundenes und Gruppengebundenes). In: Na postu, 1 (1923), H. 4, S. 58. 179 Vgl.: Nejtralitet ili rukovodstvo? K diskussii o politike PKR v chudozestvennoj literature (Neutralität oder Leitung? Zur Diskussion über die Politik der KPR auf dem Gebiet der Literatur). In: Pravda v. 19. 2.1924.

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180 Zit. nach: Voprosy kul'tury pri diktature ptoletariata (Fragen der Kultur unter der Diktatur des Proletariats). Moskau-Leningrad 1925, S. 137-138. 181 Ebenda, S. 64. 182 Ebenda. 183 Ebenda, S. 72. 184 Vgl.: TNSP 3 4 - 3 6 . 185 Voprosy kul'tury pri diktature proletariata (Fragen der Kultur unter der Diktatur des Proletariats). Moskau-Leningrad 1925, S. 114. 186 Ebenda, S. 117-118. 187 Ebenda, S. 139. 188 KPSS v resoljucijach i resSenijach s-ezdov, konferencij i plennumov CK (Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Konferenzen und Plenen des ZK). 3. erg. Aufl. Bd. 2. Moskau 1954, S. 6 3 - 6 4 . 189 L. M. Majskij: O kul'ture, literature i kommunisticeskoj partii (Über Kultur, Literatur und die Kommunistische Partei). In: Zvezda, 1 (1924), H. 3, S. 370-371. 190 Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin. Berlin 1957, S. 17. 191 Vgl.: Nyota Thun: Sowjetische Realismus-Diskussion. In: Weimarer Beiträge, 13 (1968), H. 6, S. 1212, einschließlich Fußnote 8. 192 Vgl.: Bor'ba V. I.Lenina i Kommunisticeskoj partii Sovetskogo Sojuza protiv trockizma (Der Kampf W. I. Lenins und der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gegen den Trotzkismus). Moskau 1970, S. 216-235. 193 Voprosy kul'tury pri diktature proletariata (Fragen der Kultur unter der Diktatur des Proletariats). Moskau-Leningrad 1925, S. 112. 194 É . Ballet/N. Zlobin: Leninskaja teorija kul'turnoj revoljucii i stroitel'stvo kommunizma (Lenins Theorie der Kulturrevolution und der Aufbau des Kommunismus). In: Kommunist, 47 (1970), H. 13, S. 85. 195 Rezoljucija 1-j vsesojuznoj konferencii proletarskich písatelej. Ideologiceskij front i literatura. Po dokladu tov. Vardina (Resolution der Ersten Unionskonferenz der proletarischen Schriftsteller. Ideologische Front und Literatur. Zum Referat des Gen. Vardin). In: Oktjabr', 2 (1925), H. 1, S. 163. Vgl.: V. V. Gorbunov: Lenin i socialisticeskaja kul'tura. Leninskaja koncepcija formirovanija socialisticeskoj kul'tury (Lenin und die sozialistische Kultur. Die Leninsche Konzeption der Herausbildung der sozialistischen Kultur). Moskau 1972, S. 196-201. 196 Ebenda, S. 12. 197 Vgl.: M. V. Frunze: O chudozestvennoj literature (Über die schöngeistige Literatur). In: M. V. Frunze: Sobranie socinenij (Gesammelte Werke). Bd. 3. Moskau 1927, S. 150-157.

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Thun

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198 O politike partii v oblasti chudozestvennoj literatury. Rezoljucija CK RKP (b) ot 18 ijunja 1925 g. (Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der schöngeistigen Literatur. Resolution des ZK der KPR (B) vom 18. Juni 1925). In: O partijnoj i sovetskoj pccati. Sbornik dokumentov (Über die Partei- und Sowjetpresse. Dokumentensammlung). Moskau 1954, S. 343—347. (Hervorhebungen — N. T.) Vgl.: Istorija Kommunisticeskoj Partii Sovetskogo Sojuza (Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion). Bd. 4. 1. Buch. Moskau 1970, S. 389 bis 391. 199 Vgl.: TNSP 29-37. 200 Lenin. Odnodnevnaja literaturnaja gazeta, posvjascennaja pamjati Vladimira Il'ica Lenina (Ul'janova) (Lenin. Literaturzeitung, Sondernummer zum Gedenken an Wladimir Iljitsch Lenin (Uljanow)). Moskau 1924, S. 3, 2. Vgl.: Nyota Thun: Ein Dokument aus den Anfängen der Leniniana. In: Zeitschrift für Slawistik, 15 (1970), H. 4, S. 576-579. 201 Vgl.: Zeitungsbericht über die Rezitation des Lenin-Poems auf der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens am 6. Januar 1925: „Die Genossen dankten Majakowski, der das Lenin-Poem — .unser erstes, bolschewistisches' — geschaffen hat." (NM 600). 202 V. Schklowski/J. Tynjanow u. a.: Sprache und Stil Lenins. Sechs Essays. Hg. u. m. e. Vorw. v. Fritz Mierau. Berlin 1970, S. 11. 203 Ebenda, S. 13. 204 Vgl.: Bertolt Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst. Bd. 1. Berlin-Weimar 1966, S. 307. 205 Vgl.: N. K. Krupskaja: Kul'turnaja revoljucija v svete pjatnadcati let proletarskoj revoljucii (Die Kulturrevolution aus der Sicht von fünfzehn Jahren proletarischer Revolution). In: Bol'sevik, 9 (1932), H. 20, S. 84-96. 206 Gor'kij. Sbornik statej i vospominanij o M. Gor'kom. (Gorki. Sammlung von Aufsätzen und Erinnerungen an M. Gorki). Red. v. I. Grusdew. Moskau-Leningrad 1928, S. 364. 207 A. N. Tolstoj: Polnoe sobranie socinenij (Vollständige Werke). Bd. 13. Moskau 1949, S. 285. 208 V. A. Kaverin, Brat Aleut (Bruder Aleut). In: Vsevolod Ivanov — pisatel' i celovek. Vospominanija sovremennikov (Wsewolod Iwanow — Schriftsteller und Mensch. Erinnerungen von Zeitgenossen). Moskau 1970, S. 32. 209 S.A. Esenin: Sobranie socinenij v 5 tt. (Gesammelte Werke in 5 Bd.). Bd. 4. Moskau 1962, S. 257, 258-259. 210 Ebenda, Bd. 5, S. 227. 211 Ebenda, Bd. 5, S. 237.

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212 D. A. Furmanov: Sobranie socinenij v 4 tt. (Gesammelte Werke in 4 Bd.). Bd. 4. Moskau 1961, S. 287. 213 Vgl.: O. M. Brik: Pocemu ponravilsja Cemtnt? (Warum gefiel Zemcnti). In: Na literaturnom postu, 1 (1926), H. 2, S. 30—32. 214 Dmitri Furmanow: Tschapajew. Das Leben eines Revolutionärs. Berlin 1966, S. 156. 215 A. V. Lunacarskij: Iskusstvo i revoljucija. Sbornik statej (Kunst und Revolution. Gesammelte Aufsätze). Moskau 1924, S. 19. 216 Werner Mittenzwei: Streitschriften für eine neue Funktionsbestimmung der Kunst. Zur ästhetischen Position Friedrich Wolfs. In: Positionen. Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der DDR. Hg. v. Werner Mittenzwei. Leipzig 1969, S. 298. 217 MEW. Ergänzungsband. 1. Teil. S. 583. 218 A. K. Gastev: Kontury proletarskoj kul'tury (Konturen der proletarischen Kultur). In: Literaturnye manifesty ot simvolizma k oktjabrju (Literarische Manifeste vom Symbolismus bis zum Oktober). Moskau 1929, S. 134. 219 A. K. Gastev: Vosstanie kul'tury (Aufstand der Kultur). In: A. Gastev: Poézija raboeego udara (Poesie des Arbeitsschlags). Moskau 1971, S. 263, 264. 220 A. Lunatscharski: Eine Skizze der russischen Literatur während der Revolutionszeit. In: Das heutige Rußland. 1917-1922. Wirtschaft und Kultur in der Darstellung russischer Forscher. Teil II Berlin 1923, S. 58-59. 221 Vermutlich polemisierte Lunatscharski gegen einen Vortrag Gastews, vom 6. 2.1923. - Vgl.: AVL 7, 673. 222 A. V. Lunacarskij: I. Idealism i materializm. II. Kul'tura burzuaznaja, perechodnaja i socialisticeskaja (I. Idealismus und Materialismus. II. Bürgerliche Kultur, Ubergangskultur und sozialistische Kultur). Moskau—Leningrad 1924, S. 207. 223 A. K. Gastev: Poézija raboeego udara. Predislovie k sestomu izdaniju (Poesie des Arbeitsschlags. Vorw. z. 6. Ausg.). Moskau 1971, S. 15. 224 Dsiga Wertow: Aufsätze, Tagebücher. Skizzen. Berlin 1967, S. 55-56. 225 N. Radlow: Die russischen Künste von 1917—1922. In: Das heutige Rußland. 1917-1922. Wirtschaft und Kultur in der Darstellung russischer Forscher. Teil II. Berlin 1923, S. 37. 226 O. M. Brik: Razgrom Fadeeva (Fadeevs Niederlage). In: Novyij Lef, 2 (1928), H. 5, S. 4 - 5 . 227 A. Lunatscharski: Die Revolution und die Kunst. In: A. L.: Die Revolution und die Kunst. Essays. Reden. Notizen. Dresden 1962, S. 27. 228 Rezoljucija 1-j vsesojuznoj konferencii proletarskich pisatelej. Ideologiceskij front i literatura. Rezoljucija po dokladu A. Vardina 15*

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(Resolution der Ersten Unionskonferenz der proletarischen Schriftsteller. Ideologische Front und Literatur. Resolution zum Referat des Gen. Wardin). In: Oktjabr', 2 (1925), H. 1, S. 165. V. P. Polonskij: Lenin ob iskusstve i literature (Lenin über Kunst und Literatur). In: Novyj mir, 3 (1927), H. 11, S. 157. Ja. A. Jakovlev: O dialektike kul'turnogo razvitija i Vardinskom perelozenii A. Bogdanova (Über die Dialektik der kulturellen Entwicklung und die Wardinsche Variante A. Bogdanows). In: Bol'sevik, 2 (1925), H. 11-12, S. 9-19. Redakcija Na postu-. Revizija Leninskoj teorii kul'turnoj revoljucii (Redaktion von Na postu-, Revision der Leninschen Theorie der Kulturrevolution). In: Bol'sevik, 2 (1925), H. 15, S. 66-77. A. N. Slepkov: Zametki citatelja o literatumych teoretikach (Bemerkungen eines Lesers über die Literaturtheoretiker). In: Bol'sevik, 2 (1925), H. 16, S. 58-65. Redakcija Na postu-. Revizija Leninskoj teorii kul'turnoj revoljucii (Revision der Leninschen Theorie der Kulturrevolution). In: Bol'sevik 2 (1925), H. 15, S.75. Ja. A. Jakovlev: O dialektike kul'turnogo razvitija i Vardinskom perelozenii A. Bogdanova (Über die Dialektik der kulturellen Entwicklung und die Wardinsche Variante A. Bogdanows). In: Bol'sevik, 2 (1925), H. 11-12, S. 18. Vgl.: Nyota Thun: Bestimmung der neuen literarischen Methode. In: Weimarer Beiträge, 18 (1972), H. 4, S. 10-32. A. A. Fadeev: Staroe i novoe. II. Chudozestvennaja literatura i voprosy kul'turnoj revoljucii (Das Alte und das Neue. II. Die Literatur und Fragen der Kulturrevolution), In: Literaturnaja gazeta v. 23.10.1932. Protokoll. Sechster Weltkongreß der Kommunistischen Internationale. Moskau, 17. Juli bis 1. September 1928. Vierter Band. Thesen, Resolutionen, Programm, Statuten. Hamburg-Berlin 1929, S. 77. Ebenda, S. 78. Klaus Kandier: Sozialistische Schriftsteller im Kampf gegen die Kulturkrise 1930—1932. In: Aktionen. Bekenntnisse. Perspektiven. Berichte und Dokumente vom Kampf um die Freiheit des literarischen Schaffens in der Weimarer Republik. Hg. u. komm. v. d. Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Berlin-Weimar 1966, S. 192. Clara Zetkin: Ausgewählte Reden und Schriften. 3. Bd. Auswahl aus den Jahren 1924-1933. Berlin i960, S. 307-308. Ebenda, S. 292-293. M. Skrypnik: Die Kulturrevolution in der UdSSR. In: Literatur der Weltrevolution, 1 (1931), Sonderheft, S. 61. 228

241 F. C. Weiskopf auf der Abendsitzung vom 11.11. 1930. In: Literatur der Weltrevolution, 1 (1931), Sonderheft, S. 216. 242 Sekretariat der IVRS. Ergebnisse der 2. internationalen Konferenz proletarischer und revolutionärer Schriftsteller. In: Literatur der Weltrevolution, 1 (1931), Sonderheft, S. 3. 243 Entwurf zu einem Programm des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. In: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland. Eine Auswahl von Dokumenten. Hg. u. komm. v. d. Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. 2. erw. Aufl. BerlinWeimar 1967, S. 389. 244 Vgl. : Nyota Thun : Zur Bestimmung der neuen literarischen Methode. In: Weimarer Beiträge, 18 (1927), H. 4, S. 18-19. 245 Durchbruch der proletarischen Literatur. Bilanz der Charkower Tagung. In: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland. Eine Auswahl von Dokumenten. Hg. u. komm. v. d. Deutschen Akademie der Künste 2. erw. Aufl. Berlin—Weimar 1967, S. 288-294. 246 Johannes R. Becher : Im Zeichen des Menschen und der Menschheit. In: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland. Eine Auswahl von Dokumenten. Hg. u. komm. v. d. Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. 2. erw. Aufl. Berlin — Weimar 1967, S. 689. 247 Vgl.: M. Jowtschuk: Gegenwärtige Probleme des ideologischen Kampfes und der Entwicklung der sozialistischen Ideologie und Kultur. In: Der XXIV. Parteitag der KPdSU und die Entwicklung der marxistisch-leninistischen Theorie. Berlin 1971, S. 19—20.

Personenregister

Aichenwald, Ju. I. (Ajchenval'd, J u . I.) 14 Alexandrowski, W. D. (Aleksandrovskij, V. D.) 90 91 Altmann, N. I. (Al'tman, N. I.) 37 82 154 156 Apsit, P. 101 Armand, Inès 194 Arossew, A. Ja. (Arosev, A. Ja.) 114 Auerbach, L. L. (Averbach, L. L.) 17 163 167 199 Babel, I. E. (Babel', I. Ê . ) 17 75 78 114 117 151 165 167 210 Bachmetjew, W. M. (Bachmet'ev, V. M.) 91 Bagrizki, E. G. (Bagrickij, Ê . G.) 75 151 Becher, Johannes R. 204 Bedny, D. (Bednyj, D.) 71 72 75 169 Beguschewski, W. (Begusevskij, V.) 62 Bely, A. (Belyj, A.) 92 Benjamin, Walter 39 Berdjajew, N. A. (Berdjaev, N. A.) 26 128 Berdnikow, Ja. P. (Berdnikov, Ja. P.) 72 Bespalow, I. M. (Bespalov, I. M.) 10 Bessalko, P. K. (Bessal'ko, P. K.) 75 90 91 93 94 Besymenski, A. I. (Bezymenskij, A. I.) 75 151 163 185 Bloch, Joseph 179 Blok, A. A. 8 10 23 24 35 37 48 49 53-59 62 95 114 115 192 Bogdanow, A. A. (Bogdanov, A. A.) 90 93 94 97 123 132 134 197 209 Bogdanow, S. A. (Bogdanov, S. A.) 156 Brik, L. Ju. 154 Brik, O. M. 38 83 145 153 154 157 184 194 Brjussow, W. Ja. (Brjusov, V. Ja.) 95 112 113 154 182 Bruni, L. A. 38 Bucharin, N. I. 133 135 170 Buddha 50

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Bulgakow, M. A. (Bulgakov, M. A.) 9 Bunin, I. A. 12 13 25 Burljuk, D. D. 80 Burroughs, William 111 Bystrjanskij, W. (Bystrjanskij, V.) 32 Campanella, Thomas 1-87 Chalatow, A. B. (Chalatov, A. B.) Denikin, A. I. Doronin, 1.1.

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26 185

Ehrenburg, I. G. (Érenburg, I. G.) 138 150 194 Eisenstein, S. M. (Éjzenstejn, S. M.) 85 115 200 Engels, Friedrich 53 179 187 Euklid 108 Fadejew, A. A. (Fadeev, A. A.) 8 - 1 2 17 75 112 114 117 151 180 182 183 199 210 Fedin, K. A. 42 57 58 78 114 146 151 179 180-182 Filiptschenko, I. G. (Filipcenko, I. G.) 70 75 France, Anatole 50 51 Frank, S. L. 128 Fritsche, W. M. (Frice, V. M.) 113 Frunse, M. W. (Frunze, M. V.) 171 Furmanow, D. A. (Furmanov, D. A.) 17 75 117 151 182-184 196 210 Gaidar, A. P. (Gajdar, A. P.) 151 Gallas, Helga 92 Gastew, A. K. (Gastev, A. K.) 75 80 89 189-193 195 Gerassimow, M. P. (Gerasimov, M. P.) 70 90 91 165 Gippius, S. N. (Gippius, Z. N.) 13 14 Gladkow, F. W. (Gladkov, F. V.) 11 91 114 167 175 184 193 196 210 Goethe, Johann Wolfgang von 51 61 Gorki, M. (Gor'kij, M.) 13 14 16 17 25 4 2 - 5 5 57 70 71 74 100 109 115 116 167 174 175 180 183 184 188 193 204 210 Gorodezki, S. M. (Gorodeckij, S. M.) 75 157 Grabar, I. E. (Grabar', I. É . ) 104 Grusinow, I. W. (Gruzinov, I. V.) 182 Hauptmann, Gerhart 51 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Heine, Heinrich 54

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Hilferding, Rudolf 203 Hölderlin, Johann Christian Friedrich Homer 204

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Ilf, I. A. (Il'f, I. A.) 75 Issakowski, M. W. (Isakovskij, M. V.) 75 Iwanow, Ws. W. (Ivanov, Vs. V.) 8 17 70 111 114 116 117 165 167 179 180 187 210 Iwnew, R. (Ivnev, R.) 37 Jakobson, R. O. 153 Jakowlew, A. S. (Jakovlev, A. S.) 114 165 Jakowlew, Ja. A. (Jakovlev, Ja. A.) 135-139 167 198 Jessenin, S. A. (Esenin, S. A.) 95 165 181 182 Judenitsch, N. N. (Judenic, N. N.) 26 Jushin (Juzin) 86 Kalidasa 204 Kalinin, F. I. 93 Kalinin, M. I. 52 Kamenski, W. W. (Kamenskij, V. V.) 80 Kasin, W. W. (Kazin, V. V.) 90 91 Kassatkin, I. M. (Kasatkin, I. M.) 106 110 111 Kassatkin, N. A. (Kasatkin, N. A.) 157 Katajew, I. I. (Kataev, I. I.) 75 Katajew, W. P. (Kataev, V. P.) 75 129 165 Kawerin, W. A. (Kaverin, V. A.) 181 Kazman, Je. A. (Kacman, E. A.) 157 Kerenski, A. F. (Kerenskij, A. F.) 97 Kershenzew, P. M. (Kerzencev, P. M. — ders.: V.) 93 Kirillow, W. T. (Kirillov, V. T.) 72 75 90 91 94 165 Kisselis, P. Ju. (Kiselis, P. Ju.) 156 Knishnik-Wetrow, I. (Kniznik-Vetrov, I. — ders.: Kniznik, Intelligent iz naroda) 60-62 93 94 Koltschak, A. W. (Kolcak, A. V.) 26 Kolzow, M. Je. (Kol'cov, M. E.) 165 Kormtschi, L. (Kormcij, L.) 63 Korolenko, W. G. (Korolenko, V. G.) 46 Krupskaja, N. K. 22 34 35 46 67 95 128-130 135 137 179 Krylow, I. A. (Krylov, I. A.) 111 Kuprin, A. I. 14 25 Kuschner, B. A. (Kusner, B. A.) 154

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La Rochefoucauld, François 7 Lawrenjow, B. A. (Lavrenev, B. A.) 117 Lebedew-Poljanski, P. I. (Lebedev-Poljanskij, P. I.) 93 97 Lelewitsch, G. (Lelevic, G.) 163 164 Lenin, W. I. (Lenin, V. I.) 15 18-20 22 23 25 26 28-33 35 36 40-47 505259-6164-67 69 71 85 86 89 9293 96-100 102 107 108 115 119 bis 129 131-135 137-146 154-159166169 171-173 175-178 180 184 bis 190 194 197 198 200 206 207 209 Leonardo da Vinci 104 Leonow, L. M. (Leonov, L. M.) 7 8 114 117 167 177 178 Leshnew, A. S. (Leznev, A. Z.) 112 Libedinski, Ju. N. (Libedinskij, Ju. N.) 114 117 163 Lidin, W. G. (Lidin, V. G.) 105 106 114 115 Ljaschko, N. N. (Ljasko, N. N.) 91 114 192 193 Loginow, I. S. (Loginov, I. S.) 72 Lunatscharski, A. W. (Lunacarskij, A. V.) 10-12 17 19-22 35 37 38 41 48 53 59 67 79 84-89 91 101 102 109 112-114 118 119 129-132 135 137-139 142 148 149 153-158 161 162 167 173 174 177 178 183 bis 186 188 190 195 196 198 Lunz, L. N. (Lune, L. N.) 181 Lwow-Rogatschewski, W. L. (L'vov-Rogacevskij, V. L. — ders. : A.) 175 Maiski, I. M. (Majskij, I. M.) 169 Majakowski, W. W. (Majakovskij, V. V.) 8 - 1 0 17 37-40 79-81 83-86 94 112 113 121 153-155 157 158 175-178 182 194 210 Malaschkin, S. I. (Malaskin, S. I.) 10 Malewitsch, K. S. (Malevic, K. S.) 85 Malkin, B. F. 154 Malyschkin, A. G. (Malyskin, A. G.) 8 17 115 117 187 Mandelstam, O. E. (Mandel'stam, O. É.) 165 Mardshanlschwili, K. A. (Mardzanisvili, K. A. — ders. : Mardzanov) 49 Marx, Karl 19 53 65 142 187 188 Maschirow, A. I. (Masirov, A. I.) — s. Samobytnik Mereshkowski, D. S. (Merezkovskij, D. S.) 13 14 56 148 Meyerhold, W. E. (Mejerchol'd, V . É . ) 37 62 81 84 88 Moor, D. 101 Mozart, Wolfgang Amadeus 81 Nemirowitsch-Dantschenko, W. I. (Nemirovic-Dancenko, V. I.) 86 Newerow, A. S. (Neverov, A. S.) 114 Nexö, Martin Andersen 91 Nikitin, N. N. 114

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Nikulin, L. W. (Nikulin, L. V.) 58 Nisowoi, P. G. (Nizovoj, P. G.) 114 Nowikow-Priboi, A. S. (Novikov-Priboj, A. S.) 91 Odinzow, D. Ja. (Odincov, D. Ja.) 72 Olescha, Ju. K. (Olesa, Ju. K.) 9 75 Paustowski, K. G. (Paustovskij, K. G.) 75 76 Pawlow, I. P. (Pavlov, I. P.) 43 Petrarca, Francesco 50 Petrow, Je. (Petrov, E.) 75 Pilnjak, B. A. (Pil'njak, B. A.) 10 90 91 106 107 109 110 113 114 165 183 Platon 50 Platonow, A. P. (Platonov, A. P.) 75 Pletnjow, W. F. (Pletnev, V. F.) 134-138 197 198 209 Pokrowski, M. N. (Pokrovskij, M. N.) 154 156 Poletajew, N. G. (Poletaev, N. G.) 90 91 Poljanski, W. (Poljanskij, V. — ders.: Lebedev-Poljanskij, P. I.) 144 155 Polonski, W. P. (Polonskij, V. P.) 197 Pomorski, A. N. (Pomorskij, A. N.) 72 Prischwin, M. M. (Prisvin, M. M.) 13 25 165 Pudowkin, W. I. (Pudovkin, V. I.) 200 Punin, N . N . 82-84 Puschkin, A. S. (Puskin, A. S.) 35 94 95 153 170 Rabinowitsch, I. M. (Rabinovic, I. M.) 49 Raffael 94 Rastrelli, Bartolomeo Francesco 94 Reed, John 31 Reich, Bernhard 148 Reisner, L. M. (Rejsner, L. M.) 58 Rembrandt 103 Remisow, A. M. (Remizov, A. M.) 91 180 Richardson, Samuel 51 Rodow, S. A. (Rodov, S. A.) 163 Romanow, P. S. (Romanov, P. S.) 10 115 Sachs, Hans 50 Sadofjew, 1.1. (Sadof'ev, 1.1.) 72 Samjatin, Je, I. (Zamjatin, E. I.) 106-109 113 Samobytnik 70 72 Sasubrin, W. Ja. (Zazubrin, V. Ja.) 117 Sawizki, P. (Savickij, P.) 26

234

Schaginjan, M. S. (Saginjan, M. S.) 165 Scheidemann, Philipp 50 Schklowski, W. B. (Sklovskij, V. B.) 95 Schmeljow, I. S. (Smelev, I. S.) 12 13 Schmidt, Conrad 179 Scholochow, M. A. (Solochov, M. A.) 114 151 182 183 Seemann, Klaus-Dieter 92 Sejfullina, L. N. 111 114 167 177 178 Serafimowitsch, A. S. (Serafimovic, A. S.) 12 13 73 107 117 183 187 196 210 Sharow, A. A. (Zarov, A. A.) 185 Shelley, Percy Bysshe 61 Shukowski, W. A. (Zukovskij, V. A.) 34 Sidorow, A. A. (Sidorov, A. A.) 100-104 Sinowjew, G. E. (Zinov'ev, G. E.) 16 Skrypnik, M. 202 Slonimski, M. L. (Slonimskij, M. L.) 180 Sobol, A. (Sobol*, A.) 111 Sokrates 50 Sologub, F. K. 56 Soschtschenko, M. M. (ZoScenko, M. M.) 74 114 151 165 179 Spengler, Oswald 25 26 Stanislawski, K. S. (Stanislavskij, K. S.) 86 Stepun, F. A. 26 128 Sterenberg, D. P. (Sterenberg, D. P.) 82 154-157 Struwe, P. B. (Struve, P. B.) 14 Suchanow, N. N. (Suchanov, N. N.) 200 Surkow, A. A. (Surkov, A. A.) 151 Swerdlow, Ja. M. (Sverdlov, Ja. M.) 124 Tairow, A. Ja. (Tairov, A. Ja.) 148 Tatlin, W. Je. (Tatlin, V. E.) 194 Taylor, Frederick Winslow 189 Thalheimer, August 203 Tichonow, N. S. (Tichonov, N. S.) 114 151 165 179 Tolstoi, A. N. (Tolstoj, A. N.) 26 27 106 110 113 150 165 Tolstoi, L. N. (Tolstoj, L. N.) 61 95 145 146 178 183 Trenjow, K. A. (Trenev, K. A.) 9 Trotzki, L. D. (Trockij, L. D.) 15 16 135 140 167 170 203 Trubezkoi, N. S. (Trubeckoj, N. S.) 26 Tschechow, A. P. (Cechov, A. P.) 95 183 Tschirikow, Je. N. (Cirikov, E. N.) 13 Tschushak, N. F. (Cuzak, N. F.) 177 235

Uckin, I. P.

185

Vandervelde, Emile Voltaire 51

55

Wardin, I. (Vardin, I.) 163 165-167 196-198 Weiskopf, Franz Carl 203 Wells, Herbert George 50 51 Wertow, D. (Vertov, D.) 193 Wesjoly, A. (Veselyj, A.) 116 117 151 187 Wolnow, I. Je. (Vol'nov, I. E.) 25 114-116 Woronski, A. K. (Voronskij, A. K.) 13 112-114 161 162 164-167 174 184 195 Worowski, W. W. (Vorovskij, V. V.) 51 Wrangel, P. N. (Vrangel', P. N.) 26 Zetkin, Clara 137 159 169 201 Zwetajewa, M. I. (Cvetaeva, M. I.) 14