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German Pages 345 [348] Year 2011
Frank Grunert, Gideon Stiening (Hg.)
Johann Georg Sulzer (1720–1779) Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume
Werkprofile Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts
Herausgegeben von Frank Grunert und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat: Wiep van Bunge, Knud Haakonssen, Marion Heinz, Martin Mulsow, Merio Scattola und John Zammito
Band 1
Diese Reihe versammelt textnahe Interpretationen von umfassenden Werkkomplexen einzelner Philosophen, Wissenschaftler und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Im Fokus stehen Werke von Autoren, die in den Diskussionen ihrer Zeit als Anreger von Innovationen oder als Hersteller von Synthesen eine gewichtige Rolle spielten, ohne dass die Forschung deren Bedeutung bislang hinreichend wahrgenommen hätte. Bei den in den Bänden der Reihe publizierten Analysen geht es um eine genaue Rekonstruktion der internen Strukturen eines Œuvres und der Diskussion seiner theoretischen Leistungen im Kontext des jeweiligen zeitgenössischen Problemhorizontes. In der doppelten Perspektive eines internen wie externen Blicks werden neue sachliche Einzelheiten ebenso aufgedeckt wie die Genese und die Produktivität von Theoriezusammenhängen, wodurch neue Grundlagen für die Erschließung der intellektuellen Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts entstehen.
Frank Grunert, Gideon Stiening (Hg.)
Johann Georg Sulzer (1720–1779) Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume
Akademie Verlag
Abbildung auf S. 5: Anton Graff: Porträt des Philosophen Johann Georg Sulzer aus dem Jahre 1774, Gleimhaus Halberstadt, in: Digitale Bibliothek, Bd. 67, Berlin 2002/2004.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2011 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe. www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: hauser lacour unter Verwendung eines Kupferstichs von B. Picart aus dem Jahre 1728, in: Richard Cumberland: Traité Philosophique des Loix Naturelles. Traduit du Latin par Monsieur Barbeyrac. Amsterdam 1747. Satz: Oliver Bach, München Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.
ISBN 978-3-05-005174-1 eISBN 978-3-05-005712-5
Johann Georg Sulzer (1720‒1779)
Inhaltsverzeichnis FRANK GRUNERT UND GIDEON STIENING
Einleitung: Johann Georg Sulzer – Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume………………… 11
I. ERKENNTNISTHEORIE UND PSYCHOLOGIE UDO THIEL
Sulzer über Bewusstsein im Kontext……………………………………. 21
FALK WUNDERLICH
Johann Georg Sulzers Widerlegung des Materialismus und die Materietheorien der Zeit………………………… 37
GIDEON STIENING
Zur physischen Anthropologie einer »Unsterblichkeit der Seele«………… 57
MARION HEINZ
Johann Georg Sulzer und die Anfänge der Dreivermögenslehre bei Kant……………….….……….…….….….. 83
WERNER EULER
Die Idee des Schönen in Sulzers allgemeiner Theorie des Vergnügens……….….….….……….…….….…101
II. SPRACH- UND KUNSTTHEORIE HANS-PETER NOWITZKI
Denken – Sprechen – Handeln. Johann Georg Sulzers semiotische Fundierung der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste………… 137
ACHIM VESPER
Sulzer über die schönen Künste und das Gute……………………………169
JUTTA HEINZ
»Für Weltleute hinreichend« – Popularästhetik in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste…………………………… 191
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Inhaltsverzeichnis
III. WISSENSCHAFT, GELEHRSAMKEIT UND POPULARPHILOSOPHIE ÉLISABETH DÉCULTOT
Johann Georg Sulzers ›System der schönen Künste‹…………………..... 211
FRANK GRUNERT
Kurzer Begriff statt langer Geschichte. Sulzers Kurzer Begriff aller Wissenschaft im Kontext der Historia literaria des 18. Jahrhunderts……………………… 227
IV. PRAKTISCHE PHILOSOPHIE UDO ROTH
»Kinder ziehen ist ein Werk eines Philosophen«. Johann Georg Sulzers Konzeption von Erziehung im Kontext der Aufklärungspädagogik……………………………….... . 247
DIETER HÜNING
»Diese sehr auffallende Verschiedenheit unter unsern Pflichten«. Johann Georg Sulzers Versuch, Recht und Moral zu unterscheiden……………………………. . 285
HEINER KLEMME
Johann Georg Sulzers ›vermischte Sittenlehre‹. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten…………………………… 309
V. ANHANG Zeittafel………………………………………………………………… 325 Bibliographie…………………………………………………………… 329 Personenregister………………………………………………………… 342
EINLEITUNG
FRANK GRUNERT / GIDEON STIENING
Einleitung Johann Georg Sulzer – Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume
Die Beiträge des nachfolgenden Bandes beschäftigen sich unter einer umfassenden – sowohl analytischen wie synthetisierenden – Perspektive mit dem Werk Johann Georg Sulzers. Nach seiner Übersiedelung nach Berlin und seiner Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften entwickelte sich der Schweizer Mathematiker, Pädagoge und Philosoph zwischen 1750 und 1775 durch seine Beiträge zur Philosophie – vor allem zur Psychologie, Anthropologie und Ästhetik ‒ aber auch zur Wissenschaftstheorie, Mathematik, Ethik und Pädagogik – zu einem der bekanntesten und wirkmächtigsten Theoretiker sowie durch seine Tätigkeit an der Berliner Akademie der Wissenschaften und diverser gelehrter Gesellschaften1 zu einem der prägenden Organisatoren der Aufklärung. Nicht zufällig spricht Immanuel Kant noch in der Kritik der reinen Vernunft von Sulzer als einem der »vortreffliche[n] und nachdenkende[n] Männer« seiner Zeit.2 Schon weit vor der Veröffentlichung seines opus magnum, der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste (1771 bis 1774), zählte Sulzer zur intellektuellen Prominenz des mittleren 18. Jahrhunderts.3 Denn der Berliner Philosoph prägte wichtige Debatten, Kontroversen und Forschungsentwicklungen zwischen 1750 und 1780 insbesondere in Berlin, in dem nach dem Tode Christian Wolffs und parallel zum Wirken Friedrichs II. ein intellektuelles Zentrum der Aufklärung in Deutschland entstand.4 Viele der bedeutenden Autoren des mittleren und ausgehenden 18. Jahrhunderts – neben Kant, Herder, Mendelssohn, Lessing oder Schiller – bezogen
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Vgl. hierzu Conrad Grau: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Eine deutsche Gelehrtengesellschaft in drei Jahrhunderten. Berlin 1993, S. 97–110 sowie James Knowlton: Johann Georg Sulzer and the Montagsklub in Berlin. In: 1650–1850: Ideas, Aesthetics, and Inquiries in the Early Modern Era 8 (2003), p. 135–147. KrV B769. Vgl. hierzu den anschaulichen Beitrag von Johan van der Zande: Johann Georg Sulzer. Spaziergänge im Berliner Tuskulum. In: Ursula Goldenbaum, Alexander Košenina (Hg.): Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien I. Hannover 1999, S. 41–68. Vgl. hierzu die Skizze von Steffen Dietzsch: Johann Georg Sulzer. In: Wolfgang Förster (Hg.): Aufklärung in Berlin. Berlin 1989, S. 265–273; Hartmut Hecht: Das Triumvirat Euler, Maupertius, Merian in den Leibniz-Debatten der Berliner Akademie. In: Alexandra Lewendoski (Hg.): Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004, S. 147–170 sowie David E. Lee: Berlin, Mitte des Jahrhunderts. In: Das achtzehnte Jahrhundert 30 (2006), H. 1, S. 30–47.
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sich entweder ausdrücklich auf Sulzers Arbeiten oder gaben eine große Vertrautheit mit seinen Werken zu erkennen.5 Dieser bedeutenden Stellung in der kulturellen und wissenschaftlichen Landschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts entspricht allerdings der aktuelle Forschungsstand zu Sulzer nicht in Ansätzen. So fehlt es seit Giorgio Tonellis Einleitung und Bibliographie im Zusammenhang seiner Ausgabe der Allgemeinen Theorie der schönen Künste u.a. an einem Forschungsüberblick und damit einer Zusammenführung der weitgehend vereinzelten Forschung.6 Zwar nahm sich die vor allem germanistische Forschung der letzten Jahre sowohl Sulzers ästhetischer Theorie7 als auch einiger seiner Beiträge zur Anthropologie an,8 gleichwohl blieb auch diese Beschäftigung selektiv und ohne größere Reflexionen auf Sulzers gesamtes Wissenschafts- und Philosophieverständnis sowie auf deren Entwicklungsgeschichte und ihre ideengeschichtlichen Kontexte. Der vorliegende Band in seiner Gesamtheit sowie die einzelnen Beiträge zielen daher darauf ab, zum einen den bisherigen Forschungsstand zu sichten und zu bündeln, zum anderen aber jenen Bereich des sulzerschen Œuvres zu bearbeiten, der in den letzten Jahren weitgehend unbeachtet geblieben ist. Bewusst wurde diese Perspektive auf Sulzers Texte in das philosophische Spannungsfeld zwischen Christian Wolff und David Hume gestellt – man kann ihn als kompetenten Naturtheoretiker auch zwischen Carl von Linné, Georges de Buffon und Caspar Friedrich Wolff,9 oder als Ästhetiktheoretiker zwischen Gottlieb Alexander Baumgarten, Georg Friedrich Meier und Immanuel Kant situieren10 –, weil er selbst als natur- und kunstwissenschaftlicher Spezialist von seinen grundlagentheoretischen Prämissen aus reflektiert und systematisch agiert. Diese Grundlagen sind jedoch ontologischer, erkenntnistheoretischer und ethi5
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Vgl. hierzu die beispielhafte Arbeit von Marion Heinz: Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie des jungen Herder (1763−1778). Hamburg 1994 oder auch Maurizio Pirro: Sulzers Physik der Seele und die Dramentheorien Schillers. In: Zeitschrift für Germanistik NF 16 (2006), S. 314–323. Vgl. Giorgio Tonelli: Einleitung und Bibliographie. In: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt. Bd. I (A–D). Mit einer Einleitung von Giorgio Tonelli. Reprografischer Nachdruck der 2. vermehrten Auflage Leipzig 1792. Erster Theil. Hildesheim 1970, S. I*–XVI*. Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten von Élisabeth Décultot: Métaphysique ou physiologie de beau? La théorie des plaisirs de Johann Georg Sulzer (1751–1752). In: Revue Germanique Internationale 4/2006, pp. 93– 106; dies.: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie. Zu Sulzers Untersuchungen über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1751/52). In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 69–88. Dazu zählen insbesondere die Arbeiten von Wolfgang Proß: »Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten.« Johann Georg Sulzer (1720–1779). In: Hellmut Thomke, Martin Bircher, Wolfgang Proß (Hg.): Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770–1830. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 134–148 sowie Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFGSymposion 1992. Stuttgart, Weimar 1994, S. 411–439. Vgl. hierzu jetzt Daniela Gay: Philosophie und empirisch-experimentelle Naturwissenschaften bei Johann Georg Sulzer und Christian Wolff. In: Jürgen Stolzenberg, Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.–8. April 2004. Hildesheim, Zürich, New York 2007, Teil 4, S. 145–158. So bei Kevin F. Hillard: Die ›Baumgartensche Schule‹ und die Strukturwandel der Lyrik in der Gefühlskultur der Aufklärung. In: Achim Aurnhammer, Dieter Martin, Robert Seidel (Hg.): Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung. Tübingen 2004, S. 11–23 sowie jetzt Sandra Richter: A History of Poetics. German Scholar Aesthetics and Poetics in International Context 1770–1960. Berlin, New York 2010, S. 43–49.
Einleitung
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scher Provenienz – und damit philosophischer Natur. Inwieweit diese philosophischen Fundamente mehr einer wolffianischen oder einer humeschen Systematik entsprechen, mithin rationalistisch oder empiristisch sind, wird in den Beiträgen des Bandes kontrovers erörtert. Aus dieser Perspektive lässt sich erkennen, dass Sulzers Texte aus einer der entscheidenden wissenschaftlichen Problemlagen des 18. Jahrhunderts zu verstehen sind und diese substanziell befördern.11 Intellektuell sozialisiert wurde Sulzer schon in der Schweizer Jugendzeit durch die Philosophie Christian Wolffs. In seiner Autobiographie aus dem Jahre 1778, die er mithin kurz vor seinem Tode verfasste, heißt es über seine erste Schulzeit am akademischen Gymnasium – Sulzer ist 16 Jahre alt: Ich besuchte zwar die mir angewiesenen Lektionen der Professoren; aber da sie zum Theil schlecht waren, ich auch gar zu wenig literarische Kenntnisse mitgebracht hatte, so ging mir dabey noch kein Licht auf. Zu Hause trieb ich aus Noth meine Sprachen elend grammatisch, wie ich in der Schule gewöhnt worden, und dieses geschah mit Ekel. Doch las ich zu meiner Erholung Wolf’s Metaphysik.12
Unabhängig von dem nach wie vor eher mäßigen Forschungsstand zu Sulzers intellektueller Biographie13 sowie zur Geschichte des Wolffianismus im 18. Jahrhundert14 macht auch diese autobiographische Notiz noch einmal klar, dass der Wolffianismus zur Zeit Sulzers eine weithin prägende Stellung eingenommen hatte.15 Diese überstieg die engen Grenzen akademischer Forschung und Lehre und selbst noch diejenigen außerakademischer Publikationsorgane, so dass die Bedeutung Wolffs und des Wolffianismus letztlich auch mentalitätsgeschichtlich einzufangen ist.16 Veranschaulichen lässt sich die ideelle und kulturelle Hegemonie des Wolffianismus beispielsweise an Lessings populärer Fabelschrift von 1759; im Zusammenhang einer Verwendung des epistemologischen Begriffs einer »anschauenden Erkenntnis«, die er Wolff entlehnt, heißt es: Die philosophische Sprache ist seit dem unter uns so bekannt geworden, daß ich mich der Wörter anschauen, anschauender Erkenntnis, gleich von Anfange an als solcher Wörter ohne Bedenken habe bedienen dürfen, mit welchen nur wenige nicht einerlei Begriff verbinden.17
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Hans-Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophischen Schemas. Paderborn 1996. Johann Georg Sulzer: Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgesetzt. Mit Anmerkungen von Johann Bernard Merian und Friedrich Nicolai. Berlin, Stettin 1809, S. 13; Hervorhebung von uns; zur prägenden Bedeutung dieser frühen Wolff-Lektüre vgl. schon Friedrich von Blanckenburg: Einige Nachrichten von dem Leben und den Schriften des Herrn Johann Georg Sulzer. Leipzig 1781, S. 13ff. Vgl. die kurzen zusammenfassenden Hinweise bei Guido Naschert: Johann Georg Sulzer (1720–1779). In: Aufklärung 19 (2007), S. 379–382. Vgl. hierzu u.a. Cornelia Buschmann: Wolffianismus in Berlin. In: Wolfgang Förster (Hg.): Aufklärung in Berlin. Berlin 1989, S. 73–101; Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745. Göttingen 2007; Lorenzo Lattanzi: Die populäre WolffRezeption am Beispiel von Moses Mendelssohns Besprechungen in Nicolais Zeitschriften. In: Stolzenberg, Rudoph (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung (s. Anm. 9), Teil 4, S. 125–144. Zu diesem Urteil vgl. schon Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 31973, S. 160ff. Für die 1740er Jahre vgl. die exzeptionelle Studie von Johannes Bronisch: Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus. Berlin, New York 2010. Gotthold Ephraim Lessings Fabeln. Drei Bücher, nebst einer Abhandlung mit der Dichtart verwandten Inhalts. In: ders.: Werke in 8 Bdn. Hg. von Herbert G. Göpfert u.a. München 1970ff., Bd. 5, S. 371.
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Nur an einem weiteren Beispiel soll diese prägende Stellung der wolffschen Philosophie kurz illustriert werden: Niemand anderes als Friedrich II., eigentlich Verächter deutscher Sprache und Kultur und später maßgeblich für die Inthronisation des Empirismus und Materialismus an der Berliner Akademie verantwortlich,18 studiert in Rheinsberg im Jahrzehnt vor seiner Thronbesteigung ausgiebig Christian Wolff; und dabei vor allem dessen Deutsche Metaphysik. Im Zusammenhang dieses Studiums schreibt er im Juni 1737 an Ulrich Friedrich von Suhm: »Welche köstliche Prinzipien sind doch die Sätze des Widerspruchs und des zureichenden Grundes. Sie verbreiten Licht und Klarheit in unserer Seele, auf sie gründe ich meine Urteile […].«19 Selbst Voltaire gegenüber, dem er die Werke Wolffs gar zuschickt, rühmt er dessen deduktive Systematik, »denn seine Sätze folgen mit geometrischer Genauigkeit einer aus dem andern und sind wie die Glieder einer Kette ineinander verschränkt.«20 Für Friedrich besteht offenbar keine Ungereimtheit darin, ebenso Verehrer des Rationalisten Wolff als auch Anhänger des Empiristen Voltaire zu sein; eine Kombination, die von vielen späteren Anthropologen geteilt wird,21 auch wenn sie sich, wie eben Sulzer, statt auf den geschwätzigen Voltaire lieber auf die klareren Locke und Hume beziehen.22 Sulzer hat diese Präferenzen deutlich befördert: Denn immerhin liefert er 1755 die erste deutsche Übersetzung des humeschen Essay concerning human understanding,23 die in den nachfolgenden Jahren intensiv debattiert wurde und u.a. auf Johann Nicolas Tetens,24 Immanuel Kant25 und Friedrich Heinrich Jacobi26 einen erheblichen Einfluss ausübte.27 Annette Meyer arbeitete in ihrer Studie zur Rezeption des englischen Empirismus in der deutschsprachigen Aufklärung heraus, dass nicht nur die Edition, Kommentierung und Bevorwortung, sondern auch – gegen anderweitige Forschungsthesen – die Übersetzung von Sulzer selber zu verantworten war.28 18
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Vgl. hierzu u.a. Barbara Bauer: Die Anfänge der Berliner Academie Royale des Science im Urteil der gelehrten Öffentlichkeit. In: Klaus Garber, Heinz Wismann (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Tübingen 1996, S. 1413–1453 sowie Martin Fontius: Der Ort des »Roi philosophe« in der Aufklärung. In: ders. (Hg.): Friedrich II. und die europäische Aufklärung. Berlin 1998, S. 9–27. Zitiert nach Johannes Kunisch: Friedrich der Große. Der König und seine Zeit. München 2009, S. 93; zum politischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund dieser Lektüre vgl. Bronisch: Mäzen der Aufklärung (s. Anm. 16), S. 72ff. Kunisch: Friedrich der Große (s. Anm. 19), S. 93. Vgl. hierzu u.a. Gideon Stiening: Ein »Sistem« für den »ganzen Menschen« Die Suche nach einer ›anthropologischen Wende‹ und das anthropologische Argument bei Johann Karl Wezel. In: Dieter Hüning, Karin Michel, Andreas Thomas (Hg.): Aufklärung durch Kritik. FS für Manfred Baum. Berlin 2004, S. 113–139. Vgl. hierzu u.a. Klaus P. Fischer: John Locke in the German Enlightenment: An Interpretation. In: Journal of the History of Ideas 36 (1975), p. 431–446; Günter Gawlick, Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987. David Hume: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntnis. Hamburg, Leipzig 1755 [ND Reception of the Scottish Enlightenment in Germany: Six Significant Translations, 1755–1782. 7 vols. Ed. and with introductions by Heiner F. Klemme. Bristol 2000, vol. I]. Manfred Kuehn: Hume and Tetens. In: Hume-Studies XV.2 (1989), p. 365–375. Siehe Wolfgang Farr (Hg.): Hume und Kant. Interpretation und Diskussion. Freiburg, München 1982. Vgl. hierzu u.a. Gottfried Gabriel: Von der Vorstellung zur Darstellung. Realismus in Jacobis »David Hume«. In: Walter Jaeschke, Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004, S. 145–158. Gawlick, Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung (s. Anm. 22), S. 20–22. Annette Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008, S. 215ff.; gestützt wird Meyers These durch Wilhelm Gottlieb
Einleitung
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Meyer verbindet diese philologische These mit der philosophiegeschichtlichen Interpretation, dass diese Publikation keineswegs Ausdruck einer Überzeugungsübernahme darstellt; von einem Erwecken aus ›dogmatischem Schlummer‹ – so Meyer in Anspielung auf Kants Diktum über den Einfluss Humes auf seine Philosophie – könne bei Sulzer nicht gesprochen werden.29 Sieht man sich die Liste der aktiven und passiven Mitglieder der Berliner Akademie der Wissenschaften, der Sulzer seit 1750 angehörte, an, kann es schon erstaunen, dass ausgerechnet ein bekennender Wolffianer dieses Übersetzungsprojekt zu verantworten hatte. Fühlte sich Sulzer auch im Kontext der wissenschaftstheoretischen Debatten der Zeit einfach so sicher, dass er eine öffentliche Auseinandersetzung – d.h. ein kritisches Vorführen des Empirismus30 – meinte wagen zu können, oder sieht er – wie Friedrich II. – keine grundlegenden systematischen Probleme? Der Akademiehistoriker Conrad Grau beschreibt diesen Sachverhalt aus wissenschaftstheoriepolitischer und institutioneller Perspektive folgendermaßen: Er [d.i. Sulzer] erweist sich darin [d.i. in seinen philosophisch-ästhetischen Arbeiten] wie in seinem gesamten Wirken in Berlin als ein Anhänger Christian Wolffs – und damit indirekt auch von Leibniz –, dessen Philosophie er mit der englisch-französischen in Übereinstimmung zu bringen suchte.31
Es ist ebendiese Vermittlungsarbeit zwischen den beiden das 18. Jahrhundert prägenden philosophischen Paradigmata, die Sulzer in die Theoriebewegung zwischen 1740 und 1781 integriert. Er gilt vielen Zeitgenossen und der philosophiegeschichtlichen Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts vor allem als selbstständiger Wolffianer32 und zählt doch – wie auch eine Generation nach ihm Friedrich Nicolai33 oder Gotthold Ephraim Lessing34 – zu den wichtigsten Popularisatoren des britischen Empirismus um die Mitte des 18. Jahrhunderts. In welcher Weise diese Vermittlung vor sich ging und auf welche Wissensfelder sowie Disziplinen sie sich erstreckte, wird in den folgenden Beiträgen behandelt. Wir haben Johann Georg Sulzer noch aus einem weiteren Grund in den kontroversen philosophiegeschichtlichen Kontext zwischen Wolff und Hume gestellt. Denn die Forschung zu Sulzer und der Stellung seiner Texte in der intellektuellen Landschaft der 1740er bis 1780er Jahre – immerhin ist er nahezu 40 Jahre publizistisch präsent – weist einen bislang asymmetrischen Zustand auf. Da ist auf der einen Seite die vor allem in den letzten zehn Jahren intensi-
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Tennemann, der in der Vorrede zu seiner Ausgabe der Übersetzung davon spricht, das der »Verfasser [jener Übersetzung von 1755] der berühmte Sulzer« gewesen sei. Vgl. David Hume: Untersuchungen über den menschlichen Verstand. Neu übersetzt von Wilhelm Gottlieb Tennemann, nebst einer Abhandlung über den philosophischen Scepticismus von Herr Professor Reinhold in Jena. Jena 1793, S. V. Ebd., S. 217f. So Gawlick, Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung (s. Anm. 22), S. 22. Grau: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin (s. Anm. 1), S. 97. Vgl. hierzu schon: Wilhelm Ludwig Gottlob Freyherr von Eberstein: Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik bey den Deutschen von Leibniz bis auf die gegenwärtige Zeit. 2 Bde., Halle 1794, Bd. I, S. 394: »Johann Georg Sulzer wendete nicht nur die Wolfische [sic] Philosophie auf die schönen Künste und Wissenschaften an; sondern entwickelte auch vorzüglich einige psychologische Begriffe, um die Seelenlehre im menschlichen Leben anwendbar zu machen.« Vgl. hierzu Alexander Nebrig: Die englische Literatur in Friedrich Nicolais Übersetzungsprogramm. In: Rainer Falk, Alexander Košenina (Hg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hannover 2008, S. 139– 164. So zu Recht Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 32010, S. 22ff.
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vierte, zumeist germanistische Forschung zu Sulzers Kunsttheorie – verbunden vor allem mit dem Namen Élisabeth Décultot.35 Auf der anderen Seite stehen die erheblich geringere Bearbeitung einiger Positionen Sulzers zur Psychologie und Anthropologie, die von der germanistischen oder kulturwissenschaftlichen Anthropologieforschung geleistet wurde, so von Wolfgang Riedel und Wolfgang Proß.36 Die philosophiegeschichtliche Forschung hat dagegen nach Anton Palme und Marion Heinz – und zwischen diesen Arbeiten liegen immerhin fast 90 Jahre37 – eher selten und dann zumeist nur en passent auf Sulzer Bezug genommen; selbst bei Wolfgang Röd firmiert Sulzer zwischen Wolff und Kant in einer eher unklaren Kontur.38 Das mag im Rahmen einer rationalen Philosophiegeschichte durchaus angemessen sein, im Zusammenhang einer empirischen Ideengeschichte der philosophischen, wissenschaftlichen und literarischen Entwicklungen zwischen Wolff und Kant erweist sich dieser Untersuchungsstatus der Texte Sulzers zur Erkenntnistheorie, zur Ethik, zum Naturrecht, zur Wissenschaftstheorie und zur Ästhetik als unangemessen, nicht nur weil er in viele der oft kontroversen und prägenden Debatten der Aufklärung eingegriffen hatte, sondern weil diese Eingriffe weithin wahrgenommen wurden und Wirkung zeigten. Darüber hinaus ist für eine angemessene Lozierung Sulzers in jene beiden wissenschaftlichen Felder, auf denen er seine bedeutendsten Leistungen erzielte, Psychologie und Ästhetik, eine breitere Rekonstruktion seines gesamten Werkes unerlässlich. Diese kann und muss methodisch sowohl ideen- als auch philosophiegeschichtlich ausfallen.39 Wobei man natürlich nicht nur fragen kann, sondern auch fragen muss, ob eine philosophische Argumentation mit systematischem Anspruch – und ein solcher Anspruch liegt in den Texten Sulzers in eminentem Sinne vor – Kohärenz aufweist oder nicht.40 Doch selbst wenn dies nach eingehender Analyse nicht der Fall ist, bedarf es bei einem Autor wie Sulzer einer ausführlichen kontextualisierenden Erklärung.41 Selbst Halbheiten und Inkohärenzen konnten im Zuge der Entwicklungsprozesse der Philosophie, der Wissenschaften und der Künste des späten 18. Jahrhundert ihre prägende Wirkung erzielen. 35
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Vgl. hierzu u.a. Élisabeth Décultot: Élements d’une histoire interculturelle de l’esthétique. L’exemple de la Théorie générale des beaux-arts de Johann Georg Sulzer. In: Revue germanique internationale 10 (1998), p. 141–160; dies.: Métaphysique ou physiologie de beau? (s. Anm. 7); dies.: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie (s. Anm. 7). Vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden (s. Anm. 8), S. 411–439; Proß: »Meine einzige Absicht« (s. Anm. 8), S. 134–148. Anton Palme: J. G. Sulzers Psychologie und die Anfänge der Dreivermögenslehre. Diss. Berlin 1905; Heinz: Sensualistischer Idealismus (s. Anm. 5), S. 62ff., S. 109ff. u.ö. Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau [Geschichte der Philosophie Bd. 8], München 1984, S. 277–281. Zur methodischen Differenz zwischen einer systematischen Philosophie und einer historischen Ideengeschichte vgl. Dominik Perler: Ein historisch geschärfter Blick auf die Philosophie der frühen Neuzeit. In: Philosophische Rundschau 46 (1999), S. 43–55. Vgl. hierzu u.a. Wolfgang Röd: Fortschritt und Rückschritt in der Philosophiehistorie. In: Rolf W. Puster (Hg.): Veritas filia Temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte. FS für Rainer Specht zum 65. Geburtstag. Berlin, New York 1995, S. 31–43. Zum Verhältnis von Historizität und Systematizität bei der Interpretation philosophiegeschichtlicher Texte vgl. Kurt Flasch: Philosophie hat Geschichte. 2 Bde. [Bd. I: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart; Bd. II: Theorie der Philosophiehistorie] Frankfurt a. M. 2003/05.
Einleitung
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Um diesen unterschiedlichen Aufgaben einer neuen Erarbeitung des Werkes Johann Georg Sulzers gerecht zu werden, wurden die vorliegenden Beiträge vier Sektionen zugeordnet. In einem ersten Abschnitt werden Sulzer Beiträge zur zeitgenössischen Psychologie und Erkenntnistheorie einer philosophiegeschichtlichen Analyse unterzogen und in unterschiedliche Kontexte der Zeit gestellt: So interpretiert Udo Thiel Sulzers Theorie des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins im Kontext der das gesamte 18. Jahrhundert beschäftigenden Bewusstseinstheorien John Lockes und Christian Wolffs. Falk Wunderlich wirft in seinem Beitrag einen Blick auf Sulzers Auseinandersetzung mit den Modellen materialistischer Philosophie, die in den 1770er Jahren an Attraktivität gewannen, und Gideon Stiening weist an einem späten Text Sulzers die Kontinuität der erkenntnistheoretischen Problemstellungen und seiner Auseinandersetzungen mit dem Materialismus bis in die 1770er Jahre nach. Marion Heinz dokumentiert in ihrer minutiösen Rekonstruktion die Entwicklung der Dreivermögenslehre bei Kant in ihrem Bezug auf Distinktionsleistungen Sulzers seit den 1760er Jahren und Werner Euler beschließt diese Sektion mit einer ausführlichen Rekonstruktion der Vergnügenslehre Sulzers vor allem anhand seines frühen Textes Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1751), der erstmalig eingehend in seiner Gänze interpretiert wird. Mit seinen Ausführungen zu Sulzers Idee des Schönen leitet Euler zur zweiten Sektion über, die sich mit der Sprach- und Kunsttheorie des Berliner Philosophen befasst. Hans Peter Nowitzki kann in seiner umspannenden Studie Sulzers Überlegungen zum Sprachursprung und dem Verhältnis von Denken und Sprache in einer Weise vorstellen, die die breite Debatte des 18. Jahrhundert über diese Frage und Sulzers Stellung in dieser Kontroverse präzise dokumentiert. Achim Vesper gelingt es in seinem Aufsatz, Sulzers Theorie des Ästhetischen in ihrer Verbindung zur Moralphilosophie genau zu erfassen und Jutta Heinz schlägt die Brücke zwischen allgemeiner ästhetischer Theorie und der popularphilosophischen Verpflichtung sulzerscher Theoriebildung. Die Beiträge der dritten Abteilung zeigen, dass Sulzer neben seinen Spezialisierungen in den Bereichen der Psychologie und Erkenntnistheorie einerseits sowie der Ästhetik andererseits auch Forschungsinteressen im Hinblick auf eine allgemeine Ordnung alles menschlichen Wissens verfolgte. Sowohl sein Versuch, die Künste in einem System vorzustellen, das auf eine allgemeine philosophische Konzeption zurückgeht, wie Élisabeth Décultot in ihrem Beitrag zeigt, als auch Sulzers energisches und höchst erfolgreiches Arbeiten auf dem wissensorganisatorischen Feld der historia literaria, das Frank Grunert vorstellt, zeigen den Berliner Philosophen als exzeptionellen Generalisten. Mit der vierten und letzten Sektion, die Sulzers praktische Philosophie thematisiert, wird erneut eine terra incognita der philosophie- und ideengeschichtlichen Erforschung des Sulzerschen Œuvres betreten. Denn dessen Bemühen in der pädagogischen Theorie und Praxis, das Udo Roth ausführlich im Spannungsfeld zwischen säkularen und theologischen, wolffianischen und kantianischen Konzepten sowie zwischen allgemeiner Theorie und besondere Praxis vorstellt, wurde seit Jahrzehnten nicht mehr bearbeitet. Sulzer Naturrechtskonzeption gar, die Dieter Hüning im Kontext der kontroversen zeitgenössischen Debatten rekonstruiert, wurde bislang überhaupt noch nicht betrachtet; gleiches gilt für Sulzers Ethik, die von Heiner Klemme abschließend in die Entstehungsgeschichte der praktischen Vernunft Kants loziert wird.
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Frank Grunert, Gideon Stiening
Insgesamt entwerfen die Beiträge neue Perspektiven auf Werk und Person Johann Georg Sulzers, dessen Leistungen und Grenzen die geistesgeschichtliche Entwicklung des mittleren 18. Jahrhunderts beispielhaft dokumentiert. Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im Februar 2009 mit großzügiger Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung im Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung an der Martin-Luther-Universität in Halle/Saale stattgefunden hat. Für die wertvollen praktischen und administrativen Hilfen vor, während und nach der Tagung sei an dieser Stelle den Sekretärinnen Christine Peter und Kornelia Grün sowie der Mitarbeiterin Caroline Hahn (Halle/Saale) ganz herzlich gedankt. Zu danken ist auch Ronny Edelmann (Halle/Saale) für vielfältige Hilfe sowie Oliver Bach (München), der sich mit Geduld und Umsicht der Druckvorlage angenommen hat. Oliver Bach und Julia Röthinger (München) haben zudem an der Erstellung von Bibliographie und Namenverzeichnis erheblichen Anteil. Schließlich gilt ein letzter Dank dem Akademie Verlag – d.h. dem Verlagsleiter Prof. Dr. Heiko Hartmann und dem Lektor Dr. Mischa Dammaschke –, die sich nicht nur für unseren Sammelband zu Johann Georg Sulzer eingesetzt haben, sondern auch, und zwar mit ermutigendem Enthusiasmus, für die Reihe Werkprofile, deren erster Band hiermit vorgelegt werden kann. München und Halle/Saale, im Frühjahr 2011
I.ERKENNTNISTHEORIE UND PSYCHOLOGIE
UDO THIEL
Sulzer über Bewusstsein im Kontext
Gottlob Ernst Schulze, heute hauptsächlich bekannt für seine Kritik an Kant und Reinhold, beginnt seine Psychische Anthropologie von 1816 (dritte Auflage 1826) mit einem Kapitel oder ›Lehrstück‹ über das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein. Dort erwähnt er zwei Autoren, deren Beiträge zu diesem Thema ihm besonders wichtig erscheinen. Er schreibt: Viele gute Beobachtungen über den Inhalt des Selbstbewußtseyns und über den Einfluß der Helligkeit desselben aufs Leben, sind enthalten in einer Abhandlung Merian’s Ueber die Apperception, in der Histoire de l’Acad. R. de Berlin Tom. V. (deutsch in Hißmann’s Magazin für die Philosophie B. 1) und in einem Aufsatze Sulzer’s, Von dem Bewußtseyn, in dessen vermischten Schriften B. 1.1
Es mag einigermaßen überraschen, dass zur Hochzeit des Deutschen Idealismus die heute in der philosophischen Diskussion kaum bekannten Johann Bernhard Merian (1723–1807) und Johann Georg Sulzer (1720–1779) als die wichtigsten Autoren zum Thema hervorgehoben werden. Schulzes Einschätzung ist aber durchaus verständlich und rechtfertigbar. Er sieht in Merian und Sulzer zwei ihm geistig verwandte Denker, die sich um ein zentrales Lehrstück der empirischen Psychologie verdient gemacht haben. Auch die Tatsache, dass er Sulzer mit Merian in Verbindung bringt, ergibt bei genauerer Betrachtung einen Sinn, denn sie haben einiges gemeinsam. Beide sind Schweizer in Berlin, die, fast gleichaltrig, ab 1750 in der Königlichen Akademie der Wissenschaften tätig sind und die folglich auch in den Jahrbüchern der Akademie ihre Aufsätze publizieren. Philosophisch kommen beide von Wolff her, über den sie allerdings auch hinausgehen; beide verarbeiten empiristische Ansätze der britischen Philosophie und beschäftigen sich insbesondere mit David Hume, ohne freilich dessen Skeptizismus zu akzeptieren; und beide treten sogar durch Übersetzungen von Humes Schriften hervor (Merian ins Französische, Sulzer ins Deutsche).2 Schließlich publizieren beide, wie schon durch das 1 2
Gottlob Ernst Schulze: Psychische Anthropologie. Göttingen ¹1816, S. 20 (³1826, S. 33). Vgl. hierzu etwa John Christian Laursen: Swiss Anti-skeptics in Berlin. In: Martin Fontius, Helmut Holzhey (Hg.): Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Berlin 1996, S. 261–282. Gustav Zarts Einschätzung ist durchaus richtig, wenn er schreibt: »Sulzer war zuerst Wolffianer und wurde später Eklektiker; aber alle seine Schriften verrathen vielfach den Einfluss der Engländer.« (Gustav Zart: Einfluss der englischen Philosophen seit Bacon auf die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts. Berlin 1881, S. 105f.) Zweifelhaft ist aber Zarts These, der gemäß der »Einfluss der Engländer« nur als leichte Modifikation des wesentlichen Wolffianismus’ Sulzers zu betrachten ist. Man wird, so Zart, »die ganze Denkweise Sulzers als
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Schulze-Zitat evident ist, Aufsätze zum Bewusstseinsbegriff, die in der Folgezeit in der empiristisch-psychologisch orientierten Philosophie aufgenommen werden. Aus dem Schulze-Zitat geht jedoch nicht oder nur sehr andeutungsweise hervor, dass es auch wichtige Unterschiede zwischen den beiden Denkern gibt. Merian ist deutlich Wolffkritscher als Sulzer und analysiert die relevanten begrifflichen Unterscheidungen detaillierter und präziser. Beispielsweise unterscheidet Merian im Gegensatz zu Sulzer sorgfältig zwischen Apperzeption als Selbstbewusstsein und Apperzeption als Bewusstsein von Ideen.3 Sulzer konzentriert sich dagegen mehr als Merian auf die Anwendung oder den ›Einfluss‹, den das von ihm in bestimmter Weise aufgefasste Bewusstsein auf andere Aspekte des geistigen Lebens hat. Sulzers Ausführungen zum Bewusstseinsbegriff sind nicht Selbstzweck. Obwohl sie Teil einer »Physik der Seele« sein sollen, die uns in das »Innere der Seele einzudringen« erlaubt und die die »Festsetzung eines richtigen Systems zur Absicht« hat,4 ist diese Physik doch auf praktischen Nutzen hin angelegt. So hofft Sulzer in seiner Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes nicht nur einen Beitrag zu jener Seelenphysik als System zu liefern, sondern gleichzeitig Grundsätze der Kunst an die Hand zu geben, sich »der Tyrannei der Leidenschaften« zu widersetzen.5 Trotz dieser praktischen Orientierung sind Sulzers Thesen für die »Festsetzung eines [...] Systems« relevant; sie werden zwar von ihm nicht immer argumentativ entwickelt, aber sie lassen sich zumindest in einigen Fällen als Argument rekonstruieren und im philosophischen Kontext der Zeit bestimmen. Dabei soll es hier nicht nur um die Aufdeckung dieses Kontextes gehen, um die verschiedenen Aspekte von Sulzers Bewusstseinskonzeption erläutern zu können, sondern vor allem auch darum, diese auf ihre innere Konsistenz hin zu prüfen. Nach dem Gesagten ist offensichtlich, dass der relevante Kontext nicht nur Wolff und empiristische Ansätze betrifft, sondern auch die kritische Diskussion Wolffs in Deutschland, beispielsweise in der Gestalt Merians – obwohl Sulzer ihn in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Merian hat seine Aufsätze zum Bewusstseinsbegriff bereits 1751 in den Jahrbüchern der Akademie publiziert,6 also deutlich vor Sulzer, auch wenn man berücksichtigt, dass Sulzer Von
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eine fast durchweg wolffianische bezeichnen können, die von psychologischen, moralischen und ästhetischen Lehren der Engländer nur Ergänzung oder Bestätigung erhält.« (Ebd., S. 111). Vgl. zu Merians Bewusstseinskonzeption Udo Thiel: Between Wolff and Kant: Merian’s Theory of Apperception. In: Journal of the History of Philosophy 34 (1996), p. 213–232. Johann Georg Sulzer: Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile. In: ders.: Vermischte Philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/1781 [ND Hildesheim 1974], Bd. 1., S. 199–224, hier S. 199f. Im Folgenden VS, Band, Seitenzahl. Johann Georg Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe, sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe urtheilet und handelt. In: VS 1, S. 99–121, hier S. 100. Johann Bernhard Merian: Mémoire sur l’apperception de sa propre existence. In: Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres. Année 1749. Berlin 1751, p. 416–441. ders.: Mémoire sur l’apperception considerée relativement aux idées. In: Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres. Année 1749. Berlin 1751, p. 442–477. Die deutschen Übersetzungen befinden sich in dem auch bei Schulze erwähnten, von Michael Hißmann herausgegebenen Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte 1 (1778), S. 89–194. Vgl. zu den Texten Merians und ihren Übersetzungen Thiel: Merian’s Theory of Apperception (s. Anm. 3).
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dem Bewußtseyn bereits zehn Jahre vor der ersten, französischen Publikation der Berliner Akademie vorgetragen hat.7
1. Bewusstsein und Selbstbewusstsein Die Komplexität des Kontextes wird schon an Sulzers Definition von ›Bewusstsein‹ deutlich. In dem von Schulze zitierten Aufsatz heißt es: Die Philosophen verstehen durch das Wort Bewußtseyn (apperceptio) diejenige Handlung des Geistes, wodurch wir unser Wesen von den Ideen, welche uns beschäfftigen, unterscheiden, und also deutlich wissen, was wir thun und was in uns und um uns vorgeht.8
Diese Definition ist in ihrer Knappheit durchaus reichhaltig. Der Hinweis auf »die Philosophen« deutet darauf hin, dass es Sulzer nicht darum geht, eine neue Definition von ›Bewusstsein‹ einzuführen, sondern der Tradition zu folgen; bei dieser handelt es sich vor allem um Wolff und seine Schule. Als erstes ist die keineswegs triviale Gleichsetzung des Bewusstseinsbegriffs mit dem von Leibniz herkommenden Begriff der Apperzeption bemerkenswert. Diese Gleichsetzung wird auch durch den Titel der französischen Fassung von Sulzers Aufsatz nahegelegt, wo nicht von ›la conscience‹, sondern von ›l’apperception‹ die Rede ist. An anderer Stelle bezieht sich Sulzer aber ausdrücklich auf Descartes und lateinisch ›conscientia‹. Die Apperzeption sei das, sagt Sulzer in den Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, »was Descartes Bewußtseyn nennt«.9 Dieser Bezug auf Descartes und Leibniz geht offensichtlich auf Wolffs Bestimmung der Apperzeption in seiner Psychologia empirica zurück. Apperzeption, verstanden als Bewusstsein von Perzeptionen, wird von Wolff dort auf Leibniz’ ›l’apperception‹ und Descartes’ ›conscientia‹ bezogen.10 Schon diese terminologischen Überlegungen deuten auf systematische Fragen hin, insbesondere dann, wenn man Wolffs Deutsche Metaphysik hinzuzieht, mit der sich Sulzer bereits recht früh vertraut gemacht hat.11 Denn ›apperceptio‹ und der in der Deutschen Metaphysik gebrauchte
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Der Aufsatz erschien ursprünglich in französischer Sprache als: Sur l’apperception, et son influence sur nos jugemens. In: Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres. Année 1764. Berlin 1766, p. 415–434. Eine Anm. auf p. 415 weist darauf hin, dass es zehn Jahre her sei, dass dieses Mémoire vor der Akademie vorgetragen wurde. Sulzer: Von dem Bewußtseyn (s. Anm. 4), S. 200. Johann Georg Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, in so fern sie mit den Eigenschaften der Materie eine Ähnlichkeit haben, zur Prüfung des Systems des Materialismus. In: VS 1, S. 348–376, hier S. 351. Sulzer spricht auch von »dem Zustande der Apperception, oder des klaren Bewußtseyns […] wie es Descartes nennte« (ebd., S. 367). »Apperceptionis nomine utitur Leibnitius: coincidit autem cum conscientia, quem terminum in praesenti negotio Cartesius adhibet«. Christian Wolff: Psychologia empirica. In: ders: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École. Abt. 2, Bd. 5. Hildesheim 1978 (Nachdruck d. Ausg. Frankfurt und Leipzig 1738), § 25. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. [Deutsche Metaphysik] In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École. Abt. 1, Bd. 2. Hildesheim 1983. Blanckenburgs Biographie Sulzers kommentiert dessen Lektüre der Deutschen Metaphysik; vgl.
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Terminus ›Bewusstsein‹ sind für Wolff nicht synonym. Der Begriff des Bewusstseins ist weiter als der der ›apperceptio‹ in der empirischen Psychologie. Während die Apperzeption sich nur auf die jeweils eigenen Perzeptionen bezieht, also ausschließlich durch Selbstbezüglichkeit charakterisiert ist, kann sich Bewusstsein, so scheint es, auch direkt auf äußere Gegenstände beziehen.12 »Wir sind uns unserer und anderer Dinge bewust«, sagt Wolff, diese Aussage drücke eine unmittelbare und »ungezweifelte Erfahrung« aus.13 Nur in dem innengerichteten Sinn von ›Bewusstsein‹ also ist dieses mit ›apperceptio‹ equivalent.14 Merian übersetzt Wolffs ›Bewusstsein‹ als ›l’apperception‹ und zeigt dadurch, dass für ihn ›Apperzeption‹ eine weitere Bedeutung hat, die Wolffs Bewusstsein, also auch den Gegenstandsbezug, einschließt.15 Sulzer folgt vor allem insofern Wolffs Deutscher Metaphysik, als er Bewusstsein durch die Handlung des Unterscheidens bestimmt. Denn in der oben zitierten Definition heißt es ja, Bewusstsein sei »diejenige Handlung des Geistes, wodurch wir unser Wesen von den Ideen, welche uns beschäfftigen, unterscheiden«.16 Diese Unterscheidungshandlung scheint er zunächst im Sinne von Wolffs apperceptio rein selbstbezüglich aufzufassen, sie betrifft nur das Ich (»unser Wesen«) und unsere Ideen. Aber dann heißt es, durch diese Unterscheidungshandlung zwischen Ich und Ideen wüssten wir (1) von unseren Handlungen (»was wir thun«), (2) von dem, was wir innerlich erleiden oder passiv erfahren (»was in uns […] vorgeht«), und (3) von äußeren Ereig-
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Christian Friedrich von Blanckenburg: Einige Nachrichten von dem Leben und den Schriften des Herrn Johann Georg Sulzer. Leipzig 1781, S. 13. Wolff: Psychologia empirica (s. Anm. 10), § 25. Auch Lewin Salomon unterscheidet zwischen ›Bewusstsein‹ und ›apperceptio‹ bei Wolff. Allerdings besteht der Unterschied laut Salomon darin, dass ›apperceptio‹ eine Handlung ist, ›Bewusstsein‹ aber ein Zustand. Die Frage danach, ob Bewusstsein nach innen oder nach außen gerichtet ist, wird von Salomon nicht diskutiert. Lewin Salomon: Zu den Begriffen der Perzeption und Apperzeption von Leibniz bis Kant. Bonn 1902, S. 44f. Vgl. auch Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 11), § 5: »Wir erfahren unwidersprechlich, daß wir uns unserer und anderer Dinge bewust sind«, und ebd., § 1: »Wir sind uns unserer und anderer Dinge bewust, daran kann niemand zweifeln, der nicht seiner Sinnen vollständig beraubet ist.« Zur Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Erfahrung vgl. ebd., § 251. Das innengerichtete Bewusstsein bezieht sich nach Wolff nicht nur auf Perzeptionen, sondern auch auf das Selbst als das Ding oder Wesen, das denkt und sich bewusst ist. Wenn Wolff davon spricht, dass »wir uns unserer selbst und anderer Dinge bewusst sind« (Deutsche Metaphysik [s. Anm. 11], § 5); wird ›wir selbst‹ analog zu ›anderen Dingen‹ verstanden. Andernorts behauptet Wolff ausdrücklich, dass »die Seele [...] sich ihrer und was in ihr vorgehet, bewust« sei. (Christian Wolff: Der Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École. Abt. 1, Bd. 3. Hildesheim 1983 [Nachdruck d. Ausg. Frankfurt 1740] § 263). Allerdings fasst er das Bewusstsein unseres eigenen Selbst nicht als unabhängigen Akt auf – es hänge vielmehr von bestimmten anderen mentalen Tätigkeiten ab. Vgl. hierzu Udo Thiel: Zum Verhältnis von Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein bei Wolff und seinen Kritikern. In: Jürgen Stolzenberg, Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. Hildesheim 2007, Teil 2, S. 377–390. Merian: Mémoire sur l’apperception de sa propre existence (s. Anm. 6), S. 437–439. Da Merian den Begriff der Apperzeption in einem weiten Sinne verwendet, spricht er manchmal von der Apperzeption von äußeren Objekten. Diese Verwendung von ›Apperzeption‹ ist aber unvereinbar mit seinem offiziellen Verständnis davon, worauf die Apperzeption sich bezieht: auf das eigene Ich, auf unsere Ideen und auf unsere Handlungen (Merian: Mémoire sur l’apperception considerée relativement aux idées [s. Anm. 6], p. 419). Genaugenommen dürfte Merian nur sagen, dass sich die Apperzeption auf unsere Ideen von äußeren Objekten bezieht. Sulzer: Gedanken (s. Anm. 9), S. 200.
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nissen und Gegenständen (was »um uns vorgeht«). Es ist nicht unmittelbar einsichtig, warum wir durch die Unterscheidungshandlung zwischen Ich und Ideen ein Wissen von dem erlangen können sollen, »was um uns vorgeht«; aber dies lässt sich durch Sulzers bekannte, als innovativ geltende und für sein Denken zentrale Unterscheidung zwischen Idee bzw. Vorstellung einerseits und Empfindung anderseits erläutern. Denn eine Vorstellung oder Idee ist nach Sulzer nicht auf uns selbst bezogen, sondern auf das, »was um uns vorgeht«, sie ist wesentlich gegenstandsgerichtet. In den Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet beschreibt Sulzer das Vermögen, sich etwas vorzustellen, als das Vermögen, »die Beschaffenheiten der Dinge zu erkennen«.17 Beim Vorstellen, das auf das Erkennen der Dinge abzielt, so Sulzer in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste, »sind wir uns einer Sache bewust, die wir als etwas von uns selbst … verschiedenes ansehen«.18 Dagegen sei die Seele bei der Empfindung »bloß mit sich selbst beschäfftiget«,19 »wir fühlen allein uns selbst«.20 Zwar übe die Seele »gemeinglich […] diese beyden Vermögen zugleich aus«, aber dennoch könne und müsse man zwischen ihnen unterscheiden.21 Jedenfalls ist für Sulzer durch das Bewusstsein von Ideen oder Vorstellungen ein Gegenstandsbezug des Bewusstseins gegeben. Auf das Verhältnis von Sulzers Bestimmung des Bewusstseinsbegriffs zu seiner Unterscheidung zwischen Vorstellungen und Empfindungen wird unten noch einzugehen sein. Sulzer nimmt demnach einen Gegenstandsbezug des Bewusstseins an, aber die Unterscheidungshandlung, von der er spricht, bezieht sich auf das Ich und die Ideen, »welche uns beschäftigen«.22 Wolffs Analyse beginnt dagegen mit einer Unterscheidungshandlung, die sich auf Gegenstände bezieht: »Wir finden [...], daß wir uns alsdenn der Dinge bewust sind, wenn wir sie voneinander unterscheiden«, heißt es in der Deutschen Metaphysik.23 Wolff zeigt, dass wir beim Unterscheiden der Gegenstände voneinander uns dieser Unterscheidungshandlung bewusst werden, und dadurch auch unserer selbst als etwas von den Gegenständen, derer wir uns bewusst sind, Unterschiedenes. Wären wir uns nicht äußerer Gegenstände bewusst, dann gäbe es auch keinen mentalen Akt des Unterscheidens, dessen wir uns bewusst werden könnten, und also, so argumentiert Wolff, könnten wir uns nicht unserer selbst bewusst werden.24 Nun be17
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Johann Georg Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet. In: VS 1, S. 225–243, hier S. 225. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Neue vermehrte zweyte Auflage. Leipzig 1792 [ND: Mit einer Einleitung von Giorgio Tonelli. Hildesheim 1970, 21994], Bd. 4, S. 408. Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 17), S. 229f. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 18), Bd. 4, S. 408. Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 17), S. 225. Sulzer: Von dem Bewußtseyn (s. Anm. 4), S. 200. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 11), § 729. Vgl. zum Folgenden ausführlich Thiel: Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein bei Wolff (s. Anm. 14). Vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 11), § 730: »Wenn wir an die Würckungen der Seele nicht gedencken, die sich in ihr ereignen, und uns dadurch von denen Dingen, die wir gedencken, unterscheiden; so sind wir auch unserer nicht bewust«. Vgl. auch Christian Wolff: Psychologia rationalis. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École. Abt. 2, Bd. 6. Hildesheim 1972 (Nachdruck d. Ausg. Frankfurt und Leipzig 1740), § 12.
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deutet Wolffs Argumentation allerdings, dass wir ohne Selbstbewusstsein auch kein Bewusstsein von äußeren Gegenständen haben würden. Denn der Akt des Unterscheidens impliziert für ihn ein Bewusstsein von dieser Handlung und damit auch von dem Subjekt dieser Handlung.25 Mit anderen Worten: Das Bewusstsein ist für Wolff zugleich subjekt- und objektbezogen. Entsprechendes gilt für Sulzer, auch wenn er diese These nicht eigens nach wolffscher Manier begründet. Denn Bewusstsein ist laut Sulzer durch einen doppelten Selbstbezug (auf das Ich und die Ideen) und mittels der Ideen durch einen Gegenstandsbezug gekennzeichnet. Sulzer führt es zwar nicht aus, aber nach seiner Konzeption sind beim Bewusstsein zwei Unterscheidungshandlungen involviert: 1) die zwischen Ich und Ideen, 2) die zwischen dem, was »in uns« ist, und dem, was »um uns« ist. Darüber hinaus knüpft Sulzer ähnlich wie Wolff das Bewusstsein an die Aufmerksamkeit.26 In der Zergliederung des Begriffs der Vernunft heißt es, die Aufmerksamkeit »läßt uns eine Idee, oder Vorstellung von jeder andern, dem Geiste zugleich gegenwärtigen, unterscheiden«.27 Auch hier führt Sulzer wieder einen Innen-Außen Kontrast ein: es gibt einerseits Aufmerksamkeit, »welche wir auf unsere Gedanken richten« und Aufmerksamkeit, die sich auf das, »was uns umgiebt«, bezieht.28 Sulzers zweifache Unterscheidung zwischen Ich und Ideen bzw. mentalen Handlungen einerseits und zwischen Ich und Außenwelt andererseits kommt in folgendem Passus aus Von dem Bewußtseyn deutlich zum Ausdruck: Das Bewußtseyn setzet also auf der einen Seite die klare Idee von sich selbst, und von dem, was man thut, voraus, da sich indessen auf der andern Seite der Verstand noch mit irgend einer andern Sache beschäfftiget, welche er als ausser sich und von seinem Wesen unabhängig betrachtet. In diesem Falle sehen wir uns also als das Wesen an, welches wirket, welches sich mit etwas beschäfftiget, welches eine von ihm selbst verschiedene Sache behandelt.29
Sulzer bringt hier den Begriff der Voraussetzung ins Spiel, aber es ist nicht klar, wie das zu verstehen ist, denn Bewusstsein soll nach seiner Definition dasjenige sein, wodurch wir das Ich 25
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Nach Wolff wird der Unterschied zwischen uns und anderen Dingen unmittelbar erkannt, sobald wir Bewusstsein von Gegenständen haben: »Dieser Unterscheid aber zeiget sich so gleich, so bald wir uns der anderen Dinge bewust sind […] dieses Unterscheiden ist eine Würckung der Seele, und wir erkennen demnach dadurch den Unterscheid der Seele von denen Dingen, die sich vorstellet, und die sie unterscheidet« (Wolff: Deutsche Metaphysik [s. Anm. 11], § 730). Vgl. hierzu ausführlich Thiel: Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein bei Wolff (s. Anm. 14). Für Wolff bedarf das Bewusstsein der Überlegung oder Reflexion. Um Gegenstände voneinander unterscheiden zu können, müssen wir sie miteinander vergleichen; und eine Vielheit von Gegenständen miteinander zu vergleichen wird von Wolff Überlegung bzw. Reflexion genannt (Wolff: Deutsche Metaphysik [s. Anm. 11], § 733). Aufmerksamkeit ist für Wolff das Vermögen, sich derart auf bestimmte Gedanken zu beziehen, dass diese Gedanken klarer als andere Gedanken werden (ebd., § 373; Psychologica empirica [s. Anm. 10], § 257). Johann Georg Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft. In: VS 1, S. 244–281, hier S. 253. Sulzer: Von dem Bewußtseyn (s. Anm. 4), S. 200. Sulzer lässt sich allerdings nicht nur über die Wirkungen der Aufmerksamkeit aus, sondern auch über deren Ursachen. Unterschiedliche Ursachen bringen unterschiedliche Arten von Aufmerksamkeit mit sich. Es gibt erstens eine »erzwungene« Aufmerksamkeit, die durch »die vorzügliche Stärke, womit uns gewisse Ideen rühren«, verursacht wird (Beispiel Schmerz); und es gibt »die durch Deutlichkeit der Vorstellung verursachte Aufmerksamkeit«. Diese erwecke das Nachdenken und mache Unterscheidungshandlungen möglich (Sulzer: Zergliederung [s. Anm. 27], S. 253f.). Sulzer: Von dem Bewußteyn (s. Anm. 6), S. 201.
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von den Ideen allererst unterscheiden, es kann daher nicht die Idee vom Ich ›voraussetzen‹. Jedenfalls ist bemerkenswert, dass der Ich-Bezug durch das Bewusstsein an dieser Stelle als ein solcher des Vorstellens bezeichnet wird. Denn es ist von der »klaren Idee von sich selbst« die Rede, und wenig später von der »Vorstellung von uns selbst«.30 Schon an diesem Punkt könnte man fragen, wie dieser Gedanke mit Sulzers offizieller Unterscheidung zwischen Vorstellen und Empfinden vereinbar ist. Denn gemäß dieser soll sich das Vorstellen wesentlich auf etwas vom Ich Verschiedenes beziehen, während das Empfinden rein selbstbezüglich ist.31 Man könnte verteidigend darauf hinweisen, dass es sich lediglich um eine terminologische Ungenauigkeit handele. Aber selbst wenn das der Fall sein sollte, treten andere Schwierigkeiten auf, wie noch zu zeigen sein wird. Zunächst ist ein Aspekt von Sulzers Selbstbewusstseinsbegriff zu untersuchen, durch den sich dieser sowohl von dem Wolffs als auch von dessen Kritikern wie Merian unterscheidet und durch den Sulzers Ansatz voraus weist auf die empirischen Psychologien der Folgezeit.
2. Selbstbewusstsein und Leiblichkeit Sulzers Position ist mit Blick auf Wolff und dessen Kritiker keineswegs eindeutig. Was die Bestimmung des Bewusstseins durch die Unterscheidungshandlung betrifft, folgt Sulzer bei allen Differenzen im Detail Wolff und nicht Merian oder Andreas Rüdiger. Für diese hat das Bewusstsein Priorität gegenüber dem Unterscheiden. Wir müssten uns der Gegenstände oder der Vorstellungen bewusst sein, um sie voneinander unterscheiden zu können, nicht umgekehrt.32 Auch was den beim Selbstbezug involvierten Gegenstandsbezug betrifft, folgt Sulzer eher Wolff als Merian. Für diesen gilt, dass die Seele, auch wenn sie ganz für sich existierte, ohne Welt, so dass sie sich von nichts unterscheiden könnte, sich ihrer selbst bewusst wäre.33 Aber Sulzer distanziert sich nicht nur von Wolff, sondern auch von Merian, indem er argumentiert, dass das Selbstbewusstsein notwendigerweise einen Leibbezug involviert.
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Ebd., S. 201. Später übernimmt Michael Hißmann prinzipiell diese Unterscheidung unter ausdrücklichem Verweis auf Sulzer, ohne aber die Empfindung rein selbstbezüglich und die Vorstellung rein gegenstandsbezüglich aufzufassen. Hißmann schreibt, er »theile gleich zu Anfang alle Modifikationen unsers innern Sinnes mit den neuern Philosophen […] in innere Gefühle, d. h. in Modifikationen der inneren Organen, die mit keinem merklichen Vergnügen und Mißvergnügen verbunden sind, und innere Empfindungen ein, d. h. in Veränderungen des innern Sinns, die von merklichen Graden von Lust oder Unlust begleitet werden. Herr Sulzer hat in einigen seiner Abhandlungen, die in den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, und in seinen Vermischten Philosophischen Schriften stehen, einige vortrefliche Anmerkungen über diese Lehre.« Michael Hißmann: Psychologische Versuche. Frankfurt, Leipzig 1777, S. 106f.; vgl. auch Christoph Meiners: Kurzer Abriß der Psychologie. Göttingen, Gotha 1773, S. 12–14. Meiners verweist allerdings nicht auf Sulzer. Zu Hißmann und Meiners vgl. Udo Thiel: Varieties of Inner Sense. Two Pre-Kantian Theories. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), p. 58–79. Vgl. hierzu Thiel: Merian’s Theory of Apperception (s. Anm. 3). Vgl. ebd.
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Denn für Sulzer ist das Selbstbewusstsein nicht nur wie bei Wolff auf Gegenstandsbewusstsein angewiesen, sondern auch (1) auf die Wirklichkeit äußerer Gegenstände (Körper) und (2) auf die dem Subjekt oder der Seele eigene Leiblichkeit. Sulzer sagt, daß die Seele sich nicht anders als vermittelst des Körpers und einer gewissen Wirkung, welche andere Körper auf das Nervensystem haben, empfinde; und daß sie keine absolute Idee von sich selbst habe, weil sie sich nicht anders empfinden kann, als wenn sie sich mit andern Dingen vergleicht. Die Seele würde also ohne die materialische Welt nichts anders als eine todte Kraft seyn, die in einer ewigen Unwirksamkeit bleiben würde.34
Diese These, dass »die Seele ohne die Beyhülfe der körperlichen Organen keine klaren Vorstellungen, und kein Bewußtsein ihres Daseyns haben kann«,35 scheint von Sulzer nicht eigens begründet zu werden. Dennoch lässt sich zeigen, warum Sulzer dies behauptet. Zum Selbstbewusstsein bedarf es der Vorstellungen von anderen Dingen,36 ohne diese gäbe es für das Ich gar nicht die Möglichkeit, sich von anderen Dingen zu unterscheiden. Vorstellungen anderer Dinge können wir aber nicht ohne die Mitwirkung körperlicher Organe haben. Also ist auch das Selbstbewusstsein von der Existenz körperlicher Organe abhängig. Und daher kann Sulzer sagen, dass wir die Idee, die wir von uns selbst haben, »vermittelst der Sinne« erhalten.37 Dies bedeutet auch, dass die Vorstellung vom Ich (d.h. hier der Seele) durch eine unmittelbar bloß auf die Seele bezogene reflexive Handlung nicht möglich ist. Sie bedarf der Vermittlung der Sinne und damit der je eigenen Leiblichkeit. Unser Körper, den wir »auch uns selbst nennen«, sei »beständig und […] wesentlich mit unsrer Existenz verbunden«.38 Der »Aktus des Selbstbewußtseyns«39 setze die Existenz anderer Körper und die eigene Leiblichkeit voraus und sei auf diese bezogen. Für Sulzer gilt, dass ohne die »Wirksamkeit der körperlichen Organen […] die Seele sogar das Bewußtseyn ihres eigenen Daseyns verliert«.40 Ähnliche Gedanken zur wesentlichen Leibbezogenheit des Selbstbewusstseins finden sich in den 1770er Jahren, also nach dem Erscheinen des französischen Originals von Sulzers Bewusstseinsaufsatz, in den empirisch ausgerichteten Anthropologien bzw. Psychologien etwa von Ernst Platner, Michael Hißmann und Christoph Meiners.41 Sulzer unterscheidet sich hier wie 34
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Sulzer: Von dem Bewußtseyn (s. Anm. 4), S. 202f. Vgl. dazu auch Sulzers ›Abhandlung über die Unsterblichkeit‹: »Es scheint, wirklich, als ob man es, wie eine Thatsache, annehmen müsse, daß die Seele nichts empfinden, nichts wahrnehmen, und sich keine klare Vorstellungen, so gar von ihrer eigenen Existenz nicht, als durch die Vermittelung des Körpers, machen könne. Wenn sie dieses Werkzeuges ihrer Kenntnisse beraubt wäre: so würde sie, Trotz ihrer Immaterialität, ein Wesen ohne Leben seyn« (Johann Georg Sulzer: Ueber die Unsterblichkeit der Seele. In: VS 2, S. 1–86, hier S. 1). Sulzer: Gedanken (s. Anm. 9), S. 373. Ebd., S. 352: Die Tätigkeit der Seele »setzt also klare Vorstellungen voraus; und wenn diese uns mangeln, so ist sie natürlicher Weise unwirksam, weil es ihr an Materie, oder an Gegenständen fehlt, mit welchen sie sich beschäfftigen könnte«. Sulzer: Von dem Bewußtseyn (s. Anm. 4), S. 201. Ebd., S. 201f. Sulzer: Gedanken (s. Anm. 9), S. 366. Ebd., S. 365. In seiner Anthropologie von 1772 führt Ernst Platner das Bezugnehmen auf den eigenen Leib als wesentliche Bedingung von Selbstbewusstsein an. Vgl. Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Leipzig 1772 [ND Hildesheim 2000], § 193f., S. 54f.; § 200, S. 56. Zu Platners Bewusstseinskonzeption vgl. Udo Thiel: Das »Gefühl Ich«: Ernst Platner zwischen Empirischer Psychologie und Transzendentalphiloso-
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diese sowohl von Wolff als auch von Denkern wie Merian. Für Wolff ist »in dem Zustande deutlicher Gedancken […] die Seele ihrer und dessen, was sie gedencket, bewust«;42 und die Seele kann sich in einem solchen Zustande sowohl mit als auch ohne Leib befinden: »In dem Untergange des Leibes … [ist] gar kein Grund vorhanden, warum sie etwas verlieren sollte, was sie bereits hat«.43 Die Seele erhält »den Zustand ihrer Person auch nach dem Tode des Leibes«.44 Noch deutlicher, und weniger auf Leben und Tod als auf Denknotwendigkeiten abzielend, argumentiert Merian, dass die Apperzeption der eigenen Existenz absolut fundamental sei, sie werde von jeder anderen Erkenntnis vorausgesetzt, sie selbst könne hingegen keinem einzigen vorhergehenden Gedanken untergeordnet sein.45 Die Apperzeption oder das Bewusstsein der eigenen Existenz sei vielmehr der erste Akt und der wesentliche Akt eines denkenden Wesens, als eines denkenden Wesens.46 Das heißt, dass für Merian das Selbstbewusstsein weder von anderen Dingen abhängig ist, noch durch die eigene Leiblichkeit bedingt wird. Sulzers These von der Leiblichkeit des Subjekts und dessen Selbstbezüglichkeit bedeutet jedoch nicht, dass er die Seele und die seelischen Kräfte in ihrer Existenz als vom Körper abhängig ansieht, als etwas, das nicht ohne den Körper existieren könnte. Sulzer sagt, daß die Wirkungen des Verstandes, in so fern er sich deutliche Begriffe machet, und nach den Regeln des vernünftigen Denkens handelt, weder von den Sinnen noch von der Organisation des Körpers abhängen, sondern zum Wesen der Seele selbst gehören.47
Zwar sei uns die tätige Natur der Seele durch das Bewusstsein vertraut,48 aber für die Tätigkeit der Seele sei ein Bewusstsein davon nicht erforderlich. Sulzer argumentiert, »daß die Thätigkeit unsrer Seele von der Apperception, oder von dem was Descartes Bewußtseyn nennt, unabhängig ist, und daß die Seele ihre Energie haben kann, wenn sie sich auch gar keiner Empfindung bewußt ist«.49 Hieraus wird bereits deutlich, dass das Bewusstsein für Sulzer von kontingenter Natur ist. Bewusstsein und Selbstbewusstsein kommen (anders als nach Merian) der Seele nicht notwendig zu. Die Seele könne unabhängig vom Körper und vom Selbstbewusstsein fortdau-
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phie. In: Aufklärung 19 (2007), S. 139–161. Vgl. zu Hißmann und Meiners Thiel: Varieties of Inner Sense (s. Anm. 31), spez. p. 72–74. Der Gedanke einer Leibbezogenheit des Bewusstseins war natürlich nicht ganz neu, auch wenn dieser nicht wie bei Sulzer verstanden und begründet wurde. Nach Locke, auf den letztlich die gesamte Selbstbewusstseinsdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts zurückgeht, bezieht sich das Bewusstsein nicht nur auf mentale Handlungen, sondern auch auf den Leib und die äußeren Handlungen des leiblichen Subjekts. Vgl. beispielsweise John Locke: An Essay concerning Human Understanding. Ed. by P. H. Nidditch. Oxford 1979, Buch II, Kap. 27, §§ 11 u. 17. Vgl. ausführlich hierzu Udo Thiel: Lockes Theorie der personalen Identität. Bonn 1983, S. 167–173. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 11), § 926. Ebd., § 925. Ebd., § 926. Merian: Mémoire sur l’apperception de sa propre existence (s. Anm. 6), p. 434. Ebd., p. 434. Sulzer: Von dem Bewußtsein (s. Anm. 4), S. 222. Vgl. auch Sulzer: Gedanken (s. Anm. 9), S. 354, wo es heißt, die Seele sei ein »thätiges Wesen«, das »unabhängig von den Einwirkungen der materiellen Welt, in sich selbst Kräfte besitzt, vermittels derer sie sich bestrebt, die empfangenen Ideen durch neue Verhältnisse einzuschränken, und dadurch ihren eigenen Zustand zu verändern«. »Wenn wir auf das, was in uns vorgeht, genau Acht haben, so können wir überzeugt werden, daß wir thätige Wesen sind. Wir fühlen eine Kraft, eine Energie in uns, welche sich beständig bestrebt, in uns oder außer uns eine Veränderung hervorzubringen« (Sulzer: Gedanken [s. Anm. 9], S. 349).
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ern. Sulzer betont, es sei der Fehler der Materialisten, dass sie aus der Unwirksamkeit der Organe auf die Nicht-Existenz der Seele schließen. Das »aufgehobene Selbstbewußtseyn« sei »noch keine gänzliche Nichtthätigkeit«.50 »Der Aktus des Selbstbewußtseyns« sei nur eine »gewisse Art«, in der sich die Tätigkeit der Seele äußere, aber keineswegs die einzige. Die »Äußerung der Kraft« schließe »nicht nothwendig den Aktus des Selbstempfindens« mit ein.51 »Man sieht also«, schließt Sulzer, »daß das klare Bewußtseyn unsrer selbst nur ein zufälliger Zustand der Seele ist. Sie kann desselben beraubt seyn, ohne daß sie deswegen aufhört thätig zu seyn, oder zu existieren«.52 Weder Gegenstands- noch Selbstbewusstsein ist für die Existenz des aktiven, denkenden Subjekts erforderlich. Bei diesem Gegensatz von Bewusstsein als kontingentem Zustand und als notwendiger Eigenschaft der Seele (also Sulzer gegen Merian) ist allerdings zu beachten, dass für Merian das Selbstbewusstsein ein bloßes Existenzbewusstsein ist, während Sulzer es für ein konkretes, empirischen Bewusstsein hält, das Leiblichkeit und, wie wir gleich sehen werden, die raum-zeitliche Situiertheit des Subjekts einschließt und daher veränderbar ist. Daher kann Sulzer auch von einer mehr oder weniger vollständigen Idee vom Ich sprechen. Auch dies ist ein Gedanke, der in der Folgezeit in den empirischen Psychologien, etwa von Michael Hißmann und Christoph Meiners, aufgenommen wird.
3. Unvollständigkeit der Idee vom Ich Sulzer unterscheidet zwischen der vollständigen Idee vom Ich und einer abstrakten, inhaltsleeren »Vorstellung von unserem Daseyn überhaupt«.53 Letztlich ist dieser Unterschied für ihn jedoch graduell zu verstehen. Eine absolut vollständige Idee vom Ich sei nicht möglich, sondern es gebe nur mehr oder weniger unvollständige Ideen. Je unvollständiger die Idee vom Ich sei, desto mehr nähere sie sich der bloß abstrakten »Vorstellung von unserem Daseyn überhaupt« an. Sulzer argumentiert wie folgt. Alle Ideen von individuellen Dingen sind unvollständig.54 Die Idee vom Ich ist eine Idee von einem individuellen Ding.55 Also ist die Idee vom Ich unvollständig. Für die erste Prämisse spreche, dass ein jedes Individuum nicht nur durch das bestimmt sei, was sein inneres Wesen ausmacht, sondern auch durch seine Beziehungen zu anderen Dingen. So »gehöret nothwendig zur vollständigen Idee von jedem Individuo eine unendli-
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Ebd., S. 351. Ebd., S. 366. Vgl. zum »aufgehobenen Selbstbewußtseyn« auch ebd., S. 351, und Sulzer: Von dem Bewußtsein (s. Anm. 4), S. 201. Ebd., S. 367f. Es sei durch die Erfahrung erweislich, dass »die Seele […] bisweilen wirkt, wenn sie nicht in dem Zustande der Apperception, oder des klaren Bewußtseyns ist, wie es Descartes nennte« (ebd., S. 367). Man könne Vorstellungen empfangen, »ohne sich ihrer bewußt zu seyn, weil sie mit einem so schwachen Eindrucke in die Seele kommen« (ebd., S. 368). Ebd. S. 368. Vgl. auch: »Hieraus ist klar, daß weder das klare Bewußtseyn unsrer selbst, noch die klare Vorstellung dessen, was außer uns ist, zu unserm thätigen Daseyn erfordert wird« (ebd., S. 368). Sulzer: Von dem Bewußtsein (s. Anm. 4), S. 222. Ebd., S. 206. Ebd., S. 207.
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che Menge von Dingen, welche es nach allen seinen Verhältnissen bestimmen«,56 und alle »diese Besonderheiten und tausend andere gehören zu der vollständigen Idee dieses Individuums. Daraus erhellet, daß wir keine vollständige Idee von einem einzigen Individuo haben.«57 Daher sagt Sulzer schließlich über die Idee vom Ich: Nun muß man bemerken, daß die Idee von uns selbst, welche zum Bewußtseyn gehöret, da es die Idee von einem Individuo ist, nothwendig sehr unvollständig seyn muß. Wir sehen uns niemals mit allen den Bestimmungen, welche unsre Individualität ausmachen.58
Sulzer versucht dann durch Beispiele zu zeigen, dass die Idee, die man von sich selbst hat, so unvollständig werden kann, »daß sie sich fast in einen allgemeinen Begriff verwandelt«.59 Wenn jemand nach einem Unfall aus der Ohnmacht erwache und die Klagen der Umstehenden zwar perzipiert, aber nicht gewahr wird, dass sie sich auf ihn beziehen, dann bedeute dies: »Er hatte in diesem Augenblicke nicht die geringste Kenntniß von seinem äußern Zustande, er wußte nicht, wo er war, oder vielmehr war ihm die Idee von dem Orte, wo er sich befand, gar nicht beygekommen«.60 Hier drohe die Idee von uns selbst »allzu unvollständig«61 zu sein, so dass sie fast zu einer allgemeinen Idee werde.62 Nach Sulzer gehört zum Selbstbewusstsein also auch ein Gewahrsein der raum-zeitlichen Position des Ich, ein Bewusstsein »von seinem äußern Zustande«.63 Für ihn wird demnach »das Bewußtseyn durch die Verschiedenheit der Sinne und durch sinnliche Empfindungen, die Umstände des Ortes und der Personen in sich schließen, vollständiger und deutlicher«.64 Gegen eine Konzeption, wonach Selbstbewusstsein als bloßes Existenzbewusstsein gedacht wird, wendet Sulzer ein: Hätten wir nur undeutliche und auf wenige Umstände sich beziehende sinnliche Empfindungen, die nichts anders als die Vorstellung von unserm Daseyn überhaupt hervorbringen könnten, so würde unser ganzes Leben ein beständiger Traum seyn; und es würde fast nichts in unsern Gedanken seyn, das mit der Wirklichkeit der Dinge dieser Welt übereinstimmte.65
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Ebd., S. 206. Ebd., S. 207. Ebd. Ebd., S. 208. Ebd., S. 209. Ebd., S. 211. Ebd., S. 210. Ebd., S. 211. Ebd., S. 219. Ebd., S. 222. Wie oben angedeutet übernimmt Michael Hißmann diese Gedanken vom empirischen, raum-zeitlich situierten Selbstbewusstsein und der unvollständigen Idee vom Ich. »Die Idee von uns selbst ist, wenn wir sie am deutlichsten haben, noch immer sehr unvollständig, weil sie die Idee von einem Individuum ist, das nach allen seinen Verhältnissen durchaus bestimmt ist […]. Daher wird diese Idee oft so unvollständig, daß sie fast in eine allgemeine Idee verwandelt wird.« Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 31), S. 111. Hißmann verweist in diesem Zusammenhang auf Sulzer: »Sulzer hat einige von den merkwürdigern Zuständen auseinander gesetzt, davon der allermerkwürdigste das Nichtbewußtsein seines äußern Zustandes ist« (ebd., S. 112). Auch Christoph Meiners bezieht sich auf Sulzer, wenn er in seinem ›Grundriß der Seelenlehre‹ davon spricht, dass das Gefühl der Person wandelbar sei und auch ganz verschwinden könne (Christoph Meiners: Grundriß der Seelenlehre. Lemgo 1786, S. 16f.).
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4. Bewusstsein von der Einheit und Identität des Ich Sulzers Konzeption des Selbstbewusstseins bezieht sich auch auf die Einheit und diachronische Identität des Ich oder der Seele. Er behauptet – wie viele andere empiristische Denker seiner Zeit, die sich vom Materialismus distanzieren wollen –, dass die Einheit und Unteilbarkeit der Seele durch das Selbstbewusstsein unmittelbar erwiesen sei. In den Gedanken über einige Eigenschaften der Seele heißt es beispielsweise: Denn alle Menschen werden darinnen einig seyn, daß wir unser Selbst nicht anders empfinden, als wie ein einziges untheilbares Wesen, und wenn dasselbe selbstthätig wirkt, wir keine Idee von Zusammensetzung und Vielheit dabey haben.66
Für die Einheit und Unteilbarkeit des Ich oder der Seele gebe es also ein »Zeugniß der Erfahrung«. Der »innern Empfindung« widerspreche nichts so sehr, »als […] [eine] Mehrheit in uns empfindender Wesen« (die nach Sulzer der Materialismus annehmen muss).67 Daraus sei zu »schließen, daß die Seele eine Einheit, ein untheilbares Wesen ist«.68 Sulzer spricht in diesem Zusammenhang nicht nur von »Selbstbewußtseyn«, sondern auch von »Selbstempfindung«, ohne zwischen diesen Ausdrücken zu unterscheiden.69 Dies ist bemerkenswert insofern, als bei ihm, wie erwähnt, auch von einer Idee oder Vorstellung des Ich die Rede ist70 und er allgemein zwischen Vorstellung und Empfindung genau zu unterscheiden sucht. Dies verweist wieder auf die Frage des Verhältnisses von Sulzers Bewusstseinskonzeption zu seiner Unterscheidung von Empfinden und Vorstellen, auf die unten noch zurückzukommen sein wird. Es gäbe zu Sulzers höchst problematischer Argumentation, nach der die Immaterialität der Seele durch ein (angeblich bei allen Menschen vorhandenes) Gefühl von Einheit und Unteilbarkeit erwiesen sei, einiges zu sagen, insbesondere aus der Perspektive des Materialismus. Sie wirft aber auch Fragen auf, die die innere Konsistenz seines Denkens betreffen. Wir sahen, dass es nach Sulzer ohne Leiblichkeit, ohne »Wirksamkeit der körperlichen Organen« kein Selbstbewusstsein geben könne.71 Wenn Selbstbewusstsein aber wesentlich auf die Leiblichkeit angewiesen und bezogen ist, dann fragt sich, wie ich mich dennoch als unteilbares Wesen empfinden können soll. An dieser Stelle knüpfen spätere materialistisch orientierte Empiristen wie Michael Hißmann an. Hißmann übernimmt von Sulzer die Idee der Leibbezogenheit des Selbstbewusstseins, lehnt aber konsistenterweise die These ab, dass das Selbstbewusstsein ein Gefühl vom Ich als einem unteilbaren, immateriellen Wesen enthalte.72 66 67 68 69
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Sulzer: Gedanken (s. Anm. 9), S. 364. Ebd., S. 365. Ebd. Sulzer gebraucht den Ausdruck »Aktus des Selbstbewußtseyns« und auf der folgenden Seite in offensichtlich gleichbedeutender Weise »Aktus des Selbstempfindens« (Sulzer: Gedanken [s. Anm. 9], S. 366– 367). Ebenfalls in gleicher Bedeutung wird hier der Ausdruck ›Apperception‹ gebraucht. Vgl. ebd. Sulzer spricht auch von dem »Vermögen«, »sein eigenes Daseyn wahrzunehmen« (ebd., S. 365). Sulzer: Von dem Bewußtseyn (s. Anm. 4), S. 201. Sulzer: Gedanken (s. Anm. 9), S. 365. Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 31), S. 112. Zu Sulzers Argument gegen den Materialismus, das sich darauf stützt, dass die Materie nur untätig und leidend sei, sagt Hißmann knapp: »Falsche Voraussetzungen; falsche Folgerungen« (ebd., S. 271).
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Nach Sulzer hat der Materialismus aber ein Problem bezüglich der diachronischen Identität.73 Denn, so Sulzer, »nach dem System des Materialisten ist die Seele während einer tiefen Ohnmacht ganz nichtthätig [...] sie ist gar nicht«.74 »Demnach«, so schreibt er weiter, »wenn der Mensch aus der tiefen Ohnmacht wieder zu sich kommt, wird also die Seele von neuem hervorgebracht«.75 Das bedeutet, dass »die Seele, welche aus diesen neuerweckten Bewegungen itzt resultirt, ein von neuem hervorgebrachtes Wesen« sei.76 Folgt man also den Materialisten, müssten wir es nach dem Erwachen aus solchen Ohnmachtszuständen mit einer anderen Person zu tun haben als vorher. Auch gegen diese angebliche Konsequenz des Materialismus bringt Sulzer das Selbstbewusstsein ins Spiel. Hier benutzt er einen seit der Mitte der 1760er Jahre vielfach verwendeten Terminus, ›Selbstgefühl‹, der von ihm jedoch nicht seinem Gehalt nach von ›Selbstempfindung‹ und ›Selbstbewusstsein‹ unterschieden wird.77 Sulzer behauptet, dass die Konsequenz, die man aus der materialistischen Position ziehen müsse, diesem »unserm Selbstgefühl gänzlich zuwider« sei, »welches uns unwidersprechlich bezeugt, daß wir nach der Ohnmacht noch das nämliche Wesen, das nämliche Selbst sind, das wir vorher waren«.78 Die Erinnerung bzw. die »Erinnerungsideen« setzen »vorhergegangene Ideen« und also das »Bewußtseyn unserer Fortdauer« voraus.79 Diese Verknüpfung von Bewusstseinsbegriff und Identitätsproblem erinnert an die Theorie John Lockes. Tatsächlich handelt es sich aber um einen unüberwindbaren Gegensatz. Denn während Locke die Identität der Person durch das Bewusstsein und die Erinnerung von Gedanken und Handlungen konstituiert sein lässt,80 gilt für Sulzer, dass die Erinnerungsideen durch das Bewusstsein von der eigenen Identität erst ermöglicht werden.81 Das heißt, um mich genuin an eine Reise im letzten Jahr von Sydney nach Halle erinnern zu können, muss ich mir der Identität meiner Person in Sydney und Halle schon bewusst sein. Sulzer scheint auf den Begriff der Person nicht eigens einzugehen, aber Wolff hatte bereits gegen Locke erklärt (ohne diesen namentlich zu erwähnen), dass Personalität sich dem Identitätsbewusstsein verdanke, während für Locke die personale Identität durch das Bewusstsein von Gedanken und Handlungen allererst konstituiert wird.82 Was Sulzer über das »Bewußtseyn unserer Fortdauer« sagt, steht mit der wolffschen Auffassung, nicht mit der Theorie Lockes im Einklang. Wie erklärt Sulzer nun dieses Bewusstsein, dieses Gefühl von unserer Identität auch über tiefste Ohnmachtszustände hinaus? Sulzer beruft sich dabei auf seine von Leibniz herkommende Konzeption der dunklen Ideen, die während der unbewussten Existenz und Tätigkeit der 73 74 75 76 77 78 79 80 81
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Vgl. hierzu auch den Beitrag von Falk Wunderlich in diesem Band. Sulzer: Gedanken (s. Anm. 9), S. 369. Ebd. Ebd., S. 370. Vgl. zur Begriffsgeschichte von ›Selbstgefühl‹ Thiel: Varieties of Inner Sense (s. Anm. 31). Sulzer: Gedanken (s. Anm. 9), S. 370. Ebd., S. 372. Locke: Essay (s. Anm. 41), Buch II, Kap. 27, § 9. Christoph Meiners bringt dennoch Sulzer mit Lockes Konzept des Bewusstseins und der persönlichen Identität in Zusammenhang (Christoph Meiners: Vermischte Philosophische Schriften. 3 Bde. Leipzig 1776, Bd. 2, S. 38). Ohne sich auf Locke zu beziehen, meint Ernst Platner, dass man zum Bewusstsein der Persönlichkeit »sehr viel Lesenswertes« u.a. auch bei Sulzer finden könne (Ernst Platner: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur Philosophischen Geschichte. Leipzig 1793, Bd. 1, § 122, S. 77). Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 11), § 924; ders.: Psychologia rationalis (s. Anm. 24), §§ 741, 743.
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Seele weiter bestehen und Einfluss auf das Ich ausüben. Es gibt also für Sulzer eine Kontinuität des Ich unterhalb des bewussten Lebens, die das Bewusstsein der Identität allererst möglich macht. Auch in der tiefsten Schlafsucht, schreibt Sulzer, behalten wir nicht nur dunkle Ideen, sondern auch »dasselbe Gedächtniß, und dieselben Fertigkeiten […] und andere Dinge mehr, welche ohne die Seele, in der sie sind, nicht hätten fortdauern können« und die »während dieser scheinbaren Nichtthätigkeit existirt und also gewirkt haben«.83 Auch »moralische Gesinnungen«, »Begriffe und Anlagen«, meint Sulzer, bleiben in solchen Zuständen erhalten84 und können daher später wieder zu Bewusstsein gebracht werden.
5. Bewusstsein und der Unterschied zwischen Empfindung und Vorstellung Es ist nun auf die schon mehrfach erwähnte zentrale Unterscheidung Sulzers zwischen Empfindung und Vorstellung und ihr Verhältnis zu seiner Bewusstseinskonzeption zurückzukommen. Marion Heinz hat in ihrer Analyse der Sulzer-Kritik in Herders Frühschrift Vom Erkennen und Empfinden gezeigt, dass sich diese Kritik nicht zuletzt auf das Verhältnis von Gegenstandsund Selbstbewusstsein bezieht, das in Sulzers Unterscheidung zwischen Empfindung und Vorstellung impliziert ist.85 Nach Sulzer ist der Gegensatz zwischen Vorstellung und Empfindung so stark, dass man meinen könnte, der Mensch besitze nicht eine, sondern zwei Seelen. Während die Seele beim Vorstellen ganz mit einem äußeren Gegenstand beschäftigt sei, ohne sich selbst zu bemerken, sei sie bei der Empfindung nur mit sich selbst befasst, ohne den Gegenstand zu bemerken.86 Herders Kritik läuft nun unter anderem darauf hinaus, dass sich für ihn die Seele auch beim Vorstellen oder Erkennen empfindet, und dass diese Empfindung selbst als eine Weise des Erkennens und Vorstellens zu konzipieren ist.87 Herder greift also Sulzers Gegensatz von subjektbezogener Empfindung und objektbezogener Vorstellung zwar auf, aber modifiziert ihn dahingehend, dass er »die Vorstellung des Objekts durch das Subjekt und die Vorstellung des Subjekts durch das Objekt vermittelt« denkt.88 Gegen Sulzers Konzeption einer Art des Vorstellens des Subjekts, nämlich des Empfindens, die von Erkenntnis verschieden ist, setzt Herder die These, »daß sich das Subjekt nicht losgelöst von den Gegenständen vorstellen kann, und zum anderen die Behauptung, daß die Vorstellungen des Subjekts im Spiegel des Körpers oder der Gegenstände eine Weise von Erkenntnis sind«.89
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Sulzer: Gedanken (s. Anm. 9), S. 372. Ebd., S. 372f. Vgl. Marion Heinz: Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie des jungen Herder. Hamburg 1994, S. 108–173. Zu den drei Fassungen von Herders Schrift (1774, 1775, 1778) vgl. Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Ludwig Suphan. 33 Bde. Berlin 1877–1887. Bd. 8, S. 165–333. Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 17), S. 225. Vgl. auch Heinz: Sensualistischer Idealismus (s. Anm. 85), S. 114. Ebd., S. 119. Ebd., S. 121. Ebd., S. 139.
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Diese Kritik scheint durchaus treffend zu sein. Wenn man aber Sulzers Unterscheidung zwischen bloß subjektbezogener Empfindung und bloß objektbezogener Vorstellung im Lichte seiner Bewusstseinskonzeption betrachtet, dann ergibt sich, dass er selber mit dieser Konzeption jene Unterscheidung unterläuft. Denn das Bewusstsein, das sich sowohl auf Empfindungen als auch auf Vorstellungen bezieht, ist für Sulzer ebenso wie für Wolff immer zugleich gegenstands- und subjektbezogen. Das heißt, es dürfte für Sulzer keine bloß gegenstandsbezogenen Vorstellungen und keine bloß subjektbezogenen Empfindungen geben. Wie schon bei Sulzers Gedanken eines Gefühls von der Unteilbarkeit der menschlichen Seele ergibt sich auch hier, an zentraler Stelle, ein Problem für die innere Konsistenz seines Denkens. Wie oben angedeutet, spricht Sulzer auch von einer Idee oder Vorstellung des Ich, also durchaus von einer Vorstellung, die sich nicht auf etwas von der Seele Verschiedenes bezieht.90 Diese und ähnliche Äußerungen lassen sich aber nicht durch den Hinweis auf lediglich terminologische Ungenauigkeiten bei Sulzer abschwächen, sondern machen das Problem nur noch deutlicher, das in Sulzers strikter Unterscheidung zwischen subjektbezogener Empfindung und gegenstandsbezogener Vorstellung in Verbindung mit seiner Bewusstseinskonzeption besteht. Man könnte versuchen, diese Spannung mit Hilfe seines Gedankens von graduellen Abstufungen des Bewusstseins aufzulösen. Es ließe sich argumentieren, dass wir beim Vorstellen nicht gar kein Selbstbewusstsein hätten, sondern dass dieses nur in einer schwachen Form vorliege. Einige Formulierungen Sulzers legen diese Lesart nahe. Sulzer sagt gelegentlich, dass wir das Ich beim Vorstellen »kaum« fühlten, also nicht gar nicht. Ebenso könnte Sulzer sagen, dass wir auch beim Empfinden den Gegenstand vorstellten, aber eben nur in sehr abgeschwächter Weise.91 Vielleicht meint Sulzer, dass wir auch beim Vorstellen anderer Dinge wenigstens das inhaltsleere Existenzbewusstsein vom Ich hätten. Allerdings wird dies von ihm in der Gegenüberstellung von Vorstellung und Empfindung nicht zum Ausdruck gebracht. Vielmehr legt sich Sulzer an den entscheidenden Stellen auf einen strikten Gegensatz von Empfinden und Vorstellen fest. Wenn Sulzer vom »Nachdenken« spricht, der ausgeprägtesten Form des Vorstellens, heißt es: »Während des Nachdenkens geht in dem Körper nichts vor, das die Idee von uns selbst in uns erwecken könnte; alles ist da vollkommen stille und ruhig«.92 Und zur Empfindung heißt es im selben Zusammenhang: »bey der Empfindung ist die Seele bloß mit sich selbst beschäfftigt«.93 Hiernach scheint nur mit der Empfindung eine Selbstempfindung oder ein Selbstbewusstsein verbunden zu sein.94 90
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Sulzer benutzt auch den Begriff der Empfindung, um zu erklären, was es heißt, eine Idee zu haben. »Das innere […] Gefühl bringt unmittelbar das Vermögen, Ideen zu haben, hervor. Eine Idee haben, die dem Geiste gegenwärtig sey, heißt nichts anders, als, empfinden, daß man in dem gegenwärtigen Augenblicke auf eine gewisse bestimmte Art afficirt wird.« Sulzer: Zergliederung (s. Anm. 27), S. 248. Sulzer sagt, »daß die Seele bey der Empfindung bloß ihren eigenen Zustand deutlich gewahr wird, und daß sie den Gegenstand, der diesen Zustand hervorbringt, kaum bemerket.« Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 17), S. 230. Vgl. auch das Beispiel Traumzustand: »die Empfindung unser selbst sehr schwach«; »das, was wir sind, und was wir thun, nur sehr verworren und schwach empfinden.« Sulzer: Zergliederung (s. Anm. 27), S. 256. Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 17), S. 232. Ebd., S. 229f. Allerdings meint Sulzer an anderer Stelle, dass »praktische Ideen« (im Gegensatz zu spekulativen Ideen) von der Selbstempfindung begleitet werden. Spekulative Ideen »sind wie ausser uns, und werden von gar keiner Rücksicht auf uns selbst begleitet; diese [praktische Ideen] sind dergestalt in uns,
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Ein Versuch, Sulzers Konzeption durch den Hinweis darauf zu retten, dass Bewusstsein einerseits und die Unterscheidung zwischen Vorstellung und Empfindung andererseits doch ganz unterschiedlichen Themenbereichen angehörten, die nicht miteinander vermengt werden dürften, würde ebenfalls fehlschlagen. Denn begrifflich gehören die Unterscheidung zwischen Vorstellung und Empfindung und die Frage nach der Gegenstands- und Subjektbezogenheit des Bewusstseins eng zusammen. Dies geht auch aus Sulzers eigenen Formulierungen hervor.95 Dieses Problem berührt nicht direkt Sulzers andere Beiträge zur Bewusstseinstheorie, die, wie wir sahen, in den empirischen Psychologien der Folgezeit aufgenommen wurden. Hierzu gehört etwa der wichtige Gedanke von der wesentlichen Leibbezogenheit des Selbstbewusstseins. Um aber die innere Stimmigkeit seines Denkens sicherzustellen, müsste Sulzer entweder seine Konzeption von Bewusstsein als zugleich gegenstands- und subjektbezogen oder den strengen Gegensatz von gegenstandsbezogener Vorstellung und subjektbezogener Empfindung aufgeben. Die Kombination von beidem unterminiert seine Theorien des Vorstellungs- und des Empfindungsvermögens, also gerade den Aspekt seines Denkens, der allgemein als philosophiegeschichtlich bedeutsam und innovativ gepriesen wird.96
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daß wir sie nicht anders als mit der Empfindung unser selbst, welche ihre Vorstellung begleitet, gewahr werden.« Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 17), S. 234. Vgl. beispielsweise Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 18), Bd. 4, S. 408. Vgl. zur philosophiegeschichtlichen Bedeutsamkeit von Sulzers Theorie der Empfindung beispielsweise Anton Palme: J. G. Sulzers Psychologie und die Anfänge der Dreivermögenslehre. Berlin 1905, S. 34. Vgl. auch Heinz: Sensualistischer Idealismus (s. Anm. 85), S. 114.
FALK WUNDERLICH
Johann Georg Sulzers Widerlegung des Materialismus und die Materietheorien der Zeit
Es gehört zu den Besonderheiten der philosophischen Diskussion im Deutschland des 18. Jahrhunderts, dass materialistische Theorien in der Philosophie des Geistes eine Ausnahme blieben, zugleich aber die Auseinandersetzung mit dem Materialismus breiten Raum einnahm. Johann Georg Sulzer ist maßgeblich an dieser Diskussion beteiligt, in erster Linie mit zwei ausführlichen Artikeln, die ursprünglich in französischer Sprache in den Jahrbüchern der Berliner Akademie der Wissenschaften erschienen sind, Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, in sofern sie mit den Eigenschaften der Materie eine Ähnlichkeit haben, zur Prüfung des Systems des Materialismus und Ueber die Unsterblichkeit der Seele, als ein Gegenstand der Physik betrachtet.1 Über konkrete Anlässe zur Veröffentlichung dieser Aufsätze ist nichts bekannt. Hinsichtlich der Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele weist Christian Friedrich von Blanckenburg, der Herausgeber des zweiten Bandes von Sulzers Vermischten philosophischen Schriften, darauf hin, dass Sulzer die Unsterblichkeit der Seele selbst nicht anzweifelt, sondern ausschließlich kritische Absichten verfolgt: »Herr Sulzer scheint seine für unsre neuern Zeiten neue Idee von der Unsterblichkeit ausgebildet zu haben, um denen, die durch vorgebliche Unbegreiflichkeit einer geistigen Substanz, zum Materialismus angeleitet werden, entgegen zu arbeiten.«2 Er spekuliert, dass sich Sulzer von einer Bemerkung in d’Holbachs anonym erschienenem Système de la Nature 1
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Eine frühere Fassung dieses Artikels wurde im Oberseminar des Arbeitsbereiches Philosophie der Neuzeit an der Universität Mainz diskutiert. Ich danke den Teilnehmern für wichtige Hinweise. Im Folgenden werden die zeitgenössischen deutschen Übersetzungen zugrunde gelegt, nach: Johann Georg Sulzer: Vermischte philosophischen Schriften Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/1781 [im Folgenden: VS, Band, Seitenzahl]. Die Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, in sofern sie mit den Eigenschaften der Materie eine Ähnlichkeit haben, zur Prüfung des Systems des Materialismus (VS 1, S. 348–376) erschienen zuerst 1773 unter dem Titel Observations sur quelques propriétés de l‘âme comparées à celles de la matière: pour servir à l‘examen du Matérialisme. In: Nouveaux Mémoires de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres Année. MDCCLXXI (1773), p. 390–410. Ueber die Unsterblichkeit der Seele, als ein Gegenstand der Physik betrachtet (VS 2, S. 1–84) erschien 1777–1779 in drei Teilen unter dem Titel Sur l‘immortalité de l‘âme, considérée physiquement (Nouveaux Mémoires de l‘Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres Année MDCCLXXV (1777), p. 359–387; Nouveaux Mémoires de l‘Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres Année MDCCLXXVI (1779), p. 349–359; Nouveaux Mémoires de l‘Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres Année MDCCLXXVII (1779), p. 313–330. Christian Friedrich von Blankenburg: Einige Nachrichten von dem Leben und den Schriften des Herrn Johann George Sulzer. In: VS 2, S. 125.
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zu seinen Überlegungen herausgefordert sehen konnte, wonach die Vorstellung einer unsterblichen Seele unverständlich ist. In der Tat scheint das Système de la Nature in der Zeit eine breite Wirkung entfaltet zu haben, mehr noch als La Mettries Schriften. Entsprechend bemerkt Sulzers Freund Jakob Wegelin, dass dieser sich die hier diskutierten Überlegungen zur Unsterblichkeit der Seele nie selbst zu eigen gemacht habe und nie »diese Hypothese für etwas mehr als einen Versuch angesehn hätte, in der schwersten aller Materien etwas erklärbarer zu machen, und zwischen den zwei Klippen des Idealismus und Materialismus eine neue Strasse zu entdecken.«3 Ersichtlich besteht zwar in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weiterhin ein Interesse daran, die Unsterblichkeit der Seele theoretisch zu etablieren,4 doch zugleich scheinen materialistische Überlegungen dieser nicht mehr zwangsläufig entgegenzustehen. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wurde demgegenüber zumeist angenommen, dass der Materialismus mit religiösem Glauben prinzipiell unverträglich ist.5 Im Folgenden wird jedoch nicht die Unsterblichkeitsproblematik im Vordergrund stehen, sondern Sulzers differenzierte Prüfung des Systems des Materialismus.6 Diese Prüfung geht zu dessen Ungunsten aus und reiht sich damit in das reichhaltige Genre der Materialismus-Widerlegungen ein. Sulzer leistet dazu einen teils originellen Beitrag, der im Zusammenhang rekonstruiert werden soll.
1. Die Materialismus-Debatte im 18. Jahrhundert Bevor ich zu den Einzelheiten der Debatte um den Materialismus übergehe, sollte jedoch zunächst einmal geklärt werden, was in diesem Zusammenhang eigentlich unter Materialismus zu verstehen ist. Justus Christian Hennigs schreibt dazu in der zweiten Auflage von Walchs weit verbreitetem Philosophischen Lexicon: Es zeigt dieses überhaupt einen Irrthum, oder falschen Begriff an, den man in Ansehung der Materie hat, welches auf verschiedene Art geschehen kan. Denn man nennet dasjenige einen Materialismum, wenn man die geistliche Substanzen leugnet und keine andere, als köperliche zulassen will.7
Diese für die Diskussionslage der Zeit repräsentative Passage macht zweierlei deutlich: Zum einen gilt der Materialismus als Irrlehre, die zu bekämpfen ist. Zum anderen wird er als direkte monistische Alternative zum cartesianischen Substanzdualismus verstanden. Materialisten, so Walch, leugnen die Existenz der immateriellen Seele als zweiter Substanz neben der ausgedehnten Materie der Körperwelt. Materialisten müssen zeigen, dass Mentales rein auf materieller Grundlage erklärt werden kann. Oder, in der für die Zeit typischen Formulierung: Materialisten 3 4 5 6 7
Jakob Wegelin: Etwas über Sulzern. In: Deutsches Museum (1780) 2. Band, S. 10–19, hier S. 12. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Gideon Stiening in diesem Band. Vgl. John Yolton: Thinking Matter. Minneapolis 1983. Johann Georg Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, in sofern sie mit den Eigenschaften der Materie eine Ähnlichkeit haben, zur Prüfung des Systems des Materialismus. In: VS 2, S. 348–376. Johann Georg Walch, Justus Christian Hennings: Philosophisches Lexicon [...]. Mit vielen neuen Zusätzen und Artikeln vermehret, und bis auf gegenwärtige Zeiten fortgesetzet. Leipzig 41775 [ND Hildesheim 1968], Bd. 2, S. 62.
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müssen zeigen, dass Materie denken kann.8 In ihrer klassischen Form geht die Frage nach der Möglichkeit denkender Materie auf John Locke zurück, der sie eher beiläufig aufwirft und eine eigene Festlegung vermeidet.9 Daraus ergibt sich eigentlich unmittelbar (obwohl in der Materialismus-Forschung lange nicht hinreichend berücksichtigt), dass das Materieverständnis für diese Debatte entscheidend ist, und zwar sowohl auf Seiten der Kritiker als auch der Verteidiger des Materialismus. Ann Thomson hat nachdrücklich auf die Bedeutung der zugrunde gelegten Materietheorien hingewiesen, anhand derer sich auch verschiedene Formen des Materialismus unterscheiden bzw. geläufige Unterscheidungen solcher Formen zurückweisen lassen. Thomson schlägt vor, sich von der lange gebräuchlichen Vorstellung zu verabschieden, der Materialismus sei vor allem ein mechanistisches Weltverständnis. Dieser Auffassung zufolge ist beispielsweise der Materialismus in La Mettries L’homme machine als eine Erweiterung von Descartes’ Auffassung zu verstehen; Descartes zufolge sind Tiere Maschinen, und die These vom Menschen als Maschine ergebe sich direkt daraus. Thomson weist demgegenüber nach, dass die meisten neuzeitlichen Materialisten – mit Ausnahme von Hobbes – gerade bei Erweiterungen des Materiebegriffs ansetzen und sich damit gerade gegen die cartesianische Auffassung des Materiellen als eines bloß Ausgedehnten ohne eigene Kräfte wenden.10 Man kann in diesem Sinne den neuzeitlichen Materialismus geradezu als ein anti-mechanistisches Projekt verstehen. Thomsons Überlegung wird sich im Folgenden auch im Zusammenhang mit Sulzer bestätigen lassen. Es ist zudem wichtig, sich vor Augen zu halten, dass der Materialismus des 18. Jahrhunderts primär eine alternative Metaphysik zu der des Substanzdualismus anbot. Für den Materialismus oder Physikalismus der Gegenwart stehen dagegen eher methodische Fragen im Vordergrund. Materiell im relevanten Sinn ist für die gegenwärtigen Debatten nicht, was aus bestimmten Substanzen besteht oder paradigmatischen Substanzen ähnelt, sondern was sich mit bestimmten Methoden (denen der Naturwissenschaften) erfassen lässt.11 Wie schon der eingangs zitierten Passage aus Walchs und Hennings Philosophischem Lexicon zu entnehmen, sahen es viele Zeitgenossen Sulzers als wichtige Aufgabe an, den Materialismus 8
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In diesem Sinne weist Ann Thomson darauf hin, dass die verschiedenen Varianten des Materialismus bei aller Unterschiedlichkeit darin übereinstimmen, dass sie einerseits die Existenz einer immateriellen und unsterblichen Seele leugnen, andererseits mentale Funktionen ausschließlich auf materieller Grundlage erklären wollen (Ann Thomson: Mechanistic Materialism vs Vitalistic Materialism? In: La Lettre de la Maison française d’Oxford 14 (2001), p. 21–36. »It being, in respect of our Notions, not much more remote from our Comprehension to conceive, that GOD can, if he pleases, superadd to Matter a Faculty of Thinking, than that he should superadd to it another Substance, with the Faculty of Thinking.« (John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Ed. by Peter H. Nidditch. Oxford 1975, p. 541 [IV, 3, 6].) Zur Entwicklung materialistischer Theorien auf dieser Grundlage vgl. insbes. John Yolton: Thinking Matter (s. Anm. 5); ders.: Locke and French Materialism. Oxford 1991; Ann Thomson: Bodies of Thought. Oxford 2008; David Berman: Die Debatte über die Seele. In: Jean-Pierre Schobinger (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Bd 3: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Basel 1988, S. 759–781. Thomson: Mechanistic Materialism vs Vitalistic Materialism (s. Anm. 8). Ich übernehme diese Unterscheidung von Michael Pauen; vgl. dazu und zur Herausbildung des methodisch orientierten Materialismus im 19. Jahrhundert Michael Pauen: Vom Streit über die Seelenfrage bis zur Erklärungslücke. Wissenschaftlicher Materialismus und die Philosophie der Naturforscher im Vergleich mit dem Physikalismus der Gegenwart. In: Kurt Bayertz, Myriam Gerhard, Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Der Materialismus-Streit. Hamburg 2007, S. 102– 125.
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als metaphysische Irrlehre zu bekämpfen. Wie ernst diese Aufgabe genommen wurde, kann man z. B. an Hennings’ Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere von 1774 ablesen, in der nicht weniger als 24 verschiedene Argumentationsstrategien gegen den Materialismus unterschieden werden.12 Zu besonderer Prominenz haben es dabei zwei Argumente gebracht, das Argument über die Unmöglichkeit, Gedanken als Bewegungen zu verstehen, und das »AchillesArgument«, dessen Bezeichnung auf Kant zurückgeht.13 Das Argument über die Unmöglichkeit, Gedanken als Bewegungen zu verstehen, geht davon aus, dass Bewegung und Veränderung der Lage von Teilen die einzigen Weisen sind, in denen materielle Veränderungen erfolgen können, Gedanken aber nicht als Bewegungen oder Lageveränderungen von Teilen aufgefasst werden können. Daher können Gedanken diesem Argument zufolge nur einem Wesen angehören, das nicht materiell ist.14 Das Achilles-Argument setzt bei einer Überlegung zur Einheit von Gedanken an. Danach ist es nicht vorstellbar, wie ein komplexer, von uns zugleich als einheitlich aufgefasster Gedanke auf die Teile eines ausgedehnten Substrats verteilt werden kann. Gedanken, die Einheit aufweisen, können daher nur von einem einfachen und damit immateriellen Wesen aufgefasst werden.15 Sulzers Diskussion des Materialismus ist in diesem Kontext dadurch von Interesse, dass er nicht nur eine Reihe von möglichen Verteidigungsstrategien auf Seiten der Materialisten im Detail diskutiert, sondern neben etwa dem Achilles-Argument auch einige eigene Überlegungen zur Widerlegung des Materialismus diskutiert, die keine zeitgenössischen Vorbilder haben.
2. Sulzers Argumente gegen den Materialismus Obwohl hinsichtlich von Sulzers Motivation, sich gleich mehrfach mit der Themenlage zu beschäftigen, keine ausdrücklichen Zeugnisse vorliegen, lassen sich dennoch naheliegende Gründe dafür finden. So waren insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Grundlagen für das Argument über die Unmöglichkeit, Gedanken als Bewegungen zu verstehen, ins Wanken geraten. Das Argument basiert ersichtlich auf einem mechanistischen Materieverständnis, d.h. auf der Annahme, dass materielle Ereignisse sich ausschließlich auf Druck und Stoß und die Lageveränderung von Teilen zurückführen lassen. Nun brachten es die Entwicklungen in 12
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Justus Christian Hennings: Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere. Halle 1774. Der umfänglichste frühneuzeitliche Versuch einer Generalabrechnung mit materialistischen Theorien ist sicherlich Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe. London 1678. Vgl. für die deutsche Diskussion insbes. noch Georg Friedrich Meier: Beweiß: daß keine Materie dencken könne. Halle 1742. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Jens Timmermann. Hamburg 2002, A351. Prominentester Vertreter ist Leibniz mit seinem Mühlenbeispiel aus § 17 der Monadologie (Gottfried Wilhelm Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. 2 Bde. Hg. von Ernst Cassirer. Hamburg 1996, Bd. 2, S. 605f.). Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Halle 111751 (ND Hildesheim 1997, hg. v. Jean École), S. 460–464. Martin Knutzen: Philosophische Abhandlung von der immateriellen Natur der Seele. Königsberg 1744, S. 12– 51. Johann Nicolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur. 2 Bde. Leipzig 1777, Bd. 2, S. 194–203. Vgl. zu diesem Argument Thomas Lennon, Robert Stainton (Ed.): The Achilles of Rationalist Psychology. Dordrecht 2008; Falk Wunderlich: Kant’s Second Paralogism in Context. In: Wolfgang Lefèvre (Ed.): Between Leibniz, Newton, and Kant. Dordrecht 2001, p. 175–188.
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Physiologie und Medizin in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert mit sich, dass auch dieses mechanistische Grundverständnis des Materiellen erneut in Frage gestellt wurde.16 Dabei ist im Hinblick auf den deutschen Sprachraum besonders an Albrecht von Hallers Experimente zur Irritabilität und Sensibilität zu denken, im Hinblick auf den englischen an David Hartley und Joseph Priestley. Haller verstand die Irritabilität als eine innere Kraft der organischen Materie der Muskelfibern, die ihr nicht von außen zugeführt werden muss und die insofern zumindest der organisierten Materie selbst zukommt. Haller selbst hat es zwar abgelehnt, hieraus weitergehende metaphysische Folgerungen insbesondere im Sinne des Materialismus zu ziehen.17 Doch die Möglichkeit lag nahe; so machte unter anderem La Mettrie dankbar Gebrauch von ihr und deutete die Irritabilitätskraft als Ausdruck einer grundlegenden Fähigkeit der Materie, selbst Bewegungen zu initiieren.18 Der Materialismus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verfügte also über neue argumentative Ressourcen, und auf diese mussten seine Kritiker wie Sulzer wiederum reagieren. Ebenso von Bedeutung ist der Umstand, dass in Deutschland nach 1750 die Rezeption angelsächsischer und französischer Philosophie im Allgemeinen an Bedeutung gewann, während der strikte Wolffianismus seine Dominanz einbüßte. In dieser Umbruchphase richtete sich der Blick verstärkt ins englisch- und französischsprachige Ausland, wo materialistische Theorien (und solche, die zumindest leicht in diesem Sinne interpretiert werden konnten) weit verbreitet waren. Neben La Mettrie sei nur auf d’Holbach, Helvétius und den Schweizer Charles Bonnet hingewiesen, sowie auf John Toland, William Coward, David Hartley und Joseph Priestley.19 Dies macht die Auseinandersetzung mit dem Materialismus zusätzlich zu einer für die Zeit aktuellen Frage.20 Ein dritter Aspekt, der Sulzer zur Auseinandersetzung mit dem Materialismus bewogen haben mag, liegt aber auch in seinen eigenen Arbeiten. Bekanntlich wird Sulzer als derjenige Vertreter der zweiten Generation des Wolffianismus betrachtet, der sich um eine theoretische ›Aufwertung der Sinne‹ bemüht hat. Dies wird einerseits mit seiner Ästhetik in der Verbindung gebracht, andererseits aber mit dem von ihm selbst propagierten Unternehmen einer »Physik
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Solche Erweiterungen des Materiebegriffs waren grundsätzlich schon seit der Antike bekannt und tauchen dementsprechend auch in Ralph Cudworths Klassifikation von Formen des Materialismus auf (Cudworth: The True Intellectual System of the Universe [s. Anm. 12], p. 134f.; vgl. auch Yolton: Thinking Matter [s. Anm. 5], p. 5–12). Vgl. Hubert Steinke: Irritating Experiments: Haller’s Concept and the European Controversy on Irritability and Sensibility, 1750–90. Amsterdam 2005; Simone De Angelis: Von Newton zu Haller. Tübingen 2003, S. 313–342. Julien Offray de La Mettrie: L’homme machine. In: ders.: Œuvres philosophiques. Berlin 1774, vol. 1, p. 275–356, hier p. 330–335; vgl. Kathleen Wellman: La Mettrie: Medicine, Philosophy, and Enlightenment. Durham 1992, p. 192–195; Ann Thomson: La Mettrie’s Discussion of the Mind in Its Contemporary Context. In: Hartmut Hecht (Hg.): Julien Offray de La Mettrie. Berlin 2004, p. 153–166. David Hartley und Charles Bonnet waren nach eigenem Verständnis keine Materialisten. Mit Blick auf diese beiden Motive teile ich daher Helmut Holzheys These nicht, wonach um die Mitte des 18. Jahrhunderts sachlich nicht mehr viel zur Debatte um die Möglichkeit denkender Materie beizutragen war (Helmut Holzhey: Die Berliner Popularphilosophie. Mendelssohn und Sulzer über die Unsterblichkeit der Seele. In: Martin Fontius, Helmut Holzhey (Hg.): Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Berlin 1996, S. 201–215, hier S. 210).
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der Seele«.21 Gerade vor diesem Hintergrund erscheint eine präzise Abgrenzung geboten, um möglichen materialistischen Auslegungen der eigenen Theorie – die Sulzer klarerweise ablehnt – entgegenzutreten. Im Folgenden sollen zunächst die Argumente, die Sulzer gegen den Materialismus vorbringt, rekonstruiert werden. Dabei werde ich sechs verschiedene Argumente unterscheiden. Da das dritte bis fünfte Argument jeweils nicht aus sich heraus verständlich ist, werde ich mich hier auf eine kurze Darstellung beschränken und diese Argumente im dritten Kapitel vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Materietheorien näher erläutern. In Gedanken über einige Eigenschaften der Seele argumentiert Sulzer, dass es eine wesentliche Eigenschaft des Menschen und der Seele ist, tätig zu sein. Es sei für unsere Seele kennzeichnend, dass sie beständig danach strebt, in uns oder außer uns Veränderungen zu bewirken. Besonders sinnfällig wird dies Sulzer zufolge, wenn wir an unsere Leidenschaften und Neigungen denken. Doch er sieht diese beständige Tätigkeit nicht nur dort, sondern nimmt an, »daß der Mensch seiner wesentlichen Natur nach, beständig nach neuen Vorstellungen begierig ist und sich unabläßig bemühet, seinen Zustand immer zu verändern.«22 Sulzer möchte nun in »Gedanken über einige Eigenschaften« ermitteln, ob die beschriebene Grundtätigkeit der Seele materiellen oder immateriellen Ursprungs ist. Er räumt zunächst ein, dass der Materialismus durchaus einige gute Gründe vorbringen kann, vor allem die Tatsache, dass mit dem Ausfall der menschlichen Organe auch jede geistige Aktivität zu enden scheint: Wir sehen, dass mit der Wirkung der Organen auch die innere Thätigkeit aufzuhören scheint. Wäre ein thätiges und von jenen materiellen Kräften, welche in die Organen wirken, unabhängiges Wesen in uns, so könnten wir, scheint es, niemals in diesen Zustand der Nichtthätigkeit versetzt werden.23
Dies ist in der Tat ein naheliegendes Argument, das für den Materialismus zu sprechen scheint: wenn auf eine Veränderung im Organismus unmittelbar entsprechende mentale Zustände folgen, dann deutet das auf eine direkte Abhängigkeit hin.24 Sulzer stimmt den Materialisten insoweit zu, als mit der Wirksamkeit der Organe die Empfindung ebenso wie das Bewusstsein des eigenen Daseins zum Erliegen kommt. Daraus könne man aber aus zwei Gründen nicht darauf schließen, dass auch die Seele in diesem Zustand ihre Tätigkeit einstellt: Es sei Sulzer zufolge erstens nicht zwingend, dass eine Kraft dann aufhört zu existieren, wenn sie aufhört, auf eine bestimmte Art zu wirken. Vielmehr sei es so, »daß diese thätige Kraft, welche wir Seele nennen, wirken kann, ohne es zu wissen«.25 Zweitens gebe es auch eine hinreichende Erfahrungsbasis 21 22
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Sulzer verwendet diese Formulierung häufiger, z.B. in dem Artikel Johann Georg Sulzer: Abhandlung von dem Bewußtseyn, und dessen Einflusse auf unsere Urtheile. In: VS 1, S. 199–224, hier S. 199. Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele (s. Anm. 6), S. 350. Dieses Motiv kann auf Leibniz’ Monadenlehre zurückgeführt werden. Leibniz zufolge ist das Bestreben, den eigenen Vorstellungszustand zu verändern, eine der beiden Grundbestimmungen der Monaden überhaupt (vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, § 10–15. In: ders.: Hauptschriften [s. Anm. 14], Bd. 2, S. 437–439). Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele (s. Anm. 6), S. 351. Einen Beweis für den Materialismus auf dieser Grundlage hat etwas später Michael Hißmann formuliert (Psychologische Versuche. Frankfurt a. M. 1777, S. 248). Verwandte Szenarien werden häufig diskutiert, jedoch meist nicht als zureichende Begründung für einen materialistischen Monismus angesehen; vgl. Thomas Sturm: Why did Kant reject physiological explanations in his anthropology? In: Studies in History and Philosophy of Science 39 (2008), p. 495–505. Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele (s. Anm. 6), S. 366.
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für die Annahme unbewusster Tätigkeiten der Seele. Sulzer bezieht sich dabei auf einige Beispiele, die er für besonders überzeugungskräftig hält, wie Zustände der Zerstreuung, in denen zwar das Bewusstsein des Daseins erloschen zu sein scheint, nicht aber zugleich jede Tätigkeit der Seele, sowie auf Ohnmachten und traumlosen Schlaf, die ja zumindest keine irreversiblen Zustände sind und somit nahelegen, dass die Seele untätig sein kann, ohne zwangsläufig ihre Kräfte zu verlieren.26 Sulzers Überlegungen gehen auf die von Leibniz und Wolff bekannte Lehre von den unbewussten Vorstellungen zurück, die er für erwiesen hält.27 Sulzers erstes Argument gegen den Materialismus lautet also: (1) Da erwiesen ist, dass die Seele tätig sein kann, auch ohne sich dessen bewusst zu sein, besteht Grund zu der Annahme, dass sie auch nach Erlöschen der organischen Funktionen noch tätig sein kann. Das erste Argument soll also zeigen, dass die Seele nicht zwangsläufig von körperlichen Funktionen abhängen muss. Sulzers zweites Argument basiert auf einer näheren Untersuchung der tätigen Kraft der Seele. Die Natur dieser tätigen Kraft ist, so Sulzer, eine »Bestrebung [...] unsre Empfindungen zu verändern, sie nach unsern Absichten zu bilden, das, was uns darinn unangenehm ist, umzuschaffen, und Folgen daraus zu ziehen, welche unserer Denkungsart, und unserm Geschmacke angemessen sind.«28 Bevor diese Bestrebung wirksam wird, müssen der Seele jedoch klare Vorstellungen vorliegen. Zunächst bringen die »Sensationen« in unserer Seele Empfindungen hervor, die körperliche Veränderungen zum Ausdruck bringen. Die Seele nimmt diese Veränderungen nun aber nicht gleichgültig wahr, vielmehr gilt: »sie intereßirt sich für die empfangenen Ideen, entweder um sich daran zu vergnügen, oder um sich ihrer besorglichen Folgen zu widersetzen«.29 Dieses Interesse, das die Seele an ihren bewussten Vorstellungen nimmt, spielt eine zentrale Rolle in Sulzers Überlegungen.30 Zugleich ist es der vielleicht originellste Zug in Sulzers Auseinandersetzung mit dem Materialismus. Gegen den Materialismus wendet Sulzer diese Überlegung, indem er bezweifelt, dass das in Zustimmung oder Ablehnung resultierende Interesse eine Wirkung der auf die Organe gemachten Eindrücke sein kann. Dafür spreche die »Lebhaftigkeit, mit welcher wir dieselben auffassen, oder von uns zu entfernen trachten«.31 Besonders deutlich kann man dies im Fall des ablehnenden Interesses sehen: »Denn die Wirksamkeit der Organen kann doch nicht auch zugleich jene andere Kraft 26 27 28 29 30
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Vgl. ebd., S. 367–369. Vgl. ebd., S. 365–369 sowie Sulzer: Von dem Bewußtseyn (s. Anm. 21), S. 202. Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele (s. Anm. 6), S. 351. Ebd., S. 352f. Der Begriff des Interesses steht zu Sulzers Zeit auch im Zentrum ästhetischer Debatten. Es ist möglich, dass auch Sulzers Begriff des Interesses letztlich diesem Kontext entstammt. So spielt er eine zentrale Rolle in der Theorie Shaftesburys, mit der sich Sulzer nachweislich beschäftigt hat (vgl. hierzu Mark-Georg Dehrmann: Das ›Orakel der Deisten‹. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008, S. 229–236). Für diese Hinweise danke ich Élisabeth Décultot und Achim Vesper. Ein weiterer möglicher Bezugspunkt findet sich bei d’Holbach, der dem Interesse an der eigenen Erhaltung als »amour de soi« oder »gravitation sur soi« entscheidende Bedeutung beimisst (Paul Henri Thiry d‘Holbach: Système de la nature. Paris 1821, vol 1, p. 59). Das hätte die weitere Pointe, dass Sulzer eine Überlegung aus dem materialistischen Kontext gegen den Materialismus wenden würde. Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele (s. Anm. 6), S. 353.
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erzeugen, welche sich ihr widersetzt.«32 Zu behaupten, dass die Empfindungen zugleich einen Widerstand gegen sich selbst erzeugen könnten, hält Sulzer offenkundig für einen Widerspruch, und er folgert, dass es eine von den Wirkungen der Organe unabhängige Kraft in uns geben muss, die das tätige Interesse hervorruft. Sulzers zweites Argument gegen den Materialismus lautet daher: (2) Das tätige Interesse, das wir an unseren Empfindungen in Form der Zustimmung oder des Widerstandes gegen sie nehmen, zeigt, dass ihm eine nicht auf die Empfindungen reduzierbare Kraft zugrunde liegen muss; insbesondere, da andernfalls unangenehme Empfindungen zugleich den Widerstand gegen sich selbst hervorrufen würden. Mit diesen Überlegungen sollen sich Sulzer zufolge die meisten materialistischen Systeme bereits widerlegen lassen, jedoch mit einer Ausnahme. Eine sinnvolle Reaktion auf die soeben erhobenen Einwände könnte eine Form des Materialismus anbieten, die auf der Annahme einer subtilen Materie beruht. Eine solche »überall verbreitete, herrschende Materie [...] welche auf das Sensorium oder auf denjenigen Theil unsers Körpers, welcher die sinnlichen Eindrücke empfängt, beständig drückt, und sich einigen Eindrücken widersetzt, andere hingegen vermittelst einer gewissen Harmonie aufnimmt« könnte den im zweiten Argument behaupteten Widerspruch vermeiden.33 Sulzer zufolge lässt sich dies jedoch zurückweisen. Denn die Kraft, die unsere Vorstellungen hervorbringt, könne keine reine Bewegkraft sein. Dies wird durch folgende Überlegung begründet: Dem Materialismus zufolge sind Empfindungen nichts anderes als Bewegungen materieller Teile. Zugleich ist die Existenz einer Kraft erwiesen, die auf diese Bewegungen einwirkt und sie zu verändern trachtet. Dennoch, so Sulzer, »kann diese Kraft, aller Anstrengung ungeachtet, in den äußerlichen Empfindungen selbst nichts verändern.«34 So sehe ich eine unangenehme Farbe, auch wenn ich sie nicht sehen will, höre einen unharmonischen Ton, oder empfinde Schmerzen. Es ist ja gerade kennzeichnend für Empfindungen, dass sie sich ohne unser bewusstes Zutun einstellen, was insbesondere im Hinblick auf unangenehme Empfindungen deutlich wird. Der angenommenen materialistischen Hypothese zufolge kann der Widerstand gegen die unangenehmen Empfindungen aber wiederum nur in einer Bewegung von Teilen bestehen, ebenso wie die unangenehme Empfindung selbst. Doch dann, so Sulzer, müsste der Widerstand erfolgreich sein – er ist es aber nicht: »Aber in demselbigen Punkte des Gehirns ist (nach der Hypothese) wieder eine Kraft, welche in diese Gehirntheilchen wirkt, und dennoch geht die Bewegung derselben auf die nämliche Art fort, denn unsere Vorstellung von der Farbe bleibt immer dieselbe.«35 Daraus schließt Sulzer: »Folglich ist die Kraft, welche sich bestrebt, in unsere Empfindungen zu wirken, keine Bewegkraft. Denn eine jede Bewegkraft, sie sey stark, oder schwach, wenn sie in bewegte materielle Theile wirkt, muß die Bewegung selbst mehr oder weniger verändern.«36 Mit dieser Überlegung soll der letzten noch nicht ausgeschlos32 33 34 35 36
Ebd. Ebd. Ebd., S. 354. Ebd. Ebd.
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senen möglichen Variante der Körperlichkeit der Seele der Boden entzogen worden sein, und Sulzer gratuliert sich selbst: »Diese Betrachtungen sind, wie ich glaube, hinreichend zu beweisen, daß die Seele ein thätiges Wesen ist, welche [sic], unabhängig von den Einwirkungen der materiellen Welt, in sich selbst Kräfte besitzt.«37 Sulzers drittes Argument gegen den Materialismus lautet zusammengefasst also: (3) Nimmt der Materialist eine subtile, über den ganzen Körper verteilte Materie als Träger sowohl der Empfindungen als auch des Interesses an ihnen an, so muss er sowohl die Empfindungen als auch das Interesse durch Bewegkräfte erklären. Dann müsste sich der Widerstand gegen unangenehme Empfindungen aber immer erkennbar auswirken, denn eine Kraft, die auf eine Bewegung einwirkt, muss die Bewegung zumindest geringfügig verändern. Das entspricht aber nicht unserer Erfahrung, also verlangt das Phänomen der Empfindungen und des Interesses an ihnen grundsätzlich nach einer dualistischen Erklärung. Sulzer will also gezeigt haben, dass die Selbsttätigkeit der Seele nicht auf den Körper bzw. die körperlichen Empfindungen zurückgeführt werden kann; mit anderen Worten, dass die Seele ein vom Körper unterschiedenes Wesen sein muss. Nun ist es aber immer noch möglich, dass dieses vom Körper verschiedene Wesen gleichwohl materiell ist.38 Durch das dritte Argument sollte gezeigt worden sein, dass grundsätzlich von einem Dualismus von Leib und Seele, und damit der Unkörperlichkeit der Seele, ausgegangen werden muss, nicht aber, dass es sich dabei um einen Dualismus zweier verschiedener Substanzarten handeln muss, wie ihn beispielsweise die cartesianische Unterscheidung von res cogitans und res extensa darstellt. Um zu diesem Dualismus verschiedener Substanzarten zu gelangen – denn das ist letztlich das Ziel –, wendet Sulzer sich nun der Frage zu, ob Materiellem überhaupt eine Art von Tätigkeit zugeschrieben werden kann, die der Selbsttätigkeit der Seele entspricht. Sulzer muss versuchen zu zeigen, dass Materielles auch dann nicht denken kann, wenn es nicht Teil unserer körperlichen Organisation ist. Sulzer beschäftigt sich zunächst mit der Überlegung, dass Materie von sich aus Bewegungen initiieren kann, weil sie sich in ständiger Bewegung befindet. Das Trägheitsgesetz zeigt aber, so Sulzer, dass tatsächlich jeder Körper ohne äußere Einwirkung in seinem jeweiligen Bewegungszustand verharrt und sich daher gerade keine selbst initiierte Bewegung nachweisen lässt. Also kann die Art von Spontaneität, die für die Seele kennzeichnend ist, nicht auf die allgemeine Bewegung der Materie zurückgeführt werden.39 Wir erhalten damit ein viertes Argument gegen den Materialismus: (4) Nur der Seele kann Selbsttätigkeit zugeschrieben werden, die Bewegung der Materie bedarf dagegen immer eines äußeren Anstoßes. Also kann die Seele nicht materiell sein.
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Ebd. In Ueber die Unsterblichkeit der Seele (s. Anm. 1) wird diese Möglichkeit einer vom Körper getrennten, materiellen Seele ausführlich diskutiert. Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele (s. Anm. 6), S. 356–358.
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Sulzer versucht dieses Argument noch durch einige weitere Überlegungen zu untermauern. Sieht man Attraktion und Repulsion als die wesentlichen Eigenschaften materieller Teile an, wie dies einige Newtonianer getan haben, dann kann man dies in materialistischer Interpretation durchaus so auslegen, dass diese von sich aus tätig werden.40 Gegen diesen Versuch wendet Sulzer ein, dass auch eine aus der Anziehung resultierende Bewegung (z.B. der Fall eines festen Körpers aufgrund der Erdanziehung) den allgemeinen Bewegungsgesetzen unterworfen ist. Das zeige sich daran, dass das Fallen eines Körpers (seine vermeintlich natürliche Bewegung) aufgehalten werden kann, wenn dieselbe Kraft in umgekehrter Richtung des Falls wirkt.41 Auch für die »organisierte Materie« gelten Sulzer zufolge die üblichen Bewegungsgesetze, da man deren Wirkungen nach denselben Gesetzen berechnen kann wie die von unorganisierten Körpern. Unter Organisation versteht Sulzer hier, ganz cartesianisch, allerdings nur die von mechanischen Maschinen: »Die Organisation giebt den Maschinen keine besondern Kräfte«.42 Schließlich besteht noch die Möglichkeit, die Selbsttätigkeit einer solchen subtilen Materie zuzuschreiben, die mit dem Körper nicht identisch ist, sondern ihn nur durchdringt. Dabei denkt Sulzer offenbar an die in der Physik der Zeit verbreiteten Imponderabilien, zu denen die von ihm angesprochene Feuermaterie zählt.43 Eine solche subtile Materie könnte in der Lage sein, der groben Materie die Bewegung mitzuteilen, und zugleich wäre sie selbst nicht den Bewegungsgesetzen unterworfen. Es würde sich Sulzer zufolge um eine unbewegte Materie handeln, die über die ganze Welt verbreitet ist und auf die tote Materie drückt. Eine so verstandene imponderable Materie könnte also das bewirken, was sonst der Seelensubstanz zugeschrieben wird. Es handelt sich Sulzer zufolge um eine ernstzunehmende Möglichkeit, »wodurch das System des Materialismus einige Wahrscheinlichkeit bekommen könnte«.44 Dennoch lässt sich auch diese Hypothese zurückweisen: Auch eine imponderable Materie müsste, wie alle Materien, aus einer Menge von Elementen bestehen, die durch Ausdehnung, Dichtigkeit und Figur gekennzeichnet sind, sowie zusätzlich durch eine tätige Kraft. Der Hypothese zufolge würde der Druck auf die Organe aus der Vereinigung aller Kräfte dieser Atome entstehen. Das bedeutet Sulzer zufolge aber, dass die tätige Kraft in jedem einzelnen Element schon vor dieser Vereinigung als eine seiner substantiellen Eigenschaften enthalten sein müsste, denn es wäre »ungereimt«, die tätige Kraft aus den Eigenschaften herzuleiten, die den beiden ganz verschiedenen 40
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»Einige neuere Philosophen behaupten, daß der Nisus der Schwere vermittelst welcher eine Masse sich einer andern Masse zu nähern bestrebt, eine wesentliche Eigenschaft jedes materiellen Theilchens sey.« (Ebd., S. 358.) »Dennoch aber ist die Bewegung, welche aus diesem Nisus entsteht, ebenfalls jenen allgemeinen Bewegungsgesetzen unterworfen. Man läßt z.B. einen schweren Körper von einem hohen Thurme herunterfallen. Dieß ist, wird man sagen, ein natürliches Bestreben, nach welchem er sich der Erde so bald als möglich zu nähern trachtet. Wenn uns nun aber der Mathematiker sagt, daß gerade die nämliche Kraft erfordert wird, den Fall zu befördern, welche nöthig ist, den fallenden Körper aufzuhalten? Werden wir alsdenn nicht einsehen, daß dieser fallende Körper, gegen diese, dem Anscheine nach, ihm natürliche Bewegung sehr gleichgültig ist?« Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele (s. Anm. 6), S. 358. Ebd., S. 359. Ebd., S. 359f. Eine materialistische Hypothese, die auf der Annahme basiert, dass sie Seele eine Art Feuer im übertragenen Sinne ist, findet sich beispielsweise bei William Coward: Second Thoughts concerning Human Soul. London 21704, p. 130. Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele (s. Anm. 6), S. 360.
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Elementarten (ponderablen und imponderablen) zugleich zukommen45 – sie sind so verschieden, dass es eigentlich keine gemeinsamen Eigenschaften geben dürfte. Genauso wenig könnte man die Tätigkeit der subtilen Materie auf die geringe Größe ihrer Teile zurückführen, denn wie kann ein Materieteil nur aufgrund seiner geringen Größe Eigenschaften besitzen, die es nicht hätte, wenn es etwas größer wäre? Aus diesen Überlegungen folgert Sulzer, dass sich die Tätigkeit nicht aus den üblichen materiellen Eigenschaften der Ausdehnung, Dichtigkeit, Größe und Figur herleiten lässt. Das aber bedeutet für ihn, dass es sich nur um eine immaterielle Eigenschaft handeln kann, und damit scheint Sulzers ursprüngliches Beweisziel erreicht zu sein. Dies gilt jedoch nur dann, wenn man mit Sulzer ein mechanistisches Materieverständnis unterstellt, wonach nur Ausdehnung, Gestalt und Undurchdringlichkeit materielle Eigenschaften sein können. Man kann auf dieser Grundlage Sulzers fünftes Argument gegen den Materialismus formulieren: (5) Der Versuch, Tätigkeit mithilfe einer subtilen, vom Körper unterschiedenen Materie zu erklären, scheitert, weil sie sich nicht auf die Eigenschaften zurückführen lassen, die üblicherweise Körpern zukommen (Ausdehnung, Gestalt, Dichtigkeit bzw. Undurchdringlichkeit). Dann aber kann es sich bei der Tätigkeit nur um eine immaterielle Eigenschaft handeln, was das Gegenteil dessen ist, was der Materialist zeigen wollte. Nachdem Sulzer die verschiedenen Möglichkeiten einer materialistischen Theorie ausgeschlossen hat, kommt er etwas überraschend zum, wie er sagt, »Hauptgegenstand«, nämlich »auf die genauere Untersuchung der Natur unserer Seele«;46 man fragt sich, wovon dann die Untersuchung vorher eigentlich gehandelt hat. Da als erwiesen gelten könne, dass die Seele ein tätiges Wesen ist, seien hinsichtlich seiner Natur nur zwei Hypothesen denkbar: Entweder die Seele ist ein zusammengesetztes Ganzes aus wirksamen, tätigen Atomen (wie es der Materialist annehmen muss), oder sie ist eine Einheit, ein unteilbares Wesen, oder auch ein einziges Atom. Sulzer fügt nun einige Argumente zugunsten der immaterialistischen Konzeption hinzu, die auf das eingangs erwähnte zeitgenössische Achilles-Argument über die ›Einheit des Gedankens‹ Bezug nehmen. Das ist ein erstaunlicher Zug, sollten doch schon Sulzers vorherige Argumente den Materialismus hinreichend entkräftet haben. Bemerkenswert ist jedoch die Begründung, die Sulzer nun für die Einfachheit des denkenden Wesens vorbringt. Dafür gebe es nämlich eine klare Erfahrungsbasis: Denn alle Menschen werden darinnen einig seyn, daß wir unser Selbst nicht anders empfinden, als wie ein einziges untheilbares Wesen, und wenn dasselbe selbstthätig wirkt, wir keine Idee von Zusammensetzung und Vielheit dabey haben. Dieses Zeugnis der Erfahrung ist so unveränderlich und so zuverlässig, daß der Materialist, wenn er nur ein wenig über seine Hypothese nachdenken will, betroffen seyn muß, daß, indem er seine eigene Seele empfindet, diese Empfindung allezeit nur in einem einzigen derer Atomen ist.47
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Vgl. ebd., S. 361. Vgl. ebd., S. 364. Ebd. Entsprechend heißt es in Ueber die Unsterblichkeit der Seele (s. Anm. 1), dass »zu Gunsten der Einfachheit unsers Seyns, das innre Zeugnis des Gefühls« spricht; VS 2, S. 83.
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Sulzer argumentiert also, dass die Materialisten keine plausible Erklärung dafür anzubieten haben, wie das Gefühl der Einheit zustande kommt, das wir dem Vernehmen nach jederzeit haben. Damit lautet Sulzers sechstes Argument gegen den Materialismus: (6) Wir erfahren uns als Wesen, denen Einheit gegenüber der Vielheit unserer Vorstellungen zukommt. Dieses Gefühl lässt sich aber nicht materialistisch erklären, denn dazu müssten einheitliche Gedanken über die Teile eines ausgedehnten Substrats verteilt werden, was aber nicht mit ihrer Einheit verträglich ist. Dies entspricht offensichtlich dem Achilles-Argument, hier in einer Variante, die darauf abhebt, dass wir unsere Einheit und damit wohl auch die selbständige Existenz der Seele direkt fühlen, was in den zeitgenössischen Theorien des Selbstgefühls breit diskutiert wurde.48 Der Status dieses sechsten Arguments bleibt insgesamt unklar, insbesondere ist nicht zu sehen, in welchem Verhältnis es zu den vorangegangenen steht. Auch darf gefragt werden, wie es denn genau zu verstehen sein soll, dass eine immaterielle, unausgedehnte Substanz sich unmittelbar in unserer raumzeitlich bestimmten Erfahrung zur Geltung bringt.
3. Subtile Materie, Trägheit und Grundkräfte Im dritten bis fünften Argument nimmt Sulzer auf materietheoretische Überlegungen der Zeit Bezug, die nicht ohne weiteres aus sich heraus verständlich sind. Da diese für die rekonstruierten Positionen entscheidend sind, sollen sie hier in den zeitgenössischen Kontext gestellt und erläutert werden. Die Positionen, auf die sich Sulzer bezieht, versuchen grundsätzlich, durch Erweiterungen des mechanistischen Materiebegriffs die Erklärungsressourcen des Materialismus auszuweiten. (1) Sulzer bezieht sich im dritten und fünften Argument auf eine Unterscheidung zwischen »grober« und »feiner«, »unendlich feinerer« oder »subtiler« Materie49 und bezeichnet letztere als eine »überall verbreitete, herrschende Materie«, die einer möglichen materialistischen Hypothese zufolge »auf das Sensorium oder auf denjenigen Theil unsers Körpers, welcher die sinnlichen Eindrücke empfängt, beständig drückt«.50 Ebenso könnte Sulzer zufolge ein Materialist argumentieren, dass es »eine andere unendlich feinere Materie gebe, welche kein Bestandtheil der 48
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Udo Thiel zufolge wird der Terminus »Selbstgefühl« zuerst 1764 von Basedow verwandt und setzt sich über Feder in der Diskussion fest (Udo Thiel: Varieties of Inner Sense. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 [1997], S. 58–79; vgl. auch Manfred Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt a.M. 2002; Gideon Stiening: ›Aufseher seiner Selbst‹. Bewusstsein und Selbstgefühl bei Wezel im Ausgang von John Locke. In: Wezel-Jahrbuch 6/7 (2003/04), S. 81–111; Udo Thiel: Das ›Gefühl Ich‹. Ernst Platner zwischen Empirischer Psychologie und Transzendentalphilosophie. In: Aufklärung 19 (2007), S. 139–161; Falk Wunderlich: Ernst Platners Auseinandersetzung mit David Hume. In: Aufklärung 19 (2007), S. 163–180, hier S. 168–178. Siehe Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele (s. Anm. 6), S. 359f. Ebd., S. 353.
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Körper selbst sey, sondern sie nur durchdringe, wie z.B. das Feuer«.51 Sulzer bezieht sich hier auf eine reichhaltige Tradition neuzeitlicher Ätherhypothesen, die sich bis zu Descartes zurückverfolgen lassen. Descartes bestritt die Möglichkeit eines leeren Raumes und versuchte, mit der Hypothese von der subtilen Materie die scheinbar leeren Räume zwischen den soliden Körpern zu erklären; der Raum ist für Descartes also immer erfüllt, entweder von solider oder von subtiler Materie.52 Ganz entsprechend erklärt später Johann Samuel Traugott Gehler in seinem weit verbreiteten, 1787–1796 erschienenen Physikalischen Wörterbuch den Äther als »eine feine durch den Weltraum und die Zwischenräume der Körper verbreitete Materie«.53 Besonders relevant für Sulzer waren sicher die entsprechenden Theorien Leonhard Eulers, seines Kollegen und Konkurrenten an der Berliner Akademie der Wissenschaften.54 Euler verstand den Äther wie in Gehlers Darstellung als eine außerordentlich feine, flüssige und elastische Materie, die aufgrund ihrer Elastizität sowohl den gesamten leeren Raum zwischen den Körpern als auch die Zwischenräume innerhalb der Körper erfüllt. Er verwendete Ätherhypothesen zur Erklärung einer ganzen Reihe von strittigen (weil mit den Mitteln der klassischen Mechanik nicht leicht zu erklärenden) Phänomenen wie Licht und Elektrizität, und mithilfe einer ätherähnlichen, subtilen Materie auch des Magnetismus. Besonders der Erfolg von Eulers Theorie des Lichts hat, so Gehler, dazu geführt, dass Eulers Äthertheorie auch im Allgemeinen große Verbreitung fand.55 Der Äther kann jedoch in zwei sehr unterschiedlichen Weisen aufgefasst werden. Zum einen kann unter einer »subtilen Materie« eine solche verstanden werden, die lediglich in besonders feiner Form vorliegt (also aus besonders kleinen Teilen besteht), aber ansonsten alle üblichen mechanischen Eigenschaften aufweist. Zum anderen kann darunter aber eine fein verteilte Materie verstanden werden, die einige dieser Eigenschaften nicht besitzt, insbesondere kein Gewicht; eine Materie also, die imponderabel ist. Eine masselose Materie könnte also einen soliden Körper in noch anderer Weise »durchdringen« als eine solche, die eine Masse besitzt: sie könnte nicht nur in die Zwischenräume zwischen den Atomen oder Korpuskeln eindringen, sondern auch in die kleinsten Teile selbst, da sie keinen mechanischen Widerstand leistet.56 Es 51 52
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Ebd., S. 359. Z.B. René Descartes: Principia philosophiae. In: Œuvres de Descartes. Ed. par Charles Adam, Paul Tannery. Paris 1982, Tome IV, Bd. 8.1. Vgl. Rosaleen Love: Revisions of Descartes’ matter theory in ›Le Monde‹. In: British Journal for the History of Science 8 (1975), p. 127–137; Stephen Gaukroger: Descartes’ System of Natural Philosophy. Cambridge 2002, p. 93–134, 146–160. Zur Geschichte der Äthertheorien insgesamt siehe Geoffrey Cantor, Jonathan Hodge (Ed.): Conceptions of Ether. Studies in the History of Ether Theories 1740– 1900. Cambridge 1981. Johann Samuel Traugott Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Leipzig 1787–1796, Bd. 1, S. 83. Sulzers persönliches Verhältnis zu Euler scheint etwas zwiespältig gewesen zu sein. Euler hat Sulzer zunächst bei seinem Bemühen um eine Professur für Mathematik am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin unterstützt (Johann Georg Sulzer: Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgesetzt. Berlin 1809, S. 24), obwohl sie in ihren philosophischen Auffassungen eigentlich weit auseinander lagen (vgl. die Bemerkung Merians in der Lebensbeschreibung, S. 26). Später gab es dann Unstimmigkeiten wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten an der Berliner Akademie, die zu Eulers Ausscheiden führten. Dies ist von Zeitgenossen als Intrige Lamberts und Sulzers dargestellt worden, Sulzer weist diese Vorwürfe in der Lebensbeschreibung (S. 46) zurück. Zu Eulers Optik vgl. Kurt Møller Pedersen: Leonhard Euler’s Wave Theory of Light. In: Perspectives on Science 16 (2008), p. 392–416; Casper Hakfoort: Optics in the Age of Euler. Cambridge 1995. So stellt Gehler ganz richtig fest: »Wenn das erste Element oder die subtile Materie sich von den übrigen Körpern blos durch die Feinheit und Gestalt der Theile unterscheiden soll, so muß es eben soviel
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ist aus Sulzers Verwendung der Beispiele nicht klar zu ersehen, welche der beiden Varianten er unterstellt. Wenn er vom Durchdringen des Körpers durch den Feuerstoff spricht, scheint er an eine Imponderabilie zu denken, viele seiner Argumente gegen materialistische Überlegungen nehmen aber darauf Bezug, dass auch subtile Materien die üblichen mechanischen Eigenschaften aufweisen. Ein zeitgenössisches Beispiel für eine materialistische Theorie, die den menschlichen Körper als aus einer feinen materia activa und einer festen materia passiva zusammengesetzt ansieht, findet sich bei dem Frühmaterialisten Theodor Ludwig Lau, allerdings nur in Thesenform ohne jede weitere Erläuterung.57 (2) Bei der Diskussion des vierten Arguments gegen den Materialismus beschäftigt sich Sulzer mit Materieverständnissen, die der Materie selbst Aktivität zuschreiben, und wendet sich unter Verweis auf das Trägheitsgesetz gegen diese Auffassungen. Das Trägheitsgesetz, wonach Körper ohne äußeren Anstoß in ihrem jeweiligen Bewegungszustand verharren, ist zu Sulzers Zeit bereits Allgemeingut. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass er hier darauf Bezug nimmt. Die Position, gegen die er sich richtet, ist unter Anhängern des Materialismus weit verbreitet. So behauptet John Toland in seinen Letters to Serena, dass Materie selbst grundsätzlich aktiv ist und demzufolge Bewegung untrennbar mit der Materie verbunden ist. Diese Überlegung wird von d’Holbach, der die Letters to Serena ins Französische übersetzt hat, im Système de la nature aufgriffen.58 Neben d’Holbach dürften auch entsprechende Diskussionen bei Euler für Sulzer relevant gewesen sein. Bei Euler findet sich eine vehemente Kritik an der von ihm interessanterweise den eigentlich des Materialismus unverdächtigen Wolffianern zugeschriebenen Auffassung, dass Körper ihrer Natur gemäß jederzeit bestrebt seien, ihren Zustand zu verändern.59 Euler hebt demgegenüber hervor, nur die Auffassung, dass Trägheit und Undurchdringlichkeit die einzigen essentiellen Bestimmungen des Materiellen sind, sei geeignet, die Möglichkeit denkender Materie auszuschließen.60 Sulzer Bezugnahme auf »organisierte Materie« in diesem Zusammenhang kann auch als Gegenthese zu La Mettrie verstanden werden. Im L’homme machine wendet letzterer sich zunächst von eigenen früheren Überlegungen ab, denen zufolge Materie generell die Möglichkeit zu
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eigenthümliches Gewicht, als andere Körper, besitzen; denn die Gestalt ändert nichts im Gewichte.« (Gehler: Physikalisches Wörterbuch [s. Anm. 53], Bd. 2, S. 866–871.) Theodor Ludwig Lau: Meditationes philosophicae de Deo, Mundo, Homine. In: Martin Pott (Hg.): Theodor Ludwig Lau (1670–1740). Stuttgart 1992, S. 55–104, hier S. 29. V.a. im fünften Brief unter dem Titel Motion essential to Matter (John Toland: Letters to Serena. London 1704, p. 163–239). Vgl. d’Holbach: Système de la nature (s. Anm. 30), Bd. 1, p. 38–48; William Coward: The Grand Essay, or a Vindication of Reason & Religion, Against Impostures of Philosophy. London 1704, p. 43, spricht der Materie ein »principle of self-motion« zu. Vgl. hierzu Thomson: Mechanistic Materialism vs Vitalistic Materialism (s. Anm. 8), p. 27f.; Thomson: Bodies of Thought (s. Anm. 9), p. 113f. Leonhard Euler: Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie. Braunschweig 1986, S. 79–82. Einen weiteren möglichen Bezugspunkt stellen Diskussionen bei Diderot und Maupertuis dar, die Thomson (Bodies of Thought [s. Anm. 9], p. 220f.) zusammenfasst. Euler: Briefe an eine deutsche Prinzessin (s. Anm. 59), bes. S. 89f. Es sollte hier nicht unerwähnt bleiben, dass für Kant aus dem Trägheitsgesetz zwingend folgt, dass die Materie grundsätzlich passiv ist und ihr keine weiteren, Kräfte, z.B. Lebenskräfte, zukommen (z.B. in Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., Bd. 4, S. 544.)
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Selbstbewegung und Denken besitzt. Organisierte Materie soll aber aufgrund ihrer Organisiertheit über eben jene Fähigkeiten verfügen.61 Sulzers Einwand dagegen würde lauten, dass aus der Organisation der Materie keine Eigenschaften resultieren können, die den Bestandteilen des organisierten Wesens nicht auch selbst zukommen. (3) Sulzer diskutiert im Zusammenhang des vierten Arguments noch eine weitere Überlegung, die man im Sinne einer Selbsttätigkeit der Materie auslegen könnte. Diese lässt sich im Rahmen einer dynamistischen Materietheorie anstellen. Dynamistische Materietheorien sind solche, die Ausdehnung und Undurchdringlichkeit nicht als primäre Eigenschaften der Materie ansehen, sondern diese ihrerseits auf die Grundkräfte der Attraktion und Repulsion zurückführen. Ursprünglich von Roger Boscovich entwickelt, greift besonders der in Deutschland recht bekannte Joseph Priestley diese Auffassung auf, und sie findet sich auch in Kants Monadologia physica (1756) sowie in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786). Priestley diskutiert erstmals in The History and Present State of Discoveries relating to Vision, Light, and Colours Boscovichs Auffassung ausführlich; dieses Werk erschien 1772, also noch vor Sulzers Aufsatz.62 Kommen der Materie solche Grundkräfte zu, dann könnte man vermuten, dass Materie selbst Bewegungen initiieren kann (auch wenn zumindest Kant klarerweise nicht dieser Auffassung gewesen ist). Sulzers oben diskutierter Einwand gegen diese Überlegung lautete, dass die Anziehung auch dann den üblichen Gesetzen der Bewegung unterworfen wäre, wenn es sich um eine Grundkraft im Sinne der dynamistischen Materietheorie handelte.
4. Sulzers eigene Auffassung zum Leib-Seele-Problem Es sollte aus der bisherigen Diskussion klargeworden sein, dass Sulzer nach dem Verständnis des 18. Jahrhunderts kein Materialist ist, selbst dann, wenn er von einer »Physik der Seele« oder »physischen Gründen« spricht.63 Er vertritt keinen Monismus, sondern ist Substanzdualist. Das 61
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La Mettrie: L’homme machine (s. Anm. 18), z.B. S. 333–340. Vgl. Thomson: Mechanistic vs Vitalistic Materialism (s. Anm. 8), p. 28–31 zu La Mettries Revision seiner ursprünglichen Auffassung im L’homme machine. Thomson argumentiert, dass La Mettries mit dem Begriff der Maschine keineswegs an die mechanistische Auffassung des Cartesianismus anschließt, sondern sie gerade dadurch, dass er der organisierten Materie zusätzliche Eigenschaften zuschreibt, hinter sich lässt (ebd., p. 23f.). Joseph Priestley: The History and Present State of Discoveries relating to Vision, Light, and Colours. London 1772, p. 383–394. Das Werk wurde recht schnell von dem bekannten Mathematiker Georg Simon Klügel ins Deutsche übersetzt und erschien unter dem Titel: Geschichte und gegenwärtiger Zustand der Optik, vorzüglich in Absicht auf den physikalischen Theil dieser Wissenschaft. Leipzig 1775–1776. Zu Boscovich vgl. z.B. Ferdinand Rosenberger: Die Geschichte der Physik in Grundzügen. Braunschweig 1882, Bd. 2, S. 331–333; zu Priestley siehe Robert Schofield: Priestley, the Theory of Oxidation and the Nature of Matter. In: Journal of the History of Ideas 25 (1964), p. 285–294; ders.: The Enlightenment of Joseph Priestley. University Park 1997, p. 54–57, zu weiteren Hintergründen seiner dynamistischen Materieauffassung. Priestleys zentrale metaphysische Werke, in denen er seinen Materialismus entwickelt, erschienen erst zwischen 1774 und 1780, also zu spät, um noch in Sulzers Widerlegung berücksichtigt werden zu können. In Sulzers Kurzem Begriff aller Wissenschaften dient »Experimentalphysik der Seele« als Synonym für die Psychologia empirica (Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wißenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit. Leipzig 21759, S. 157).
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schließt gerade nicht aus – und dies ist ein durchaus erstaunliches Phänomen, längst nicht nur bei Sulzer –, dass er zugleich einen mehr oder weniger großen und auch bis ins Detail bestimmten Einfluss körperlicher Funktionen auf mentale Zustände behauptet. Materialist im relevanten Sinne ist man erst dann, wenn man behauptet, dass mentale Prozesse vollständig auf materielle zurückgeführt werden können, und dabei eben, modern gesprochen, keine Erklärungslücke auftritt. Auch der bereits erwähnte Justus Christian Hennings, um nur ein Beispiel von vielen zu zitieren, sah in einem solchen Unternehmen keine Schwierigkeiten. Hennings behauptet, dass jede Empfindung mit einer Bewegung der Nervenfibern verbunden ist, ja sogar, dass es ohne die Sinne gar kein wirkliches Denken gäbe, und der Ursprung aller unserer Begriffe von sinnlichen Eindrücken zuletzt herzuleiten ist. Jedoch, so Hennings, »folgt doch nicht, daß jeder Gedanke von einer Bewegung gänzlich abhänge, vielweniger eine Bewegung sey.«64 Die zugrundeliegende Überlegung besagt offenbar, dass die mechanistische Erklärungsweise durchaus erfolgreich zur Erklärung des Mentalen (etwa im Fall der Wahrnehmung) dienen kann, solange damit nicht der Anspruch verbunden wird, des damit vollständig zu erfassen. Die immaterielle Seele wird dann in gewissem Sinne als Erklärungsinstanz nur noch für diejenigen Phänomene oder Aspekte benötigt, die sich nicht auf die Bewegung und Lageänderung von Teilen zurückführen lassen.65 Das Verhältnis von Körper und Seele, das Sulzer im Rahmen seines Substanzdualismus ansetzt, stellt des näheren eine Variante der Lehre vom Influxus physicus dar, der Auffassung also, dass trotz der grundlegenden Verschiedenheit der beiden Substanzarten direkte Einflüsse zwischen ihnen möglich sind. Die Influxus-Lehre erlebte im 18. Jahrhundert eine kleine Renaissance, galt sie doch lange, in Deutschland insbesondere unter dem Einfluss von Leibniz, als metaphysisch unhaltbare Position. Dabei lassen sich zwei Richtungen unterscheiden. Während die von Martin Knutzen begründete Richtung die Möglichkeit eines physischen Einflusses zwischen Seele und Körper durch subtile metaphysische Überlegungen zu etablieren suchte, argumentierte die auf Johann Gottlob Krüger zurückgehende Richtung eher erfahrungswissenschaftlich und zeigte weniger Interesse an den metaphysischen Einwänden gegen die Möglichkeit dieses Einflusses.66 Sulzer scheint eher der zweiten Richtung anzugehören und setzt durchweg mit großer Selbstverständlichkeit voraus, dass Seele und Körper einander physisch
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Hennings: Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere (s. Anm. 12), S. 99, vgl. auch S. 78–81. Schon bei Descartes schließt der Substanzendualismus keineswegs physiologische Erklärungen und Lokalisierungen aus, so dass diese Eigentümlichkeit anscheinend schon von Beginn an mit dem neuzeitlichen Dualismus verbunden ist; vgl. dazu John Cottingham: Cartesian dualism: theology, metaphysics, and science. In: John Cottingham (Ed.): The Cambridge Companion to Descartes. Cambridge 1992, p. 236– 257. Vgl. zur metaphysischen Richtung des Influxionismus Eric Watkins: Kant and the Metaphysics of Causality. Cambridge 2005, p. 23–100; ders.: The Development of Physical Influx in Early Eighteenth-Century Germany: Gottsched, Knutzen, and Crusius. In: Review of Metaphysics 49 (1995), p. 295–339; Heiner F. Klemme: Causation. In: Knud Haakonssen (Ed.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. Cambridge 2006, p. 368–388. Zur an der Medizin orientierten Richtung vgl. Carsten Zelle (Hg.): ›Vernünftige Ärzte‹. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001; Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003.
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beeinflussen.67 In der Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen heißt es dann auch ganz unverblümt, dass unsere Seele nur vermittels der Sinne Kenntnis von den Veränderungen in der Außenwelt haben kann, und dass dafür die metaphysische Frage nach der Natur dieses Einflusses völlig unerheblich sei: Nun mögen die Werkzeuge, nach der Meynung des Aristoteles, diese Empfindung wirklich verursachen; oder sie mögen sie, nach dem Gedanken des Cartesius, bloß veranlassen; oder die Empfindungen mögen, nach Leibnitzens System, die Erschütterungen der Werkzeuge, vermöge einer vorherbestimmten Harmonie, bloß begleiten: so kann man sie doch immer als die wirkenden Ursachen der sinnlichen Empfindungen ansehen, weil alles vollkommen so erfolgt, als ob sie es wirklich wären.68
Es zeigt sich hier allerdings, dass Sulzer mit dieser vermeintlichen Common Sense-Überlegung nicht ganz auf der Höhe der Problemstellung ist. So führt er aus, dass wir die »Gegenstände, die wir empfinden, als die Ursachen, die durch einen natürlichen Einfluss unsre Werkzeuge rühren« betrachten.69 Nun geht es aber in der Auseinandersetzung der drei Systeme um nichts anderes als die Frage, welche Entitäten kausal wirksam sein können und welche nicht. Während der Okkasionalismus behauptet, dass ausschließlich Gott kausal wirksam ist und alle andere, beobachtbare Kausalität nur scheinbar, unterscheidet sich Leibniz’ prästabilierte Harmonie von jenem gerade dadurch, dass sie neben der Wirksamkeit Gottes die intrasubstantiale Kausalität innerhalb der Monaden als einzige Ausnahme zulässt. Der Influxionist geht dagegen von kausaler Wirksamkeit sowohl des Körpers in Bezug auf die Seele, als auch umgekehrt der Seele in Bezug auf den Körper aus. Wenn Sulzer also die kausale Wirksamkeit äußerer Gegenstände behauptet, dann bezieht er faktisch die Position des Influxionisten, auch wenn ihm das selbst nicht deutlich geworden zu sein scheint. Diese Vorgehensweise ist innerhalb des medizinisch-anthropologisch orientierten Influxionismus nicht ganz ungebräuchlich. So hält auch Johann Gottlob Krüger den physischen Einfluss primär für eine Erfahrungstatsache, die sich direkt aus der Beobachtung erschließt, und weniger für ein metaphysisches Problem. Leugnet man die Möglichkeit dieses Einflusses zwischen Körper und Seele, so Krüger, dann muss man auch die Möglichkeit eines Einflusses zwischen Körpern bestreiten. Es ist Krüger offenbar unbekannt, dass es genau diese Folgerung gewesen ist, die sowohl Malebranche als auch Leibniz konsequenterweise gezogen haben.70 Und auch Ernst Platner konstatiert später ganz ähnlich wie Sulzer, dass für die empirische Untersuchung des Verhältnisses von Körper und Seele die theoretische Frage nach ihrem Verhältnis irrelevant sei: 67
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Z.B. in Sulzer: Von dem Bewußtseyn (s. Anm. 21), S. 201; Ueber die Unsterblichkeit (s. Anm. 1), S. 1. Wolfgang Proß weist auf die besondere Relevanz von Krüger für Sulzer hin, vgl. Wolfgang Proß: ›Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten‹. Johann Georg Sulzer (1720–1779). In: Hellmut Thomke, Martin Bircher, Wolfgang Proß (Hg.): Helvetien und Deutschland. Amsterdam 1994, S. 133–148. Johann Georg Sulzer: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. In: VS 1, S. 1–98, hier S. 53f. Descartes wird heute eher mit der Influxus-Theorie als mit dem Okkasionalismus in Verbindung gebracht, obwohl es auch für letzteres bei Descartes Tendenzen gibt; zu Sulzers Zeit war es anscheinend eher üblich, Descartes’ Position mit dem Okkasionalismus zu identifizieren, z.B. bei Euler: Briefe an eine deutsche Prinzessin (s. Anm. 59), S. 92. Sulzer: Untersuchung (s. Anm. 68), S. 53; Hervorhebung von mir. Johann Gottlob Krüger: Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Halle, Helmstedt 1756, S. 317–330.
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Falk Wunderlich Ob nun dieses durch eine vorherbestimmte Harmonie oder durch einen reellen Einflus geschieht, das kann mir in so weit gleichgültig seyn, in wiefern es die Frage ist, ob ich sonst noch etwas für die Glückseligkeit des Menschen interessantes von der Verhältnissen der Seele und des Körpers erfahren kann.71
Das macht die Diskussion allerdings philosophisch nicht weniger unbefriedigend. Euler scheint dagegen eher auf der Höhe des Problems gewesen zu sein. In den Briefen an eine deutsche Prinzessin, die auch eine vehemente Zurückweisung des Materialismus enthalten, behauptet auch er, dass die Seele sowohl Eindrücke vermittels des Körpers empfängt, als auch die Fähigkeit besitzt, auf den Körper zu wirken. Doch Euler ist sich im Klaren darüber, dass diese Auffassung eben dem System des Influxus entspricht, mit den bekannten metaphysischen Folgelasten. Zwar könne man nicht wirklich erklären, wie dieser Zusammenhang von Körper und Seele zu verstehen ist und müsse daher zur göttlichen Allmacht Zuflucht nehmen, dennoch »scheinet« dieses System »der Wahrheit am nächsten zu kommen«.72 Euler ist sich also zumindest über die metaphysischen Implikationen seiner Auffassung im Klaren gewesen.
5. Fazit Sulzers Arbeiten über den Materialismus zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich ausführlicher und systematischer mit verschiedenen Formen und Verteidigungsstrategien des Materialismus beschäftigen als bei den meisten Zeitgenossen üblich (etwas später nur noch übertroffen von Hennings’ Gesamtdarstellung). Als originell erweist sich in diesem Zusammenhang insbesondere der Versuch, die Unkörperlichkeit der Seele über den Begriff des Interesses an den eigenen Vorstellungen zu etablieren. Bemerkenswert ist weiterhin, dass Sulzer die Abhängigkeit der gesamten Diskussion von den unterschiedlichen Materietheorien klar gesehen hat und damit auch der Vielgestaltigkeit der Diskussion gerecht wird. Unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Eigenschaften dem Materiellen insgesamt oder speziellen Materiearten wie den Imponderabilien zukommen, ziehen jeweils neue Ressourcen für materialistische Argumente nach sich. Sulzer setzt mit seinen Widerlegungsversuchen zu Recht direkt an dieser Stelle an. Dabei bleibt er jedoch gewissermaßen auf halbem Wege stehen, denn, wie sich gezeigt hat, legt er diese Erweiterungen des Materiebegriffs doch wiederum ausschließlich im Sinne der mechanistischen Auffassung aus. So sind beispielsweise Organismen für ihn ganz im Sinne der cartesianisch-mechanistischen Theorie nichts anderes als Maschinen; der Möglichkeit beispielsweise, dass organisierte Materie gegenüber unorganisierter qualitativ verschiedene Eigenschaften aufweisen könnte, wird nicht argumentativ begegnet, und es ist nicht klar, ob Sulzer diese Möglichkeit wirklich gesehen hat. Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang von Sulzers viertem Argument gegen den Materialismus: Er folgert dort, dass, wenn sich Aktivität nicht aus den Eigenschaften der Ausdehnung, Dichtigkeit, Größe und Figur herleiten lässt, sie schlechter71
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Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Leipzig 1772, S. XII. Vgl. dazu Thomas Sturm: Kant und die Wissenschaften vom Menschen. Paderborn 2009, S. 75–77, sowie zu Platner ausführlicher Werner Euler: Commercium mentis et corporis? In: Aufklärung 19 (2007), S. 21–68. Euler: Briefe an eine deutsche Prinzessin (s. Anm. 59), S. 92. Auf Eulers ausführliche Diskussion der beiden anderen Systeme kann hier nicht näher eingegangen werden.
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dings nicht materiellen Ursprungs sein kann. Diese Überlegung macht deutlich, dass Sulzer letztlich doch kein anderes als das mechanistische Materieverständnis für möglich hält: Eigenschaften, die über dieses hinausgehen, sind für ihn per se immaterielle Eigenschaften. Ob es Sulzer angesichts dieser doch weitgehend der Tradition verpflichteten Auffassungen gelungen ist, »zwischen den zwei Klippen des Idealismus und Materialismus eine neue Strasse zu entdecken«, wie der eingangs zitierte Wegelin meinte, erscheint daher zweifelhaft.73
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Wegelin: Etwas über Sulzern (s. Anm. 3), S. 12.
GIDEON STIENING
Zur physischen Anthropologie einer »Unsterblichkeit der Seele« Das alte Kronjuwel der Metaphysik, die Unsterblichkeit, hatte auch den Aspekt einer durch keine Macht verletzlichen Konstante. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos
1. Zum Konzept von Anthropologie in Von dem Bewußtseyn Johann Georg Sulzer ist von der Forschung – neben der Würdigung seines Beitrags zur Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts1 – in den letzten Jahren als Autor wahrgenommen und interpretiert worden, der zum Problem und zur Theoriegeschichte einer Fundamental-Anthropologie der Spätaufklärung2 frühe konstitutive Beiträge geleistet habe.3 In auffälliger Weise bezieht sich die zumeist germanistische Forschung zu diesem Sachverhalt, die in Wolfgang Riedels Aufsatz zur »anthropologischen Achsendrehung« bzw. »Wende zur Ästhetik« ihren Standardtext fand,4 zunächst und zumeist auf einige frühe Schriften zur empirischen Psychologie: Hierbei fällt der 1
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Vgl. hierzu u.a. Johannes Dobai: Die bildenden Künste in Johann Georg Sulzers Ästhetik. Seine »Allgemeine Theorie der schönen Künste«. Winterthur 1978; Élisabeth Décultot: L’esthétique de Sulzer entre l’Allemagne et la France au XVIIIe siècle. In: Bernard Deloche (Ed.): L’esthétique de Johann Georg Sulzer (1720–1779). Actes du colloque international du 21. novembre 2003. Lyon 2005, p. 11–37; dies.: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie. Zu Sulzers ›Untersuchungen über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen‹ (1751/52). In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 69–88 sowie jüngst Hans-Joachim Dethlefs: Zur Theorie der Haltung in Johann Georg Sulzers ›Allgemeiner Theorie der schönen Künste‹. In: Germanisch Romanische Monatshefte 59.2 (2009), S. 257–279. Zur Kontur und Stellung dieser Theoriebewegung zwischen Wolff und Kant vgl. Wolfgang Proß: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. In: Johann Gottfried Herder: Werke. Hg. von Wolfgang Proß. Darmstadt 1987, Bd. 2, S. 1128–1216; Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003 sowie Gideon Stiening: Platners Aufklärung. Das Theorem der angeborenen Ideen zwischen Anthropologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik. In: Aufklärung 19 (2007), S. 105–138. Vgl. hierzu u.a. Wolfgang Proß: »Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten.« Johann Georg Sulzer (1720–1779). In: Hellmut Thomke, Martin Bircher, Wolfgang Proß (Hg.): Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770– 1830. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 134–148; Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998, S. 134ff.; Mark-Georg Dehrmann: Das »Orakel der Deisten«. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008, S. 216ff., S. 224–237. Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart, Weimar 1994, S. 411–439.
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Gideon Stiening
Fokus auf die stets mit einiger Aufmerksamkeit betrachteten Texte Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1751) sowie Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe, sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe urtheilet und handelt von 1759. Bei Riedel – wie bei Achim Vesper, Élisabeth Décultot oder Caroline Torra-Mattenklott5 – werden bisweilen die Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet von 1763 hinzugezogen, weil spätestens hier eine »Autonomisierung der Empfindung«, mithin eine Verselbständigung der sinnlichen Erkenntnisvermögen gegenüber den rationalen Vermögen des Menschen zu verzeichnen sei.6 Gegenüber dieser communis opinio germanistischer und philosophiehistorischer SulzerForschung lässt sich allerdings zeigen, dass man im Hinblick auf die philosophische Position des Berliner Aufklärers und deren Stellung innerhalb der aufklärerischen Theoriebildung zwischen 1750 und 1770 einerseits die disziplinären Perspektiven und die ihnen entsprechenden Problemlagen – Psychologie, Anthropologie und Ästhetik – deutlicher noch auseinanderhalten muss, als dies im Zusammenhang transdisziplinärer Anthropologieforschung eingehalten wurde. Die von Carsten Zelle inaugurierte sowie von Ernst Stöckmann und Stefan Borchers verschärfte These von einer Gleichursprünglichkeit bzw. Interdependenz einer ›Anthropologischen Wende‹ und der Entstehung einer wissenschaftlichen Ästhetik um 17507 führt zu einem verkürzten Blick auf das systematische Verhältnis von empirischer Psychologie, Ästhetik und Anthropologie.8 Das schon von Ernst Cassirer analysierte sowie von der Cambridge History modifizierte und erweiterte Modell disziplinärer und systematischer Ausdifferenzierung aufklärerischer Theoriebildung9 wird nicht allein in der engeren Sulzer-Forschung, sondern vor allem in der den Berliner Theoretiker beanspruchenden Anthropologieforschung der letzten Jahre zu stark eingeebnet.10
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Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert. München 2002, S. 227ff.; Décultot: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie (s. Anm. 1), S. 69–88; Achim Vesper: Le plaisir du beau chez Leibniz, Wolff, Sulzer, Mendelssohn et Kant. In: Revue Germanique Internationale 4/2006, p. 23–36. So Décultot: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie (s. Anm. 1), S. 74; Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2009, S. 201–249, spez. S. 213ff. sowie in Wiederholung älterer Thesen Carsten Zelle: Johann Georg Sulzers europäische Dimension. In: Berliner Aufklärung 4 (2011), S. 63–93, spez. S. 68ff.; zu einer überzeugenden Kritik an dieser These vgl. den Beitrag von Werner Euler in diesem Band. Vgl. hierzu Carsten Zelle: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750. In: ders. (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001, S. 5–24; Stöckmann: Anthropologische Ästhetik (s. Anm. 6) sowie Stefan Borchers: Die Erzeugung des ganzen Menschen. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011. Vgl. hierzu u.a. Gideon Stiening: Rezension von Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2009. In: Arbitrium 2/2010, S. 189–192. Siehe hierzu Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 31973; Knud Haakonssen (Ed.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. 2 vols. Cambridge 2006. Vgl. hierzu paradigmatisch Stöckmann: Anthropologische Ästhetik (s. Anm. 6).
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Andererseits ist stärker als bisher zu berücksichtigen, dass bei Sulzer – selbst nach seiner vermeintlichen Wende zu einer empirischen Psychologie und deren internen Verschiebungen – weiterhin Modifikationen seiner philosophischen Systematik stattfinden, die mit den Entwicklung des philosophischen und einzelwissenschaftlichen Kontextes der 1770er Jahre zusammenhängen bzw. Schritt halten.11 Auch zwischen 1763 und 1779 arbeitet Sulzer an einer weiteren Fortschreibung seiner ontologischen, epistemologischen und ästhetischen Konzeptionen und weist ausdrücklich auf diese eigenen Entwicklungen hin; in seinen Psychologischen Betrachtungen über den sittlichen Menschen von 1769 betont er: Ich habe es versucht [die Frage zu beantworten, »von welcher Beschaffenheit […] die Erkenntniß seyn [muß], die einen Einfluß in unsre Handlungen haben soll«], die Auflösung dieser Aufgabe in einem der Akademie vorgelesenen Aufsatze zu geben [hier folgt ein anmerkungsweiser Verweis auf den Text Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes]; es geschah aber nur gelegentlich, daß ich damals davon redete. Hier will ich also das, was an dem angeführten Orte an der Auflösung dieser Aufgabe mangelte, vollends hinzusetzen.12
Zu Recht also – darauf macht sein Übersetzer und Biograph Friedrich Blanckenburg aufmerksam13 – nimmt Sulzer für sich in Anspruch, sich zeitlebens hinsichtlich seiner philosophischen und einzelwissenschaftlichen Positionen fortentwickelt zu haben – ohne die Fundamente seines Wolffianismus vollkommen zu verlassen.14 Die rasanten Theorieentwicklungen der 1760er und 1770er Jahre, die keineswegs von einer Wende zu Empirismus, Naturalismus und Historismus ausgezeichnet werden,15 sondern vielmehr durch ebenso drastische wie produktive Kontroversen zwischen strengem Wolffianismus, leibnizianischen Rationalismus und den Filiationen des britischen Empirismus zu charakterisieren sind,16 gehen an Sulzer keineswegs vorüber. Bei aller Konzentration auf sein opus magnum, die Allgemeinen Theorie der schönen Künste, zeigt noch Sul11
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Vgl. Daniela Gay: Philosophie und empirisch-experimentelle Naturwissenschaften bei Johann Georg Sulzer und Christian Wolff. In: Jürgen Stolzenberg, Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.–8. April 2004. Hildesheim, Zürich, New York 2007, Teil 4, S. 145–158. Johann Georg Sulzer: Psychologische Betrachtungen über den sittlichen Menschen. In: Johann Georg Sulzer: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/1781 [im Folgenden: VS Band, Seitenzahl], hier Bd. 1, S. 282–306, hier S. 292f. Christian Friedrich von Blanckenburg: Einige Nachrichten von dem Leben und den Schriften des Herrn Johann Georg Sulzer. Leipzig 1781, S. 92ff. Anders dazu Zelle (Sulzer europäische Dimension [s. Anm. 6], S. 68), der von einem lockeschen Empirismus Sulzers spricht. So aber die communis opinio der derzeitigen Anthropologieforschung; vgl. u.a. Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004; Manfred Beetz, Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.): Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Göttingen 2007; Wolfgang Riedel: Die anthropologische Wende: Schillers Modernität. In: Jörg Robert (Hg.): Würzburger Schiller-Vorträge 2005. Würzburg 2007, S. 1–24 sowie Borchers: Die Erzeugung des ganzen Menschen (s. Anm. 7); zur Kritik an dieser ebenso eindimensionalen wie normativ überlagerten These vgl. Gideon Stiening: Ein »Sistem« für den »ganzen Menschen«. Die Suche nach einer ›anthropologischen Wende‹ und das anthropologische Argument bei Johann Karl Wezel. In: Dieter Hüning, Karin Michel, Andreas Thomas (Hg.): Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum. Berlin 2004, S. 113– 139. Vgl. hierzu schon Karl Vorländer: Immanuel Kant – Der Mann und das Werk. Hamburg 31992, S. 144ff. sowie die kundige Studie von Friedemann Stengel: Kant – »Zwillingsbruder« Swedenborgs? In: ders. (Hg.): Kant und Swedenborg. Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis. Tübingen 2008, S. 35–98.
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zers letzte große Studie zur Unverzichtbarkeit und ›naturwissenschaftlichen‹ Nachweisbarkeit einer Unsterblichkeit der Seele, dass er bis in die späten 1770er Jahre an den jeweils aktuellsten Entwicklungen der philosophischen sowie bestimmter einzelwissenschaftlicher Forschungen regen Anteil nahm. Nun spricht Sulzer unbestreitbar schon 1759 und 1764 von einer »Physik der Seele«.17 Diese materialistisch anmutende Formel wird durch eine systematische und disziplinäre Konstellation in Von dem Bewußtseyn und seinem Einfluße in unsre Urtheile (1764) allerdings wie folgt definiert: Seit dem ersten Anfange der Philosophie bis auf unsere Tage ist das Studium des moralischen Menschen einer der vornehmsten Gegenstände der philosophischen Untersuchungen gewesen […]. Doch darf man sich deswegen nicht einbilden, daß die philosophische Theorie des Menschen vollständig und vollkommen sey. Es fehlet ihr vielmehr noch an einem, sehr wesentlichen und weit schwereren Theile, als jener ist, ich meyne die metaphysische Theorie des Menschen, oder das, was einige Philosophen die Physik der Seele nennen.18
Das von Ernst Cassirer als materialistisch aufgespießte Schlagwort von einer »Physik der Seele«19 meint bei Sulzer allerdings nichts anderes als eine theoretische Anthropologie, die sowohl das Körper-Seele-Verhältnis als auch dessen epistemologische Konsequenzen auf den Begriff bringt. Dabei entwickelt Sulzer eine Konzeption, die sowohl empirisch als auch rational vorgeht.20 Sulzer entwirft mithin schon seit den späten 1750er Jahren in anthropologischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht Formen jenes empirio-rationalistischen Dualismus’, der dann in den 1770er Jahren mit Herders oder Tetens’ Anthropologien Konjunktur hatte.21 Auch Lessing oder Wieland stehen zeitlebens in diesem theoretischen Spannungsfeld zwischen Rationalismus und Empirismus.22 Von einem konzeptionell vertretenen Materialismus ist mithin in Bezug auf diese Stelle wie bezüglich keiner anderen Passage des sulzerschen Œuvres zu sprechen.23 Vielmehr wird er in der weiteren Folge seiner Schriften die Herausforderungen des Materialismus annehmen und dessen Konsequenzen leidenschaftlich bekämpfen. Schon 1771 verfasst er die kritischen Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, in sofern sie mit den Eigenschaften der Materie eine Aehnlichkeit haben, zur Prüfung des Systems des Materialismus.24 Diese Auseinandersetzung verstärkt sich im Laufe der 1770er Jahre erheblich, und das aus mehreren Gründen: Zum einen nahm die Rezeption des Materialismus, der europaweit, vor allem aber in Frankreich und England, seit La Mettries 17
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Vgl. hierzu die beiden Texte: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe, sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe urtheilet und handelt. In: VS 1, S. 99–121, spez. S. 115; ders.: Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile. In: ebd., S. 199–224, spez. S. 199. Ebd., S. 199; Hervorhebung von mir. So Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. 4 Bde. Berlin 31922 [ND Darmstadt 1991], Bd. 2, S. 562. Vgl. Proß: »Meine einzige Absicht« (s. Anm. 2), S. 136ff. Vgl. hierzu u.a. Cassirer: Erkenntnisproblem (s. Anm. 19), Bd. 2, S. 574ff. Zu Lessing vgl. den Überblick bei Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 32010, S. 14–37; zu Wieland vgl. Pascal Frey: Anthropologie der Metaphysik. Religion und Aufklärung im Spätwerk Wielands. In: Walter Erhart, Lothar van Laak (Hg.): Wissen – Erzählen – Tradition. Wielands Spätwerk. Berlin, New York 2010, S. 99–117. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Falk Wunderlich in diesem Band. VS 1, S. 348–376.
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L’homme machine von 1749 ihren punktuellen Einfluss ausübte,25 in den Ausformungen durch Charles Bonnet,26 Claude Adrien Helvétius27 sowie insbesondere durch das Système de la Nature des Baron d’Holbach seit den 1770er Jahren umfassendere und systematischere Züge an.28 Mit den psychologischen Modellen Michael Hißmanns und Christoph Meiners erhielt diese Tendenz der europäischen Erkenntnistheorie und Anthropologie auch ihre deutschsprachige Ausprägung.29 Zum anderen wurden insbesondere von seiten des Wolffianismus, den Sulzer zeitlebens vertrat,30 auch dezidiert materialismus-kritische Konzeptionen von Anthropologie,31 die in den 1770er Jahren allererst eine systematische Form und in Platners berühmter Anthropologie für Ärzte und Weltweise ihren fundamentaltheoretischen Status erhielt,32 dem Verdacht des Materialismus ausgesetzt.33 So spricht von Blanckenburg 1781 in einem Zusatz des Übersetzers zu eben jener Abhandlungen Sulzers über die Unsterblichkeit der Seele von einem »wirklich überhand nehmenden Materialismus«34 und Moses Mendelssohn beklagt noch 1785 den »Hang zum Materialismus, der in unseren Tagen so allgemein zu werden drohet«.35 Sulzer hat diese Sicht auf ›gefährliche‹ Entwicklungen der Aufklärungstheorie in den 1770er Jahren geteilt. Mit der Formel von der »metaphysischen Theorie des Menschen« als einer »Physik der Seele« muss nach Sulzer also keine materialistische, sondern vielmehr erstens eine rationale und em25 26
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Vgl. hierzu ausführlich Aaron Garrett: Human nature. In: Haakonssen (Ed.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy (s. Anm. 9), p. 160–233, esp. p. 165–221. So u.a. in Charles Bonnet: Essai analytique sur les facultés de l’âme. Kopenhagen 1759; vgl. hierzu u.a. Fernando Vidal: Les Sciences de L’Âme. XVIe–XVIIIe siècle. Paris 2005, p. 159–172 sowie Tobias Cheung: Der Baum im Baum. Modellkörper, reproduktive Systeme und die Differenz zwischen Lebendigem und Unlebendigem bei Kant und Bonnet. In: Ernst-Otto Onnasch (Hg.): Kants Philosophie der Natur. Berlin, New York 2009, S. 25–50. Zu dessen Rezeption in Deutschland vgl. Roland Krebs: Helvétius en Allemagne, ou la tentation du matérialisme. Paris 2006. Vgl. hierzu Dieter Hüning: Die Debatte um das Verhältnis von Willensfreiheit und Strafrecht in der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 16 (2008), S. 401–430, spez. S. 424ff. sowie demnächst Martin Schmeisser: Baron d’Holbach in Deutschland. Reaktionen in deutschen Zeitschriften der Aufklärung. In: Christine Haug, Winfried Schröder (Hg.): Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert. Wiesbaden [i.D.]. Christoph Meiners: Revision der Philosophie. Göttingen, Gotha 1772; Michael Hißmann: Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt a. M., Leipzig 1777; vgl. hierzu Udo Thiel: Varieties of Inner Sense. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), S. 58–79. Vgl. hierzu zu Recht Marion Heinz: Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie des jungen Herder (1763−1778). Hamburg 2004, S. 62ff., 109ff.; Helmut Holzhey: Die Berliner Popularphilosophie. Mendelssohn und Sulzer über die Unsterblichkeit der Seele. In: Martin Fontius, Helmut Holzhey (Hg.): Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Berlin 1996, S. 201–216 sowie den Beitrag von Werner Euler in diesem Band. Vgl. hierzu Ernst Platners Versuche der Widerlegung des Materialismus in seinen frühen Aphorismen: Ernst Platner: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Leipzig 1776, S. 258ff. (§ 804, Anm.). Vgl. hierzu Stiening: Platners Aufklärung (s. Anm. 2), S. 105–138. Vgl. hierzu u.a. Wilhelm Ludwig Gottlob Freyherr von Eberstein: Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik bey den Deutschen von Leibniz bis auf die gegenwärtige Zeit. 2 Bde. Halle 1794, Bd. 1, S. 284–524. Christian Friedrich von Blanckenburg: Zusatz des Übersetzers. In: VS 2, S. 92. Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. In: ders.: Ausgewählte Werke. Studienausgabe. Hg. und eingeleitet von Christoph Schulte, Andreas Kennecke, Grażyna Jurewicz. 2 Bde. Darmstadt 2009, Bd. 2, S. 220.
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pirische Anthropologie verbunden sowie zweitens deren komplexer Zusammenhang mit einer moralisch-praktischen Anthropologie postuliert werden. Aufgrund eines anschaulichen Vergleichs, mit dem Sulzer das Verhältnis der theoretischen zur praktischen Anthropologie erläutert, drängt sich die Frage nach dem spezifischen Verhältnis beider Systemteile deutlicher auf: Diese zwo Wissenschaften [d.i. das Studium des moralischen Menschen und die metaphysische Theorie des Menschen] stehen in demselben Verhältnisse gegeneinander, welches zwischen der empirischen und gelehrten Arzneykunst statt hat. Die eine sammelt die Facta, und beobachtet alles, was irgend eine der Gesundheit zuträgliche Veränderung hervorbringt; die andere setzet diese Facta auseinander, erforschet ihre Verbindungen und Ursachen, und hat die Festsetzung eines richtigen Systems zur Absicht, welches dem Urtheilen über die Natur der Krankheiten, und über die Heilungsmittel derselben zu einem sichern Grunde diene. […] Gerade eben so verhält es sich mit den beyden vorhin erwähnten Theorien des Menschen. Ohne eine gute Naturlehre der Seele ist die Moral ziemlich unsicher, sie kann nicht anders als nur im Finstern tappend fortgehen und verläßt uns oft in den wichtigsten Fällen.36
Empirisch ist nach Sulzer also die praktische Anthropologie, rational mit dem Telos eines Systems bzw. einer Systematisierung der sinnlichen Eindrücke dagegen die theoretische Anthropologie. Nur eine szientifische Fundierung dieser empirischen ›Naturlehre‹ durch eine apriorische Rationalität und damit die Garantie ihrer Wahrheitsgewissheit vermag dem ›Herumtappen der praktischen Anthropologie‹ allererst ein Ende zu setzen. Geltung und Verbindlichkeit erhält die Normativität der praktischen Anthropologie mithin einzig durch apriorische Rationalität. Von einer Wende zum Empirismus, einer »Entdeckung der Empfindung als eines Anderen der Vernunft« – so die zentrale These Wolfgang Riedels37 – ist also in dieser anthropologischen Systemskizze nichts zu entdecken. Die – keineswegs empiristisch bestimmte – Empirie der praktischen Anthropologie erhält ihre szientifische Fundierung allein durch die Systematisierungsfunktion einer theoretischen Anthropologie, die Physik der Seele deshalb heißt, weil die ihr entsprechende Erkenntnistheorie in den Zusammenhang des Körper-Seele-Problems gestellt werden muss. Darin ist sich Sulzer mit den ›Vernünftigen Ärzten‹ aus Halle einig,38 dass es – wenn schon keinen fundierenden – so doch einen für alle Epistemologie zu berücksichtigenden Zusammenhang zwischen der Vermögenspsychologie und dem Körper-Seele-Verhältnis gibt. Anders als Leibniz oder Wolff, doch in möglicher Anlehnung an Johann Christoph Gottsched oder Martin Knutzen ist Sulzer offenbar von einem realen gegenseitigen Einfluss beider Substanzen überzeugt.39 Die Gründe, die Sulzer für den systematischen Konnex von Psychologie und Anthropologie ins Feld führt, werden im Folgenden noch zu betrachten sein. Anders aber als beim frühen Platner und den Meinungsführern in der Anthropologie der 1770er Jahre40 soll
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Sulzer: Von dem Bewußtseyn (s. Anm. 17), S. 199f. Riedel: Anthropologische Achsendrehung (s. Anm. 4), S. 416. Vgl. hierzu Carsten Zelle (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001. Zur Influxus-physicus-Theorie dieser ›Wolffianer‹ vgl. Eric Watkins: The Development of Physical Influx in Early Eighteenth-Century Germany: Gottsched, Knutzen, and Crusius. In: The Review of Metaphysics XLIX.2 (1995), p. 295–339. Zum weitgehend empiristischen Fundament von Epistemologie und Anthropologie in den 1770er Jahren vgl. Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2005, S. 49ff. sowie Thomas Sturm: Kant und die Wissenschaft vom Menschen. Paderborn 2009, S. 53–126.
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dieses anthropologische Kernproblem laut Sulzer nicht empiristisch, sondern allein empiriorationalistisch zu klären sein. Sulzer legitimiert mit diesem Entrée seine Beschäftigung mit dem Begriff des Bewusstseins, den er sowohl empirisch als auch rational im Rahmen einer systematischen Anthropologie zu klären hofft.41 Entgegen den Versuchen, Sulzers Empfindungsbegriff, den er im Rahmen seiner ästhetischen Theoriebildungen entwirft, empiristisch zu interpretieren,42 kann diese Erkenntnistheorie von 1763 nur als Filiation eines leibnizianischen Rationalismus erläutert werden. Schon dieser hatte der sinnlichen Wahrnehmung nämlich eine relative Eigenständigkeit gegenüber den intellegiblen Vermögen des Menschen eingeräumt: Wir gebrauchen die äußeren Sinne, wie ein Blinder seinen Stock braucht, und sie geben uns Kenntnis von ihren besondren Objekten, d.h. den Farben, Tönen, Gerüchen, Geschmäcken und den Tastqualitäten. […] Mit den sinnlichen Qualitäten dagegen verhält es sich nicht ebenso [wie mit intellegiblen Unterscheidungsmerkmalen], es läßt sich z.B. kein Merkmal angeben, vermittels dessen man das Blau erkennen würde, wenn man es noch nie gesehen hätte. Demnach ist das Blau sein eigenes Erkennungszeichen, und damit ein Mensch erfahre, was es ist, muß man es ihm notwendig zeigen.43
Dieser bedingten Eigenständigkeit der sinnlichen Wahrnehmung, die Leibniz hier entwickelt und den äußeren Sinnen damit eine Notwendigkeit für alles »Denken« zuschreibt,44 werden seine Schüler, wie Baumgarten, Meier und Sulzer sowohl in Fragen der Erkenntnistheorie als auch in solchen der Ästhetik weitere Dimensionen abgewinnen; sie werden diese Konzeption weiterentwickeln – ohne jenen von Leibniz gesteckten Rahmen einer allererst durch eine apriorische Vernunft zu ermöglichenden Erklärung und Bestimmung jener Eindrücke abzurücken. Daher hat dieses Konzept einer Vermittlung von empirischer und rationaler, praktischer und theoretischer Anthropologie mit Humes Modell einer Philosophie über die Natur des Menschen,45 das Sulzer bekanntermaßen seit den 1750er Jahren als Herausgeber des humeschen Essay exzellent kannte,46 nichts zu tun, sondern ist im Rahmen einer anthropologischen Erweiterung einer leibniz-wolffschen Psychologie hinreichend zu erläutern.47 Diese Erweiterung bezieht sich auf das Interesse an einer neuroanatomischen Korrelierung der epistemologischen Konzeptionen – insbesondere jener Überlegungen zur empirischen Psychologie, die seit den 41 42 43
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Vgl. hierzu den Beitrag von Udo Thiel in diesem Band. Vgl. hierzu erneut die Studien von Riedel: Anthropologische Achsendrehung (s. Anm. 4), Décultot: Von der Seelenkunde (s. Anm. 1) sowie Vesper: Le plaisir du beau (Anm. 5). Gottfried Wilhelm Leibniz: Von dem, was jenseits der Sinne und der Materie liegt. In: ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. 2 Bde. Hg. von Ernst Cassirer. Hamburg 31966, Bd. 2, S. 410–422, hier S. 410ff. Ebd., S. 419. David Hume: A Treatise of Human Nature. Ed. by David Fate Norton, Mary J. Norton. Oxford 2000, p. 4; zu Humes Rolle in der Entstehung und Entwicklung einer Anthropologie der Spätaufklärung vgl. Karl-Heinz Schwabe: Philosophie, »science of man« und »moral sciences« in der Schottischen Aufklärung. In: Garber, Thoma (Hg.): Anthropologie im 18. Jahrhundert (s. Anm. 15), S. 101–144. Vgl. hierzu Günter Gawlick, Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 20–22 sowie Annette Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008, S. 215ff. Vgl. hierzu auch Anton Palme: J. G. Sulzers Psychologie und die Anfänge der Dreivermögenslehre. Diss. Berlin 1905 sowie Dehrmann: »Orakel der Deisten« (s. Anm. 3), S. 236.
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Forschungen Albrecht von Hallers48 und der Hallenser Stahl-Schule49 nicht ohne neuroanatomische und -physiologische Corollarien betrieben werden konnte.50 Wolfgang Proß hat durch präzise Quellenangaben auf diesen Zusammenhang bei Sulzer hingewiesen; zu ergänzen sind diese Nachweise allerdings um den Hinweis auf Christian Wolff, der in seiner Deutschen Metaphysik ebenfalls Überlegungen zum spezifische Zusammentreffen neurologischer Bewegungen und Empfindungsvorgängen angestellt hatte.51 Die Ergänzung der empirischen Psychologie um neuroanatomische Korrelate – damit aber um das commercium-Problem der Anthropologie seit Descartes – ist mithin keineswegs als Charakteristikum eines anti-aprioristischen Empirismus zu bestimmen.52 Dass Sulzer aufgrund dieses Bezuges auf zeitgenössische Neurologie allerdings zum Gründungsvater einer empiristischen Anthropologie mit fundamentaltheoretischem Anspruch würde – im Sinne einer Ersetzung der Ontologie als philosophia prima durch die Anthropologie53 –, wie es Teile der Anthropologieforschung behaupten,54 muss bezweifelt werden. Sulzers Gründe für seinen Bezug auf das Körper-Seele-Problem liegen nicht in einem anti-metaphysischen Interesse, sondern in den spezifischen Entwicklungswegen einer wolffianisch fundierten Epis-
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Siehe hierzu Hubert Steinke: Anatomie und Physiologie. In: ders., Urs Boschung, Wolfgang Proß (Hg.): Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche. Göttingen 2009, S. 226–254; Renato G. Manzoni: Die Entdeckung der Reizbarkeit. Haller als Anatom und Physiologe. In: Norbert Elsner, Nicolaas A. Rupke (Hg.): Albrecht von Haller im Göttingen der Aufklärung. Göttingen 2009, S. 283–305. Johann Geyer-Kordesch: Pietismus. Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Tübingen 2000. Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch (s. Anm. 2). Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [Deutsche Metaphysik]. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Jean École u.a. Hildesheim, New York 1962ff., Abt. 1, Bd. 2, § 778ff. Zu Wolffs theoretischer und praktischer Stellung zur empirischen Naturforschung vgl. die Studie von Gay: Philosophie und empirisch-experimentelle Naturwissenschaften (s. Anm. 11) sowie Stefan Borchers: Samenkörner und Samentierchen. Zu Christian Wolffs Zeugungsphysiologie. In: Tanja van Hoorn, Yvonne Wübben (Hg.): »Allerhand nützliche Versuche«. Empirische Wissenskultur in Halle und Göttingen (1720–1750). Hannover 2009, S. 65–87. Dass schon Descartes solche Verbindung herstellt und selber empirische Forschung betrieb, zeigt die exzellente Studie von Michaela Boenke: Körper, Geist, Spiritus. Psychologie vor Descartes. München 2005, S. 211ff. Dass die Anthropologie seit Platner diesen Anspruch erhob, wird gezeigt in Gideon Stiening: »Grade der Gewißheit«. Physische Anthropologie als Antiskeptizismus bei Ernst Platner, Johann Nicolas Tetens und Johann Karl Wezel. In: Wezel-Jahrbuch 10/11 (2007/08), S. 115–146. Zu den Versuchen, nicht allein eine anthropologische Wende der Aufklärung zu konstruieren, sondern diese auf die Mitte des Jahrhunderts zu verlegen und sich dafür einer spezifischen, nämlich ihn dem Empirismus zuschlagenden Interpretation Sulzers zu bedienen, vgl. u.a. Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung (s. Anm. 3), S. 134f.; Riedel: Anthropologische Achsendrehung (s. Anm. 4); Wolfgang Riedel: Erster Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung. In: Garber, Thoma (Hg.): Anthropologie im 18. Jahrhundert (s. Anm. 15), S. 1–17; Tanja van Hoorn: Das anthropologische Feld der Aufklärung. Ein heuristisches Modell und ein exemplarischer Situierungsversuch. In: Jörn Garber, Tanja van Hoorn (Hg.): Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit. Hannover-Laatzen 2006, S. 125–141.
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temologie,55 die sich durch innovative Prozesse in Kunsttheorie und Kunst56 sowie neuer Erkenntnisse in den sich entwickelnden Naturwissenschaften herausgefordert sah.57
2. Anthropologie im Kontext der 1770er Jahre Dass Sulzer die kontroversen Entwicklungen der Philosophie und der Einzelwissenschaften verfolgte und dass er sich dabei von bestimmten Tendenzen seit den 1770er Jahren herausgefordert sah, zeigt sein letzter großer philosophischer Text, die zwischen 1775 und 1779 veröffentlichte Studie Ueber die Unsterblichkeit der Seele, als ein Gegenstand der Physik betrachtet.58 Ein letztes Mal, so scheint es, rafft sich der schwer erkrankte Berliner Philosoph auf, um eine der drängendsten Fragen der rationalen Psychologie und Theologie, die Frage nach einem Beweis für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele vor dem Hintergrund, ja mit Hilfe der elaboriertesten Naturforschung und neuesten Philosophie der 1770er Jahre zu beantworten. Wie seit Pietro Pomponazzi immer wieder virulent,59 so schien auch in den 1770er Jahren eine empirische Psychologie diesen Kernbestand rationalistischer Epistemologie, Moralphilosophie und Theologie zu gefährden.60 Mit einem möglichen Verlust des Glaubens an die Unsterblichkeit sah man jedoch – wie Wielands Geschichte des Agathon schon in der ersten Fassung von 1766/67 zeigt – auch alle Religion gefährdet, damit aber den Bestand jeder Gesellschaftsordnung. Agathon bringt die Ängste des 18. Jahrhunderts im Gespräch mit dem Materialisten Hippias auf den Begriff: O Hippias, rief Agathon hier aus, ich habe dich, wohin ich dich bringen wollte. Du siehest die Folgen deiner Grundsätze. Wenn alles an sich selbst recht ist, was meine Begierden wollen, wenn die ausschweifende Forderung der Leidenschaft unter dem Namen des Nützlichen, den sie nicht verdient, die einzige Richtschnur unsrer Handlungen sind, wenn die Gesetze nur mit einer guten Art ausgewichen werden müssen, und im Dunkeln alles erlaubt ist, wenn die Tugend, und die Hoffnungen der Tugend nur Schimären sind, was hindert die Kinder, sich wider ihre Eltern zu verschwöhren? Was hindert die Mutter sich selbst und ihre Tochter dem meistbietenden Preiß zu geben? Was hindert mich, wenn ich dadurch gewinnen kann, den Dolch in meines Freundes Brust zu stoßen, die Tempel der Götter zu berauben, mein Vaterland zu verraten, oder mich an die Spize einer Räuberbande zu stellen … […] Du spottest der Tugend und Religion?61 55 56 57 58 59 60
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So zu Recht Manfred Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt a. M. 2002, S. 147f. Vgl. hierzu schon Cassirer: Aufklärung (s. Anm. 9), S. 397ff. Siehe hierzu u.a. Ilse Jahn: Biologische Fragestellungen in der Epoche der Aufklärung (18. Jh.). In: dies. (Hg.): Geschichte der Biologie. Hamburg 32004, S. 231–273. VS 2, S. 1–84. Vgl. Cassirer: Erkenntnisproblem (s. Anm. 19), Bd. 1, S. 105ff. sowie insbesondere Boenke: Geist (s. Anm. 52), S. 51ff. Zur stets prekären Stellung dieses Theorems im Rahmen neuzeitlicher Rationalität vgl. Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M. 1986, S. 212–217: »Exkurs: Zur fehlenden Geschichte der Unsterblichkeit«. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Zitiert nach: Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Manger, Jan Philipp Reemtsma. Berlin, New York 2008ff., hier Bd. 8.1, S. 84f.
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Sulzer widmet sich mithin keinem abseitigen Thema einer theonomen Psychologie, sondern einem als moralischen und politischen Stabilitätsgaranten bewerteten Theorem. Anders aber als u.a. Albrecht von Haller, der den materialistischen Grundzügen seiner eigenen Naturphilosophie abstrakt eine letztlich unbegründete Theologie entgegensetzte,62 reagiert Sulzer nicht als Dogmatiker; er bemüht sich vielmehr um Vermittlung zwischen dem Unsterblichkeitsgedanken und den Errungenschaften der neuen Anthropologie.63 Nun muss man sich allerdings einige Momente der epistemischen Situation,64 in die hinein die Studie verfasst wird, sowie die besonderen Lebensumstände, unter denen Sulzer schreibt, vor Augen halten, um die Motive seiner Arbeit an diesem Text sowie einige argumentationslogische und systematische Eigenheiten der Studie angemessen interpretieren zu können. Denn die 1750er Jahre waren noch weitgehend von Wolff und den Wolffianern bestimmt, wobei diese Dominanz weit über die Philosophie hinaus reichte.65 Eindrücklich lässt sich die ideelle und kulturelle Hegemonie des Wolffianismus an Lessings Fabelschrift von 1759 ablesen; im Zusammenhang einer Verwendung des epistemologischen Begriffs einer »anschauenden Erkenntnis«, die er Wolff entlehnt, heißt es: Die philosophische Sprache ist seit dem unter uns so bekannt geworden, daß ich mich der Wörter anschauen, anschauender Erkenntnis, gleich von Anfange an als solcher Wörter ohne Bedenken habe bedienen dürfen, mit welchen nur wenige nicht einerlei Begriff verbinden.66
Wenn überhaupt, dann wurde diese dominante Stellung des Wolffianismus durch die theologisch-philosophischen Einwände Christian August Crusius’ und seiner Schule kritisch tangiert.67 Selbst die in Berlin an der Akademie der Wissenschaften aktive kleine Fraktion von
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Vgl. hierzu die exzellente Studie von Thomas Kaufmann: Über Hallers Religion. Ein Versuch. In: Norbert Elsner, Nicolaas A. Rupke (Hg.): Albrecht von Haller im Göttingen der Aufklärung. Göttingen 2009, S. 309–379. In diesem Ansinnen stimmt er mit Herders Vorstellungen über das Verhältnis von Anthropologie und Theologie überein – auch wenn er zu anderen inhaltlichen Ergebnissen kommt; vgl. hierzu Tino Markworth: Unsterblichkeit und Identität beim jungen Herder. Paderborn 2005. Zu dieser historiographischen Kategorie vgl. Lutz Danneberg: Epistemische Situation, kognitive Asymmetrie und kontrafaktische Imagination. In: Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006, S. 193–221. Vgl. hierzu u.a. Cornelia Buschmann: Wolffianismus in Berlin. In: Wolfgang Förster (Hg.): Aufklärung in Berlin. Berlin 1989, S. 73–101; Lorenzo Lattanzi: Die populäre Wolff-Rezeption am Beispiel von Moses Mendelssohns Besprechungen in Nicolais Zeitschriften. In: Stolzenberg, Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung (s. Anm. 11), Teil 4, S. 125–143. Gotthold Ephraim Lessings Fabeln. Drei Bücher, nebst einer Abhandlung mit der Dichtart verwandten Inhalts. In: ders.: Werke in 8 Bänden. Hg. von Herbert G. Göpfert u.a. München 1970ff., Bd. 5, S. 371. Vgl. hierzu u.a. Cassirer: Erkenntnisproblem (s. Anm. 19), Bd. 2, S. 527–534; Sonia Carboncini: Christian August Crusius und die Leibniz-Wolffsche Philosophie. In: Albert Heinemann (Hg.): Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Stuttgart 1986, S. 100–125.
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Anti-Wolffianern konnte keinen durchschlagenden Erfolg verzeichnen.68 La Mettries L’homme machine hatte zu diesem Zeitpunkt keine Chancen auf eine produktive Rezeption.69 Auch wenn in den 1760er Jahren die Einflüsse des englischen und französischen Empirismus erste Früchte trugen – so in Kants Geisterseherschrift,70 der breit wahrgenommen Edition der Nouveaux Essais71 oder den Anfängen der Popularphilosophie bei Johann Bernhard Basedow72 und der Dichtung Christoph Martin Wielands73 – bewirkten diese Neuorientierungen nicht, dass das die Philosophie, die Wissenschaften und die Künste weithin prägende Paradigma des Wolffianismus tatsächlich abgestreift worden wäre. Vielmehr feiert Georg Friedrich Meier mit einer Metaphysik, aber auch mit populären Texten seine größten Erfolge;74 neben Halle bleiben auch an anderen deutschen Universitäten in den 1760er Jahren die Grundzüge des Wolffianismus erhalten – und das über die Grenzen der Fachphilosophie hinaus.75 Moses Mendelssohn gehört mit seiner Verteidigung der Unsterblichkeitsvorstellung von 1767 zu den bekanntesten und erfolgreichsten Philosophen.76 Schon gegen Ende des Jahrzehnts veröffentlicht allerdings Johann Georg Feder mit seiner Logik und Metaphysik (1769) ein erstes populäres Handbuch in der Tradition empiristischer Psychologie und Moralphilosophie.77 Doch erst in den 1770er Jahren kommt es einerseits zu einem breit angelegten Angriff des aus der empiristischen Epistemologie erwachsenden Materialismus auf Rationalismus und Theologie – u.a. durch d’Holbachs Système de la Nature, auf das nahezu alle deutschsprachigen Philosophen des Zeitraums explizit oder implizit reagieren. Andererseits bewirkt eine erheblich ausgewei-
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Vgl. hierzu Hartmut Hecht: Das Triumvirat Euler, Maupertius, Merian in den Leibniz-Debatten der Berliner Akademie. In: Alexandra Lewendoski (Hg.): Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004, S. 147–170. Vgl. hierzu Barbara Bauer: Die Anfänge der Berliner ›Academie Royale des science‹ im Urteil der gelehrten Öffentlichkeit. In: Klaus Garber, Heinz Wismann (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Tübingen 1996, S. 1413–1453, spez. S. 1436ff. Zu deren Stellung innerhalb der kantischen Entwicklung sowie der epistemischen Situation der 1760er Jahre vgl. Lothar Kreimendahl: Kant – der Durchbruch von 1769. Köln 1990. Vgl. hierzu u.a. Albert Heinemann: Louis Dutens und seine Ausgabe der Opera omnia von Leibniz. In: ders. (Hg.): Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Stuttgart 1986, S. 1–28. Johann Bernhard Basedow: Philalathie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung. 2 Bde. Altona 1764. Vgl. hierzu Gideon Stiening: Epistemologie und Anthropologie bei Wieland. Anmerkungen zu ›Was ist Wahrheit?‹ und zur ›Geschichte des Agathon (1766/67)‹. In: Wieland-Studien 7 (2011) [i.D.]. Vgl. Sonia Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum. Christian Wolffs Antwort auf die Herausforderung durch den cartesianischen Zweifel. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 180ff. Vgl. hierzu u.a. Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Hildesheim 1992, S. 287ff.; Hans-Jürgen Engfer: Zur Bedeutung Wolffs für die Methodendiskussion der deutschen Aufklärungsphilosophie. In: Werner Schneiders (Hg.): Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hamburg 1983, S. 48–65. Vgl. hierzu u.a. Rudolf Vierhaus: Moses Mendelssohn und die Popularphilosophie. In: Eva J. Engel, Norbert Hinske (Hg.): Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Tübingen 1994, S. 25–42. Johann Georg Feder: Lehrbuch der Logik und Metaphysik. Göttingen 1769; vgl. hierzu u.a. Reinhard Brandt: Feder und Kant. In: Kant-Studien 80 (1989), S. 249–264; Jan Rachold: Die aufklärerische Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistisch-metaphysischer und politisch-sozialer Deutung. Eine Studie zur Philosophie der deutschen Aufklärung (Wolff, Abbt, Feder, Meiners, Weishaupt). Berlin, New York u.a. 1999, S. 199–215.
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tete Rezeption der britischen Erkenntnistheorie und Anthropologie,78 die sich u.a. an der reichen Übersetzungstätigkeit seit den späten 1760er Jahren nachzeichnen lässt,79 anthropologische Systembildungen, die entweder dezidiert materialistisch argumentieren, wie bei Christoph Meiners und Michael Hißmann, oder aber unter diesen Verdacht geraten. ›Anthropologische Systembildung‹ meint in diesem Zusammenhang nichts anderes als die oben schon erwähnte Einsetzung der theoretischen und praktischen Anthropologie in die Stellung einer Grundlagenwissenschaft, aus der alle weiteren Denk- und Handlungsfelder der Philosophie und der Einzelwissenschaften abgeleitet werden sollten.80 Ernst Platners Anthropologie von 1772 hatte dieser Disziplin jenen Status einer prima philosophia endgültig begründet zuschreiben können. Wie scharf sich jedoch die unterschiedlichen Modelle von Anthropologie in den 1770er Jahren gegenseitig in die Kritik nahmen, mag eine Passage aus Johann Nicolas Tetens’ großangelegtem Philosophischen Versuch über die menschliche Natur illustrieren: Was man in der neueren Psychologie die analytische, auch wohl die anthropologische Methode nennet, ist ein hievon [d.i. von seinem eigenen Konzept von Psychologie] ganz unterschiedenes Verfahren. Man betrachtet die Seelenveränderung von der Seite, da sie etwas in dem Gehirn, als dem innern Organ der Seele sind, und sucht sie als solche Gehirnsbeschaffenheiten und Veränderungen zu erklären. Der Materialist löst alles in Körperveränderungen auf, die eine Folge der innern Organisation sind; die mechanischen Psychologien unterscheiden zwar die unkörperliche Seele, das Ich, von dem körperlichen Organ, und lassen auf jener ihren eigenen Antheil an den Seelenäußerungen, der von dem Antheil, den das Organ daran hat, verschieden ist; aber es geht doch bey ihren Analysen eben sowohl, als bey den Erklärungen der erstern alles dahin, zu zeigen, wie weit Fühlen, Vorstellen, Bewußtseyn, Denken, Lust, Unlust, Wollen, Thun, nicht nur von der Organisation des Gehirns abhängen, sondern selbst in Veränderungen und Beschaffenheiten desselben bestehen.81
Der Autor des bedeutendsten deutschsprachigen anthropologischen Systemversuches in der Nachfolge Humes82 weist also in aller Strenge die sogenannte »anthropologische Methode« zurück, weil er sie grundsätzlich für eine materialistische Rückführung aller Vorstellungsinhalte und mentalen Vorgänge auf Bewegungen des Gehirns hält. Es lässt sich auch philologisch nachweisen, dass sich Tetens mit dieser Passage u.a. auf Platners Anthropologie bezieht, der aber – wie Martin Bondeli dokumentieren konnte – selbst eine antimaterialistische Strategie verfolg-
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Vgl. hierzu Manfred Kuehn: Scottish Common Sense in Germany, 1768–1800. Kingston, Montreal 1987 sowie jetzt Meyer: Von der Wahrheit (s. Anm. 46), passim. Vgl. hierzu u.a. Wundt: Schulphilosophie (s. Anm. 75), S. 270f. Dass eine umfangreichere Übersetzung englischer Titel – auch in den Bereichen der Belletristik und des Sachbuchs – tatsächlich erst in den 1770er und 1780er Jahren einsetzte, dokumentiert Alexander Nebrig: Die englische Literatur in Friedrich Nicolais Übersetzungsprogramm. In: Rainer Falk, Alexander Košenina (Hg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hannover 2008, S. 139–164. Vgl. hierzu schon Juttas Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin, New York 1996, S. 50ff. Johann Nicolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. Hg. von Wilhelm Ueberle. Berlin 1913 [EA 1777], S. IVf. Siehe hierzu u.a. Christian Hauser: Selbstbewußtsein und personale Identität. Positionen und Aporien ihrer vorkantischen Geschichte, Locke, Leibniz, Hume und Tetens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 124–151.
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te.83 Der Materialismusverdacht begleitet seit den 1770er Jahren – ganz zu Recht, wie die Psychologischen Versuche Michael Hißmanns zeigen84 – die anthropologischen Debatten. Beide Positionen – der systematische Materialismus und die fundamentaltheoretische Anthropologie –, die sich durchaus unterscheiden, gründen auf einer empiristischen Epistemologie, die sinnlicher Wahrnehmung und Erfahrung nicht mehr nur, wie beim mittleren Sulzer, eine relative Eigenständigkeit gegenüber dem Denken einräumt, sondern Sinnlichkeit als Grund alles Wissens und aller Wahrheit inthronisierte. Dieser systematische Empirismus ist von dem letztlich leibnizianischen Modell, innerhalb dessen Sulzers Empfindungstheorie in den 1750er und 1760er Jahren operiert, grundlegend unterschieden. Der empiristische Grundsatz des nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu ist mit der leibnizschen Ergänzung des nisi intellectus ipse nicht bruchlos zu vermitteln; der strikte Anti-Apriorismus empiristischer Epistemologie wurde jedoch auch in den 1770er Jahren durchaus nicht von allen philosophischen Fraktionen geteilt. Der Erfolg des Leibnizianers Johann August Eberhard mit seiner Schrift Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens von 1776 lässt die kontroverse Lage in den 1770er Jahren auch auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie erahnen.85 In den 1770er Jahren nahmen die anthropologischen, epistemologischen, ethischen Debatten also eine erhebliche Schärfe an; allerorten lauerte der Materialismusverdacht oder wurde gegen andere ausgestoßen. Sulzer greift nun in diese Debatten zu einem Zeitpunkt ein, als neben Platner schon Christoph Meiners und Michael Hißmann erste umfassende Studien zur Psychologie und Anthropologie veröffentlicht hatten. Deren Konzeptionen waren konsequent materialistisch;86 laut dieser Psychologie – so Hißmann – denkt das Gehirn.87 Johann Christian Lossius suchte 1775 gar nach den Physischen Ursachen des Wahren.88 Neben der kontroversen Debattenlage in der Philosophie und den sich ausbreitenden medizinischen und ethnologischen Einzeldisziplinen, die den nur ungern auf akademischen Auseinandersetzungen sich einlassenden Sulzer hätte abschrecken können, erwiesen sich auch seine unmittelbaren Lebensbedingungen als Erschwernis. Aus seiner Autobiographie wissen wir, dass er schon seit Anfang der 1770er Jahre gesundheitlich schwer angeschlagen war: »Aber ein starker Husten und ein damit verbundener eiterhafter Auswurf bleiben nun schon im sechsten Jahre nach dieser fatalen Krankheit (1772).«89 Zeitweilig waren die olphaktorischen Belästigungen, die von seiner verfaulenden Lunge ausgingen, so massiv, dass sich keine Pflegeperson mehr an ihn herantraute. Zudem hatte Sulzer 1774 endlich sein Hauptwerk, die Allgemeine Theorie der schönen Künste abgeschlossen, hätte also – auch wenn die Reaktionen der jüngeren Generation (vor allem Herders und Goethes) auf dieses Werk ebenso wie auf seine poetische Versuche
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Martin Bondeli: Über eine Entdeckung in der Psychologie. Reinholds Auseinandersetzung mit Platners Bemerkungen zur Geschichte des Seelenbegriffs. In: Aufklärung 19 (2007), S. 327–342. Vgl. hierzu demnächst: Heiner F. Klemme, Gideon Stiening, Falk Wunderlich (Hg.): Der Philosoph Michel Hißmann (1752–1784). Materialismus in der deutschen Aufklärung. Berlin 2012. Johann August Eberhard: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens. Berlin 1776. Frank: Selbstgefühl (s. Anm. 55), S. 146ff. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 29), S. 252. Johann Christian Lossius: Physische Ursachen des Wahren. Gotha 1775. Johann Georg Sulzer: Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgesetzt. Mit Anmerkungen von Johann Bernard Merian und Friedrich Nicolai. Berlin, Stettin 1809, S. 56.
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eher despektierlich ausfielen90 – aus der Distanz das tumultuarische Geschehen der zeitgenössischen Philosophie beobachten können. Im Gegenteil jedoch setzt er sich unter den schwierigsten Bedingungen der Anstrengung aus, jene umfangreichen Abhandlungen zur Unsterblichkeit der Seele unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu verfassen. Gegenüber den genialischen Jungpoeten belässt er es bei privat-brieflichen Hinweisen: Herder hält er für einen »Sclaven der Einbildungskraft« und von Goethe meint er, der habe einen »zu hitzigen und zu unphilosophischen Kopf«, der wolle »die Empfindung auf den Thron setzen, von dem er die Vernunft hinunterreißt«.91 Diese Urteile lassen aufhorchen: der von den jüngeren Zeitgenossen für die 1770er Jahre gern zum alten Eisen gerechnete Sulzer scheint vollkommen auf der Höhe der Zeit. Doch bleibt diese drastische Kritik im Bereich epistolarer Privatheit; gegen die materialistischen Anthropologen reichen ihm hingegen solche private Sottisen nicht: deshalb schreibt er unter schwersten Bedingungen an jenem umfangreichen Text.
3. Anthropologie und Unsterblichkeit I Das Ziel der Abhandlung Ueber die Unsterblichkeit der Seele, als ein Gegenstand der Physik betrachtet besteht darin, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, bzw. vorsichtiger: als nicht unmöglich darzutun und zwar unter der erschwerten Bedingung, die »allerschärftsten Demonstrationen von der Immaterialität der Seele als nicht hinlänglich« für diesen Nachweis anzusehen.92 Der entscheidende Grund dafür, die Immaterialität der Seele nicht mehr als Beweis für ihre Unsterblichkeit zu akzeptieren, wird in dem folgenden epistemologischen Argument ausgeführt: Es scheint, wirklich, als ob man, wie eine Thatsache, annehmen müsse, daß die Seele nichts empfinden, nichts wahrnehmen, und sich keine klare Vorstellungen, so gar von ihrer eigenen Existenz nicht, als durch die Vermittlung des Körpers, machen könne. Wenn sie dieses Werkzeuges ihrer Kenntnisse beraubt wäre: so würde sie, trotz ihrer Immaterialität, ein Wesen ohne Leben seyn.93
Sulzer macht es sich nicht leicht: er weiß um die erhebliche Reichweite der Konsequenzen dieser erkenntnistheoretischen Bindung der allgemeinen Wahrnehmungsfähigkeit der Seele an ihren Körper als Werkzeug. Auch sprachlich zeigt sich sein Unbehagen: »Es scheint, wirklich, als ob man, wie eine Thatsache, annehmen müsse«. Diese vom psycho-physiologischen Empirismus und seiner Priorisierung der Wahrnehmung erzwungene Prämisse ist für Sulzer vor allem deshalb problematisch – und hier zeigt sich ein gewichtiger Grund für sein Eingreifen in die Debatte –, weil die These von der notwendigen Voraussetzung körperlicher Vorgänge für ein Zustandekommen von Empfindungen oder Wahrnehmung zwar noch hingenommen werden kann. Dass aber ohne Bindung an den Körper keine klaren Vorstellungen, ja kein Bewusst90
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Vgl. hierzu Maurizio Pirro: Nachwort. In: Johann Georg Sulzer: Cymbelline, König von Britannien. Ein Trauerspiel. Nach einem von Shakespear[e] erfundenen Stoff. Hg. von Maurizio Pirro. Hannover 2007, S. 83– 109. Zitiert nach ebd., S. 92. Johann Georg Sulzer: Ueber die Unsterblichkeit der Seele, als ein Gegenstand der Physik betrachtet. In: VS 2, S. 1–84, hier S. 1.
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sein der eigenen Existenz der Seele möglich sein soll, macht die Sache bedrohlich, denn ohne Bewusstsein der eigenen Existenz erodiert die Möglichkeit, jene Seele als theoretisch und vor allem praktisch substanzielle Einheit zu erfassen und ihr die Fähigkeit zuzuschreiben, ihre Existenz nach der Zerstörung des Körpers fortzusetzen; ohne Körper verfiele die Seele mithin in einen »tödtlichen Schlummer«, ohne Körper also stirbt auch die Seele. Nun stammt die These, dass es für die Seele zum Bewusstsein der eigenen Existenz eines Körpers bedarf, nicht von Sulzer selbst. Es gibt nicht einen einzigen Hinweis – auch nicht im Text Von dem Bewußtseyn –, der dieses Axiom in den 1760er Jahren aufwiese. Wie aber vor allem Udo Thiel und Werner Euler nachweisen konnten,94 gehört diese These zu den Erkenntnisleistungen oder wenigstens den -besonderheiten der Anthropologie Ernst Platners. In dessen 1772er Text heißt es: Wir sind uns unser, d.h. unsers Daseyns bewußt, wenn wir die Verhältnisse des Orts, der Zeit und andere Verhältnisse unsers Zustandes kennen. Wenn wir nicht wissen, wo wir sind und wann wir sind, so sind wir unser nicht bewußt. Dies lehrt die Erfahrung. […] Wenn man aber von der Stellung und Lage seines Körpers gar nichts empfindet, so ist man sich gar nicht bewußt.95
Trotz einiger Unterschiede im Detail – Sulzer spricht nicht vom Bewusstsein der eigenen Körperlichkeit, sondern nur davon, einen Körper haben zu müssen, um seiner eigenen Existenz sicher zu sein – ist doch unübersehbar, dass der Berliner Philosoph auf die Herausforderung reagiert, die Platners Anthropologie für die Zunft bedeutete. Martin Bondeli hat darauf hingewiesen, dass dieses Theorem, die »Seele als geistiges Wesen zu begreifen, das nicht selbständig, sondern nur in einem Beziehungs- und Unterscheidungszusammenhang zum Körper und zu äußeren Gegenständen zu existieren vermag«, der Tradition der empirischen Psychologie des Wolffianismus entstammt.96 Die strenge Bindung aber eines die Seele als Ich konstituierenden Selbstbewusstseins an den Körper als dessen Erkenntniswerkzeug ist der von Platner ausgehenden Anthropologie zuzuschreiben; erst sie generiert das Problem, die Unsterblichkeit der Seele unter der Bedingung einer essentiellen Körper-Seele-Korrelation beweisen zu müssen. Wenn aber die Seele als selbstbewusst existierende eines Körpers bedarf, dann braucht es nach dem Verlassen des irdisch-endlichen, d.h. sterblichen Körpers eines weiteren Leibes, um die Unsterblichkeit einer identischen Substanz garantieren zu können. Platner laboriert an diesem Problem über Jahre herum, erst 1782 entwickelt er im Rahmen seiner Temperamentenlehre »Physiologische Grundsätze«, die seine Vorstellungen vom Seelenorgan aus der Anthropologie von 1772 grundstürzend ändern und das allgemeine Vermittlungsproblem der dort in einem letztlich dualistischen System vermittelten Körper und Seele in das Seelenorgan selbst verlegt. Platner behauptet nämlich 1782, dass es nicht ein, sondern vielmehr zwei Seelenorgane gebe, die in Verbindung mit der »thierischen Masse« den »menschlichen Körper« ausmachen: Das erste Seelenorgan ist enthalten in den Gesichts- Gehör- und Gefühlsnerven, und in dem Werkzeuge der Phantasie, in wiefern sich die Phantasie auf diese Sinnen beziehet, und materiellen Ideen 93 94
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Ebd.; Hervorhebung von mir. Vgl. hierzu schon Thiel: Varieties of Inner Sense (s. Anm. 29), p. 64ff.; Werner Euler: Commercium mentis et corporis? Ernst Platners medizinische Anthropologie in der Kritik von Marcus Herz und Immanuel Kant. In: Aufklärung 19 (2007), S. 21–68 sowie den Beitrag von Udo Thiel in diesem Band. Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Leipzig 1771, S. 54f. (§ 193ff.). Bondeli: Über eine Entdeckung (s. Anm. 83), S. 329.
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Gideon Stiening enthält, welche mittelbar, oder unmittelbar von denselben abhangen. Das andere Seelenorgan ist enthalten, in den Geruch- Geschmack- und gemeinen Gefühlnerven, und in dem Werkzeuge der Phantasie, in wiefern sich die Phantasie auf diese Sinnen bezieht und materielle Ideen enthält, welche mittelbar, oder unmittelbar von denselben abhangen. Das erste S.O. ist das wesentliche und edlere, und erwecket in der Seele diejenigen Ideen, oder Weltvorstellungen, welche sich unmittelbar beziehen, auf den wesentlichen Trieb nach Ideenbeschäftigung und auf die edlere Bestimmung des menschlichen Daseyns: nämlich Sinn- und Gedächtnisideen von Subjekten, Eigenschaften, Wirkungen, Verhältnissen der vorliegenden Welt; abgezogene, allgemeine Begriffe, und reine Wahrheiten und Grundsätze, Urtheile und Ueberzeugungen der Vernunft, eingekleidet in Worte oder in andere materielle Ideen.97
Entscheidend ist, dass beide Seelenorgane nach Platner interagieren und so auf unterschiedlichen Ebenen und im Zusammenspiel eine Vermittlung von Körper und Seele realisieren. Dabei ist das wesentliche Seelenorgan – obwohl durch die Sinne im unmittelbaren Kontakt zum menschlichen Körper – selbst an der Schwelle zur Immaterialität und daher mit konstitutiven Eigenschaften der Seele als Substanz ausgestattet: »Also das Seelenorgan der vernünftigen Seele ist ein ätherisches, himmlisches Wesen, welches unzerstörbar, und gleichwie die Seele, welches es beschließt, unvergänglich ist.«98 Platner vermittelt mit diesem Seelenorgan die universelle Geltung seiner commercium-Theorie mit dem Postulat einer Unsterblichkeit der Seele; diese kann nunmehr mit dem Seelenorgan den Körper verlassen und in die Ewigkeit eingehen. Dass er mit diesem ›immateriellen Seelenorgan‹ das schon 1772 ungelöste commercium-Problem nur verlagert, nämlich in die hybride Konstruktion eines ›unvergänglichen Organs‹, kann vorerst unbetrachtet bleiben. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass auch Platner ein durch das fundamentalanthropologische Programm, nach dem aus der Lösung des commerciumProblems alle weiteren Bereiche des theoretischen und praktischen Wissen abgeleitet werden können sollten, auch das Problem der Unsterblichkeit der Seele stieß; Platners Lösung aber scheint von Sulzer in den späten 1770er Jahren präformiert worden zu sein. Der mögliche Einwand gegen Sulzer, er hätte Platners Thesen zur unhintergehbaren Notwendigkeit der Körperlichkeit einer erkenntnisfähigen Seele von 1772 nicht akzeptieren brauchen, scheint mit dem Rekurs auf Platner selber ausgeräumt: Wer Anthropologie als Grundlagenwissenschaft betreiben will – sei es auf dem Fundament einer empiristischen Erkenntnistheorie wie Platner oder einer empirio-rationalistischen wie Sulzer seit 1764 –, der muss an einer substanziellen Stellung des Körpers in epistemologischer und ethischer Hinsicht interessiert sein. Das commercium mentis et corporis als Grundlagentheorem bedarf des Körpers und deshalb halten Platner und Sulzer an der These fest: Selbstbewusstsein im Sinne des Bewusstseins der eigenen Existenz bedarf der raumzeitlichen Konkretion und daher des Körpers.
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Ernst Platner: Philosophische Aphorismen. Anderer Theil. Frankfurt a. M., Leipzig 1782, S. 244f. (§§ 564– 566). Ebd., S. 247 (§ 569, Anm.).
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Exkurs: Anmerkungen zur Philosophiegeschichte einer Unsterblichkeit der Seele im 18. Jahrhundert – mit einem Ausblick auf Danton’s Tod Aber noch ein weiterer Einwand scheint stechen zu können: Spätestens seit Pietro Pomponazzi ist es für die neuzeitliche Philosophie nicht mehr unbedingt erforderlich, an der Unsterblichkeit der Seele festzuhalten. Auch im Gefolge der lockeschen Erkenntnistheorie zeigten sich fundamentale Auswirkungen auf die These von der Unsterblichkeit der Seele; schon 1733 ließ Voltaire als einer der wirkmächtigsten Popularisatoren der newtonschen Naturwissenschaft sowie der lockeschen Epistemologie und Methodologie seine Leser wissen: Les hommes disputent depuis longtemps sur la nature et sur l’immortalité de l’âme. À l’égard de son immortalité, il est impossible de la démontrer, puisqu’on dispute encore sur sa nature, et qu’assurément il faut connaître à fond un être créé pour décider s’il est immortel ou non. La raison humaine est si peu capable de démontrer par elle-même l’immortalité de l’âme […].99
Diese Hinweise hat sich schon Mitte der 1730er Jahre kein geringerer als Friedrich II. mehr zu Herzen genommen als es seiner Umgebung lieb war; am 10. August 1736 äußert der Kronprinz gegenüber Ernst Christoph von Manteuffel, einem überzeugten Wolffianer, starke Zweifel an der »christlichen Lehre von der Unsterblichkeit«, was eine bis dahin nie gesehen Überzeugungskampagne am Hof auslöst. Die Staatssicherheit schien gefährdet.100 Friedrich hat sich hernach zwar nicht mehr öffentlich zu dieser Frage geäußert, blieb aber von seinen metaphysischen Zweifeln stets überzeugt. Dass die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele in der Neuzeit auch noch ganz anders beantwortet werden konnte, wird kaum 60 Jahre nach Sulzers Abhandlungen Georg Büchner in Danton’s Tod zeigen, indem er diese Vorstellung als Bedrohung darstellten, aus der sich Danton aufgrund rationalistischer Prämissen nicht befreien kann. Der sich nach der Ruhe des Grabes sehnende Protagonist muss nämlich feststellen: P h i l i p p e a u. Was willst du denn? D a n t o n. Ruhe. P h i l i p p e a u. Die ist in Gott. D a n t o n. Im Nichts. Versenke dich in was Ruhigers, als das Nichts und wenn die höchste Ruhe Gott ist, ist nicht das Nichts Gott? Aber ich bin ein Atheist. Der verfluchte Satz: etwas kann nicht zu nichts werden! und ich bin etwas, das ist der Jammer! Die Schöpfung hat sich breit gemacht, da ist nichts leer, Alles voll Gewimmels. Das Nichts hat sich ermordet.101
Danton quält die Angst vor der Unsterblichkeit, weil er ob seiner Septembermorde eine Strafe Gottes fürchten muss, wenigstens aber ein unendliches Weiterleben seiner gequälten Seele. Da er aufgrund der Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch als ein »Etwas« nicht zu »Nichts« wer-
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Voltaire: Lettres philosophiques. In: Œuvres complètes de Voltaire. Ed. par Louise Molande. Paris 1879 [ND 1967], vol. 22, p. 168f. Vgl. hierzu die ebenso anschauliche wie präzise Schilderung bei Johannes Bronisch: Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus. Berlin 2010, S. 72ff. Georg Büchner: Danton’s Tod. In: ders.: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer. Darmstadt 2000ff., hier Bd. 3.2, S. 645–14.
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den kann, verwünscht er die unbezweifelbare Geltung des für Epikur102 ebenso wie für Descartes103 oder Spinoza104 gültigen Grundsatzes a nihilo nihil fit.105 Noch in den philosophischen Skripten wird Büchner diese Konsequenz des Rationalismus, die zumindest die Unsterblichkeit der Seele apagogisch bewiese, reflektieren. Für Danton aber, der schon sein hiesiges Leben nicht durch eine Flucht retten will, weil er den Gewissensdruck nicht länger erträgt,106 birgt dieser Grundsatz der rationalistischen Philosophie nur die Aussicht auf eine Fortsetzung seiner Qualen. Diese Furcht vor der eigenen Unsterblichkeit kann das philosophische Wissen nicht lindern – »das ist der Jammer«. Sulzer dagegen – wie auch Platner – halten noch daran fest, Unsterblichkeit als unverzichtbares Theorem zu begreifen und so beweisen zu müssen. Damit stehen die beiden Anthropologen und Psychologen allerdings keineswegs isoliert da, sondern befinden sich inmitten des Kontextes der zeitgenössischen Philosophie. Nahezu alle unterschiedlichen Fraktionen bis hin zu den deutschsprachigen Materialisten halten an diesem Theorem fest: So hatte Moses Mendelssohn schon 1767 mit seinem Phaedon eine ebenso populäre wie die zeitgenössischen Debatten zusammenfassende Demonstration der Unsterblichkeit der menschlichen Seele vorgelegt. Neben bekannten Argumenten der traditionellen Metaphysik, nach der die Seele als Substanz ebenso einfach, immateriell sowie vernünftig und daher unendlich sein müsse, hatte Mendelssohn in der Aufnahme eines genuin wolffischen Arguments zur Psychologie die Unvergänglichkeit der menschlichen Psyche zu beweisen gesucht: Wie Wolff bestimmt er den Begriff der Seele dadurch, dass sie sich in einem immerwährenden Prozess der erkennenden und handelnden Interaktion mit ihrer Umwelt befinde, weil in ihr das Telos der Vervollkommnung enthalten und wirksam sei. Diese epistemische und moralische Perfektibilisierung ist der Seele aber wesentlich zu eigen und durch keine äußeren Ursachen zu begrenzen: Wir können also, fuhr Sokrates fort, mit guten Grunde annehmen, dieses Fortstreben zur Vollkommenheit, dieses Zunehmen, dieses Wachstum an innerer Vortrefflichkeit sey die Bestimmung vernünftiger Wesen, mithin auch der höchste Endzweck der Schöpfung. Wir können sagen, dieses unermeßliche Weltgebäude sey hervorgebracht worden, damit es vernünftige Wesen gebe, die von Stufe zu Stufe fortschreiten, an Vollkommenheit allmählig zunehmen, und in dieser Zunahme ihre Glückseligkeit finden mögen. Daß diese nun sämtlich mitten auf dem Wege stille stehen, nicht nur stille stehen, sondern auf einmal in den Abgrund zurück gestoßen werden, und alle Früchte ihres Bemühens verlieren sollten, dieses kann das allerhöchste Wesen unmöglich beliebet, und in den Plan des Weltalls gebracht 102 103
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Vgl. Büchners Aufzeichnungen zu Epikur aus Tennemann in ebd., Bd. 9.1, S. 46911f.: »Aus Nichts wird Nichts; ebensowenig kann aus Etwas Nichts werden.« René Descartes: Prinzipien der Philosophie. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt und hg. von Christian Wohlers. Hamburg 2005, S. 54: »Cum autem agnoscimus fieri non posse, ut ex nihilo aliquid fiat, tunc propositio haec: Ex nililo nihil fit, non tanquam res aliqua existens, neque etiam ut rei modus consideratur, sed ut veritas quaedam aeterna.« Baruch de Spinoza: Briefwechsel. Übersetzung und Anmerkungen von Carl Gebhardt. Hg. von Manfred Walther. Hamburg 1986, S. 41: »›Aus nichts wird nichts.‹ Diese und ähnliche Lehrsätze werden eben schlechthin ewige Wahrheiten genannt.« Vgl. hierzu auch Gideon Stiening: Substanz und Grund bei Spinoza. In: Dieter Hüning, Gideon Stiening, Ulrich Vogel (Hg.): Societas rationis. Festschrift für Burkhard Tuschling zum 65. Geburtstag. Berlin 2002, S. 61–82. Siehe Büchner: Sämtliche Werke und Schriften (s. Anm. 101), Bd. 3.2, S. 3920ff.: »[M]ir giebt das Grab mehr Sicherheit, es schafft mir wenigstens V e r g e s s e n! Es tödtet mein Gedächtniß. Dort aber lebt mein Gedächtniß und tödtet mich. Ich oder es? Die Antwort ist leicht.«
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haben. […] Als einfache Wesen sind sie unvergänglich; als für sich bestehende Naturen sind auch ihre Vollkommenheiten fortdaurend und von unendlichen Folgen; als vernünftige Wesen streben sie nach einem unaufhörlichen Wachsthum und Fortgange in der Vollkommenheit […].107
In leichter Modifikation hat dieser Beweis der Unsterblichkeit der menschlichen Seele noch in der 1783 erneut aufgelegten Metaphysik Gottlieb Alexander Baumgartens seine Gültigkeit; eine Schrift, die Kant zur Grundlage seiner Vorlesungen machte, die mithin bis weit ins späte 18. Jahrhundert die universitäre Lehre prägte.108 Baumgarten hält fest, dass die menschliche Seele auch nach dem Tode ihres Körpers Veränderungen ausgesetzt sei und solange diese Veränderungen zu einer Vermehrung der Glückseligkeit beitragen, sei die Dauer ihrer Existenz unbegrenzt.109 Doch nicht allein in der Fraktion der Rationalisten überlebte die Überzeugung von einer Unsterblichkeit der Seele, auch in den Reihen der empiristischen Anthropologen wurde diesem Dogma der Theologie und der neuzeitlichen Philosophie Wahrheit und Wirksamkeit zugeschrieben. Von Platners Anstrengungen auf diesem Gebiet wurde schon berichtet; auch Johann Nicolaus Tetens war der Ansicht, dass allein die beobachtbare Tatsache des Vergnügens an der gegebenen Fülle von Seelenkräften (vor ihrem aktualen Gebrauch) auf deren transzendente Herkunft zu schließen erlaube und damit wenigstens für eine Unsterblichkeitshoffnung hinreichend Anlass gebe.110 Selbst Christoph Martin Wieland, der seit den 1760er Jahren am weitestgehenden im deutschsprachigen Raum die Konsequenzen des Materialismus durchdacht und akzeptiert hatte, konnte sich in den 1770er Jahren nicht entschließen, von »Glaube und Liebe« – nicht allein des Schöpfergottes, sondern auch eines Lebens nach dem Tode – als den einzigen Stützen unseres »armen Erdenlebens« abzusehen.111 Wie schwer es unter wissenschaftspolitischen wie systematischen Gründen offenbar war, sich von diesem Theorem zu verabschieden, weil – wie das oben aufgeführte Zitat aus dem Agathon zeigte – wenigstens Anarchie, sicher aber Verdammnis damit verbunden wurde, zeigen die materialistischen Schriften Michael Hißmanns, der davon überzeugt war, die folgenden beiden Sätze beweisen zu können: Ich glaube an die Unsterblichkeit meiner Seele, und glaube ebenso zuversichtlich an ihre Materialität.112
Unter philosophiegeschichtlichen Gesichtspunkten ist allerdings schwerlich zu bestreiten, dass die systematischen Begründungen der empiristischen Anthropologen für eine Unsterblichkeit wenig überzeugend ausfallen; am deutlichsten zeigt sich das bei Wieland, der um die Unableitbarkeit des Theorems der Unsterblichkeit aus einer sensualistischen Epistemologie und einer utilitaristischen Ethik wissend, ihre religiösen, moralischen und rechtlichen Postulate schlicht als 107 108
109 110 111
112
Mendelssohn: Ausgewählte Werke (s. Anm. 35), Bd. 1, S. 417f. Michael Albrecht: Vorwort. In: Georg Friedrich Meier: Metaphysik. Erster Teil. Mit einem Vorwort von Michael Albrecht. Hildesheim u.a. 2007, S. 6*: »In nicht weniger als 46 Semestern legte Immanuel Kant Baumgartens Metaphysica seinen Vorlesungen zugrunde.« Gottlieb Alexander Baumgarten: Metaphysik. Übersetzt von Georg Friedrich Meier. Anmerkungen von Johann August Eberhard. [Halle 1783]. Hg. von Dagmar Mirbach. Jena 2004, S. 194–198. Tetens: Philosophische Versuche (s. Anm. 81), Bd. 2, S. 791–834, spez. S. 826ff. Christoph Martin Wieland: Was ist Wahrheit? In: Wielands Werke in vier Bänden. Hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Berlin, Weimar 1984, Bd. 4, S. 139–146, hier S. 140. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 29), S. 13.
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gültig setzt, um dem Skeptizismus und Materialismus und dessen Konsequenzen zu entgehen.113 Sulzer redet in seinem Text von einer »sehr wünschenswerte[n] Sache«, was man – siehe Danton – auch anders sehen kann. Ideengeschichtlich ist diese systematische Perspektive auf Sulzers Anliegen natürlich unbedeutend; nur einige – vor allem streng sensualistische bzw. materialistische – Autoren verabschieden sich im 18. Jahrhundert von der Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele, trotz der erwähnten sachlichen Schwierigkeiten u.a. für Anthropologen. Wie Wieland, so macht aber auch Sulzer unmissverständlich klar, dass er mit der Demonstration einer Unsterblichkeit der Seele insbesondere auf jene Materialismus-Abwehr abzielte, die auch Platner, Tetens oder Lessing bewegte: Wenn mir dieses Unternehmen, wie ich Ursache habe, es zu hoffen, gelingt: so werde ich den Vortheil haben, dem Materialisten selbst die Hofnung der Unsterblichkeit, welcher er sich durch falsche Raisonnements beraubt hat, wieder zu verschaffen.114
Auch bei Hißmann und Tetens kann man jedoch ab den 1770er Jahren die breite Diskussion einer Konzeption nachlesen, die der anthropologischen und erst recht der materialistischen Psychologie das Angebot machte, die notwendige Bindung einer aktiven Seele an einen Körper mit dem Unsterblichkeitsgedanken zu verbinden: Charles Bonnets Modell der Palingenesie,115 das seit ihrer Publikation im Jahre 1769 intensiv debattiert wurde, so auch von Herder116 oder Lessing.117
4. Anthropologie und Unsterblichkeit II Eben diesem Angebot einer Vermittlung von Anthropologie und Unsterblichkeitstheologie konnte sich auch Sulzer in den 1770er Jahren nicht entziehen. Denn er brauchte für seinen Nachweis einer Unsterblichkeit der Seele wenigstens die Möglichkeit – und das heißt nach der Modaltheorie des Wolffianismus die Widerlegung der Unmöglichkeit118 –, dass sich die Seele nach dem Tode eines neuen Körper bedienen könne. Sulzer formuliert im Hinblick auf diesen Beweis den Anspruch, »daß die Vereinigung der Seele mit einem neuen Körper, ohne alles Wunderwerk, und bloß vermöge der Gesetze der Natur, bewerkstelligt werden kann«.119
113 114 115
116 117 118
119
Vgl. Stiening: Epistemologie und Anthropologie (s. Anm. 73). Sulzer: Ueber die Unsterblichkeit (s. Anm. 92), S. 4. Charles Bonnet: La Palingénésie philosophique ou Idées sur l’état passé et l’état futur des êtres vivants. 2 vols. Genf 1769; zu Sulzers enger, freundschaftlicher Beziehung zu Bonnet seit 1777 vgl. Sulzer: Lebensbeschreibung (s. Anm. 89), S. 59f. Vgl. hierzu Ralph Häfner: »L’âme est une neurologie en miniature«: Herder und die Neurophysiologie Charles Bonnets. In: Schings (Hg.): Der ganze Mensch (s. Anm. 4), S. 390–409. Vgl. Fick: Lessing (s. Anm. 22), S. 523. Vgl. hierzu die exzellente Darstellung bei Ludger Honnefelder: Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit. Hamburg 1990, spez. S. 200ff. Sulzer: Ueber die Unsterblichkeit (s. Anm. 92), S. 4.
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Diese ›naturwissenschaftliche‹ Ermöglichungsbedingung der Unsterblichkeit sucht Sulzer durch die Entfaltung eines système nouveau zu leisten,120 das allerdings weder rein rational bewiesen noch streng empirisch verifiziert werden könne, sondern ausschließlich durch Reihen apagogischer Beweise – d.h. durch den Ausschluss von Widersprüchlichem und Unsinnigem – zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit seiner Geltung geführt werden könne.121 Sulzer führt sein »System« in »fünf Sätzen« durch: 1. Neben dem »sichtbaren thierischen Körper« gibt es einen feiner organisierten Körper, der auch mit dem Begriff der »beseelten Partikel (molecules animées)« gefasst werden kann. 2. Dieser feinere Körper ist vermöge der Kräfte der Natur unzerstörbar; im Tode wird nur der äußere tierische Körper vernichtet, die beseelten Partikel bleiben bestehen. 3. Nach der Trennung von tierischem Körper und beseelten Partikeln kann die Seele nicht mehr wahrnehmen oder klare Vorstellungen ausbilden; es entsteht allerdings nur der schlechte Schein, als ob auch die Seele unbelebt sei. 4. Die beseelten Partikel hören jedoch – weil unzerstörbar – nicht auf, als Einheit zu existieren und gehen daher nicht in den Pool aller Materie auf; d.h. die Seele lebt in vollem Umfange fort und zwar »vermöge der, in der Natur eingeführten Gesetze, besondern, für die Art zu welcher sie gehört, angeordneten Gesetzen«. 5. Dieser Zwischenzustand erlaubt den folgenden Prozess: Gemäß dieser für sie zuständigen Gesetze vereinigt sich die Seele neuerlich mit einem tierischen Körper, »vermittelst dessen sie sich wieder in den Stand gesetzt findet, sinnliche Eindrücke von der materiellen Welt zu erhalten, welche ihr klare Vorstellungen, und dadurch ein neues Leben verschaffen.«122 Die gesamte Konstruktion entspricht – zumal in ihrer projektierten Lösung – der durch Charles Bonnet seit 1769 erneut aktualisierten These von einer ›Palingénésie‹, und Sulzer benennt diesen Kontext auch explizit.123 Anders als Hißmann oder Tetens, die Bonnets Überlegungen eher kritisch gegenüberstanden, doch nahe an Lessing, der – übrigens 1779, also unmittelbar nach Erscheinen des letzten Teils der sulzerschen Abhandlung – die Metempsychose ebenfalls als bedenkenswertes Modell reflektiert,124 sieht Sulzer in einer Konzeption von Seelenwanderung bedeutende Lösungspotentiale, allerdings vermittelt durch seine Theorie »beseelter Partikel« als Übergangsinstrumenten. 120
121 122 123 124
Ebd., S. 5; unübersehbar schließt Sulzer allein mit der Formel von einem ›neuen System‹ an Leibniz’ Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen, wie der Vereinigung zwischen Körper und Seele (vgl. Schriften [s. Anm. 41], Bd. 2, S. 258–271) an, in dem Leibniz zwar die Unsterblichkeit der Seele aus deren geistiger Substanzialität begründet, gleichwohl der Annahme Raum bietet, dass auch das Tier selbst und seine organische Maschine nicht vollkommen zerstört würden. Zwar weist Leibniz die Metempsychose explizit als Erdichtung zurück, bietet jedoch die folgende Alternative an: »An die Stelle der Wanderung der Seele tritt somit nur die Umgestaltung eines und desselben Tieres, je nachdem die Organe in verschiedener Weise entfaltet und mehr oder weniger entwickelt sind.« (Ebd., S. 263.) Vgl. Sulzer: Ueber die Unsterblichkeit (s. Anm. 92), S. 6. Alle Zitate ebd., S. 5f. Ebd., S. 6; vgl. auch ebd., S. 64. Vgl. hierzu u.a. Manfred Beetz: Lessings vernünftige Palingenesie. In: Monika Neugebauer-Wölk, André Rudolph (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Tübingen 2009, S. 131– 148.
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Sulzer erkennt in Bonnets Seelenwanderungslehre deshalb Lösungen epistemologischer und anthropologischer Problemlagen, weil sie die Annahme eines zweiten, nicht mehr tierischen und daher unsterblichen Körpers ermöglicht. Wie kurze Zeit später Platner zielt auch Sulzer auf den Nachweis eines ›unsterblichen Körpers‹ ab, dessen die Seele bedürfe, um zugleich unsterblich zu sein und doch erkenntnisfähig zu bleiben, was sie nach den anthropologischen Erweiterungen der empirischen Psychologie der Wolff-Schule nur schwer mehr konnte: die Seele bedurfte des Körpers, um nur überhaupt erkennen zu können und so musste sie mit dessen Tod – selbst wenn sie von ihm substanziell unterschieden war – in »ewigem Schlummer« versinken. Sulzer weist ausdrücklich darauf hin, dass das Theorem der beseelten Partikel für eine Seelenwanderungslehre, die ein Zusammenstimmen mit bestehenden Naturgesetzen ermöglicht, unabdingbar sei, um nicht zu »immerwährenden Wunderwerken seine Zuflucht« zu nehmen: Setzen wir aber […] voraus, daß die Seele, von ihrer Schöpfung an, mit materiellen Partikel, unauflöslich und dergestalt vereint ist, daß sie solche Eindrücke, als den innern Bewegungen dieser Partikel entsprechen, erhält, so werden alsdenn die Geburt, durch welche wir in dieses Leben eingehen, und die Wiedergeburt, die nach dem Tode, uns in ein neues Leben bringt, zu natürlichen Begebenheiten, welche sich ohne alles Wunderwerk, vermöge des Laufes der Natur […] eräugnen.125
In dieser Variante sind nach Sulzer die beseelten Partikel nicht allein Theoreme eines Systems des Materialismus, sondern auch Bestimmungen eines Immaterialismus – unter der unhinterfragbaren Voraussetzung, dass die Seele zu ihren Vorstellungen (als Wirkungen der Erkenntnis, wie als Zweckursachen ihrer freien Handlungen) nur durch den Körper gelangen könne.126 Zum Beweis dieses ›Systems‹ werden einige in den 1770er Jahren üblichen Argumente aufgeführt. Dazu gehören neuroanatomische Forschungsergebnisse, die den »Sitz der Seele« dergestalt beantworten, dass dieser nur in einem kleinen Teil des Gehirns zu lokalisieren sein könne, so dass der Rest des Körper zu jenem tierischen Leib erklärt werden kann, der im Tode tatsächlich vergeht – im Gegensatz zu den beseelten Partikeln. Weil die Seele aber – soll sie nicht sterben – stets mit Materie verbunden sein muss, ist diese Sterblichkeit des menschlichen Körpers für Sulzer ein erneuter Beweis der Wahrscheinlichkeit der molecule animée. Auch ethnologischer sowie psycho- und neuropathologischer Erkenntnisse bedient sich Sulzer. Diese Argumentationsbewegungen zeigen, dass der Berliner Philosoph – bei allen körperlichen Gebrechen und bei allem Unverstand gegenüber den Junggenies der 1770er Jahre – als exzellent informierter Zeitgenosse zu bezeichnen ist, der an dem Dogma einer Unsterblichkeit der menschlichen Seele festhalten wollte. Die entscheidenden Demonstrationen für die Geltung seines Systems führt er aber hinsichtlich zweier Sachprobleme: Zum einen entwickelt er eine Definition von Seele,127 die zwar als empfindende, wahrnehmende, urteilende und so klare Vorstellungen entwickelnde sowie als diesen Vorstellungen gemäß verlangende, verabscheuende und handelnde an den tierischen Körper gebundene ist, dennoch als Substanz bestimmt wird, weil sie spezifische, diesen epistemologischen, begehrenden und agierenden Realitäten zugrundeliegenden Kräfte enthält, die dieser Wirklichkeit gegenüber relativ indifferent sind:
125 126 127
Sulzer: Ueber die Unsterblichkeit (s. Anm. 92), S. 14f. So u.a. ebd., S. 10f. Ebd., S. 17f.
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Indessen bleiben die Kräfte, welche ihrem Wesen zugehören, immer in ihrer ganzen Vollkommenheit, sind immer bereit, so bald die Gelegenheit sich darbieten wird, sich zu entwickeln.128
Die dritte Abhandlung zur Unsterblichkeit widmet Sulzer weitgehend diesem Nachweis, dass – auch innerhalb der Grenzen der Physik – die Seele als eine Substanz zu gelten habe: Die Seele ist, ohn’ allen Zweifel, ein thätiges Wesen, es ist eine, immer wirkende Kraft.129
Die Seele bleibt also für Sulzer auch in den 1770er Jahren Substanz in einem leibnizschen Sinne.130 Zum anderen sucht er in einer argumentationslogischen Doppelstrategie nachzuweisen, dass – obwohl die Seele nicht im ganzen Körper ihr Organ habe, sondern nur in einem Teil des Gehirns – der ganze Körper zugleich weitergehende Funktionen für das subjektive Selbst ausübt: [S]o ist dieser thierische Körper nicht ein wesentlicher Theil unsers Selbst, er ist nur das Werkzeug, durch welches die Seele gewisse Eindrücke von der materiellen Welt erhält, und, zu gleicher Zeit, das Werkzeug, durch welches sie auf diese Welt einwirkt.131
Diese gegenseitig instrumentelle Relationalität im commercium mentis et corporis stellt Sulzers Theorie erneut in den Kontext der anthropologischen Debatten seit den 1770er Jahren.132 Doch zeigte sich (wie bei Platner),133 dass das Unsterblichkeitstheorem, das eine der wesentlichen Schutztheorien wider den Materialismus darstellte, mit ›diesem‹ Körper nicht aufrecht zu erhalten war. Daher entwickelt Sulzer das Konzept von Partikeln, die materiell und immateriell zugleich sein sollen, beseelt und doch ausgedehnt und zwar nicht nebeneinander, sondern ineins. Nicht zufällig werden jene Partikel in der zweiten Abhandlung als materiell und als beseelt nachgewiesen und in dieser Bestimmung zugleich als unzerstörbar abgeleitet. Sulzer stößt mit dieser Konzeption auf das Theorem der elementarischen Materie, der Unzerstörbarkeit zugeschrieben werden kann, weshalb – so Sulzer – den beseelten Partikeln dieses Prädikat nicht zu verweigern sei. Die gesamte Konstruktion – durch deren Substanzialisierung der Materie einem Cartesianismus nachhaltiger das Wort geredet wird, als es Sulzer lieb sein konnte – wird jedoch entworfen, um demonstrieren zu können, dass auch bei einer Zerrüttung des zusammengesetzten tierischen Körpers die Seele als Substanz lebhaft bleibt, d.h. nicht »in einen gänzlichen Schlummer verfällt«,134 weil sie mit den beseelten Partikeln ein zeitweiliges commercium eingeht, bis dass sie mit einem neuen vollständigen Körper zusammengeführt werden kann. Alle weiteren Demonstrationen und empirischen Verifikationen werden von Sulzer unternommen, um diesem Nachweisziel zu entsprechen, so u.a. die durchaus leibnizianische Überlegung, dass es möglich sei zu »denken und raisonniren«, ohne sinnliche Wahrnehmung, d.h. ohne äußere Erfahrung und Selbstgefühl dieser Bewusstheit.135 128 129 130 131 132 133 134 135
Ebd., S. 18. Ebd., S. 48. Vgl. hierzu beispielsweise Leibniz: Neues System (s. Anm. 120), S. 268. Sulzer: Ueber die Unsterblichkeit (s. Anm. 92), S. 22. Vgl. hierzu Euler: Commercium mentis et corporis? (s. Anm. 94). Vgl. hierzu Stiening: Platners Aufklärung (s. Anm. 2), S. 126–132. Sulzer: Ueber die Unsterblichkeit (s. Anm. 92), S. 47. Ebd., S. 47f.
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Eine längere und sowohl philosophie- als auch ideengeschichtlich bemerkenswerte Auseinandersetzung führt Sulzer mit großem Engagement gegen Caspar Friedrich Wolffs Theoria generationis,136 weil dessen mechanistische Epigenesis auch die menschliche Seele zu einem Produkt äußerer Ursachen reduzierte, was sowohl deren Substanzialität als auch deren prätendierte Freiheit verunmöglichte. Um Wolffs deterministische Epigenesis zu widerlegen, scheut Sulzer sich nicht, auf eine Theorie der Finalursache zurückzugreifen,137 um letztlich Bonnets Keimtheorie sowohl auf seine Materie- als auch seine Seelenkonzeption anwenden zu können. Dass diese nicht allein gegen Wolff, sondern gegen jede einseitig mechanistische Naturforschung gerichtete Konzeption zu einer Reaktualisierung theonomer Vorstellungen führt, liegt auf der Hand: Es ist also erwiesen, daß die Bildung des thierischen Körpers nicht erklärt werden kann, ohne daß man zu dem Einfluß einer verständigen Ursache, die fähig ist, auf die Materie zu wirken, die Zuflucht nähme.138
Eine präformationistische Keimtheorie in der Nachfolge Bonnets tendiert also, so wusste Sulzer, in Richtung einer theologischen Grundlegung. Diese theonome Naturtheorie schien ihm jedoch ein gewichtiges Instrument, eine Unsterblichkeit der Seele innerhalb der ›Grenzen der reinen Physik‹ zu ermöglichen. Diese ›reine Physik‹ erlaubte ihm zudem die Analogie, von einer durch die Erfahrung jedes Menschen verifizierbaren Annahme einer einmal erfolgten Vereinigung der Seele mit einem Körper darauf zu schließen, dass dies – unter der nunmehr nachgewiesenen Unsterblichkeit der Seele als Substanz und der Unzerstörbarkeit der Materie als elementare Atome – erneut geschehen könne: Giebt es nun aber Gesetze zur erstern Vereinigung der Seele mit einem thierischen Körper, warum sollten wir denn zweifeln, daß, vermöge ähnlicher Gesetze, eine zweyte Vereinigung der Seele mit einem andern Körper, wenn sie von dem erstern getrennt seyn wird, erfolgen könnte?139
Dennoch blieb ihm nur zu deutlich, welchen Status er solchen letztlich metaphysischen Raisonnements zuschreiben musste; gegen Ende der gesamten Abhandlung hält er ausdrücklich fest: Hier bleibe ich stehen. Zu jedem Schritte weiter mangelt uns sicherer Grund. Ich hatte mir vorgesetzt, die wichtige Frage der Unsterblichkeit der Seele, als einen Gegenstand der Physik zu behandeln; ich mußte mich folglich an der Erfahrung, und, bey dem Mangel dieser, an der Analogie halten; die, obgleich weit weniger entscheidend als die Erfahrung, dennoch ein sicheres Mittel ist, Wahrheiten in physischen Dingen zu entdecken.140
Diese Grenzen der ›reinen Physik‹ wollte Sulzer in seiner Abhandlung keineswegs überschreiten; die anthropologische Gegnerschaft hätte ihm diesen Übertritt in eine schlechte Metaphysik nicht gestattet. Dennoch wusste Sulzer darum, dass nicht allein die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele, sondern allein jene nach dem commercium mentis et corporis nicht rein empirisch zu beantworten ist; in einer von allen Mutmaßungen um eine ›Autonomisierung der
136 137 138 139 140
Caspar Friedrich Wolff: Theoria generationis. Ueber die Entwicklung der Pflanzen und Thiere. Übersetzt und hg. von Paul Samassa, mit einer Einleitung von Olaf Breidbach. Frankfurt a. M., Leipzig 1999. Sulzer: Ueber die Unsterblichkeit (s. Anm. 92), S. 65. Ebd., S. 68. Ebd., S. 81. Ebd., S. 81f.
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Empfindung‹ grundlegend unterschiedenen, weil eben leibnizianischen These führt er zum Ende der Abhandlung aus: Eine der ersten Wahrheiten, wovon man sich, wenn man dem Studio der Natur sich überläßt, überzeugen kann, ist, daß die sinnlichen Vorstellungen mit den wahren Eigenschaften der Gegenstände, welchen sie entsprechen, gar nichts gemein haben.141
Das aber hatte Leibniz schon in seinem Brief an Prinzessin Sophie Charlotte präzise und anschaulich vorgeführt.142 Wie später für Platner, so endet schon für Sulzer das Abenteuer der empirischen Anthropologie in den Schutzräumen des Leibnizianismus.
141 142
Ebd., S. 83. Leibniz: Von dem, was jenseits der Sinne und der Materie liegt (s. Anm. 43), S. 412f.
MARION HEINZ
Johann Georg Sulzer und die Anfänge der Dreivermögenslehre bei Kant
Der »vortreffliche und nachdenkende« Sulzer;1 Sulzer, der »unter denen, die in prose geschrieben haben, fast der einzige [ist], der Verstand mit Schönheit verbunden hat«;2 man »lese den Sulzer, und vorzüglich seine Theorie der schönen Künste«3 – so äußert sich Kant von seinen frühesten bis zu seinen späten Schriften und Vorlesungen zu Sulzer. Kein Zweifel also, dass Kant den Weltweisen aus Berlin geschätzt hat, wofür ja nicht zuletzt die Zusendung seiner Dissertation De mundi sensibilis adque intelligibilis forma et principiis ein beredtes Zeugnis ist; und Sulzers Antwortbrief vom 8. Dezember 1770 beweist durchaus die Reziprozität dieser Hochschätzung, in dem der Ältere und Arriviertere in Bezug auf die übersandte Inauguraldisputation lobt: »daß Sie [Kant] der Philosophie mit diesen Begriffen einen neuen Schwung geben würden«, um dann allerdings ermahnend hinzuzufügen: »[W]enn Sie sich die Mühe geben wollten, jeden besonders völlig zu entwickeln und seine Anwendung etwas ausführlich zu zeigen.«4 Für Sulzer stellt es sich offenbar ganz so dar, als arbeiteten beide von verschiedener Seite am selben, noch schwankenden Bau einer Theorie der Moral. So nämlich fährt Sulzer in diesem Brief fort: Ich wünschte wol von Ihnen zu erfahren, ob wir Hoffnung haben können ihr Werk über die Metaphysik der Moral[5] bald zu sehen. Dieses Werk ist bey der noch so wankenden Theorie der Moral höchst wichtig. Ich habe auch etwas in dieser Art versucht in dem ich unternommen diese Frage aufzulösen: Worin besteht eigentlich der physische oder psychologische Unterschied der Seele die man tugendhaft nennt, von der, die Lasterhaft ist. Ich habe gesucht die eigentlichen Anlagen zur Tugend 1 2 3 4
5
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., Bd. IV A741/B769 (im Folgenden: AA Band, Seite). Logik Hechsel. In: Immanuel Kant: Logik-Vorlesung. Unveröffentlichte Nachschriften II. [Kant-Forschungen Bd. 9]. Bearbeitet von Tillmann Pinder. Hamburg 1998, S. 313; vgl. ebd. S. 345. AA XXIV, S. 843. AA X, S. 111f.; laut Brief an Mendelssohn vom 8. April 1766 sollten bereits die Träume eines Geistersehers an Sulzer übergeben werden: »Ich habe durch die fahrende Post einige Träumerey an Sie überschickt und bitte ergebenst nachdem Sie beliebet haben ein Exemplar vor sich zu behalten die übrige an die Herren: Hofpred: Sack. Oberconsist: R: Spalding. Probst Süsmilch: Prof: Lambert: Prof. Sultzer u. Prof. Formey gütigst abgeben zu lassen.« AA X, S. 68. Vgl. den Brief Kants an Herder vom 9. Mai 1768: »[I]ch arbeite jetzt an einer Metaphysik der Sitten«; AA X, S. 64; vgl. auch den Brief Hamanns an Lindner vom 1. Februar 1764, in dem Hamann berichtet, Kant habe ein Werk über Sittlichkeit im Kopf. In: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. 7 Bde. Hg. von Arthur Henkel. Frankfurt a. M. 1955–1979, Bd. 2, S. 234.
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Marion Heinz und zum Laster in den ersten Äußerungen der Vorstellungen und der Empfindungen zu entdecken, und glaube die Untersuchung umsoweniger ganz vergeblich unternommen zu haben, da sie mich auf ziemlich einfache und leicht zu faßende Begriffe geführt hat, die man ohne Mühe und Umwege auf den Unterricht und die Erziehung anwenden kann.6
Wie stellen sich jenseits dieser Bekundungen von Interesse und Wertschätzung die sachlichen Gemeinsamkeiten zwischen Sulzer und Kant dar bzw. wie steht Kant der Sache nach zu Sulzers Philosophie, was ist für ihn wichtig geworden, was hat er aufgenommen, was zurückgewiesen? In der älteren Forschung sind es vor allem zwei Gebiete, auf denen ein Einfluss Sulzers auf Kant behauptet wird: zum einen soll die erstmals von Sulzer entwickelte Dreivermögenslehre den entscheidenden Anstoß für Kants Lehre von den drei Gemütsvermögen gebildet haben.7 Zum anderen ist es die sulzersche Ästhetik, die als Vorbild für bestimmte Elemente der kantischen Philosophie des Schönen geltend gemacht wird.8 Generelle Übereinstimmungen9 sieht man in einer gemeinsamen Frontstellung gegen den Intellektualismus der leibniz-wolffschen Philosophie auf der einen Seite und gegen den Skeptizismus Humes auf der anderen Seite;10 für beide Philosophen ist die empirische Psychologie und die davon ausgehende anthropologische Wende um die Mitte des 18. Jahrhunderts von eminenter Bedeutung.
1. Baumgarten und die Dreivermögenslehre Der folgende Beitrag handelt erneut von den Anfängen der Dreivermögenslehre in der kantischen Philosophie, um Überlegungen der älteren Forschung fortzuführen, die aufgrund ihrer defizitären Textlage nicht zu einem zufrieden stellenden Abschluss zu bringen waren. Hatte man seinerzeit die Möglichkeit einer Entscheidung in der Frage von Kants Vorbildern für die6 7
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10
AA X, S. 111f. Vgl. Anton Palme: J. G. Sulzers Psychologie und die Anfänge der Dreivermögenslehre. Berlin 1905; Friedrich Springorum: Über das Sittliche in der Ästhetik Johann Georg Sulzers. In: Archiv für die gesamte Psychologie 72 (1929), S. 1–42, spez. S. 20; Alfred Bäumler bestreitet einen Einfluss Sulzers auf Kant in dieser Hinsicht. Vgl. ders.: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts. Halle 1923 [ND Darmstadt 1967], S. 134. Anna Tumarkin: Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer. Frauenfeld, Leipzig 1933. Achim Vesper: Le plaisir du beau chez Leibniz, Wolff, Mendelssohn et Kant. In: Revue germanique internationale 4 (2006), p. 23–36. Zur generellen Einschätzung der philosophiegeschichtlichen Bedeutung Sulzers vgl.: Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFGSymposion 1992. Stuttgart, Weimar 1994, S. 410–39; Wolfgang Proß: »Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten«. Johann Georg Sulzer (1720–1779). In: Hellmut Thomke, Martin Bircher, Wolfgang Proß (Hg.): Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770 bis 1830. Amsterdam 1994, S. 133–148; Gideon Stiening: Ein »Sistem« für den »ganzen Menschen«. Die Suche nach einer ›anthropologischen Wende‹ der Aufklärung und das anthropologische Argument bei Johann Karl Wezel. In: Dieter Hüning, Gideon Stiening, Ulrich Vogel (Hg.): Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag. Berlin 2004, S. 113–139; Carsten Zelle: Encyclopédisme et esthétique. La dimension européenne de Sulzer. In: Denis Bonnecase (Ed.): Ferments d’ailleurs. Transferts culturels entre Lumières et romantisme. Grenoble 2010, p. 187–212; Élisabeth Décultot: Métaphysique ou physiologie du beau? In: Revue germanique internationale 4 (2006), p. 93–106. Vgl. Tumarkin: Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer (s. Anm. 8), S. 98ff.
Sulzer und die Anfänge der Dreivermögenslehre bei Kant
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ses Lehrstück davon abhängig gemacht, dass »durch die Veröffentlichung der Vorlesungen in der Akademie-Ausgabe das Material in ausreichender Weise allgemein zugänglich gemacht sein wird«,11 so ist jetzt diese privilegierte Situation erreicht, dass alle auffindbaren Vorlesungsnachschriften Kants – mit Ausnahme eines Teils der Nachschriften zur physischen Geographie – publiziert sind. Wie dürftig das den ersten Untersuchungen zur Verfügung stehende Material war, in welchem Dunkel Kants Entwicklung folglich lag, macht Palmes Feststellung deutlich, ungeachtet einiger Hinweise in der Kritik der reinen Vernunft sei erst Kants Brief an Reinhold vom 28. Dezember 1787 als die »erste bestimmte Äußerung Kants über die Dreiteilung der Vermögen«12 zu werten. Dort heißt es nämlich unmissverständlich: »Denn der Vermögen des Gemüts sind drey: Erkenntnisvermögen Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen.«13 Mit der Publikation der Vorlesungsnachschriften Herders aus den Jahren 1762 bis 176414 stehen Texte zur Verfügung, die die Entstehung dieses Lehrstücks zu erhellen versprechen, insofern diese frühesten erhaltenen Vorlesungsnachschriften bereits die Ansetzung eines eigenständigen Vermögens der Lust und Unlust dokumentieren; und sofern Sulzer in diesem Kontext mehrfach erwähnt wird, ist zugleich eine Entscheidung bezüglich der These seiner Vorbildfunktion in dieser Sache zu erwarten. Nun kommen die Herausgeber von Kants Anthropologie-Vorlesungen, Reinhardt Brandt und Werner Stark zu dem Schluss, nicht Sulzer, sondern Baumgarten sei die Quelle für Kant in diesem Lehrstück. Kant konnte diese »triadische Gliederung von Erkennen, Fühlen und Begehren […] zwar nicht in völliger Klarheit in der empirischen Psychologie von Baumgarten […], wohl aber in dessen Ethica« finden.15 Der Umstand, dass diese Gliederung bereits in der Nachschrift Herders zur praktischen Philosophie Kants16 nachweisbar ist, legt die Annahme nahe, sie sei Kant durch das seiner Vorlesung zugrunde liegende Lehrbuch, eben Baumgartens Ethik, vermittelt, und führt zu der Folgerung, sie sei um diese Zeit bereits als »vertraut gesichert.«17 Die Mutmaßung, Sulzer habe eine Rolle bei der Entstehung dieser Lehre gespielt, hätte sich damit als irrig erwiesen. Die Vorlesungsnachschrift zur praktischen Philosophie, auf die sich Brandt und Stark stützen, stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Wintersemester 1763/64, in dem Kant nach 11 12 13 14
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Ebd., S. 59. Vgl. Palme: J. G. Sulzers Psychologie (s. Anm. 7), S. 57. AA X, S. 514. Zuerst publiziert von Hans Dietrich Irmscher (Hg.): Immanuel Kant. Aus den Vorlesungen der Jahre 1762 bis 1764. Aufgrund der Nachschriften Johann Gottfried Herders. Köln 1964; jetzt auch erschienen im Rahmen der Akademieausgabe: Vorlesungsnachschriften Herders: Über Logik (AA XXIV, S. 3–6), Über Moralphilosophie (AA XXVII.1, S. 3–89), Über Metaphysik (AA XXVIII.1, S. 5–166, S. 843–9, S. 850–931), Über Mathematik und Über Physik (AA XXIX.1,1, S. 49–66 und S. 69–71). Ein Problem besteht – dies sei vorweg gesagt – darin, dass die zwischen August 1762 und November 1764 entstandenen HerderNachschriften kaum differenziert und genau zu datieren sind. Vgl. dazu die Einleitung von Irmscher (Hg.): Immanuel Kant, S. 7–14, insbesondere S. 12: »Alle Nachschriften, einschließlich des GeographieHeftes, sind zwischen dem 21. August 1762 und dem 22. November 1764 entstanden, als Herder Königsberg verließ.« Vgl. AA XXV, XXV; vgl. auch Manfred Baum: Gefühl, Begehren und Wollen in Kants praktischer Philosophie. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), S. 125–141. Vgl. AA XXVII, S. 1–89. AA XXV, XXV; zu Kants Theorie der Seelenvermögen vgl. Stefan Heßbrüggen-Walter: Die Seele und ihre Vermögen. Kants Metaphysik des Mentalen in der ›Kritik der reinen Vernunft‹. Paderborn 2004.
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Baumgartens Ethica Philosophica über praktische Philosophie las.18 Die herangezogene Belegstelle lautet: 3 Hauptbegriffe in der Seele: 1.) Erkenntnis: Phaenomena vor wahr oder falsch halten: so die theoretische Philosophie. 2.) Gefühl sezt Erkenntnis voraus Phaenomena lust und Unlust: ist meistens neu, von Erkenntnis unterschieden: es drukt die beziehung eines Gegenstandes auf unsere Gesamte Kräfte aus […]. 3.) Begierde sezt beides voraus: a) Vorstellung, b) beziehung auf lust und Unlust: das besondere: 1.) die Praesvision einer Möglichkeit durch meine Kraft.19
In der Tat handelt es sich um einen frühen – erstaunlicherweise ohne jeden Anspruch auf Originalität vorgetragenen – Beleg für die Einführung eines dritten Vermögens neben den üblichen zwei Vermögen des Erkennens (facultas cognoscitiva) und Begehrens (facultas appetitiva). Kant macht implizit von der Unterscheidung drei verschiedener Relationen zwischen Objekt und Subjekt Gebrauch: das Objekt bestimmt die Vorstellung, d.h. macht sie wahr oder falsch; damit ist der Seele die Fähigkeit zu erkennen, zugesprochen. Wird der Gegenstand in Relation zu den »gesamte[n] Kräfte[n]« des Subjekts betrachtet, erscheint er als lustvoll oder unlustvoll. Geltend zu machen, ist daher ein eigenes, vom Erkennen verschiedenes Vermögen, welches bloß die Wirkung des Gegenstandes in Hinsicht auf die »gesamte[n] Kräfte« des Subjekts vorstellig macht. Nicht wie der Gegenstand ist, sondern wie er das Subjekt affiziert, wird im Gefühl erschlossen. Und schließlich wird das Subjekt vermittelst der Vorstellung und des Gefühls der Lust als Grund des Gegenstandes gedacht. Funktionale Differenzierung der Seelenvermögen schließt mithin Bedingtheit des einen durch das andere nicht aus: so wird das Gefühlsvermögen als bedingt durch das Erkenntnisvermögen, und das Begehrungsvermögen als bedingt durch beide, Erkenntnis- und Gefühlsvermögen dargestellt. Um in Hinsicht auf die »gesamte[n] Kräfte« des Subjekts vorgestellt werden zu können, muss der Gegenstand selbst erkannt sein, und um begehrt zu werden zu können, muss die Vorstellung des Gegenstandes im Gefühl auf das Subjekt und seine Kräfte bezogen werden. Wenn Kant konstatiert: »Was beziehung aufs Gefühl hat ist allgemein praktisch: denn die Summe der gröstmöglichen Lust ist der Grund aller Begierden«,20 so ist dies cum grano salis noch mit Wolff kompatibel, nicht aber die zuvor gegebene Definition des Gefühls als eines Vermögens, das Gegenstandsvorstellungen nur in Hinsicht auf ihre Wirkung auf das Subjekt zugänglich macht. Gleichwohl ist zu fragen, ob Kant dieses Lehrstück der empirischen Psychologie von Baumgarten übernommen haben kann. Prima facie sieht es nicht gerade danach aus, als stamme diese Gliederung von Baumgarten: sie findet sich so jedenfalls weder in der Metaphysik, noch in der Ethik (Ethica philosohica). Zur Stützung der These von Kants Abhängigkeit von Baumgarten heißt es, diese Dreigliederung sei in der empirischen Psychologie als Teil der Baumgartenschen Metaphysik weniger deutlich als in der Ethica philosophica. D.h. sie ist auch in der empirischen Psychologie vorhanden, nur eben nicht leicht zu erkennen.21 Festzuhalten ist indessen, dass das Kapitel über Lust und Unlust in Baumgartens Metaphysik unter dem Obertitel facultas appetitiva
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Vgl. Irmscher (Hg.): Immanuel Kant (s. Anm. 14), S. 13, 99; kritisch dazu Gerhard Lehmann: Kommentar. In: AA XXVII, S. 1046ff. AA XXVII, S. 12. Ebd. Vgl. AA XXV, XXV.
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steht,22 also wie bei Wolff eingeordnet wird in die Untersuchungen des Begehrungsvermögens, was der Plausibilität der These von einer einfachen Übernahme einer speziell bei Baumgarten vorfindlichen Doktrin bereits Abbruch tut. Als Hauptzeuge wird aber Baumgartens Ethica philosophica ins Feld geführt: sie »erörtert im Bereich der Pflichten gegen sich selbst zuerst die ›cura intellectus‹ (§§ 221–225), sodann die ›cura voluptatis et taedii‹ (§§ 226–234) und danach die ›cura facultatis appetitivae‹ (§§ 235–241) [….]; anders verfährt die Gliederung in der ›Synopsis‹, die die übliche Zweiteilung von ›facultas cognoscitiva‹ und ›appetitiva‹ vorsieht und der letzteren – wie üblich – ›voluptas‹ und ›taedium‹ zuordnet […]«.23 Die Dreigliederung der Pflichten gegen sich selbst trägt also die gesamte Beweislast für die These vom Vorhandensein einer Dreivermögenslehre bei Baumgarten. Indessen hat die konstatierte Abweichung von Text und Synopsis keinerlei inhaltliche Relevanz; sie ist bloß auf den banalen Umstand zurückzuführen, dass bestimmte Stufen von Zwischenüberschriften der Synopsis nicht in den Text aufgenommen werden. Abgesehen von diesen Anordnungs- und Gliederungsfragen muss auffallen, dass Baumgarten an keiner Stelle von einer facultas voluptatis et taedii, analog zu den Vermögen des Erkennens und Begehrens redet. Auch von einem sensus voluptatis et taedii ist bei Baumgarten keine Rede.24 Lust und Unlust werden ontologisch ausschließlich als Zustand, als status der Seele bestimmt.25 Diese spezifischen Zustände der Seele entstehen nach Baumgarten ex intuitu perfectionis bzw. imperfectionis.26 Und wie andere Zustände der Seele können auch diese empfunden werden,27 aber dazu ist es offensichtlich für Baumgarten nicht erforderlich, ein besonderes, nur auf diese Zustände bezogenes Vermögen zu reklamieren. Von einer schlichten Auffindbarkeit dieser Lehre bei Baumgarten kann also keine Rede sein. Sieht man sich den von Kant behandelten Passus aus der empirischen Psychologie genauer an, treten die Differenzen zwischen Baumgarten und Kant klar hervor: für Baumgarten sind Lust und Unlust als Zustände der Seele be22
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Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. (Editio VII) Halle 1779 [ND Hildesheim 1982]. Synopsis. Wenn von einer Sonderstellung des Kapitels über Lust und Unlust die Rede sein kann, dann nur insofern als es vor der Behandlung der einzelnen facultates des Begehrungsvermögens – inferiores bzw. superiores – platziert ist, demnach zur empirischen Psychologie des Begehrungsvermögens »in genere« und nicht »in specie« gehört. In Wolffs empirischer Psychologie ist das Kapitel über Lust und Unlust das erste Unterkapitel von »De Facultatis appetendi parte inferiori«, vgl. Christian Wolff: Psychologia empirica. In: ders: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École. Hildesheim, New York 1962ff. [Nachdruck der Ausg. Frankfurt und Leipzig 1738], Abt. 2, Bd. 5, Sectio I, Cap. 1, S. 387ff. AA XXV, XXVI, Anm. 1. Wohl aber heißt es bei Leibniz »voluptas est sensus perfectionis«, vgl. Brief an Wolff vom 21. Februar 1705. In: Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolff. Aus den Handschriften der Koeniglichen Bibliothek zu Hannover, hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Halle 1860, S. 18; vgl. dazu Clemens Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen- , begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. Vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 22), § 655; zum Begriff status vgl. ebd., § 205. Verunklarend ist die Übersetzung des § 655 von Meier: »Der Zustand der Seele, welcher aus dem Gefallen entsteht, ist das Vergnügen (voluptas), welcher aus dem Missfallen entsteht, das Missvergnügen (taedium).« Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysik. Übersetzt von George Friedrich Meier. Halle 1783, § 482, S. 152. Gefallen und Missfallen werden nicht definiert, sodass offen bleiben muss, worin Gefallen und Vergnügen verschieden sein sollen. Dies irritiert insbesondere deshalb, weil bei Baumgarten diese Ausdrücke gleichbedeutend für den aus der Anschauung der Vollkommenheit entstehenden Zustand der Seele gebraucht werden, vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 22), § 655. Vgl. ebd.
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stimmt, die aus der Anschauung,28 d.i. undeutlichen Vorstellung von Vollkommenheit bzw. Unvollkommenheit entstehen und also durch Eigenschaften des Gegenstandes bedingt und bestimmt sind. Der in Herders Nachschrift zur praktischen Philosophie angedeutete Gedanke Kants, dass Lust eine von den objektiven Bestimmungen des Gegenstandes gänzlich unabhängige Weise des Bestimmtseins des Subjekts ist,29 hat keine Entsprechung in Baumgartens Philosophie.
2. Sulzers Theorie des Vergnügens Die Subjektivierung von Lust und Unlust, die Befreiung dieser Phänomene vom Intellektualismus der wolffschen Philosophie gilt aber als das große Verdienst Sulzers. Und diese »Verselbständigung der Gefühlsfunktion«30 qualifiziert Sulzer in den Augen der älteren Forschung zum entscheidenden Vorbild für die kantische Dreivermögenslehre. Für Palme etwa steht nach ausführlicher Diskussion anderer möglicher Quellen fest, dass Kant weder durch Tetens’ Konzeption des Gefühlsvermögens noch durch Mendelssohns Lehre vom Billigungsvermögen, »sondern durch die Adoption der sulzerschen Entgegensetzung von Erkennen und ›Empfinden‹ naturgemäß zu der Dreiteilung gedrängt wurde.«31 Wie stellt sich dieser kontrovers diskutierte Punkt in Kenntnis der Edition von Herders Vorlesungsnachschriften dar? Zunächst eine kurze Skizze der Sulzerschen Position.32 27 28 29 30 31 32
Vgl. ebd.; Baumgarten übersetzt sentire mit empfinden, vgl. ebd., § 534. Zum Begriff cognitio intuitiva vgl. ebd., § 620. Vgl. AA XXVII, S. 12; dort heißt es: »bei einer Art des Erkenntnisses verschiedene Gefühle«. Palme: J. G. Sulzers Psychologie (s. Anm. 7), S. 41. Ebd., S. 59; ähnlich Springorum: Über das Sittliche in der Ästhetik Johann Georg Sulzers (s. Anm. 7), S. 14ff. Die von Palme für so wichtig erachteten Fortschritte Sulzers zwischen der ersten Untersuchung über den Unterschied der angenehmen und unangenehmen Empfindung (1751/52; in: Johann Georg Sulzer: Vermischte Philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/1781, Bd. 1, S. 1–98; im Folgenden VS Band, Seitenzahl) und der späteren Abhandlung Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinnen sich die Seele bei Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet (1763; in: VS 1, S. 225–244) bleiben im Folgenden zunächst außer Betracht. Obwohl die spätere Abhandlung in vielen Punkten einen Fortschritt an Klarheit und Präzision erbringt, kann sie für die anstehende Untersuchung über die Anfänge der Dreivermögenslehre bei Kant nicht als zentrale Quelle in Frage kommen. Während es gesichert ist, dass Kant die erste Abhandlung kannte – sie ist auch in Wardas Bücherverzeichnis aufgeführt –, kann für die zweite Abhandlung kein solcher Beleg erbracht werden. Überdies ist nicht genau festzustellen, wie sich ihr Erscheinungstermin zu dem Zeitpunkt der von Herder nachgeschriebenen Vorlesungen verhält. Vgl. Gerhard Lehmann: Anmerkung zu AA XX, S. 137 auf S. 494f.; Marie Rischmüller: Einleitung. In: Immanuel Kant: Bemerkungen in den »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«. Neu hg. und kommentiert von Marie Rischmüller. Hamburg 1991, S. 102; vgl. zu der Untersuchung auch Klaus Reich: Einleitung in Immanuel Kant »Einzig möglichem Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes«. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hamburg 2001, S. 287–305, hier S. 297. Ob Kant auch die zweite Abhandlung gekannt hat, ist unklar. Überaus erhellend sind auch die Artikel Empfindung (Bd. 1, S. 31–36) und sinnlich (Bd. 2, S. 1083–1088) in Sulzers Hauptwerk, Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt. 4 Bde. Leipzig 1792–1799 [ND Hildesheim 1970, 21994].
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Erklärtermaßen unzufrieden mit Wolffs Theorie des Vergnügens33 entwirft Sulzer im ersten Teil seiner Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen unter Beibehaltung wolffscher Prinzipien eine neue, »allgemeine Theorie des Vergnügens«,34 die erstmals die wahre Quelle allen Vergnügens anzugeben und aus ihr als einheitlichem Grund alle verschiedenen Arten des Vergnügens herzuleiten in der Lage sein soll.35 Wolffs empirischer Psychologie, der es vorbildlich gelungen sei, alle intellektuellen Fähigkeiten der Seele aus dem tätigen Grundtrieb herzuleiten, soll – unter Wahrung ihrer systematischen Einheit – eine Theorie des Vergnügens an die Seite gestellt werden.36 Sofern es nämlich die Seele selbst, ihre einzige Grundkraft ist, in der Sulzer auch das von den intellektuellen Fähigkeiten genuin verschiedene Vergnügen begründen will, kann die Fruchtbarkeit von Wolffs monistischem Systemansatz erst recht erwiesen werden. Die einzige Grundkraft der Seele versteht Sulzer wie Wolff als Vorstellungskraft; sie besteht darin, »Ideen hervorzubringen, oder wenn man will, Ideen aufzunehmen und mit einander zu vergleichen; das heißt zu denken«.37 Wolff definiert das Vergnügen oder die Lust als »Anschauen der Vollkommenheit«,38 grenzt den Gattungsbegriff ›Vorstellung‹ mithin durch die beiden Merkmale Vollkommenheit als Gegenstand der Vorstellung einerseits und Anschaulichkeit als Grad logischer Vollkommenheit der Vorstellung andererseits ein auf die Art. Definierend für die Vorstellung von Lust ist – abgekürzt gesagt – also der spezifische Gegenstand qua Vollkommenheit verstanden als »Zusammenstimmung des mannigfaltigen«.39 Dagegen wendet Sulzer ein: »Einheit, Mannichfaltigkeit, Uebereinstimmung der Theile, machen uns einen Gegenstand nur insoferne angenehm, als sie auf die wirksame Kraft der Seele eine vortheilhafte Beziehung haben.«40 Die objektiven, der Erkenntnis zugänglichen Bestimmungen des Gegenstandes, die ihn als vollkommen qualifizieren, sind zwar nicht gänzlich irrelevant, aber sie werden erst unter einer bestimmten Bedingung in Hinsicht auf die Erregung von Lust oder Unlust bedeutsam: nämlich ihrer Bezogenheit auf die »wirksame Kraft der Seele«41 selber. Erst vermittelst dieses Bezugs auf das Subjekt wird das objektiv Vollkommene als angenehm oder unangenehm erfahrbar. Mit der Geltendmachung des Bezugs des Gegenstandes auf die Wirksamkeit der Seele als der für die Entstehung von Vergnügen und Missvergnügen ausschlaggebenden Bedingung 33 34 35 36 37 38
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Vgl. Sulzer: Untersuchung (s. Anm. 32), S. 5. Ebd., S. 4. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 11. Ebd., S. 5. Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 22). Hildesheim 2007, Abt. 1, Bd. 2, § 404; zu Wolffs Theorie der Lust vgl. Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs (s. Anm. 23); vgl. auch Achim Vesper: Lust als »cognitio intuitiva perfectionis«. Vollkommenheitsästhetik bei Wolff und ihre Kritik durch Kant. In: Jürgen Stolzenberg, Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses Halle (Saale), 4.–8. April 2004. Hildesheim 2008, Teil 4, S. 283–296. Wolff: Vernünfftige Gedancken (s. Anm. 38), § 152. Sulzer: Untersuchung (s. Anm. 32), S. 39; hier ist die Rede von Schönem; wie aber die Ausführungen auf S. 22 erkennen lassen, gilt dies allgemein. Ebd., S. 39.
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postuliert Sulzer gegenüber Wolff eine neue Dimension kausaler Beziehung: Nicht nur bewirkt die Seele als Vorstellungskraft sämtliche Veränderungen in ihr, d.h. ist Ursache von Vorstellungen; die Vorstellungen als von der Vorstellungskraft Erwirktes wirken ihrerseits auf das Wirken oder Tätigsein der Seele zurück. Die Förderung oder Hemmung des Wirkens der Seele, d.i. die Veränderung des Grades ihrer Lebhaftigkeit sind die durch die Gegenstandsvorstellungen hervorgerufenen innerseelischen Wirkungen zweiter Stufe.42 Damit spricht Sulzer den Vorstellungen selbst eine Kraft zu, und der Vorstellungskraft ist ein entsprechendes Vermögen zu leiden zu attestieren, das sich von dem der Modifizierbarkeit ihrer Vorstellungen grundlegend unterscheidet.43 Von einem Gereizt-,44 Gerührt-45 oder Bewegtsein46 der Seele redet Sulzer, um diese durch Vorstellungen erzeugten, von Vorstellungen verschiedenen innerseelischen Erleidnisse zu benennen.47 Im Hinblick auf diese besondere Art von Veränderungen der Seele gewinnt Sulzer seine neue Definition von Lust und Unlust als den Weisen, in denen sich die Seele selbst in
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Vgl. dazu ebd., S. 1–13, S. 18–20. Ohne Berücksichtigung dieser neuen Dimension innerpsychischer Kausalität bleibt der Unterschied zu Wolff unklar. Vgl. Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2009; Stöckmann verweist darauf, dass Sulzers Programm der Rückführung des Vergnügens auf die Vorstellungskraft durchaus den Anschein erweckt, als handle es sich um eine Art Radikalisierung des rationalistischen Projekts Wolffs, vgl. ebd., S. 215. Ist die Vorstellungskraft selbst nicht als der zureichende Grund ihrer Vorstellungen gedacht, ist sie auch als leidend zu denken. Aber dieses Leiden ist als Modifikation ihrer Vorstellung von dem oben genannten Leiden im Sinne der Modifikation des Grades ihres Tätigseins zu unterscheiden. Vgl. zu »Reiz« Sulzer: Untersuchung (s. Anm. 32), S. 18. Vgl. zum Begriff »rühren« ebd., S. 18, 22, 97; die von Sulzer betriebene Dynamisierung des Innerseelischen, seine Modellierung des Seelischen als Raum bewegter und bewegender Kräfte, ist ohne Wolffs neue Bestimmung des Verhältnisses von Psychologie und Physik kaum vorstellbar (vgl. Sulzer: Untersuchung [s. Anm. 32], S. 4). In Sulzers Psychologie wird eine den Wechselwirkungsverhältnissen von Körpern analoge innerseelische Dynamik entworfen: Wie die Bewegung von Körpern durch andere Körper verstärkt oder vermindert werden kann, so wird die Tätigkeit der Seele beeinflusst durch Ideen oder Vorstellungen. Die Lebhaftigkeit ihres Wirkens ist ein Analogon zur Geschwindigkeit bewegter Körper, vgl. Sulzer: Untersuchung (s. Anm. 32), S. 19; zum Verhältnis von Psychologie und Physik bei Wolff und auch zum Bezug Sulzers auf Wolffs Ausführungen zum Geschwindigkeitskonzept in Psychologie und Physik vgl. Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert. Paderborn 2002, S. 71ff. und S. 118ff. Zum Paradigma der wolffschen Psychologie im Vergleich zu Leibniz vgl. auch Hans-Jürgen Engfer: Konzeption des Psychischen und der Psychologie zwischen Leibniz und Wolff. In: Gerd Jüttemann (Hg.): Wegbereiter der Historischen Psychologie. München, Weinheim 1988, S. 23–27. Vgl. z.B. Sulzer: Untersuchung (s. Anm. 32), S. 9f., S. 22. In diesen ursprünglich der Rhetorik entnommenen, von Sulzer aber ins Feld des Biologischen transponierten Metaphern klingt sein vielleicht wichtigstes Vorbild für die Neuerungen gegenüber Wolff, Abbé Dubos, an, vgl. Jean-Baptiste Dubos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture. 3 vols. Genève 1967. Die Seele wird bei Sulzer und Dubos wie ein der Nahrung bedürftiges Lebewesen vorgestellt: der Trieb der Seele richtet sich in erster Linie auf Aktivität als solche, sodass Langeweile als größtes Übel erscheinen muss, vgl. dazu Stöckmann: Anthropologische Ästhetik (s. Anm. 42), S. 220f. Die Abhängigkeit Sulzers von Dubos und De Pouilly verdiente eine gesonderte Untersuchung. Zu De Pouilly und Sulzer vgl. Alexander Altmann: Mendelssohns Frühschriften zur Metaphysik. Tübingen 1969, S. 92ff.; siehe auch ders.: Einleitung. In: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Begonnen von Ismar Elbogen, fortgesetzt von Alexander Altmann, in Gemeinschaft mit Fritz Bamberger. Stuttgart-Bad Cannstatt 1971ff., hier Bd. 1 (im Folgenden: Jubiläumsausgabe, Band, Seite).
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ihrer Wirksamkeit zugänglich ist und vermittelst derer Gegenstände erst als angenehm oder unangenehm erfahrbar werden. Terminologisch wird die Differenz zwischen Lust und Unlust einerseits und Gegenstandsvorstellungen andererseits – nicht immer trennscharf – markiert, indem für Lust und Unlust der Begriff Empfindung,48 für diese der Begriff Vorstellung verwendet wird.49 Dass die spezifische Differenz von Empfindung und Vorstellung in der Verschiedenheit des Ursprungs ihrer Inhalte und des Bezugs der entsprechenden Prädikate besteht, ist bereits ansatzweise deutlich geworden: Die Inhalte von Vorstellungen werden als dem Gegenstand selbst entsprungen, ihm zukommend gedacht; Empfindungen hingegen beinhalten etwas, das in der Natur des Subjekts begründet ist. Empfunden wird, wie die Seele wirkt. Das heißt indessen nicht, dass es sich um eine Erkenntnis, also um eine objektive Vorstellung eines besonderen Gegenstandes qua Seele handeln würde. Vor allem aus den späteren Ausführungen in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste50 geht hervor, dass Sulzer den Empfindungen überhaupt ein intentionales Objekt abspricht;51 es handelt sich mit anderen Worten nicht um Vorstellungen von Zuständen der Seele im inneren Sinn. Empfindungen sind Weisen des Sichbefindens der Seele in Anbetracht ihres gestörten oder ungestörten Wirkens.52 Sie können ihrerseits in Gestalt eines fördernden oder hemmenden Impulses das Wirken der Seele modifizieren.53 »Die Empfindung ist also eine
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Vgl. ebd. z.B. S. 11ff., S. 22 u.ö. Bedauerlicherweise bringt es Sulzer in der ersten Abhandlung zu diesem Thema nicht bis zu einer präzisen und konsistenten Terminologie. So wird auch der Eindruck der Sinne als Empfindung bezeichnet, allerdings zumeist mit dem Zusatz »sinnliche« (vgl. etwa Sulzer: Untersuchung [s. Anm. 32], S. 53). »Moralische Empfindung« wird als Übersetzung für »moral sentiment« verwendet; bisweilen steht dafür aber auch »Empfindniß«, der Ausdruck, den Thomas Abbt geprägt hat (vgl. ebd., S. 89, 92f.). Der Begriff Vorstellung, der gleichbedeutend ist mit »Handlung der Seele« (Sulzer: Anmerkungen [s. Anm. 32], S. 229), wird in den späteren Anmerkungen als Gattungsbegriff eingeteilt in Vorstellung in engerem Sinne oder Erkenntnis und Empfindung. Empfindungen sind solche Vorstellungen, die angenehm oder unangenehm sind oder Verlangen und Abscheu hervorrufen. Vgl. Sulzer: Untersuchung (s. Anm. 32), S. 12f., 53. Vgl. Sulzer: Art. Empfindung. In: ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste (s. Anm. 32), Bd. 1, S. 312ff. sowie den Art. sinnlich, ebd., Bd. 2, S. 1084ff. Vgl. dazu auch Roderich Barth: Von Wolffs ›Psychologia empirica‹ zu Herders ›Psychologie aus Bildwörtern‹: Beobachtungen zur Umformung des Seelenbegriffs der Aufklärung. In: Katja Crone, Robert Schnepf, Jürgen Stolzenberg (Hg.): Über die Seele. Frankfurt a. M. 2010, S. 154–73, hier S. 193, wo auch von der Vorbereitung der Dreivermögenslehre durch Sulzer die Rede ist. Die Art, wie sich die Seele auf ihre Empfindungen bezieht, bezeichnet Sulzer gelegentlich auch als Fühlen (vgl. z.B. Sulzer: Untersuchung [s. Anm. 32], S. 18, 59). Empfindungen sind nicht eo ipso bewusst, aber sie können bewusst gemacht werden, ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt oder erinnert werden. Es ist auch möglich, dass aus einer Empfindung eine andere erwächst. In dem Artikel sinnlich in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste wird der für die Empfindung definierende Subjektbezug konkreter als ›angehen‹ in einem doppelten Sinne gefasst: Die Empfindungen richten sich auf den durch Rührung herbeigeführten veränderten Zustand unserer eigenen Kraft, und zwar entweder so, dass wir ihn genießen, und d.h. darin verharren möchten oder so, dass er uns missfällt, und wir ihn verlassen möchten. Das Bewusstsein dieses Wirkens geht dieses Wirken auch in dem Sinne an, dass es sich wirkend – als verharren oder verändern des Zustands – äußert. »Hier ist uns nichts von uns verschiedenes, nichts als außer uns sich veränderndes gegenwärtig: wir fühlen allein uns selbst; unsere uns gefallende oder missfallende Existenz.« Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste (s. Anm. 32), Bd. 2, S. 1084.
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Handlung der Seele, die mit dem Gegenstande, der sie hervorbringt, oder veranlasset, nichts gemein hat. […] Nicht den Gegenstand empfindet man, sondern sich selbst.«54 Die Gattung Empfindung wird von Sulzer nach zwei Hinsichten, der Art und dem Grad der Wirksamkeit der Seele, weiter bestimmt. Die Tätigkeit der Seele ist der Art nach als gehemmt oder frei zu qualifizieren; darin besteht der Einteilungsgrund für die Erzeugung der Arten angenehme bzw. unangenehme Empfindung.55 Durch graduelle Unterschiede lassen sich alle Differenzierungen innerhalb der Arten gewinnen. »Eben dieselbe Empfindung wird, nachdem sie stärker oder schwächer ist, Annehmlichkeit, Vergnügen, Freude, Entzücken genannt.«56 Es ist die größere Lebhaftigkeit, durch die sich das »Vergnügen von der bloßen Zufriedenheit unterscheidet.«57 Ob es aber überhaupt berechtigt ist, Sulzer an den Anfang einer Geschichte der Dreivermögenslehre zu stellen, ist zumindest fraglich. Meines Erachtens vertritt Sulzer eine Zwei- und keine Dreivermögenslehre. Evident ist das Bemühen Sulzers, das Empfindungsvermögen vom Vorstellungsvermögen zu unterscheiden. Denn das durch Vorstellungen als modifizierbar gedachte Wirken der Grundkraft als Ursprung von Empfindungen des Angenehmen und Unangenehmen anzusetzen, heißt nichts anderes, als eine Fähigkeit zu reklamieren, durch Vorstellungen so affiziert zu werden, dass das Subjekt hinsichtlich seines durch sie modifizierten Wirkens selber fühlbar wird.58 Also bleibt es bei Wolffs Ansetzung einer Grundkraft der Seele als Vorstellungskraft, die aber in grundlegend verschiedener Weise als Ursprung59 von Empfindungen und als Ursprung von Vorstellungen beansprucht wird. Schon der Titel der späteren Abhandlung Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, demonstriert die konsequente Ausgestaltung dieses neuen Ansatzes in vermögenspsychologischer Hinsicht. So klar die Absonderung des Empfindungsvermögens vom Vorstellungsvermögen ist, so klar macht insbesondere die spätere Abhandlung, dass Sulzer eine Zwei- und keine Dreivermögenslehre vertritt. Die Intention, alle Veränderungen der Seele auf diese beiden Vermögen zurückzuführen, wird programmatisch benannt, ohne allerdings im Detail ausgeführt zu werden:
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Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 32), S. 229. Vgl. Sulzer: Untersuchung (s. Anm. 32), S. 11f. Ebd., S. 11. Ebd.; innerhalb der Klasse der angenehmen Empfindungen verdient das Verhältnis von Behaglichkeit (aisance) und Vergnügen besondere Beachtung: Wenn das Vergnügen im Unterschied zur Behaglichkeit als eine Art geistiges Begehren vorgestellt wird, kann es sich dem Anschein entgegen nicht um eine qualitative Differenz zur »kontemplativen« Behaglichkeit handeln. Es ist der Grad der Lebhaftigkeit, durch den sich das Vergnügen von der Zufriedenheit unterscheidet, vgl. ebd., S. 13. Ob Sulzer die ontologischen Implikationen seiner Lehre, der zufolge modi der Seele (Vorstellungen) modi ganz anderer Art (Grade des Wirkens der Kraft) bewirken können, die ihrerseits in irgendeiner Weise repräsentiert werden können müssen, ohne jedoch in der gleichen Weise als von der Vorstellungskraft bewirkt gelten zu können wie Vorstellungen, durchdacht hat, mag bezweifelt werden. Zur Analyse der wolffschen und auch der kantischen Vermögenslehre vgl. Heßbrüggen-Walter: Die Seele und ihre Vermögen (s. Anm. 17), zu Wolff v.a. S. 55–84. Vgl. Sulzer: Untersuchung (s. Anm. 32), S. 18.
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So mannichfaltig auch die Wirkungen der Seele zu seyn scheinen, so laufen sie doch alle auf die Anwendung zweyer Vermögen, welche die Quellen aller ihrer übrigen Bestimmungen und Veränderungen sind, hinaus. Das eine ist das Vermögen, sich etwas vorzustellen, oder die Beschaffenheiten der Dinge zu erkennen; das andere, das Vermögen zu empfinden, oder auf eine angenehme oder unangenehme Art gerührt zu werden.60
Beabsichtigt ist, das Begehrungsvermögen im Empfindungsvermögen zu fundieren.61 Conditio sine qua non aller praktischen Seelentätigkeiten sei nämlich die Fähigkeit der Selbstempfindung. Während die theoretischen Ideen »wie ausser uns« sind und »von keiner Rücksicht auf uns selbst begleitet« werden; sind die praktischen Ideen »dergestalt in uns, daß wir sie nicht anders als mit der Empfindung unser selbst, welche ihre Vorstellung begleitet, gewahr werden.«62
3. Sulzer und die Dreivermögenslehre Kants In Herders Mitschrift der nach Meiers Auszug aus der Vernunftlehre (1752) gelesenen LogikVorlesung Kants – frühestens WS 1762/6363 – heißt es unter der Überschrift »Von der Weitläufigkeit der gelehrten Erkenntnis« zu § 41 von Meier: Es ist ein Grundtrieb der menschlichen Seele, das Feld der Ideen zu erweitern (Sulzer sucht es zum ersten Grundtrieb zu machen) Dies ist von den übrigen Arten der Erkenntnis unterschieden. Es ist kein formale, sondern materiale. Das formale der Erkenntnis beruht sehr auf dem materialen. – Mit desto weniger kan einer nichts machen und also fehlen ihm große Unterscheidungsgründe; – man muß also ceteris paribus auch nach der Weitläufigkeit zu streben.64
Offensichtlich bezieht sich Kant mit dieser Äußerung vorsichtig distanzierend auf Sulzers Akademieschrift von 1751 Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen, in der die Seele als unablässiges Bestreben, »das gleichsam alles zur Hervorbringung von Ideen in Bewegung setzt«,65 bestimmt wird. Kant wendet sich aber um diese Zeit bereits gegen die Auffassung, die Seele sei eine Kraft. So heißt es in einem losen Blatt zur Psychologia rationalis aus den Herder-Mitschriften: Die Wolfianer haben falsch behauptet, daß die Seele qua simplex bloß eine Kraft der repraesentatio sei: Dies entsteht durch die falsche Definition der Kraft: da sie bloß ein respectus ist, so kann die Seele viele respectus haben, so vielerlei die accidentien sind, die nicht auf andere können gebracht werden. Vorstellungen und Begehren sind Grundkräfte.66
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Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 32), S. 225. Vgl. Sulzer: Untersuchung (s. Anm. 32), S. 92f.; Wolffs umstrittenem Versuch, das Begehrungsvermögen vermittelst der Lust als anschauender Erkenntnis der Vollkommenheit aus der Vorstellungskraft herzuleiten, versucht Sulzer eine Alternative entgegenzusetzen. Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 32), S. 234; vgl. auch S. 239. Vgl. Irmscher (Hg.): Immanuel Kant (s. Anm. 14), S. 43. AA XXIV, S. 6. Sulzer: Untersuchung (s. Anm. 32), S. 9; vgl. auch S. 5: »[U]nd mithin ihre [sc. der Seele] wesentliche Thätigkeit nur in Hervorbringung von Ideen bestehen kann.« Vgl. AA XXVIII, S. 145.
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Der Fehler in der Definition der Kraft bringt einen weiteren mit sich, nämlich eine bestimmte, besondere Wirkung der Seele zu ihrem allgemeinen Wesen zu machen. Und dies ist offenbar auch bei Sulzer der Fall. Schon damit ist klar, dass Sulzers Versuch, auf der Basis des wolffschen Monismus in der Psychologie eine allgemeine Theorie des Vergnügens zu begründen, mit Kants Auffassungen nicht vereinbar ist.67 Kant verfügt um diese Zeit – wie aus den Vorlesungsnachschriften zur praktischen Philosophie ersichtlich wurde – bereits über eine eigenständige Lehre vom Gefühl, verstanden als Vermögen von Lust und Unlust, die nicht zufällig im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit Baumgartens Lehre vom iudicium in sectio IX der empirischen Psychologie am ausführlichsten dargestellt ist. Denn es ist die Kritik an der Vollkommenheitsmetaphysik Wolffs und Baumgartens, in deren Kontext sich die Kantische Umbildung der Gemütsvermögen vollzieht:68 Die festgestellten Mängel hinsichtlich Baumgartens Begriff des iudicium und des zu seiner Definition unerlässlichen Begriffs der Vollkommenheit sucht Kant durch Ansetzung des als Vermögen von Lust und Unlust definierten Gefühlsvermögens zu korrigieren. Sofern es das Gefühl ist, aufgrund dessen die vom logischen Urteil genuin verschiedene Form der Beurteilung möglich wird, kann Kant auch geradezu sagen: »Gefühl ist nicht Dinge zu erkennen, sondern mit Lust etc. nicht facultas judicandi (logisch) sondern dijudicandi. […] Es ist nicht zu erklären«69 – und das heißt: dieses Vermögen ist ein Grundvermögen, das nicht auf anderes zurückführbar ist.70 Gleich im ersten Kommentar zu sectio IX der empirischen Psychologie Baumgartens moniert Kant die einseitig intellektualistische Behandlung des Beurteilungsvermögens: »bisher blos theoretische Erkenntnis: jetzt zu einer Materie, die eigentlich nicht nur das Erkennen voraus67 68
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Vgl. dazu AA XXVII, S. 4. Leider ist mir Dieter Henrichs Artikel (Über Kants früheste Ethik. In: Kant-Studien 54 (1963), S. 404ff.) erst nach Fertigstellung dieses Beitrags wieder in die Hände gefallen. Henrich zeigt, dass Kants »früheste Ethik« nur vor dem Hintergrund seiner Kritik an Leibniz’ Konzeption von Theodizee im Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes und seiner daraus erwachsenden Revisionen der Vollkommenheitsmetaphysik Wolffs und Baumgartens begreiflich werden kann. Henrichs Rekonstruktion der Anfänge von Kants eigenständiger Ethik liegt vor der Veröffentlichung der Vorlesungsnachschriften Herders; sie werden aber durch die hier zunächst ganz außerhalb des Horizontes der Genese von Kants Ethik begonnene Auswertung dieser Texte voll und ganz bestätigt. Henrichs Beitrag geht gründlicher, als es hier möglich war, auf die theologischen und ontologischen Grundlagen für Kants Kritik an der wolff-baumgartenschen Vollkommenheitskonzeption ein; zu verweisen ist auch auf die luziden Ausführungen zum moralphilosophischen Abschnitt der Preisschrift Untersuchungen über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. Dieser Artikel ist für die Aufarbeitung des Kontextes, in dem die Dreivermögenslehre des frühen Kant entstanden ist, unverzichtbar. AA XXVIII, S. 74. Inwieweit Kant damit die mendelssohnsche Lehre vom Billigungsvermögen präfiguriert, wäre gesondert zu untersuchen. Vgl. dazu Moses Mendelssohn: Morgenstunden. In: Jubiläumsausgabe; Bd. III.2, S. 61ff.; vgl. aber auch schon ders.: Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften. In: Jubiläumsausgabe, Bd. I, S. 168, wo Mendelssohn bereits von einem von der Vorstellungskraft genuin verschiedenen Grundvermögen zu lieben und zu verabscheuen spricht. Wenn ich recht sehe, wird das Lieben und Verabscheuen aber erst in den Morgenstunden mit der dem Urteil ähnlichen Operation des Vergleichens in Verbindung gebracht. Vgl. Jubiläumsausgabe, Bd. III.2, S. 63. Vgl. auch Wolfgang Vogt: Moses Mendelssohns Beschreibung der Wirklichkeit menschlichen Erkennens. Würzburg 2005.
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setzt, sondern auch das Gefühl«.71 Die dijudicatio kann demnach nicht – wie es bei Baumgarten der Fall ist – als Art von Erkenntnis unter dem Obertitel facultas cognoscitiva inferior erörtert werden.72 Dieser Fehler hat seinen tieferen Grund in Baumgartens unzulänglichem Verständnis von Vollkommenheit. Definierend für die Handlung der Beurteilung ist nach Baumgarten die Erkenntnis der Dinge hinsichtlich ihrer Vollkommenheit bzw. Unvollkommenheit.73 Und das Kriterium von Vollkommenheit ist die Übereinstimmung des Mannigfaltigen: »[W]enn das Mannigfaltige einer Sache entweder als zusammenstimmend oder als nicht zusammenstimmend erkannt wird, so wird ihre Vollkommenheit oder Unvollkommenheit erkannt.«74 Hieran bemängelt nun Kant, dass es sich lediglich um eine formale Bestimmung handele, die »das materiale, die Vorstellung von dem Einen, wozu zusammengestimmt wird«,75 nicht angebe, und er selbst unternimmt es, dieses materiale Eine zu ›erwegen‹. Kant erklärt dann unter Berufung auf den Sprachgebrauch: »[V]ollkommen drücken wir auch aus durch gut: es gefällt: Näher untersucht: alle Prädicate können einem Dinge zukommen nur das Praedicat des Guten und Bösen blos in Beziehung auf vorstellende Wesen.«76 Vollkommenheit wird damit abhängig von dem gemacht, was von vernünftigen Wesen – sei es von Gott oder von anderen Vernunftwesen – als gut vorgestellt wird, d.h. selbst Zweck ist oder für einen Zweck gut ist. Das Gutsein ist keine Bestimmung der Dinge an sich, sondern eine Bestimmung, die relativ auf ein vernünftiges Subjekt ist und den Dingen nur vermittelst dieser Relation zugesprochen werden kann.77 Die den Dingen an sich zukommenden Bestimmungen können erkannt werden; was gut ist, bestimmt sich aber aus dem vom Erkenntnisvermögen unterschiedenen Gefühl als Vermögen der Lust und Unlust: gut ist das, was Lust oder Wohlgefallen erregt. Ohne vorstellende, vernünftige Wesen schwindet der Begriff des Guten, »[h]ätte er [der Mensch] aber gar kein Gefühl, so wäre es gar nicht möglich, daß in Ansehung seiner was guts oder böses sein sollte«.78 Die Abhängigmachung der Vollkommenheit von dem Begriff des Guten und dessen Dependenz vom Gefühl schlägt auf das Vollkommenheitskonzept Wolffs bzw. Baumgartens in der Weise durch, dass Vollkommenheit nicht länger als der Erkenntnis zugängliche objektive Bestimmung eines Gegenstandes zu begreifen ist; es ist vielmehr das Verhältnis des Gegenstandes auf ein Subjekt, auf sein Begehrungs- und auf sein Gefühlsvermögen, aus dem die Vollkommenheit des Gegenstandes bestimmbar wird. Damit wird das von Wolff und Baumgarten 71 72 73
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AA XXVIII, S. 73. Vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 22), § 606; Meier: Metaphysik (s. Anm. 25), § 451. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 22), § 651, S. 241: »Per facultatem diiudicandi alicuius vel perfectionem vel imperfectionem percipio«; vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 25), § 451, S. 139: »Ich stelle mir die Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten der Dinge vor, das ist, ich beurteile (diiudicio), folglich habe ich ein Vermögen zu beurtheilen [….].« Ebd., § 452, S. 139. AA XXVIII, S. 73. Ebd.; Gut und Böse sind hier nicht im eingeschränkten moralischen, sondern im weiten Sinne von bonum und malum als Transzendentalien zu verstehen, vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 22), § 100. Am Beispiel des Messers als einem Artefakt wird sinnfällig, dass sein Gutsein nur von seinem Zweck her bestimmbar ist; der Zweck mithin als die bei Baumgarten vermisste materiale Einheit der Vollkommenheit – und eben nicht der Begriff – anzusetzen ist, vgl. AA XXVIII, S. 73. Ebd., S. 74.
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statuierte Verhältnis zwischen Vollkommenheit und Gutem ebenso wie das von Vollkommenheit und Lust auf den Kopf gestellt. Definierend für das Gutsein einer Sache ist in Baumgartens Ontologie die mit ihr bzw. durch sie gesetzte Vollkommenheit: »Bonum est, quo posito ponitur perfectio. Ergo omne ens est bonum.«79 Das Seiende ist entweder schon als solches an sich selbst ein perfectum im transzendentalen oder metaphysischen Sinne und, sofern es den Grund dazu enthält, ein bonum oder es ist relativ ein bonum, insofern es zur Vervollkommnung eines Seienden beiträgt.80 Diese durch Leibniz’ Lehre von der göttlichen Wahl als Grund der wirklichen als der vollkommensten und besten Welt begründete ontologische Verbindung von Vollkommenheit und Gutsein stellt Kant in Frage. Das Gutsein kann nicht durch die objektive Bestimmung qua Vollkommenheit definiert werden, und es ist demzufolge kein Gegenstand der Erkenntnis.81 Es verhält sich umgekehrt: Das in Rücksicht auf ein aus anderen Quellen als der Erkenntnis – dem Gefühl – zu erschließende Gute ermöglicht, etwas als vollkommen zu bestimmen; es sind die Zwecke vernünftiger Wesen, die das von Kant bei Baumgarten vermisste materiale Eine darstellen, zu dem das Mannigfaltige zusammenstimmt.82 Mit den Philosophen des moral sense rekurriert Kant auf das Gefallen, um zu definieren, was das Gute ist. Damit kehrt sich zugleich das Verhältnis von Lust und Vollkommenheit, wie es Wolff und Baumgarten bestimmt haben, um: nicht Vollkommenheit begründet Lust, sondern Lust ist der Grund für die Bestimmung von etwas – Handlungen und Charakteren – als vollkommen. Indem Kant die Prädizierung von ›vollkommen‹ auf der Basis der Begriffe des Guten und Lustvollen relativ auf ein Subjekt begründet, ist er auch in der Lage, Baumgartens Lehre vom iudicium zu verbessern und den veritablen Unterscheidungsgrund zwischen Beurteilung und logischem Urteil beizubringen. Kant versteht urteilen zu dieser Zeit als vergleichen: Etwas als ein Merkmal mit einem Dinge vergleichen heißt urtheilen. Das Ding selber ist das Subject, das Merkmal das Prädicat. Die Vergleichung wird durch das Verbindungszeichen ist oder sind ausgedrückt, welches, wenn es schlechthin gebraucht wird, das Prädicat als ein Merkmal des Subjects bezeichnet, ist es aber mit dem Zeichen der Verneinung behaftet, das Prädicat als ein dem Subject entgegen gesetztes Merkmal zu erkennen giebt.83
Wenn die Prädikate gut und lustvoll keine Bestimmungen sind, die dem Ding selbst zukommen, sondern ihm nur vermittelst des Bezugs seiner Vorstellung auf das Subjekt zugesprochen werden können, kann der Grund der Verbindung des Subjekt- und Prädikatbegriffs nicht im Verstand liegen.84 Sofern das Kriterium dafür, ob etwas ein bonum ist oder nicht, letztlich darin besteht, ob es unmittelbar gefällt, ist es das Gefühl, das als Vermögen der Beurteilung der Dinge anzusetzen ist. »Wenn ich die Dinge in dieser Beziehung auf meine Lust und Unlust betrachte: 79
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Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 22), § 100, S. 28; vgl. Meier: Metaphysik (s. Anm. 25), § 79, S. 26: »Dasjenige, was so beschaffen ist, daß wenn es gesetzt wird, zugleich eine Vollkommenheit gesetzt wird, ist gut (bonum); folglich sind alle Dinge wesentlich gut.« Vgl. dazu AA XXVII, S. 5, 16. Daraus folgt auch, dass das Wollen nicht durch die Erkenntnis des Guten zu determinieren ist. Die Notwendigkeit, auf den Endzweck der Dinge zu rekurrieren, um ihre Vollkommenheit zu begreifen, lehrt auch Mendelssohn gegen Sulzer, vgl. Mendelssohn: Über die Empfindungen (5. Brief). In: Jubiläumsausgabe, Bd. 1, S. 59f. AA II, S. 47. Zu dem durch das Gefühl begründeten nicht-logischen Unterscheiden vgl. AA II, S. 60; AA XXVIII, S. 79.
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so dijudiziere ich nicht logisch, alsdenn vergleiche ich die Sachen untereinander, sondern praedicire die Sachen mit dem Gefühl.«85 Diese wenigen Andeutungen aus Herders Vorlesungsnachschriften zur Metaphysik entsprechen dem, was Kant in der 1764 publizierten Preisschrift Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral86 im Zusammenhang seiner Erörterung der ersten Gründe der Moral veröffentlicht hat. Zu unterscheiden ist dort ein zweifaches Sollen: »Ich soll nämlich entweder etwas thun (als ein Mittel), wenn ich etwas anderes (als einen Zweck) will, oder ich soll unmittelbar etwas anders (als einen Zweck) thun und wirklich machen. Das erstere könnte man die Nothwendigkeit der Mittel (necessitatem problematicam), das zweite die Nothwendgkeit der Zwecke (necessitatem legalem) nennen.«87 Während die erste Notwendigkeit Vorschriften der Geschicklichkeit anzeigt, die nicht als Prinzipien der Moral taugen, zeigt die zweite Notwendigkeit die für die Ethik erforderliche Verbindlichkeit an. Im Falle der necessitas problematica ist das Gesollte durch das Erkennen zu gewinnen; wo aber kein Zweck vorausgesetzt ist, das Gesollte mithin nicht Mittel zur Erreichung dieses Zwecks ist, ist es »aus keiner Betrachtung eines Dinges oder Begriffes, welche es auch sei, möglich zu erkennen und zu schließen, was man thun solle«.88 Aus welchen Quellen die formalen Regeln des schlechthin Guten »Thue das Vollkommenste, was durch Dich möglich ist«89 und die entsprechende Regel der Unterlassung zu gewinnen sind, mag hier dahingestellt bleiben.90 Dass die Moralphilosophie auf das Gefühl als Vermögen, das Gute zu empfinden, zu rekurrieren hat, um die unerweislichen materialen Grundsätze der praktischen Erkenntnis auffinden zu können, macht Kant unter Anspielung auf die moral-sense-Philosophie unmissverständlich klar: »Man hat es nämlich in unseren Tagen allererst einzusehen angefangen: daß das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntniß, dasjenige aber, das Gute zu empfinden das Gefühl sei, und daß beide ja nicht miteinander müssen verwechselt werden.«91 Wie in den Vorlesungsnachschriften zur Metaphysik ist auch hier das Gute als subjektrelatives Prädikat verstanden. Die einfachen Begriffe des Guten und die daraus gebildeten unerweislichen Urteile erklärt Kant als »unmittelbare Wirkung von dem Bewusstsein des Gefühls der Lust [verbunden] mit der Vorstellung des Gegenstandes.«92 Es ist also letztlich die Lust an der Vorstellung des Gegenstandes, die darüber entscheidet, was gut ist,
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AA XXVIII, S. 74; vgl. auch: »Hätte er aber gar kein Gefühl […], was guts oder böses sein sollte. – Freuden des Himmels, wenn sie jemand nicht rühren, sind sie auch nicht gut […]. Kurz dies Gefühl ist nicht Dinge zu erkennen […], nicht facultas judicandi (logisch), sondern dijudicandi. Es ist nicht […] Vorstellung selbst, sondern eine Folge etc. […] kurz man kann sich von der Beschaffenheit der Sache keinen Schluss machen, obs gut sei – es kommt auf die Reizbarkeit der Teile an.« (Ebd.) Vgl. Immanuel Kant: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. In: AA II, S. 273ff., insbesondere § 2, S. 298ff. Vgl. dazu, sowie zu Kants Kritik an Wolffs Vollkommenheitskritik: Josef Schmucker: Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflektionen. Meisenheim am Glan 1961, insbes. Kap. II, S. 52ff. AA II, S. 298. Ebd., S. 299. Ebd. Vgl. dazu Schmucker: Die Ursprünge der Ethik Kants (s. Anm. 86) und seine berechtigte Abgrenzung Kants von Hutcheson bezüglich dieses Punktes, S. 73ff. AA II, S. 299; wenig später (ebd., S. 300) wird Hutcheson explizit erwähnt. Ebd.
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und vermittelst derer die material unerweislichen Grundsätze der praktischen Philosophie zustande gebracht werden. ›Vollkommen‹ ist in der Preisschrift wie in den Metaphysik-Nachschriften ein abgeleitetes Prädikat: Wird eine Handlung nämlich durch das moralische Gefühl unmittelbar als gut vorgestellt, so wird sie nicht als etwas gedacht, das ein Mittel ist, aus dem ein von ihm verschiedenes Gut als sein Zweck erkannt werden kann; diese Handlung heißt nicht ›vollkommen‹, sondern an sich gut. ›Vollkommen‹ ist eine Handlung nur dann, wenn sie als Mittel aus einem Zweck abgeleitet werden kann, der seinerseits analytisch in ihr enthalten ist.93 Mit dieser Einschränkung des Begriffs ›vollkommen‹ zieht Kant die terminologische Konsequenz aus seiner sachlichen Einsicht, der gemäß Wolff und Baumgarten Vollkommenheit nur im Sinne des mittelbar Guten denken können. So heißt es in Herders Nachschrift zur praktischen Philosophie: »Baumgarten unterlässt es, die sittliche Vollkommenheit zu bestimmen; nach dem Geschmack der Philosophie des Wolf, die stets die Vollkommenheit auf den Respekt zwischen Ursache und Folge bauete und also bloß als Mittel zu Zwecken in Lust und Unlust ansah.«94 Kant kann allerdings, wie in den Nachschriften Herders dokumentiert ist, auch von sittlicher Vollkommenheit95 als Gutem an sich reden, auch dieser Begriff ist indessen nur in Relation auf das Subjekt zu definieren. Dass das Vermögen, das moralisch Gute zu empfinden, nicht mit dem Erkenntnisvermögen als dem Vermögen wahrer Vorstellungen zu verwechseln ist, wird – wie bereits gesagt – als die eminent wichtige, »erst kürzlich«, d.h. nach Wolff gemachte Entdeckung Francis Hutchesons hervorgehoben. Das Gefühl des Guten ist ferner unauflöslich; d.h. es erlaubt keine Reduktion auf andere Vorstellungen. Das Gefühl der Lust ist zwar verbunden mit der Vorstellung eines Gegenstandes, der als moralischer Gegenstand »viele einfache Empfindungen des Guten«96 und Bösen in uns auslöst. Aber es ist dennoch kein Vorstellungsvermögen im Sinne des Erkenntnisvermögens. Gleichwohl ist es eine offene Frage, ob die ersten Grundsätze der Verbindlichkeit zum Erkenntnisvermögen oder zum Gefühl als Vermögen, das den ersten inneren Grund des Begehrungsvermögens ausmacht, und damit ein auch von ihm verschiedenes Vermögen ist, gehören.97 Mit dieser zweiseitigen Abgrenzung des Gefühlsvermögens gegen das Erkenntnisund das Begehrungsvermögen bestätigt der veröffentlichte Text das, was auch aus den Nachschriften Herders erkennbar wurde: Kant verfügt Anfang der 1760er Jahre bereits über eine Dreivermögenslehre, für die keine unmittelbaren Vorgänger auszumachen sind. Gleichwohl bestätigen die Metaphysik-Vorlesungen Kants bezüglich der Lehre vom Gefühl eine gewisse Nähe zu Sulzer: die gemeinsame Frontstellung gegen die von Wolff und seiner Schule vertretene Lehre von der Lust als Erkenntnis von Vollkommenheit ist unübersehbar. Wie Sulzer separiert Kant das Gefühl als Vermögen von Lust und Unlust vom Erkenntnisvermögen. »Gefühl ist die Eigenschaft [d.h. hier nicht Qualität, sondern Proprium, Attribut] eines Wesens, das der Lust und Unlust fähig ist.«98 Näher besehen handelt es sich dabei um eine recep93 94 95 96 97 98
Vgl. ebd. AA XXVII, S. 16. Vgl. ebd. AA II, S. 300. Vgl. ebd. AA XXVIII, S. 78.
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tivitas99 des Subjekts, um das Vermögen, von Gegenständen so gerührt oder gereizt zu werden, dass eine eigene Klasse von Prädikaten entsteht, die nicht die Sachen selbst, sondern unser »Verhältnis auf die Sachen«100 charakterisieren. Angenehm und unangenehm, schön und hässlich, gut und böse sind für Kant Prädikate, die dem Ding nicht an sich zukommen, sondern die ihm vermittelst des Bezugs von Vorstellungen auf das Subjekt und sein Vermögen, von ihnen mit Lust und Unlust gerührt zu werden,101 zugesprochen werden. Auch die freien Handlungen als Gegenstände der Moralphilosophie rühren das Subjekt mit Vergnügen oder Abscheu; im Unterschied zum physischen Gefühl aber ist das moralische Gefühl allgemein und einstimmig.102 Kants Äußerungen zu Sulzer in den Herder-Nachschriften lassen Sympathie für die Person und Zustimmung zu einzelnen Aspekten der Lehre vom Vergnügen erkennen;103 aber nichts deutet darauf hin, dass Sulzers Theorie der Empfindungen für Kants Konzeption des Gefühls das entscheidende Vorbild war. Es ist schon eine Konsequenz der bereits angesprochenen Skepsis Kants bezüglich monistischer Ansätze in Metaphysik und Moralphilosophie, dass Kant aufgrund der Crusianischen Prämissen seiner Psychologie der von Sulzer gegenüber Wolff geltend gemachten Neuerung, seiner Erklärung des Vergnügens aus dem Bezug auf das Wirkendsein der Vorstellungskraft nichts abgewinnen kann. Sulzers Rückführung des Vergnügens auf die Lebhaftigkeit des Wirkens der Vorstellungskraft findet bei Kant keinerlei Zustimmung: »Sultzer sagt das rührt mich mit Vergnügen was die natürliche Wirksamkeit der Seele erleichtert u. befördert. Dieses sagt nur daß es die natürliche Bestrebung nach Vergnügen befordere.«104 Es ist nicht das Wirken der als Vorstellungskraft verstandenen Seele insgesamt, das befördert wird, wenn uns ein Gegenstand ›mit Vergnügen rührt‹. Es ist vielmehr bloß die natürliche Bestrebung nach Vergnügen selbst, die befördert wird. Das heißt aber, dass ein besonderes Vermögen der Lust schon immer vorauszusetzen ist, dem dieses Streben nach einem ihm gemäßen, Lust steigernden Gegenstand eignet. Wie Mendelssohn klar gesehen hat, bedeutet Sulzers Lehre vom Vergnügen eine Anthropologisierung und Subjektivierung der Wolffschen Vollkommenheitsmetaphysik und dagegen sucht Mendelssohn den objektiven Vollkommenheitsbegriff erneut zur Geltung zu bringen.105 99 100 101 102 103
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Vgl. ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 99; Moses Mendelssohn: Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindung. In: Jubiläumsausgabe, Bd. 1, S. 131f. Vgl. AA XXVIII, S. 66f., S. 89. Vgl. AA XXVII, S. 4: »[D]ie Lust an freien Handlungen unmittelbar heißt Moralisches Gefühl. wir haben ein Moralisches Gefühl: dies ist 1) allgemein 2) einstimig.« Insbesondere Sulzers Leistungen auf dem Gebiet der Ästhetik als Geschmackswissenschaft sind zu würdigen; diese Wissenschaft analysiert den Geschmack verstanden als »das sinnliche Gefühl […] wo der Eindruck unmittelbar rührt ohne Urteil der Vernunft«. AA XXVIII, S. 75. AA XX, S. 137, vgl. ganz ähnlich AA XXVII, S. 4: »Unglück Mitleid, wohl aber an des Julius Cäsar da sein Brutus ihn umbrachte 2) sagt man: – Das Vergnügen, waz wir daran haben, ist blos unser Zweck und ein feinrer Eigennutz Responsio das Vergnugen selbst sezt 1) eine Kraft, es zu haben, voraus 2) das Vergnügen kan ich nicht durch Vergnügen erklären. Ich will das Vergnügen: heißt bloß: ich habe Vergnügen am Vergnügen: sezt also ein gewißes Gefühl schon voraus. Dies sind also blos niedrige Ränke.« Vgl. Moses Mendelssohn: Über die Empfindungen. In: Jubiläumsausgabe, Bd. 1; Altmann: Einleitung (s. Anm. 47), S. 102f.
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Eine ganz andere Bahn schlägt Kant ein, wenn er die ontologische Begründung des Guten und Lustvollen in einer Ontologie der Vollkommenheit preisgibt. Mit dieser Infragestellung der wolffschen Metaphysik treten Sein und Sollen auseinander und damit ist der Weg für eine neue Moralphilosophie geebnet, die nicht – wie die wolffische - darauf zielt, als Klugheitslehre den objektiv vorgegebenen Zweck der Vollkommenheit befördernde Mittel zu bedenken.106
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Vgl. dazu: »Diese [sittliche Vollkommenheit] unterläßt er [Baumgarten] zu bestimmen, nach dem Geschmack der Philosophie des Wolfs, die stets die Vollkommenheit auf den Respekt zwischen Ursache und Folge bauete, und also blos als Mittel zu Zwecken in lust und Unlust.« AA XXVII, S. 16.
WERNER EULER
Die Idee des Schönen in Sulzers allgemeiner Theorie des Vergnügens
1. Aufgabenstellung Im Zentrum meines Beitrages steht zweierlei: Sulzers Auffassung von der Idee des Schönen und seine Theorie des Vergnügens, wie er sie in seiner 1751/52 in den Jahrbüchern der Berlinischen Akademie unter dem Titel Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen veröffentlichten Abhandlung am ausführlichsten abgefasst hat.1 Beide Gegenstände machen es eigentlich erforderlich, den philosophiegeschichtlichen Kontext mit zu beleuchten, in dem sich ihre philosophische Bearbeitung vollzieht. So ist selbstverständlich die von Sulzer entworfene Theorie des Schönen nur im Lichte der um 1750 in Deutschland mit Johann Georg Meier und Gottlieb Alexander Baumgarten einsetzenden wissenschaftlichen Verselbständigung der Ästhetik angemessen zu beurteilen, zumal – wie Élisabeth Décultot festgestellt hat – Sulzer in dem genannten Aufsatz weder den Namen Baumgartens erwähnt, noch überhaupt von dem Begriff der Ästhetik oder des Ästhetischen Gebrauch macht.2 Auch andere Klassiker der Ästhetik, z.B. Edmund Burke, werden mit keiner Silbe erwähnt. Und natürlich hätte auch eine differenzierte Einschätzung darüber zu erfolgen, welche 1
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Und zwar – wie den Artikeln von Élisabeth Décultot zu entnehmen ist – ursprünglich nur in einer französischen – und erst 1762 in einer deutschen Fassung. Ich beziehe mich hier auf den Wiederabdruck als Aufsatz in Johann Georg Sulzer: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. In: ders.: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/1781, Bd. 1, S. 1–98 (im Folgenden abgekürzt VS Band, Seitenzahl). Die französische Originalfassung habe ich nicht eingesehen. Vgl. Élisabeth Décultot: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie. Zu Sulzers ›Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1751/52)‹. In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 69–88. Zur Editionsgeschichte von Sulzers Untersuchung vgl. dies.: Métaphysique ou physiologie du beau? La théorie des plaisirs de Johann Georg Sulzer (1751–1752). In: Élisabeth Décultot, Stefanie Buchenau (Ed.): Esthétiques de l’Aufklärung. Paris 2006, S. 93, Anm. 1. Vgl. ebd., S. 99. Das gilt nicht für die Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Dort würdigt Sulzer die Verdienste Baumgartens für die Begründung der Wissenschaft der Ästhetik (vgl. Johann Georg Sulzer: Art. Aesthetik. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Neue vermehrte zweyte Auflage. Leipzig 1792, Bd. 1, S. 48. [ND: Mit einer Einleitung von Giorgio Tonelli. Hildesheim 1970, 21994].)
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Impulse unser Autor der nachfolgenden Auseinandersetzungen auf dem Gebiet der ästhetischen Theoriebildung mitgeben konnte. Weiterhin wären unbedingt die sehr wahrscheinlichen Einflüsse englischer Pioniere ästhetischer Theoriebildung (Shaftesbury und Hutcheson, die Sulzer nachweislich studierte) zu berücksichtigen. Ein ähnliches Defizit muss ich bei der Einordnung der Theorie des Empfindens und speziell des Vergnügens einräumen. Alessandro Lazzari hat in einem kürzlich erschienen Artikel3 Karl Leonhard Reinholds Überlegungen in Über die Natur des Vergnügens4 untersucht. Er gibt darin Reinholds Positionsbeschreibung Sulzers im Kontrast zu anderen Vergnügungstheoretikern wieder, wonach dieser »das Vergnügen sowohl aus dem subjektiven wie aus dem objektiven Gesichtspunkt betrachtet, jedoch mit ›einseitiger Rücksicht‹ auf den leidenden Teil des Vorstellungsvermögens.«5 Für die Richtigkeit dieser historischen und systematischen Einordnung lassen sich vermutlich hinreichende Belege finden. Dazu wäre es aber angebracht, genauere Bezüge zu anderen philosophischen Betrachtungen über das Vergnügen herzustellen, um Dissens oder Konsens zu ermitteln oder zu bestätigen. Nun zu dem, was ich versucht habe: Ich werde mich im folgenden streng an die Textvorgaben der sulzerschen Abhandlung von 1751/52 (1762) halten, die einzelnen Bauteile seiner Theorie des Vergnügens freilegen, zusammentragen und sie bei der Darstellung mit kritischem Kommentar begleiten. Ich will dabei zeigen, dass es offensichtlich bestimmte, zum Teil nicht miteinander kompatible theoretische Voraussetzungen gibt, die seine Theorie – wie ich meine – in erheblicher Weise in Begründungsnot bringen. Damit meine Argumentation schlüssig nachvollziehbar ist, werde ich eine Gedankenskizze an den Anfang meiner Untersuchung stellen, die einige Schlüsselbegriffe der sulzerschen Theorie des Schönen erläutern soll. Als Grundlage und Ausgangspunkt dafür verwende ich den Aufsatz Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet von 1763,6 in welchem die in systematischer Hinsicht durchsichtigste Darstellung des Unterschiedes zwischen Vorstellung (Idee) und Empfindung geleistet wird und der deswegen ein wertvolles Hilfsmittel für das Verständnis und die Beurteilung der sulzerschen Theorie des Vergnügens und des Schönen abgibt. Das in den Anmerkungen ausgearbeitete Seelenzustandsmodell ist triadisch aufgebaut und widerlegt allein schon dadurch die Legende von einem »dichotomisch-disjunktiven Denkmodell« hinsichtlich der Seelenzustände des Empfindens und des Nachdenkens, das in Sulzers Arbeiten ab 1763 seinen Niederschlag finden soll.7 Ergänzen werde ich meine Ausführungen durch Überlegungen zu weiteren Arbeiten Sulzers. Dass diese Schriften späteren Datums sind als die, die die grundlegende Theorie des Schönen und des Vergnügens enthält, und dass das Seelenzustandsmodell der späteren Jah3 4 5 6
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Alessandro Lazzari: Platner und Reinhold über das Vergnügen. In: Aufklärung 19 (2007), S. 309–326. Karl Leonhard Reinhold: Über die Natur des Vergnügens. In: Teutscher Merkur 4 (1788), S. 61–79, S. 144– 167; 1 (1789), S. 37–52. Lazzari: Platner und Reinhold (s. Anm. 3), S. 317. Johann Georg Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet. In: VS 1, S. 225–243. Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart 1994, S. 411–439, spez. S. 416.
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re in der Frühschrift von 1751 noch nicht präsent ist, stört in diesem Zusammenhang nicht, weil die strittige Frage möglicher konzeptioneller Verschiebungen m. E. die Bestimmungen der Hauptbegriffe und die allgemeine Ausrichtung seiner Philosophie nicht wesentlich tangiert. Insofern nämlich das »disjunktive Paradigma«8 zurückgewiesen werden muss, verliert auch die These von einem »Bruch« bzw. von einer »Wende« vom rationalen »Monismus der Vorstellungskraft« zum empfindungstheoretischen »Dualismus« von Vorstellen und Empfinden ihre Legitimation.9 Ebenso fragwürdig ist die Behauptung von einer Abkehr Sulzers von Grundlagen der Wolffschen Psychologie.10 Für Sulzer selbst war dies offenbar kein Problem, bezieht er sich doch in späterer Zeit affirmativ und ohne jede Selbstkorrektur auf die Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen zurück.11 In welche Schwierigkeiten Sulzers Vergnügungstheorie aufgrund unangemessener Bestimmung ihrer Grundbegriffe aber gerät, möchte ich schließlich (Abschnitt 7) an Hand der Fortführung meines Anfangsreferates aus den Anmerkungen zeigen.
2. Drei »Zustände« der Seele: Vorstellung (Idee), Empfindung, Kontemplation – Klärung einiger Grundbegriffe in Bezug auf Sulzers Vergnügungslehre In den Anmerkungen von 1763, die eine differenziertere Analyse gestatten als die Anfangsversuche der 1750er Jahre, führt Sulzer alle Veränderungen und Bestimmungen der Seele auf zwei ursprüngliche Vermögen zurück, d.i. das Vermögen, »sich etwas vorzustellen« und das Vermögen, »zu empfinden, oder auf eine angenehme oder unangenehme Art gerührt zu werden«.12 Methodisch macht sich Sulzer in der betrachteten Abhandlung den Fall zunutze, dass das Vorstellungsvermögen über das Empfinden dominiert. Denn der Fall, da eines der beiden Vermögen »allein die ganze Wirksamkeit der Seele zu beschäfftigen scheint«, ist für die forschende Beobachtung günstig und gibt wichtige psychologische »Facta und Umstände« an die Hand;13 diese will er in seiner Untersuchung zusammentragen. Des Weiteren beruft er sich auf eine Ähnlichkeit zwischen dem Sehvermögen und dem Vorstellungsvermögen überhaupt.14 Auf dem 8 9
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Ebd. Vgl. ebd., S. 415f. In abgeschwächter Form gilt dies auch für die Position von Décultot, obwohl sie Riedels »etwas dichotomische Lektüre von Sulzers früher philosophischer Entwicklung« »hinterfragen« will (Décultot: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie [s. Anm. 1], S. 74). Eher zurückhaltend über Riedels These äußert sich auch Achim Vesper: Le plaisir du beau chez Leibniz, Wolff, Sulzer, Mendelssohn et Kant. In: Décultot, Buchenau (Ed.): Esthétique de l’Aufklärung (s. Anm. 1), S. 33. Vgl. Décultot: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie (s. Anm. 1), S. 83–85. Vgl. Johann Georg Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste [1765]. In: VS 1, S. 122–145, hier S. 136. Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 6), S. 225. In dem Text Zergliederung des Begriffs der Vernunft von 1758 zählt Sulzer fünf Vermögen, aus denen die Vernunft entsteht: Johann Georg Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft. In: VS 1, S. 244–281, hier S. 268. Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 6), S. 225. Ebd., S. 225–227.
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Wege dieser Analogie mit der Physiologie des Sehens gewinnt er über die Bildqualität einen Begriff von Deutlichkeit, der für ihn auf das ›innere Sehen‹ der Seele übertragbar ist. Die Vorstellung ist nun die, dass der Verstand durch »Aufmerksamkeit« im Unterscheiden einen einzelnen Gegenstand aus einem ›verworrenen‹ Ganzen isolieren und verdeutlichen kann, indem er (in Analogie zur Beobachtungsoptik) das Ganze zugleich »verdunkelt«. Durch Fortsetzung dieser Zergliederung auch an den Teilen eines Gegenstandes lässt sich, indem die Aufmerksamkeit auf einen einzigen »Punkt« des Gegenstandes konzentriert wird, ein hinreichender Grad an Deutlichkeit in der Erkenntnis eines zusammengesetzten Gegenstandes erzielen.15 Das Resultat dieser Seelenoperation ist ein »einfache[r] Begriff mit vollkommener Deutlichkeit«, völlig unbeeinflussbar von sinnlichen Empfindungen: »die Seele hat weder Empfindung, noch Neigung, noch Willen«, ja, sie verliert sogar ihr Selbstgefühl.16 Dieser »Zustand des Nachdenkens« ist also auf der einen Seite vermeintlich adäquate Gegenstandserkenntnis, auf der anderen Seite aber vollkommenes Selbstvergessen: Das unterscheidende Merkmal dieses Zustandes des Nachdenkens ist das Vergessen seiner selbst, welches allem, was die Aufmerksamkeit von ihrem Gegenstande abziehen könnte, den Zugang zu der Seele verschließt. Der Verstand befindet sich dabey sehr wohl, und er behandelt seinen Gegenstand mit einer vollkommenen Freyheit und Leichtigkeit, weil er sich zu nichts anders angetrieben fühlet, als sich den Gegenstand, den er vor sich hat, recht genau und deutlich vorzustellen.17
Neben der Merkwürdigkeit einer solchen punktzentrierten Begriffsbildung besticht in der Sichtweise Sulzers vor allem der Atomismus der Gegenständlichkeit. Er hat die Singularität der Ideen zum Pendant. Denn immer sind es »einzelne Ideen, aus welchen die Begriffe entstehen«.18 Von Ideen, sofern sie sich auf Einzelgegenstände beziehen, insbesondere von der Idee »von sich selbst«, gilt, dass sie prinzipiell nicht vollständig (im höchsten Grade vollkommen) sind.19 Sulzers Auffassung von Ideen ist lockeschen Ursprungs.20 Obwohl das »innere Gefühl« ein Vermögen hervorbringt, Ideen zu haben, sind sie doch Ausdruck des Empfindens infolge äußerer Affektion: »Eine Idee haben, die mit dem Geiste gegenwärtig sey, heißt nichts anders, als, empfinden, daß man in dem gegenwärtigen Augenblicke auf eine gewisse bestimmte Art afficirt wird«.21 Auch die Idee, die wir von uns selbst haben, ist durch die Sinne vermittelt und unter-
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Vgl. ebd., S. 227f. Ebd., S. 228. Ebd., S. 228f. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 12), S. 246. Vgl. Johann Georg Sulzer: Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile [1764]. In: VS 1, S. 199–224, hier S. 206–208 u. S. 211. Diese Behauptung kann ich hier nicht detailliert nachweisen. Lockes Unterscheidung zwischen »sensation« und »reflection« als den beiden einzigen Quellen der Ideen dürfte der Ursprung der Unterscheidung in einen »Zustand des Nachdenkens« und einen solchen des »Empfindens« bei Sulzer sein. Vgl. vorläufig: John Locke: An Essay concerning Human Unterstanding. Ed. with a foreword by Peter H. Nidditch. Oxford 1975, Book II, Chapter I.1–5, Chapter VII.1–6. Francis Hutcheson macht von Lockes Unterscheidung implizit auch schon Gebrauch (vgl. Francis Hutcheson: An Inquiry concerning Beauty, Order, Harmony, Design. In: ders.: An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue; in Two Treatises. London 1729, p. 20 u.ö.). Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 12), S. 248.
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liegt dem Zufall.22 Die Ideenfolge ist den Veränderungen der Eindrücke adäquat. Ihre Unterscheidung setzt Aufmerksamkeit durch »die freye Anwendung der thätigen Kraft« voraus.23 Sulzer anerkennt den Unterschied zwischen spekulativen (äußeren) und praktischen (inneren) Ideen.24 Weiterhin wird zwischen materieller und formaler Beschaffenheit der Ideen unterschieden: materiell »ist die Art der Vorstellung, in Absicht auf die Ursache, welche sie hervorbringt«, der Form nach ist sie »die Art der Vorstellung, in Absicht auf die Art und Weise, wie wir sie fassen«.25 Es ist nicht die materielle Beschaffenheit der Ideen, die immer gleich ist, insofern sie sich nur nach der Beschaffenheit der Sinnesorgane richten muss, sondern deren Form (als Grad der Deutlichkeit), nach der sich die Ideen unterscheiden. Die Grundideen sind sinnlicher Natur (»Ideen von sinnlichen Dingen«).26 Aber sinnliche Empfindungen mögen noch so vollkommen sein und zur Verbesserung der Wahrnehmung von Unterschieden taugen, sie führen allein nicht zum Nachdenken oder zur Vernunfttätigkeit. Zu den von äußeren Gegenständen erzeugten sinnlichen Eindrücken muss »Aufmerksamkeit« als eine »Handlung des Geistes« hinzutreten.27 Ihre Funktion ist es nämlich, eine einzige bestimmte Idee oder Vorstellung von »jeder andern« zu unterscheiden und diese zu fixieren. Die Exklusivität einer solchen Idee macht das besondere Interesse an ihr aus.28 Es ist eigentlich die Handlung der »Urteilskraft«, die die Empfindung vergessen und aus ihr eine »abstrakte Idee« macht.29 Nun gibt es zwei Arten der Aufmerksamkeit, die sich nach ihrer jeweiligen Ursache richten. Die Aufmerksamkeit aus Zwang entsteht durch die Stärke, mit der ein Gegenstand die Empfindung bewegt (»rührt«); dagegen bewirkt die »Deutlichkeit« der Ideen »eine freywillige und mit Nachdenken begleitete Aufmerksamkeit«. Allein diese letztere »richtet die Wirksamkeit der Seele auf einen genau ausgedrückten Gegenstand, dessen verschiedene Theile wir von einander unterscheiden«; »der Verstand behält alle Freyheit, den Gegenstand zu betrachten«. Es ist die freiwillige (oder freie) Aufmerksamkeit als »der wahre Grund der Vernunft«, der das Nachdenken »erwecket«.30 Die sogenannte freie Aufmerksamkeit soll also das Nachdenken herbeiführen und den Geist aus dem Traum zum Wachen bringen; aber sie ist ja frei eben nur insofern, als das Nachdenken bereits wirksam ist, d.h. die Aufmerksamkeit – wie Sulzer sich ausdrückt – »begleitet« – und damit potentiell handelt. Ohne das Nachdenken gibt es nämlich kein deutliches Unterscheiden und damit auch keinen Ausgang aus den verworrenen Ideen der sinnlichen Empfindungen. Worauf beruht also die vorgebliche »Freyheit des Geistes [...], die uns erlaubet, nach Belieben zu handeln, und einer von unsern gegenwärtigen Vorstellungen den Vorzug vor allen andern zu 22 23 24 25 26 27 28
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Vgl. Sulzer: Von dem Bewußtseyn (s. Anm. 19), S. 201–203. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 12), S. 248. Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 6), S. 234. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 12), S. 248. Vgl. ebd., S. 250f. Ebd., S. 252. Ebd., S. 253; obwohl wir eigentliches Interesse nur an dem haben, das in uns selbst vorgeht (vgl. Sulzer: Anmerkungen [s. Anm. 6], S. 234). Vgl. auch Johann Georg Sulzer: Art. interessant. In: Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 691–694. Siehe zudem den Begriff »Interest« bei Francis Hutcheson: An Inquiry concerning Moral Good and Evil. In: ders: Inquiry into the Original of our Ideas (s. Anm. 20), p. 106f. Vgl. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 12), S. 268f. Alle Zitate ebd., S. 253–255.
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geben, uns dabey aufzuhalten und sie wieder fahren zu lassen, so wie wir es für gut finden«,31 und die also Bedingung des Nachdenkens sein muss? Nach Sulzer setzt sie ihrerseits zweierlei als Bedingung voraus: erstens einen »Zustand des vollkommenen Wachens« (bzw. der klaren Vorstellungen, unter Berufung auf Wolff) und eine »hinlängliche Stille in der Seele«, d.h. der Abwesenheit von jedem Zwang durch sinnliche Empfindungen.32 Der Zustand »des vollkommenen Wachens« ist durch eine klare Abfolge von Ideen gekennzeichnet; er setzt also ein denkendes Unterscheiden voraus, eine Tätigkeit also, die erst im Wachzustand möglich ist und durch die freie Aufmerksamkeit hergestellt werden soll. Aber damit setzt das Wachen genau dasjenige schon voraus, was es selbst erst ermöglichen soll. Das Nachdenken kann aus dem Traum der Vorstellungen nicht geweckt werden, ohne im Wachen bereits unterscheidend und determinierend tätig zu sein. Für Sulzers Konzeption der Ideen ergibt sich daraus die notwendige Konsequenz, dass die Idee als differente Vorstellung (d.h. als innere, abstrakte Idee) unerzeugt ist, d.h. immer schon ist, aus Zufall da ist, nur passive Form ist, die von der Aufmerksamkeit vorgefunden wird. Das zeigt sich insbesondere bei der sinnlichen Idee oder Empfindung, die erklärtermaßen nicht bloß ein passives Vermögen, sondern Tätigkeit sein soll. Zurück zur Darstellung der Anmerkungen von 1763: In scheinbar unversöhnlichem Gegensatz zum »Zustand des Nachdenkens« steht der »Zustand der Empfindung«.33 Den Begriff der Empfindung entnimmt Sulzer in seinem Aufsatz von 1763 der Differenzierung des Vorstellungsbegriffs: Empfindung nenne ich jede Vorstellung, insofern sie angenehm oder unangenehm ist, oder insofern sie Verlangen oder Abscheu hervorbringt. Die Empfindung ist also eine Handlung der Seele [!], die mit dem Gegenstande, der sie hervorbringt, oder veranlasset, nichts gemein hat. [...] Nicht den Gegenstand empfindet man, sondern sich selbst.34
Die Beschäftigung der Seele mit sich selbst ist eine notwendige Bedingung der Empfindung. So wie der Gegenstand außer dem Selbst liegt, so trennt sich demnach das Nachdenken vom Empfinden. Aber das Nachdenken hat, wie Sulzer in anderen Darstellungen ausgeführt hat, im Empfinden (eines äußeren Gegenstandes) auch eine seiner wesentlichen Voraussetzungen. Es geht aus dem Empfinden hervor, so wie die Empfindung in das Nachdenken übergeht. Die Empfindung ist insofern auch eine Abart, nicht nur das Gegenteil der Vorstellung.35 Aus dieser Verwirrung 31 32 33
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Ebd., S. 255. Ebd., S. 255 u. S. 260. Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 6), S. 229. Abweichend von dieser Nomenklatur führt Sulzer in Von der Kraft folgende drei Seelenzustände an: den »Zustand des Nachdenkens«, den »Zustand der Betrachtung (contemplation)« und den »Zustand der Bewegung (emotion)« (Sulzer: Von der Kraft [s. Anm. 11], S. 124). Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 6), S. 229; Hervorhebung von mir. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Denken und Empfinden an anderen Stellen bei Sulzer wieder einerlei werden: »Denn vernünftig schließen, ist nichts anders, als erkennen, oder empfinden, daß gewisse Sätze nothwendig aus gewissen andern Sätzen folgen« (Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft [s. Anm. 12], S. 246). In der Schrift Von dem Bewußtseyn wird zwischen zwei Arten von (Verstandes-)Vorstellungen unterschieden: Vorstellungen von sich selbst und solchen von Dingen außer uns (Sulzer: Von dem Bewußtseyn [s. Anm. 19], S. 201). – Wolfgang Riedel nimmt diese unbestreitbare Differenz zwischen Vorstellen und Empfinden bei Sulzer zum Anlass und zur Begründung seiner
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hilft sich die Verwirrung selbst: die Empfindung wird nur fühlbar »in dem Zustande verworrener Vorstellungen«;36 ihre Stärke ist dem Grad der Verwirrung in den Vorstellungen (d.h. im Nachdenken) proportional. Die Verwirrung der Vorstellungen oder Ideen, die aus dem Zustand des Nachdenkens heraus eintreten kann, ist die Bedingung für die abrupte Umkehr der Vorstellung, d.h. für die Möglichkeit des Übergangs zum Empfinden seiner selbst wie übrigens auch die Bedingung der Möglichkeit des Übergangs von einer Idee zu einer anderen.37 Den Anschein, als ob die »angenehme Empfindung [d.i. das Vergnügen, WE] wirklich von der deutlichen Erkenntnis komme« widerlegt Sulzer mit dem Argument der Geschwindigkeit der Aufeinanderfolge wechselnder Seelenhandlungen, die den Anschein des Zugleichseins von Nachdenken und Empfinden erweckten (und damit eigentlich schon den Zustand der Kontemplation vorwegnehmen).38 Damit spricht er ein Phänomen an, das er an anderer Stelle ausführlicher als ein raffiniertes mechanisches Getriebe der Seelenphysik beschreibt.39 Es sind nämlich die dunklen Vorstellungen der Seele, die die Empfindung hervorrufen; und weil deren Erzeugung weniger Zeit benötigt als die Überlegung deutlicher Vorstellungen (Ideen), drängt sich die Empfindung aufgrund ihrer überlegenen Schnelligkeit stets vor die behäbig wirkende Vernunft, »und auf diese Art überraschet oft die Empfindung die Vernunft« und nimmt auf diese Weise von der ganzen Seele Besitz – ja, oft hintergeht uns die Dunkelheit der Vorstellungen und spielt ihre »Macht« gegenüber dem Verstand aus;40 in der Dunkelheit der Seele verbergen sich die »Feinde der Vernunft« (Vorurteile und Leidenschaften) und üben mit ›List‹ ihre Herrschaft aus. Die Empfindung der dunklen Vorstellungen geht als Siegerin aus dem Wettstreit mit der Vernunfteinsicht hervor.41 Bei der Theorie der dunklen Vorstellungen, mit deren Hilfe die Fragen nach der Entstehung der überlegenen (dunklen) Kräfte der Seele und ihres Siegeszuges über die Willensäußerungen beantwortet werden sollen, beruft sich Sulzer namentlich auf Leibniz und seine Schüler.42 Leibniz benutzte die dunklen Vorstellungen (»perceptions confuses«) in seiner Monadologie, um das
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These eines »disjunktive[n] Paradigma[s]« im Denken Sulzers, das dadurch gekennzeichnet sei, dass er die Empfindung als »das Andere der Vernunft« ›erfinde‹ (Riedel: Erkennen und Empfinden [s. Anm. 7], S. 417); damit vollziehe sich in seinem eigenen Denken ein »Bruch«, durch den er einen »entscheidende[n] Schritt« über Wolff und Baumgarten hinausgehe (ebd., S. 415). Ich konnte in den von mir untersuchten Schriften Sulzers keine Stelle ausfindig machen, die den systematischen Gebrauch (der sich nicht auf bloße Absichtserklärungen stützen kann) eines derart einseitigen Begriffs von Empfindung bestätigen könnte. Eine entscheidende Abkehr von Grundannahmen der Philosophie Wolffs oder Baumgartens kann ich ebenso wenig erkennen. Sulzer: Anmerkungen (s. Anm. 6), S. 230; Hervorhebung von mir. Vgl. hierzu ebd., S. 231f. und S. 228. Ebd., S. 233f. Vgl. Johann Georg Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe, sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe urtheilet und handelt [1759]. In: VS 1, S. 99–121, hier S. 115, S. 117. Unbeschadet der Beteuerung Sulzers, dass die Seelenkräfte »in Ansehung ihrer Existenz von gar keinem Mechanismus, und von keiner Anordnung der Theile abhängen« (Sulzer: Von dem Bewußtseyn [s. Anm. 19], S. 204). Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes (s. Anm. 39), S. 115, S. 118, S. 119. Vgl. ebd., S. 115ff. Ebd., S. 107.
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Leiden der Substanz zu erklären (§ 49, § 60).43 Statt Vorstellung sagt Sulzer häufig auch einfach: Idee.44 Ideen können wieder aus einer Vielzahl anderer Ideen zusammengesetzt sein;45 sie können dunkel und verborgen oder klar und deutlich sein.46 Die verworrenen Vorstellungen (Ideen) sind kräftiger als die deutlichen, und aus ihnen entstehen die Empfindungen. Der Grund der Verworrenheit liegt darin, dass die »einfachen Ideen« als Teile der zusammengesetzten »in Eins vermenget sind, und auf einmal wahrgenommen werden«. Deutlichkeit entsteht daraus, dass die Teile aus dem Gemenge des Ganzen herausgelöst und für sich betrachtet werden. In diesem Vorgang der Konzentration auf das Einzelne entsteht »die große Ruhe der Seele und des Körpers« beim Nachdenken.47 Auch in seinen späteren Arbeiten steht die sinnliche Empfindung für die Bewegung der Seele bzw. deren ursprüngliche Kraft;48 dabei handelt es sich immer um zwar klare, aber verworrene Vorstellungen.49 Dagegen ruft die Beschäftigung der Seele mit abstrakten Schlüssen und deutlichen Vorstellungen eine »große Stille« hervor.50 Eine Folge der Seelenstärke und Beständigkeit der Empfindung ist die Erhaltung des Zustandes der »gesunden Vernunft«. Die Empfindungen gewährleisten also auch die geregelten Abläufe des logischen Urteilens und Schließens.51 Erst die sinnlichen Empfindungen – und nur diese – als Grenzpfähle des rechten Weges ermöglichen eine vernünftige Orientierung in der wirklichen Welt: »Diese Empfindungen, gleich denen an Scheidewegen errichteten Säulen, die uns den Ort, wohin sie führen, anzeigen sollen, sind uns zu dem Ende gegeben, damit wir nicht irre gehen.«52 Auf der Grundlage von so emphatisch vorgetragenen Leitlinien ist es freilich unbestreitbar, dass Sulzer aus der Sicht eines empirischen Psychologen und Sinnesphysiologen den Wunsch hegt, die Empfindung allein auf den Thron der Philosophie des Vergnügens zu setzen. Aber diesem Ansinnen – das muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden – widerspricht die Anlage seiner Vergnügungstheorie im Ganzen. Das Selbstgefühl zur einzig ausschlaggebenden Richtschnur angenehmer oder unangenehmer Empfindungen zu erheben, bedeutet, den allgemeinen Begriff des Vergnügens selbst, der gerade begründet werden soll, abzuschaffen. Es liest sich daher wie ein glücklicher Einfall, um die Vergnügungstheorie zu retten, dass Sulzer zwischen den Extremen der Empfindung und des Nachdenkens noch einen mittleren Seelenzustand findet: »Es giebt noch einen dritten, der zwischen diesen beyden das Mittel hält,
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Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Metaphysische Abhandlung. Übersetzt, mit Vorwort und Anmmerkungen hg. von Herbert Herring. Hamburg 1985, § 24. Zu Leibniz als Vorläufer der sulzerschen Vergnügungstheorie vgl. Vesper: Le plasir du beau (s. Anm. 9), S. 24–26. Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes (s. Anm. 39), S. 108, S. 110f. Ebd., S. 108. Ebd., S. 110f. Zitate ebd., S. 112–114. Für »Kraft« verwendet Sulzer besonders in Hinsicht auf die Wirkung, die von Kunstwerken ausgeht, den Terminus »Energie« (vgl. Sulzer: Von der Kraft [s. Anm. 11], S. 122ff.). »Keine einzige deutliche Idee kann bewegen; sie kann bloß die Aufmerksamkeit leiten«; Sulzer: Von dem Bewußtseyn (s. Anm. 19), S. 213. Ebd., S. 213, S. 216. Ebd., S. 221. Ebd., S. 222.
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und den ich den Zustand der Betrachtung (contemplation) nennen will.«53 Damit ist der Zustand der Vorherrschaft der verworrenen Vorstellungen gemeint, der weiter oben stets vorausgesetzt worden ist. Dazu wird gemutmaßt, dass die Kontemplation sowohl von der Empfindung als auch vom Nachdenken etwas an sich hat. Sein Entstehen lässt sich aber nur als eine »beständig […] und schnell auf einander folgende […] Abwechslung des Nachdenkens und des Empfindens« denken. Der Betrachter »befriediget sich mit verworrenen Ideen, und verlanget nicht, sie ganz deutlich zu machen«. Die Verworrenheit ist aber nur ein Grad verminderter Aufmerksamkeit und Klarheit in beide Richtungen. In diesem Zustand wird der äußere Gegenstand zwar klar genug erkannt und das innere Selbst klar genug empfunden; die Aufmerksamkeit richtet sich also auf beide Extreme; aber in diesem Zustand können wir nicht sicher über die Beschaffenheit von Gegenständen urteilen, und die Empfindungen gehen nicht tief genug. Die Ursachen sind zufälliger Natur und liegen u.a. in der Interesselosigkeit am Gegenstand. Dieser »Zustand der Mittelmäßigkeit« aller Seelenregungen wird zugleich als ein Zustand »maschinenmäßig[er]« Seelenruhe aufgefasst.54 In diesem mittleren Seelenzustand wird Sulzers Theorie des Schönen – wie sich gleich zeigen wird – auf eine harte Probe gestellt. Es wird sich herausstellen, dass der Geschmack an der Idee des Schönen dort am fadesten ist, wo Empfindung und Verstandesdenken aufeinandertreffen.55 In den Anmerkungen legt Sulzer fest, dass es in Wahrheit immer nur das Selbstempfinden, niemals die Arbeit des Gedankens an den Gegenstand ist, der uns Vergnügen bereitet; dass das Vergnügen das Nachdenken »begleitet«, sei eine Täuschung.56 Das Vergnügen gehört demzufolge per se ganz auf die Seite der Seelenempfindung. Aber was wird dann aus dem 1751 für die Theorie des Schönen in Anschlag gebrachten »intellektuellen Vergnügen«?57 Man müsste wohl schlussfolgern, dass es erst dann vergnügt, wenn es zur Ruhe kommt, d.h. wenn das Denken aufgehört hat. Es können dann eigentlich nicht mehr die geistigen Gegenstände (Begriffe, geometrische Figuren usw.) sein, die vergnügen, und sie dürften allenfalls nur einen Schein von Schönheit erwecken. In Wahrheit hat Sulzer seine Theorie des »intellektuellen Vergnügens« nie aufgegeben. So spricht er auch wiederum in positivem Sinne vom »Vergnügen« an den »Arbeiten des Geistes«, nämlich bezogen auf die Phase der geistigen Entspannung und des Nachlassens der Denkanstrengung. Es ist der Zustand der Kontemplation (der mittlere Zustand zwischen Denken und Empfinden), der auf einmal das höchste Vergnügen bereitet, indem die Idee des Gegenstandes verworren ist, die des Selbst aber dabei klar wird; eigentlich ist es ein Zustand, der von Sulzer nicht eindeutig bestimmt wird: Einerseits werden Nachdenken und Empfinden aufgrund der 53
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Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 6), S. 236. In der »Mitte« zwischen deutlichem Erkennen und Empfinden ist laut der Erklärung in dem Artikel Schön das Schöne im eigentlichen Sinne zu suchen (Johann Georg Sulzer: Art. Schön. In: Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste [s. Anm. 2], S. 306) Wolfgang Riedel schenkt diesem mittleren Zustand keine Beachtung (vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden [s. Anm. 7]); anders Vesper: Le plasir du beau (s. Anm. 9), S. 33. Alle Zitate aus Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 6), S. 236–238. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn Sulzer in seinem Artikel Schön in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste. Vierter Theil (1794), wo die Mitte zwischen Empfindung und Erkennen das Reich des eigentlichen Schönen sein soll, als letzter Ausweg nur die Flucht ins Jenseits bleibt (s. Anm. 53). Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 6), S. 233f. Dieser Aspekt der allgemeinen Theorie des Vergnügens wird erst in Abschnitt 6 ausführlich dargelegt.
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Geschwindigkeit ihres Wechsels ununterscheidbar; andererseits soll die Empfindung dadurch einen Vorteil gegenüber dem Nachdenken gewinnen. Dieser »vollkommenste Zustand« der Seele soll auf einem »freye[n] Uebergang von der einen dieser Handlungen des Geistes zu der anderen« (d.h. vom Nachdenken zum Empfinden) beruhen.58 Aber was heißt hier frei, wenn doch der Wille beim Nachdenken ganz ausgeschaltet ist und Empfindungen erklärtermaßen »unwillkührliche Handlungen der Seele« sind?59 Ausdrücklich heißt es schließlich im Widerspruch zu der eben zitieren Forderung eines freien Übergangs: »Es ist also gewiß, daß der Mensch nicht Herr über die ersten Bewegungen seiner Seele ist. Es bleibt ihm nicht die geringste Freyheit übrig, zu empfinden, oder nicht zu empfinden.« Mit anderen Worten: Empfinden ist nach Sulzer wesentlich »Leidenschaft«, das Leiden und nicht die Tätigkeit des Subjekts gibt den Ausschlag in seiner Theorie des Vergnügens wie auch des Schönen. Abermals behält Reinhold mit seiner in meinen Vorbemerkungen zitierten Einschätzung Recht. Die leere Unterscheidung zwischen einer »physikalischen Freyheit« (die in der Selbsthervorbringung geistiger Handlungen bestehen soll) und einer »moralischen Freyheit« (als dem Handeln nach Gründen und selbstgewählten Regeln), die Sulzer am Ende noch einführt, ändert nichts mehr an dem Befund, dass seine Theorie des Vergnügens in der höchsten Unfreiheit endet, durch die eine Ästhetik des Schönen nicht gedeihen kann.60 Nach dieser allgemeinen Erörterung der Grundbegriffe und der Hauptschwierigkeiten der psychologisch motivierten Vergnügungsphilosophie Sulzers werde ich im Folgenden vier Voraussetzungen herausarbeiten, ohne die diese Philosophie nicht Bestand haben kann, an denen sie aber auch unvermeidlich zerbricht.
3. Voraussetzung I: Rationale Seelenerkenntnis Am Anfang seiner Schrift Über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen von 1751/52, die noch keine dezidierte Theorie des Empfindens und Vorstellens enthält, verdeutlicht Sulzer das Anliegen der anstehenden Untersuchung: Er beabsichtigt zu zeigen, dass alle Arten des Vergnügens, d.h. angenehmer Empfindungen – und nebenbei auch ihres Gegenstücks, des Missvergnügens bzw. der unangenehmen Empfindungen, Sulzer bezeichnet sie gelegentlich auch als Lust (bzw. Unlust) –, trotz ihrer Heterogenität und Gegensätzlichkeit im Wesen (oder der Natur) der Seele ihren gemeinsamen Ursprung haben.61 Diese Einsicht nennt er im Übrigen einen »Grundsatz«,62 und sie ist ihm der erste Grundsatz seiner Theorie des Vergnügens. Sulzer begründet sein Vorgehen, das Ähnlichkeit mit dem Verfahren der Bestimmung geometrischer Gegenstände habe, damit, dass das Angenehme bzw. Unangenehme als allgemeine Eigenschaften so eng mit unseren Vorstellungen verbunden seien, dass sie notwendig von der Natur der Seele abhängen müssen. Zugleich soll damit ein Beitrag zur Lösung der allgemeinen Aufgabe 58 59 60 61 62
Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 6), S. 235. Vgl. ebd., S. 228 und S. 242. Alle Zitate ebd., S. 242. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 3. Vgl. ebd., S. 17.
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der Philosophie geleistet werden, nämlich zu zeigen, wie durch die Erforschung aller Ursachen von Vergnügungen und der Mittel zu ihrer Erlangung der Weg zum menschlichen Glück (als »Endzweck der Natur«) gefunden werden könne.63 Der Ursprung und zugleich eine der notwendigen Voraussetzungen einer neuen Theorie des Vergnügens, die Sulzer zu dem angegebenen Zweck auszuarbeiten gedenkt, wird klar benannt: Es ist die Grundkraft der Seele, durch die sie ursprünglich tätig wird und diese Tätigkeit so ausübt, dass sie im wesentlichen Ideen selbst produziert.64 Sulzer braucht diese Theorie nicht erst zu entwerfen, er übernimmt sie erklärtermaßen von Christian Wolff aus dessen ›Metaphysik der Seele‹, ohne diese im Einzelnen an der Stelle referieren und prüfen zu wollen.65 Ich werde im Anschluss an diesen Abschnitt in einem »Exkurs« näher auf die Vorleistungen Wolffs im Hinblick auf eine Theorie des Vergnügens eingehen, zumal Sulzers Bestimmung von »Vernunft« und »Vorstellungskraft« eine Mixtur aus wolffschen und leibnizschen Anteilen und eigenen Ergänzungen ist.66 Die Seele ist für Sulzer eine tätige Substanz, also einfach und unveränderlich. Ihre natürliche Tätigkeit oder Kraft besteht darin, Ideen hervorzubringen oder aufzunehmen und miteinander zu vergleichen, d.h. zu denken.67 Das Denken ist die wesentliche Tätigkeit der Seele und zugleich der »Grundtrieb« aller freien Handlungen. Auf der anderen Seite sind es Gegenstände, die der Seelentätigkeit korrespondieren und dem Denken erst die nötige Materie (»gleichsam die Nahrung der Seele«) bereitstellen. Insofern es auch zum Wesen der Seele gehört, Ideen zu empfangen, nehmen sogar sinnliche Vergnügungen in ihr ihren Ursprung.68 Nach diesen Ankündigungen hätten wir eigentlich ein philosophisches Lehrstück der Psychologie zu erwarten. Aber davon nimmt Sulzer sogleich Abstand.69 Stattdessen vermittelt seine Abhandlung Grundrisse einer Theorie des Ästhetischen sowie einer Grundlegung der Moral. Wir werden also zu klären haben, ob und auf welche Weise eine Philosophie des Schönen oder eine Geschmackslehre in der Seelenerkenntnis überhaupt ein Fundament beanspruchen kann.
Exkurs: Christian Wolffs Theorie des Vergnügens Was das »Vergnügen« betrifft, so widmete Christian Wolff, auf den sich Sulzer in Teilen seiner philosophischen Grundlegung wiederholt beruft, diesem Topos eine ganze Serie von Abhand63 64 65 66
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Vgl. ebd., S. 1–5. Das Kraftvermögen der Seele nennt Sulzer später »Energie«. Diesen Begriff untersucht er speziell in seinem Aufsatz Von der Kraft (s. Anm. 11), S. 122–145. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 5. Vgl. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 12), S. 245–247. Es muss hier darauf verzichtet werden zu prüfen, ob Sulzers Paraphrase der wolffschen Vernunftbestimmungen authentisch ist und worin im Einzelnen seine eigenen Erweiterungen bestehen. Eine Veränderung ist jedoch nicht zu übersehen: Sulzer setzt dem Vernunftvermögen des Denkens ein inneres »Gefühl« voraus (ebd., S. 247). Vgl. ebd., S. 246. Alle Zitate Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 5–9. Sulzer erklärt, keine Untersuchung über die Streitfrage ›Immaterialität vs. Materialität‹ der Seele anzustreben, vgl. ebd., S. 5.
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lungen,70 in denen er je nach dem Grund seines Entstehens verschiedene Arten von Vergnügen unterscheidet (Vergnügen aus der Erkenntnis von Wahrheit, Vergnügen aus Tugend). In Von dem Vergnügen welches man aus der Erkenntniß der Wahrheit schöpfen kann (1729) greift Wolff bei der Bestimmung dieses Begriffs eine Formel von Descartes auf,71 die er auch an anderen Stellen zitiert und kommentiert: »Unser ganzes Vergnügen bestehet nur darinnen, daß wir uns einer Vollkommenheit bewust sind.«72 Die Formel kommt allerdings bei Descartes nicht in wörtlicher Übereinstimmung vor; die überlieferte freie Übersetzung formt Descartes’ Worte stillschweigend um.73 Descartes hatte in diesem und in weiteren Briefen an die Pfalzgräfin Elisabeth in Umrissen eine allgemeine Theorie des Vergnügens entworfen. Darin unterschied er zwischen zwei Arten des Vergnügens: das eine gehört allein dem Geist an, das andere der Verbindung von Geist und Körper; von den letzteren Vergnügungen sagte er, dass sie die Vorstellung verwirren, indem sie oft größer zu sein scheinen als sie sind. Nach der Vernunftregel aber müsse die Größe jedes Vergnügens nach dem Grad der Vollkommenheit bemessen werden, durch den es hervorgerufen werde.74 70
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Vgl. die Abhandlungen Nr. 7, 8, 9, 10. In: Christian Wolff: Gesammlete Kleine philosophische Schriften V. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Hildesheim, New York 1962ff., Abt. 1, Bd. 21.5, S. 213–681. Damit soll nicht gesagt werden, dass sich Wolffs Lustbegriff aus cartesianischen Begriffsbestimmungen herleitet; vielmehr hat Clemens Schwaiger begründet dargelegt, dass zwischen Wolffs und Descartes’ Auffassungen von Lust tiefgreifendere Unterschiede bestanden als diejenigen, die Wolff selbst bemerkte. Darüber hinaus weist Schwaiger nach, dass Wolff nicht Descartes, sondern Leibniz den entscheidenden Anstoß zu der um 1705 erfolgten Revision seines ursprünglichen Lustbegriffs verdankte (vgl. Clemens Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 51ff.). Wolff: Gesammlete Kleine philosophische Schriften V (s. Anm. 70), S. 217. Zitiert wird aus einem Brief von Descartes an die Pfalzgräfin Elisabeth, 1. September 1645. In seiner später veröffentlichten Psychologia empirica kommt Wolff noch einmal auf diese Briefstelle zurück, unter Verweis auf seine vormalige Marburger Vorlesung von 1729. In § 511 befindet sich eine lateinische Version der oben zitierten Briefstelle Descartes’, die nach der Angabe von Schwaiger, unter Berufung auf Jean École, aus René Descartes: Epistolae, Partim ab Auctore Latino sermone conscriptae, partim ex Gallico translatae. Pars prima, Amsterdam 1682 stammt (vgl. Wolff: Psychologia empirica. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 70), Abt. 2, Bd. 5, S. 389ff. [Psychologiae empiricae Pars II. De Facultate appetendi in specie de commercio inter mentem et corpus]; vgl. hierzu Schwaiger: Das Problem des Glücks [s. Anm. 71], S. 59). Die Quelle ist: Briefe 1629–1659, S. 309 (zitiert nach Schwaiger: Das Problem des Glücks [s. Anm. 71], S. 59). Zum Problem der deutschen bzw. lateinischen Übersetzung der französischen Briefstelle und ihrer Verwendungsweise durch Wolff vgl. ebd. René Descartes: Correspondance Juillet 1643–Avril 1647. In: ders.: Œuvres IV. Publ. par Charles Adam, Paul Tannery. Paris 1901 [ND. 1972], p. 283f.: »[T]outes les actions de nostre ame qui nous acquerent quelque perfection, sont vertueuses, & tout nostre contentement ne consiste qu’au tesmoignage interieur que nous auons d’auoir quelque perfection. Ainsy nous ne sçaurions iamais pratiquer aucune vertu (c’est a dire faire ce que nostre raison nous persuade que nous deuons faire), que nous n’en receuions de la satisfaction & du plaisir. Mais il y a deux sortes de plaisirs: les vns qui apartienent a l’esprit seul, & les autres qui apartienent a l’homme, c’est a dire a l’esprit en tant qu’il est vni au cors; & ces derniers, se presentant confusement a l’imagination, paroissent souuent beaucoup plus grans qu’ils ne sont, principalement auant qu’on les possede, ce qui est la source de tous les maux & de toutes les erreurs de la vie. Car, selon la regle de la raison, chasque plaisir se deuroit mesurer par la grandeur de la perfection qui le produit, & c’est ainsy que nous mesurons ceux dont les causes nous sont clairement conneues. Mais souuent la passion nous fait
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Wolffs weiterem Referat aus derselben Quelle ist zu entnehmen, dass er die Folgerungen aus der Formel in kritischer Wendung gegen Descartes erweitern möchte. Sein Ergänzungsvorschlag besteht kurz gesagt darin, die subjektive Seite in der cartesianischen Vorstellung um eine objektive zu ergänzen. Er hat nämlich den Eindruck, »als ob des Cartes das Vergnügen auf das Bewustseyn unserer Vorstellung einschränke«;75 dabei zeige doch schon die gewöhnliche Erfahrung, dass Vollkommenheit auch aus der Erkenntnis äußerer Dinge entstehe, und es sei möglich, »die Vollkommenheit, welche sich in der Sache befindet«, einzusehen und dabei Vergnügen zu empfinden.76 Wolff will also die Gegenstandserkenntnis in die Theorie des Vergnügens einbeziehen. Die Descartes-Lektüre habe ihn veranlasst, »das Vergnügen durch ein Anschauen oder eine anschauende Erkenntniß einer Vollkommenheit, sie mag nun wahr oder falsch seyn, zu erklären«.77 Diesem Schritt ins sinnliche Vergnügen der Gegenstandsempfindung hat sich Sulzer angeschlossen, um ihn fortzusetzen; keineswegs hat er in einer Reaktion gegen die cartesianischwolffianische Perfektionsmetaphysik eine Kehrtwende vollzogen. Er brauchte sich nicht einmal bei Hume, Shaftesbury oder Hutcheson zu bedienen, um seinen Weg einzuschlagen, sondern fand sämtliche Elemente, die er für seine Konstruktion benötigte, bei Wolff vor. Mit dem Postulat der anschaulichen Erkenntnis von Vollkommenheit ist ausgesprochen, dass das Vergnügen nicht auf die Erkenntnis der Wahrheit beschränkt bleibt.78 Ziel ist es vielmehr, »alle Bestimmungen (determinationes), welche in die Erklärung hinein kommen müssen«, zusammenzufassen und so weit wie möglich zu deuten.79 Es ist diese Erweiterung zu einer universellen Begründungslehre, die Sulzer dankbar aufnehmen konnte, um sie seiner »allgemeinen Theorie des Vergnügens« einzuverleiben. Dass ein solcher Begriff des Vergnügens gleichwohl nicht der Wahrheit widerspreche, beansprucht Wolff in der Deutschen Metaphysik erwiesen zu haben.80 Interessanterweise führt Wolff in § 3 seiner ersten Vergnügungsschrift Näheres zum
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croyre certaines choses beaucoup meilleures & plus desirables qu’elles ne sont; […].« Die Kursivsetzung, die ich innerhalb des Zitats vorgenommen habe, zeichnet diejenigen Textstellen aus, auf die sich meiner Auffassung nach Wolffs Referat bezieht. Vgl. auch den Brief von Descartes an Elisabeth, 6. Oktober 1645: ebd., S. 304–317. Christian Wolff: Von dem Vergnügen. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 70), Abt. 1, Bd. 21.5, S. 218. Ebd., S. 218f. Ebd., S. 217. Auf den Begriff der Lust als cognitio intuitiva perfectionis (statt wie bisher als angenehme Empfindung [suavis sensus]) war Wolff in Wahrheit aber bereits 1705 durch eine briefliche Anregung von Leibniz gebracht worden (vgl. Schwaiger: Das Problem des Glücks [s. Anm. 71], S. 55). In seiner Darstellung gibt er Descartes wohl deswegen den Vorzug gegenüber Leibniz, weil er die ältere Quelle ist. – An anderer Stelle kritisiert Wolff an Descartes, dass er den im Hinblick auf das Verständnis von Lust verwendeten Begriff der Vollkommenheit nicht hinreichend untersucht habe (Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben, auf Verlangen ans Licht gestellet. In: ders.: Gesammelte Werke [s. Anm. 70], Abt. 1, Bd. 9, S. 261; vgl. auch Schwaiger: Das Problem des Glücks [s. Anm. 71], S. 57f.). »Voluptas est intuitus, seu cognitio intuitiva perfectionis cujuscunque, sive verae, sive apparentis.« Wolff: Psychologia empirica (s. Anm. 72), S. 389. Wolff: Von dem Vergnügen (s. Anm. 75), S. 217. Dort zeigt Wolff unter Bezugnahme auf dasselbe Schreiben Descartes’, dass das »Anschauen der Vollkommenheit« eines Gegenstandes (z.B. eines Gemäldes oder einer Uhr) im Betrachter ein Lustempfinden hervorrufe. Der »Beweis« wird über die Ähnlichkeit der Zusammenstimmung aller Teile des Abbildes (oder der »Vorstellung«) mit der nämlichen Zusammenstimmung »in der Sache selbst«
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Wahrheitsbegriff aus, um verständlich zu machen, »was für eine Empfindung der Vollkommenheit die Erkenntniß der Wahrheit begleite«.81 Es gebe in den Dingen eine Wahrheit, die »die allgemeine (transcendentalis)« genannt werde, und diese bestehe in nichts anderem als der Ordnung der Mannigfaltigkeit nach den Regeln »Grund des Widerspruchs« und »Satz des zureichenden Grundes«, nach denen zugleich der Inhalt eines Dinges bestimmt werde.82 Aus dieser allgemeinen Wahrheit als »Grund« alles Unterschiedenen leitet sich erst die »logische Wahrheit« eines Urteils ab, denn es sei nicht einerlei, »die Wahrheit eines Satzes oder auch einer Sache zu erkennen« und die Wahrheit des Satzes einzusehen.83 Zur Einsicht in die Wahrheit eines Satzes genügt es nämlich nicht, das Vorliegen der Zuordnung einer Bestimmung zu einem Gegenstand bloß wahrzunehmen; es ist vielmehr erforderlich, den »Grund« der Zuordnung, der in einem »Begriff« liegt, zu wissen.84 Von dieser Einsicht, die ein materiales Wahrheitskriterium darstellt, hängt die »logische Wahrheit« von Urteilen (Sätzen) ab.85 Erkenntnis aus Erfahrung hingegen vermittelt nach Wolff eine solche Einsicht in die Wahrheit des Begriffs von einem Gegenstande nicht.86 Mit der Einsicht in die Wahrheit der »Dinge selbst« aufgrund der beiden Regeln ist das Erkennen der Ordnung und damit der Vollkommenheit verbunden, denn: »Den Dingen wird eine Vollkommenheit zugeeignet, in so fern die innere Bestimmungen durch einen allgemeinen Grund oder Regel zuweilen aber durch mehrere dergleichen Regeln erkläret werden können.«87 Dieser Vorstellung von Vollkommenheit liegt der allgemeine Begriff von Vollkommenheit (perfectio) zugrunde, den Wolff in § 503 seiner Ontologia gegeben hat.88 Demgemäß besteht die Vollkommenheit in der »Zusammenstimmung des mannigfaltigen oder der mehreren Dinge, welche in einem verschieden sind«.89 Die Wahrheit in den Sachen ist diesem allgemeinen Begriff gemäß eine besondere Art von Vollkommenheit, die ein besonderes Vergnügen empfinden lässt; »mit diesem Vergnügen überschüttet gleichsam die Wahrheit selbsten das Gemüthe desje-
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geführt (vgl. Christian Wolff: Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [Deutsche Metaphysik]. In: ders.: Gesammelte Werke [s. Anm. 70], Abt. 1, Bd. 2, S. 247f.). Der Grad der Vollkommenheit und damit der Ähnlichkeit bemisst sich nach der Anzahl der Regeln, nach denen ein Gegenstand gebildet ist. Wolff: Von dem Vergnügen (s. Anm. 75), S. 219; Hervorhebung von mir. Vgl. dazu Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 80), S. 74–82; ders.: Philosophia Prima sive Ontologia. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 70), Abt. 2, Bd. 3, §§ 493ff. Vgl. hierzu Sonia Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum. Christian Wolffs Antwort auf die Herausforderung durch den Cartesianischen Zweifel. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 113ff. Wolff: Von dem Vergnügen (s. Anm. 75), S. 220f. Vgl. ebd., S. 238–240; vgl. auch Christian Wolff: Philosophia rationalis sive Logica. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 70), Abt. 2, Bd. 1, S. 343f. Wolff: Von dem Vergnügen (s. Anm. 75), S. 220 u. S. 234. Ebd., S. 223. Ebd., S. 241; vgl. Wolff: Ontologia (s. Anm. 82), § 530. »Perfectio est consensus in varietate, seu plurium a se invicem differentium in uno. Consensum vero appello tendentiam ad idem aliquod obtinendum« (ebd., § 503, S. 390); vgl. auch die Definition der Imperfectio (ebd. § 504, S. 391). Wolff: Von dem Vergnügen (s. Anm. 75), S. 242. Gleichförmigkeit in der Verschiedenheit ist auch bei Hutcheson das Kriterium für Naturschönheit: »In every Part of the World which we call Beautiful, there is a surprizing Uniformity amidst an almost infinite Variety.« (Hutcheson: An Inquiry concerning Beauty (s. Anm. 20), p. 19; vgl. ebd., p. 17f.).
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nigen, der sie erkennet«.90 Auf solche Weise entdeckt Wolff z.B. in der Ordnung mathematischer Reihen91 oder in einem Beweis92 einen besonderen Grund des Vergnügens und des Schönen. Mit dem Rekurs auf die Vollkommenheit des Verstandes93 bereitet er die Dimension des Schönen vor, die Sulzer mittels seiner Theorie des intellektuellen Vergnügens übernehmen konnte. Der sachliche Grund für die universelle Gültigkeit der Vergnügungslehre ist in der Allgemeinheit des Vollkommenheitsbegriffs zu sehen, der nach Wolff in allen möglichen Wissenschaften brauchbar ist,94 und den Sulzer gleichfalls zugrunde legt. Die Differenzierung in Grade der Vollkommenheit ermöglicht es, eine Vielfalt von abgestuften Vergnügungen zu unterscheiden,95 und »die Gröse des Vergnügens richtet sich nach der Gröse der Vollkommenheit, deren sich einer bewust ist«.96 Wolffs Vollkommenheitsbegriff bildet die Grundlage für seine Definition des Schönen, wie sie u.a. in der Theorie der Baukunst verwendet wird: »Die Schönheit ist die Vollkommenheit oder ein nöthiger Schein derselben, in so weit so wohl jene, als dieser wahrgenommen wird, und einen Gefallen in uns verursachet.«97 Hervorstechende Merkmale in Wolffs Vergnügungstheorie, die sich Sulzer zunutze machen konnte, sind die Vereinigung des Bewusstseins der Vollkommenheiten (des Verstandes) mit der »Vollkommenheit einer Sache«,98 die zusammengenommen eine besondere Empfindung des Vergnügens ausmachen;99 sowie insbesondere die Verbindung des Erkenntnisvergnügens mit dem Tugend-Vergnügen, aus der erst der wahrhafte Gebrauch der Vollkommenheit und die Vollständigkeit des Vergnügens folgt.100 Schließlich ist die Funktion, die Wolff seinem Lustbegriff zudachte, nämlich zwischen Erkennen und Begehren bzw. Wollen eine tragende Brücke zu errichten,101 um damit auch den Dualismus der Vermögen (facultas cognoscendi und facultas appetendi) zu überwinden, ein entscheidendes Motiv, das sich Sulzer im Hinblick auf seine Dreizustandslehre zunutze machen konnte. Sulzers Orientierung an Wolffs Vollkommenheits-Metaphysik hatte auch in seiner Philosophie des Schönen in der Zeit nach 1751/52 noch Bestand. Eine wie auch immer begründete Behauptung, er habe sich von Wolff abgewandt, kann nicht überzeugen.102 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102
Wolff: Von dem Vergnügen (s. Anm. 75), S. 242. Ebd., S. 249–252. Ebd., S. 253. Vgl. z.B. ebd., 262. Vgl. ebd., S. 258; weitere Aspekte, wie z.B. die Verbindung mit Absichten in der Teleologie (ebd., S. 257) oder die Anregung einer »Weltweisheit der Künste« (ebd., S. 260) lasse ich hier außer Acht. Vgl. ebd., S. 263. Ebd., S. 267. Christian Wolff: Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaften [Anfangs-Gründe der Bau-Kunst]. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 70), Abt. 1, Bd. 12, Teil 1, S. 307. Wolff: Von dem Vergnügen (s. Anm. 75), S. 263. Ebd., S. 262f. Vgl. Wolff: Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaften (s. Anm. 97), S. 315–317, S. 320f. Vgl. Schwaiger: Das Problem des Glücks (s. Anm. 71), S. 52. Élisabeth Décultot hat im Zusammenhang mit ihrer These von der »Autonomisierung des Empfindungsvermögens« (S. 72) die Anzeichen einer »Verabschiedung« von der Wolffschen Tradition (S. 76, S. 83), die sich bereits in der ersten Schrift von 1751/52 anbahne, zum einen in der fortschreitenden Subjektivierung der Vergnügungstheorie (»Wende vom empfundenen Objekt zum empfindenden Subjekt« [S. 84]), zum anderen in einer Verlagerung von der intellektuellen Erkenntnis und der Rationalität der Seele zum sinnlichen Empfinden im Subjekt (mit der sie der These Riedels zustimmt) gesehen
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4. Voraussetzung II: Empirische Seelenlehre Sulzer will in der Vergnügungsschrift von 1751/52 zeigen, dass die angenommene tätige Grundkraft alle angenehmen und unangenehmen Empfindungen hervorbringt.103 Dazu soll zunächst der hier einschlägige Begriff der Kraft näher bestimmt werden, den Wolff zur Wesensbestimmung der Seele erklärt hatte.104 Sulzers Bemühungen in diese Richtung offenbaren jedoch einige auffällige Merkmale, die im Hinblick auf eine rationale Begriffsbestimmung als fragwürdig erscheinen. Ich zähle sie daher zur zweiten Klasse von Voraussetzungen seiner Theorie des Vergnügens, nämlich zu deren empiristischen Elementen. Um deren immanente Schwierigkeiten bereits anzudeuten, nenne ich nur zwei Gesichtspunkte: Die Kraft ist erstens eine bewegende Kraft. Sie soll alles in Bewegung versetzen, das zur Produktion von Ideen erforderlich ist. Um sich ihrer Wirkung zu vergewissern, d.h. um sie in Erfahrung zu bringen, muss sie erlebt werden können. Sie kann also nur vorgestellt werden im Akt ihrer Wirksamkeit, z.B. im Ausbruch einer heftigen Leidenschaft. Denn im Ruhezustand der Seele ist die Kraft in sich ununterschieden (also unbestimmt); die Seele befindet sich im Gleichgewicht, d.h. im Zustand der Zufriedenheit. Bestimmtheit erlangt sie aber nur, indem sie sich äußert und damit in eine lebhafte Unruhe gerät. Zweitens wird dieses Wirken als Veränderung ihres Grades an Stärke vorgestellt, d.h. als eine Zu- oder Abnahme ihrer intensiven Größe.105 Eigentümlich ist der Seele, dass sie klare und deutliche Ideen bevorzugt. Der Überlieferung rationaler Erkenntnis entstammt die Auffassung, die Vernunft sei als wesentliche Kraft der Seele diejenige Instanz, die Ideen nicht nur hervorbringe, sondern auch aufeinander beziehe, sie miteinander vergleiche und Schlüsse daraus ziehe. Aus diesem Grundtrieb habe Wolff nämlich alle intellektuellen Fähigkeiten der Seele abgeleitet. Sulzer betrachtet diesen Trieb daher als den Ursprung aller angenehmen und unangenehmen Empfindungen. Zugleich gesteht er, dass ihm
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(vgl. Décultot: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie [s. Anm. 1], S. 72, S. 76, S. 83–85 sowie dies.: La théorie des plaisirs de Sulzer [s. Anm. 1], S. 95). Diese Tendenzen haften allerdings bereits der wolffschen Vergnügungslehre selbst an, so dass hier vielleicht eher ein Missverständnis hinsichtlich der wolffschen Philosophie vorliegen mag (ich verweise an dieser Stelle bloß auf die §§ 47 und 48 der Deutschen Logik, wo Wolff, nachdem er festgestellt hat, dass nicht von allen Dingen »WortErklärungen« möglich sind, als ein Beispiel die »Lust« nennt, von der zwar keine Eigenschaften bekannt seien, durch die sie sich von anderen Gemütsveränderungen unterscheidet, die aber nichtsdestotrotz eine Sacherklärung erlaube, nämlich von ihrem Entstehungsgrund oder »Wesen«; demgemäß verstehen wir das »Wesen der Lust« dann, wenn wir wissen, »sie sey eine Empfindung der Vollkommenheit, wenigstens einer vermeinten« (Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes. In: ders.: Gesammelte Werke [s. Anm. 70], Abt. 1, Bd. 1, § 48, S. 147). Selbst wenn man davon ausgeht, dass Sulzer als Wolff-Kritiker für das Vergnügen ein eigenständiges Vermögen angesetzt hat, kann die damit erreichte ›Gleichur-sprünglichkeit‹ dieses Vermögens (vgl. Schwaiger: Das Problem des Glücks [s. Anm. 71], S. 53) kein hinreichender Grund für eine autonome Tätigkeit des Empfindens sein. Im Übrigen hält Sulzer noch in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste uneingeschränkt auch an der Objektorientierung des Schönheitsempfindens fest (s. u. Abschnitt 6). Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 9. Vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 80), Abt. 1, Bd. 2, §§ 744–748, S. 753–756. Vgl. hierzu Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 9–13.
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hinsichtlich der Theorie des Vergnügens weder Wolff noch Descartes hinreichende Leistungen erbracht hätten.106 Sulzer geht über seine beiden Gewährsmänner hinaus, indem er zunächst die Ideen von Vergnügen und Schmerz auf einfache Begriffe zurückführen will. Dabei stützt er sich auf die graduelle Veränderung jener Empfindungen, aus denen verschiedene Bestimmungen und Benennungen resultieren. Zugleich wird auch die Bewegung beschleunigt, die die Kraft der Seele bewirkt. Auf der anderen Seite wird die Seele sich solchen Gegenständen zuwenden (sie begehren), die ihrer Tätigkeit eine größere Menge an Ideen darbieten. Sulzer sucht also nach den subjektiven und objektiven Bedingungsfaktoren (d.i. nach dem jeweiligen seelischen Zustand – der »Fassung« – und den gegenständlichen Eigenschaften), die nur dann, wenn sie zueinander passen und gemeinsam wirken, das Eintreten angenehmer bzw. unangenehmer Empfindungen hervorrufen und den Grad ihrer Stärke beeinflussen.107 Die Seelenbedingung für jede angenehme Empfindung formuliert Sulzer wie folgt: »So oft die Seele einen merklichen Grad der angenehmen Empfindung fühlen soll, so muß ihre ursprüngliche Vorstellungskraft zu einer lebhaften Wirksamkeit gereizt werden.« – Entsprechend lautet die Bedingung für die unangenehme Empfindung (Unlust): »die Wirksamkeit der Seele muß ein merkliches Hinderniß finden.«108 Als die beiden Fertigkeiten der Seele, die zu solchen Wirkungen beitragen, macht Sulzer das Denken und die Lebhaftigkeit aus. Das Denken dient dazu, Gegenstände zu fixieren (Aufmerksamkeit) und von allen Seiten zu beleuchten; die Lebhaftigkeit ist im Grunde mit dem Grad der ursprünglichen Kraft der Seele einerlei. Sie entspricht der Geschwindigkeit in der Bewegung eines Körpers. Beide Eigenschaften der Seele wirken unmittelbar auf die positiven und negativen Empfindungen (Vergnügen und Missvergnügen).109 Je mehr nun aber der Grad der ursprünglichen Kraft zunimmt und damit das Bestreben zur Produktion von Ideen wächst, desto stärker (lebhafter) werden nicht nur die angenehmen Empfindungen (das Vergnügen), sondern »auch der Zwang der Hindernisse«, d.h. die unangenehmen Empfindungen oder das Missvergnügen. Und darin soll obendrein noch die Theorie mit der Erfahrung übereinstimmen. Es sind also beide Arten von Empfindungen, die gleichermaßen, und zwar proportional aus der ursprünglichen Kraft hervorgehen. Die Konsequenzen aus diesen Vorgaben hat Sulzer offenbar nicht hinreichend bedacht: Lust und Unlust sind nämlich wie actio und reactio immer gleich groß, sie gleichen sich ihrer Größe nach aus und reduzieren sich damit gegenseitig auf Null; und so befinden sie sich im Gleichgewicht, in Ruhe; und damit sind sie identisch; das, was sie unterscheiden soll, macht sie also in Wahrheit einander gleich. Die entsprechende Untersuchung der allgemeinen Eigenschaften an den Gegenständen, die geeignet sind, unmittelbar angenehme Empfindungen in der Seele zu erwecken, fällt denkbar knapp aus. Sulzer setzt voraus, dass jeder Gegenstand, der die Seele angenehm oder unangenehm bewegt, notwendig in sich mannigfaltig und zusammengesetzt sein muss. »Mannigfaltig« soll heißen, dass solche Gegenstände reichhaltig an Ideen sein müssen, und die Ideen müssen so miteinander verbunden sein, dass die Seele sie als geeignet für Geschmacksnahrung antizi106 107 108 109
Ebd., S. 10f. Ebd., S. 11ff. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19.
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pieren kann. Gegenstände hingegen, an denen das Mannigfaltige nicht entwickelt werden kann oder die den natürlichen Trieb daran hindern, Ideen zu produzieren, werden als unangenehm empfunden.110 Der Unterschied zwischen angenehmen und unangenehmen Empfindungen beruht also, soweit er objektiv begründet (auf Gegenstände zurückzuführen) ist, auf der Art der Verbindung des Mannigfaltigen. Ergibt die Verbindung eine Ordnung, so ist die Empfindung der Seele angenehm, andernfalls ist sie unangenehm.111
5. Voraussetzung III: Rationalität des Schönen Im zweiten Abschnitt seiner »Untersuchung« über das »Vergnügen« entfaltet Sulzer das Kernstück seiner allgemeinen Vergnügungslehre, die Theorie des intellektuellen Vergnügens, die er als einen Anwendungsfall seiner allgemeinen Theorie versteht. Obwohl er, ihren besonderen Gegenständen Rechnung tragend, zwischen drei Gattungen von Vergnügen und ihrer jeweiligen Vermögen (Sinne, Verstand und Herz) unterscheidet, nehmen doch die intellektuellen Vergnügungen eine besondere, nämlich mittlere Stellung zwischen den sinnlichen und den moralischen Vergnügungen ein. Das ist daraus zu schließen, dass sich alle Vergnügungen insgesamt, jedenfalls soweit es sich um unmittelbare handelt, auf die intellektuellen Fähigkeiten der Seele beziehen müssen. Das trifft insbesondere auch auf die sinnlichen zu.112 Gegenstand der Theorie des intellektuellen Vergnügens ist das Schöne. Im Rahmen dieser Theorie ist also zuerst zu klären, was das Schöne ist, oder genauer: was die Idee des Schönen ist, wenn das Schöne doch nicht nur und nicht wesentlich Merkmale betrifft, die durch die Sinne erfasst werden. Sodann ist die Frage zu beantworten, wodurch das Schöne eine angenehme Empfindung hervorbringt.113 Es wird zwischen drei Hauptarten des Zugangs zur Idee des Schönen, bzw. zwischen drei Arten von Schönheitsideen unterschieden: erstens der Idee des Schönen, sofern sie uns über schöne Gegenstände durch die Sinne zugänglich wird (in der Kunst: Malerei, Baukunst, Musik); zweitens indem sie durch die Einbildungskraft (Poesie) und drittens durch den Verstand vermittelt wird. Die Gegenstände der letzten Klasse von Schönheitsideen stellen sich nicht als Gebilde, sondern als »deutliche Begriffe« dar, die sich in den Wissenschaften finden. Ihre Gegenstände sind Zusammensetzungen von Ideen zu einem schönen Ganzen. Sie drücken sich z.B. als schöner Lehrsatz, schöner Gedanke, schönes System aus. In ihnen zeigt sich das, was Sulzer intellektuelle Schönheit nennt.114 Sulzers Theorie verfügt über ein allgemeines Merkmal aller drei Schönheitsideen, in dem mithin das Wesen der Schönheit überhaupt besteht: Schönheit ist die Mannigfaltigkeit, die durch Verbindung auf Einheit zurückgeführt wird. Das gibt ziemlich genau Christian Wolffs Erklä-
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Ebd., S. 22. Ebd. Wenn dieser Betrachtung Sulzers ein Verdienst zukommt, dann dies, dass er gegen seine Absicht die empiristischen Implikationen der wolffschen Bestimmung der Seelenkraft aufgedeckt hat. Der Kraftbegriff ist keine rationale Seelenkonstante, sondern ein Erfahrungsbegriff. Vgl. ebd., S. 23ff. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27.
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rung des Vergnügens und des Schönen durch wahre Erkenntnis wieder.115 Das Schöne in einem natürlichen Ensemble stellt sich z.B. erst dadurch her, dass in das ungeordnete Sinnliche die Regelmäßigkeit einer Figur gebracht wird. Erst in einem nach festen Regeln geeinten Zusammenhang des Mannigfaltigen, der in einem bestimmten Sinn ein Ganzes ausmacht, lässt sich das Schöne eines sinnlich wahrnehmbaren Gegenstandes erblicken.116 Mit den Kriterien der Einheit und Mannigfaltigkeit zur Bestimmung des Begriffs der Schönheit kann sich Sulzer zwar auf eine zu seiner Zeit verbreitete Standardauffassung berufen; doch hält er es für nötig, die Bedeutung dieser Begriffe zu präzisieren. Ein Ganzes liegt demnach erst dann vor, wenn die Einheit des Mannigfaltigen als Subjekt gelten kann. Damit meint Sulzer, dass es einen Zweckzusammenhang darstellt, in den alle dazugehörigen Teile funktional eingebunden, auf den hin sie ausgerichtet sind und ihre bestimmte notwendige Stelle einnehmen. Anstelle von Zweck bevorzugt Sulzer das Wort »Interesse« und manchmal auch »Absicht«.117 Mit dem Titel »Interesse der Einheit« deutet er an, dass der Zweck in einem (allgemeinen) Nutzen besteht, den das Ganze hat und dem die subordinierten Teile, die dieses Interesse teilen, zuarbeiten. Vollkommen ist das Ganze dann, wenn kein Teil in ihm überflüssig (nutzlos) ist. Was das Mannigfaltige betrifft, so soll es mehr sein als eine bloße Vielheit, mehr also als eine Menge oder Quantität. Denn etwas kann nur »schön« genannt werden, wenn sich die Teile nicht ähnlich sind, sondern sich bestimmt voneinander unterscheiden. Die Mannigfaltigkeit wird von Sulzer stärker gewichtet als die Einheit, dennoch ist sie ohne (zweckmäßige) Einheit ein ungeordneter Haufen. Sulzer illustriert dies an einem Beispiel: Ein italienischer Mönch hatte große Lust nach Rom zu gehen; er gab sie aber auf, sobald er gewahr ward, daß er durch sehr lange einförmige Alleen ohne Abwechslung würde reisen müssen. Die zu große Einförmigkeit macht uns Langeweile, und die Mannichfaltigkeit ohne Einheit setzt uns in Verwirrung.118
Man kann hier ergänzen: nicht die Extreme, sondern die Durchmischung von beidem (durch rasch aufeinander folgende Abwechslung), die einen der Betrachtung günstigen (mittleren) Zustand der Verwirrung von Ideen schafft, erzeugt einen »angenehmen Eindruck« der Zerstreuung z.B. bei der »Betrachtung einer schönen Landschaft«.119 Jedermann, der gerne angenehm verreist und unterwegs als Mittel gegen Unbequemlichkeit Zerstreuung in wechselnden Betrachtungen sucht, wird das Verlangte ohne Umschweife zugeben. Doch sind die Kriterien für Schönheit hier so unbestimmt allgemein, dass sie beinahe von beliebigen Gegenständen Gültigkeit beanspruchen können. Schon Sulzers Vergleich eines schönen Ganzen mit der organischen Einheit eines Menschenkörpers, der obendrein noch vergleichsweise als Maschine gedacht wird, lässt die Verlegenheit erahnen, die sich dadurch verrät, 115 116
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Siehe oben, Abschnitt 4. Vgl. dazu aber auch den Begriff absoluter Schönheit bei Hutcheson: An Inquiry concerning Beauty (s. Anm. 20), Sect. II. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 27f.; vgl. Kants Kritik der Regelmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft, Allgemeine Anmerkung zum ersten Abschnitte der Analytik. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: ders.: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin, Leipzig 1900ff. [im Folgenden AA, Band, Seite], hier Bd. V, S. 240–244. Der Ausdruck des Interesses deutet auf eine Beeinflussung durch Shaftesbury hin. Die Unterlegung mit dem Begriff der Absicht verweist wiederum auf Christian Wolff. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 32. Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 6), S. 237.
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dass der Begriff des Schönen nicht erfasst werden kann. Ganz besonders macht sich diese Verlegenheit an der Unschärfe des Begriffs des Interesses bemerkbar. Kritische Nachfragen drängen sich vor allem auf, wenn Sulzer den Versuch einer vollständigen Quantifizierung des Schönen unternimmt. Es ist klar, dass sowohl die Einheit als auch die Mannigfaltigkeit des schönen Ganzen nach Vollkommenheit strebt und insofern je verschiedene Grade der Verwirklichung erreichen kann,120 so dass also von Gegenständen gesagt werden kann, dass sie je nach dem Grad ihrer Vollkommenheit mehr oder weniger schön sind. Wenn wir nun mit dem Autor die Grade der Vollkommenheit mit Zahlen ausdrücken – und wie anders könnte man das, wenn sie keine Größe hätten – so bestimmt sich der Grad der Schönheit nach dem »zusammengesetzten Verhältnisse der einfachen Zahlen in Absicht der Einheit, und der zu einer gewissen mir unbestimmlichen Potenz erhöhten Zahlen in Absicht der Mannichfaltigkeit«. Mit dieser Bestimmung wird Schönheit zu einer Aufgabe der Arithmetik. Vollends zeigt sich dies an den Beispielen schöner Lehrsätze der Geometrie, die die Veränderung intellektueller Schönheit an Gegenständen dokumentiert. Die Schönheit soll z.B. in den Kreisberechnungen daraus folgen, dass sich der jeweilige Lehrsatz (als vollkommene Einheit und Allgemeinheit) »auf unendlich viele verschiedene Fälle anwenden lässt«. Je größer die Allgemeinheit und je zahlreicher das Mannigfaltige, desto schöner ist also der Gegenstand. Die Verschiedenheit der Fälle ergibt sich aus den unbestimmten Größen, die zueinander in ein Verhältnis der Gleichheit gesetzt und so »auf Einheit zurückgebracht« werden. Die Kreisfigur ist der allgemeine Grund der Veränderung der geometrischen Größen in der Gleichheit ihres Verhältnisses; die veränderlichen Größen fasst Sulzer hier übrigens als Ideen auf.121 Diese intellektuelle Schönheit, deren Wesen als Mannigfaltigkeit in der Einheit aufgefasst wird, glaubt Sulzer in allen Wissenschaften nachweisen zu können, in der Algebra wie in der Naturgeschichte, in der Art-Gattungseinteilung der Naturwesen, in der Astronomie, in Lehrsätzen, ontologischen Grundsätzen und Formeln bis hin zu den Kunstwerken, sofern in ihnen Plan und System vorkommen.122 Er vertritt damit den Standpunkt Christian Wolffs, der u.a. die Bildung unendlicher Reihen bei Newton und Leibniz miteinander verglich und zu dem Ergebnis kam, die newtonsche Variante der Reihenentwicklung sei wegen ihrer größeren Vollkommenheit »schöner« als die leibnizsche; auch Beweise und Lehrsätze in der Metaphysik hielt er aufgrund ihrer Vollkommenheit für vergnüglich. Die Folgerungen, die sich aus der Rationalität des Schönen ergeben, und deren Auswirkungen auf Sulzers allgemeine Theorie des Vergnügens werden weiter unten in Abschnitt 8 ausführlich erörtert. Zuvor ist es notwendig, Funktion und Bedeutung der Gegenstandsbeziehung des Vergnügens darzulegen.
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Sulzer: »Stuffen«, vgl. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 30. Alle Zitate ebd., S. 31–34. Ebd., S. 34f.
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6. Voraussetzung IV: Der Gegenstand als Ursprung des Vergnügens Es soll nun, ausgehend von der zuletzt betrachteten Schrift, gezeigt werden, auf welche Weise das Schöne die angenehme Empfindung in der Seele hervorbringt. Dabei stellt sich also jetzt die Frage, wie der Gegenstand, der als schön erkannt wurde, im Geist die Lebendigkeit erregt. Um sie zu beantworten wird vorausgesetzt, dass der schöne Gegenstand – und zwar als empirischer, bloß rezipierter – nicht ein vom betrachtenden Subjekt selbst gemachter ist, sondern seinerseits über eine Kraft verfügt, Empfindungen im Subjekt auszulösen. Eine solche Konstruktion liegt auch dem Artikel »Kraft« in der Allgemeinen Theorie noch zugrunde.123 Die Kraft besteht darin, dass sie eine Menge von Ideen auf einmal darstellt, und zwar zugleich zu einer Einheit geordnet, so dass die Seele alles Verschiedene, das zu dem Gegenstand gehört, daraus zu entwickeln und aus dem Verschiedenen die Einheit zu rekonstruieren vermag. Nur auf diese Weise wird die Idee des Ganzen deutlich. Die Seele betrachtet den Gegenstand, wie Sulzer sagt, gewissermaßen »als eine Beute, die ihren wesentlichen Geschmack befriedigt und stürzt mit voller Begierde darauf zu. Dieß ist der Ursprung von dem Vergnügen, das die Betrachtung der Schönheit erweckt«.124 Trotz der scheinbaren Parallelität von subjektiver und objektiver Idee des Schönen, wird dem Seelenprinzip an dieser Stelle offenbar eine Dominanz eingeräumt. Der Grundtrieb der Seele als Quelle aller inneren Veränderungen (und nicht primär als Merkmale des Schönen am Gegenstand) ist die entscheidende Kraft, durch die das Schöne erst zu dem wird, was es ist, und Vergnügen erweckt: 123
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Um einem »Gegenstand des Geschmacks« eine »ästhetische Kraft« zuzuschreiben, muss er nur das Vermögen besitzen, »eine Empfindung in uns hervorzubringen«, genauer: das Vermögen, »unsre Aufmerksamkeit von der Betrachtung seiner Beschaffenheit abzulenken und sie auf die Würkung zu richten, die der Gegenstand [...] auf unsern innern Zustand macht«. Die Quelle der Kraft ist entweder die Beschaffenheit des Gegenstandes »oder sie beruhet nur auf zufälligen Umständen« (z.B. dem Neuen, Unerwarteten etc.) (Johann Georg Sulzer: Art. Kraft. In: Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste [s. Anm. 2], Bd. 3, S. 61f.). Drei Wesensmerkmale des Gegenstandes sind für die Wirkungsweise der ästhetischen Kraft relevant: Vollkommenheit, Schönheit, Gutes. Sie sprechen die unterschiedlichen Seelenvermögen an. Interessant ist nun hieran, dass das Gefühl des Vergnügens, das im eigentlichen Sinne »Empfindung« heißen soll, überhaupt erst durch eine (extraordinäre) Steigerung des Vollkommenheitsgrades bewirkt wird (ebd., S. 62f.). Von den drei Arten der ästhetischen Kraft wird der Vollkommenheit von Sulzer die höchste Bedeutung beigemessen (ebd., S. 63). Es trifft keineswegs zu, dass das Schönheitsempfinden in diesem Artikel eine dominierende Stellung gegenüber den beiden anderen Vergnügen einnehme. Vielmehr stützen sich die drei Arten von ästhetischen Kräften gegenseitig, und keine kommt ohne die andere aus. Das »Vollkommene« und das »Gute« müssen »in vollem Reiz der Schönheit […] erscheinen, um dadurch noch angenehmer und erwünschter zu werden« (S. 64), »Vollkommenheit und Schönheit« aber werden wiederum »nur durch ihre Beziehung auf das Gute interessant« (S. 65). – Erkennbar werden in diesem Artikel die drei Originalbausteine der sulzerschen allgemeinen Vergnügungstheorie – die drei Arten des Vergnügens – wiederverwendet; und erneut wird sichtbar, dass der Autor an der zentralen Bedeutung des Intellektualen (Rationalen) festhält. Das Ästhetische überhaupt ist für Sulzer die allgemeine Theorie des Vergnügens, innerhalb deren das Schöne zwar ein besonderer Gegenstand der Empfindung ist, aber eben nicht für sich isoliert, sondern vermittelt durch die beiden anderen Gegenstände und Seelenaktivitäten, durch die das Vollkommene und das Gute selbst zu Momenten des Schönen werden. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 37–39.
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Werner Euler Einheit, Mannichfaltigkeit, Uebereinstimmung der Theile, machen uns einen Gegenstand nur insoferne angenehm, als sie auf die wirksame Kraft der Seele eine vortheilhafte Beziehung haben. Nur dieser ursprünglichen Kraft verdanken wir alles Vergnügen, das uns die Schönheit erweckt. Nur durch diesen so einfachen Grundtrieb breitet die wohlthätige Natur so viele Annehmlichkeiten über unser Leben aus.125
Die Abhängigkeit der Vorstellungen (Ideen, Empfindungen) von äußeren Gegenständen (Körpern) und deren Beschaffenheit behält dennoch in allen hier herangezogenen Traktaten Sulzers ihre Gültigkeit und ist insofern eine unverzichtbare Voraussetzung seiner Theorie des Schönen. Diese Abhängigkeit besteht in Form direkter oder indirekter Kausalität. Auf direktem Wege drücken sich äußere Gegenstände je nach Güte unserer Sinnesorgane in unsere Seele ein.126 Diese Vorstellung steht im Einklang mit den vorherrschenden sinnesphysiologischen Konzepten des 18. Jahrhunderts. Die Gegenstände (der Natur oder der Kunst) »rühren« uns,127 und mit der Rührung beginnt das Schönheitsempfinden. In besonderer Weise ist die Empfindung von der Idee des Gegenstandes als einer lichtvollen, blendenden Idee abhängig. Es ist sogar die Beschaffenheit des Gegenstandes selbst, die die Wirkung unserer Seelenvermögen beschränkt.128 In jener frühen Schrift wird vom Autor noch keine Mühe darauf verwendet, den Zustand der Betrachtung der Seele von denen der Empfindung und des Verstehens analytisch zu unterscheiden. Das ist jedoch ab 1763 und dann 1765 in der »Kraft«-Schrift deutlich anders. Dennoch gehen auch insbesondere in der letzteren vom Gegenstand als Quelle verschiedene Arten von »Energie« aus, die sich über die Sinne und das Nervensystem der Seele mitteilen und je nach Beschaffenheit Vergnügen oder Schmerz, angenehme oder unangenehme Empfindungen auslösen. Dies gilt in besonderer Weise für die Gegenstände der Kunst.129 Es ist jedoch auch eine indirekte Beeinflussung des Empfindens durch den Gegenstand zu vermerken: Diejenige Gegenstandserkenntnis, die den »Zustand des Nachdenkens« kennzeichnet, ist die Bedingung des Übergangs in den »Zustand der Empfindung«, und d.h. auch der angenehmen Empfindung.130 Sie ist es auch, die geradezu als ein Versenktsein in den Gegenstand und seine Merkmale charakterisiert ist. Die Art der Erkenntnis (ob deutlich oder verworren) hängt also wiederum von der Beschaffenheit des Gegenstandes selbst ab: Ist er zusammengesetzt, so muss für eine deutliche Erkenntnis jeder einzelne seiner unteilbaren Teile von den übrigen isoliert und fokusiert werden. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß auch die Aufmerksamkeit, die für das Unterscheiden der Vorstellungen sorgt und den Wechsel der Zustände markiert, ohne Objektbezug unwirksam wäre.131 125 126 127 128
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Ebd., S. 39. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 12), S. 245. Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 6), S. 240. Ebd., S. 225–227. Mit der Frage, wie schöne Gegenstände durch ihre Beschaffenheit auf die empfindende Seele einwirken, welche Empfindungen sie erzeugen, und welche psychophysischen Vorgänge das Schönheitsempfinden unterstützen, nähert sich Sulzer der Ästhetik Edmund Burkes an (vgl. Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Übersetzt von Friedrich Bassenge, neu eingeleitet und hg. von Werner Strube. Hamburg 1989, S. 64–66, hier S. 127f. Vgl. Sulzer: Von der Kraft (s. Anm. 11), S. 137–140, S. 142. Vgl. Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 6), S. 226–230. Ebd., S. 228.
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Ein Problem ergibt sich daraus, dass die Erkenntnis des Gegenstandes, sofern er eine Empfindung hervorruft, beschränkt bleiben muss. Er kann empfunden und wahrgenommen werden, aber als Ursache der Empfindung bleibt er notwendig unerkannt, und zwar aufgrund des psychophysischen Vorganges selbst: Im Augenblick der Empfindung wendet sich die Seele vom Gegenstand ab, um die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten.132 So ist also die Beschaffenheit der Gegenstände, die gewisse Empfindungen in uns auslöst, unergründbar für den Verstand, aber vielleicht doch »auf eine anschauende Art zu erkennen«.133 Um die These von der »Autonomie des Empfindungsvermögens« als unbezweifelbar hinzustellen,134 wird als Schlüsselstelle gerne die Definition der »Empfindung« in den Anmerkungen zitiert.135 Es ist aber hier genau auf die Worte zu achten. In dem Zitat wird gesagt: (1) die Empfindung sei eine bestimmte Vorstellung, (2) sie sei »also eine Handlung der Seele« (das »also« bezieht sich hier darauf, dass sie eine Vorstellung ist, die etwas »hervorbringt«, nämlich »Verlangen oder Abscheu«), (3) diese Handlung habe mit dem Gegenstand, »der sie hervorbringt, oder veranlasset«, »nichts gemein«,136 (4) das Empfinden sei nicht gegenstands-, sondern selbstbezogen. Einsichtig wird durch diese Aussagen zunächst nur, dass die Empfindung als »Handlung« der Seele nicht gleichbedeutend mit der anderen Seelenhandlung sein kann, die als Nachdenken bezeichnet wird. Insofern ist sie unabhängig vom Verstandesdenken. Aber wie bereits gezeigt, ist sie das nicht in jeder Hinsicht; sie ist es nämlich nicht, wenn wir das in derselben Schrift, aus der das Zitat stammt, entwickelte Modell von den drei Seelenzuständen zugrunde legen und das Empfinden folglich als eingebunden in einen Prozess von Seelenaktivitäten zu begreifen haben. Wie gezeigt, ist das Empfinden gemäß jenen Bestimmungen darauf angewiesen, dass ihm Denkvorgänge vorausgehen und es »begleiten«. Ferner ist nach Teilaussage (3) der Definition die Empfindung nicht nur ein Hervorbringendes, sondern auch ein Hervorge-brachtes, und dasjenige, welches sie hervorbringt oder veranlasst, ist der Gegenstand. Dem Gegenstand bleibt also auch bei der äußersten »Aufwertung« der Empfindung gegenüber dem Denken die Funktion der Reizgebung erhalten.137 Eine Seelenregung, die zumindest zu einem geringen Teil unter äußeren Einflüssen leidet, kann aber nicht autonom genannt werden. Das Zitat enthält also kein Argument zugunsten der Autonomiethese. Im Gegenteil: Vom Gegen-stand hervorgebracht worden zu sein, bedeutet Abhängigkeit vom äußeren Objekt. Es bewahrheitet sich an dieser Stelle einmal mehr die eingangs zitierte Beurteilung des Vergnügens bei Sulzer durch Reinhold, dass er das Vergnügen nämlich mehr nach der Seite des Leidens betrachtet habe.
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Vgl. ebd., S. 240. Vgl. ebd. Vgl. Décultot: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie (s. Anm. 1), S. 74. Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 6), S. 229f.; vgl. Décultot: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie (s. Anm. 1), S. 84; vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden (s. Anm. 7), S. 416. Übrigens heißt es an der betreffenden Stelle im französischen Original: »[...] une action de l’âme qui n’a rien à voir avec l’objet qui la produit ou la suscite [...]« (zitiert nach Décultot: Métaphysique ou physiologie du beau? [s. Anm. 1], S. 96) [Originaltitel in dies.: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie (s. Anm. 1), S. 73, dort Anm. 12]. Der Seelenhandlung wird also nicht jede mit dem Gegenstand geteilte Gemeinsamkeit abgesprochen, sondern bloß eine Zielgerichtetheit auf den Gegenstand. Ebd., S. 87.
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7. Voraussetzungen und Probleme des intellektuellen Vergnügens Zu den Schwierigkeiten, die aus Sulzers Theorie des Schönen erwachsen, gehören das Problem der Allgemeingültigkeit angenehmer Empfindungen und das Problem der Verwissenschaftlichung des Schönen. Beide Problembereiche hängen eng miteinander zusammen. Zum Problem der Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils: Sulzer hat nicht das Anliegen und auch gar nicht das Bedürfnis, Aussagen über Schönheit von Gegenständen in eine besondere Form von Urteilen bringen zu müssen. Er kennt keine Klasse von ästhetischen Urteilen (Geschmacksurteilen), ohne die sich später für Kant keine Beurteilung des Schönen vornehmen lässt. Deshalb scheint es für ihn auch nicht zum Problem zu werden, klären zu müssen, unter welchen Bedingungen ein subjektives ästhetisches Urteil allgemeine Zustimmung und Gültigkeit beanspruchen kann. Wenn er gelegentlich das Thema der Urteilsbildung anspricht, scheint er stets entweder (logische) Erkenntnisurteile oder Erfahrungsurteile aufgrund bloßer Wahrnehmungen zu meinen. Eine eigene Urteilstheorie wird – bis auf eine knappe »Zergliederung des Begriffs des Urtheils«138 – nicht dargelegt. Doch scheint Sulzer unter dem Urteilen überwiegend ein empirisch bedingtes, d.h. durch dunkle oder klare Ideen und Empfindungen beeinflussbares und auf Glauben beruhendes Operieren der Seele zu verstehen, das keinen freien Willensakt voraussetzt oder ihm sogar zuwider ist.139 Das Urteil setzt notwendig »die Aufmerksamkeit und das Nachdenken voraus«,140 denn es setzt »ab-strakte Ideen« voraus.141 Die ursprüngliche Urteilshandlung ist eine Empfindung. So wie das Nachdenken einzelne Vorstellungen trennt und isoliert, so verbindet die Empfindung Ideen mit dem Subjekt. So entstehen verneinende und bejahende Urteile.142 Sulzer unterscheidet Urteile im allgemeinen nicht gemäß ihrer logischen Form, sondern nach der Perspektive der Betrachtung einer Sache: »Verschiedene Gesichtspunkte bringen auch verschiedene Urtheile hervor«.143 Die Verschiedenheit der Gesichtspunkte beruht auf dem Unterschied zwischen klaren und dunklen Vorstellungen. Dunkel sind z.B. Urteile, die aus dunklen Vorstellungen hervorgehen. Sie stehen zu klaren Urteilen im Verhältnis des Widerspruchs. Überhaupt wird das Urteil »für eine Art von innerer Empfindung« gehalten.144 Richtiges Urteilen setzt aber darüber hinaus Kenntnisse in den Wissenschaften voraus.145 Wenn es möglich ist, einen schönen Gegenstand unter der Bedingung als schön zu erkennen, dass das Mannigfaltige dieses Erkannten mit Notwendigkeit aus dem Allgemeinen einer Einheit folgt, dann widerspricht dem die Erfahrung, dass es, wie Sulzer einräumt, eine individuelle Verschiedenheit des Geschmacks gibt, die sich auf alle Arten der Schönheit erstreckt. Sulzer hilft sich aus dieser Schwierigkeit, indem er die (empirische) Verschiedenheit des Geschmacksempfindens durch das Prinzip der Gewohnheit erklärt: Wegen der unendlich vielen 138 139 140 141 142 143 144 145
Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 12), S. 274. Vgl. Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes (s. Anm. 39), S. 104, S. 110. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 12), S. 246. Ebd., S. 272. Ebd., S. 272–275. Ebd., S. 109. Ebd., S. 116f. Vgl. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 47.
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Grade, der jede Art von Schönheit fähig sei, könne ein Gegenstand, der »an und für sich wirklich schön ist«, im Vergleich mit einem anderen weniger schön erscheinen. Da man aber daran gewöhnt sei, Gegenstände immer im selben Grad der Schönheit wahrzunehmen, so werde dieser Grad allmählich als (subjektiver) Maßstab aller Schönheit überhaupt angesehen.146 So kommt es, dass bei der Betrachtung ein Gegenstand von (objektiv) geringerer Schönheit als nicht-schön eingestuft wird, weil in ihm die gewohnte Idee von Schönheit nicht gefunden wird. – Was hier also thematisiert wird, ist das Problem der Allgemeingültigkeit und Objektivität subjektiven Geschmacksempfindens. Sulzer sucht und findet aber keine Lösung, sondern begnügt sich mit einer plausiblen Erklärung des Phänomens individueller Geschmacksunterschiede (die laut einer anderen Stelle seiner Theorie ihren wahren Grund in der Verschiedenheit der Kenntnisse und der Einsicht haben,147 ohne deren Relevanz für die Geschmackslehre überhaupt in Frage zu stellen. Ebenso verfährt er bei dem Versuch, die Geschmacksabweichungen hinsichtlich des Hässlichen erklären zu wollen. Auf der anderen Seite sind der Polyperspektivismus des Urteilsempfindens und das individuelle Gefühl für Schönheit keine befriedigenden Antworten auf die Frage, die von allgemeinem Interesse ist: was »an und für sich wirklich schön ist«. Daraus erwächst das zweite Problemfeld. Zur Frage, ob der Geschmack eine »nothwendige Folge der Erkenntniß und Einsicht« sei: Eine weitere Folge aus Sulzers Theorie des Schönen ist ihr Angewiesensein auf Erkenntnisgründe und überhaupt auf wissenschaftliche (und sonstige) Kenntnisse.148 Wenn man es drastisch formulieren
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Alle Zitate ebd., S. 43f. Vgl. ebd., S. 46f. Dies gilt zumindest in einem objektiven (vom Autor nicht intendierten) Sinne. Nach meiner Einschätzung gilt es aber auch dann, wenn man den Autor wörtlich nimmt. Denn unbeschadet der festzustellenden Tendenz zur Umgehung der (Baumgartenschen) Forderung nach einer rational bedingten Erkenntnis des Schönen, appelliert Sulzer geradezu an eine anschauungsbedingte Erkenntnis (Wolffs Einsicht) als Voraussetzung für jedes Schönheitsempfinden. Wenn man nämlich die »Schönheit« als »etwas Wirkliches« nehme, dann bedeute »Geschmack […] das Vermögen das Schöne anschauend zu erkennen, und vermittelst dieser Kenntniß Vergnügen daran zu empfinden. So weit sich die Natur des Schönen erkennen und zergliedern lässt. So weit kann man auch die Natur des Geschmacks deutlich erkennen.« (Johann Georg Sulzer: Art. Geschmack. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste [s. Anm. 2], Bd. 2, S. 371; Hervorhebungen von mir). In dieser Rede finet sich keine Spur von Riedels diagnostizierter Abkehr vom Rationalen und einer Hinwendung zur axiomatischen Geltung eines »Dualismus von Erkennen und Empfinden« (die Grundidee ist vielmehr eine Triplizität in der Verfasstheit des Psychischen) in Sulzers Begründung der Schönheit (Riedel: Erkennen und Empfinden [s. Anm. 7], S. 427). Das Geschmacksurteil ist für Sulzer auch ein Erkenntnisurteil. Denn halten wir fest: Deutliche Erkenntnis (dasjenige, welches Wolff Einsicht nannte) und Analyse des Schönen sowie des Geschmacks gehören notwendig zu einer Theorie des Vergnügens. Dass dem Geschmack auch eine Dunkelzone des »blos mechanische[n] Gefühl[s], dessen Grund sich nicht entwickeln lässt«, anhaftet, markiert nur die Grenze einer Analytik des Schönen, die die Funktion einer Entscheidungshilfe für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Regel hat, »daß man über den Geschmack nicht streiten könne« (Sulzer: Art. Geschmack s.o., S. 371). Wenn Sulzer daher verlangt, dass die Theorie der schönen Künste »auf die Theorie der undeutlichen Erkenntnis und der Empfindungen gegründet seyn« müsse und dass die Ausarbeitung eines Planes für eine solche Wissenschaft »keine systematische Gestalt« annehme (vgl. Sulzer: Art. Aesthetik [s. Anm. 2], S. 47f.), dann sind auch solche und ähnlich lautende Erklärungen nicht als ein Verzicht auf Erkenntnisanspruch zu interpretieren, setzt doch auch eine solche Theorie ihrerseits rationale Einsicht voraus. Deshalb ist es ein weiteres Mal nicht sehr verwunderlich, wenn Sulzer am Ende seiner
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mag, muss man wohl sagen: Ohne Wissen ist auf dem Boden dieser Theorie des Vergnügens gar keine angenehme Empfindung, mithin auch kein Schönheitserleben möglich. Damit untrennbar verbunden ist der Nutzen, den eine Theorie des Vergnügens haben soll. Soll das Schöne überhaupt eine Wirkung zeigen, so muss man es kennen, und zwar so, dass man mit der Gattung, zu der es gehört, vertraut ist: Jede Gattung des Schönen hat, so zu reden, ihre Wissenschaft für sich; und diese muß man studirt haben, wenn man richtig über sie urtheilen soll. Nur die Vernachlässigung dieser Regel, und das unwissende Urtheilen über Alles, verursacht die widersprechenden Meynungen über alle Arten von Schönheit, die einige sogar auf den falschen Gedanken gebracht haben, als wenn Schönheit und Geschmack etwas ganz Willkührliches wären.149
Keine Spur mehr also von gewohnheitsbedingter Problemauflösung, keine Anklänge etwa an Hume. Stattdessen eine Warnung vor dem Abgleiten in einen allgemeinen Skeptizismus: »Die Verschiedenheit des Geschmacks findet nur bey Unwissenden und Halbkennern statt; so wie der Skepticismus nur die verführt, die keine recht gründliche Wissenschaft der Vernunftlehre haben.«150 Wissenschaftliche Erkenntnis, ja sogar jede nur laienhafte Kenntnis ermöglicht als einzige Bedingung die Teilhabe an Vergnügen und schönem Geschmack. Da der Geschmack »eine nothwendige Folge der Erkenntniß und Einsicht ist«, so folgt, dass jede Erweiterung des Wissens mehr befähigt, das Schöne zu empfinden. Als Konsequenz daraus muss man allerdings festhalten: Alles, was auf irgendeine Weise einsichtig gemacht werden kann, d.h. alles überhaupt rational Erfassbare, ist notwendig schön, sofern es sich auf das Gefühl bezieht. Das ist insofern konsequent, als alles Vollkommene vergnügt und alles, was vergnügt, schön ist. Deshalb rät der Theoretiker der schönen Künste: »Man suche das Schöne überall, und man wird es überall finden.«151 Jedes mit Geschicklichkeit Erlernte ist eine neue Quelle des Vergnügens. Man sieht nun leichter ein: Es ist nicht eine wie auch immer motivierte Wendung zur exklusiven Empfindung, die Sulzers Ästhetik des Schönen begründet, sondern gerade das Beharren auf der Intellektualisierung des Schönen durch begriffsbestimmte Erkenntnis. Dieses Festhalten aber ist einer angemessenen ästhetischen Theorie geradezu hinderlich.152
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Zergliederung des Begriffs der Vernunft den »wahren systematischen Geist« beschwört, um die Ordnung der Wahrheiten zu entdecken (Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft [s. Anm. 12], S. 280.) Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 47. Ebd. Ebd. Diese Inkonsequenz ist auch der Ästhetik Baumgartens eigen: Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der »Aesthetica« (1750/58). Übersetzt und hg. von Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1988. Ästhetik soll zwar sinnliche Erkenntnis sein, deren Ziel Vollkommenheit als Schönheit ist (S. 3 [Aesthetica §1], S. 11 [§ 14]); sinnliche Erkenntnis in ihrer Vollkommenheit wird aber durch rationale Prinzipien bestimmt (S. 13 [§§ 18–20]), trotz der richtigen Einsicht, dass der Verstand aufgrund seiner abstrakt-allgemeinen Prinzipien nicht an die empirische Vielfalt des Schönen heranreicht (S. 15 [§ 17, § 22]). Vgl. zur Vergnügungstheorie Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysik. Übersetzt von Georg Friedrich Meier. Nach dem Text der zweiten, von Joh. Aug. Eberhard besorgten Ausgabe 1783. Hg. von Dagmar Mirbach. Jena 2004, §§ 482–488. Kant wird in § 9 der Kritik der ästhetischen Urteilskraft zeigen, dass es zur Begründung eines Geschmacksurteils notwendig ist, von objektiven Erkenntnisansprüchen abzugehen und dennoch dem Gefühl der Lust im Geschmacksurteil die Beurteilung des Gegenstandes (als »Erkenntnis überhaupt«) vorausgehen zu lassen.
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8. Voraussetzungen und Probleme der Theorie des sinnlichen Vergnügens Im dritten Abschnitt seiner Theorie des Vergnügens (1751/52) untersucht Sulzer den Ursprung und das Wesen der Vergnügungen, soweit sie auf sinnlicher Wahrnehmung beruhen. Ich werde neben einer kurzen Skizze dieses Unterfangens vor allem kritische Anmerkungen vortragen, die sich auf die empiristischen Grundlagen und ihre Auswirkungen auf die Gesamttheorie beziehen. Obwohl Sulzer ausdrücklich betont, er wolle sich bei seinen Erklärungen nicht auf die gewöhnlichen metaphysischen Systeme zur Verbindung von Seele und Körper stützen, erweist er sich doch als Anhänger des Modells des influxus physicus.153 Er geht (mit vielen philosophierenden Naturforschern seiner Zeit) wie selbstverständlich davon aus, dass die sinnlichen Empfindungen durch Eindrücke entstehen, die die von Gegenständen ausgehenden Bewegungen in den Sinnesorganen hinterlassen und die dann über die Nervenbahnen irgendwie zur Seele hin weiterbefördert werden, wo sie lebhafte Vorstellungen erregen. Physische Eindrücke gelten somit als Wirkursachen von Empfindungen.154 Diese Einsicht mündet in dem Grundsatz, »daß die Seele ohne eine analogische Bewegung in den Nerven der Sinne keine sinnlichen Empfindungen habe« (analogisch bedeutet hier: proportional).155 Auf Einzelheiten der um diesen Grundsatz sich rankenden Vorstellungen einer Sinnesphysiologie als Grundlage einer Theorie der Empfindungen kann an dieser Stelle verzichtet werden.156 Sie haben ihre Quelle in philosophischen Betrachtungen und medizinischen Theorien zur Neurophysiologie, wie sie seit Descartes im 17. Jahrhundert im Schwange waren. Sulzer bedient sich dieser Ergebnisse, ohne ihnen – soweit ich sehe – einen neuen Gedanken hinzuzufügen.157 Dass Sulzer sich auf solche neurophysiologischen Theorien stützt, mag damit zusammenhängen, dass seine Seelenlehre (einschließlich der Theorie des Bewusstseins) nichts anderes als reine Psychophysik (Sulzer: »Physik der Seele«) ist.158 Deren Kernaussage lautet: Ohne eine von außen (durch Körper) eintretende Reizung der Sinne und des Nervensystems bringt die Seele keinerlei Wirkung hervor.159 Interessanter ist für uns, dass der Autor mit diesem Rekurs Irrtümer und Schwächen sinnesphysiologischer Konzepte unkritisch übernimmt, die die Grundansprüche seiner Vergnügungstheorie erschüttern. Denn seinen Überlegungen liegen mechanistische und empiristische Überzeugungen zugrunde, die begründungstheoretisch das nicht leisten können, was er sich von seiner Theorie verspricht. Die übernommenen begrifflichen Instrumente – Bewegung 153 154 155 156 157 158
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Vgl. hierzu auch die Beiträge von Falk Wunderlich und Gideon Stiening in diesem Band. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 53f. Ebd., S. 54; vgl. Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes (s. Anm. 39), S. 112. Zur Funktion des Nervensystems beim Entstehen sinnlicher Empfindungen vgl. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 12), S. 257–263. Zur Frage der Anbindung an bestimmte Theoretiker der Neurophysiologie seiner Zeit vgl. Décultot: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie (s. Anm. 1), S. 81. Vgl. Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes (s. Anm. 39), S. 100, S. 115; an anderer Stelle bringt er sie in Zusammenhang mit Anthropologie, d.i. eine »metaphysische Theorie des Menschen« (Sulzer: Von dem Bewußtseyn [s. Anm. 19], S. 199). Vgl. ebd., S. 203.
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durch Druck und Stoß, Quantität der Materie, Übertragung von Erregungsimpulsen etc. –, die für eine Erklärung neurologischer Vorgänge und deren Auswirkung auf Empfindungen gebraucht werden, infizieren (durch die ihnen immanenten Widersprüche), d.h. verdunkeln und verwirren diejenigen Begriffe, die für seine Theorie von zentraler Bedeutung sind und auf deren Klarheit und Deutlichkeit daher so großes Gewicht gelegt wird, wie die Idee, das Empfinden (Gefühl),160 das Vergnügen und schließlich das Schöne. So wird z.B. die Lebhaftigkeit, die das Wesensmerkmal jeder (momentanen) Empfindung ist, bloß als Stärke der Empfindung begriffen, und Stärke bemisst sich an der quantitativen Differenz des Grades; von diesem Unterschied hängt wiederum die Unterscheidung von angenehmer und unangenehmer Empfindung,161 Lust und Unlust, Freude und Schmerz, Schönheit und Hässlichkeit ab. Dass dies alles auch vom Bau, der Funktion, der Anzahl und der Verbindung der erregten Nerven abhängt, lehrt uns nach Sulzer die Erfahrung.162 Kurzum: Aus den von Sulzer aufgestellten Grundsätzen des sinnlichen Vergnügens lassen sich weder eine Verschiedenheit des Geschmacks noch die Unterschiede in der Lebhaftigkeit des Empfindens erklären. Ich habe in meinem Beitrag Sulzers weitergehende Differenzierungen, etwa in einfache und zusammengesetzte Empfindungen,163 in momentane Empfindungen und deren Folgen ausgelassen, bin aber überzeugt, dass diese die Problemlage eher noch verschärfen als verbessern dürften. Bemerkenswert ist übrigens noch Sulzers Eingeständnis, dass selbst sinnliche Erfahrungen eine Theorie des sinnlichen Vergnügens nicht bestätigen könnten, und zwar »weil uns diese Erfahrungen nichts von der Art und Weise sagen, wie die Sinne durch die Gegenstände gerührt werden, sondern dieses nur errathen werden muß.«164 Das Erstaunliche an diesen Sätzen ist der in ihnen ausgesprochene, ganz unbefangene, prinzipielle Verzicht auf den Anspruch einer wissenschaftlichen Erklärung der Zusammenhänge der empirischen Grundlagen der Theorie des Vergnügens und deren Anheimstellung an zufällige Enthüllungen. Über das Verhältnis von sinnlichem und intellektuellem Vergnügen äußert sich Sulzer am Ende des dritten Abschnittes. Das sinnliche soll lebhafter sein als das intellektuelle.165 Es erweckt daher auch stärkere Empfindungen. Die Vergnügungen der Sinne beruhen aber auf denselben Grundsätzen wie die Vergnügungen von Einbildungskraft und Verstand,166 so dass durchaus beide Arten des Vergnügens ihre Vorzüge und Nachteile haben. So ist es z.B. ein Nachteil des Sinnlichen, dass das Missvergnügen als Schmerz empfunden wird, während intellektuelle Gegenstände auch dann, wenn sie hässlich sind, keinerlei Schmerz erwecken. Intellektuelle Vergnügungen erwecken nicht wie sinnliche Leidenschaften: [D]ie unschuldigen Vergnügungen des Verstandes, ertheilen der Seele eher Stille und Ruhe, als daß sie Leidenschaften in ihr erwecken sollten, die sie zu schändlichen Ausschweifungen erniedrigten. Sie er160 161
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Siehe dazu die Formulierung des zweiten Grundsatzes, Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 58. Sulzer bestreitet allerdings den kausalen Zusammenhang zwischen Empfindungsstärke und dem Unterschied von Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit; er stützt sich auf den Unterschied in der Folge von Empfindungen (vgl. ebd., S. 64f.). Vgl. ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 67. Ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 60, S. 65. Ebd., S. 67.
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heben sie gleichsam über den Staub, an welchen sie die Sinne fesseln, und versetzen den Menschen gewissermaßen aus der Classe der Thiere in die Ordnung höherer Geister.167
Die sinnlichen Vergnügungen haben dagegen wiederum den Vorteil, dass sie »ohne deutliche Erkenntniß der Ursachen« zu genießen sind und also dafür weder Studium noch Einsichten bedürfen. Letzten Endes sind die intellektuellen Vergnügungen den sinnlichen aber übergeordnet (obwohl beide aus derselben Quelle stammen), weil sie die notwendigen Mittel enthalten, unsere menschliche Natur im Hinblick auf das »höchste Gut« zu vervollkommnen und unser Dasein zu erhalten.168 Die moralische Idee ist, wie oben (Abschnitt 3) erwähnt, der Endzweck der Ästhetik des Schönen.
9. Moralisches Vergnügen – ein Ausblick Im letzten Abschnitt seiner Untersuchung (1751/52), der für ihn zugleich der wichtigste ist, will Sulzer den Ursprung der moralischen Vergnügungen klären. Darauf gehe ich nun abschließend ein, weil damit zwar einerseits die Theorie des Schönen abgeschlossen, andererseits aber ein neues Feld von Gegenständen, nämlich die Moral (Tugendlehre), eröffnet wird.169 Das moralische Vergnügen entspringt moralischen Empfindungen und Handlungen.170 Wie das nach Sulzer im Einzelnen vor sich geht, d.h. durch welche Ursachen das moralische Vergnügen in der Seele erweckt wird, kann an dieser Stelle vernachlässigt werden. Der moralische Gegenstand muss allgemein so beschaffen sein, dass er die natürliche Tätigkeit der Seele vollkommener macht.171 Dazu ist es notwendig, sie reichhaltig mit geeigneten Ideen zu versorgen. Solche Ideen sind z.B. Freundschaft und Mäßigung.172 Eine angenehme Empfindung wird dann erzeugt, wenn es eine deutliche Idee gibt, die sich auf ein Gut bezieht, das die Glückseligkeit des Individuums, seiner Mitmenschen oder zuletzt sogar der ganzen Menschheit zum Zweck hat.173 Sulzer kommt über eine Reihe von Zwischengliedern zu dem Schluss, daß jede moralische Handlung, jede Begebenheit, jedes Empfindniß, jeder Charakter, der auf die Vermehrung unsrer eigenen oder anderer Glückseligkeit abzielt, vermöge seiner Natur, auf eben die Art oder durch eben die Kräfte der Seele, die angenehme Empfindung erweckt, als das Schöne.174
Obwohl nun nach Sulzer die moralischen Vergnügungen wiederum die intellektuellen überragen, genügen für sie doch die gewöhnlichen Fähigkeiten von jedermann. Sie setzen nur geistige Eigenschaften voraus, die leicht zu erwerben sind. Studium und wissenschaftliche Kenntnisse 167 168 169 170
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Ebd., S. 75. Ebd., S. 76f.; vgl. auch S. 97. Vgl. hierzu den Beitrag von Heiner Klemme in diesem Band. Eine Theorie des moralischen Vergnügens finden wir auch bei Christian Wolff: Von dem Vergnügen (s. Anm. 75), S. 395–570). Doch lässt sich Sulzers Auffassung auch leicht auf Hutcheson und dessen Theorie des »moral Sense of Beauty in Actions and Affections« zurückführen (vgl. Hutcheson: An Inquiry concerning Moral Good and Evil [s. Anm. 20], S. 104–304). Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 78. Vgl. ebd., S. 79 u. S. 82–85. Ebd., S. 81; vgl. auch ebd., S. 85. Ebd., S. 89.
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sind hier überflüssig: »Nichts kostet wirklich so wenig, als das moralische Vergnügen«. In gewisser Hinsicht steht das moralische Vergnügen sogar dem sinnlichen näher als dem intellektuellen. Denn die intellektuellen Gegenstände und Ideen sind nur in geringem Maße zur Rührung fähig. Die überlegene Stärke der moralischen Vergnügungen resultiert daraus, dass ihre Gegenstände durch die Sinne vermittelt werden und mit der Glückseligkeit unmittelbar verbunden sind. Selbst die meisten Leidenschaften, behauptet Sulzer, entsprängen moralischen Gegenständen.175 Wenn wir uns daran erinnern, dass die menschliche Glückseligkeit der eigentliche (wahre) Zweck der sulzerschen Theorie des Vergnügens sein sollte, so überrascht es nicht, dass gerade die moralischen Vergnügungen im Verbund der drei Arten von Vergnügungen den höchsten Rang einnehmen: Genöße jemand auch alle sinnlichen und intellektuellen Vergnügungen, es fehlte ihm aber an den moralischen, so würde er des besten Theils der Glückseligkeit beraubt seyn und gerade das Köstlichste in dem Daseyn eines denkenden Wesens nicht kennen.176
Sind alle Vergnügungsarten Bestandteile einer allgemeinen Glückseligkeitslehre, so werden die sinnlichen und intellektuellen Vergnügungen durch die moralischen relativiert. Sie sind als vollkommene Vergnügungen nur im gemeinsamen Empfinden mit moralischen Vergnügungen zu genießen. Ebenso ist für die Ästhetik des Schönen zu schließen, dass ein Gegenstand erst dann im vollwertigen Sinne als schön zu betrachten ist, wenn er ästhetische Ideen enthält, die auf einen moralischen Zweck hin ausgerichtet sind. In seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste sieht Sulzer den höheren Zweck der Kunst in der Erregung der Aufmerksamkeit auf das Gute.177 Die Kunst ist sowohl an die Vollkommenheit als auch an die Glückseligkeit gebunden.178
10. Schlussbetrachtung: Der Ort der Schönheitsidee in den Zustandsänderungen der Seele Wo hat eigentlich die Idee des Schönen und der Schönheit in Sulzers Seelenlehre und Theorie des allgemeinen Vergnügens ihren genauen Platz? Es fällt schwer, diese Frage eindeutig und abschließend zu beantworten, da die zu verschiedenen Zeiten erschienen Aufsätze, die Auskunft darüber geben könnten, kein einhelliges Gedankengefüge ergeben.
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176 177
178
Ebd., S. 97f. In seinem Artikel Empfindung, dem eine Zweiteilung von Erkenntnis und Empfindung zugrunde liegt, unterscheidet Sulzer zwischen Empfindung im psychologischen Sinne und moralischer Empfindung (Sulzer: Art. Empfindung. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste [s. Anm. 2], Bd. 2, S. 54). Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 1), S. 98. Vgl. Johann Georg Sulzer: Art. Künste; Schöne Künste. In: ders: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 2), Bd. 3, S. 76 u. S. 78. Die Bindung des ästhetischen Wohlgefallens an der Natur an die Idee der Moral findet man in verschiedenen Kunstauffassungen des späten 18. Jahrhunderts bis hin zu Schiller (vgl. Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: ders.: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. von Albert Meier. Darmstadt 91993, Bd. 5, S. 695). Vgl. Sulzer: Art. Künste; Schöne Künste (s. Anm. 177), S. 75f. u. S. 78.
Die Idee des Schönen in Sulzers allgemeiner Theorie des Vergnügens
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In dem Kraft-Aufsatz von 1765 wird die Schönheit dem mittleren Zustand der Seele zugeordnet, insofern sie uns »zur Beschauung oder Betrachtung« fortreisse;179 entsprechend ist die »Vollkommenheit« in der Wahrnehmung einer Sache Grund unseres Nachdenkens (des ersten Seelenzustandes) und die »Energie« Ursache der »Bewegung« (d.h. der Empfindung als des zweiten Zustandes).180 Bei der Analyse der Ursachen der Bewegung (also der »Energie«) macht Sulzer als erste von insgesamt drei »Arten« von Energie plötzliche, unerwartete äußere Ereignisse (»energische Gegenstände«) aus, die die Veränderung des Zustandes der Selbstvergessenheit im Nachdenken in Richtung auf die Bewegung herbeiführen, indem sie die »Einförmigkeit« der Ideenfolge unterbrechen.181 Die zweite Art von Energie, die »höher[e] Kraft«, geht von der Schönheit aus; sie bezieht sich also notwendig auf den »Zustand der Betrachtung«, obwohl die Energie doch insgesamt Ursache des Bewegungszustandes sein soll. Die Schönheit muss folglich zweifach konzipiert sein. Der Ablauf stellt sich im Zusammenhang etwa folgendermaßen dar: Die Kontemplation (»eine vollkommene mit Heiterkeit verbundene Stille«) entsteht aus der Rührung durch einen Gegenstand (man muss annehmen: durch die Wirkung seiner Beschaffenheit auf unser Erkennen); sie verläuft in einer empfindungslosen Selbstvergessenheit der Seele. Aus diesem Zustand des Gefallens heraus unterscheidet sie einen Gegenstand von »vorzügliche[r] Schönheit«; sie wird also erneut gerührt, und der Zustand der Betrachtung geht in den der Bewegung über. Das ist die Phase des Erlebens der Schönheit als Energie aus »Vollkommenheit«. Das Schöne als das Angenehme am Gegenstand geht in das Schöne der Bewegung über. Es hat also keinen festen Ort, sondern oszilliert zwischen der Ruhe der Betrachtung und der Bewegung in der Empfindung (das Schöne gefällt bloß, das »vorzüglich« Schöne »entzücket«).182 Diese Veränderung des Schönen ist indessen nur eine Steigerung der »Vollkommenheit […] um einen beträchtlichen Grad über das Gewöhnliche«. Und doch scheint es so, als ob Sulzer nur denjenigen Dingen Vollkommenheit im Sinne von Schönheit zuspricht, die sich auf die Einbildungskraft beziehen. Die Qualität der Vollkommenheit des Schönen wird den schönen Gegenständen zum Teil von der Natur verliehen, zum Teil vom Künstler in hoher »Energie« durch seine nachahmende Tätigkeit 179
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Dasselbe gilt für die Konstruktion des Schönen in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste. Dort ist das, was unmittelbar die Empfindung reizt, das Gute (!) (Johann Georg Sulzer: Art. Schön. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste [s. Anm. 2], Bd. 4, S. 306). Die Klasse von Gegenständen, die das »eigentliche […] Schöne […]« ausmachen, liegt in der »Mitte« zwischen dem Guten und dem Vollkommenen (ebd.). Es hat also etwas vom Erkennen und etwas vom Empfinden an sich. Für den »Begriff des eigentlichen Schönen« (ebd., S. 307) müssen drei Kriterien erfüllt sein: »1. Die Form im Ganzen betrachtet, muß bestimmt, und ohne mühsame Anstrengung gefaßt werden. 2. Sie muß Mannigfaltigkeit fühlen lassen, aber in der Mannichfaltigkeit Ordnung. 3. Das Mannichfaltige muß so in Eines zusammenfließen, daß nichts einzeles besonders rühret.« (ebd., S. 308). Aber diese Ansicht der »Schönheit« genügt dem Vf. nicht. Denn sie ist noch steigerbar. Dieses Schöne sei im Grunde nur die »äußere Form« ohne »inneren Werth« (ebd., S. 309). Es gibt also noch eine »höhere Gattung des Schönen«, die das »eigentliche« Schöne als Moment in sich enthalten soll. Sie liegt im Genus der »Glückseligkeit«, die »aus enger Vereinigung des Vollkommenen, des Schönen und des Guten« entsteht (ebd., S. 310; vgl. Johann Georg Sulzer: Art. Schönheit. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste [s. Anm. 2], Bd. 4, S. 319–327). Auf diese Weise wird die Bestimmung des Schönen und der Schönheit ins Übermenschliche, d.h. ins Jenseits verschoben, wo sie in unendlichem Selbstgefallen in sich selbst ruht. Sulzer: Von der Kraft (s. Anm. 11), S. 124. Ebd., S. 125f. Alle Zitate ebd., S. 127f.
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in den Kunstwerken. Sie ist also nicht auf Kunstwerke beschränkt, sondern bezieht sich ebenso auf die Produkte der Natur. Entsprechend ergeht es dem Betrachter eines Kunstwerkes (bzw. eines Naturobjektes): Zuerst wird er von der Schönheit gerührt, dann betrachtet er den Gegenstand mit Aufmerksamkeit, um den Grad der Vollkommenheit zu erfassen. Auf diese Weise erhöht die schöne Kunst die Vorstellungskraft. Es sind demnach Einbildungskraft und Verstand gleichermaßen am Zustandekommen der Schönheitsempfindung bei der Betrachtung des Kunstwerkes beteiligt.183 Aber diese Erhöhung kann nicht energetisch bedingt sein, weil sie nicht emotional motiviert ist, sondern auf Verstandestätigkeit beruht; diese ist aber der Empfindung entgegengesetzt: »Der Verstand verleihet der Seele gar keine thätige Kraft [...].«184 Das Schöne überhaupt vermehrt hingegen nur »die Fähigkeit, auf eine angenehme Art gerührt zu werden«.185 Mit anderen Worten, die Idee des Schönen kann genaugenommen nur als Empfindung in das Energiekonzept der Bewegungsursachen der Seele gehören. Sie verblasst in der Beschauung in dem Maße wie der Verstand unterscheidend eingreift. Die dritte Art von Energie des Gegenstandes bezieht sich auf die individuell verschiedene moralische Gesinnung des Menschen; sie ruft je nach Geschmack die Bewegung des Verlangens oder Abscheus (Vergnügens oder Missvergnügens) hervor. Unter explizitem Rückbezug auf die »Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen« bekräftigt Sulzer an der Stelle, dass erst diese Art der Energie »die wahren Bewegungskräfte der Seele hervorbringt und sie von der Empfindung zur Handlung führet, wenn es die Umstände erlauben«. Das Verlangen und der Abscheu seien offensichtlich die »beyden ersten Triebfedern der Seele«. Die moralische Energie sei für den schaffenden Künstler am wichtigsten. Es wird daran erinnert, dass die angenehmen und unangenehmen Empfindungen, die die Vorstellungen »begleiten«, die Quelle des Geschmacks der Neigungen, der moralischen Gesinnungen und Leidenschaften sind. Diese Energie wird von den Gegenständen über die Sinne und die Nerven auf die Seele übertragen und als Vergnügen oder Schmerz empfunden.186 Man sieht, dass Sulzers ursprüngliche Theorie des Vergnügens in ihren drei Gestalten des intellektuellen, des sinnlichen und des moralischen vom Autor nicht aufgegeben worden ist, sondern in anderer Ausdrucksweise auch Mitte der 1760er Jahre noch reproduziert wird. Damit werden aber auch die systematischen Ausgangsschwierigkeiten reproduziert. Die Idee des Schönen hat darin keinen eindeutig bestimmten Ort; sie ist jedenfalls – entgegen allem Anschein – nicht allein und nicht einmal primär dem Bereich der sinnlichen Empfindung zuzuordnen, wenngleich Sulzers verstreute Formulierungen nicht selten einen solchen Schluss nahezulegen scheinen. Sulzers Schönheitsbegriff wird auch nicht von der wolffschen (bzw. baumgartenschen) Determination über die »Vollkommenheit« entbunden.187 Diese Leistung erbringt erst die Ästhetik von Kant, der an der traditionellen Vollkommenheitsvorstellung als Grund der Schönheit ent-
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Vgl. ebd., S. 129f. Ebd., S. 132. Ebd., S. 133. Ebd., 135–137. Trotz gelegentlicher Einschränkungen, die Sulzer vornimmt; vgl. u.a. Sulzer: Art. Schön (s. Anm. 179), S. 307.
Die Idee des Schönen in Sulzers allgemeiner Theorie des Vergnügens
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schieden Kritik übt. Für Kant kann Vollkommenheit weder eine erkenntniskonstitutive, noch eine ästhetische Idee sein. Aufgrund des Verhaftetseins in den metaphysischen Vorstellungen Leibnizens und Wolffs einerseits (Seelenmetaphysik) und der Nervenphysiologie und Wahrnehmungslehre seiner Zeit (Seelenphysik) andererseits führt von Sulzer aus kein begehbarer Weg zu der Ästhetik Kants oder gar zur Kunsttheorie Hegels. Vom Schönen gibt es bei Sulzer eigentlich gar keine Idee, d.h. keine Idee, die wirklich begreifbar wäre. Auf seinen philosophischen Grundlagen ist daher auch kein Urteil über das Schöne möglich; d.h. aber nicht mehr und nicht weniger als: das Schöne gibt es nicht. Wer sich mit den heuristischen Mitteln der sulzerschen Vergnügungstheorie auf die Suche nach dem Schönen begibt, der findet es überall und nirgendwo.
II. SPRACH- UND KUNSTTHEORIE
HANS-PETER NOWITZKI
Denken – Sprechen – Handeln Johann Georg Sulzers semiotische Fundierung der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste
Die Einbildungskraft ist zuweilen eben so tiefdenkend als der scharfsinnigste Verstand.1
1. Einleitung Sulzers Beschäftigung mit ästhetischen Fragen begleitet von Beginn an das Interesse an der Sprache und ihrem Verhältnis zum Denken und Sein. Dass die Sprache die »wichtigste aller Erfindungen«2 und ihre jeweiligen Realisationen konstitutiv für das Denken sind, ist für ihn unstreitig.3 Damit bildet er keine Ausnahme: Die Sprachvermitteltheit von Sein und Denken ist eine Einsicht, die sich bei vielen Denkern der Aufklärung findet. Man sagt insgemein, die Sprache sey dem Dichter, was die Farbe dem Mahler ist; im Grund aber ist sie noch weit mehr; weil nicht blos das Colorit, sondern die Zeichnung der Gedanken selbst, von der Sprach abhängt. Es därf also nicht erst bewiesen werden, daß die Vollkommenheit der redenden Künste größtentheils von der Vollkommenheit der Sprach abhänge, derer sie sich bedienen. Jedermann begreift, daß Homer in der scythischen, oder einer andern barbarischen, und noch wenig vervollkommneten Sprache, die Ilias nicht würde gesungen haben, die wir izt in der griechischen Sprache 1
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Johann Georg Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache [1767]. In: ders.: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/1781, Bd. 1, S. 166–198, hier S. 191 [im Folgenden: VS Band, Seitenzahl]. Sie erschienen zuerst 1769 in der Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres. Année MDCCLXVII. Ed. par l’Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres de Berlin. Berlin 1769, p. 413–438, unter dem Titel Observations sur l’influence réciproque de la raison sur le langage et du langage sur la raison als Beitrag der Classe de Philosophie spécultative. Ins Deutsche von Johann Georg Krünitz übertragen findet sie sich einige Zeit später im Neuen Hamburgischen Magazin 9 (1771), 49. St., S. 121–165. Im Folgenden wird die von Sulzer autorisierte Fassung aus den Vermischten Philosophischen Schriften zitiert. Eine, wenn auch lückenhafte Bibliographie der Werke Sulzers findet sich in: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Erster Theil. Neue vermehrte zweyte Auflage. Leipzig 1792 [ND: Mit einer Einleitung von Giorgio Tonelli. Hildesheim 1970]), S. VII*–XVI*. Johann Georg Sulzer: Art. Künste; Schöne Künste. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Zweyter Theil, von K bis Z. Leipzig 1774, S. 609–625, hier S. 611. Die Sprache ist »das allgemeineste und wichtigste Instrument unsrer vornehmsten Verrichtungen [...]. Wächst nicht Vernunft und guter Geschmak, und wird nicht ihr Gebrauch gerad in dem Maaße erleichtert, nach welchem die Vollkommenheit der Sprache gemessen wird? Denn im Grunde ist sie nichts anders, als Vernunft und guter Geschmak in körperliche Zeichen verwandelt«. (Ebd., S. 615.)
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Hans-Peter Nowitzki bewundern: und wenn er es unternommen hätte, so würden seine Gesänge zwar immer das Werk eines großen Genies, aber unendlich weit unter der Ilias gewesen seyn, die wir izt haben. Tausend Dinge, die er vermittelst der griechischen Sprache zeichnen konnte, würden in der scythischen Ilias nicht gewesen seyn; weil ihr die Worte zum Ausdruk gefehlt hätten.4
Wenn Sulzer über Sprache und ihre Rolle im Erkenntnisprozess reflektiert, dann geht es ihm nie nur um die diskursive, sondern immer auch um die intuitive Erkenntnis. Vernunft, so das Credo Sulzers, ist wesentlich sprachlich entstanden und organisiert. Sprache ist nicht ein bloßes Instrument vorgängiger Gedanken, sondern – um mit Herder zu sprechen – ein »Organon unsrer Vernunft«.5 Sie ist das »allgemeine Instrument« der Wissenschaften und Künste: Derowegen hängt ein grosser Theil der Vollkommenheit der Wissenschaften[, der Beredsamkeit und Dichtkunst], von der Vollkommenheit der Sprachen ab, und es ließe sich beweisen, daß die Vernunft und Erkenntnis einer Nation allemal in einer sehr genauen Verbindung mit ihrer Sprache stehen.6
Reichere, vollkommenere Sprachen verfügten über größere Analytizität als eine minder reiche, was unmittelbar dem Vernunftgebrauche entgegenkomme: »[D]ie Rede [ist] in Absicht auf die Vernunft und die Kenntnisse überhaupt eben das [...], was die Analyse in Absicht auf die Mathematik ist.«7 Wie vor ihm schon Wolff und Condillac betont Sulzer damit die analytische Funktion (méthode analytique) von Sprachzeichen zur distinktiven Ansprache von Wahrnehmungsinhalten, die auf diese Weise allererst Gegenstände der Begriffsbildung werden können.8 Darüber hinaus ist die Sprache das Vermittlungsglied, das die unterschiedlichen Vermögen eint und somit allererst den ›ganzen Menschen‹ ermöglicht. Sie kompensiert das Fehlen eines »Mittelsinn[es] zwischen dem Gesichte [Auge] und den innern Vorstellungen«, den die Natur nicht vorgesehen habe, weil das Auge »in vielen Stüken so nahe an das blos Geistige (intellektuelle)« grenze. Dafür habe der Mensch
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Johann Georg Sulzer: Art. Sprache. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 2), Bd. 3, S. 1100–1102, hier S. 1100. So Herder, der Immanuel Kant vorwirft, die Rolle der Sprache im Erkenntnisprozess »übersehen« zu haben (Johann Gottfried Herder: Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Erster Theil. In: ders.: Sämmtliche Werke. 33 Bde. Hg. von Bernhard Suphan. Berlin 1877–1887, Bd. 21, S. 1–190, hier S. 19f.). Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wißenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worin jeder nach seinem Inhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. Zweyte ganz veränderte und sehr vermehrte Auflage. Leipzig 1759. Andernorts schreibt er: »Die genaue und gründliche Erkenntniß von jeder Sache hängt also großentheils von dem Reichthume der Sprache ab, in welcher man denket. Der Grad des Umfanges, der Deutlichkeit und der Richtigkeit unsrer Kenntnisse ist allemal dem Grade, in welchem wir sie andern mitzutheilen wissen, gleich. Wer sich aus Mangel von Wörtern und Ausdrücken nicht deutlich und richtig zu erklären weiß, der denket auch nicht deutlich und richtig.« (Ders.: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß [s. Anm. 1], S. 184). »Wörter erfinden [heißt] eben so viel [...], als diese Kenntnisse und ihre Gewißheit befördern.« (Ebd., S. 186.) Ebd., S. 187. Vgl. Ulrich Ricken: Sprachtheoretische Positionen und Entwicklungen in der deutschen Aufklärung. In: ders. (Hg.): Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Aufklärung. Zur Geschichte der Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts und ihrer europäischen Rezeption nach der Französischen Revolution. Berlin 1990, S. 248.
Denken – Sprechen – Handeln
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sich noch ein weit reichendes Mittel erdacht, in jeden Winkel der Seele hineinzudringen. Es hat Begriffe und Gedanken, die nichts körperliches haben, in Formen gebildet, die sich durch die Sinnen durchschleichen, um wieder in andre Seelen zu dringen.9
Sulzer fasst ›Sprache‹ als ein syn- und diachron dimensioniertes dynamisches Ausdrucks- und Zeichensystem auf, das er im Anschluss an das newtonsche Forschungsprogramm des Dynamismus zu erschließen und für seine Ästhetik fruchtbar zu machen sucht. Danach sind erstens die den Erscheinungen als Ursachen zugrunde liegenden Kräfte namhaft zu machen und dann in einem zweiten Schritt die Erscheinungen in Umkehrung und als Probe des Vorangegangenen unter Zugrundelegung der Gesetzmäßigkeiten zu deduzieren. Auf diese Weise hofft er, die Verfahren der Kunstproduktion und -rezeption angemessen beschreiben zu können. Dem dynamisierten Sprachbegriff korreliert ein dynamisch aufgefasster Erkenntnisprozess, der sowohl intuitiv als auch diskursiv verfährt und beide Erkenntnisarten in wechselseitiger Abhängigkeit sieht. Das spiegelt sich unmittelbar in seiner Gliederung der schönen Künste wider, die er entsprechend ihren jeweiligen spezifischen Möglichkeiten, intuitiver Erkenntnis vorzuarbeiten, klassifiziert. Entscheidend hierfür ist der den Werken der jeweiligen Künste objektiv mögliche energetische Gehalt, der anzeigt, in welchem Umfang das konkrete Werk intuitive Erkenntnis ermöglicht. Sulzers anthropologische, psychologische und erkenntnistheoretische Interessen sind in erster Linie kunsttheoretisch motiviert. Im Zentrum steht für ihn die Ästhetiktheorie, die Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Sulzer knüpft mit seiner Allgemeinen Theorie an die leibniz-wolffsche Philosophie, insbesondere an Leibniz’ dynamische Weltauffassung, an. Er versucht die Psychologie der Seelenvermögen weiterzuentwickeln und setzt sich in der Folge vehement für die Aufwertung der sogenannten unteren Vermögen ein, nicht so sehr aus anthropologischen, denn aus ästhetischen Gründen. Mithilfe der reformulierten wolffschen Psychologie vermag er es, die Ästhetik als Kunsttheorie weiter auszubauen. Darin geht Sulzer zumeist induktiv vor: Er registriert zunächst einzelne Fälle und befragt sie anschließend nach ihrem Zustandekommen, sucht ihre Kräfte zu ermitteln, um so den seelischen Tatsachen rekonstruktiv Herr zu werden und dem Künstler eine Handreichung geben zu können, wie dieser planvoll Kunstwerke hohen ästhetischen Werts schaffen kann. Im Rahmen der Philosophie und Ästhetik Sulzers kommt dem Kraftbegriff die Funktion zu, Transsubjektivität zu sichern: Als eine Art Fernwirkungskraft (actio in distans) indiziert und mobilisiert er seelische Handlungsgspotentiale beim Rezipienten, so dass die Hervorbringung eines Kunstwerkes gleichsam als ein Akt der ästhetischen Transformierung und Involvierung des ›Schönen – Wahren – Guten‹, die Rezeption desselben als Prozess seiner Explikation und wirksamen Entfaltung aufgefasst werden kann: Der Lehrer,10 welcher den Charakter einer inneren Überzeugung, einer auf sein eigenes Herz würkenden Kraft der Wahrheit in seiner Schreibart empfinden läßt, kann sicher seyn, nicht blos den spekulativen Verstand zu überzeugen, sondern die Wahrheit auch würksam zu machen.11
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Sulzer: Art. Künste; Schöne Künste (s. Anm. 2), S. 624. In der Bestimmung des Poeten folgt Sulzer Bodmer: »Sie haben mir angewöhnt, die Poeten als die Lehrer und Propheten der Menschen anzusehen. [...] Es liegt dem Philosophen ob, die Wahrheit an den Tag zu bringen, den Dichtern aber, sie auszubreiten, und wirksam zu machen.« (Johann Georg
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Hans-Peter Nowitzki
Unverkennbar orientiert er sich mit dieser Auffassung – von Bodmer und Breitinger vermittelt12 – an Leibniz’ Monadologie: Der Sprache wird ein energetischer Gehalt zugesprochen, der aus einer Vielzahl den Wörtern eignenden individuellen Kraftzentren resultiert. Das jeweilige Energieniveau eines Gedanken muss sich demzufolge in der dieses ausdrückenden sprachlichen Architektonik wiederfinden.13 Dann erst wird die Ausdrucksqualität der Sprache optimal ausgenutzt sein und der Dichter sein Möglichstes getan haben, um dem Wort die gewünschte Resonanz beim Publikum zu sichern. Die im Kunstwerk zum Ausdruck gebrachten Gedanken werden von Sulzer als Kraftzentren, als quasimonadologische Gebilde aufgefasst, in denen sich die Gedankenwelt des Dichters spiegelt.14 Den Werken ist es aufgegeben, ›Kraftfelder‹ auszubilden. Auf diese Weise, hofft Sulzer, könne dann die den Werken ›eingeschriebene‹ Kraft als Träger der ihnen vom Künstler zugedachten Intentionalität eine entsprechende Wirkung beim Rezipienten hervorrufen. Es geht also darum, wie es dem auf Wirkung bedachten Künstler gelingen kann, seinem Werk auch die intendierte Rezeption zu sichern. Deshalb sieht Sulzer, der Kunst stets als etwas auf Wirkung Zielendes versteht, das Kunstwerk grundsätzlich kommunikativ situiert, insofern es bei der Werkproduktion und -rezeption um den Austausch wirkungsbezogener Intentionen geht, also darum, dass (1) der Rezipient eine bestimmte Reaktion zeigt, (2) die Produzentenintention erkennt und (3) diese als Produzentenintention akzeptiert und dementsprechend handelt.15
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Sulzer an Johann Jakob Bodmer [November 1755]. In: Briefe deutscher Gelehrten. Aus Gleims litterarischem Nachlasse. Hg. von Wilhelm Körte. Zürich 1804, S. 251–256, hier S. 254.) Johann Georg Sulzer: Art. Schreibart; Styl. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 2), S. 1047–1055, hier S. 1050. Systematisiert finden sich die Einsichten beider, Bodmers und Breitingers, in des letzteren Critischen Dichtkunst von 1740. Vor allem im 2. Band wird der Sprache in dichtungstheoretischer Hinsicht großes Augenmerk zuteil. Während der erste Teil sich der »Poetische[n] Mahlerey In Absicht auf die Erfindung« widmet, gilt der zweite der »Poetische[n] Mahlerey In Absicht auf den Ausdruck und die Farben«. In diesem wird vor allem auf die Verbesserung der Ausdrucksqualität gesehen. Nicht von ungefähr also bemüht Breitinger hierfür als Maß den Begriff der ›Kraft‹ (vgl. den 2. Abschnitt des 2. Teils von Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst, worinnen die poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung im Grunde untersuchet und mit Beyspielen aus den berühmtesten Alten und Neuern erläutert wird. Zürich 1740, S. 42–90); auf diese müsse der Dichter sehen, diese gelte es zu vergrößern. Der Nachdruck des Sprachlichen kulminiert im sogenannten ›Machtwort‹. Diese Gedanken deuten gleichsam auf Wilhelm von Humboldts Sprachauffassung voraus: »Sie [die Sprache] ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia).« (Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hg. von Andreas Flitner, Klaus Geil. Darmstadt 92002, Bd. 3 [Schriften zur Sprachphilosophie], S. 368–756, hier S. 418.) Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Discours de métaphysique. In: ders. Monadologie und andere metaphysische Schriften. Franz.-Dt. Hg., übers., mit Einl., Anm. und Reg. vers. von Ulrich Johannes Schneider. Hamburg 2002, S. 2–109, hier S. 31ff. (§ 14), und ders.: Monadologie (1714). In: ebd., S. 110–150, § 56. Vgl. H. Paul Grice: Intendieren, Meinen, Bedeuten. In: Georg Meggle (Hg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt a. M. 1993, S. 2–15, spez. S. 9–12. Analog äußert sich Sulzer beispielsweise in seinen Gedanken über den Ursprung und die verschiedenen Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste (1757): »Der Künstler heftet [...] seine Aufmerksamkeit immer auf die Wirkung, welche [ein] angenehme[s] Phänomen in seiner Seele herfürbringt. Er denkt auf nichts anders, als es wohl zu schmecken, und auf Mittel, in der Seele des andern eben diese angenehme Empfindung und Vergnügen, welche seine Seele erfüllet, zu erzeugen.« (Zitiert nach Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen. 2 Bde. Zürich, Winterthur 1779, Bd. 1, S. 228–260, hier S. 247f.) Das Wesen der schönen Künste bestehe darin, »daß sie den Ge-
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Auf eine solche kommunikative Struktur hat es Sulzer abgesehen, darauf baut seine Allgemeine Theorie der Schönen Künste auf. Den Bedingungen der Möglichkeit derart gelingender Kommunikation ist eine Vielzahl von Artikeln in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste verpflichtet. Dahinter steht die Einsicht, dass der Dichter des geschmackvollen Lesers bedarf und dessen Geschmackskompetenzen wiederum immerwährende Verbesserung nötig haben: »[D]ie Betrachtung des Schönen, von welcher Art es immer seyn mag, [gewöhnt uns] an eine gewisse Denkungsart, die die Grundlage unsers Geschmackes ist.«16 Im Folgenden wird versucht, Sulzers wirkungsästhetische Ansichten historisch und systematisch zu rekonstruieren. Es wird zunächst zu zeigen sein, dass die in den fünfziger und sechziger Jahren von Sulzer an der Berliner Akademie gehaltenen philosophischen Vorträge nicht unwesentliche Vorarbeiten für die seit Anfang der fünfziger Jahre von ihm erarbeitete Allgemeine Theorie der Schönen Künste sind (2).17 Bereits die ersten vier Vorträge von 1751/52, die sich der Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen widmen, behandeln grundlegende Fragen der Ästhetiktheorie (3).18 In der von ihm 1755 herausgegebenen, bevorworteten und umfänglich annotierten Übersetzung der Philosophischen Versuche über die Menschliche Erkenntniß sowie in der zweiten Auflage des Kurzen Begriffs aller Wißenschaften von 1759 skizziert er sein popularphilosophisches Aufklärungsprogramm, dessen Grundlage die Komplementarität von Ästhetik und Wissenschaft19 ist (4). Mit seinen Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache, und der Sprache in die Vernunft von 1767 fundiert Sulzer seine Allgemeine Theorie der Schönen Künste semiotisch (5). Die semiotische Grundlegung der Ästhetik wird ergänzt durch eine dynamische Sprachauffassung, die er sich bereits 1766, in seinem Vortrag Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste, erarbeitet hat (6).
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genständen unsrer Vorstellung sinnliche Kraft einprägen; ihr Zwek ist lebhafte Rührung der Gemüther, und in ihrer Anwendung haben sie die Erhöhung des Geistes und Herzens zum Augenmerke«. (Sulzer: Art. Künste; Schöne Künste [s. Anm. 2], S. 611.) Johann Georg Sulzer: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. In: VS 1, S. 45, vgl. auch S. 40. Vgl. Fritz Rose: Johann Georg Sulzer als Ästhetiker und sein Verhältnis zu der ästhetischen Theorie und Kritik der Schweizer. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychologie und Ästhetik. In: Archiv für die gesamte Psychologie 10 (1907), S. 197–263, hier S. 201f. Das war bereits den Zeitgenossen bewusst: »[H]ier legte er den Grundstein seiner Metaphysik der schönen Künsten.« (Hirzel an Gleim (s. Anm. 15), Bd. 2, S. 179.) Sulzer schreibt, dass die wahre Theorie der schönen Künste sich aus der Auflösung einer ›psychologischen und politischen Aufgabe‹ ergebe: »Wie ist es anzufangen, daß der dem Menschen angebohrne Hang zur Sinnlichkeit, zu Erhöhung seiner Sinnesart angewendet, und in besondern Fällen als ein Mittel gebraucht werde, ihn unwiderstehlich zu seiner Pflicht zu reizen?« Hierfür müsse man auf die Theorie der Sinnlichkeit, »der schwerste Theil der Philosophie«, rekurrieren. Sie sei die Wissenschaft, »wodurch der Philosophie der Weg zur völligen Herrschaft über den Menschen gezeiget wird«. In der Anmerkung über den gegenseitigen Einfluß verweist er dann auf seine Arbeit (vgl. Sulzer: Art. Künste; Schöne Künste [s. Anm. 2], S. 622–623, 625). »Sie [die schönen Künste und die Wissenschaften] sind zwey Schwestern, welche einander wechselweise verschönern.« (Sulzer: Gedanken über den Ursprung [s. Anm. 15], S. 259.)
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2. Genese und Bedeutung der Vermischten philosophischen Schriften Die den ästhetischen Produktions- und Rezeptionsprozessen unterliegende Sprach- und Kommunikationsstruktur bildet die Grundlage der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste. ›Sprache‹, von Sulzer als sozialitätstiftendes, -stabilisierendes und -dynamisierendes Phänomen aufgefasst, umfasst dabei das gesamte künstlerische Ausdruckspotential, wie es in der Poesie, der Beredsamkeit, in der Musik, im Tanz, in der Malerei und in der Baukunst zur Anwendung kommt, also das gesamte Spektrum menschlicher Ausdrucksweisen in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen und materiellen Manifestationen, verbaler wie nonverbaler. Darauf aufbauend gilt Sulzers Interesse der theoretischen Durchdringung des Prozesses eines planvollen Aufbaues und nachfolgender Freisetzung von den Künsten inhärierenden Erkenntnis- und Aktivierungspotentialen. Das zeigt sich bereits in seiner ersten Akademieabhandlung von 1751/52 und reicht bis zur Allgemeinen Theorie der Schönen Künste von 1771/1774. Es ist kein Zufall, dass in der Zeit zwischen dem Erscheinen der beiden Quartbände von Sulzer eine Sammlung seiner Vermischten Philosophischen Schriften (1773) vorgelegt wurde. Neben dem von ihm unter dem Titel Die Schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung betrachtet (1772)20 separat veröffentlichten Vorabdruck des Wörterbuchartikels Künste; Schöne Künste war es jenen philosophischen Arbeiten aufgetragen, der öffentlich laut gewordenen Kritik, wonach eine alphabetisch lemmatisierte Darstellung21 einer allgemeinen Theorie der schönen Künste
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Im »Berlin den 25. Januar 1772« datierten Vorbericht der Schrift heißt es: »Als im verwichenen Herbst der erste Theil meiner allgemeinen Theorie der Schönen Künste ans Licht trat, äußerten verschiedene meiner Freunde einige Verlegenheit darüber, daß das Zurückbleiben des zweyten Theils, sie außer Stand setzte, alle Grundsätze, worauf diese Theorie gebaut ist, zu richtiger Beurtheilung der im ersten Theil vorgetragenen Lehren, vor Augen zu haben. Der erste Theil enthält viel Dinge, zu deren völliger Aufklärung ich mich auf Sätze berufen mußte, die nach der Einrichtung des Werks, erst in dem zweyten Theile vorkommen können. Um dieser Unbequemlichkeit einigermaßen abzuhelfen, schien es mir nicht unschicklich zu seyn, aus dem künftigen zweyten Theile, den Artikel, darinn die Natur der schönen Künste überhaupt entwickelt wird, besonders heraus zu geben, weil die Grundsätze, worauf meine ganze Theorie gebaut ist, darinn enthalten sind, oder ohne Mühe daraus können hergeleitet werden.« (Johann Georg Sulzer: Die Schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung betrachtet. Leipzig 1772, S. 3f.) Allem Anschein nach basiert die Abhandlung auf den am 27. Januar 1757 und am 1. Juni 1758 in der Berliner Akademie gehaltenen Vorträgen Des Pensées sur l’origine des Beaux Arts et sur ce qui les distingue des Sciences und Sur le caractère et sur le principe général des Beaux Arts (vgl. Die Registres der Berliner Akademie der Wissenschaften 1746–1766. Dokumente für das Wirken Leonhard Eulers in Berlin. Zum 250. Geburtstag. Hg. in Verb. mit Maria Winter, eingel. von Eduard Winter. Berlin 1957, S. 229 u. S. 240, sowie Hirzel an Gleim [s. Anm. 15], Bd. 1, S. 225–260). Unmittelbar nach seinem ersten Vortrag scheint er diesen mit Gleim und Ramler diskutiert zu haben (vgl. Gleim an Ramler (Halberstadt, 27. Februar 1757). In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler. Hg. von Carl Schüddekopf. Tübingen 1907, Bd. 2 [1753–1759], S. 283). Sulzer entschied sich für die lemmatische und gegen die systematische Darstellung, weil er damit den Kennern und Liebhabern der Künste in der von ihnen gewöhnlich praktizierten »analytisch[induktiv]en Methode« des Lernens entgegenkommen wollte (vgl. Briefe, die neueste Litteratur betreffend. Beschluß des 78. Briefes (24. Januar 1760), S. 51–54). Diese Entscheidung wurde von den Zeitgenossen kontrovers diskutiert; vgl. u.a. Carsten Zelle: Nicolais ›Allgemeine deutsche Bibliothek‹ und ihre Bedeutung für das Kommunikationssystem der Spätaufklärung (am Beispiel von Sulzers ›Allgemeiner Theorie der schönen Künste‹).
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nur schwer und ungenügend einsehbar sei, zu begegnen. Mit der Publikation seiner im Laufe von 20 Jahren gehaltenen philosophischen Akademievorträge, die im Kern immer der Konzipierung jener zum Wörterbuch geronnenen Theorie galten, versuchte er die kritischen Bedenken zu zerstreuen. Sie wird eröffnet von der fast allen nachfolgenden Arbeiten zugrunde liegenden Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen aus den Jahren 1751/5222 und schließt mit dem 1756 gehaltenen Vortrag Versuch, einen festen Grundsatz zu finden, um die Pflichten der Sittenlehre und des Naturrechts von einander zu unterscheiden. Sulzer wählte eine sachliche Anordnung und suspendierte die chronologische. Zeitlich gesehen umfasst die Sammlung Vorträge der Jahre 1751/52 bis 1771, führt also bis unmittelbar an das Erscheinungsdatum des ersten Bandes der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste heran.23 Die Sammlung ist eine Antwort auf die Ankündigung eines Ungenannten, die Allgemeine Theorie der Schönen Künste »verbessern« zu wollen. Sulzer begründet die Herausgabe der Akademieabhandlungen darüber hinaus mit dem im vergangenen Jahr von Christian Garve an ihn herangetragenen Wunsch, er möchte doch dem Publikum die ursprünglich französisch abgefassten Arbeiten in deutscher Übersetzung vorlegen. Dieser wolle die Gelegenheit dann nutzen, »Anmerkungen über zweifelhafte, und unvollständige, oder wohl gar von mir nicht genug durchgedachte Stellen, die er da-rinn finden würde, zu begleiten«.24 Garve, den der 53jährige Sulzer dem Verleger Philipp Erasmus Reich als Vollender seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste vorgeschlagen hatte, falls er selbst nicht mehr dazu käme,25 erkrankte inzwischen jedoch selbst so schwer, dass er Leipzig verlassen
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In: Knut Kiesant, Hans-Gert Roloff, Stefanie Stockhorst (Hg.): Friedrich Nicolai (1733–1811). Berlin 2011, S. 29–51. Vgl. Registres (s. Anm. 20), S. 160 (11. März 1751: »Mr Sulzer a lu Recherches sur l’origine des sentimens agréables et desagréables de l’Âme«); S. 162 (13. Mai 1751: »Mr Sulzer a lu la seconde Partie de ses Recherches Sur les sentimens agréables et desagréables«); S. 163 (27. Mai 1751: »Et Mr Sulzer a terminé la séance, en lisant des Recherches Sur les plaisirs des sens«); S. 182 (29. Juni 1752: »Mr Sulzer a lu la quatrieme Partie de ses Recherches sur les sentimens agréable«). Sie erschienen 1753 und 1754 in der Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres. Année MDCCLI, p. 57–100 (I/II) und Année MDCCLII, p. 350–390 (III/IV), sowie separat s. l. 1767. Die deutsche Übersetzung erschien 1762 bei Nicolai in Berlin als Separatdruck und in der von Nicolai herausgegebenen Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 5.1 (1762), S. 5–136. (Sie enthält 17 Zusätze und Richtigstellungen Sulzers zur ersten Ausgabe.) 1773 eröffnet die Untersuchung Sulzers Vermischte philosophische Schriften (vgl. VS 1, S. 1–98). Zu den Recherches vgl. u.a. Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: HansJürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart, Weimar 1994, S. 410–439 und Èlisabeth Décultot: Von der Seelenkunst zur Kunsttheorie. Zu Sulzers »Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1751/52)«. In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 69–88. Darauf weist Sulzer mit seinen beiden, den Abhandlungen voranstehenden Inhaltsverzeichnissen ausdrücklich hin (1. Verzeichniß der in diesem Bande enthaltenen Abhandlungen. 2. Verzeichniß eben dieser Abhandlungen, nach der Zeitordnung, in welcher sie in den Jahrbüchern der Berlinischen Akademie erschienen sind). In letzterem sind den Abhandlungen die jeweiligen Publikationsjahre nachgestellt worden. Sulzer: [Vorrede]. In: VS 1, Bl. 2r–3v, hier Bl. 2r. Vgl. Sulzer an Johann Jakob Bodmer (Berlin, 11. Mai 1773). In: Josephine Zehnder (Hg.): Pestalozzi. Idee und Macht der menschlichen Entwickelung. Erster Band: Zeit und Vorzeit von Pestalozzi‘s Entwickelung. Gotha 1875, S. 439. Sulzer lernte Christian Garve persönlich 1772 auf seiner Rückreise von Dresden nach Berlin in Leipzig kennen und schätzen. Während seines Leipziger Aufenthaltes ließ er auch den Artikel Schöne
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musste, ohne sein Versprechen zuvor einlösen zu können26. Dennoch habe er sich, so Sulzer weiter, entschlossen, die Sammlung zu veranstalten, im Bewusstsein, dass auch diese wie die Allgemeine Theorie der Schönen Künste mangelhaft und verbesserungswürdig sei: Dieses ist eben der wahre Weg, die Wissenschaften immer mehr zur Vollkommenheit zu bringen, wenn man auf das vorhandene fortbauet, und das, was in dem bereits entdeckten nicht vollständig, oder nicht richtig genug ist, ergänzet und berichtiget.27
Einen gewichtigen Stellenwert räumt er, mustert man die in dem Band versammelten Aufsätze, auch der Sprache im Allgemeinen ein, besonders ihren spezifischen Ausformungen in Wissenschaft und Dichtung. Letztere sind erkenntnistheoretisch und anthropologisch bedingt und bereits Gegenstand seiner ersten Akademievorträge Anfang der 50er Jahre.
3. Sinnliche und intellektuellen Vergnügen – Sulzers Untersuchung über den Ursprung der Empfindungen Sein Erstling, die Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen von 1751/52, behandelt die »berühmteste und wichtigste von allen philosophischen Fragen [...], welche die Mittel glücklich zu werden betrifft«.28 Die Untersuchung gliedert sich in vier Abschnitte: I. Allgemeine Theorie des Vergnügens. II. Theorie der intellektuellen Vergnügungen. III. Von den Vergnügungen der Sinne. IV. Von den moralischen Vergnügungen.29 Das Vergnügen, welcher Art auch immer, verdanke sich einer Grundkraft, »so wie in der körperlichen Natur aus einer einzigen sehr einfachen Kraft eine Menge sehr verschiedener Erscheinungen entsteht«.30 Die unterschiedlichen Seelenkräfte sollten deshalb auch nicht zu quasieigenständigen hypostasiert werden. Wie Wolff betont er stets die Einheit der Seele und ihrer sich mannigfaltig äußernden Grundkraft, der Vorstellungskraft (vis repraesentativa). Ihre Tätigkeit bestehe darin, Vorstellungen aufzunehmen, zu generieren, zu überdenken und zu vergleichen, kurz: zu denken. Die Hervorbringung obliegt der Seelenkraftmodifikation ›Einbildungskraft‹; Reflexion und Komparation sind Sache der Seelenkraftmodifikation ›Vernunft‹. Denken, geistige Beschäftigung, ist danach der Urquell allen Vergnügens. Selbst das sinnlichste Vergnügen
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Künste als Vorabdruck separat erscheinen (vgl. Hirzel an Gleim [s. Anm. 15], Bd. 2, S. 199f. u. S. 209). Bereits 1768 zollte Sulzer Garve als Philosoph Respekt, als der 26jährige Garve und der 21jährige Christoph Meiners das Akzessit auf die Preisfrage ›Über die natürlichen Neigungen‹ zuerkannt bekamen: »Daß in Deutschland noch Philosophen seyen, wird jeder Kenner überzeugend einsehen, wenn die Academie die Schriften herausgeben wird, die dies Jahr ihren philosophischen Preis erhalten, oder nahe an denselben gekommen sind.« (Johann Georg Sulzer an Johann Jakob Bodmer (Berlin, 9. Juli 1768). In: Briefe deutscher Gelehrten [s. Anm. 10], S. 376–378, hier S. 378.) Vgl. Christian Garve an Christian Felix Weiße (Breslau, Sommer 1775). In: Briefe an Christian Felix Weiße und einige andere Freunde. Erster Theil. Hg. von Johann Caspar Friedrich Manso. Breslau 1803, S. 59–63, hier S. 62f. Sulzer: [Vorrede] (s. Anm. 24), Bl. 3r. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 16), S. 3. Zum Folgenden vgl. auch den Beitrag von Werner Euler in diesem Band Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 16), S. 4.
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werde nur dann vergnügen, wenn es gepaart ist mit vorstellendem Denken. Dieses sei das »wahre Salz«.31 Derart verschränkt er Vorstellungs- und Empfindungstheorie. Die Vorstellungskraft als unablässig wirksames Prinzip »erregt allemal, in stärkerm oder in schwächerm Grade, Bewegungen, die mit den Erschütterungen der Leidenschaft übereinkommen«.32 Und sie ist intentional insofern prädisponiert, als sie »die klaren Ideen lieber als die dunklen, und die deutlichen lieber als die bloß klaren hat«.33 Ein Wort der Alltagssprache etwa kann für sich genommen nur klar, nicht aber deutlich sein.34 Deutlich wäre es erst dann, wenn es sämtliche distinktive Merkmale des Begriffes respektive Gegenstandes ausdrückte, so dass das Wort einen ›vollständigen Begriff‹ (notio completa) darstellte. Ein solcher ist äquivalent mit der Aufzählung aller Merkmale des bezeichneten Gegenstandes.35 Vollendetes Verstehen, also Deutlichkeit, wäre demzufolge erst dann gegeben, wenn durch die Wörter sämtliche Merkmale versammelt sind, die jenen Begriff vollständig erfüllen – ein bei nichtabstrakten Gegenständen letztlich infinitesimales Unterfangen. Jedes Wort aber, das ein Merkmal klar bezeichnet, ist zumindest ein Schritt auf dem Weg zur Deutlichkeit.36 Denn durch die Wörter werden die Gegenstände (Begriffe/Gedanken/Vorstellungen) sukzessive expliziert. 31 32
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Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Vgl. auch S. 53–56, wo Sulzer auf die verschiedenen commercium-Modelle zu sprechen kommt und sich eine Entscheidung für oder wider eines der Systeme versagt. Dabei bespricht er einlässlich das krügersche Empfindungsgesetz (zum krügerschen Gesetz vgl. Wolfgang Proß: »Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten«. Johann Georg Sulzer (1720–1779). In: Hellmut Thomke, Martin Bircher, Wolfgang Proß [Hg.]: Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770–1830. Amsterdam 1994, S. 133–148 und HansPeter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003, S. 57ff.) Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 16), S. 10. Ist eine Erkenntnis ›klar‹ und ›undeutlich‹, dann ist sie im leibnizschen Verständnis ›verworren‹. Oberstes Ziel der diskursiven Erkenntnis ist Klarheit und Deutlichkeit (clara et distincta idea; repraesentationes distinctae). Die intuitive Erkenntnis zielt auf Klarheit mit gleichzeitiger Billigung ihrer Undeutlichkeit (repraesentationes confusae). Deutliches Erkennen obliegt dem oberen, klares dem unteren Erkenntnisvermögen. Bei Sulzer heißt es: Eine Idee, über die nicht nachgedacht wurde, bleibt verworren, »das heißt, man unterscheidet nichts darinnen, ob sie gleich aus Theilen, die man sich besonders vorstellen kann, zusammengesetzt ist« (Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß [s. Anm. 1], S. 169). Ein ›vollständiger Begriff‹ (notio completa) bezeichnet Leibniz zufolge eine Monade. Die Unendlichkeit der Merkmale, die eine Monade in ihrer Individualität kennzeichnet, bedingt die Unanalysierbarkeit des ›vollständigen Begriffs‹ (mit Ausnahme von ›vollständigen Begriffen‹ abstrakter Gegenstände, sogenannte notio plena). Wolff zufolge ist keine Vollständigkeit für Deutlichkeit erforderlich. Es genügt, dass der Begriff genügend Merkmale angibt, so daß der Gegenstand stets sicher zu erkennen und von anderen zu unterscheiden ist (Christian Wolff: Philosophia rationalis sive Logica. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Hildesheim, New York 1962ff., Abt. 2, Bd. 1, § 92). Sulzer schreibt dazu: »Wie nun die völlige Gewißheit aus vollständigen und deutlichen Begriffen durch richtige Urtheile und Schlüsse entsteht, so entsteht die Unzweifelhaftigkeit und die Wahrscheinlichkeit aus Begriffen, die zum Theil unvollständig, zum Theil nicht völlig deutlich sind, und gründet sich auf Schlüsse, denen noch etwas an der lezten Vollkommenheit fehlet.« (Sulzer: Kurzer Begriff [s. Anm. 6], S. 145.) Bei Wolff heißt es: »Da ein klarer, ob gleich undeutlicher Begriff zureichet die Sache zu erkennen, wenn sie vorkommet und sie mit ihrem Nahmen zu nennen (§. 9. c. I. Log. & §. 333. Met.); dieses aber uns Anlaß geben kan zu untersuchen, woraus wir sie erkennen und was uns beweget ihr diesen Nahmen zu geben, das ist, zu einem deutlichen Begriffe (§. 15. c. I. Log.) und der eigentlichen Bedeutung des Nahmens zu gelangen (§. 277.); so sind die klaren, aber undeutlichen Begriffe ein Anfang
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Mit der intentionalen Bestimmtheit ist zugleich die prinzipielle Höherwertigkeit des Intellekts im Vergleich zum Sinnlichen gegeben.37 Diese Gerichtetheit ist der Vorstellungskraft ›instinktiv‹ eigen.38 Die Vorstellungskraft ist der Ursprung allen Miss- und Vergnügens, das graduell gestuft unterschiedliche Benennungen führt; so das Vergnügen in aufsteigender Reihe ›Behaglichkeit, Annehmlichkeit, Vergnügen, Freude, Entzücken‹ und das Missvergnügen ›Zwang, Mißvergnügen, Verdruß, Schmerz, Marter‹.39 Vergnügt ist die Seele immer dann, wenn sich das, was sie denkt, »mit Klarheit darstellt, und ihren Geschmack vergnügt«.40 Damit ist im Sinne der von Sulzer beliehenen common-sense-Philosophie und der ihr eigentümlichen intuitionistischen Position41 eine trichotomische Struktur gegeben: Verstand (Intellekt), Sinnlichkeit und Herz (Moral),42 wie sie sich in der Abschnittsgliederung der Abhandlung widerspiegelt: Auch die Mittlerstellung zwischen Intellekt und Moral ist darin ausgedrückt. Indes gibt es bei der vorausgesetzten prinzipiellen Gleichartigkeit der Seelen43 Unterschiede hinsichtlich dessen, was die einen und die anderen jeweils begehren und verabscheuen. Diese sieht Sulzer in der Milieuabhängigkeit begründet:44 »Die Umstände, worin wir uns in dem Laufe unsers Lebens befinden, geben gleichsam dieser noch unbestimmten Kraft der Seele Richtung.«45 Die Seele kann durch die Umstände in zweierlei Hinsicht profitieren oder einbüßen: (a) hinsichtlich der Denkfertigkeit und (b) hinsichtlich der Lebhaftigkeit des Geistes. Während die eine die Seele qualitativ dimensioniert, charakterisiert die andere sie quantitativ. Beide Faktoren bestimmen die ›Empfindlichkeit‹. Die intellektuelle Kraft der Seele, so Sulzer, müsse in Wirksamkeit versetzt werden, und zwar in positivem Sinne. Das evoziere angenehme Empfindungen. Das Gegenteil zeitige unangenehme Empfindungen. Verspricht der Gegenstand der Seele keine Wirksamkeit, bleibe sie gleichgültig. Nur dann, wenn sie an einem Gegenstand ›Geschmack‹ finde, zeige sie sich ›ge-
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zum Verständniß. Derowegen ob man zwar bey ihnen nicht verbleiben muß (§. 268.); so kan man doch zu erst nur klare aber undeutliche Begriffe suchen, biß man nach und nach der deutlichen gewohnet.« (Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet [...]. Die vierdte Auflage hin und wieder vermehret. Franckfurt und Leipzig 1733 [ND 1976], S. 180, § 282.) »Dieß beweist offenbar, daß die intellektuellen Vergnügungen stärker und lebhafter seyn können, als die Vergnügungen jeder andern Gattung.« (Sulzer: Untersuchung über den Ursprung [s. Anm. 16], S. 15, Anm.) Ebd., S. 37f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 15. Danach ist die Idee respektive Vorstellung eine auf Empfindungen beruhende unmittelbare Erkenntnis. Im Rahmen der Intuition wird zunächst entdeckt (Evidenzkriterium der Wahrheit), was danach argumentationslogisch beschrieben und begründet wird (Diskursivitätskriterium der Wahrheit). Die Metaphorizität ist hierfür die Schnittstelle beider Erkenntnisweisen. »Der Geschmack für das Sinnliche, der Geschmack für das Schöne, die Empfindung für das Gute sind also gleichsam Zwillingsneigungen, die von einerley Ursache herrühren; es sind die drey Grazien, die von Einer Mutter gebohren sind.« (Sulzer: Untersuchungen für den Ursprung [s . Anm. 16], S. 91.) Ebd., S. 9. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. »Erziehung, Gewohnheit, besondre Gemüthsfassung, tausend kleine Umstände lassen uns Vergnügen oder Mißvergnügen an Dingen finden, die es andern Menschen, unter andern Umständen und in einer andern Gemüthsfassung nicht geben. Dieß ist die vornehmste Ursache der Verschiedenheit im Geschmack.« (Ebd., S. 20.)
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rührt‹. Der darin zum Ausdruck kommende antistoische Impetus ist zeitgenössisches Gemeingut.46 Betrachtet man die drei Seelenkraftmodifikationen Sinnlichkeit, Herz und Verstand entsprechend ihrer ›Nähe‹ zum Wesentlichen der Seele, zu ihrer Vorstellungskraft, so ist einzig der Verstand unmittelbar zu ihr, die beiden anderen aber nur mittelbar. Am fernsten ist ihr die Sinnlichkeit.47 Unter den unterschiedlichen Sinnen sind wiederum nur zwei, die der Seele klare, also schöne Ideen präsentieren können: das Auge und das Ohr. Geruch, Geschmack (i. e. S.) und Getast »erwecken nur verwirrte Ideen, die zwar angenehm seyn können, aber nicht mehr zum Schönen gehören«.48 Auge und Ohr sind diejenigen Organe der Sinnlichkeit, die dem Verstand mittelbar Schönes präsentieren können. Die diese Sinne ansprechenden Künste sind die Malerei, die Baukunst und die Musik. Nächstdem kommt Sulzer auf die Einbildungskraft zu sprechen – das ›Herz‹ bleibt hier unberücksichtigt – und reklamiert auch für diese nur eine Mittelbarkeit zur Vernunft, weil sie ihre schönen Gegenstände durch die Sinnlichkeit gleichsam ›zugeführt‹ bekommt, die sie dann als Substrat nutzt, bearbeitet und Neues daraus bildet: »Sie ist, so zu reden, ein Supplement der Sinne.«49 Ihr entspräche die Poesie, da sie »die besondere Sprache [sei], die zur Einbildungskraft redet«.50 Unmittelbar zur Seelenkraft steht der Verstand. Seine der Seele von ihm zu präsentierenden schönen Gegenstände sind »deutliche Begriffe«, die er allein aus sich heraus schaffe. Mit ihnen präsentiere sich im Gegensatz zur bisher besprochenen sinnlichen die »intellektuelle Schönheit«.51 Zwar bestünde zwischen beiden ›Schönheiten‹, der sinnlichen und der intellektuellen, ein genetischer Unterschied; im Wesentlichen aber kämen sie überein:52 »Schönheit [ist] die auf Einheit gebrachte Mannichfaltigkeit«,53 so Sulzer. »[J]e 46
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»Der rohe Mensch ist blos grobe Sinnlichkeit, die auf das thierische Leben abzielt; der Mensch, den der Stoiker bilden wollte, aber nie gebildet hat, wäre blos Vernunft, ein blos erkennendes und nie handelndes Wesen; der aber, den die schönen Künste bilden, steht zwischen jenen beyden gerad in der Mitte; seine Sinnlichkeit besteht in einer verfeinerten innern Empfindsamkeit, die den Menschen für das sittliche Leben würksam macht.« (Sulzer: Art. Künste; Schöne Künste [s. Anm. 2], S. 614.) Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 16), S. 24f. Ebd., S. 26. Ebd. Ebd., S. 26f. Ebd., S. 27. Hier setzt Mendelssohns Kritik an: »Rufe die Jahre deiner Jugend zurück! Wenn du damals den Wein im Glase blinken sahest, wenn der holde Blick einer Schönheit deine Aufmerksamkeit auf sich zog; so sehntest du dich, nicht selten, nach beider Genuß. Ohnstreitig sahest du den Genuß für ein Gut an. Allein mit welchem Grunde? In dieser Wollust liegen weder Mannigfaltigkeit der Begriffe, noch Verhältnisse, noch auch Beziehungen auf einen gemeinschaftlichen Endzweck; weder Beschäftigung, noch Leichtigkeit in der Beschäftigung. Wir scherzten über jenem Weltweisen [Sulzer], der auch bey den sinnlichen Ergötzlichkeiten, Mannigfaltigkeit und Einheit der Begriffe finden wollte. Bey dem Schmause sollen die freundschaftlichen Unterredungen, und bey dem Genusse der Liebe, ich weiß nicht welche moralische Schönheiten, der Grund unsres Vergnügens seyn.« (Moses Mendelssohn: Über die Empfindungen [1755]. In: ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. von Otto F. Best. Darmstadt 21986, S. 29–110, hier S. 55f.) Zu den Recherches sur l’origine des sentimens agréables et desagréables de l’Âme, ihren Quellen und Mendelssohns Kritik vgl. u.a. Alexander Altmann: Moses Mendelssohns Frühschriften zur Metaphysik. Tübingen 1969, S. 85–110, 121–123. Sulzer repliziert darauf mit seinen Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet [1763]. In: VS 1, S. 227–246, spez. S. 233– 235.
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mehr ein Gegenstand der Mannichfaltigkeit in der Einheit fähig ist, desto mehr ist er auch der Schönheit fähig.«54 – Werfen wir einen kurzen Blick zurück: Des Menschen Glück liegt in den verschiedenartigsten Vergnügen beschlossen. Diese wurzeln alle in der Seele, die Vergnügen empfindet, wenn sie schöner Gegenstände gewahr wird, die ihren Tätigkeitstrieb reizen. Alle Schönheiten sind wiederum wesentlich eine. Die Wirkung des Schönen verdankt sich dem Zusammenwirken sowohl objektiver als auch subjektiver Faktoren: Sie gründen sowohl in der »Natur der Seele« als auch in der »Natur der Gegenstände«.55 Objektivistisches Vollkommenheitsstreben und subjektivistisches Luststreben gehen Hand in Hand. – Schönheit als Einheit in der Mannigfaltigkeit wird intellektualistisch56 als Einsicht in die Einheit der Mannigfaltigkeit aufgefasst: So oft eine verwirrte Idee deutlich wird, so muß nothwendig [...] die Seele Vergnügen darüber empfinden. Da nun jede Schönheit eine Menge besonderer Ideen in sich schließt, so stellt sie uns so lange vom Ganzen eine verwirrte Idee vor, bis wir die Einheit, durch welche wir die Mannigfaltigkeit entwi53 54 55 56
Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 16), S. 31. Ebd., S. 35. Ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 46. Das provozierte Mendelssohns Widerspruch: »Er hat das auf die Vollkommenheit ziehen wollen, was nur der Schönheit gilt.« (Mendelssohn: Über die Empfindungen [s. Anm. 52], S. 43.) Er setzt dagegen die Behauptung dreier unterschiedlicher Quellen des Vergnügens: »[d]as Einerley im Mannigfaltigen, oder die Schönheit, die Einhelligkeit des Mannigfaltigen, oder die verständliche Vollkommenheit, und endlich der verbesserte Zustand unserer Leibesbeschaffenheit, oder die sinnliche Lust« (ebd., S. 66). Die »himmlische[…] vortrefflichste[…] Vollkommenheit«, die Vernunft, unterscheidet sich von ihrer »sinnlichen Nachahmerinn, der Schönheit« darin, dass sie »lauter Beschäftigung, nirgend Leichtigkeit« ist und »vernünftigen Zusammenhang[es], Übereinstimmung, Einhelligkeit« bedarf (ebd., S. 43f.). »Anschauende Erkenntniß einer ächten Vollkommenheit« gewähre allein die Vernunft (ebd., S. 45). Mendelssohn kritisiert, dass Sulzer, um zu erklären, warum man etwas als angenehm oder unangenehm empfindet, (a) Sinnlichkeit und Rationalität nicht strikt voneinander trenne (wie Baumgarten), indem er ästhetische Vollkommenheit (Schönheit) und metaphysische Vollkommenheit prinzipiell gleichsetzt, und daß er (b) den objektiven Vollkommenheitsbegriff durch subjektive Aspekte anreichere und (c) die ›Leichtfaßlichkeit‹ mit der ›Vollkommenheit‹ identifiziere. (Für den Gedanken der ›Leichtfaßlichkeit‹ hat Sulzer Louis Jean Levesque de Pouillys Théorie des sentiments agréables (1747) beliehen.) ›Leichtfaßlichkeit‹ könne Vergnügen, welches sich beim deutlichen Erkennen einstelle, das zumeist nicht ›leichtfaßlich‹ ist, nicht erklären. Schönheit, die nur aus der Erkenntnis der Einheit, nicht aber auch zugleich des Mannigfaltigen resultiert (klar und undeutlich), sei qualitativ verschieden von der Schönheit, die aus der Erkenntnis der Einheit und des Mannigfaltigen besteht (klar und deutlich). Während Sulzer an einer psychologischen Grundlegung der Ästhetik interessiert ist, sucht Mendelssohn sie metaphysisch zu untermauern und beharrt dabei strikt auf dem Dualismus oberer und unterer Seelenkräfte. Vgl. dazu auch Mendelssohns Entwurfsfragment Von dem Vergnügen und Fritz Bambergers Vorrede zu Moses Mendelssohn. In: Moses Mendelssohn: Schriften zur Philosophie und Ästhetik I. Hg. von Fritz Bamberger. Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 123–131 und S. XXVI–XXXIV. Eine Besprechung von Pouillys Werk in der stark verbesserten Auflage von 1750 findet sich in den von Sulzer und Ramler herausgegebenen Critischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit (Freitag, 4. September 1750, S. 345–349; Freitag, 11. September 1750, S. 354–357; Freitag, 25. September 1750, S. 371–373; Freitag, 2. Oktober 1750, S. 386f.). Er scheint sie aber nicht verfasst zu haben, da er nur bis August 1750 daran mitarbeitete. Pouillys Werk hat Sulzer schon 1748 kennengelernt und Spalding zur Übersetzung empfohlen, der begeistert zusagte: »Sie ist schön, eine Ästhetik und Moral zugleich« (Spalding an Gleim [Tribsees, 18. Juni 1748]. In: Briefe von Herrn Spalding an Herrn Gleim. Frankfurth, Leipzig 1771, S. 39–43, hier S. 41f.). Es blieb aber beim Vorsatz; vgl. Johann Joachim Spalding an Johann Wilhelm Ludwig Gleim (Stralsund, 8. März 1749). In: ebd., S. 49–52, hier S. 52.
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ckeln können, gefunden haben; und alsdann wird die Idee des Ganzen, die bisher nur undeutlich gewesen war, deutlich.57
Damit postuliert Sulzer eine Koinzidenz epistemischen und ästhetischen Zuwachses, was auf sinnfällige Weise in der Rede von der »intellektuellen Schönheit« zum Ausdruck kommt. Die Verschiedenheit der Geschmäcker in Anbetracht intellektueller Schönheit ist danach eine Frage des Intellekts und »findet nur bey Unwissenden und Halbkennern statt«. ›Geschmack‹ ist eine »nothwendige Folge der Erkenntniß und Einsicht«.58 Der dritte, den Vergnügungen der Sinne gewidmete Abschnitt der Abhandlung setzt mit sinnesphysiologischen Betrachtungen ein und läuft auf eine Klassifikation der Sinne hinaus. Das »Wesen der Sinne überhaupt« bestehe im Nervösen. Die Beschaffenheit der den Sinnen zugehörigen Nerven gibt das Einteilungsschema vor, dabei vom feinsten zum gröbsten skalierend. Obenan steht das Auge, ihm folgen das Ohr, der Geruch, Geschmack und schließlich der Tastsinn. Während die feineren Sinne nur schwache Empfindungen zeitigten, brächten die gröberen lebhafte hervor. Diejenigen, welche die schwächsten Eindrücke auf die Seele machen, sind eben die, die sich dem Geistigen am meisten nähern. Die bloß intellektuellen Ideen rühren weit weniger als die sinnlichen Empfindungen; aber dafür sind sie auch deutlicher.59 Das berührt sich mit den oben schon benannten Dimensionierungen des Seelischen, der Denkfertigkeit und der Lebhaftigkeit. Die beiden Eigenschaften, die in der ›Empfindlichkeit‹ ihr Maß finden, verhalten sich umgekehrt proportional. Das Primat komme aber unzweifelhaft der Denkfertigkeit zu – obgleich auch hierin immer ein gehöriges Maß an Lebhaftigkeit erforderlich sei. Sulzer meint damit genugsam dargetan zu haben, dass die Vergnügungen der Sinne den gleichen Gesetzmäßigkeiten folgen wie die Vergnügungen der Einbildungskraft und die des Verstandes.60 Er verbietet es sich aber expressis verbis, dem gängigen Präjudiz Folge zu leisten und eine Art von Vergnügungen als die edlere im Vergleich zu den anderen auszuzeichnen: »Die sinnlichen Vergnügungen haben ihre Vorzüge vor den intellektuellen, und diese wiederum die ihrigen vor den sinnlichen.«61 Unter die Vorzüge der sinnlichen Vergnügungen rechnet Sulzer, daß die Seele sie ohne deutliche Erkenntniß der Ursachen, durch die sie gewirkt werden, genießen kann. Sie erfordern weder Studium, noch Einsichten, noch Fleiß; aber zum Genuß intellektueller Vergnügungen sind diese Bedingungen, wie wir im zweyten Abschnitte gesehen haben, durchaus erforderlich.[62] Hierinn also sind die sinnlichen Vergnügungen viel leichter, und so zu sagen, um einen wohl57 58 59 60 61 62
Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 16), S. 39. Ebd., S. 47; vgl. auch S. 48f. Vgl. ebd., S. 62. Ebd., S. 67. Ebd., S. 74. Sulzer dringt auf eine relative Gleichwertigkeit der sinnlichen wie der intellektuellen Vergnügungen: »Wir würden gleich sehr zu beklagen seyn, wenn uns die eine oder die andre Art mangelte, ja wir würden dadurch sogar für die Welt völlig unnütz werden« (ebd., S. 74). Die intellektuellen genießen dennoch den Vorzug: »Die intellektuellen Gegenstände sind Güter, die wir in unserm völligen Besitze haben, die in dem Grunde der Seele Wurzel schlagen und ihr niemals können entrissen werden; dahingegen die sinnlichen ausser uns befindlich und uns gewissermaßen fremd und von unsicherm Besitze
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Hans-Peter Nowitzki feilern Preiß zu haben. Sie sind dem thierischen Theile unserer Natur verliehen, wo sich dieses nicht anbringen läßt.63
Die sinnlichen Vergnügungen sind notwendige Voraussetzung, um Entwicklung zu denken, sowohl was die Individualentwicklung, die Vervollkommnungsfähigkeit des Einzelnen, betrifft als auch die des Menschengeschlechts. Die in der menschlichen Gesellschaft zu konstatierende Asymmetrie in der Wertschätzung sinnlicher und intellektueller Vergnügungen sei nicht etwas, das es schlechthin zu beklagen gelte. Im Gegenteil: Der Mensch als ein Doppelwesen hat Teil an der körperlichen wie an der geistigen Welt. Das unterschiedliche Entwicklungsniveau, wie es sich etwa in der allenthalben anzutreffenden Verschiedenheit des Geschmacks spiegele, sei vielmehr ein Movens, das Entwicklung, Vervollkommnung überhaupt erst ermögliche. Einerlei Geschmack hieße Stillstand – ästhetisch, moralisch, intellektuell. Der Zwiespalt zwischen Sinnlichem und Intellektuellem ist es nachgerade, der beständig Korrekturen verlange und damit einen Abgleich der Fähigkeiten des Einen mit denen des Anderen.64 Die Einheit des »allen Menschen eingepflanzten Trieb[es]« garantiere nicht nur die allen gemeinsame Entwicklungsrichtung, sondern sichere zudem die Fortentwicklung: »Die Natur braucht einerley Form, [...] um bald einen Alexander, bald einen Homer, bald einen Archimedes, kurz um die ganze Mannichfaltigkeit von verschiedenen Genies zu bilden.«65
4. Sulzers popularphilosophisches Aufklärungsprogramm Sulzer beabsichtigt mit seiner »Theorie des Vergnügens«66 den allgemeinen Ursprung aller Empfindungen, »die durchgehend die Bewegungsgründe unsrer Handlungen sind«, aufzuweisen, und baut sie in den kommenden 20 Jahren nach und nach zu einer allgemeinen Theorie der schönen Künste wirkungsästhetischen Zuschnitts aus. Bereits seit etwa 1746 habe er sich selbst beobachtet, um das, was er in der Theorie der Vergnügungen behauptet hat, empirisch belegen zu können.67 Drei Arten des Vergnügens, das sinnliche, das intellektuelle und das moralische, hat er analysiert, charakterisiert und miteinander verglichen. Er zeigt, dass die Vergnügen allesamt notwendig sind und zum Wesen des Menschen gehören. Das führt ihn dazu, die ihnen korrelierenden Erkenntnisweisen zu untersuchen und ihren jeweiligen Stellenwert herauszuarbeiten. Im Ergebnis dessen stellt er die bislang nur als inferior firmierende intuitive der diskursiven Erkenntnis gleichberechtigt zur Seite. In aller Deutlichkeit kommt das in der von ihm bevorworteten und mit umfänglichen Anmerkungen versehenen Hume-Übersetzung aus dem
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sind« (ebd., S. 76). Im Anschluss daran bricht sich sein Intellektualismus dann vollends Bahn: Vergessen ist die oben noch bemerkte erkenntnistheoretische Hilfeleistung der sinnlichen Vergnügungen, nunmehr sichern diese nur noch die Erhaltung. Allein die intellektuellen Vergnügen verbürgen des Menschen Perfektibilität, da man jene Art von Vergnügen nicht genießen könne, ohne sich zugleich zu vervollkommnen (vgl. ebd.). Ebd., S. 75. Ebd., S. 46f. Ebd., S. 37. Ebd., S. 46. Ebd., S. 90f.
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Jahre 1755 zum Tragen.68 Hier entwickelt er die Grundlinien seines popularphilosophischen Aufklärungsprogramms. Jetzt, da die Zeit gekommen zu sein scheint, »da man einige der wichtigsten Fragen über die Natur des Menschen und über seine Hoffnungen und Erwartungen in der Welt, nicht durch Muthmaßungen, sondern durch sichere Aussprüche beantworten kann«, müsse man konstatieren, dass das »deutsche Kleid« der Philosophie noch nicht in dem Maße zu stehen scheint, wie es ihr Inhalt verlange. Zu sehr habe sich Christian Wolff in seinen Schriften der mathematischen Lehr- und Darstellungsmethode beflissen, so dass diese von nur wenigen gelesen werden können. »Die Philosophie ist [aber] eine Wissenschaft für jeden Menschen, und muß auf eine Art vorgetragen werden, die jedem Leser deutlich und angenehm ist.«69 Den Philosophen empfiehlt Sulzer deshalb auf das Nachdrücklichste, sich eines leichteren und ange68
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David Hume: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß von David Hume, Ritter. Als dessen vermischter Schriften Zweyter Theil. Nach der zweyten vermehrten Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen des Herausgebers begleitet. Hamburg, Leipzig 1755. – Moses Mendelssohn lässt Lessing am 19. November 1755 wissen: »Eben dieser Prof. [i.e. Sulzer] macht so viel Rühmens von David Hume’s sehr neuem Scepticisme, da er leugnet, man könne nicht beweisen, daß irgend eine Begebenheit in der Welt eine wirkende Ursache hätte.« (Moses Mendelssohn an Gotthold Ephraim Lessing (19. November 1755). In: Moses Mendelssohn: Briefwechsel I. Hg. von Bruno Strauss. Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, S. 19–22, hier S. 21.) Ob Sulzer die Übersetzung nur bevorwortet und annotiert oder ob er sie selbst in Gänze gefertigt hat, ist nicht belegt. Er war aber des Englischen, das bei den Schweizern um Bodmer ohnehin großes Ansehen genoss, in einem solch hohen Maße mächtig, dass er sie durchaus hätte selbst vornehmen können: »Haben Sie Thomsons Jahrszeiten schon gelesen? [...] Es ist gut, daß ich ihn im Englischen lesen kann; denn Brockes Übersetzung hat bey weitem die Schönheiten nicht, die das Original hat.« (Johann Georg Sulzer an Samuel Gotthold Lange [Magdeburg, 29. April 1745]. In: Samuel Gotthold Lange: Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe. Erster Theil. Magdeburg 1769, S. 262–265, hier S. 265.) Eine »sehr kurze Probe einer Übersetzung aus dem Thomson« schickte er Lange (Johann Georg Sulzer an Samuel Gotthold Lange [Magdeburg, 22. November 1745]. In: ebd., S. 277–280, hier S. 279). »Es soll ein Beweis seyn, daß wir eben so kurz und nachdrücklich schreiben können, als die Engländer. Ich übersetze nicht nur Vers auf Vers, sondern auch in derselben Versart des englischen Originals.« (Sulzer an Johann Wilhelm Ludwig Gleim [Magdeburg, 18. November 1745]. In: Briefe deutscher Gelehrten [s. Anm. 10], S. 28.) Schließlich hat er sich dann auch als professioneller Übersetzer hervorgetan, vgl. den Anhang zum Versuch einiger vernünftigen Gedanken von der Auferziehung und Unterweisung der Kinder. Zürich 1745, 21748, Versuch über die heutige Auferziehung betitelt und aus dem Englischen, und Gilbert West: Anmerkungen und Betrachtungen über die Geschichte der Auferstehung JEsu Christi, und derselben Zeugnisse, durch Gilbert West, einen Engl. Edelmann, nach der dritten Ausgabe aus dem Englischen [auf Anraten August Friedrich Wilhelm Sacks] übersetzt [und mit einer Vorrede versehen von Johann Georg Sulzer]. Berlin 1748, 21778. Zur Übersetzerfrage vgl. Günter Gawlick, Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 20f. sowie Annette Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008, S. 215ff. Hume: Philosophische Versuche (s. Anm. 68), Bl. a4r–a5r. Zwei Ziele verfolgt Sulzer mit der Publikation: (1) möchte er durch die von Hume vorgetragenen Zweifel an ungerechtfertigt behaupteten Gewissheiten der »Gefahr eines schädlichen philosophischen Friedens« in Deutschland (ebd., Bl. a3v) entgegenwirken; (2) können »Schreibart« und »Vortrag« Humes als ein Vorbild betrachtet werden, dem die Deutschen nachzueifern aufgefordert sind. Hume gelinge es auf vorbildliche Weise, den Leser auf einem »leicht[en], angenehm[en] und gleichsam mit Rosen bestreuet[en]« Weg »in die verborgensten und dunkelsten Tiefen der Philosophie« zu führen (ebd., Bl. a3v–a4r). Wolff selbst habe »seine Nachfolger zu unzählig wiederholten malen [vermahnet], daß sie die durch mühsame Untersuchungen erkannte Wahrheiten auf eine kürzere und angenehmere Art, nach dem allgemeinen Verstande [Sensus communis] vor tragen sollen« (ebd., Bl. a5v).
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nehmeren Vortrags zu befleißigen und sich hierin David Hume zum Vorbild zu nehmen. Dessen Philosophische Versuche geben ihm Gelegenheit, beide Arten, die intuitive und die diskursive Erkenntnis, in ihrer jeweiligen Eigenart zu umreißen: Die eine sei langsamer und sicherer, die andere kurz, »in den allermeisten Fällen auch sicher genug«, auch wenn sie nicht immer die größte Gewissheit mit sich führe.70 Ersterer gehe es um Vollständigkeit, letzterer um die »allgemeine gesunde Vernunft«. Beide entsprächen verschiedenen Seelenvermögen und bedingten einander.71 Dem »Weg der völligen Erweisung«, der ausschließlich deutliche Begrifflichkeiten und eine »völlige Einsicht in die Natur und des Wesens der Dinge« zum Ziel hat, stehe die intuitive Erkenntnis gegenüber: Sie begnüge sich »mit einer anschauenden Erkenntniß verschiedener besonderer Fälle, und in ihren Schlüssen [leidet sie es gern, daß] die Mittelbegriffe nicht so weitläuftig« sind.72 Auf diese Weise könnten die philosophischen respektive wissenschaftlichen Erkenntnisse allen Menschen gelehrt werden. Sie bewirke eine »Art von schneller Einsicht, deren Gründe nicht offenbar sind, so wie für die Handlungen ein Instinct ist, wo man die Bewegungsgründe nicht deutlich einsieht«.73 Die intuitive Erkenntnis der »allgemeine[n] gesun70 71 72
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Ebd., Bl. a6r‒v. Ebd., Bl. 8f. Ebd., Bl. a7r. Das deutet bereits voraus auf die Schlüsselstellung, die Sulzer der Metapher einräumt, die als Enthymem, d.h. als ein inhaltlich oder formal unvollständiger Syllogismus angesehen werden kann, der dennoch über Synthesiskraft verfügt und Evidenz verbürge: »Indem sie zwei eigentlich getrennte Dinge zusammenschaut, setzt die Metapher die stille Prämisse, daß diese Dinge bzw. ihr Verhältnis unter einem bestimmten Hinblick ähnlich sind« (Bernhard Debatin: Die Rationalität der Metapher. Eine sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Untersuchung. Berlin, New York 1995, S. 22). Sulzer unterscheidet folgerichtig zwei Rationalitätstypen: »Die Gewißheit der gesunden Vernunft [...] begnüget [...] sich mit einer anschauenden Erkenntniß verschiedener besonderer Fälle, und in ihren Schlüssen sind die Mittelbegriffe nicht so weitläuftig, als in der andern Art ausgedrückt, weil ihrer viele durch eine schnelle Einsicht hinlänglich dem Verstande einleuchten.« (Hume: Philosophische Versuche [s. Anm. 68], Bl. a7r.) Der Beweis eines Satzes beispielsweise werde in dem Falle nicht ›förmlich eingesehen‹, sondern »gleichsam [ge]fühl[t]« (ebd.). Sie geht mit »hinlängliche[r] aber nicht ganz zuverläßige[r] Gewißheit« einher. Es ist eine Gewissheit, die nicht mit der Notwendigkeit gepaart ist, denn das Gegenteil ist nicht »ganz und gar unmöglich«. Sie widmet sich zweierlei Arten von Gegenständen: (a) zufälligen, »deren Gegentheil wir uns vollkommen deutlich vorstellen können«, und (b) notwendigen, deren Notwendigkeit man nicht einsieht. »Viele geometrische und metaphysische Wahrheiten werden von den größten Theile der Menschen bloß auf diese unzuverläßige Art eingesehen.« (Ebd., S. 23.) Die mit hinlänglicher und nicht allemal ganz zuverlässiger Gewissheit verknüpfte Einsicht ist schnell, instinktiv, ohne Deutlichkeit hinsichtlich ihrer Beweggründe. Dem Verstand mangelt es dabei an Beweis- und dem Willen an Bewegungsgründen; das Handeln ist in dem Falle instinktiv. Diese Erkenntnisart heißt ›Einsicht der gesunden Vernunft‹, jene aber Wissenschaft (vgl. ebd., S. 24). Letztere ist »mit einer so völligen und so zuverläßigen Gewißheit [verbunden], daß wir nicht nur über allen Zweifel hinaus sind, sondern daß es uns schlechterdings unmöglich fällt, das Gegentheil [...] nur für möglich zu halten« (ebd., S. 23). Sie werde erst durch »einen sehr genauen Beweis« einsichtig (ebd., Bl. b11). Sulzers Rationalitätsbegriff eint die Rationalitätstypen des Begründens mit dem des Entdeckens und Erkennens. Er entspricht damit der behaupteten dichotomischen Einheit von Wissenschaft und Kunst. Zur Typologie unterschiedlicher Rationalitätstypen und die sie charakterisierenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten vgl. Hans Lenk: Typen und Systematik der Rationalität. In: ders. (Hg.): Zur Kritik der wissenschaftlichen Rationalität. Zum 65. Geburtstag von Kurt Hübner. Freiburg, München 1986, S. 11–27. Hume: Philosophische Versuche (s. Anm. 68), S. 24 und S. 100f. Vgl. dazu Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2005, S. 51f., Helmuth Holzhey: Die Berliner Po-
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de[n] Vernunft«74 bzw. des »allgemeinen Verstande[s]«75 ist geknüpft an das dem Menschen angeborene, instinktsichere Vermögen, Ähnlichkeiten zu erkennen,76 das die Grundlage der Metaphorisierung ist. Analog dazu lässt sich Sulzer in der vier Jahre später in der zweiten Auflage des Kurzen Begriffs aller Wißenschaften77 von 1759 vernehmen. Auch hier unterscheidet er im § 238 die systematisch verfahrende Philosophie als wahre Wissenschaft und die natürliche Philosophie. In letzterer gebe es »nichts von den mühsamen und weitläuftigen Erforschungen [...], welche man nothwendig anwenden muß, um die Wahrheit aus ihren ersten Quellen zu entdeken; [sie sei] eine Philosophie der gesunden Vernunft, die jeder nachdenkende Mensch ohne besondere methodische Anstalten, mehr oder weniger besizet«. Jene sei die Philosophie der Schule, diese die Philosophie der Welt. Letztere »braucht gar keine Methode, sie nimmt ihren Stoff so wie er sich zeiget, und überdenkt ihn ohne Kunst, nach dem bloßen Gutdünken der gesunden Vernunft«.78
5. Über Ursprung und Erkenntnisfunktion der Sprache Wiederum acht Jahre später, in den Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache, und der Sprache in die Vernunft von 1767,79 beschäftigt Sulzer dann das Paradox, dass die Sprache einerseits die Vernunft bereits vorauszusetzen scheint und sich andererseits die Vernunft ohne Sprache schlechterdings nicht entwickeln könnte.80 Diese Frage wird virulent im Zuge der Frage nach dem Sprachursprung, die um 1750 zum Standardproblem avanciert und unter vielfältiger Bezugnahme auf Lockes Essay concerning Human Understanding (1690), insbesondere auf dessen 3. Buch, Of Words, und unter maßgeblicher Beeinflussung durch Condillacs Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746), Diderots Lettre sur les sourds et muets (1751), Rousseaus Discours sur l’inégalité (1755) und Leibniz’ Nouveaux Essais sur l’entendement humain (1765) diskutiert wird. Sulzer knüpft unmittelbar an Lockes und Condillacs Arbeiten an, wenn er sich insbesondere die genetische Rekonstruktion der Erkenntnisoperationen angelegen sein lässt. Dabei ist er sich mit Condillac einig, »daß der Gebrauch der Zeichen [...] das Prinzip ist,
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pularphilosophie. Mendelssohn und Sulzer über die Unsterblichkeit der Seele. In: Martin Fontius, Helmuth Holzhey (Hg.): Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Berlin 1996, S. 201–216, hier S. 212–214, und Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, S. 75. Hume: Philosophische Versuche (s. Anm. 68), Bl. a6v. Ebd., Bl. a5v. Ebd., Bl. a6v. Vgl. Anm. 6. Sulzer: Kurzer Begriff (s. Anm. 6), S. 185f. Vgl. Anm. 1 und Jürgen Villers: Kant und das Problem der Sprache. Die historischen und systematischen Gründe für die Sprachlosigkeit der Transzendentalphilosophie. Konstanz 1997, S. 275f., 362f. Auf die Sprachrelativität des Denkens und die Bedeutung der Sprachzeichen für das Denken hat Sulzer bereits 1758 in der Analyse de la Raison hingewiesen; dt. Zergliederung des Begriffs der Vernunft. In: VS 1, S. 246–283, hier S. 266–271 u. S. 278f. Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß (s. Anm. 1), S. 166.
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das den Keim aller unserer Ideen (Gedanken) enthält« und »daß die Wörter und die Art, in der wir uns ihrer bedienen, uns über den Ursprung unserer Ideen (Vorstellungen) Aufschluß geben können«.81 Sulzers Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache, und der Sprache in die Vernunft waren von den an der Berliner Académie Royale des Sciences et Belles Lettres geführten Diskussionen veranlasst, die um das Sprachursprungsproblem kreisten.82 Pierre Louis Moreau de Maupertuis, bis 1759 Akademiepräsident, und Johann Peter Süßmilch, Berliner Theologe und Akademiemitglied, waren uneins, ob die Sprache nun menschlichen oder göttlichen Ur-sprungs sei.83 1756 trug Süßmilch den Akademiemitgliedern seinen Philosophischen Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer
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Étienne Bonnot de Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis[.] Ein Werk, das alles, was den menschlichen Verstand betrifft, auf ein einziges Prinzip zurückführt [= Essai sur l’origine des connoissances humaines, ouvrage où l’on réduit à un seul principe tout ce qui concerne l’entendement humain. Amsterdam 1746]. Übers., hg. und mit einer Einführung vers. von Angelika Oppenheimer. Würzburg 2006, S. 61 und S. 60 (Einleitung). Condillac zufolge »verbinden sich [die Ideen] mit den Zeichen, und nur dadurch sind sie [...] auch untereinander verbunden« (ebd., S. 59). In 2.1.1 (S. 173–179) wird die Sprachursprungsfrage von Condillac anhand zweier nach der Sintflut umherirrender Kinder behandelt. Die Sprache lässt er mit der konventionalistischen Verwendung von natürlichen Lauten sowie Gestik und Mimik, der Gebärdensprache (langage d’action), anheben (zu den unterschiedlichen Zeichenarten vgl. 1.2.4, §§ 35 und 38; S. 91f.). Aber erst der Gebrauch willkürlicher Zeichen (signes d’institutions), der gebunden ist an ein der Einbildungskraft verfügbares Gedächtnis, so Condillac, befreie den Menschen zur Reflexion (1.2.5, § 48; S. 96). Solange der Mensch nur natürliche Zeichen kennt, verfügt er über keine raum- und zeitunabhängigen Zeichen. Eine Selbstermächtigung des Verstandes stellt erst der Gebrauch willkürlicher Zeichen dar: »[S]obald ein Mensch damit beginnt, Ideen (Vorstellungen) mit selbst gewählten Zeichen zu verbinden, läßt sich bei ihm die Ausbildung des Gedächtnisses beobachten. Hat er dieses erworben, fängt er an, selbst über seine Einbildungskraft zu verfügen und ihr eine neue Aufgabe zuzuweisen; denn er ruft mit Hilfe der Zeichen, an die er sich beliebig erinnern kann, die damit verbundenen Ideen (Vorstellungen) wach oder kann sie doch zumindest oft wachrufen.« (1.2.4, § 46; S. 95). Die Einbildungskraft kann nun mithilfe der arbiträren Zeichen das raum-zeitliche Terrain semiotisch durchmessen; damit erst sind die Voraussetzungen für die reflexive Erkenntnis gegeben. In seinen Anmerkungen verweist er dabei auf die »etymologische Geschichte der Sprachen[, die] unstreitig die beste Geschichte des Fortganges des menschlichen Geistes wäre«, expressis verbis auf die »Preisschriften der Akademie auf das Jahr 1759«, insbesondere aber auf die 2. Abhandlung eines Unbekannten, die »als ein Fragment einer großen Abhandlung über den Ursprung der Sprachen ist« (Sulzer: Anmerkungen über den Ursprung [s. Anm. 1], S. 178). Vgl. Anonymus: Discours sur la question proposée par l’Académie royale des Sciences et Belles Lettres de Berlin; Quelle est l’Influence réciproque des Opinions du Peuple sur le Langage, & du Langage sur les Opinions? (Symbolum: – – Explebo numerum, reddarque tenebris). In: Dissertation qui a remporté le prix proposé par l’Académie royale des Sciences et Belles Lettres de Prusse, sur l’influence réciproque du langage sur les opinions, et des opinions sur le langage. Berlin 1760, p. 49–72. Vgl. ebd. p. XXIV (Précis du Discours qui a remporté le Prix). In dem Preisschriftenband finden sich die Abhandlungen in Abteilungen, je nachdem, in welcher Sprache sie verfasst sind, mit separater Zählung angeordnet; zuerst die französischsprachigen, dann die deutschen und zum Schluss die lateinischen. Vgl. dazu: Pierre Louis Moreau de Maupertuis: Sprachphilosophische Schriften: Philosophische Betrachtungen über den Ursprung der Sprachen und die Bedeutung der Wörter. Abhandlung über die verschiedenen Mittel, deren sich die Menschen bedient haben, um ihre Vorstellungen auszudrücken. Mit zusätzlichen Texten von A. R. J. Turgot und E. B. de Condillac. Hg. von Winfried Franzen. Hamburg 1988. Maupertuis war es auch, der im Jahre 1749 die Berufung Condillacs als auswärtiges Mitglied der Berliner Akademie betrieben hatte.
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erhalten habe, vor.84 In den Druck gab er seine Abhandlung dann aber erst 1766, zehn Jahre später, unmittelbar bevor Sulzer seine Anmerkungen publizierte. Entschiedensten Widerspruch gegen Süßmilchs Position formulierte seinerzeit Herder, zunächst in der ersten, dann auch in der zweiten, zu Lebzeiten nicht mehr publizierten85 Ausgabe Über die neuere deutsche Literatur86 und später dann in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772),87 der Antwort auf die Akademiepreisfrage von 1769. Es war das zweite Mal, dass die Akademie eine Preisfrage stellte, die sich explizit dem Thema ›Sprache‹ widmete. Zwölf Jahre zuvor, 1757, hatte die Sprache schon einmal im Fokus ihres Interesses gestanden: Gefragt wurde damals nach dem wechselseitigen Einfluss der Sprache auf die Meinungen und der Meinungen auf die Sprache.88 Den Preis hatte man für das Jahr 1759 ausgelobt und schließlich dem Göttinger Orientalisten und Theologen Johann David Michaelis zuerkannt.89 Dieser war es dann auch, der der Akademie in seiner prämierten Ab-
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Vgl. Registres (s. Anm. 20), S. 227 (7. Oktober: »Mr Süssmilch a lu en Allemand un Mémoire où l’on prouve, que les Langues ne sçauroient avoir une origine humaine mais qu’elles viennent immédiatement de Dieu. Ie Partie« und 14. Oktober: »Mr Süssmilch a continué son Mémoire sur l’origine des Langues«). Beide Male war Sulzer lt. Registrande nicht im Publikum. Vgl. Suphans Erläuterungen in der Einleitung zum ersten Band von Herder: Sämmtliche Werke (s. Anm. 5), Bd. 1, S. XXIX–XXXII. Johann Gottfried Herder: Über die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend. Dritte Sammlung. Riga 1767, S. 50–65: »Wie fern klebt der Gedanke am Ausdruck in der Sprache des gemeinen Lebens? Anwendung auf die Schriften, die über gemeine Sachen, für den gemeinen Mann, und für das Frauenzimmer geschrieben werden.« Ebd., S. 65–75: »In der Dichtkunst ist Gedanke und Ausdruck wie Seele und Leib, und nie zu trennen.« Ebd., S. 102–107: »Wie klebt in der Weltweisheit der Gedanke am Ausdruck, sinnlich, Technisch und Grammatisch?« Ebd., S. 107– 116: »Es ist der Tod der Philosophie, nach ihrer Materie und Form den Gedanken blos eingehüllt in gewisse Ausdrücke zu betrachten.« Ebd., S. 116–122: »Anwendung auf den wissenschaftlichen Vortrag«. (In: Herder: Sämmtliche Werke [s. Anm. 5], S. 357–533, hier S. 386–394, 394–400, 414–417, 417– 422, 422–425.) Desgleichen Johann Gottfried Herder: Über die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente. Erste Sammlung. Zweite völlig umgearbeitete Ausgabe. Riga 1768, S. 147–158. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesezten Preis erhalten hat. [...] Auf Befehl der Academie herausgegeben. Vocabula sunt notae rerum. Berlin 1772 [ND: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart 1997]. Vgl. Registres (s. Anm. 20), S. 233: Assemblée publique Du 9 Juin [1757]: »Il [le Secretaire perpetuel Johann Heinrich Samuel Formey] a ensuite annoncé le sujet que la Classe de Philosophie Spéculative indique pour la même année 1759, sçavoir L’influence reciproque des opinions des Peuples sur le langage, et du langage sur les opinions.« Allem Anschein nach wurde damit die zentrale These Condillacs auf den Prüfstand gebracht, der davon ausging, dass die intensivierende Verwendung von Zeichen den Verstandesgebrauch erweiterte, »der seinerseits durch häufige Übung zur Vervollkommnung der Zeichen beitrug und ihre Benutzung geläufiger machte« (Condillac: Versuch [s. Anm. 80], S. 175; 2.1.1, § 4). Johann David Michaelis: Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen; welche den, von der Königlichen Academie der Wissenschaften für das Jahr 1759, gesetzten Preis erhalten hat. Von Hrn. Johann David Michaelis, öffentlichen Lehrer der Weltweisheit in Göttingen und der Königl. Grosbrittannischen Gesellschaft der Wissenschaften Secretaire. In: Dissertation […] sur le langage (s. Anm. 82), S. 1–84. Vgl. Gerda Haßler: Sprachtheorien der Aufklärung. Zur Rolle der Sprache im Erkenntnisprozeß. Berlin 1984, S. 64–67, Cornelia Buschmann: Die philosophischen Preisfragen und Preisschriften der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert. In: Wolfgang Förster (Hg.): Aufklärung in Berlin. Berlin 1989,
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handlung den Vorschlag unterbreitete, die Sprachursprungsproblematik zum Gegenstand einer öffentlichen Ausschreibung zu machen: Möchte doch die Frage dereinst Ihrer Aufmercksamkeit und Ermunterung würdig scheinen: wie eine Sprache zuerst unter Menschen, die vorhin keine Sprache gehabt haben, entstehen, und nach und nach zu der jetzigen Vollkommenheit und Ausarbeitung gelangen würde.90
Von rationalistischer Seite aus wurde die Sprachursprungsfrage bekanntlich mit der Konventionstheorie beantwortet. Diese sah sich dann aber vor die Frage gestellt: Wenn die Sprache vernunftabhängig ist, wie kann man sich dann über deren Gebrauch rational verständigen, wenn die eigene Vernunft noch unentwickelt ist? Von sensualistisch-empiristischer Seite aus wurde die Ausdruckstheorie favorisiert. Jene musste sich dann aber folgenden Einwurf gefallen lassen: Wenn die Sprache vernunftunabhängig ist, wo kommt dann die Vernunft her? Und wie kommt es zu arbiträren Sprachgebrauchsweisen, die es doch unzweifelhaft gibt? Während die Rationalisten das Entstehen respektive die Existenz der Sprache nicht ohne ein reduktionistisches Verständnis von Sprache erklären konnten, vermochten die Sensualisten respektive Empiristen das Entstehen resp. die Existenz der Vernunft nicht zu erklären. Die Sprachursprungsfrage zum Ausgang nehmend und sich damit diesen Problemen gegenübersehend, thematisiert Sulzer in seinen Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache, und der Sprache in die Vernunft die Bedingungen der Möglichkeit von Sprachentstehung, mithin die transzendentale Rolle der Sprache für das Denken. Im Zuge dessen muss er auch Stellung zu der Frage nehmen, ob die Sprache natürlich in dem Sinne ist, dass jedem Ding ein ihm von Natur aus zukommendes Wort zugeordnet ist, oder ob die Sprache durch willkürliche Setzung entstanden und insofern das Zeichen arbiträr dem Bezeichneten zugewiesen ist. Die beiden antipodisch einander gegenüberstehenden Positionen des Konventionalismus und des Naturalismus spiegeln die qualitativ unterschiedlichen Vermögen ›Sensation‹ und ›Reflexion‹ als zwei selbständige Erkenntnisquellen wider. Unberücksichtigt blieb dabei zunächst der eigenständige Beitrag der Sprache. Eine Lösung des Sprachursprungsproblems wird erst möglich durch die Vermittlung beider Positionen im triadischen Zeichenbegriff: Danach bezeichnet ein Zeichen nicht nur einen Gegenstand oder Sachverhalt in arbiträrer Weise (rationalistische Position), sondern ist zugleich auch in der Lage, Gegenstände oder Sachverhalte in nachahmend-abbildlicher Weise auszudrücken (sensualistisch-empiristische Position). Symbol auf der einen Seite und Ikon sowie Index auf der anderen markieren die beiden, in ihrer jeweiligen Vereinseitigung zu entgegengesetzten Standpunkten führenden Pole, die sich nunmehr im triadischen Zeichenbegriff zusammenfinden. Die Hereinnahme der Sprache und damit des triadisch aufgefassten Zeichens in die Epistemologie wies den Ausweg aus dem Dilemma. Sulzer versucht mit der logisch-genetischen Rekonstruktion der Sprachzeichen unter Einschluss ihrer pragmatischen Aspekte, die die universalienrealistische Position eines Leibniz mit der universaliennominalistischen Konzeption Lockes zu vermitteln erlaubt – indem sie das universale Schema (semiotischer Aspekt) mit der konkret-singularen Aktualisierung (pragmatischer Aspekt) verschwistert –, das Fundament für seine Allgemeine Theorie der Schönen Künste zu legen.
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S. 165–228, sowie Dominique Bourel: Moses Mendelssohn. Begründer des modernen Judentums. Zürich 2007, S. 204f. Michaelis: Beantwortung (s. Anm. 89), S. 78.
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Sulzers Überlegungen zur Sprache gehören damit, wie es im Titel der Abhandlung bereits anklingt, in den Kontext gnoseologischer Erörterungen. Sprachkritik ist für ihn in diesem Sinne immer auch Erkenntniskritik und -erweiterung. ›Denken – Sprechen (Ausdrücken) – Handeln‹ bilden eine Einheit, das ist der Kern der sulzerschen wie jedweder Wirkungsästhetik. Denken ist für Sulzer ein maßgeblich zeichenbasierter und zeichenvermittelter Prozess. Ohne Zeichenverwendung ist eine allenfalls »anschauende Kenntniß der Dinge«91 möglich, d.h. eine intuitive Kenntnis, die in verworrenen Vorstellungen besteht, Vorstellungen von einer Sache, die zwar klar, aber eben nicht deutlich sind. Gedanken seien zwar keine Zeichen respektive Wörter, aber ihr Verhältnis dazu wird isomorph und isometrisch aufgefasst. Darauf ergibt sich die Möglichkeit, anhand des lexikalischen Reichtums einer Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt den jeweiligen Grad der Verstandesbildung der Sprachgemeinschaft ermitteln zu können.92 Denn mit Hilfe der Wörter, die »die Theile eines Gedankens oder eines Begriffs bezeichnen«, lässt sich das Gedachte ordnen und »genau [...] entwickeln«.93 Der Gebrauch von Sprachzeichen unterstützt danach den Wissenserwerb und ist insofern schöpferisch. Mit dieser Auffassung knüpft Sulzer unmittelbar an Leibniz an, der mit »einer Art von allgemeiner und philosophischer Sprache« eben dieses bezweckt habe.94 Der Reichtum einer Sprache erweitere die Möglichkeiten, Sachen und Sachverhalte in einem solchen Grad zu erfassen, dass die bislang nur anschauende zur diskursiven, die klare zur deutlichen Erkenntnis fortentwickelt werden könne. Sprachliche Evidenz sei der der Mathematik eigentümlichen vergleichbar.95 Der Vergleich der »Wirkung der Sprache« mit der Mathematik zeige zudem, »daß die Rede in Absicht auf die Vernunft und die Kenntnisse eben das ist, was die Analyse in Absicht auf die Mathematik ist«.96 Jedes Wort ist »das Zeichen einer Idee«, einfache Sätze, sogenannte »einfache Redensarten«, zeigen das Verhältnis zweier Ideen an, zusammengesetzte Sätze drücken »eine Folge von Verhältnissen« aus: »Dieß ist der algebraischen Rechnung völlig gleichförmig.«97 Wie sich im Mathematischen der »Mangel an Ausdrücken oder Zeichen« hemmend, neue oder verbesserte hingegen fördernd auswirkten, so geschehe dies auch im Sprachlichen. Hier könnte »eine glücklichere Art, einen Gedanken auszudrücken, neue Entdeckungen veranlassen, oder gar bewirken«.98 Einige ›Entdeckungen‹ seien häufig nichts anderes als neuartige Bezeichnungen »allbereits vorher bekannt gewesene[r] Dinge«; zuweilen könnten verbesserte Bezeichnungen tatsächlich auch »sehr schöne […] Entdeckungen« zeitigen.99 Die Wörter führten gleichsam zu den Dingen. Sulzer denkt hier an das in der antiken Rhetorik im Rahmen der inventio praktizierte ›Finden durch Erinnerung der copia rerum‹ an bestimmten Orten (tópoi, loci), die mithilfe von Suchformeln systematisch aufgesucht werden. Die Wörter der Sprachgemeinschaft repräsentierten semiotisch den Umfang des Gewussten und forderten die Sprecher zur Aneignung der von
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Sulzer: Anmerkungen den gegenseitigen Einfluß (s. Anm. 1), S. 184. Ebd., S. 173. Ebd., S. 184. Ebd. Ebd., S. 185. Ebd., S. 187. Diesen Gedanken hat Sulzer Condillac entlehnt. Ebd., S. 166f. Ebd., S. 187. Ebd.
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ihnen bezeichneten Sachen auf. Insofern das Zeichen über sich hinaus auf die Sache, für die es steht, verweist, führt es zur Erweiterung der Kenntnisse über die Dinge: Die Wörter wie? warum? wann? wodurch? wozu? Verhältniß, Wesen, Zufälligkeit u. s. f. veranlassen öfters Untersuchungen, die man nicht angestellt hätte, wenn uns das Gedächtniß nicht diese Wörter hergegeben, und wenn uns diese Wörter nicht an die Ideen, welche sie ausdrücken, erinnert hätten.100
Deshalb sei es so wichtig, dass man über eine ›reiche‹ Sprache verfüge. Aber nicht nur in erkenntniserweiternder Hinsicht sei es unabdingbar, über eine Sprache mit großem lexikalischen Reichtum zu verfügen, sondern auch des Austauschs der Gedanken wegen, denn »[d]er Grad des Umfanges, der Deutlichkeit und der Richtigkeit unsrer Kenntnisse ist allemal dem Grade, in welchem wir sie andern mitzutheilen wissen, gleich«.101 In Sulzers Anmerkungen finden sich Überlegungen, die auf Charles S. Peirce vorauszudeuten scheinen und an dessen Vorstellungen von der triadischen Zeichenstruktur erinnern,102 die das Grundgerüst der Semiose bildet.103 Wie dieser unterscheidet Sulzer, wenn auch nicht immer explizit, (a) materielle Zeichengestalt, (b) physisches oder psychisches Bezugsobjekt und (c) Bedeutung. Das triadische Modell der Semiose wendet sich gegen ein dyadisches Verständnis, wonach das Zeichen gleichsam nur als eine Art Etikett (signans) eines Dings bzw. Sachverhalts firmiert (aliquid stat pro aliquo) und den Sprachbenutzern darüber hinaus keinerlei semiotische Funktionen mehr eigneten. Demgegenüber formuliert das triadische Modell eine ebenfalls schon antik-mittelalterliche Einsicht, wonach die Äußerungen die Sachen vermittels der Gedanken bezeichnen (voces significant res mediantibus conceptibus). Mit der Materialisierung des Zeichens ist dem Menschen die Möglichkeit gegeben, Gedankeninhalte zu registrieren, zu fixieren, zu speichern und anderen mitzuteilen. Die Triadik des Zeichenbegriffs trägt dem Umstand Rechnung, dass die Zeichen in umfängliche polyfunktional strukturierte Systeme eingebettet sind, die das Zeichen nicht darauf beschränkt sein lassen, von einem Interpreten ausgedrückt zu werden, sondern ihnen u.a. die Funktion zuweisen, Träger einer spezifischen Intention zu sein, das Zeichen einerseits in einer bestimmten Art aufzufassen und andererseits in einer der Intention entsprechenden Weise zu reagieren. Peirce spricht hier von der appellativen Dimension des Zeichens. Dieses pragmatische Verständnis hinsichtlich des kommunikativen Zeichens liegt Sulzers Wirkungsästhetik zugrunde. Der Explikation der spezifischen Bedingungen, denen kommunikable, Verstehen und Verständigung bewirkende Zeichen genügen müssen, gilt Sulzers besondere Aufmerksamkeit. Insofern wird Sulzers zeichenpragmatischer Ansatz getragen
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Ebd., S. 183. Sulzers Fragenkatalog knüpft an die im Rahmen der inventio geübte Praxis methodischen Fragens nach den in den loci (Gedächtnisräumen) verschütteten Gedanken an. Die Fragen als Suchformeln prägte man sich seit dem 12. Jahrhundert mit dem Hexameter quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando? ein (vgl. Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie. Ismaning 101990, S. 25, § 43 und ders.: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 31990, S. 183, § 329 sowie S. 203, § 374). Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß (s. Anm. 1), S. 184. So schreibt Sulzer z.B.: »da die Seele niemals die Gegenstände selbst, sondern nur ihre Ideen davon genießt« (Sulzer: Untersuchung über den Ursprung [s. Anm. 16], S. 5). Kanonisch war das sogenannte ›semiotische Dreieck‹ der Sache nach seit mindestens der Grammaire générale et raisonnée ou La grammaire de Port-Royale. Paris 1660.
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von einem weiten, intra- wie extralinguistische Interaktion umgreifenden Kommunikationsbegriff. Peirce104 unterscheidet bekanntlich zudem (a) ikonische, (b) indexikalische und (c) symbolische Zeichen. Ikonische Zeichen sind solche, die zum Bezeichneten in einer strukturellen Ähnlichkeitsrelation stehen, indexikalische sind solche, die in einem unmittelbar kausalen Verhältnis zum Bezeichneten stehen, symbolische hingegen sind solche Zeichen, die weder in einer strukturellen Ähnlichkeitsrelation noch in einem kausalen Verhältnis zum Bezeichneten stehen, sondern einen bestimmten Gegenstand allein in arbiträrer Setzung und konventioneller Übereinkunft bezeichnen. Die unterschiedlichen Klassen von Zeichen stehen indes in keinem ausschließenden Verhältnis zueinander. Sie bezeichnen zuweilen nur unterschiedliche Aspekte eines Zeichens. Am natürlichsten ist ein Zeichen, das, Ikon, Index und Symbol in sich vereinend, Struktur und Wirkung des Symbolisierten ausdrückt. Eingangs seiner Abhandlung beschäftigt Sulzer, worauf oben schon hingewiesen worden ist, die Frage des Sprachursprungs. Unter Voraussetzung eines menschlichen, d.h. natürlichen Sprachursprungs und eines genetischen Homogenitätspostulates, wonach die phylogenetische nicht anders als die ontogenetische Sprachentwicklung verlaufe, entwickelt er seine Vorstellungen vom Sprachursprung am Beispiel eines Blindgeborenen, der, »nachdem er zu den Jahren des Verstandes gekommen war, durch eine glückliche Operation sein Gesicht erlangte«.105 Er geht davon aus, dass der Mensch zunächst durch Distinktionen innerhalb eines von ihm zuvor als amorph-flächig wahrgenommenen Ganzen (amorphe Gesamtvorstellung) zur gegenstandsunterscheidenden Wahrnehmung gelangt, woraufhin ihre Benennung mit Worten folge.106 Die Unterscheidungen würden durch die ›tönende Natur‹ nahegelegt, denn zunächst seien es Lautzeichen gewesen, deren sich der Mensch zur Bezeichnung bedient habe. Die physiologisch be-
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Auch hinsichtlich der Einschätzung der Metaphern als kreative Potentiale einer Sprache kommen Sulzers Ansichten denen Peirces sehr nahe (vgl. Christian Straub: Peirce über Metaphern. Zur Interpretation von CP 2.277. In: Helmut Pape (Hg.): Kreativität und Logik. Charles S. Peirce und das philosophische Problem des Neuen. Frankfurt a. M. 1994, S. 209–232). Straub zufolge ist die Metapher »ein genauer Indikator von ›blinden Flecken‹ unserer Erfahrung mit einem bestimmten Objekt [und] das Instrument in unserer Sprache, das uns einerseits durch den Parallelismus von der Überprüfung des sprachlich Behaupteten an der Erfahrung explizit d[i]spensiert, andererseits aber gerade deshalb ein sprachliches Experimentierfeld zur Erhellung unserer Erfahrungsdefizite ist« (ebd., S. 232). Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß (s. Anm. 1), S. 168. Sulzer knüpft hier an eine Debatte an, die das gesamte 18. Jahrhundert in Atem hielt. Auslöser war ein Bericht William Cheseldens in den Philosophical Transactions 35 (1727/28), p. 447–450, über eine von ihm erfolgreich durchgeführte Staroperation an einem 14 Jahre alten Blindgeborenen. In der Diskussion des Falles ging es nicht um den medizinischen Aspekt, sondern um die epistemologisch und anthropologisch brisante Frage, »ob Menschen, die über ein nur unvollständiges Sensorium verfügten, zutreffende Vorstellungen über die Außenwelt haben könnten, vor allem dann, wenn es an den zentralen Sinnen mangele, etwa am Gesicht oder am Gehör« (Joachim Gessinger: Auge & Ohr. Studien zur Erforschung der Sprache am Menschen 1700–1850. Berlin, New York 1994, S. 20; zur Diskussion vgl. ebd. insb. S. 19–70). In den von Sulzer und Ramler gemeinsam herausgegebenen Critischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit (Freitag, 8. Mai 1750, S. 122) wird Denis Diderots Lettre sur les Aveugles à l’usage de ceux qui voient (1749) angezeigt, in der die Debatte resümierend besprochen wird. Sulzers Annahme einer sprachvorgängigen und -unabhängigen Vorstellung ist ganz traditionell aristotelisch. Auch darin folgt er verbreiteten Ansichten, wenn er daran anknüpfend die Vorstellung mit ei-
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dingte unterschiedliche Lautwahrnehmung sei ursächlich für die Entstehung unterschiedlicher Sprachen. Zu Hilfe seien dem Menschen Aufmerksamkeit, Beobachtungsgeist, Nachdenken und Zufall gekommen. Damit seien sie in die Lage versetzt worden, »das Chaos ihrer Vorstellungen in Ordnung« zu bringen und einige sogar in den Rang klarer Erkenntnis zu erheben. Diese gegenstandsidentifizierende Wahrnehmung liege – auch hierin kommt er mit Condillac überein – der Gegenstandsbezeichnung zeitlich voraus: »indem man es sich nicht einfallen läßt, dasjenige zu nennen, wovon man keinen klaren Begriff hat«.107 Benennungen seien demnach stets motiviert, was bedeutet, dass die Anzahl der Wörter nie die Anzahl der in einer Sprachgemeinschaft existenten klaren Ideen übersteigen könne108 – von »wahren Synonymen« einmal abgesehen.109 Jedes Wort, das neu gestiftet und in Umlauf gebracht werde, ist durch eine klare Erkenntnis motiviert und stellt eine Bereicherung dar. Dabei erfolge die Bezeichnung eines Gedankens mittels Lautzeichen ursprünglich nicht willkürlich, sondern den natürlichen Gegebenheiten entsprechend, etwa den Artikulationen der Tiere. Diese Art der motivierten Bezeichnung, so Sulzer, sei allerdings nicht hinreichend, da sie nicht erklärt, wie »die natürliche Verbindung zwischen dem Laute und solchen Dingen, welche keinen Laut von sich geben«, gestiftet werde.110 Die Frage nach dieser Art von Motivation führt insofern ins Zentrum der Konzeption der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste, als sie auf das ausdrucksgenerierende Verfahren schlechthin verweist, auf das der Metaphorisierung. Begriffe seien nämlich sämtlich, so Sulzer (wie vor ihm schon Vico111), im Zuge der Metaphorisierung entstanden.112 Es gründe in der
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nem Laut bezeichnen lässt (vgl. Jürgen Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen: Vicos Sematologie. Frankfurt a. M. 1994, S. 76). Sulzer: Anmerkungen gegenseitigen Einfluß (s. Anm. 1), S. 172. Breitinger hingegen behauptete seinerzeit – wie vor ihm schon Locke –, dass eine Sprache, so zahlreich ihr Wortmaterial auch sei, über stets weit weniger Wörter in eigentlicher Bedeutung verfüge als auszudrückende Vorstellungen. Eine Möglichkeit, dieses Problem zu beheben, biete die uneigentliche, figürliche Wortverwendung, die Metaphorisierung. Mit ihr gelinge es, die vormals relativ arme Wortsprache wesentlich zu bereichern und deren Erkenntnis- und Ausdrucksqualität zu erhöhen (Johann Jakob Breitinger: Fortsetzung Der Critischen Dichtkunst Worinnen die Poetische Mahlerey In Absicht auf den Ausdruck und die Farben abgehandelt wird, mit einer Vorrede von Johann Jacob Bodemer. Zürich 1740, S. 306– 309). Dabei ist die Metapher als vergleichsvermittelte Bedeutungsübertragung keineswegs unmotiviert, denn sie unterstellt stets Ähnlichkeit: »Der Grund einer guten Metapher ist die Ähnlichkeit und Übereinstimmung zwischen zweyen Dingen, wenn diese so offenbar ist, daß sie bey der blossen Benennung der Dinge jedermann so gleich einfallen muß« (ebd., S. 332). Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß (s. Anm. 1), S. 172f. Ebd., S. 175. Giambattista Vico: Principj di una scienza nuova d’intorno alla communa natura delle nazioni, per la quale si retruovano i principj di altro sistema del diritto naturale delle genti (1725). Dt.: Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, mit deren Hilfe die Prinzipien eines neuen Systems des Naturrechts der Völker wiederhergestellt werden. Darin 2. Buch: Von der poetischen Weisheit. 7. Kapitel. Vgl. dazu Trabant: Neue Wissenschaft (s. Anm. 106), S. 79–100, sowie Vittoria Borsò-Borgarello: Metapher: Erfahrungs- und Erkenntnismittel. Die metaphorische Wirklichkeitskonstitution im französischen Roman des XIX. Jahrhunderts. Tübingen 1985, S. 4–6 und S. 206–208, Anm. 11 und 18. Danach überwinde Vico als erster die Dichotomie von spekulativem und poetischem Denken, von Logik und Phantasie, indem er auf die erkenntnisvermittelnde Funktion von Sprache und auf ihr schöpferisch-dynamisches Wesen hinweist und dabei insbesondere auf die heuristische Funktion von Metaphern aufmerksam macht. Vgl. Sulzer: Art. Methapher; Metaphorisch. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 2), S. 761–763, hier S. 761.
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dem Menschen angeborenen Fähigkeit, Ähnlichkeiten aufzufinden und assoziativ Begriffe zu verknüpfen. Gestiftet wird die Zeichen-Bezeichnetes-Beziehung von der Einbildungskraft. Sie bindet die geistige an die Körperwelt. Die Zeichen sind die Grundlage des Denkens, der Erinnerung113 und der Kommunikation. Die Motivation der Zeichen mithilfe des Aufweises von Ähnlichkeitsbeziehungen schließe, so Sulzer, »alle bloß willkührliche Anwendungen eines Ausdrucks zu einer neuen Bedeutung gänzlich aus«.114 Der Fruchtbarkeit der Metapher schenkt Sulzer deshalb besondere Aufmerksamkeit. Er bestimmt sie auf der zeichentheoretischen Ebene als solche, die »vermöge ihrer ursprünglichen Bedeutung natürliche Zeichen der Ideen werden, welche sie ausdrücken«.115 Damit ist nicht gemeint, dass die vorbenannte onomapoetische Zeichen-Gegenstands-Zuordnung nicht »bloß willkührlich« ist.116 Sulzer hebt mit der Charakterisierung als ›natürliche Zeichen‹ auf das mittels Ähnlichkeitsaufweis gefundene Denotatum ab, für das sich das betreffende Zeichen gleichsam als natürlicher Denotator erwiesen habe: Durch natürliche Zeichen verstehe ich die Wörter, welche wirkliche oder metaphysische Ähnlichkeiten zwischen zwo Sachen ausdrücken, davon die eine dem eigentlichen Sinne des Wortes, die andere seinem figürlichen Sinne entspricht. [...] Dahin gehören überhaupt alle metaphorische Ausdrücke.117
Die Sekundärbedeutung des metaphorischen Zeichens, seine ›eigentliche‹ Bedeutung, führe zur Primärbedeutung, zum Uneigentlichen, hin, da das Zeichen beide Male ein ›natürliches‹ sei. Der Terminus ›natürliches Zeichen‹ benennt in subjektiver Hinsicht eine abbildliche, ikonische Relation von Signifikat und Signifikant, und zwar in einem sehr hohen Grade struktureller Isomorphie, die zur Identität tendiert. In objektiver Hinsicht meint ›natürliches Zeichen‹ eine ebensolche Relation zwischen Zeichen und gegenständlichem Objekt (Sache). Dieses Verfahren ist von Bedeutung insofern, als es dem Wissenschaftler hilft, nicht nur klare Gedanken auszudrücken (1), sondern zuallererst einmal zu finden (2). Darüber hinaus ist es (3) von Bedeutung, insofern es geeignet ist, diskursiv erlangte und bestätigte Einsichten anderen intuitiv zu vermitteln. Danach dient die Metapher neben dem Entdecken und Aufweis von Ähnlichkeiten, wovon unten die Rede sein wird, der Versinnlichung. Im Unterschied zum arbiträren symbolischen Zeichen weisen die ›natürlichen‹ zumindest strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Bezeichneten auf.118 Als ›natürlich‹ ist das Zeichen dann anzusehen, wenn es eine ob113
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»Ohne die Wörter, welche den Ideen einen Körper geben, würde man sich nur an die Ideen von solchen sinnlichen Dingen wieder erinnern, welche sich von selbst wohl unterscheiden, als die Ideen eines Baumes, eines Thieres und anderer Dinge dieser Art. Alle übrige Ideen würden, ohne die Hülfe der Wörter, aus dem Verstande ausgelöscht werden.« (Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß [s. Anm. 1], S. 179f.) Ebd., S. 177. Ebd., S. 188. Eine Metapher sei »[d]ie Bezeichnung eines Begriffs durch einen Ausdruk, der die Beschaffenheit eines uns vorgehaltenen Gegenstandes durch etwas ihr ähnliches, das in einem andern Gegenstand vorhanden ist, erkennen läßt« (Sulzer: Art. Methapher; Metaphorisch [s. Anm. 112], S. 761). Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß (s. Anm. 1), S. 187. Ebd., S. 188. Ähnlich lässt sich Johann Philip Friedrich Lesser in seinem Versuch über die natürliche Sprache vernehmen, wenn er schreibt: »Wenn der Zusammenhang des Zeichens und der bezeichneten Sache in ihren Wesen und Kräften gegründet ist, so nennet man dasselbe ein natürliches Zeichen, Eine Wirkung ste-
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jektive Sachlage widerspiegelt. Es hat dann eine ›wesentliche Bedeutung‹119 und ist dazu berufen, mithilfe des Anschaulichen das Unanschauliche in den Verstehenshorizont einzuholen. Die Überführung künstlich-arbiträrer Zeichen in natürliche ist eben das auf der Zeichenebene, was auf der kognitiven Erkenntniszuwachs ist, indem es, das natürliche Zeichen, hilft, vom Bekannten und mithilfe dessen zum bislang Unbekannten fortzuschreiten. Das lässt sich, meint Sulzer, für die »Cultur des Verstandes« nutzbar machen: Jeder Mensch habe unendlich viele »sehr dunkle[] Ideen, die [er] empfindet, ohne daß [er] sie unterscheiden und hervorziehen kann«. Einige wenige überaus begabte Menschen, entdecken »den Leuten von geringern Fähigkeiten« diese »Ähnlichkeiten zwischen diesen [dunklen Ideen] und andern leichter zu fassenden Ideen [...]. [D]adurch verwandelt sich unser dunkler Begriff in einen klaren«.120 Dieses volksaufklärerische Bestreben sei ein Quell metaphorischer Ausdrücke. Diese versinnlichten vergleichbar den Figuren in der Geometrie; sie helfen, dunkle Ideen »genau und richtig [zu] bestimmen [...], welche ohne diese Hülfe mit der Masse unsrer Vorstellungen vermengt bleiben würden«.121 Mittels Metaphern können aus dem Chaos dunkler Ideen, die jeder Mensch in übergroßer Anzahl hat, klare Ideen hervorgezogen werden, indem sie diese bestimmen, fixieren und versinnlichen helfen.122 Fruchtbar könne darüber hinaus auch die Analyse von Metaphern sein, weil der Aufweis des ursprünglichen Sinnes des Wortes zugleich Ausgangspunkt für eine neu aufzufindende Ähnlichkeitsbeziehung resp. Metapher sein kann, ein Bild, »welches uns sehr beträchtliche und auf jedem andern Wege vergeblich gesuchte Erläuterungen der Sache gibt«.123 Sie führen in dem Fall zu neuen »wichtigen Entdeckungen«124, also zu Ideen, die der Mensch noch nicht einmal als dunkle bislang besessen hat.125 Das sei beispielsweise Leibniz mit seiner Unterscheidung klarer, dunkler, verworrener und deutlicher Begriffe gelungen; er habe damit »den Grund zu einer wirklich nützlichen Logik«126 gelegt und der Psychologie »ein ganz neues Feld«127 eröffnet.
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het mit der wirkenden Ursache, in einem natürlichen Zusammenhange, daher ist sie auch ein natürliches Zeichen von ihr. Beruhet aber der Zusammenhang des Zeichens und der bezeichneten Sache, nur auf der Wahl eines denckenden Wesens, so ist dieses ein willkührliches Zeichen. [...] [D]as gilt auch bei den Zeichen der Gedanken, womit die Sprache umgehet.« (Johann Philip Friedrich Lesser: Versuch über die natürliche Sprache. Nordhausen 1751, S. 9, § 6.) »Es ist also die natürliche Sprache nichts anders, als der Gebrauch solcher Zeichen, [...] welche mit den Gedanken selbst in einem natürlichen Zusammenhange stehen« (ebd., S. 10 § 7). Der gänzlich willkürlichen Wortsprache stellt Lesser die natürliche Gebärdensprache, d.h. die Bewegungen des ganzen als auch einzelner Teile des Körpers, gegenüber. Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben/ auf Verlangen ans Licht gestellet. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 35), Abt. 1, Bd. 9, S. 29f. Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß (s. Anm. 1), S. 188. Ebd., S. 189. »Eben so hilft uns die Metapher Ideen, welche ohne diese Hülfe mit der Masse unsrer Vorstellungen vermengt bleiben würden, absondern und festsetzen, und machet dasjenige, was dem Verstande unbegreiflich zu seyn scheint, sichtbar und fühlbar« (ebd.). Ebd., S. 190. Ebd., S. 189. Bei Sulzer wird mithilfe des Witzes Ähnlichkeit entdeckt, nicht erschafft, wovon moderne Metapherntheorien ausgehen. Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß (s. Anm. 1), S. 189.
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Auch mit der Rückführung der metaphorischen Bedeutung eines Wortes auf seine ursprüngliche hat sich schon oft ein ›Bild‹(feld) eröffnet, das »sehr beträchtliche und auf jedem andern Wege vergeblich gesuchte Erläuterungen der Sache«128 geliefert habe. Dennoch habe die Einsicht vom heuristischen Nutzen der Metaphorizität (hier: der toten Metaphern), von den Rhetorikern lange schon anerkannt, die Philosophen bislang noch nicht erreicht;129 und das, obwohl unstreitig ist, dass die Metaphern einer Sprache all jene »Wahrheiten in sich fassen, welche [...] nur halb gesehen oder von weitem erblickt [worden sind]«, da man bislang nicht vermocht habe, sie zur deutlichen Erkenntnis zu erheben.130 Das liege in dem Umstand begründet, »daß jeder Mensch weit mehr Wahrheiten empfindet, als er zu beweisen im Stande ist«.131 Eine systematische Sammlung und Verzeichnung von Metaphern böte die Möglichkeit, sprachlich, aber unbewusst behaupteten Ähnlichkeitsrelationen, die die Bezeichnung motivierten, zu eruieren, auf Stimmigkeit zu überprüfen und so dem Erkenntnisfortschritt dienstbar zu machen. Das gilt in heuristischer wie pädagogischer Hinsicht gleichermaßen: Während dort wissenschaftlich Neuland betreten werde, indem das Forschungsfeld gewissermaßen intuitiv-metaphorisch ausgeleuchtet wird, um es danach diskursiv ausforschen zu können, dient es hier der Aufklärung breiter Bevölkerungsschichten.132 Dabei wird der Weg der diskursiven Herleitung und Beweisführung gleichsam übersprungen und dem Interessierten das Ergebnis metaphorisiert präsentiert, als ein, wenn auch (zunächst) nur intuitiv Erkennbares vorgeführt. Denn es liegt gewissermaßen im Begriff des Klaren, dass ihm die Intuition genügt, wohingegen die diskursive Erkenntnis Deutlichkeit, also nicht nur das Ganze oder einen Teil, sondern das Ganze in allen seinen Teilen voraussetzt. Während letzteres in den Wissenschaften, in der Philosophie, gängige Praxis sei, hätten sich ersterem vor allem die schönen Künste verschrieben. Empfundene Wahrheiten seien zwar intuitiv evident, könnten häufig jedoch nicht bis zur diskursiven Gewissheit entwickelt werden, insbesondere dann nicht, wenn die Begriffe zu ›einfach‹ (z. B. ›Gott‹) oder zu zahlreich sind, als dass sie vom Verstand »auf einmal mit Klarheit« aufgefasst werden können. In diesen Fällen sei es dann auch schlichtweg unmöglich, den Sach127 128 129
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Ebd., S. 190. Ebd. Die Metaphorik einer Sprache ist gleichsam ein Tresor von bislang häufig nur intuitiv Erkanntem, das es noch diskursiv einzuholen gilt. Dieser Schätze toter, archaischer, nicht mehr oder noch nicht bewusster Metaphern solle sich, so Sulzer, ein Philosoph annehmen, sie sammeln und in einem Wörterbuch rubrizieren: »Ein wohl ausgearbeitetes Werk von dieser Art, würde ein wahrer Schatz seyn, und ungemein viel zur Beförderung der philosophischen Kenntnisse in allen Gattungen beytragen.« (Ebd.) Bereits Giambattista Vico hatte in der Einleitung zur dritten Auflage seiner Principj di una scienza nuova ein solches vocabolario mentale angeregt. Aber erst im 21. Jahrhundert ist der Vorschlag Sulzers – »der erste seriöse Entwurf eines Wörterbuchs der philosophischen Metaphern« – aufgenommen und ins Werk gesetzt worden (vgl. Ralf Konersmann: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Darmstadt 2007, S. 8). Auf Metaphern müsse in solchen Fällen zurückgegriffen werden, »wo die Überzeugung von anschauender Erkenntnis, oder von Betrachtung ähnlicher Fälle abhängt, wo es zu schweer, oder zu subtil wäre den Beweis zu entwikeln. Die Metapher vertritt da die Stelle der Induktion, und sezt einen sehr in die Augen leuchtenden, an die Stelle eines schweerer zu fassenden, aber ähnlichen Falles« (Sulzer: Art. Methapher; Metaphorisch [s. Anm. 112], S. 763). Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß (s. Anm. 1), S. 190. Vgl. auch Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntniß der Wahrheit. Halle 1713, cap. II, §. 11.
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verhalt diskursiv als wahren darzustellen; hier bleibt nur der Rückgriff auf ein treffendes Bild, eine lebendige Metapher, dass die Ähnlichkeit des Explanans mit dem Explanandum intuitiv evident werden lässt: »Sobald man diese Ähnlichkeit bemerket, bedarf man keiner Vernunftschlüsse mehr, um von der erhabensten aller Wahrheiten überzeugt zu seyn.«133 Sulzer weist, wie eben gezeigt, der Sprache über die ihr traditionell-aristotelisch zugewiesene Kommunikationsfunktion hinaus eine kognitive Funktion zu. Ausgehend von dem Umstand, dass es stets einen Unterschied gibt zwischen sprachlichen und begrifflichen Strukturen, und einrechnend, dass diese Differenz nicht nur als Manko, als defizitäre Gegebenheit aufzufassen ist, gerät Sulzer auf den Gedanken, dass das Denken auf dem Wege spezifischer sprachlicher Operationen, insbesondere der Metaphorisierung, vervollkommnet wird, d.h. die Sprache als Vehikel des Denkens fungiert: Denn immer dann, wenn ein Zeichen in übertragener Bedeutung Verwendung findet, um etwas Neues, bislang Unbekanntes zu bezeichnen, wird zugleich ein Erkenntniszuwachs signalisiert. Hierdurch wird das bislang intellektuell-künstliche, arbiträr scheinende Zeichen gleichsam zu einem sinnlich-natürlichen, das als solches eine Ähnlichkeit mit dem Gegenstand benennt, dem die übertragene Bedeutung gilt. Die Metaphorisierung ist nicht nur ein Akt der Bezeichnung, sondern zugleich auch, wenn nicht gar in erster Linie, ein Erkenntnisprozess:134 Denn mit der Benennung wird zugleich etwas behauptet, eine Ähnlichkeitsrelation zwischen zwei Gegenständen postuliert, die Erkenntnisgewinn verspricht und nach diskursiver Verifikation verlangt. Die Metaphorisierung, sprich: die Veranschaulichung von Unanschaulichem, ist gleichsam der Kern der sulzerschen Ästhetik. Die Ansicht, dass dieses Verfahren höchst bedeutsam nicht nur für den Erkenntnisfortschritt, sondern darüber hinaus auch für die Vervollkommnung des Einzelnen wie des Menschengeschlechts ist, hat sich Sulzer schon früh zu eigen gemacht. Deshalb vor allem hat er sich die Aufwertung der unteren Seelenvermögen und die Nobilitierung der schönen Künste auf die Fahnen geschrieben. Unstreitig sei es, so Sulzer, dass »der Fortgang der Vernunft sehr von der Vollkommenheit des metaphorischen Theils der Sprachen abhängt«. Der diskursiv arbeitende Philosoph hilft der Wissenschaft durch »erweisliche Vernunftschlüsse«, der Dichter durch »Erfindung glücklicher Metaphern«. Es wäre unangemessen, wollte man dem ›scharfsinnigen‹ Philosophen Vorrang vor dem ›witzigen‹ Dichter einräumen, denn die Einbildungskraft ist zuweilen eben so tiefdenkend als der scharfsinnigste Verstand. Ihr hat man jene glücklichen Ausdrücke zu danken, welche selbst aus der Finsterniß glänzende Lichtstralen hervorbrechen lassen. Der witzige Kopf sieht die feinsten und verborgensten Ähnlichkeiten, und sein glückliches Genie findet Mittel, sie auszudrücken.135 133 134
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Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß (s. Anm. 1), S. 191. Für Sulzer ist das Vermögen des Witzes, Ähnliches im Unähnlichen aufzufinden, dasjenige, was die Seele zur Tätigkeit antreibt: »Außer diesem unterhält die Bemerkung der Ähnlichkeit den Geist in der Würksamkeit welche allemal nothwendig von der angenehmen Empfindung begleitet wird.« (Sulzer: Art. Ähnlichkeit. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Erster Theil, von A bis J. Leipzig 1771, S. 14–16, hier S. 14.) In der Anmerkung dazu heißt es: »S. Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen.« (Ebd.) Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß (s. Anm. 1), S. 191. Vgl. zum Verhältnis der poetischen zur Wissenschaftssprache Susanne Ledanff: Die ›nackte Wahrheit‹ in metaphorischer Beleuchtung. In: Sprache
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Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der sulzerschen Aufwertung des Poetischen sind geprägt von dessen topologischem Sprachverständnis, wonach die Worte mit ihren Bedeutungen innerhalb des Sprachsystems einen spezifischen Ort analog der vorsprachlichen Seinsordnung haben.136
6. Sprache und Kunst Sulzers Ansinnen, die schönen Künste den Wissenschaften gleichberechtigt an die Seite zu stellen, kommt auch in dem am 27. Februar 1766 gehaltenen Akademievortrag Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste137 zum tragen. Hier gesellt er die schönen Künste der Philosophie und der Staatskunst hinzu, die alle drei gleich nützlich und notwendig für die menschliche Glückseligkeit seien. Aufgabe der Künste sei es, die Lehren der Philosophie dem Gemüthe mit einer Kraft einzudrücken, dergleichen die nackte Wahrheit niemals hat; sie müssen sich der Einbildungskraft und des Herzens der Menschen bemächtigen, um sie nach dem erhabenen Ziele zu lenken, welches uns die Philosophie vorgesetzt hat.138
Um Klarheit zu bekommen, auf welche Weise sich der Künstler am besten der Gemüter der Menschen zum Besten der Menschen bemächtigt, setzt er sich das Ziel, die Schönheit hinsichtlich ihres Begeisterungspotentials zu analysieren. Der Begeisterung – als Gemütsbewegung aufgefasst – liegen Bewegungskräfte als Ursachen zugrunde. Unter den Modifikationen der Kraft, die er als »Grundbegriff in der Theorie der schönen Künste« deklariert und mit dem Hinweis auf Horaz Serm. 1,4,46f. rechtfertigt, gebe es Kräfte der Schönheit, auf die der Künstler vor allem achtgeben sollte. Alles müsse darauf abgestellt werden, die individuellen Einstellungen
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im technischen Zeitalter 68 (1979), S. 282–289, sowie die einschlägigen Arbeiten Gottfried Gabriels: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart 1991, ders.: Ästhetischer ›Witz‹ und logischer ›Scharfsinn‹. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung. In: Antrittsvorlesungen der Philosophischen Fakultät der Friedrich Schiller-Universität Jena. Band 3. Hg. von Klaus Manger. Jena 1999, S. 181–201, ders.: Logik in Literatur. Über logisches und analogisches Denken. In: Christiane Schildknecht, Dieter Teichert (Hg.): Philosophie in Literatur. Frankfurt a. M. 1996, S. 109– 133, und ders: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung. Paderborn u.a. 1997. Insofern kann man von einer sprachontologischen Korrespondenztheorie der Wahrheit sprechen. Er erschien zunächst in der Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres. Année MDCCLXV [sic!], p. 475–492, danach ins Deutsche übertragen im Neuen Hamburgischen Magazin 5 (1769), 26. St., S. 152–183, und schließlich in den VS 1, S. 122–145. Letztere wird im Folgenden zitiert. Der Aufsatz fand seinerzeit Herders große Wertschätzung: »Da ich in meiner Gegend die Memoires de l’Academie de Berlin ganz nicht weiß, u. doch in einigen Theilen, die mir zu Händen gekommen, schätzbare Vorlesungen zur Ästhetik von Sulzer gefunden z. E. von der Energie u. s. w. könnten Sie mir nicht, theurester Freund, wenn es ohne Mühe seyn kann, eine fliegende Nachricht darüber verschaffen, was dieser vortrefliche Philosoph sonst, u. insonderheit im Felde der Seelenlehre u. der Ästhetik in diesen Memoiren geliefert. […] pfui! dieser Zusammenschreiber [Friedrich Just Riedel] kennt keinen Sulzer, keine Sulzersche Theorie der Empfindungen u. s. w.« (Herder an Friedrich Nicolai [Riga, 27. Dezember 1768 und 10. Januar 1769]. In: Johann Gottfried Herder: Briefe. Erster Band: April 1763 – April 1771. Hg. von Wilhelm Dobbek, Günter Arnold. Weimar 1977, S. 127f.). Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste. In: VS 1, S. 122–145, hier S. 123.
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Hans-Peter Nowitzki
(propositional attitudes) des Rezipienten aufzurufen und auszubilden.139 Die Dichtersprache ist tendenziell nicht weniger kognitivistisch als die Philosophensprache, nur die Art und Weise der Vermittlung und Überzeugung grundsätzlich andersartiger Natur: Im Gegensatz zu der direkten, mit der ›nackten Wahrheit‹ operierenden Sprechweise der Philosophen handelt es sich bei der Dichtersprache um eine gleichsam ›ungerade‹, indirekt verfahrenden. Die ›nackte Wahrheit‹ erfährt in der dichterischen Darstellungs- und Ausdrucksweise zudem noch eine ästhetische, emotionalen Ausdrucksüberschuss erzeugende Bearbeitung. Der Philosoph machet [die Wahrheiten] verständlich, der Redner machet sie sinnlich, und läßt sie, ohne sie doch dem Verstande zu entziehen, in die Einbildungskraft und das Herz übergehen, indem er sie mit den verschiedenen Triebwerken der Seele verbindet. [Er weiß die Wahrheit] in ihr ganzes Licht zu stellen, und ih[r] gleichsam einen Körper zu geben.140
Die Anzahl der von einem Gegenstand der Außen- oder Gedankenwelt angesprochenen Seelenvermögen ist danach ein Indikator seiner Güte, sagt etwas über seine ästhetische Qualität aus. Der Verstand allein vermag gar nichts auszurichten.141 Er ist rein kontemplativ. Erst seine Verknüpfung mit der Sinnlichkeit verleiht ihm wirkende Kraft. Deshalb sind »energische [...] Gegenstände«, also Kunstwerke, die es nur auf das obere Seelenvermögen abgesehen haben, wirkungslos, da sie die Bewegungskräfte der Seele nicht zu entfesseln vermögen. Das ist einzig den das untere Seelenvermögen affizierenden Gegenständen möglich. Diese allein evozieren, »wenn es die Umstände erlauben«, dass die Seele zur Handlung kommt.142 Den Dichtern und Rednern, deren Aufgabe es ist, sich »zum Herrn über die Entschließungen und die Kräfte der geistigen Welt« zu machen143 und »etwas Gutes in der geistigen Welt, entweder durch Erweckung, oder durch Zerstörung gewisser Gesinnungen und Leidenschaften, [...] zu bewirken«,144 empfiehlt Sulzer deshalb eine ›energiegeladene‹ Ausdrucksweise. Denn
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Ähnlich etwa wie im Emotivismus Ayers (vgl. Alfred Jules Ayer: Language, Truth and Logic. London 1936, 21946. Dt.: Sprache, Wahrheit und Logik. Stuttgart 1970). Sulzer: Von der Kraft (s. Anm. 138), S. 131. Im Art. Redende Künste heißt es dann: »Man muß die Redner, Geschichtschreiber und Dichter, als Mittelspersonen zwischen den spekulativen großen Philosophen und dem Volk ansehen, welche die wichtigsten Begriffe und tiefesten Wahrheiten der Vernunft in die gemeine Sprach übersezen.« (Sulzer: Art. Redende Künste. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. [s. Anm. 2], S. 963–964, hier S. 964.) Sulzer: Von der Kraft (s. Anm. 138), S. 132. Ebd., S. 135. Sulzers Kognitivismus bleibt auf diese Weise zwar letztlich perfektionistisch perspektiviert, dabei aber zugleich immer auch emotivistisch eingebunden. Die Empfindungen allein, so Sulzers emotivistische Position 1764, können motivieren und handlungsauslösend sein, nicht aber die Vernunft: »Die wahren antreibenden Kräfte in der Seele sind vors erste die sinnlichen Empfindungen, dann so wohl die klaren, aber sehr verworrenen, als auch die bis zu einem gewissen Grade dunkeln Vorstellungen. Keine einzige deutliche Idee kann bewegen; sie kann bloß die Aufmerksamkeit leiten.« (Sulzer: Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile [1764]. In: VS 1, S. 199–224, hier S. 213) Erstdruck in der Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres. Année MDCCLXIV, p. 415–434. Zu diesem Aspekt vgl. Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien (s. Anm. 73), S. 49–52. Sulzer: Von der Kraft (s. Anm. 138), S. 142. Ebd., S. 142f.
Denken – Sprechen – Handeln
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[z]uweilen erreget ein einziges zu rechter Zeit ausgesprochenes Wort, gleich einem in Pulver geworfenen Funken, einen erschrecklichen Aufruhr in der Seele, und zwingt sie, eine lange Reihe angenehmer Ideen fahren zu lassen und die allerverdrüßlichsten an ihre Stelle zu setzen.145
Nicht zuletzt im Vertrauen auf diese Macht des Worts, des energiegeladenen Worts, das die Welt auf dem Wege der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts verändern helfen kann, ist die Allgemeine Theorie der Schönen Künste verfasst worden: Die Dichtkunst ist nach meinen Begriffen ein höherer Grad der Redekunst; diese aber ist die Kunst, die Gemüther zu lenken, es versteht sich durch die Rede. Denn das Wesentliche aller schönen Künste besteht in der Geschicklichkeit, die Gemüther zu lenken.146
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Ebd., S. 141. Sulzer an Johann Jakob Bodmer (1. Juni 1761). In: Briefe deutscher Gelehrten (s. Anm. 10), S. 338–350, hier S. 345. Man könne, so Sulzer, aus dem Menschen mithilfe der schönen Künste »alles machen, dessen er fähig ist. Der Philosoph darf nur die von ihm entdekten praktischen Wahrheiten, der Stifter der Staaten seine Gesetze, der Menschenfreund seine Entwürfe, dem Künstler übergeben. Der gute Regent kann ihm seine Anschläge, dem Bürger sein wahres Interesse werth zu machen, nur mittheilen; er, den die Musen lieben, wird, wie ein andrer Orpheus, die Menschen selbst wider ihren Willen, aber mit sanftem liebenswürdigen Zwange, zu fleißiger Ausrichtung alles dessen bringen, was zu ihrer Glükseeligkeit nöthig ist.« (Sulzer: Art. Künste; Schöne Künste [s. Anm. 2], S. 613f.)
ACHIM VESPER
Sulzer über die schönen Künste und das Gute
In der Forschung wird Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste von 1771/74 zumeist als hilfreiche historische Quelle für das Verständnis der Kunst in ihren besonderen Formen und Themen wahrgenommen.1 Gelegentlich wird Sulzer aber auch für einen unsystematischen Umgang mit der Kunsttheorie gerügt.2 Auf der einen Seite wird Sulzers Lexikon geschätzt, weil es den Kunstbegriff vielfältig spezifiziert, und auf der anderen Seite wird es getadelt, weil es keine hinreichend generellen Auffassungen über die schöne Kunst enthält. Folgt man diesen Auffassungen, dann ist Sulzers Lexikon informativ für die Geschichte der Künste und uninformativ für die Geschichte der philosophischen Ästhetik, soweit sie über die Theorie der einzelnen Künste hinausgeht. Bei näherer Beschäftigung mit dem Lexikon ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Tatsächlich behandelt Sulzer nicht nur einzelne Aspekte der Kunsttheorie. Außerdem bringt er eine Meinung darüber vor, was die schönen Künste im Allgemeinen auszeichnet. An zentraler Stelle erklärt Sulzer, worin die schöne Kunst besteht und was ihren Wert ausmacht. Dabei behauptet er, dass die Beziehung auf das Gute für Begriff und Wert der schönen Kunst verantwortlich ist. Nachfolgend weise ich nach, dass Sulzer über eine Theorie der schönen Kunst als solche verfügt und diese auf seiner Theorie des Guten basiert. Aufgezeigt wird jedoch nicht nur, dass eine Verschränkung mit einem anderen philosophischen Bereich für Sulzers Kunsttheorie grundlegend ist. Zusätzlich wird deutlich, dass eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Sulzers Konzeptionen der Kunst und des Guten existiert. Das bedeutet, dass wir nur dann imstande 1
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Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Neue vermehrte zweyte Auflage. Leipzig 1792 [ND mit einer Einleitung von Giorgio Tonelli. Hildesheim 1970, 21994]. So lässt Sulzers Ästhetik nach Nivelle das »leitende Prinzip« vermissen. Vgl. Armand Nivelle: Kunstund Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik. Berlin 1960, S. 47. Auch andere Autoren sprechen der Allgemeinen Theorie der schönen Künste den systematischen Gehalt ab. Vgl. z.B. Johannes Leo: Johann George Sulzer und die Entstehung seiner ›Allgemeinen Theorie der Schönen Künste‹. Ein Beitrag zur Kenntnis der Aufklärungszeit. Berlin 1907, S. 12. Dagegen behauptet Tumarkin zutreffend, dass Sulzer »als Philosoph an die Fragen der Kunst herantritt: Nicht nur steht bei ihm hinter allem, was er über die Kunst und ihre Erscheinungen im einzelnen zu sagen hat, eine allgemeine Theorie der schönen Künste, sondern diese Theorie selbst ruht wieder auf einem allgemeinen philosophischen System, dessen wesentlicher Bestandteil seine Ästhetik ist« (Anna Tumarkin: Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer. Frauenfeld, Leipzig 1933, S. 73).
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sind, Sulzers Theorie der schönen Kunst aus ihren Grundlagen zu erschließen, wenn wir seine Theorie des Guten oder der Glückseligkeit einbeziehen. Das bedeutet aber auch, dass wir auf Sulzers Theorie der schönen Kunst zu sprechen kommen müssen, wenn wir seine Theorie des Guten oder der Glückseligkeit explizieren.3 Der späteren Darstellung vorgreifend, sei der Zusammenhang zwischen Sulzers Theorien der Kunst und des Guten bereits an dieser Stelle summarisch vorgestellt. Der Zusammenhang erschließt sich aus Sulzers Aussagen, weshalb der Wert der schönen Künste auf ihrer Beziehung zum Guten beruht. Wertvoll sind die schönen Künste nach Sulzer, weil sie zu tugendhaftem Handeln bewegen können. Er vertritt aber nicht nur die Ansicht, dass die schönen Künste in der Lage sind, zu Handlungen zur Realisierung des Guten zu motivieren. Zumindest in einigen Texten behauptet er weitergehend, dass nur die schönen Künste für die Motivation zu Handlungen zur Realisierung des Guten in Frage kommen. Nach dieser engeren Behauptung bilden die schöne Künste nicht eine unter verschiedenen Ressourcen für tugendhafte Handlungen. Stattdessen vertritt Sulzer die Meinung, dass ohne die schönen Künste keine Motivation zu tugendhaften Handlungen besteht. Zur Rekonstruktion der These, dass nur die schöne Kunst zu tugendhaftem Handeln motiviert, gehe ich im Einzelnen wie folgt vor: Im ersten Teil erläutere ich Sulzers Bestimmung der schönen Kunst, die er im Lexikon-Eintrag zu den schönen Künsten präsentiert. Dort erklärt Sulzer, dass das Wesen der schönen Künste in der Bereicherung des Nützlichen durch das Angenehme und der höchste Zweck der schönen Künste in einem Beitrag zur Glückseligkeit bestehen. Im zweiten Teil lege ich anhand verschiedener Texte und vergleichend mit Wolff und Hume Sulzers Auffassungen über das Gute und die Beweggründe tugendhaften Handelns frei. Gemäß meiner Erklärung bringt er die Meinungen vor, dass es moralische Erkenntnis gibt, aber moralische Erkenntnis wie Erkenntnis generell kein Bewegungsgrund zum Handeln ist. Im dritten Teil erkläre ich im Rückgriff auf Sulzers Ausführungen zum psychologischen Zustand der Betrachtung, weshalb nach Sulzer die schönen Künste und nur die schönen Künste imstande sind, zum tugendhaften Handeln zu motivieren.
1. Wesen und Zweck der schönen Kunst Über die Grundlagen seines Kunstbegriffs unterrichtet Sulzer im Lexikon-Eintrag »Schöne Künste«.4 Dort erstellt er eine Kunstdefinition in Verbindung mit Aussagen darüber, was die 3
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Adäquat erfasst wird die Korrelation von Kunstästhetik und Ethik bei Sulzer von Tumarkin und Wili. Dieser spricht Sulzer die Ansicht zu, »daß Kunst und Kunstkritik immer und unbedingt im Dienste der Philosophie stehen müssen, daß aber anderseits die Ethik auf die Kunst angewiesen ist und nicht auf ihre Mithilfe verzichten kann, wenn sie über die theoretischen Belange hinaus zu sichtbaren Ergebnissen gelangen und die Menschen sittlich heben will.« (Hans Wili: Johann Georg Sulzer. Persönlichkeit und Kunstphilosophie. St. Gallen 1945, S. 22.) Zum Zusammenhang von Ethik und Kunsttheorie bei Sulzer vgl. auch Friedrich Springorum: Über das Sittliche in der Ästhetik Johann Georg Sulzers. In: Archiv für die gesamte Psychologie 72 (1929), S. 1–42. Johann Georg Sulzer: Art. Schöne Künste. In: ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste (s. Anm. 1), Bd. 3, S. 72–95. Zu allgemeinen Aspekten von Sulzers Kunsttheorie vgl. u.a. Tumarkin: Der Ästhetiker Johann
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schöne Kunst unter bestimmten Bedingungen zu leisten vermag. In einem ersten Schritt erklärt er, worin schöne Kunst besteht, und in einem entscheidenden zweiten Schritt äußert er sich dazu, welches Potential der Kunst innewohnt und für ihren Wert verantwortlich ist. In der strikten Begrifflichkeit Sulzers geht es dabei um eine Bestimmung des Wesens der Kunst, auf die eine Bestimmung ihres Zwecks folgt. Nach seiner weiteren Erklärung können Werke der schönen Kunst die Zweckbestimmung aber sowohl erfüllen als auch gegen sie verstoßen. Zwar verlieren Werke, die den Zweck der Kunst verfehlen, nicht den Status schöner Kunst; zu Recht wertgeschätzt werden laut Sulzer aber nur diejenigen Werke, die der Zweckbestimmung entsprechen.
1.1. Das Wesen der Kunst Die Wesensbestimmung gewinnt Sulzer durch eine Zerlegung des Begriffs der schönen Kunst. Wie Kunstgegenstände überhaupt sind Gegenstände der schönen Kunst Hervorbringungen durch menschliches Tun und wie andere menschliche Hervorbringungen auch erfüllen sie einen Nutzen. Gegenüber anderen Produkten menschlicher Tätigkeit kommt bei Werken der schönen Kunst Sulzer zufolge jedoch eine spezifische Qualität hinzu. Im Unterschied zu gewöhnlichen Artefakten sind Gegenstände der schönen Kunst zusätzlich mit Eigenschaften ausgestattet, die angenehme Empfindungen hervorrufen. Entsprechend sind bei der Hervorbringung von schönen Kunstwerken nicht nur Vorstellungen über ihren Nutzen, sondern auch über ihre Wirkung auf das menschliche Empfinden leitend. In diesem Sinn besteht das Wesen der schönen Künste nach Sulzer in »der Einwebung des Angenehmen in das Nützliche« oder auch der »Verschönerung aller dem Menschen nothwendigen Dinge«.5 Nach dieser Definition bilden Gegenstände der schönen Kunst eine Unterart der nützlichen Gegenstände. Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie über einen Nutzen verfügen und zusätzlich bei der Betrachtung eine angenehme Empfindung auslösen. Diese Definition der schönen Kunst unterstützt Sulzer durch den Hinweis auf menschheitsgeschichtlich frühe Stadien der Kunstentwicklung, bei denen zur funktionalen Gestaltung von Objekten eine ästhetische hinzukommt: »In der That läßt sich ihr Ursprung aus dem Hang, Dinge, die wir täglich brauchen, zu verschönern, begreifen.«6 Sulzers Kunstdefinition ist aber nicht auf Gegenstände eingeschränkt, bei denen der Nutzen im Gebrauch liegt und sich das Vergnügen einer Einwirkung auf die Sinne verdankt:
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6
Georg Sulzer (s. Anm. 2), bes. S. 111–186; Wili: Johann Georg Sulzer. Persönlichkeit und Kunstphilosophie (s. Anm. 3), bes. S. 31–73; Johan van der Zande: Johann Georg Sulzer’s Allgemeine Theorie der schönen Künste. In: Das achtzehnte Jahrhundert 22.1 (1998), S. 87–101; sowie die Beiträge in: Bernard Deloche (Ed.): L’esthétique de Johann Georg Sulzer (1720–1779). Lyon 2005. Sulzer: Art. Schöne Künste (s. Anm. 4), S. 72. Sulzer ordnet das Nützliche dem Angenehmen vor und bringt die Kunstmerkmale von prodesse und delectare damit in die gegenüber Horaz umgekehrte sachliche Reihenfolge: »Horaz sagt, der sey der vollkommene Künstler, der das Nützliche in das Angenehme mische; aber es ist dem höchsten Zweck der Künste gemäßer, diesen Satz umzukehren, und den für den wahren Künstler zu halten, der das Angenehme in das Nützliche mischt.« (Johann Georg Sulzer: Art. Angenehm. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste [s. Anm. 1], Bd. 1, S. 100–104, hier 102). Sulzer: Art. Schöne Künste (s. Anm. 4), S. 72.
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Achim Vesper Wenn wir also mit größter Zuversichtlichkeit wüssten, daß die schönen Künste in ihren Anfängen nichts anders als Versuche gewesen, das Auge oder die Sinnlichkeit zu ergötzen, so sey es ferne von uns, daß wir darin ihre ganze Nutzbarkeit und ihren höchsten Zweck suchen sollten.7
Demnach sind Kunstwerke auch außerhalb der Zweckdienlichkeit von Alltagsgegenständen imstande, zum menschlichen Wohl beizutragen. In der Folge errichtet Sulzer ein Ideal der Kunst, für das nur solche Gegenstände geeignet sind, deren Nutzen über die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse hinausgeht. Sulzers Terminus für dieses Ideal der schönen Kunst ist dabei der des Zwecks.
1.2. Der Zweck der Kunst Auch innerhalb seiner Zweckbestimmung behält Sulzer die Überzeugung bei, dass Gegenstände der schönen Kunst einen instrumentellen Nutzen tragen. Für den Zweck der Kunst ist jedoch ausschlaggebend, dass der Begriff des Nutzens durch Vernunft gebildet wird. Entsprechend opponiert Sulzer der Meinung, nach der die schönen Künste »blos auf Ergötzlichkeit« zielen und »ihr letzter Endzwek die Belustigung der Sinne und der Einbildungskraft« ist.8 Dagegen möchte er »erforschen, ob die Vernunft nichts größeres darin entdeke. Wir wollen sehen, wie weit die Weisheit den Hang zur Kunst gebohrner Menschen alles reizend zu machen, und die bey allen Menschen sich zeigende Anlage vom Schönen gerührt zu werden, nutzen könne.«9 Verantwortlich für die Zweckbestimmung ist eine philosophische Reflexion auf die Leistungsfähigkeit der Kunst im Unterschied zu einer empirischen Erforschung der Künste. Gesucht sind die Bedingungen, unter denen die Kunst den größten Beitrag zur menschlichen Glücksseligkeit liefert. Eingeführt wird der Zweck der Kunst von Sulzer über eine Analogie zur Wirkung von Naturgegenständen auf das menschliche Empfinden. Nach dieser Argumentation besteht der Zweck der Kunst darin, wie die Natur in der Förderung der menschlichen Glückseligkeit zu verfahren. Im Hintergrund steht die teleologische Annahme, dass die Natur für die Kultivierung des menschlichen Wohls günstig eingerichtet ist. Im Detail gehört es zur Beschaffenheit der Natur, dass für das menschliche Wohl schädliche Gegenstände durch Hässlichkeit eine unangenehme Wirkung und für das menschliche Wohl zuträgliche Gegenstände durch Schönheit eine angenehme Wirkung auf das Empfinden hervorrufen. So hat die Natur den vollen Reiz der Annehmlichkeit in die Gegenstände gelegt, die uns zur Glükseligkeit am nöthigsten sind. Sie wendet Schönheit und Häßlichkeit an, um uns das Gute und Böse kennbar zu machen; jenem giebt sie einen höhern Reiz, damit wir es lieben; diesem eine widrige Kraft, daß wir es verabscheuen.10
Man darf Sulzer dabei nicht die Auffassung zuschreiben, dass die Empfindungen des Angenehmen und des Unangenehmen Abbilder schädlicher oder wohltätiger Eigenschaften von 7 8 9 10
Ebd. Ebd., S. 72f. Ebd., S. 73. Ebd.
Sulzer über die schönen Künste und das Gute
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Gegenständen sind. Seine Argumentation geht auf die Prämissen zurück, dass (1) Empfindungen des Angenehmen oder Unangenehmen von objektiven Eigenschaften verursacht werden und (2) Empfindungen des Angenehmen oder Unangenehmen für das menschliche Wohl zuträgliche oder abträgliche Eigenschaften von Gegenständen zuverlässig repräsentieren. In dieser Weise rekonstruiert, erinnert Sulzers Beschreibung der Rolle angenehmer und unangenehmer Empfindungen an die Signaltheorie innerer Empfindungen, für die sich Descartes als Alternative zur Ähnlichkeitstheorie in der sechsten Meditation ausspricht.11 Nach Descartes nehmen wir angenehme und unangenehme Empfindungen als Anzeichen der wohltätigen oder verletzenden Eigenschaften von Gegenständen wahr, durch die sie verursacht werden. Mit einer funktionalen Beschreibung der Rolle angenehmer und unangenehmer Empfindungen für das menschliche Verhalten gibt sich Sulzer allerdings nicht zufrieden. Er fügt die Annahmen hinzu, dass die Natur mit dem Ziel eingerichtet ist, das menschliche Wohl zu befördern, und ihre Ausstattung mit schönen und hässlichen Gegenständen das Mittel zum Erreichen dieses Ziels ist. Die Ausstattung der Natur mit Schönheit und Hässlichkeit dient ihm zufolge dem Zweck, durch Empfindungen des Angenehmen oder des Unangenehmen für das menschliche Wohl jeweils begünstigende oder widrige Bedingungen anzuzeigen. Insofern Schönheit und Wohltätigkeit oder Hässlichkeit und Schädlichkeit immer zusammen auftreten, bildet es einen Aspekt der menschlichen Klugheit, hässliche Gegenstände zu meiden und nach schönen Gegenständen zu streben. Analog zum Zweck der Natur spricht Sulzer auch der Kunst den Zweck zu, die menschliche Glückseligkeit zu befördern. Wie die Natur sollen die Künste den Menschen zum Guten führen und die Empfindungen als Mittel wählen. Methodisch erklärt Sulzer: »Die allgemeine Bestrebung der schönen Kunst muß also dahin abzielen, alle Werke in eben der Absicht zu verschönern, in welcher die Natur die Werke der Schöpfung verschönert hat.«12 In Übereinstimmung mit der Absicht der Natur besteht ein untergeordneter Zweck der Kunst darin, auf die Empfindungen des Betrachters einzuwirken und seine Sinnlichkeit zur Empfänglichkeit für das Schöne durch Geschmack zu vervollkommnen. Die Absicht der Natur erschöpft sich jedoch nicht darin, das Empfinden zu beleben; stattdessen gehört es zur Absicht der Natur, durch Empfindungsqualitäten das menschliche Streben nach Glückseligkeit zu leiten. In der Folge erklärt es Sulzer für besonders wichtig, »daß die schönen Künste auch nach dem Beyspiele der Natur die wesentlichsten Güter, von denen die Glükseligkeit unmittelbar abhängt, in vollem Reiz der Schönheit darstellen, um uns eine unüberwindliche Liebe dafür einzuflößen.«13 Der Künstler soll wie die Natur verfahren, indem auch er Güter mit angenehmen Empfindungen und Übel mit unangenehmen Empfindungen verbindet. Da »die unentbehrlichsten Güter 11
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Vgl. René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia. In: Œuvres de Descartes. Ed. par Charles Adam, Paul Tannery. Bd. 7. Paris 1904, S. 80–84. Es gibt auch einen zustimmenden Verweis Sulzers auf Descartes’ Theorie innerer Empfindungen; vgl. Johann Georg Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet. In: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/1781[ND: Hildesheim 1974], hier Bd. 1, S. 225–243, spez. S. 229–230 (im Folgenden VS Band, Seitenzahl). Zu Descartes’ Signaltheorie der Empfindungen und Ablehnung der Ähnlichkeitstheorie vgl. Catherine Wilson: Descartes’s Meditations. An Introduction. Cambridge, New York 2003, S. 198–212. Sulzer: Art. Schöne Künste (s. Anm. 4), S. 74. Ebd.
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der Menschen«, wie Sulzer näher expliziert, in »Wahrheit und Tugend« bestehen, sind diese »der wichtigste Stoff, dem sie [die schönen Künste] ihre Zauberkraft in vollem Maaße einzuflößen haben«, wohingegen »Bosheit, Laster, und alles, was dem sittlichen Menschen verderblich ist, [...] durch Bearbeitung der Künste eine sinnliche Form bekommen [muss], die unsre Aufmerksamkeit reizt, aber so, daß wir es recht in die Augen fassen, um einen immerwährenden Abscheu davor zu bekommen«.14 Angelehnt an das Verfahren der Natur besteht der höhere Zweck der Künste darin, angenehme Empfindungen in Bezug auf tugendhafte Eigenschaften von Handlungen und Personen und unangenehme Empfindungen in Bezug auf untugendhafte Eigenschaften zu erregen. Denjenigen Kunstwerken, die diesen Zweck erfüllen, spricht Sulzer einen Wert zu; dagegen spricht er denjenigen Kunstwerken einen Wert ab, die die Zweckbestimmung falsch anwenden und Darstellungen des Lasters mit angenehmen Empfindungen oder Darstellungen der Tugend mit unangenehmen Empfindungen verbinden. Dabei geht er so weit, für Werke der ersten Art eine politische Förderung und für Werke der zweiten Art einen Ausschluss aus dem Gemeinwesen zu empfehlen.15 Sulzer beansprucht, damit eine erschöpfende Erklärung über das Wesen der schönen Künste, ihren Zweck und die richtige Anwendung ihres Zwecks zu geben. Zusammenfassend sagt er über die schönen Künste: »Ihr Wesen besteht darin, dass sie den Gegenständen unsrer Vorstellung sinnliche Kraft einprägen; ihr Zwek ist lebhafte Rührung der Gemüther, und in ihrer Anwendung haben sie die Erhöhung des Geistes und Herzens zum Augenmerke.«16 Fundiert wird die Kunsttheorie damit nicht in der Geschmackstheorie oder der durch Baumgarten und Meier neu begründeten Ästhetik als Wissenschaft der Sinnlichkeit, sondern der Ethik. Darüber hinaus ist für die Rekonstruktion seiner Kunsttheorie wichtig, dass Sulzer das Prinzip, wonach Kunst in der Nachahmung der Natur besteht, nicht verwirft, sondern modifiziert. Im Gegensatz zur Tradition impliziert das Nachahmungsprinzip nach Sulzer keinen Standard der kunstadäquaten Repräsentation durch Ähnlichkeit mit natürlichen Gegenständen. Alternativ soll die Nachahmung der Natur in der Übernahme der Mittel bestehen, mit denen die Natur das Ziel der Verbesserung des menschlichen Wohls verfolgt. Zwar fordert Sulzer vom Künstler die Nachahmung der Natur, nicht aber das »Abschildern« als Darstellung von Gegenständen, die möglichst viele Eigenschaften mit natürlichen Gegenständen teilen.17 Nachahmend gegenüber der Natur soll sich der Künstler dadurch verhalten, dass er Gutes durch Schönheit in einer angenehme Empfindungen und Übles durch Hässlichkeit in einer unangenehme Empfindungen erregenden Weise darstellt. Die Revision des traditionellen Prinzips führt bei Sulzer zu einem
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Ebd. Vgl. u.a. ebd., S. 78. »Wegen ihres ausnehmenden Nutzens verdienen sie [die Künste] von der Politik durch alle ersinnliche Mittel unterstützt und ermuntert, und durch alle Stände der Bürger ausgebreitet zu werden; und wegen des Mißbrauchs, der davon gemacht werden kann, muß eben diese Politik sie in ihren Verrichtungen einschränken.« (Ebd., S. 79.) Die Lenkung des öffentlichen wie privaten Gebrauchs der Künste soll nach Sulzer »als ein wesentlicher Theil in das politische System der Regierung aufgenommen werden« (ebd., S. 80). Auch schlägt er vor, einen nicht der Glückseligkeit förderlichen und deshalb falschen Gebrauch künstlerischer Mittel mit Strafe zu bewehren: »Sollten nicht gegen die Verfälschung der Kunst Strafgesetze gemacht seyn, wie gegen die Verfälschung des Geldes?« (Ebd., S. 80.) Ebd., S. 75.
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auf ein Verfahren bezogenen Verständnis von Nachahmung. Allerdings besitzen die Organisation der Natur wie das künstlerische Hervorbringen ein gemeinsames Ziel in der Förderung menschlichen Wohlergehens.18 Die Reformulierung des Nachahmungsprinzips besitzt eine Basis in Überzeugungen, die Sulzer an anderer Stelle artikuliert. Beeinflusst ist sie von der Annahme, dass das Übel der unangenehmen Empfindung nicht im Widerspruch zur Vollkommenheit der Natur steht. In diesem Sinn argumentiert Sulzer bereits im Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen aus dem Jahr 1754 dafür, dass die Existenz des Schmerzes weder mit der Vollkommenheit der Welt im Allgemeinen noch mit den menschlichen Chancen auf Erlangung der Glückseligkeit im Besonderen konfligiert und daher nicht die Theodizee gefährdet.19 Wie Sulzer im Lexikon näher darlegt, ist das Auftreten nicht nur angenehmer, sondern auch unangenehmer Empfindungen mit der Vollkommenheit der Natur verträglich, weil es einem Zweck in Beziehung auf das menschliche Wohl dient.20 Nach der Analogie mit der Natur ist auch das Bewirken von Empfindungen in den schönen Künsten nur dann erlaubt, wenn es gleichermaßen einem Zweck in Beziehung auf das menschliche Wohl dient. Weil das kunstspezifische Gut in der Tugend besteht, ist das Erregen von Empfindungen durch die schönen Künste gerechtfertigt, wenn es auf die angenehme Wahrnehmung der Tugend und unangenehme Wahrnehmung des Lasters eingeschränkt ist. Sein teleologisches Verständnis des Schönen in Natur und Kunst resümiert Sulzer wie folgt: Wir haben vorher angemerkt, was auch ohnedem offenbar am Tage liegt, wozu die Natur den Reiz der Schönheit anwendet. Ueberall ist sie die Lokspeise des Guten. So bedienen sich auch die schönen Künste ihrer Reizungen, um unsre Aufmerksamkeit auf das Gute zu ziehen, und uns mit Liebe für dasselbe zu rühren.21
Entgegen ihrer sprachlichen Form trägt die Aussage über den ethischen Wert der Künste keinen deskriptiven, sondern einen präskriptiven Gehalt. Laut Sulzer resultiert der Wert der schönen Künste ausschließlich aus der Orientierung am Guten: »Nur durch diese Anwendung wer17 18
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Johann Georg Sulzer: Art. Nachahmung. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste (s. Anm. 1), Bd. 3, S. 486–492, hier S. 488. Zu Sulzers Transformation des Nachahmungsprinzips vgl. Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 527–531; sowie Tumarkin: Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer (s. Anm. 2), S. 156–157. Sulzer betrachtet den Schmerz als notwendige Bedingung für das erfolgreiche Streben nach Glückseligkeit. Vgl. Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen. In: VS 1, S. 323–347, hier u.a. S. 323, 346. Sulzers Annahme, dass sich die Natur allgemein wohlwollend gegenüber dem Menschen beträgt, weist Goethe 1772 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen in einer Rezension einer Separatausgabe des Artikels über die schönen Künste zurück. Entsprechend lässt sich nach Goethe die Forderung nicht aufrechterhalten, dass sich die Kunst wie die Natur in der Förderung des menschlichen Wohls verhalten soll. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Beiträge zu den Frankfurter Gelehrten Anzeigen vom Jahr 1772. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Karl Richter u.a. München 1985ff., Band 1.2., S. 397–402. Zur Rezeption der Allgemeinen Theorie durch Goethe vgl. Élisabeth Décultot: L’esthétique de Sulzer entre l’Allemagne et la France au XVIIIe siècle. In: Deloche (Ed.): L’esthétique de Johann Georg Sulzer (s. Anm. 4), p. 11–37; Annie Lamblin: Sulzer, genèse et réception de sa Théorie générale des Beaux-Arts. In: Le texte et l’idée 18 (2003), p. 39–72. Sulzer: Art. Schöne Künste (s. Anm. 4), S. 76.
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den sie dem menschlichen Geschlecht wichtig und verdienen die Aufmerksamkeit des Weisen und die Pflege des Regenten.«22 Unter adäquaten Umständen erwerben die Künste das Potential zu dem »vornehmsten Werkzeuge zur Glückseligkeit der Menschen«.23 Der bisherigen Darstellung zufolge basiert Sulzers Zweckbestimmung der schönen Künste auf einer Analogie mit Eigenschaften der Natur. Für die Analogie mit der Natur sind die Vorstellungen entscheidend, dass die Natur nach dem Prinzip der Vollkommenheit zusammengesetzt und das menschliche Streben nach Vollkommenheit nur dann erfolgreich ist, wenn es mit Absichten und Mitteln der Natur übereinstimmt.24 Zusätzlich verfügt Sulzer jedoch über eine alternative Argumentation für den Bezug der schönen Künste auf das Gute – und zwar über eine alternative Argumentation mit größerer Reichweite. Im Rahmen der Argumentation für eine Analogie zwischen Zwecken der Natur und Zwecken der Künste lässt sich auch nur die schwache Behauptung vertreten, dass die schönen Künste für die Förderung des Guten geeignet sind. Sulzer vertritt aber die stärkere Behauptung, dass die schönen Künste für die Pflege der Tugend oder die Förderung des Guten unverzichtbar sind. Damit behauptet er, dass die schönen Künste einen Beitrag zum menschlichen Wohl liefern können, der auch von keiner anderen sozialen Institution erbracht werden kann. Diese Überzeugung wird durch Annahmen nicht über die Verfassung der Natur, sondern über die Bedingungen tugendhaften Handelns oder von Handlungen mit dem Ziel der Glückseligkeit gestützt.
2. Glückseligkeit und tugendhaftes Handeln Innerhalb des Lexikoneintrags zu den schönen Künsten verwendet Sulzer den Begriff des Guten ohne Differenzierung zwischen dem individuell und dem allgemein Guten oder der Glückseligkeit und dem moralisch Guten. Auch in anderen Schriften geht er von einem einheitlichen Begriff des Guten aus, der alle diese Aspekte umfasst und in ein konfliktfreies Verhältnis zu bringen versucht. In der Meinung, dass kein Gegensatz zwischen dem individuellen Streben und dem Streben anderer nach Glückseligkeit besteht, kommt er mit Glücksethiken auch in der rationalistischen Moralphilosophie unter anderem bei Leibniz und besonders Wolff überein.25 Ihr Profil erhält Sulzers Moralphilosophie jedoch dadurch, dass sie ein rationalistisches mit einem empiristischen Element verbindet. Das rationalistische Element kommt in der Überzeu22 23 24
25
Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 75: »Nur schwachen Köpfen kann es unbemerkt bleiben, daß in der ganzen Natur alles auf Vollkommenheit und Würksamkeit abzweckt.« Wie Sulzer verschiedentlich betont, spricht außer metaphysischen Gründen auch die Beobachtung für die Vollkommenheit der Natur. Zur Glücksethik Wolffs vgl. Clemens Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. Vgl. allgemein zu eudaimonistischen Ethiken in der deutschen Aufklärung Frank Grunert: Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudaimonismus-Diskussion in der deutschen Aufklärung. In: Frank Grunert, Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Tübingen 1998, S. 351–368. Für einen Überblick zum eudaimonistischen Rahmen der rationalistischen Moralphilosophie vgl. außerdem Andrew Youpa: Rationalist Moral Philosophy. In: Alan Nelson (Ed.): A Companion to Rationalism. Malden, Oxford 2005, p. 302–321.
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gung zum Ausdruck, dass es moralische Erkenntnis gibt; das empiristische Element wiederum kommt in der Überzeugung zum Ausdruck, dass moralische Erkenntnis nicht zu Handlungen motiviert. Beide Elemente versucht Sulzer in eine eudaimonistische Konzeption zu integrieren, nach der die Moral der Herbeiführung der Glückseligkeit dient.
2.1. Moralische Erkenntnis Ausdrücklich bringt Sulzer in der Schrift Psychologische Betrachtungen über den sittlichen Menschen von 1769 die Meinung vor, dass Moral und Recht die Bedingungen enthalten, unter denen sich individuelle wie allgemeine Glückseligkeit entfalten.26 Diese Meinung geht auf die Vorstellung zurück, dass sich moralische wie rechtliche Pflichten und Pflichten gegen uns selbst wie gegen andere aus dem Streben nach Glückseligkeit ableiten lassen. So begründet Sulzer alle Pflichten aus dem Gesetz des Empfindungsvermögens, »daß man nichts begehren kann, was unangenehm ist, und daß man sich gegen alles dasjenige setzet, was unsrer Natur zuwider ist«.27 Auf der einen Seite werden moralische Verpflichtungen durch die Grundlegung im Empfindungsvermögen dem Ziel subordiniert, einen Zuwachs an angenehmen Empfindungen herbeizuführen; auf der anderen Seite sind nach Sulzer ausschließlich solche Handlungen zur Erlangung angenehmer Empfindungen akzeptabel, die auch auf lange Sicht keine schädlichen Folgen für die eigene Person oder für andere nach sich ziehen. Diesen Ansatz konkretisierend, nennt er zwei Prinzipien für moralische Pflichte und Rechte. Als Pflicht gegenüber der eigenen Person und gegenüber anderen gilt dem »Satz der Weisheit« zufolge,28 »daß der Mensch verbunden ist, alle diejenigen Handlungen zu thun, ohne welche seine natürliche Verfassung in Unordnung gerathen würde, und diejenigen zu vermeiden, deren Folgen seinen natürlichen und unveränderlichen Neigungen widersprechen«.29 Und mit Blick auf berechtigte Ansprüche gegenüber anderen Personen gilt dem »Satz der Gerechtigkeit« zufolge: »Was der Mensch nöthig hat, um demjenigen, was er sich schuldig ist, ein Genüge zu thun, darauf hat er einen gerechten Anspruch«.30 Beiden Moralprinzipien schreibt Sulzer eine Geltung zu, die der Begründung der logischen Prinzipien des Satzes des Widerspruchs und des Satzes des zureichenden Grundes ebenbürtig ist. Zwar basiert Sulzers Moralphilosophie, wie er sie in den Psychologischen Betrachtungen in zeitlicher Nähe zur Publikation der Allgemeinen Theorie vorstellt, auf einer Theorie der Empfindungen; sie verfügt aber auch über eine deutliche kognitive Komponente. Empfindungsbasiert ist Sulzers Moraltheorie, weil sie Bedingungen für den erlaubten und dauerhaft erfolgreichen Erwerb von angenehmen Empfindungen angibt. Zugleich ist Sulzers Moraltheorie kognitivistisch, weil sie moralische Urteile in einer Anwendung der beiden moralischen Prinzipien durch Vernunft fundiert. Ausdrücklich weist er darauf hin, dass moralische Urteile einen kognitiven Gehalt tragen und durch Überlegung gebildet werden: »Die Erkenntniß der Pflichten ist so, wie die 26 27 28 29
Johann Georg Sulzer: Psychologische Betrachtungen über den sittlichen Menschen. In: VS 1, S. 282–306. Ebd., S. 282. Ebd., S. 287. Ebd., S. 286.
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Erkenntniß einer jeden anderen Sache, die Wirkung eines Nachdenkens.«31 Eine kognitive Auffassung moralischer Urteile bringt Sulzer innerhalb der Psychologischen Betrachtungen auch durch die Zurückweisung des »moralische[n] Pyrrhonismus« zum Ausdruck. Gemeint ist die Position des moralischen Skeptikers, der bestreitet, dass moralische Urteile wahr oder falsch sind. Dagegen beansprucht Sulzer analog zu theoretischer Erkenntnis auch für die Moral, »daß es Wahres und Falsches in unseren Kenntnissen giebt«.32 Angefochten werden durch das Nachdenken sinnliche Empfindungen, soweit sie nicht mit dem »physikalischen Bedürfnisse«33 und der »Erhaltung«34 vereinbar sind. Dank des »Beystandes der Vernunft« kommt es aber auch zur »Entdeckung einer andern Art von eben so natürlichen Bedürfnissen [...], als die physikalischen sind«.35 Durch moralische Überlegung bilden sich Bedürfnisse etwa nach Selbstzufriedenheit oder der Vervollkommnung eigener Fähigkeiten aus. Daneben kommen aber auch Bedürfnisse einer Person zustande, »sich die Hochachtung, das Wohlwollen, die Freundschaft derjenigen, mit welchen erlebet, zu erwerben«.36 Zusätzlich wird die Entstehung moralischer Bedürfnisse von der Entstehung moralischer Gefühle in der Form der inneren Sanktionen von »Bedauren« und »Reue« begleitet.37 Diese Erörterungen berechtigen dazu, Sulzer einen elaborierten Begriff der Glückseligkeit zuzusprechen. Weil Glückseligkeit im Haben von angenehmen Empfindungen ohne unangenehme besteht, können nicht alle angenehmen Empfindungen zur Glückseligkeit beitragen. Wie der Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen bestätigt, bildet der Begriff der Glückseligkeit eine Zielvorstellung sowohl für die individuelle als auch für die gattungsgeschichtliche Entwicklung; er bezieht sich auf einen Zustand, in dem ausschließlich angenehme Empfindungen vorkommen und unter allen angenehmen Empfindungen keine, aus denen unangenehme Empfindungen bei der eigenen Person oder bei anderen folgen. Welche Handlungen durch das Ziel der Glückseligkeit gebilligt werden können oder verworfen werden müssen, geht dabei aus einer Beurteilung durch die Vernunft hervor. Zusammengefasst befürwortet Sulzer eine teleologische Konzeption der Moral, die am Ziel der Glückseligkeit ausgerichtet ist. Wie Wolff schließt Sulzer aus, dass sich eine Spannung zwischen authentischen im Unterschied zu täuschenden Formen von Glück und moralischen Anforderungen ergeben kann. In weiterer Übereinstimmung mit Wolff geht Sulzer davon aus, dass die Vernunft über moralische Urteile entscheidet. Im Unterschied zu Wolff aber entwickelt Sulzer – explizit in den Psychologischen Betrachtungen – sein teleologisches Verständnis der Ethik nicht auf dem Boden von metaphysischen Überzeugungen über die Vollkommenheit, sondern auf dem Boden von anthropologischen Überzeugungen über das Empfindungsvermögen.
30 31 32 33 34 35 36 37
Ebd., S. 287. Ebd., S. 288. Beide Zitate ebd., S. 285. Ebd., S. 289. Ebd., S. 288. Ebd., S. 290. Ebd. Ebd. Die handlungsmotivierende Bedeutung von Bedauern und Reue als inneren Sanktionen wird von Sulzer jedoch nicht vertieft.
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2.2. Moralische Bewegungsgründe Ein weiterer und folgenreicher Dissens mit Wolff besteht in der Behandlung von Gründen, die eine Handlung moralisch rechtfertigen, und Motiven, die zur Ausführung der Handlung bewegen. Die zeitgenössische Bezeichnung für Handlungsmotive ist dabei die der Bewegungsgründe. Bewegungsgründe als »Gründe des Wollens und nicht Wollens« bestehen laut Wolffs Deutscher Metaphysik in einer »Vorstellung des Guten« oder »Vorstellung des Bösen«.38 Dabei gehört es nach Wolff zu einem deutlichen Begriff des Guten, dass er mit einem Wollen einhergeht, und zu einem deutlichen Begriff des Bösen, das er mit einem Nicht-Wollen einhergeht. Gemäß der Formulierung der Deutschen Ethik »gehet es auch nicht an, daß man eine an sich gute Handlung nicht wollen sollte, wen man sie deutlich begreiffet«.39 Nach Wolffs Auffassung kann man nicht zugleich einen rationalen Grund für den Vollzug oder das Unterlassen einer Handlung haben und zur Ausführung oder Unterlassung dieser Handlung nicht motiviert sein.40 Entsprechend hebt er hervor, dass der Wille durch den Verstand gebessert wird: Der Wille entstehet aus Bewegungs-Gründen: und also kann man ihm nicht anders beykommen, als daß man Bewegungsgründe in die Seele bringet, wenn man ihn ändern will. Da nun die BewegungsGründe Vorstellungen des guten und bösen sind, diese Vorstellungen aber für den Verstand gehören; so muß dem Verstande zu solcher Erkäntniß verholfen werden, wenn man dem Menschen bessern will.41
Nach dieser Position reicht eine Begründung moralischer Forderungen für die Verbesserung einer Person aus, weil die Erkenntnis ihres moralischen Werts eine Handlung herbeiführt. Wolffs Charakterisierung der Bewegungsgründe ist aber nicht in allen Teilen rationalistisch. Obgleich seiner Meinung nach eine deutliche Vorstellung des Guten oder Bösen immer zugleich ein Bewegungsgrund ist, betrachtet er nicht alle Bewegungsgründe als deutliche Vorstellungen des Guten oder Bösen. Entsprechend schreibt er in der Deutschen Metaphysik, »daß man unter die Bewegungs-Gründe nicht allein die deutlichen Vorstellungen des Guten und des Bösen zu rechnen hat, sondern auch die undeutlichen«, unter die Lust und Unlust und die Affekte fallen.42 Zentral für Sulzers Auseinandersetzung mit Wolff ist jedoch die Behauptung, dass eine jede deutliche Vorstellung einen Bewegungsgrund enthält. Gemäß dieser Auffassung sind die rationalen Gründe, die den moralischen Wert einer Handlung bestimmen, auch notwendig Motive für ihren Vollzug. 38
39 40
41 42
Christian Wolff: Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [Deutsche Metaphysik]. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Hildesheim, New York 1962ff., Abt. 1, Bd. 2, § 496. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit [Deutsche Ethik]. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 38), Abt. 1. Bd. 4, § 6. Zu Wolffs Verständnis moralischer Gründe vgl. Heiner F. Klemme: Werde vollkommen! Christian Wolffs Vollkommenheitsethik in systematischer Perspektive. In: Jürgen Stolzenberg, Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.–8. April 2004. Hildesheim, Zürich, New York 2007, Teil 3, S. 163–180. Zu Wolffs Intellektualismus vgl. außerdem Andreas Thomas: Zwischen Determinismus und Freiheit. Zum Problem des Intellektualismus in Wolffs praktischer Philosophie. In: ebd., S. 127–144. Wolff: Deutsche Ethik (s. Anm. 39), § 373 Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 38), § 502. Vgl. auch Wolff: Deutsche Ethik (s. Anm. 39), § 167.
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Anders als seine einführende Ehradresse an Wolff vielleicht vermuten lässt,43 erweist sich Sulzer in den Psychologischen Betrachtungen mit Blick auf die Theorie der Bewegungsgründe als Kritiker Wolffs. So bricht Sulzer den Zusammenhang zwischen rationalen und motivationalen Gründen, für den Wolff eintritt, ausdrücklich auf. Gegen Wolff versucht er den Nachweis zu führen, dass »die Wahrheit, die man bloß begreift, niemals zum Bewegungsgrunde wird«.44 Damit opponiert er der Ansicht, dass moralische Erkenntnis notwendig handlungswirksam wird. Alternativ behauptet er, dass moralische Erkenntnisse wie Erkenntnisse generell nicht dafür in Frage kommen, zu Handlungen zu bewegen. Nach seiner detaillierten Argumentation besteht »die Natur des Bewegungsgrundes [...] darinnen, daß er ein Verlangen in der Seele erreget«, wobei durch das Vermögen zu erkennen kein Verlangen hervorgebracht wird.45 Dem geht eine Korrektur seiner Ansichten über die motivationale Bedeutung des Verstandes voraus. Während Sulzer in der Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes von 1759 das Phänomen der Willensschwäche noch damit erklärt, dass eine Verstandeserkenntnis nicht immer hinreichend für die Ausführung einer Handlung ist,46 erkennt er 1764 in Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile die Rolle der »wahren antreibenden Kräfte in der Seele« ausschließlich den sinnlichen Empfindungen und anderen verworrenen Vorstellungen zu und erklärt: »Keine einzige deutliche Idee kann bewegen«.47 Wie in den Psychologischen Betrachtungen artikuliert er auch dort die Überzeugung, dass eine Verstandeserkenntnis in keinem Fall in der Lage ist, zur Ausführung einer Handlung zu bewegen. Die handlungsmotivierende Funktion, die er dem Erkennen als auf die Urteilsbildung bezogenem Vermögen abspricht, spricht Sulzer in den Psychologischen Betrachtungen dem Vermögen des Empfindens zu. Im Gegensatz zur »Wahrheit, die man bloß begreift«, hat diejenige Wahrheit, »die man empfindet, Einfluß in unsre Handlungen«.48 Getreu dieser Auffassung ist das Bewusstsein für den moralischen Wert von Handlungen entweder kognitiv und nicht imstande, zu Handlungen zu bewegen, oder empfindend und imstande, zu Handlungen zu bewegen. Kontrastierend zum Erkennen enthält das Empfinden »eine Neigung, nicht zu urtheilen, sondern sich von einem unangenehmen Zustande zu entfernen, oder zu einem angenehmen Zustande zu gelangen«.49 Auf der einen Seite befähigt der Verstand zur Beurteilung, aber nicht zur Ausführung von Handlungen; auf der anderen Seite befähigt das Empfinden zur Ausführung, aber nicht zur Beurteilung von Handlungen. Sulzers strikte Unterscheidung von Empfinden und Erkennen geht auf die Überzeugung zurück, dass beide Fähigkeiten eine verschiedene Natur besitzen. Ihre verschiedene Natur kommt darin zum Ausdruck, dass Erkennen und Empfinden auf verschiedene Gegenstände gerichtet sind. Während das Vermögen zu empfinden auf die Seele und die »Modification un43 44 45 46
47 48 49
Sulzer: Psychologische Betrachtungen (s. Anm. 26), S. 283. Ebd., S. 293. Ebd. Johann Georg Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe, sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe urtheilet und handelt. In: VS 1, S. 99–121. Johann Georg Sulzer: Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile. In: VS 1, S. 199–224, hier S. 213. Sulzer: Psychologische Betrachtungen (s. Anm. 26), S. 293. Ebd., S. 294.
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sers innern Zustandes« gerichtet ist, ist das Vermögen zu erkennen auf äußere Gegenstände gerichtet.50 Leitend sind die Annahmen, dass das Bewusstsein im Erkennen repräsentational und im Empfinden phänomenal verfasst ist und beide Formen des Bewusstseins voneinander unabhängig sind. Zusätzlich benötigt Sulzer aber eine Beschreibung, auf welche Weise Empfinden und Erkennen trotz ihrer unterschiedlichen Natur in einen Zusammenhang treten. Obgleich die tugendhafte Person nach Sulzer über beide Fähigkeiten verfügen muss, lässt seine strenge begriffliche Alternative von Empfinden und Erkennen keinen Raum für eine Interaktion beider Vermögen. Innerhalb der Psychologischen Betrachtungen wählt Sulzer die Gewohnheit als Brücke zwischen Erkennen und Empfinden.51 Zwar kann Gewohnheit schwache Bewegungsgründe in starke verwandeln, entgegen der Beschreibung Sulzers kann sie ein Erkennen ohne Bewegungsgründe aber nicht in ein Empfinden mit Bewegungsgründen transformieren. Ihm fehlt ein adäquates begriffliches Instrument, um einer Einwirkung des Erkennens auf das Empfinden gerecht zu werden und die Bildung moralischer Urteile durch den Verstand mit der Handlungsmotivation durch das Empfinden zu verbinden. Mit einer anderen Beschreibung lehnt Sulzer den Rationalismus in Bezug auf moralische Motivation ab, ohne sich für einen Empirismus in Bezug auf die Quelle moralischer Urteile auszusprechen. Mit Wolff teilt Sulzer die Auffassung, dass moralische Bewertungen durch Vernunft gebildet werden, und mit empiristischen Autoren teilt er die Auffassung, dass allein Empfindungen oder Gefühle zu Handlungen bewegen. Klärend ist hier ein Vergleich mit Hume, der im Unterschied zu Sulzer aus der motivationalen Rolle des Gefühls auf moralische Urteile als Gefühlsäußerungen schließt. Im Einzelnen folgert Hume aus den Prämissen, dass (1) nicht der Verstand, sondern das Gefühl zu Handlungen motiviert und (2) moralische Urteile zu Handlungen motivieren, auf die Behauptung, dass (3) moralische Urteile auf dem Gefühl und nicht auf dem Verstand basieren.52 Auch wenn Sulzer beide Prämissen akzeptiert, so verwirft er doch die Aussage, die in Humes Konklusion auftritt. Stattdessen argumentiert Sulzer für die beiden Behauptungen, dass (1*) nur das Empfinden zu Handlungen motiviert und zugleich (2*) moralische Urteile durch Nachdenken gebildet werden. Ohne die zusätzliche Behauptung, dass (3*) der Verstand auf das Gefühl einwirkt, lässt sich jedoch nicht aufrechterhalten, dass (4*) moralische Urteile zu Handlungen motivieren. Im Resultat tritt Sulzer dafür ein, dass die Rechtfertigung moralischer Urteile und die Bewegungsgründe aus voneinander vollständig unabhängigen Fähigkeiten resultieren. Daraus folgt nicht nur, dass moralische Erkenntnisse ohne Bewegungsgründe auftreten können; in einer engen Lesart folgt daraus, dass moralische Erkenntnis in keinem Fall Einfluss auf das Handeln ausüben kann.53 Nach dieser Darstellung ist Sulzers Theorie tugendhaften Handelns mit einer Schwierigkeit konfrontiert, weil moralisches Erkennen und die Bewegungsgründe für Handlungen auseinan50 51 52
53
Ebd., S. 293. Ebd., S. 297. So zumindest Humes Argumentation im dritten Buch des Treatise: »Since morals, therefore, have an influence on the actions and affections, it follows, that they cannot be deriv’d from reason; and that because reason alone [...] can never have any such influence. Morals excite passions and produce or prevent actions. Reason of itself is utterly impotent in this particular. The rules of morality, therefore, are not conculsions of our reason.« David Hume: A Treatise of Human Nature. Ed. by David Fate Norton, Mary J. Norton. Oxford, New York 2007, p. 294. Vgl. zu diesen Überlegungen auch den Beitrag von Heiner Klemme in diesem Band.
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der treten. Die Schwierigkeit kommt dadurch zustande, dass Sulzer eine rationalistische Erklärung moralischer Urteile und zugleich eine empiristische Erklärung von Handlungsmotivation vertritt. Ohne kausale Verbindung von Erkennen und Empfinden wird moralisches Handeln in diesem Rahmen zu einem Rätsel. In anderen Texten entwickelt Sulzer allerdings ein Bindeglied zwischen Erkennen und Empfinden, das nicht etwa auf Gewohnheiten als personalen Dispositionen, sondern auf eine soziale Institution rekurriert. Außerhalb des direkten Zusammenhangs seiner Moralphilosophie verfügt er über eine ausgearbeitete Theorie der Interaktion beider Vermögen – und diese Theorie ist seine Theorie der schönen Künste. Der Kunsttheorie legt Sulzer die Vorstellung zugrunde, dass moralisches Erkennen auf das Empfinden einwirken kann, wenn es künstlerisch dargestellt wird. Nachfolgend werde ich herausstellen, dass Sulzer die Fähigkeit zu einer Verbindung von Erkennen und Empfinden den schönen Künsten und nach seiner oftmaligen Aussage sogar nur den schönen Künsten zuschreibt.
3. Schöne Kunst und Tugend In unterschiedlichen Texten argumentiert Sulzer dafür, dass die schönen Künste entweder eine vorrangige oder die alleinige Quelle für die Motivation zu tugendhaftem Handeln bilden. Entgegen dem Anschein ist diese argumentative Differenz nicht marginal – sie geht vielmehr auf veränderte Überzeugungen bei Sulzer über das Verhältnis von Empfinden und Erkennen zurück.54
3.1. Erkennen, Empfinden und Betrachten als seelische Zustände In seinen früheren Texten geht Sulzer davon aus, dass zwischen Empfinden und Erkennen ein lediglich gradueller Unterschied existiert. Graduell, aber nicht spezifisch unterschieden sind Empfindung und Verstandeserkenntnis, weil sie Formen des Vorstellungsvermögens darstellen, die hinsichtlich ihrer Deutlichkeit differieren. Die Auffassung, dass Erkennen und Empfinden gemeinsam Formen von Erkenntnis bilden, trägt er 1751/52 in der Untersuchung über den Ur54
Zu Sulzers Empfindungsbegriff vgl. Tumarkin: Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer (s. Anm. 2), S. 71– 110; Wili: Johann Georg Sulzer (s. Anm. 3), S. 22–30; Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart, Weimar 1994, S. 411–439; Marion Heinz: Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie des jungen Herder (1763−1778). Hamburg 2004, S. 113–117; Till: Transformationen der Rhetorik (s. Anm. 18), S. 518–526; Élisabeth Décultot: Métaphysique ou physiologie de beau? La théorie des plaisirs de Johann Georg Sulzer (1751– 1752). In: Stefanie Buchenau, Élisabeth Décultot (Ed.): Esthétiques de l’Aufklärung. Paris 2006, p. 93– 106; Achim Vesper: Le plaisir du beau chez Leibniz, Wolff, Sulzer, Mendelssohn et Kant. In: ebd., p. 23–36, spez. S. 28–30, 33 ; Élisabeth Décultot: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie. Zu Sulzers Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1751/52). In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 69– 88; Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2009, S. 201–249.
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sprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen vor der Berliner Akademie vor.55 In dieser Schrift bezieht er die Lust »auf die Erkenntnisfähigkeit der Seele« und führt aus, dass eine Lust entsteht, wenn die Erkenntnis der Regel für die Zusammensetzung eines Gegenstands besonders leicht erworben wird.56 Innerhalb dieser Konzeption liefern leichte und deshalb lustvolle Erkenntnisse stärkere Bewegungsgründe als deutliche Erkenntnisse.57 Eine unter verschiedenen Quellen, in denen Sulzer einen relativen Vorrang der Künste für die Disposition zu tugendhaftem Handeln erläutert, bildet seine Akademierede Gedanken über den Ursprung und die verschiedenen Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste von 1757.58 Dort formuliert er: »Die Vernunft rühret nur schwach«, wohingegen die Künste fähig sind, »sich des Herzens und der Aufführung der Menschen zu bemächtigen«.59 Diese Fähigkeit wächst den Künsten zu, weil sie den scheinbaren Widerspruch zwischen Pflicht und Vergnügen auflösen.60 Außerhalb der Künste ermöglichen nach der älteren Konzeption aber auch die Gewohnheit und das Geben von Beispielen undeutliche Vorstellungen des Guten mit direktem Einfluss auf das menschliche Handeln.61 Innerhalb späterer Schriften leitet Sulzer Empfinden und Erkennen nicht mehr gemeinsam aus dem Vorstellungsvermögen her. Einschlägig sind hier Sulzers Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet von 1763.62 In diesem Text formuliert er eine neue Position, nach der Erkennen und Empfinden spezifisch verschiedene Zustände der menschlichen Seele und nicht graduell verschiedene Formen von Erkenntnis sind. Nun behauptet er, dass sich die Seele entweder im auf äußere Gegenstände bezogenen »Zustand des
55 56 57
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Johann Georg Sulzer: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. In: VS 1, S. 1–98; vgl. hierzu auch den Beitrag von Werner Euler in diesem Band. Ebd., S. 7. Vgl. Vesper: Le plaisir du beau (s. Anm. 54), p. 28–30. In diesem Sinn äußert Sulzer wiederholt, »daß eine Vorstellung um so viel weniger Kraft uns zu rühren hat, um so viel deutlicher sie sich uns darstellet« (Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes [s. Anm. 46], S. 111). Johann Georg Sulzer: Gedanken über den Ursprung und die verschiedenen Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste. In: VS 2, S. 110–128. Ebd., S. 119. Ebd. Entsprechend deute ich den Rekurs auf Gewohnheit in den Psychologischen Betrachtungen als ein Relikt Sulzers älterer Position. Johann Georg Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet. In: VS 1, S. 225–243. Innerhalb der Forschung existiert eine Kontroverse über Sulzers Empfindungs- und Lustbegriff. Nach Riedel bleibt die Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen der Psychologie Wolffs treu, von der sich Sulzer erst mit den Anmerkungen über den verschiedenen Zustand abwendet (vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden [s. Anm. 54]. Partiell abweichend argumentiere ich dafür, dass Sulzer in der Untersuchung im Unterschied zu den Anmerkungen einen intellektualistischeren Lustbegriff als Wolff vertritt (vgl. Vesper: Le plaisir du beau [s. Anm. 54], S. 28–30, 33). Dagegen erkennt Décultot eine Tendenz zur Autonomisierung der Empfindungen gegenüber dem Erkennen auch schon in der Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (vgl. Décultot: Von der Seelenkunde zur Kunsttheorie [s. Anm. 54]; vgl. hierzu auch die Beiträge von Werner Euler und Heiner Klemme in diesem Band.
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Nachdenkens« oder im auf innere Zustände bezogenen »Zustand der Empfindung« befindet.63 Damit kommt er von der Auffassung ab, dass Empfinden und Erkennen unterschiedlich leichte Ausübungen des Vorstellungsvermögens mit unterschiedlich starkem Einfluss auf das Handeln seien. Wenn die Seele im Zustand des Nachdenkens ist, so ist sie gemäß seiner neuen Erläuterung »bloß ihrem Gegenstande gegenwärtig«64 und findet man »sich zu keinen auf seine Persönlichkeit sich beziehenden Handlungen angetrieben«.65 Während im Zustand des Nachdenkens »weder Empfindung, noch Neigung, noch Willen« vorkommen,66 bringt der Zustand der Empfindung, bei dem die Seele »bloß mit sich selbst beschäftiget« ist,67 die handlungsmotivierenden Eigenschaften von »Verlangen und Abscheu« hervor.68 Seine Charakterisierung des Empfindungszustands verbindet Sulzer – Behauptungen der Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes generalisierend – mit einer These über die Grenzen praktischer Selbstkenntnis. Nach seiner Aussage werden Menschen als empfindende Wesen durch Lust und Unlust zum Handeln geführt, wobei die Ursachen ihrer Lust und Unlust für sie jedoch opak sind: »Wir empfinden das Verlangen, oder den Abscheu, ohne zu wissen, warum; wir werden von Kräften in Bewegung gesetzt, die wir nicht kennen.«69 Demnach werden wir durch die Empfindung von Lust und Unlust zum Handeln bewegt, obgleich die Ursachen der Empfindungen für uns unzugänglich sind. Grundlegend für Sulzers Theorie der verschiedenen psychologischen Zustände ist eine drastische Gegenüberstellung: Auf der einen Seite verfügen wir über ein Erkennen, von dem wir nicht im Handeln geleitet werden; auf der anderen Seite werden wir durch ein Empfinden zum Handeln geführt, das keinen repräsentationalen Gehalt besitzt. Diese Theorie verschiedener psychologischer Zustände bietet die Quelle der moralpsychologischen These der Psychologischen Betrachtungen, wonach das Erkennen repräsentational, aber nicht volitional und das Empfinden volitional, aber nicht repräsentational beschaffen ist.70 Infolge der Theorie der verschiedenen Zustände dichotomisiert Sulzer Empfinden und Erkennen und betrachtet nur das Empfinden und nicht das Erkennen als qualifiziert für das Hervorbringen von Bewegungsgründen. Sulzer bleibt jedoch nicht bei der Dichotomie der Zustände von Nachdenken und Empfinden stehen, sondern fügt einen dritten Zustand als »Zustand der Betrachtung (contemplation)« hinzu, in dem »die Wirkungen des Geistes so wohl vom Nachdenken, als vom Empfinden etwas an sich zu haben« scheinen.71 Die Gemeinsamkeit mit Empfinden und Erkennen drückt sich darin aus, dass die Seele im Zustand der Betrachtung über eine Wahrnehmung von Lust oder Unlust in Kombination mit einer Wahrnehmung des Lust oder Unlust verursachenden 63
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Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 11), S. 229. Auch Heinz hebt hervor, dass wir uns nach Sulzer nur in einem der beiden Zustände und nicht in beiden zugleich befinden können (Heinz: Sensualistischer Idealismus [s. Anm. 54], S. 114). Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 11), S. 228. Ebd., S. 229. Ebd., S. 228. Ebd., S. 228f. Ebd., S. 229. Ebd., S. 241. Innerhalb der Psychologischen Betrachtungen verweist Sulzer auf die Anmerkungen über den verschiedenen Zustand und referiert ihre Ergebnisse. Vgl. Sulzer: Psychologische Betrachtungen (s. Anm. 26), S. 293f. Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 11), S. 236.
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Gegenstands verfügt. Kognitive und affektive Aspekte treten zusammen auf, weil die Betrachtung »aus einer beständigen und schnell auf einander folgenden Abwechslung des Nachdenkens und des Empfindens« entsteht.72 Allerdings bleibt das Betrachten gegenüber dem Erkennen epistemisch eingeschränkt, auch wenn es über das Empfinden hinausgeht. Zwar sieht der Mensch im Zustand der Betrachtung klar genug, um an einem Gegenstand die Eigenschaft zu gefallen oder zu missfallen wahrzunehmen; er sieht jedoch nicht deutlich genug, um die Eigenschaften wahrzunehmen, aufgrund deren ein Gegenstand gefällt oder missfällt: »man befriediget sich mit verworrenen Ideen, und verlanget nicht, sie ganz deutlich zu machen«.73 Undeutlich ist die Betrachtung, weil der Gegenstand ohne Unterscheidung seiner Teile und der Regel ihrer Zusammensetzung erfasst wird. Ohne Assimilierung an das Erkennen von Regeln wird das Betrachten als ein Zustand charakterisiert, in dem Eigenschaften sowohl des Erkennens als auch des Empfindens vorkommen. Restringiert ist der Zustand der Betrachtung darüber hinaus hinsichtlich seines Gegenstandsbereichs, nach Sulzer ist der Zustand der Betrachtung ein Zustand der Betrachtung des Schönen.74 Der Zustand der Betrachtung dient ihm aber nicht nur für eine Rekonstruktion der Wahrnehmung des Schönen, sondern auch für eine Rekonstruktion ihres moralischen Nutzens. Weil die Betrachtung des Schönen den einzigen Zustand bildet, der zugleich repräsentational und volitional verfasst ist, eignet sich die schöne Kunst für die Vermittlung der »Wahrheit, die einen Einfluß in unsre Handlungen haben soll«.75 Sulzers Argumentation für den moralischen Nutzen erfolgt entlang der Annahmen, dass (1) lediglich in der Betrachtung des Schönen die Eigenschaft von Gegenständen wahrgenommen wird, Lust oder Unlust zu erregen, und (2) bei adäquater Darstellung in der Betrachtung der schönen Künste die Eigenschaft moralischer Gegenstände wahrgenommen wird, Lust oder Unlust zu erregen. Dabei gehört es zu den Anforderungen an einen für den Zustand der Betrachtung geeigneten Gegenstand, dass »es auf der einen Seite nicht möglich ist, ihn zu ergründen, und daß er uns auf der andern Seite nicht sehr interessirt«.76 Untauglich für die Betrachtung sind Gegenstände des praktischen Interesses, die nicht als verursachend für Lust oder Unlust wahrgenommen werden, oder auch Gegenstände explikativen Wissens, die ohne Lust und Unlust wahrgenommen werden. Dagegen werden moralischen Vorzügen und Fehlern die Eigenschaften zuerkannt, mit Lust und Unlust einherzugehen, wenn sie künstlerisch dargeboten und ohne praktisches Interesse und deutliche Erkenntnis aufgefasst werden. Insofern der Gegenstand der Kunst wie in der Kunstform des Theaters etwa in Handlungen besteht, ist die schöne Kunst in der Lage, durch Lust verursachende Darstellung ein Verlangen nach moralischen Handlungen und durch Unlust verursachende Darstellung ein Verabscheuen unmoralischer Handlungen hervorzurufen. Alternativ zur Erklärung aus Prinzipien führen künstlerisch dargestellte moralische oder unmoralische Handlungen einen Wunsch nach moralischen Handlungen oder nach dem Vermeiden unmoralischer Handlungen herbei. 72 73 74 75 76
Ebd. Ebd., S. 237. Als Beispiele für den Zustand der Betrachtung des Schönen nennt Sulzer das Betrachten schöner Landschaften und der schönen Künste. Vgl. ebd., S. 237, S. 241. Ebd., S. 239. Ebd., S. 237.
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Allerdings bringt Sulzer die Kunst als Quelle moralischer Motivation in den an die Anmerkungen über den verschiedenen Zustand angelehnten Psychologischen Betrachtungen nicht ausdrücklich ins Spiel. Stattdessen erstellt er eine Liste an Anforderungen für das Zustandekommen von Bewegungsgründen, die in der Betrachtung schöner Kunst zumindest paradigmatisch erfüllt werden. Dieser Aufstellung zufolge kann die Wahrnehmung eines moralischen Sachverhalts genau dann einen Bewegungsgrund hervorbringen, wenn (1) er »mit einem einzigen Blick erfaßt« werden kann, sodass die Aufmerksamkeit nicht vom inneren Zustand abgelenkt wird, (2) die Ideen so beschaffen sind, »daß wir sie auf uns selbst anwenden können«, und (3) wir »in der gehörigen Gemüthsverfassung« sind, »um in uns zu gehen, und die Wirkung, welche sie [die Ideen] auf uns machen kann, zu erfahren«.77 Damit verfolgt Sulzer die These, dass eine handlungsmotivierende »Empfindlichkeit des Herzens« nicht durch die »abstrakten Wissenschaften« erworben wird.78 Erworben wird die moralische Sensibilität stattdessen durch die Kunsterfahrung, wie Sulzer an anderen Orten expliziert.
3.2. Schöne Kunst als moralische Kraft Die Theorie des Zustands der Betrachtung liegt der Vorstellung zugrunde, dass allein die schönen Künste zu tugendhaftem Handeln zu motivieren imstande sind. Die Dichotomie der Zustände von Erkennen und Empfinden beeinflusst die Beschreibung der Psychologischen Betrachtungen, wonach der Verstand zur Handlungsmotivation ungeeignet ist, während ein Bewegungsgrund auf der »Empfindung eines gewissen Zwanges oder einer gewissen Unbequemlichkeit« beruht.79 Wie der Lexikoneintrag zur Sinnlichkeit fast gleichlautend expliziert, besteht der seelische Zwang in Gefallen oder Missfallen gleichbedeutend mit dem Wunsch, in einem Zustand zu verharren oder einen Zustand zu verlassen.80 Die Gegenüberstellung von Erkennen und Empfinden überschreitend, spricht Sulzer im ›Artikel zu den schönen Künsten‹ den Künsten die Fähigkeit zu, Vorstellungen des tugendhaften Handelns mit einem Zwang durch Vergnügen oder Missvergnügen auszustatten. Dabei besitzen die schönen Künste exklusiv die Eigenschaft, »durch innern Zwang den Menschen zu seiner Pflicht an[zu]halten«.81 Sulzer artikuliert die Überzeugungen, dass ohne das Erregen von angenehmen oder unangenehmen Empfindungen keine Handlungsmotivation entstehen, und nur die schönen Künste eine Verbindung zwischen tugendhaften Vorstellungen und angenehmen und unangenehmen Empfindungen herstellen. In der Übersicht behauptet Sulzer, dass alternativ zum Verstand das Empfinden zum Handeln bewegt und allein die schönen Künste zu tugendhaftem Handeln bewegen können, weil sie Darstellungen der Tugend mit Empfindungen zu verknüpfen in der Lage sind: »[D]er Verstand würkt nichts als Kenntniß, und in dieser liegt keine Kraft zu handeln. Soll die Wahrheit würksam werden, so muß sie in Gestalt des Guten nicht erkannt, sondern empfunden werden; denn 77 78 79 80 81
Sulzer: Psychologische Betrachtungen (s. Anm. 26), S. 296. Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 11), S. 241. Sulzer: Psychologische Betrachtungen (s. Anm. 26), S. 293. Johann Georg Sulzer: Art. Sinnlich. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste (s. Anm. 1), Bd. 4, S. 408– 414, hier S. 408. Sulzer: Art. Schöne Künste (s. Anm. 4), S. 77.
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nur dieses reizt die Begehrungskräfte.«82 Da die Künste imstande sind, »jede Tugend, jede Empfindung eines rechtschaffenen Herzens, jede wohlthätige Handlung in ihrem vollen Reize« darzustellen, folgert Sulzer:83 Also müssen wir die schönen Künste, als die nothwendigen Gehülfen der Weisheit ansehen, die für das Wohlseyn der Menschen sorget. Sie weiß alles, was der Mensch seyn soll; sie zeichnet den Weg zur Vollkommenheit und der nothwendig damit verbundenen Glükseligkeit. Aber die Kräfte, diesen oft steilen Weg zu besteigen, kann sie nicht geben; die schönen Künste machen ihn eben.84
Diese Aufgabenteilung reagiert auf den Befund, dass die schönen Künste etwas können, was die Philosophie nicht kann, und die Philosophie etwas kann, was die schönen Künste nicht können. Während die Künste durch das Herbeiführen angenehmer und unangenehmer Empfindungen zu Handlungen bewegen können, kann die Philosophie durch den Gebrauch des Verstandes moralisches Wissen erwerben. Die moralische Kunstfunktion ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kunst für moralische Motivation verantwortlich, aber auf moralische Rechtfertigung durch die Philosophie angewiesen ist. In der Folge erlangen die Künste einen geringeren Wert, wenn sie nur den Geschmack am Schönen befriedigen, und einen größeren Wert, wenn sie »durch die Vormundschaft der Vernunft«85 die Darstellung von »praktischen Begriffen«86 leisten. Zwar ist moralische Erkenntnis nicht selbständig in der Lage, Bewegungsgründe hervorzubringen, in Verbindung mit einer künstlerischen Darstellung gewinnt sie aber die Fähigkeit, zu Handlungen zu bewegen oder eine handlungsmotivierende moralische Sensibilität auszubilden. Übereinstimmend erklärt Sulzer im Aufsatz Von der Kraft in den Werken der schönen Künste von 1765, dass der Verstand der Seele »gar keine thätige Kraft« verleiht, während eine »Energie« zu moralischen Handlungen vorhanden ist, »welche bloß allein der Künstler den speculativischen Weisheiten geben kann«.87 Entgegen dem Anschein ist Sulzers Verwendung der Begriffe von Kraft und Energie nicht mysteriös, weil sie sich auf die Antriebskräfte oder Bewegungsgründe des Handelns bezieht. Nachhaltig vertritt Sulzer in diesem Aufsatz die Meinung, dass die Kraft zum moralischen Handeln aus dem Umgang mit Kunstwerken, aber nicht aus Überlegung erwächst. Auch wenn die Philosophie moralische Einsichten liefert, kommen »die nöthigen Kräfte, um denselben gemäß zu handeln«, aus den schönen Künsten:88 Ihnen kömmt es zu, die Lehren der Philosophie dem Gemüthe mit einer Kraft einzudrücken, dergleichen die nackte Wahrheit niemals hat; sie müssen sich der Einbildungskraft und des Herzens der Menschen bemächtigen, um sie nach dem erhabenen Ziele zu lenken, welches uns die Philosophie vorgesetzt hat.89
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Ebd., S. 78. Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. Ebd., S. 93. Johann Georg Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste. In: VS 1, S. 122–145, hier S. 132. Ebd., S. 123. Ebd., S. 123.
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Hier bringt Sulzer erneut die Auffassung vor, dass eine Erkenntnis des moralisch Richtigen und Falschen für das Ausführen einer moralischen oder Unterlassen einer unmoralischen Handlung nicht hinreichend ist. Erfüllt wird die motivationale Bedingung hingegen durch die jeweils Lust oder Unlust erregende Darbietung moralischer oder unmoralischer Handlungen in den schönen Künsten.
4. Schluss Erörtert wurden zwei Argumentationen für den Wert der schönen Kunst nach Sulzer. Während die erste Argumentation über eine Analogie mit der Verfassung der Natur verläuft, wird die zweite über eine Erörterung der Bedingungen für tugendhaftes Handeln durchgeführt. Für Sulzers zweite Argumentation ist die Meinung zentral, dass ohne die Künste kein Zusammenhang zwischen Gründen und Motiven für moralische Handlungen existiert. Beiden Argumentationen zufolge besteht der wohlverstandene Zweck der schönen Kunst nicht in der Entfaltung der Sinnlichkeit, sondern in einem Beitrag zu Tugend und Glückseligkeit. Da Sulzer in Bezug auf die schönen Künste die Ansicht vertritt, dass »deren eigentliches Geschäfft es ist, ein lebhaftes Gefühl für das Schöne und Gute, und eine starke Abneigung gegen das Häßliche und Böse zu erweken«, plädiert er für einen Moralismus in der Kunstästhetik, nach dem der ästhetische Wert der Kunst vom moralischen abhängt.90 Abschließend seien zwei offenkundige Probleme von Sulzers Theorie der schönen Künste genannt. Zum einen restringiert Sulzers moralische Bestimmung der schönen Künste die künstlerische Wahl von Stoffen und Gestaltungsweisen.91 Vermutlich berechtigt kritisiert Goethe in Dichtung und Wahrheit Sulzers von der moralischen Kunstfunktion abgeleitete Einschränkung des künstlerischen Handelns: »moralische Zwecke vom Künstler fordern, heißt ihm sein Handwerk verderben«.92 Zum anderen ist Sulzers Theorie paternalistisch, da sich der moralische Gehalt der schönen Künste staatlich unterstützten philosophischen Sittenlehrern als moralischen Experten und nicht der moralischen Reflexion oder Sensibilität ihrer Produzenten und Rezipienten verdankt.93 Restriktiv interpretiert erhalten die schönen Künste innerhalb seiner Vorgaben ihren moralischen Wert allein dadurch, dass sie bei ihren Rezipienten innere Sanktionen erzeugen und zu moralkonformem Verhalten nötigen.
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Johann Georg Sulzer: Vorrede zu der ersten Auflage. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste (s. Anm. 1), Bd. 1, S. XII–XX, hier S. XIII. Zur Restriktion der Wahl des Stoffes vgl. Sulzer: Art. Schöne Künste (s. Anm. 4), S. 93: »Der Künstler wähle Gegenstände, die auf die Vorstellungs- und Begehrungskräfte einen vorteilhaften Einfluß haben; denn nur diese verdienen uns stark zu rühren«. Für ein zuverlässiges Befolgen ihres Zwecks erfordert die Kunst deshalb »nicht nur einen großen Künstler, der seinen Gegenstand auf das lebhafteste darstelle, sondern auch einen rechtschaffenen Mann, der selbst eine große Seele habe, die jedes Gute und Böse kenne.« Vgl. auch Sulzer: Art. Kraft (s. Anm. 85), S. 66. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (s. Anm. 20), Bd. 16, S. 574. Zum Paternalismus der politischen Theorie Sulzers vgl. auch den Beitrag von Dieter Hüning in diesem Band.
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Es lassen sich aber auch Gründe anführen, aus denen Sulzer in Ästhetik und Ethik Beachtung verdient: So verdient er Beachtung, weil er ein rationalistisches Verständnis moralischer Gründe problematisiert. Außerdem verdient Sulzer Beachtung, weil er auf die unterschiedliche Verfassung moralischen Wissens durch Kunst oder durch Überlegung aufmerksam macht. Mit Sulzer kann man sich dafür aussprechen, dass moralisches Wissen durch Kunst in besonderem Maße handlungsmotivierend und zugleich nicht notwendig mitbewusster Überlegung verbunden ist. Wahrscheinlich unplausibel ist dagegen die Behauptung, dass die Motivation zu tugendhaftem Handeln nicht auch aus überlegter Einsicht in das moralisch Richtige und Falsche resultieren kann.94
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Verfasst wurde dieser Text in Verbindung mit dem Projekt Quellen moralischer Normativität im Exzellenzcluster ›Herausbildung normativer Ordnungen‹, Goethe-Universität Frankfurt a.M.
JUTTA HEINZ
»Für Weltleute hinreichend« Popularästhetik in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste
Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste, sein über 20 Jahre hinweg erarbeitetes Lebenswerk, wurde von den Zeitgenossen bekanntermaßen recht unterschiedlich aufgenommen.1 Ein häufig vorgebrachter Vorwurf war die mangelnde praktische Erfahrung des Autors als Künstler, so schrieb Schiller: Es ist ein Glück, daß das wahre Genie auf die Fingerzeige nicht viel achtet, die man ihm, aus besserer Meinung als Befugnis, zu erteilen sich sauer werden läßt; sonst würden Sulzer und seine Nachfolger der deutschen Poesie eine sehr zweideutige Gestalt gegeben haben.2
Noch deutlicher befand der junge Goethe in seiner harschen Rezension für die Frankfurter Gelehrten Anzeigen: »Wer von den Künsten nicht sinnliche Erfahrung hat, der lasse sie lieber.«3 Demgegenüber verteidigte ein anderer bekannter Dilettant in ästhetischen Fragen, Christian Friedrich Blanckenburg,4 die ästhetische Kompetenz von Nicht-Künstlern und Philosophen:
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Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Neue vermehrte zweyte Auflage. Leipzig 1792 [ND mit einer Einl. hg. v. Giorgio Tonelli. Hildesheim 1970, 21994]; für allgemeine Informationen zu Entstehung, Druckgeschichte, Zusammensetzung und Mitarbeitern vgl. Johan van der Zande: Johann Georg Sulzer’s »Allgemeine Theorie der schönen Künste«. In: Das achtzehnte Jahrhundert 22 (1998), S. 87–101; Johannes Leo: Zur Entstehungsgeschichte der »Allgemeinen Theorie der schönen Künste« J. G. Sulzers. Berlin 1906. Friedrich Schiller: Über das Pathetische. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert. München 31962, Bd. 5, S. 512–537, hier S. 534. Johann Wolfgang von Goethe: Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, betrachtet von J. G. Sulzer [Leipzig 1772. Rezension für die »Frankfurter Gelehrten Anzeigen«]. In: ders.: Goethes Werke (Weimarer Ausgabe). 133 Bde. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1919, Bd. 37, S. 206–214, hier S. 207. Vgl. zum gleichen Problem auch Jean Paul: Vorrede zur ersten Ausgabe [der »Vorschule der Ästhetik«]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Norbert Miller. München 1960ff., Bd. 5, S. 24f.: »Die rechte Ästhetik wird daher nur einst von einem, der Dichter und Philosoph zugleich zu sein vermag, geschrieben werden; er wird eine angewandte für den Philosophen geben, und eine angewandtere für den Künstler« (vgl. auch ebd., S. 19, wo Jean Paul explizit Sulzer nennt). Ebenfalls explizit verteidigt Jean Paul den Eklektizismus in der Ästhetik: »Ästhetische Eklektiker sind in dem Grade gut, in welchem philosophische schlecht« (ebd., S. 14, Vorrede zur zweiten Auflage). Der später die weiteren Auflagen der Allgemeinen Theorie der schönen Künste herausgab und ergänzte; vgl. van der Zande: Sulzer’s »Allgemeine Theorie der schönen Künste« (s. Anm. 1).
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Jutta Heinz Freylich aber, glücklich der Dichter, der einen Mendelssohn, einen Sulzer um Rath fragen, und den Rath nützen kann! Von ihnen, und von den Philosophen überhaupt, wird er dann das Geschlecht der Menschen besser kennen, und immer zur Erreichung seiner Absicht die sichersten und kürzesten Mittel wählen lernen.5
Exemplarisch werden hier zwei verschiedene Auffassungen des Verhältnisses von Kunst und Philosophie bzw. Ästhetik vertreten. Für den Aufklärer Blanckenburg muss der Dichter von den Philosophen lernen, und zwar vor allem in Bezug auf die Menschenkenntnis. Für den Stürmer und Dränger Goethe oder den Klassiker Schiller ist es geradezu von Übel, wenn das ›wahre Genie‹ auf den Theoretiker hört – der praktizierende Künstler ist der einzige, dem auf produktionsästhetischem Gebiet wahrer Sachverstand aufgrund persönlicher Erfahrung zukommt. Nun war Sulzer zwar in seinem bewegten Leben vieles, nur kein Künstler. Aber immerhin zeichnen sich, liest man seine Autobiographie, doch einige Kompetenzen ab, die ihn zum Verfasser einer Ästhetik-Enzyklopädie qualifizieren. Dazu gehören beispielsweise seine bereits in jugendlichem Alter weitgestreuten, nicht-spezialisierten Interessen, verbunden mit einem methodischen Autodidaktentum: »Mit gleicher Lust schrieb ich Anmerkungen über mein hebräisches Lexikon, oder über Wolf’s mathematische Schriften und Linne’s Systema naturae.«6 Daneben prägt ihn eine doppelte Anlage, nämlich die zum Gelehrten und zum ›Weltmann‹, um in den Termini der Zeit zu sprechen. Zwar betreibt er diszipliniert und engagiert seine vielfältigen wissenschaftlichen Studien und betätigt sich als akademischer Lehrer; gleichwohl steht er dem Leben und dessen weltlichen Genüssen nicht abgeneigt gegenüber: »Diese auf alles zerstreuete Neigung ist mir hernach bis in mein Alter und in diese meine letzten Tage geblieben; und eben so die, zwischen Geschäften, dem Genusse des Lebens und dem Studiren getheilte Neigung.«7 Schließlich sind vor allem seine akademischen Beiträge zur Psychologie zu erwähnen, die bei allem zeittypischen Eklektizismus8 eine dezidiert eigene Stellung zu vielen Problemen der aufklärerischen Anthropologie einnehmen und sich vor allem an einer Theorie der dunklen und undeutlichen Vorstellungen abarbeiten.9 5 6 7
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Christian Friedrich Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig, Liegnitz 1774, S. 529. Johann Georg Sulzer: Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt. Aus der Handschrift abgedruckt, mit Anm. hg. von Johann Bernhard Merian, Friedrich Nicolai. Berlin, Stettin 1809, S. 5. Ebd., S. 6: »Hier also gewöhnte ich mich an eine Art zu leben, der ich hernach mein ganzes Leben hindurch gefolgt bin. Ein Theil meiner Zeit wurde auf das Studiren gewendet, ein anderer, auf den Genuß der schönen Natur durch Spazierengehen und Beobachten der verschiedenen Feldarbeiten, und ein dritter, auf gesellschaftlichen Umgang und Theilnehmung an Geschäften.« Vgl. auch Leo: Zur Entstehungsgeschichte der »Allgemeinen Theorie der schönen Künste« (s. Anm. 1), S. 9: Sulzer sei kein »›ursprünglicher Denker‹« gewesen, sondern zeitlebens »Eklektiker« geblieben. Die Forschung hat hier einen Vorgriff auf eine Theorie des ›Unbewussten‹ gesehen; vgl. Wolfgang Proß: »Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten«. Johann Georg Sulzer (1720–1779). In: Hellmut Thomke, Martin Bircher, Wolfgang Proß (Hg.): Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770–1830. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 133–148: »Niemand hat vor Sulzer sich so nachdrücklich auf die Natur der unbewußten und dunklen Phänomene der Seele, über die Lust am Unangenehmen und Widersinnigen […] eingelassen« (S. 135). Ebenso befindet Wolfgang Riedel: »Sulzer ›erfindet‹ die Empfindung als das Andere der Vernunft« (Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart, Weimar 1994, S. 410–439, hier S. 416).
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Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste reflektiert viele dieser Wesenszüge: den autodidaktisch-dilettantischen Zugriff – nur hier und da, vor allem bezüglich der Artikel zur Musik, ergänzt durch professionellen Fachverstand;10 die Berufung auf die eigene Erfahrung bei gleichzeitiger Auseinandersetzung mit der gelehrten Tradition und den philosophischen Hauptströmungen der Zeit;11 die anthropologisch-psychologische Fundierung vieler Aussagen bei Beibehaltung eines im großen und ganzen harmonistischen Welt- und Naturbilds; die pädagogische Intention, die sich mit dem leserfreundlichen Lexikonformat an ein breites Publikum richtet und in der ästhetischen Erziehung eine nationale Aufgabe im Dienste des verehrten Preußenkönigs sieht.12 Versuchsweise könnte man, in Analogie zu einer bekannteren Begriffsprägung, von einer ›Popularästhetik‹ des 18. Jahrhunderts sprechen, die sowohl für den werdenden Künstler als auch für den werdenden Kunstrezipienten geschrieben ist.13 Ich will im Folgenden die Allgemeine Theorie der schönen Künste als eine solche Popularästhetik lesen und mich dabei exemplarisch auf die produktionsästhetischen Aspekte konzentrieren.14 10
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Die Dichter weigerten sich im Übrigen; Sulzer hatte u.a. bei Gleim angefragt. Vgl. dazu den Brief Sulzers an Bodmer, 27. Oktober 1762: »Ich sehe mich vergeblich nach Hüllfe um und muß mir gefallen laßen, alles allein zu thun« (zitiert nach Leo: Zur Entstehungsgeschichte der »Allgemeinen Theorie der schönen Künste« [s. Anm. 1], S. 38). Vgl. zu den konkreten Einflüssen auf die Allgemeine Theorie ausführlich Karl Josef Gross: Sulzers »Allgemeine Theorie der Schönen Künste«. Berlin 1905, Kap. I: Von Bedeutung gewesen seien vor allem »die Baumgartensche Schönheitsformel von der Uebereinstimmung des Mannigfaltigen zu einem, die von den Schweizern übernommene Zwecksbestimmung der Kunst, demzufolge sie durch Ergötzen das Wohlsein der Menschen fördern soll, Shaftesburys höhere Schönheit geistig ethischer Natur, die von Home der Kunst zugesprochene Wirkung, uns von der groben Sinnlichkeit abzulenken und unser seelisches Leben zu verfeinern, sowie seine ästhetisch-teleologische Naturauffassung […], Dubos’ Lehre von dem lustvollen Charakter lebhafter Gemütsbewegungen« (S. 16f.). Die durchgehend pädagogische Intention stellt vor allem Anna Tumarkin in den Vordergrund: Es handele sich um das »Werk eines philosophischen Erziehers, der durch die Darstellung der natürlichen Bestimmung der Kunst beitragen will zur ›Erhebung der ganzen Nation‹, der Nation seines zweiten Vaterlandes, des Deutschlands Friedrich des Großen« (Anna Tumarkin: Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer. Frauenfeld, Leipzig 1933, S. 43). Vgl. ebenso Leo: Zur Entstehungsgeschichte der »Allgemeinen Theorie der schönen Künste« (s. Anm. 1), S. 34: »Der Kernpunkt seines Hauptwerkes aber bleibt der populäre Bildungszweck, welchem es in seiner ersten Anlage gewidmet ist.« Die Zielgruppe wird in der Ankündigung von Sulzer folgendermaßen charakterisiert: »etwas mittelmäßiges für nicht allzu gründliche Liebhaber« (zitiert nach ebd., S. 39). Bodmer schreibt im September 1756 begeistert an Sulzer: »Es wird ein allgemeines Buch werden, ein Buch, das man lesen wird. Jeder wird daraus etwas für sich finden, die ungelehrten, die frauenzimmer, die Dunsen selbst werden es nöthig haben, und sie werden sich nicht erwehren können, Sachen darinnen zu finden, die sie nicht gesucht hatten« (zitiert nach ebd., S. 40). Der dominante Aspekt, unter dem die Ästhetik der Aufklärung zumeist betrachtet wird, ist zweifellos der der Wirkungsästhetik – von den Theorien Bodmers und Breitingers über das Wunderbare und Lessings Mitleidspoetik bis hin zu den Konzepten des Erhabenen bei Schiller und anderen steht die moralische, didaktische, unterhaltsame oder sonstige Wirkung des Kunstwerks auf den Rezipienten im Vordergrund. Dass dabei natürlich produktionsästhetische Überlegungen mitlaufen, ist jedem klar, der heuristische Grenzziehungen nicht mit den sehr viel komplexeren Verwirrungen und Verbindungen der Dinge in der realen Welt verwechselt. Gleichwohl gilt auch für Sulzers ästhetische Theorie, dass sie von Anfang an vor allem als Plädoyer für ein aufklärerisches Nützlichkeitspostulat der Wirkung
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Jutta Heinz
Dazu werde ich vor allem die für das Thema einschlägigen, stärker theoretisch und psychologisch orientierten Grundlagenartikel untersuchen15 und dabei drei Themenkomplexe behandeln: 1. Zum Verhältnis von Geschmack und Genie, Begeisterung und Reflexion: der produktive Prozess; 2. Aufmerksamkeit, Empfindung, Dichtungskraft: die produktive Persönlichkeit; 3. Dichtung, Natur und Kultur: Natur als Vorbild von Produktivität. Abschließend werde ich daraus die Grundzüge einer Popularästhetik auf anthropologischer Basis herleiten.
1. Genie und Geschmack, Begeisterung und Reflexion – der produktive Prozess16 Zentral für Sulzers Philosophie insgesamt und von der Forschung bereits hinreichend herausgearbeitet ist die Überzeugung von der Zweistämmigkeit von Vorstellung und Empfindung in der menschlichen Seele; so heißt es beispielsweise in der Vorrede: Der Mensch besizet zwey, wie es scheinet, von einander unabhängliche Vermögen, den Verstand und das sittliche Gefühl, auf deren Entwiklung die Glükseeligkeit des gesellschaftlichen Lebens gegründet werden muß. Von dem Verstand hänget die Möglichkeit desselben ab, das sittliche Gefühl aber giebt diesem Leben das, ohne welches dasselbe keinen Werth haben würde.17
Aus dieser Grundannahme resultiert direkt die Bestimmung des Künstlers: Während der Philosoph für die Vorstellungen, den Verstand, die Vernunft – also für die intellektuelle Hälfte des Menschen – verantwortlich ist, soll die Kunst die Gefühle kultivieren; schließlich macht beides zusammengenommen erst die Glückseligkeit des Menschen aus: »Zur Wartung des Verstandes hat man überall große und kostbare Anstalten gemacht; desto mehr aber hat man die wahre Pflege des sittlichen Gefühles versäumet«.18
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galt (und kritisiert wurde) – bezog man sie nun im Blick nach vorn auf Schillers ›ästhetische Erziehung‹ oder im Blick zurück auf die aufklärerischen Grundaufgaben der Geschmacksschulung und der Sittenverbesserung. Besonders berücksichtigt wurden die Artikel Ausarbeitung (in: Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste [s. Anm. 1], Bd. 1, S. 246–250), Begeisterung (ebd., S. 349–357), Deutlichkeit (ebd., S. 603–605), Dichter (ebd., S. 608–618), Dichtkunst/Poesie (ebd., S. 619–656), Dichtkunst/Poetik (ebd., S. 656–683), Dichtungskraft (ebd., S. 683–685), Empfindung (ebd., Bd. 2, S. 53–59), Erdichtung (ebd., S. 82–85), Erfindung (ebd., S. 86–96), Gedanken (ebd., S. 319–322)), Gedicht (ebd., S. 322–330), Genie (ebd., S. 363–368), Geschmak (ebd., S. 371–385), Klarheit (ebd., Bd. 3, S. 43–48), Kraft (ebd., S. 61–66), Künstler (ebd., S. 100–104), Leidenschaften (ebd., S. 223–237), Nachahmung (ebd., S. 486–492), Natur (ebd., S. 507–511), Natürlich (ebd., S. 511–514), Originalgeist (ebd., S. 625–628), Poetisch/poetische Sprache (ebd., S. 707–710), Regeln/Kunstregeln (ebd., Bd. 4, S. 73–80), Täuschung (ebd., S. 514–516), Wahrheit (ebd., S. 718–721), Wahrscheinlichkeit (ebd., S. 721–726), Werke des Geschmaks/Werke der Kunst (ebd., S. 727–730). Die Kapiteleinteilung folgt in groben Zügen dem von der Kreativitätsforschung entwickelten 4-P-Modell (Mel Rhodes), das als wesentlich für Kreativität folgende Aspekte unterscheidet: personality, process, press, product. Sulzer: Vorrede zum ersten Theil. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 1), Bd. 1, S. III–X, hier S. XII. Vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden (s. Anm. 9), S 427: »Der Dualismus von Erkennen und Empfinden liegt der Allgemeinen Theorie als psychologisches Axiom zu Grunde«. Sulzer: Vorrede (s. Anm. 17), S. XIII.
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Deshalb kommt der Kunst nicht nur eine erzieherische Wirkung für das Individuum zu, dessen Geschmack geschult werden muss; sie hat auch eine unersetzliche nationalpädagogische und staatspolitische Aufgabe von höchster Verantwortung.19 Explizit betont Sulzer in der Vorrede, dem Künstler bei dieser wichtigen erzieherischen Tätigkeit »durch diese Arbeit nützlich« sein zu wollen, indem er »ihn überall seines Beruffs erinnere«,20 »ihm hier und da nützliche Regeln gebe, wie er sein Genie schärfen, seinen Geschmak verbessern, wie er studiren, wie er sich in Begeistrung setzen« solle.21 Damit sind bereits die zentralen Kategorien genannt, unter denen auch vor Sulzer produktionsästhetische Sachverhalte diskutiert werden: Genie und Geschmack – beide treten bei Sulzer nahezu immer in Korrelation auf –, aber auch die Begeisterung, der göttliche Enthusiasmus des Künstlers als poeta vates, sowie die traditionelle Gelehrsamkeit des studierten poeta doctus. Wie sieht jedoch der Künstler aus, der dieser großen Aufgabe gewachsen ist? Zweifellos ist er am besten ein ›Genie‹. Den im 18. Jahrhundert vieldiskutierten und sich dabei sehr stark verändernden Begriff22 definiert Sulzer zunächst formal und unspezifisch als eine »vorzügliche Größe des Geistes«,23 die sich in einer natürlichen Disposition, nämlich einer »Reizbarkeit«24 für bestimmte Gegenstände äußert. Diese schreibt Sulzer sogar den Tieren zu, was den naturalistischen Grund des Arguments noch unterstreicht.25 Aber auch das Genie braucht einen äußeren Anstoß, um seine Vorzüglichkeit tatsächlich praktisch werden zu lassen: »Zum Genie wird also auch eine warme Empfindung erfodert, ohne welche der Geist nie würksam genug ist.«26 Dabei sind spezialisierte Partial-Genies in allen Bereichen der menschlichen Tätigkeit zu finden; das Attribut des großen Genies kommt jedoch nur denjenigen Künstlern zu, die gleichzeitig als »große philosophische Genies«27 exzellieren, da nur sie ihre außerordentliche Kunstfertigkeit an
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Ebd., S. XV: »Noch ist die höchste Stufe in dem Tempel des Ruhms und Verdienstes unbetreten; die Stufe, auf welcher einmal der Regent stehen wird, der […] mit gleichem Eyfer und mit gleicher Weisheit die beyden großen Mittel zur Beförderung der Glükseeligkeit, die Cultur des Verstandes und die sittliche Bildung der Gemüther, jene durch die Wissenschaften, diese durch die schöne Künste, zum vollkommenen Gebrauch wird gebracht haben«. Zu Sulzers paternalistischer ›Politik‹ sowie der Funktionalisierung der Kunst für diese vgl. auch die Beiträge von Achim Vesper und Dieter Hüning in diesem Band. Ebd., S. XVI. Ebd. Vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik. 1750–1945. 2 Bde. Darmstadt ²1988. Sulzer: Art. Genie (s. Anm. 15), S. 363. Ebd., S. 364. Die Frage nach der Angeborenheit diskutiert Sulzer auch in seiner Schrift: Entwickelung des Begriffs vom Genie. In: ders.: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/1781, Bd. 1, S. 307–323: Die Natur gibt den Grad der »thätigen Kraft« (ebd., S. 309, S. 311ff.), je nach Beschaffenheit des Körpers; dazu kommen äußere Einflüsse von Geburt, Klima, Nahrung (vgl. ebd., S. 319). Sulzer.: Art. Genie (s. Anm. 15), S. 365. Ebd., S. 366.
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würdigen Gegenständen und Gedanken zeigen können. Diese schaffen sie in einem Zustand des »begeisternden Feuers«, das ihre »ganze Würksamkeit rege macht«.28 Die Geniebestimmung zehrt also von den traditionellen Topoi des dichterischen Enthusiasmus, psychologisiert und naturalisiert diese aber. Demgegenüber bildet der ›Geschmak‹29 die notwendige kulturelle Ergänzung zur Naturkraft des Genies. Er wird definiert als »Vermögen, das Schöne zu empfinden«30 – er ist also kein intellektuelles Vermögen (das ist der Verstand als Erkenntnis des Vollkommenen) und auch nicht moral sense (das ist das »sittliche Gefühl« als die Fähigkeit, »das Gute zu fühlen«).31 Vielmehr ist er ein spezifisch ästhetischer Sinn, der allein darauf reagiert, dass ein Gegenstand der Einbildungskraft durch seine gefällige Gestalt schmeichelt. Auch er basiert naturalistisch auf einem »feinen Gefühl in allen Nerven der Seele«;32 er wirkt synthetisch statt analytisch;33 er ist nicht nur beim Künstler, sondern bei allen Menschen vorhanden, beim Künstler äußert er sich aktiv, beim Liebhaber hingegen passiv.34 Seine volle kultivierende Wirkung entfaltet er jedoch erst im Zusammenspiel des Schönen mit dem Wahren (des Verstandes) und dem Guten (des Herzens): Der Mensch, in dessen Seele der gute Geschmak seine völlige Bildung erreicht hat, ist in seiner ganzen Art zu denken und zu handeln gründlicher, angenehmer und gefälliger, als andre Menschen. Er ist einer so beständig anhaltenden Aufmerksamkeit auf Ordnung, Schiklichkeit, Wolanständigkeit und Schönheit gewohnt, daß er alles, was diesem entgegen ist, verachtet.35
Der Zweiteilung von Geschmack und Genie entsprechen verschiedene Stufen des produktiven Prozesses, der zwischen den Polen von Begeisterung – enthusiastischem ›Feuer‹ – und Reflexion – distanzierter Betrachtung und Kritik des Erschaffenen – pendelt.36 Im Artikel Begeisterung gibt Sulzer zunächst eine Schilderung des besonderen Seelenzustandes, der sich während der künstlerischen Tätigkeit einstellt und der an moderne Konzepte des ›flow‹37 erinnert: 28
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Ebd., S. 364. In der Genie-Schrift definiert Sulzer, Genie sei ein »Geschenk der Natur« (ders.: Entwickelung des Begriffs vom Genie [s. Anm. 25], S. 319); es gründe sich auf die »thätige Kraft«, die eine »unaufhörliche Begierde nach neuen Ideen auslöst« (ebd., S. 310). Vgl. zum Geschmacksbegriff im 18. Jahrhundert insgesamt Dominik Brückner: Geschmack. Untersuchungen zu Wortsemantik und Begriff im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin 2003. Sulzer: Art. Geschmak (s. Anm. 15), S. 371. Ebd. Ebd., S. 373. Ebd., S. 374: »Der Mann von Geschmak faßt zusammen, was der spekulative, untersuchende Kopf aus einander legt und zergliedert«. Vgl. S. 812. Sulzer: Art. Geschmak (s. Anm. 15), S. 375. Vgl. dazu vor allem die Artikel Ausarbeitung. In: Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 246–250; Deutlichkeit. In: ebd., S. 603–605; Klarheit. In: ebd., Bd. 3, S. 43–48. Vgl. Falko Rheinberg: Flow-Erleben. Freude an riskantem Sport und andere ›unvernünftige‹ Motivationen. In: Enzyklopädie der Psychologie. Hg. von Niels Birbaumer u.a. Göttingen u.a. 1983ff., Themenbereich C, Bd. 4, S. 101–118. Czikszentmihalyi entdeckte 1975 einen »Zustand des gänzlichen Aufgehens in der Tätigkeit, den er Flow-Erleben nannte. Flow ist nach Czikszentmihalyi durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Man erlebt sich nicht mehr als abgehoben von der Tätigkeit, man ist mit ihr verschmolzen. Insbesondere ist man frei von Reflexion über sich als Akteur. […] Ein Handlungsschritt geht fließend und glatt, wie von einer inneren Logik gesteuert, in den anderen Über. Die Wahrnehmung ist auf umgrenztes, handlungsrelevantes Stimulusfeld eingeschränkt, so daß andere Situationsanteile gänzlich ausgeblendet sind.« (Ebd., S. 105.)
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Alle Künstler von einigem Genie versichern, daß sie bisweilen eine außerordentliche Würksamkeit der Seele fühlen, bey welcher die Arbeit ungemein leicht wird; da die Vorstellungen sich ohne große Bestrebung entwikeln, und die besten Gedanken mit solchem Ueberfluß zu ströhmen, als wenn sie von ihrer höhern Kraft eingegeben würden.38
Dabei ist jedoch für Sulzer dieser produktive Zustand nur noch metaphorisch mit dem göttlichen Enthusiasmus zu vergleichen – »wie von einer göttlichen Kraft geleitet«39 agiere das Genie; statt dessen versucht er, ihn auf nachweisbare physiologische und psychische Prozesse zurückzuführen. Dabei unterscheidet er zwei verschiedene Varianten der Begeisterung, die zugleich zu zwei verschiedenen Kunstauffassungen führen. Ausgangspunkt für beide ist ein besonders lebhafter Eindruck, »den ein Gegenstand von besondrer ästhetischer Kraft in der Seele macht«,40 der erste Anstoß kommt also von außen. Im ersten Fall konzentriert sich anschließend die gesamte Aufmerksamkeit des Künstlers nicht weiter auf den auslösenden äußeren Gegenstand, sondern auf das von diesem ausgelöste Gefühl im Inneren, das mit allen Mitteln intensiviert wird. Die Seele wird dabei »ganz Gefühl«,41 der Zustand ist der eines »Enthusiasmus des Herzens«.42 Daraus resultieren die Ausdruckskünste und -gattungen. Im zweiten Fall konzentriert sich die künstlerische Aufmerksamkeit auf das auslösende Objekt; dies ist der Fall, wenn diesem eine besondere »helle Gestalt«,43 also eine besondere Evidenz zukommt. Dann heften sich Verstand und Einbildungskraft »mit Gewalt« auf den Gegenstand und es entsteht die »Begeisterung des Genies«.44 Diese ist für Sulzer kaum philosophisch-analytisch zu ergründen, sondern nur anhand von Erfahrungen zu beschreiben und allenfalls mit der psychologischen Theorie der Empfindungen in Einklang zu bringen; deshalb sei auch ihre traditionelle Auffassung als göttliche Einflüsterung nur eine Metapher, ein »glüklicher Wahn«.45 Der eigentliche seelische Vorgang vollziehe sich nämlich nur teilweise bewusst: Daß die Gedanken und Vorstellungen, die durch anhaltende Betrachtung eines Gegenstandes entstehen, sie seyen klar oder dunkel, sich in der Seele aufsammeln, daselbst wie Saamenkörper in fruchtbarem Boden, unbemerkt keimen, sich nach und nach entwikeln, und zulezt bey Gelegenheit plötzlich an den Tag kommen. Alsdenn sehen wir den Gegenstand, zu dem sie gehören, der bis dahin verworren und dunkel, wie ein unförmliches Phantom vor unsrer Stirne geschwebt hat, in einer hellen und wolausgebildeten Gestalt vor uns. Dieses ist der eigentliche Zeitpunkt der Begeisterung.46
Sulzer vergleicht diese plötzlich eintretende Konzentration auf einen Gegenstand unter Vernachlässigung aller anderen Sinneseindrücke und äußeren Zerstreuungen auch an verschiedenen Stellen mit der »Klarheit« von Träumen.47 Die künstlerische Begeisterung hat also ihre Wurzel 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47
Sulzer: Art. Begeisterung (s. Anm. 15), S. 349. Ebd. Ebd., S. 349f. Ebd., S. 350. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. zu den Quellen von Sulzers Konzept der Begeisterung Gross, der vor allem auf Dubos verweist (Gross: Sulzers »Allgemeine Theorie der Schönen Künste« [s. Anm. 11], S. 81f.). Sulzer: Art. Begeisterung (s. Anm. 15), S. 353. Ebd. Ebd.: »Itzt treten alle gesammelte Vorstellungen aus der Dunkelheit empor, und, wie im nächtlichen Traum, wenn alle Zerstreuung gänzlich auf höret, das Bild, welches wir wachend in dunkele Dünste eingehüllt gesehen, in der Klarheit des hellesten Tages, vor unsern Augen steht«; vgl. auch Sulzer: Art.
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in dunklen Wahrnehmungen, die ausgelöst durch einen starken äußeren Eindruck, nach Art einer Epiphanie, sich in einer unmittelbaren Evidenz-, Helligkeits- oder Klarheitserfahrung zusammenschließen und dabei einen zutiefst produktiven Zustand auslösen, der von Sulzer immer wieder metaphorisch als ›Feuer‹ oder »reiche Quelle« beschrieben wird.48 Interessant ist nun, dass diese künstlerische Begeisterung auch dadurch ihres göttlichen Status entledigt wird, indem Sulzer verschiedene Mittel aufzählt, wie sie intentional hervorgerufen und gesteigert werden kann. Die Voraussetzungen sowohl für den »Enthusiasmus des Herzens« als auch für die »Begeisterung des Genies« sind zum einen das Vorhandensein würdiger äußerer Gegenstände – die Sulzer meist mit dem traditionellen ästhetischen Begriff als ›vollkommen‹ bestimmt –, zum zweiten aber eine besonders ausgeprägte Reizbarkeit der Seele als inneres Äquivalent. Diese »Fühlbarkeit der Seele«49 kann systematisch geschult werden: mental durch gezielte Aufmerksamkeits- und Konzentrationsübungen; äußerlich durch eine konzentrationsfördernde Atmosphäre, wie die nächtliche Stille oder die Einsamkeit.50 Förderlich ist zudem alles, was »das Geblüthe zu einem etwas lebhaftern Umlauf antreibt«51 – seien es nun bestimmte Temperamentskonstitutionen, physische Bewegung durch Reiten oder Gehen, die anregende Wirkung von Alkohol, die empfindsame Wirkung von Musik, die begeisternde Wirkung von Patriotismus oder Tugend. Enthusiasmus ist, so die Botschaft, machbar; allerdings wird nur das große Genie ihn in große Kunstwerke umsetzen können. Für einen gelingenden produktiven Prozess ist es allerdings unersetzlich, nach der enthusiastischen Inkubationsphase, in der das Werk entworfen wird, in eine möglichst distanzierte Reflexions- und Umsetzungsphase zu treten: Das Feuer des Enthusiasmus muss durch das »kalte Blut« der ›Ausarbeitung‹ ersetzt werden.52 Dazu ist eine gewisse zeitliche Distanz, ja sogar eine Entfremdung vom Werk nötig; der Künstler muss seinen Gegenstand völlig überblicken,
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Gedicht (s. Anm. 15), S. 324: »Weil der Dichter ganz mit seinem Gegenstand beschäftiget ist, und nichts anders weder hört noch sieht, so ist ihm, wie einem Träumenden, jede Sache ganz gegenwärtig. Er macht zwischen dem Vergangenen und Zukünftigen, zwischen dem Gegenwärtigen und Abwesenden keinen Unterschied.« Sulzer: Art. Begeisterung (s. Anm. 15), S. 354: »Einem Werk, oder einem Theil desselben, das in der Begeisterung verfertigt worden, sind deutliche Spuren der großen Lebhaftigkeit und des herrlichen Lichts, in welchem der Künstler seinen Gegenstand gesehen hat, eingepräget. Alles scheinet aus einer reichen Quelle zu fließen.« Ebd., S. 355. Weitere Techniken zur Produktivitätssteigerung bietet der Artikel Erfindung an: Die Aufmerksamkeit, die gerade heute in der Kreativitätsforschung als Schlüsselkompetenz wiederentdeckt wird, könne dadurch gesteigert werden, in dem man gezielt auf Einzelheiten achtet, so lange, bis sie klar und deutlich werden; der Künstler »entschlage sich alle andern Gedanken, und lasse allein die Vorstellung seines Zweks klar in seiner Seele; […] er gewöhne sich an, jedes was ihm vorkommt, auf seinen Gegenstand zu ziehen« (Sulzer: Art. Erfindung [s. Anm. 15], S. 89). Ebd. Sulzer: Art. Ausarbeitung (s. Anm. 15), S. 249. Vgl. auch die Nähe zum Wahnsinn in folgender Formulierung: »Der Künstler ist einigermaaßen als ein Mensch anzusehen, der wachend träumet, und der mit Vernunft raset« (Sulzer: Art. Künstler [s. Anm. 15], S. 101). Die gleiche Formulierung findet sich auch mehrfach bei Kant im Zusammenhang mit der Diskussion um die Schwärmerei: »Diese reine, seelenerhebende, bloß negative Darstellung der Sittlichkeit bringt dagegen keine Gefahr der Schwärmerei, welche ein Wahn ist, über alle Grenze der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, d.i. nach Grundsätzen
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um zu einer vollendeten Komposition, dem perfekten Verhältnis der einzelnen Teile zum Ganzen zu finden:53 »Die vollständige Sammlung aller zu einer Sache gehörigen Gedanken und die völlige Besitznehmung derselben ist nicht nur die erste, sondern auch die wichtigste Verrichtung des Künstlers.«54 Natürlich ist auch diese zweite, reflexionsgesteuerte Phase der künstlerischen Produktion lehr- und lernbar: Deshalb empfiehlt Sulzer dem Künstler im Artikel Klarheit entweder die »Erlernung der Wissenschaften«55 oder einen »beständigen Umgang mit den hellesten Köpfen«56 – was sozusagen die Schwundstufe des poeta doctus ist.57
2. Aufmerksamkeit, Empfindung, Dichtungskraft – die produktive Persönlichkeit Der ideale Künstler soll also für Sulzer sowohl poeta vates als auch poeta doctus sein – beides eben zu seiner Zeit und zusammengeführt in einem Prozessmodell künstlerischer Produktion. Unabhängig davon ist Sulzer jedoch überzeugt, dass jeder Mensch die ›Dichtungskraft‹ als Vermögen, »Vorstellungen von Gegenständen der Sinnen und der innern Empfindung, die man nie unmittelbar gefühlt hat, in sich hervorzubringen«,58 potentiell in sich hat. Sie hat ihren Ursprung direkt in der natürlichen Neigung des Menschen sich mitzuteilen und kann auch historisch anhand der Entwicklung der Dichtkunst nachgewiesen werden.59 Das gleiche gilt für die poetische Sprache: Alle Menschen versuchten, Gedanken und Begriffe auf anschauliche Art und Weise deutlich zu machen; es gelinge allerdings nicht allen in gleicher Weise.60
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träumen (mit Vernunft rasen) zu wollen« (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: ders.: Werke in zwölf Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1977, hier Bd. 10, S. 202.) Vgl. auch den Artikel Klarheit: »Wer sich nicht jedes Schritts, den er thut bewußt ist; wer nicht auf jeder Stelle seines Werks genau sagen kann, was das seyn soll, was er da zeichnet, oder sagt; wem dieser Gegenstand nicht wie ein wol erleuchtetes Bild vor Augen liegt, der läuft allemal Gefahr etwas unverständliches hinzusetzen.« (Sulzer: Art. Klarheit [s. Anm. 15], S. 46.) Sulzer: Art. Deutlichkeit (s. Anm. 15), S. 605. Sulzer: Art. Klarheit (s. Anm. 15), S. 46; vgl. auch Schillers Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und schönen Künsten in Über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen (1795). In: Schiller: Werke (s. Anm. 2), Bd. 5, S. 670–693. Sulzer: Art. Klarheit (s. Anm. 15), S. 46. Vgl. auch Sulzers Ausführungen im Genie-Text: »Wenn der Künstler seinen Entwurf gemacht und alles angeordnet und vertheilt hat; dann ist es sehr gut gethan, wenn er bey der Ausführung sich erhebt, sich erhitzt und in die heilige Wuth geräth, wodurch sich die Gegenwart der ihn begeisternden Gottheit ankündigt. Aber auf diesem Sturm muß dann wieder die Stille folgen.« (Sulzer: Entwickelung des Begriffs vom Genie [s. Anm. 25], S. 317.) Sulzer: Art. Dichtungskraft (s. Anm. 15), S. 683. Vgl. den Artikel Dichtkunst/Poesie; eine der wenigen Stellen, wo Sulzer historisch argumentiert: »Daß die ältesten Dichter verschiedener Nationen Lebensregeln und Maximen, die sie entdekt und deren Wichtigkeit sie lebhaft gefühlt haben, dem Volke zur Lehre in wolklingenden Sätzen vorgetragen«. (Sulzer: Dichtkunst/Poesie [s. Anm. 15], S. 622.) Sulzer: Art. Poetisch/poetische Sprache (s. Anm. 15), S. 710: »Es ist zwar das allgemeine Genie aller Menschen, daß sie Gedanken und Begriffe, um sie recht zu fassen, ein körperliches Wesen geben, und in
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Was zu dieser natürlichen Anlage noch hinzukommen muss, beschreibt Sulzer ausführlich im Artikel Künstler. Dreierlei Faktoren spielen dabei zusammen: eine natürliche Disposition sowohl physischer als auch psychischer Art, die fleißige Ausbildung und Übung der Anlagen sowie günstige äußere Einflüsse. Traditionell wird der Künstler auch in anderen ästhetischen Schriften des 18. Jahrhunderts meist durch eine Vermögensreihung bestimmt: Er muss im Prinzip alle traditionellen oberen und unteren Seelenvermögen in besonderer Exzellenz besitzen; abweichend ist meist nur die Gewichtung – entweder mehr vernunftorientiert (z. B. bei Gottsched61) oder eine besondere Betonung der Einbildungskraft (z. B. bei den Schweizern oder Wieland62). Auch bei Sulzer ist weniger die Reihung selbst als vor allem die Reihenfolge und Bewertung von Bedeutung. Zum Künstler gehört für ihn eine »starke Empfindsamkeit der Seele«, bezeichnenderweise als »erste Anlage«63. Dabei kommt es besonders darauf an, dass der Künstler das, was er mit seinem Werk ausdrücken möchte, auch wirklich selbst empfunden hat: »Wer nicht selbst lebhaft fühlet, wird schweerlich in andern ein vorzügliches Gefühl erweken können.«64 Als zweites sind für Sulzer »scharfe und feine Sinnen« die notwendige physiologische Voraussetzung: »Darum liegt etwas von der Anlage zum Künstler, schon in dem Bau der Gliedmassen des Körpers.«65 Darauf folgen als Drittes eine ausgeprägte Einbildungskraft und eine »lebhafte Dichtungskraft«,66 die anschaulicher Darstellung förderlich sind.67 Beide müssen jedoch, zum vierten, gezügelt und vor schwärmerischer Ausschweifung durch den »reinen Geschmak am Schönen«68 geschützt werden. An vierter und letzter Stelle schließlich figurieren die intellektuellen Vermögen im engeren Sinn sowie die moralischen, »Liebe zu dem Vollkommenen und Guten und gründliche Kenntnis desselben«.69 Dazu kommen müssen nun noch die günstigen äußerlichen Einflüsse – »Erziehung, Lebensart und Erfahrung«;70 die »psychologische
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so fern sind wir alle, nur den abstrakten Philosophen ausgenommen, Poeten. Aber nicht jeder hat Genie, Lebhaftigkeit und Reichthum der Phantasie, Richtigkeit des Gefühls genug, seine Gedanken mit solchen Körpern zu bekleiden, die sie zugleich in der genauesten Aehnlichkeit oder Wahrheit, und größten Klarheit und Lebhaftigkeit vorstellen. Dieses ist den vorzüglichen Genien, die dann eigentlich Dichter genennt werden, vorbehalten.« Vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Vierte sehr vermehrte Auflage. Leipzig 1751, besonders das Kap. 2: Vom dem Charactere eines Poeten (ebd., S. 94–117). Vgl. beispielsweise Christoph Martin Wieland: Sendschreiben an einen jungen Dichter (1782). In: ders.: Sämmtliche Werke. 39 Bde; 6 Supplement Bde. Leipzig 1796–1811 (ND hg. von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur in Zusammenarbeit mit dem Wieland-Archiv, Biberach, und Hans Radspieler. Hamburg 1984], Bd. 24, S. 1–36. Sulzer: Art. Künstler (s. Anm. 15), S. 100. Ebd. Ebd. Ebd. Die Dichtungskraft ist wiederum angeboren, kann und muss aber geübt werden, und zwar in einer Art Aufmerksamkeits- und Konzentrationstraining: »Durch diese gewöhnt man sich an, jeden Gegenstand, der uns vorkommt, erst genau zu betrachten, denn einiges darin anders zu denken, Umstände davon zu lassen, oder hinzuzuthun, und so entstehen erdichtete Gegenstände. Je mehr man nun erfahren hat, je leichter wird die Erfindung.« (Sulzer: Art. Dichtungskraft [s. Anm. 15], S. 684). Sulzer: Art. Künstler (s. Anm. 15), S. 101. Ebd., S. 102. Ebd.
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Kenntnis des Menschen«71 – sowie das handwerkliche »Studium der Kunst«, die »Fertigkeit der Ausübung« und die »größte Arbeitsamkeit«.72 Damit ist das Bild des Idealkünstlers gerundet: »Also müssen fast alle großen Gaben des Geistes und Herzens zusammenkommen um das große Kunstgenie zu bilden.«73 Mehreres ist an diesem im Grunde traditionellen Modell bemerkenswert und Sulzerspezifisch. Das erste ist die anthropologische Fundierung – in den notwendigen körperlichen Voraussetzungen der Ausbildung verschiedener Seelenkräfte ebenso wie im Wechselspiel von inneren Anlagen und äußeren Einflüssen. Das zweite ist die Akzentuierung des für Sulzer insgesamt zentralen Empfindungsbegriffs, indem er zum einen physiologisch an das Konzept der Reizbarkeit, der sinnlichen Empfänglichkeit gebunden wird, zum anderen psychologisch auf Authentizität verpflichtet wird. Auch hier geht Sulzer so weit, ein bestimmtes Trainingsprogramm zur Steigerung der künstlerischen Produktivität aufzustellen: Der Dichter solle sich »mit hartnäkigsten Fleis« üben, »alles, was er auszudrüken hat, selbst wol zu empfinden, und wage sich an keine Schildrung der Leidenschaft, bis es ihm gelungen ist, sich selbst in dieselbe zu sezen. Denn es ist unmöglich Empfindungen auszudrüken, die man selbst nicht hat.«74 Diese Auffassung stößt sich natürlich erheblich an einem modernen Fiktionalitätsbegriff, macht aber im Zusammenhang der sulzerschen Ästhetik sowohl produktions- wie auch rezeptionsästhetisch guten Sinn: Da große Kunst nur durch starke Empfindungen entsteht, und da es ihr höchstes Ziel ist, den Rezipienten durch massive leidenschaftliche Wirkungen im gewünschten Sinne zu manipulieren, kommt alles auf die Lebhaftigkeit dieser Empfindungen an. Dass jedoch authentisch erlebte Leidenschaften stärker sind als nur nachgeahmte oder vorgestellte, bedarf für Sulzer keiner weiteren Begründung: Nur sie bringen das Blut im wörtlichen und nicht nur im übertragenen Sinn in Wallung, sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption von Kunstwerken. Das gilt insbesondere für die Ausdruckskünste, die für ihn eine direkte therapeutische Wirkung haben.75 Zum dritten führt bei Sulzer die unterschiedliche Gewichtung der verschiedenen Vermögens-Ausprägungen in verschiedenen Künstlerpersönlichkeiten zu einer Differenzierung verschiedener Arten und Kategorien von Künsten, die inhaltlich nicht ganz widerspruchsfrei, aber für eine philosophische Ästhetik relativ praxisnah und instruktiv ist. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Künsten des Ausdrucks und denen des Ideals, gebunden an die Unterscheidung vom »Enthusiasmus des Herzens« und der »Begeisterung des Genies«, kehrt beispielsweise auch im Empfindungs-Artikel wieder: Dort spricht Sulzer von Empfindungen im »psychologischen Sinn«, die der deutlichen Erkenntnis entgegengesetzt sind und den Empfindenden direkt auf sich selbst, nicht auf Äußeres verweisen – also im Sinne der Ausdruckskunst. 71 72 73 74 75
Ebd., S. 103 Ebd., S. 104. Ebd., S. 102. Sulzer: Art. Leidenschaften (s. Anm. 15), S. 233. Diese wird wiederum in direkter Analogie zu physischen Wirkungen beschrieben: »Solche Werke müssen auf das Gemüth die Würkung haben, welche man in Absicht auf den Körper von allen zur Gesundheit und Erhaltung der Kräfte abziehlenden Leibesübungen erwartet« (ebd., S. 235). Gleichzeitig kann die Kunst so zur Kritik der übersteigerten Empfindsamkeit dienen, indem sie eine »gute Mischung herrschender Empfindungen« (Sulzer: Art. Empfindung [s. Anm. 15], S. 55) im Gemüt und damit einen »wol gemäßigten Grad der Empfindsamkeit« herstellt (ebd.).
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Ihnen im Wert übergeordnet ist jedoch die Empfindung im »moralischen Sinn«, »ein durch Wiederholung zur Fertigkeit gewordenes Gefühl«, das zur Quelle von moralischen Handlungen wird und der eigentliche Endzweck der Idealkunst ist.76 Ebenso entstünden aus verschiedenen Arten des dichterischen Genies sowie in Abhängigkeit von der jeweiligen »Stimmung« oder »poetischen Laune«77 des Dichters unterschiedliche Genres, die damit als eine Art psychologisch basierte Formkategorien aufgefasst werden können. Schließlich erklärt sich aus der Vermögensgewichtung auch die besondere Wichtigkeit des Stoffes der Dichtung für Sulzer. Wie nur die authentische, selbst erlebte Empfindung zu einer lebhaft wirksamen Form der Ausdrucksdichtung führen kann, so ermöglicht nur die ästhetische Vollkommenheit und philosophische Richtigkeit bzw. Wahrheit der erkannten Gegenstände die höchste Form der Idealdichtung, die sich ja an diesen Gegenständen entzünden muss, da ihr durch ihre reine Vorstellungsbezogenheit keine Antriebskraft zukommt. Sulzer trägt seine diesbezügliche Argumentation vor allem im Artikel Wahrheit vor. »Wahrheit« sei das höchste geistige Gut des Menschen; die Kunst könne zwar nichts zu ihrer Entdeckung beitragen, alles jedoch zu ihrer Verbreitung, indem sie sie »fühlbar« macht.78 Dabei sei es die größte Leistung und gleichzeitig das größte Verdienst der Kunst, »schweere, sehr verwikelte Begriffe« oder »schweer zu entdekende Wahrheiten […] leicht und einleuchtend« darzustellen;79 nur für sie lohne sich sozusagen die ganze künstlerische Mühe, nur sie geben im kantischen Sinn ›viel zu denken‹. Daraus ergibt sich eine Art kategorischer Imperativ für den Künstler, der sich bei jedem Werk fragen müsse: Wozu wird das, was du andern so lebhaft in den Geist und in die Phantasie einprägest, dienen? […] welchen nüzlichen Begriff werden sie sich nun lebhafter vorstellen, welche heilsame Empfindung, wird ihnen gewöhnlicher werden?80
Wiederum stößt sich diese Auffassung sehr stark an unserem Autonomie-Begriff der Kunst;81 und wiederum macht sie perfekten Sinn innerhalb von Sulzers Konzept, und zwar in produktions- wie in rezeptionsästhetischer Hinsicht: Denn zur wahrhaften Produktivität wird das Genie nur durch wahrhaft große Dinge entzündet (wozu sollte man sich für Irrtümer, Belanglosigkeiten oder Phantasmen begeistern?); und eine lebhafte Wirkung auf die Empfindung ist nur
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Eine weitere Untergliederung bietet der Artikel Erdichtung an, in dem Sulzer zwischen einer sozusagen pragmatisch-historischen Dichtkunst unterscheidet, die vor allem im epischen und dramatischen Gedicht wirklichkeitsnah und wahrscheinlich ausgeprägt ist; einer Phantasiekunst, in der auch nichtmenschliche Wesen auftreten, denen aber menschliche Handlungen zugeschrieben werden (z.B. im Märchen, in der Satire); und schließlich einer Kunst, die die »würklich vorhandene Geisterwelt« (Sulzer: Art. Erdichtung [s. Anm. 15], S. 83) in sichtbare, körperliche Dinge verwandelt (das Muster hierfür ist die ›Heilige Poesie‹ Klopstocks). Sulzer: Art. Gedicht (s. Anm. 15), S. 324. Sulzer: Art. Wahrheit (s. Anm. 15), S. 719. Ebd., S. 720. Ebd. Exemplarisch dafür ist die Wertung Leos, der die Ursache für die Kopplung von Ästhetik und Ethik in der Psychologie Sulzers sieht: »Auf der Grundlage dieser Psychologie konnte er die für uns heute fast unbegreifliche Vermischung ethischer und ästhetischer Motive für gerechtfertigt, sogar für wissenschaftlich notwendig halten« (Leo: Zur Entstehungsgeschichte der »Allgemeinen Theorie der schönen Künste« [s. Anm. 1], S. 26).
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gerechtfertigt, wenn sie gleichzeitig moralischen Wert hat (denn wozu sollte man das Laster oder die Indifferenz propagieren?).
3. Dichtung, Natur und Kultur – Zur Natur als Vorbild von Produktivität Tatsächlich funktioniert diese platonisch anmutende Kopplung des ›Schönen-Wahren-Guten‹82 bei Sulzer nur auf der Grundlage seines weiterhin von der Physikotheologie bestimmten harmonistischen Naturbildes. Doch selbst dieses erhält von fern eine anthropologische Färbung: Nun ist zwischen den in der Natur vorhandenen Dingen und dem menschlichen Gemüth eine so genaue Harmonie, als zwischen dem Element, darin ein Thier zu leben bestimmt ist, und dem Bau seines Körpers; die Natur hat unsere Sinnen, und die Empfindsamkeit daraus alle Begierden entstehen, nach den in der Schöpfung vorhandenen Gegenständen, die uns intereßiren sollten, genau abgepaßt; und wir haben kein Gefühl, als für die Dinge, die von der Natur selbst für uns gemacht sind.83
Zwar gibt es also eine Art prästabilierte Harmonie zwischen den menschlichen Sinnen, Empfindungen und Bedürfnissen und den natürlichen Gegenständen.84 Diese jedoch wird, etwas anachronistisch gesprochen, eher darwinistisch als theologisch begründet: Der Mensch ist eben genau wie ein Tier perfekt durch seine sinnliche und psychische Grundausstattung – und nicht etwa durch seinen Verstand oder seine Vernunft – an seinen natürlichen Lebensraum, sein Habitat, angepasst; nur ist diese natürliche Anpassung nicht ein Werk evolutionärer Selektion, sondern Teil des göttlichen Weltentwurfs.85 Aus dieser prästabilierten Harmonie resultieren auch direkt die Schönheit, Wahrheit und Vollkommenheit der Natur. Sie ist nichts anderes als »die höchste Weisheit selbst«, die »überall ihren Zwek auf das Vollkommenste erreicht«;86 sie »handelt nie ohne genau bestimmte Absicht«;87 sie »beobachtet […] überall eine so vollkomme-
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Wahrscheinlich vermittelt über das platonische Schönheitskonzept bei Shaftesbury, vgl. dazu Gross: Sulzers »Allgemeine Theorie der Schönen Künste« (s. Anm. 11), S. 12. Vgl. auch Sulzer: Artikel Kraft (s. Anm. 15), S. 66: »Der große Verstand allein, kann den Philosophen und den zu Ausrichtung der Geschäften brauchbaren Mann ausmachen; der Geschmak am Schönen allein, macht den angenehmen Mann; das Gefühl des Guten den guten Mann; aber alles zusammen verbunden macht die Grundlage zum Künstler aus.« Sulzer: Art. Natürlich (s. Anm. 15), S. 512. Eine ähnliche Abhängigkeit besteht auch zwischen der Harmonie der Seele im Autor (die seine Moralität garantiert) und der Harmonie des Werkes: »Denn eine niederträchtige Sinnesart macht die eigentliche Dissonanz und Disproportion aus« (Sulzer: Art. Dichter [s. Anm. 15], S. 613). Man könnte hier eine Variante des modernen ›anthropischen Prinzips‹ sehen; vgl. dazu Dirk Evers: Raum. Materie. Zeit. Tübingen 2000: Nach Carter (1975) besagt das ›anthropologische Prinzip‹, »daß die Welt so beschaffen ist, wie sie ist, um unsere Existenz zu ermöglichen. Es fordert einen notwendigen Zusammenhang zwischen der Einrichtung des Universums und der Möglichkeit unserer Existenz als Beobachter« (ebd., S. 245). Sulzer: Art. Natur (s. Anm. 15), S. 507. Ebd., S. 508.
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ne Uebereinstimmung alles Aeußerlichen mit dem innern Charakter der Dinge«;88 sie ist deshalb »die einzige Lehrerin« für den »nachdenkenden Künstler«.89 Inwiefern jedoch ist eine derart teleologisch-idealisierte Natur ein Vorbild für den Künstler? Dass der Künstler selbst zu großen Teilen ein Naturprodukt ist, wurde bereits gezeigt; noch einmal in einer bündigen Formulierung: »Die zur Kunst nöthigen Talente und die Empfindsamkeit, sind ein unmittelbares Werk der Natur.«90 Die Natur gibt dem Künstler seine spezifische Vermögensmischung, seine Stimmungen und Temperamente, sogar sein Genie; sie gibt ihm die poetisch-rhythmische Sprache als natürliche Ausdrucksform der Begeisterung91 sowie die persönliche Ausdrucksweise;92 und die »Stimme der Natur« im Künstler spricht weit richtiger und deutlicher als alle nur »willkührlichen Regeln«.93 Gleichzeitig jedoch verwirft Sulzer energisch das in der ästhetischen Tradition seit Aristoteles beinahe unwidersprochene (jedoch vielfach anders gedeutete) Mimesis-Prinzip:94 Nicht Naturnachahmung im materiellen Sinn sei der Zweck der Kunst – sonst sei sie nichts als plumpe Nachäffung oder ein sinnloses Kinderspiel95 –, sondern Nachahmung ihrer Regeln, Gesetze und Vorgehensweisen. Zwar seien auch die Gegenstände der Natur ein unerschöpfliches »Magazin«,96 aus dem die Dichtung schöpfen könne und müsse. Wichtiger ist jedoch die Nachahmung des »Verfahrens der Natur«,97 und zwar vor allem in psychologischer und ästhetischer Hinsicht: Wie die Natur durch »Vergnügen« und »Mißvergnügen« in moralischer Weise auf die Menschen wirke, soll der Dichter mit seinem Werken wirken; wie sie überall den ästhetischen Prinzipien von möglichster Proportionalität und Symmetrie zur Erreichung eines »vollkommensten Ebenmaaßes« folgt,98 soll auch der Dichter dem Kunstwerk diesen Zustand ästhetischer Vollkommenheit verleihen: »Es muß darin, wie in der Natur selbst, alles passend, ungezwungen, genau zusammenhängend und wahr seyn.«99 Trotz der plakativen Ablehnung einer bestimmten, stärker inhaltlichen Interpretation der aristotelischen Mimesis-Lehre bleibt die Natur bei Sulzer in ihrer Vorbild-Funktion für die Ästhetik unberührt. Sie ist aber nicht mehr die Vernunftnatur einer rationalistischen natura naturata und noch nicht als natura naturans das Paradigma für absolut gesetzte Produktivität schlechthin gedacht – obwohl Sulzer sein Konzept des Ideal-Künstlers in die gleiche mythologische Figur wie 88 89 90 91 92
93
94 95 96 97 98 99
Ebd. Ebd. Ebd., S. 509. Vgl. dazu Sulzer: Art. Dichter (s. Anm. 15), S. 609. Vgl. Sulzer: Art. Poetisch, Poetische Sprache (s. Anm. 15), S. 707: Die Ausdrucksweise ist ebenfalls abhängig vom »dauernden Gemüthscharakter« sowie dem »vorübergehenden launigen oder leidenschaftlichen Zustand«. Sulzer: Art. Natur (s. Anm. 15), S. 509. Vgl. auch Sulzer: Art. Regeln; Kunstregeln (s. Anm. 15), S. 76: Der Künstler muss keine Kenntnisse der theoretischen Ästhetik haben, diese liegt vielmehr »eingewikelt in dem Kopf des guten Künstlers […] wie die künftige Pflanze in ihrem Saamenkorn«. Vgl. van der Zande: Sulzer’s »Allgemeine Theorie der schönen Künste« (s. Anm. 1), S. 89. Vgl. auch Sulzer: Art. Nachahmung (s. Anm. 15); das Spiel ist hier im Gegensatz zu Schiller noch eindeutig negativ konnotiert. Sulzer: Art. Natur (s. Anm. 15), S. 507. Ebd. Ebd., S. 508. Ebd., S. 511.
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wenig später der junge Goethe projiziert: »Denn ein solcher Dichter ist in der That ein andrer Schöpfer, ein wahrer Prometheus unter Jupiter«.100 Deutlich sind zwar noch die Wurzeln dieses Naturbildes in der vollkommenen Allnatur der Physikotheologie zu erkennen. Aber diese werden nun anthropologisch unterfüttert: Gott hat den Menschen nicht so vollkommen geschaffen, damit er ihn preisen kann, sondern er hat ihn physisch und psychisch so konstruiert, dass in seiner Natur – in seiner Sinnlichkeit und seinen Bedürfnissen – die Möglichkeiten seiner Glückseligkeit angelegt sind. Diese prästabilierte Harmonie zwischen den menschlichen Glücksbedürfnissen auf der einen und deren Erfüllungsmöglichkeiten auf der anderen Seite bringt der Künstler zum Ausdruck und ermöglicht dadurch dem Menschen erst die Empfindung seiner Glückseligkeit. Entfernt er sich jedoch von dieser Natur – sei es in der Wahl der Gegenstände, der Art der Darstellung oder den Wirkungsabsichten –, wird daraus niemals ein wahrhaft schön zu nennendes Kunstwerk entstehen können.
4. Grundriss einer Popularästhetik auf anthropologischer Basis Vielleicht lässt sich die Besonderheit von Sulzers ›Popularästhetik‹ am besten von den Vorwürfen her erschließen, denen sie im Verlauf ihrer Rezeption schon sehr bald ausgesetzt war und die ich anfangs bereits angesprochen habe.101 Ein Hauptansatzpunkt der Kritik war die Lexikonform, die den wissenschaftlichen und philosophischen Maßstäben der systematischen Durchdringung und bündigen Darstellung einer Grundlagenwissenschaft nicht genüge.102 Dagegen ist zu sagen, dass das Genre zumindest die Vorteile der leichteren Zugänglichkeit und damit Benutzerfreundlichkeit hatte: Jeder Leser konnte dort einsteigen, wo es ihn interessierte, und sich von dort aus sozusagen ›verlinkt‹ von Thema zu Thema hangeln. Eine gewisse innere Konsistenz konnte sich dabei durchaus ergeben. Zudem profitiert das Werk auch von dem damit verbundenen, modern gesprochen: ›inter100 101
102
Sulzer: Art. Dichter (s. Anm. 15), S. 613. Vgl. zur Rechtfertigung der Verdienste auch Gross: Sulzers »Allgemeine Theorie der Schönen Künste« (s. Anm. 11): Die Allgemeine Theorie schaffe erstmals eine ästhetische Theorie für alle Kunstgebiete und geben diesen eine gemeinsame Grundlage; sie sei nicht nur für die Elite der Kenner geschrieben, sondern behandele die Kunst als »Volksgut« (ebd., S. 94); sie biete eine »Fülle feinsinniger Einzelbeobachtungen« (ebd.); sie sei sowohl für Kant wichtig geworden – im Blick auf die Rolle des Geschmacks in der Kritik der Urteilskraft und durch die Idee der Interesselosigkeit (ebd., S. 96f.) – als auch für Schiller – als Wegweiser zur ästhetischen Erziehung und den Konzepten der energischen und schmelzenden Schönheit (ebd., S. 101f.). Z.B. Goethe: Die schönen Künste in ihrem Ursprung (s. Anm. 3), S. 22: »Da wir nun aber gar die Grundsätze, worauf sie gebaut ist, den Leim, der die verworfnen Lexikonsglieder zusammenkleben soll, untersuchen, so finden wir uns in der Meinung nur zu sehr bestärkt: hier sei für niemanden nichts getan als für den Schüler, der Elementa sucht, und für den ganz leichten Dilettante nach der Mode«. Vgl. auch van der Zande: Sulzer’s »Allgemeine Theorie der schönen Künste« (s. Anm. 1): Das Lexikonformat fördere die selektive Nutzung und damit Missverständnisse (ebd., S. 87). Leo hingegen rechtfertigt die »systematische Unzulänglichkeit«: »Mag man nun den Maßstab des Ästhetikers, des Psychologen, des Pädagogen, des Kritikers, des Popularphilosophen an dieses Werk legen: man wird es überall unzureichend finden, weil es von vornherein keinem dieser Standpunkte ganz gerecht werden konnte« (Leo: Zur Entstehungsgeschichte der »Allgemeinen Theorie der schönen Künste« [s. Anm. 1], S. 35).
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disziplinären‹ Zugriff, der Theoreme von Anthropologie, Philosophie und Geschichte mit (wenn auch selten) anwendungsorientierten Fragen zusammenstellte, sowie der Berufung auf die eigene Erfahrung und den common sense. Kurz gesagt: Als popularästhetische Schrift ist die Allgemeine Theorie der schönen Künste selbstverständlich eklektizistisch angelegt und allgemeinverständlich formuliert – mit all den damit, je nach Perspektive, verbundenen Vor- und Nachteilen. Weitere Kritikpunkte waren der Intellektualismus103 bzw. die anfangs schon erwähnte Praxisferne und Unerfahrenheit des Autors.104 Dagegen wäre vorzubringen, dass Sulzer zum ersten zumindest reichlich über Rezeptionserfahrungen im Umgang mit Kunstwerken sowie zum zweiten über umfangreiche Kontakte zu berühmten Dichtern seiner Zeit verfügte – was unter Umständen schon mehr ist, als man über Kant in dieser Hinsicht sagen konnte. Jedenfalls verhinderte die Praxisferne sicherlich ein Ausschweifen in zu technische Sachverhalte und die Subtilitäten des Insiderwissens; wie auf der anderen Seite das nur dann und wann durchscheinende Gelehrtentum zwar eine gewisse Solidität des Argumentierens und Darlegens gewährleistete, nicht aber in Jargon und Begriffshuberei mündete. Tatsächlich führt Sulzers Grundüberzeugung, dass in jedem Mensch ein Künstler schläft – wenn auch vielleicht kein genialer –, genauso zu der Konsequenz, dass jeder Mensch über die Künste schreiben kann – bei einem gewissen allgemeinen Grad an Rezeptionserfahrung, philosophischer Reflexion und Beherrschung von literarischen Darstellungstechniken. Auch das ist natürlich ein Grundsatz der aufklärerischen Popularphilosophie: Sapere aude! – und das auch in Fragen der Ästhetik. Der inhaltlich wohl schwerwiegendste Vorwurf ist die von Sulzer propagierte Fremdbestimmung der Kunst als Magd der Philosophie, deren moralische Wahrheiten sie ›nur‹ zu veranschaulichen und eben fühlbar zu machen habe;105 in Schillers Worten: Den Menschen moralisch auszubilden und Nationalgefühle in dem Bürger zu entzünden, ist zwar ein sehr ehrenvoller Auftrag für den Dichter, und die Musen wissen es am besten, wie nahe die Künste des Erhabenen und Schönen damit zusammenhängen mögen. Aber was die Dichtkunst mittelbar ganz vortrefflich macht, würde ihr unmittelbar nur sehr schlecht gelingen. Die Dichtkunst führt bei dem Menschen nie ein besondres Geschäft aus, und man könnte kein ungeschickteres Werkzeug erwählen, um einen einzelnen Auftrag, ein Detail, gut besorgt zu sehen. Ihr Wirkungskreis ist das Total der menschlichen Natur, und bloß, insofern sie auf den Charakter einfließt, kann sie auf seine einzelnen Wirkungen Einfluß haben.106
Joseph von Eichendorff: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. In: ders.: Werke. Hg. von Jost Perfahl. München 1970ff., Bd. 3, S. 724: »Nebenher lief auch noch, von Sulzer her, eine Nützlichkeitstheorie durchs Land, ja sogar über die Kanzeln; nicht etwa von dem, was zum ewigen Leben, sondern was für des Leibes Notdurft nütz ist, von Sparsamkeit, Runkelrüben und Kartoffelbau. […] Solcher Philister aber wußte dann freilich mit der Poesie ebensowenig anzufangen als die Poesie mit ihm, und in dieser Verlegenheit verfiel er darauf, mit dem bloßen Verstande zu dichten.« 104 So Goethe: Die schönen Künste in ihrem Ursprung (s. Anm. 3), S. 22f.: »Wer von den Künsten nicht sinnliche Erfahrung hat, der lasse sie lieber. Warum sollte er sich damit beschäftigen? Weil es so Mode ist? Er bedenke, daß er sich durch alle Theorie den Weg zum wahren Genusse versperrt, denn ein schädlicheres Nichts als sie ist nicht erfunden worden.« 105 So van der Zande: Sulzer’s »Allgemeine Theorie der schönen Künste« (s. Anm. 1), S. 87: Das Werk sei meist von der Forschung »watered down to some vague connection between ethis and aesthtetics, and accordingly dismissed«. 106 Schiller: Über das Pathetische (s. Anm. 2), S. 535.
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Trotz aller modernen Kritik an der klassischen Autonomieästhetik hat sich deren Grundaxiom von der Eigengesetzlichkeit der Kunst doch so weit durchgesetzt, dass es beinahe schwerfällt, sich einen Moment davon zu distanzieren, indem man sich den Anachronismus ins Bewusstsein ruft: Sulzer wusste nichts von einer Autonomiepoetik.107 Er hatte sich gerade erst mit den fortschrittlicheren seiner Zeitgenossen von der Regelpoetik und der Gelegenheitspoesie emanzipiert und versuchte nun, der noch relativ jungen Disziplin der Ästhetik einen bleibenden wissenschaftlichen Rang und den Künsten eine wichtige gesellschaftliche Funktion zuzuordnen – es geht ihm also durchaus um Legitimation. Dabei bedient er sich anthropologischer und psychologischer Theoreme der Zeit, die selbstverständlich für ihn auch im Reich der Künste ihre Geltung haben.108 Dabei konnten aber moralische Aspekte nicht einfach außen vor gelassen werden, und zwar aus zwei Gründen. Der erste ist philosophischer Natur: Wenn das Schöne und das Gute, platonisch gedacht, nur andere Ausdrucksformen des Wahren sind, ist eine Trennung per se ausgeschlossen, weil nicht sachgerecht. Der zweite ist eine Frage der Legitimationsstrategie und damit politischer Natur: Moralische Verbesserung des Menschen war für die Aufklärung der Schlüssel zu jeglichem gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Fortschritt; wenn man die Künste davon ausgeschlossen hätte, hätte man sich selbst disqualifiziert. Der Trick war gerade, sie zum Hauptverantwortlichen dafür zu erklären! Letztlich zeigt sogar das obige Zitat, wie sehr auch Schiller in dieser aufklärerischen Auffassung von Kunst steht: Ein moralisches Anliegen ist für ihn immerhin »mittelbar« »ganz vortrefflich« – was sein eigenes Projekt der ästhetischen Erziehung, das in so vielem von Sulzer profitiert hat, demonstriert. Meint Sulzer aber tatsächlich, moralische Verbesserung sei der primäre und unmittelbar zu erreichende Zweck der Kunst? Geht es nicht auch ihm eher darum, auf den menschlichen ›Charakter‹ in seiner ›Totalität‹, und dabei, ganz genauso wie Schiller, vor allem über die Empfindungen zu wirken? Zweifellos ist Sulzers Modell ästhetischer Erziehung einfacher und direkter als das schillersche mit seinen komplizierten philosophischen Antinomien und ausgeklügelten Wechselwirkungen; aber es ist auch nicht einfach didaktisch im Sinne einer gottschedschen Fabel mit einer ablesbaren Moral und einer daraus zu deduzierenden Verhaltensregel. Dafür beruht es viel zu sehr auf den dunklen Untergründen der Seele, wie sie sich gerade im Produktionsprozess mit seiner Nähe zu den pathologisch verstandenen Phänomenen von Traum und Schwärmerei äußern. Sulzers Popularästhetik hat ein anthropologisches FunVgl. z.B. Maurizio Pirro: Sulzers Physik der Seele und die Dramentheorien Schillers. In: Zeitschrift für Germanistik XVI (2006), S. 314–323. Er setzt das Autonomiepostulat einfach als eine Art Naturgesetz voraus: »Es steht außer Zweifel, dass sich Sulzer bei all dem Emotionalismus, der seinen ästhetischen Ansichten innewohnt, von der Dominanz einer sittlichen Absicht in seiner Darstellung der Wirkung eines Kunstobjekts in der Tat nie loslöst« (ebd., S. 319). Hingegen weist Anna Tumarkin zu Recht auf die zeitliche Abfolge hin: »Wer sich an der moralisierenden Tendenz dieser Ästhetik stößt, mag bedenken, daß aus solchem Moralisieren die moderne Ästhetik überhaupt erst hervorgegangen ist« (Tumarkin: Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer [s. Anm. 12], S. 27). 108 Und das auch unabhängig von seinem wohl wirklich etwas veralteten Naturbild, das der junge Goethe in seiner Rezension so wirkungsvoll demontierte: »Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt, nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend. Und die Kunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten« (Goethe: Die schönen Künste in ihrem Ursprung [s. Anm. 3], S. 25).
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dament. Das Wissen vom Menschen zeigt sich hier einmal mehr als eine aufklärerische Grundlagenwissenschaft, die verschiedene Diskurse verknüpft und dadurch neue Erkenntnisse ermöglicht, auch in ästhetischer Hinsicht. Gedruckt, erweitert, nachgedruckt, verkauft und auch gelesen wurde die Allgemeine Theorie der schönen Künste schließlich unabhängig von der Kritik lange und ausgiebig;109 davon zeugen bekannte Rezeptionsdokumente, wie ihr unvermutetes Auftauchen mitten im 19. Jahrhundert in Gottfried Kellers Grünem Heinrich. Aber auch das mildere Urteil des späten Goethe über den im jugendlichen Übermut so verunglimpften Sulzer weist in die Richtung einer weder schulphilosophisch abzuurteilenden noch vom Standpunkt des Praktikers naserümpfend zu verwerfenden, sondern innerhalb ihres eigenen Anspruchs gerechtfertigten Popularästhetik. In der Italienischen Reise wird er rückblickend schreiben: Welch ein Unterschied ist nicht zwischen einem Menschen, der sich von innen aus auferbauen [dem jungen Genie Goethe, J.H.], und einem, der auf die Welt wirken und sie zum Hausgebrauch belehren will [dem Aufklärer Sulzer, J.H.]! Sulzers Theorie war mir wegen ihrer falschen Grundmaxime immer verhaßt, und nun sah ich, daß dieses Werk noch viel mehr enthielt, als die Leute brauchen. Die vielen Kenntnisse, die hier mitgeteilt werden, die Denkart, in welcher ein so wackrer Mann als Sulzer sich beruhigte, sollten die nicht für Weltleute hinreichend sein?110
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So unterscheidet van der Zande zu Recht zwischen den Rezensionen und der Publikumsreaktion (vgl. an der Zande: Sulzer’s »Allgemeine Theorie der schönen Künste« [s. Anm. 1], S. 97); ebenso Leo: Zur Entstehungsgeschichte der »Allgemeinen Theorie der schönen Künste« (s. Anm. 1), S. 12: »So wenig sie in die Tiefe gedrungen sein mag – eine erstaunliche Breite der Wirksamkeit ist ihr nicht abzusprechen«; er gibt auch weitere Beispielen von Künstlerzeugnissen sowie Übersetzungen und Wirkungen in anderen Ländern (ebd.). Eintrag vom 15. März 1787 in Caserta. In: Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise. Zweiter Teil. Neapel. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. Hamburg 1988, Bd. 11, S. 207.
III. WISSENSCHAFT,
GELEHRSAMKEIT UND POPULARPHILOSOPHIE
ÉLISABETH DÉCULTOT
Johann Georg Sulzers ›System der schönen Künste‹
Von Sulzers ›System der schönen Künste‹ zu sprechen mag sicherlich auf den ersten Blick etwas erstaunlich, ja kühn erscheinen. Zwar bekundet Sulzer im Titel der Allgemeinen Theorie der schönen Künste einen theoretischen Anspruch, der wenigstens den Ansatz einer systematischen Klassifizierung der schönen Künste erwarten ließe, wie sie etwa durch prominente Vertreter der kunsttheoretischen Literatur seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts (Batteux, Du Bos, Meier oder Mendelssohn) vorgenommen wurde. Schon durch ihre Form scheint aber die Allgemeine Theorie der schönen Künste die Erwartung einer Systematik enttäuschen zu müssen. Um seine Allgemeine Theorie darzulegen, greift Sulzer auf die an sich wenig systematische Form eines alphabetisch geordneten Lexikons zurück ‒ eine Wahl, die schon sehr früh dem Vorwurf mangelnder Systematizität unterzogen wurde. Die unsystematische Gliederung eines alphabetischen Lexikons sei »in einem solchen Werke nicht sehr vortheilhaft«, wendet 1757 ein anonymer Rezensent der Bibliothek der schönen Wissenschaften im Anschluss an die Ankündigung der Allgemeinen Theorie der schönen Künste ein.1 Noch schwieriger wird es allerdings, von Sulzers System der schönen Künste zu sprechen, wenn man bedenkt, dass er sich nicht nur für eine rein alphabetische Einordnung der Lemmata entscheidet, sondern auch auf jede einleitende systematische Übersicht verzichtet, wie sie in bedeutenden alphabetisch geordneten Werken dieser Zeit zu finden ist ‒ etwa nach dem berühmten Modell des »Système figuré des connaissances humaines« von d'Alembert in der Encyclopédie. Auch die Vorrede, die die Allgemeine Theorie der schönen Künste eröffnet, fällt in Hinsicht auf die Systematik der Künste auffällig wortkarg aus. Aus alledem sollte jedoch nicht geschlossen werden, dass Sulzers Kunstlexikon oder Kunstdenken gar keine Systematik der schönen Künste voraussetze oder beinhalte. Auf eine systematische Einordnung der schönen Künste weist in der Allgemeinen Theorie vieles hin, so z. B. die Tatsache, dass fast alle Lemmata einer unmittelbar nach jedem Stichwort in Klammern angegebenen Kategorie zugewiesen werden, die die Position des besprochenen Begriffs innerhalb der
1
[Anonym:], Ankündigung von: J. G. Sulzer: Grundsätze der schönen Wissenschaften und freyen Künste [...], in alphabetischer Ordnung: In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 1.1 (1757), S. 222–229, hier S. 225.
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Konstellation der Künste angibt.2 Darüber hinaus sind manche Artikel, wie beispielsweise der Schlüsselartikel Künste; schöne Künste, nicht arm an solchen klassifikatorischen Hinweisen. Aus welchen kunsttheoretischen Überlegungen sind nun diese systematischen Klassifikationsmodelle entstanden? Wie haben sie sich in den Jahrzehnten entwickelt, die der Publikation der Allgemeinen Theorie vorhergingen? Inwiefern haben sie die Organisation der Allgemeinen Theorie geprägt? Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, auf diese Fragen zu antworten und damit den Sulzerschen Begriff der schönen Künste näher zu bestimmen.
1. Abgrenzungsversuche von außen: die schönen Künste in ihrem Unterschied zu den Wissenschaften 1.1. 1757: Gedanken über den Ursprung und die verschiedenen Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste Schwierig und spannend in Sulzers Überlegungen zur Systematik der schönen Künste ist ‒ wie in seinem philosophischen Denken überhaupt ‒ deren Entwicklung. Innerhalb der langen Periode, in der er sich mit Kunstfragen beschäftigte, d.h. etwa ab der Mitte der 1750er Jahre bis zur Publikation der Allgemeinen Theorie, hat sich Sulzer mit dem Problem der Taxonomie der Künste immer wieder auseinandergesetzt und dabei Systeme entworfen, die untereinander erhebliche Unterschiede aufweisen. Grundlegend für diese jeweiligen Systeme ist dabei immer die Frage nach dem Unterschied zwischen dem Kunst- und dem Wissenschaftsbegriff gewesen: Inwiefern lassen sich die schönen Künste von den Wissenschaften bzw. von den schönen Wissenschaften unterscheiden? Welche Künste können dann der Rubrik »schöne Künste« zugeordnet werden?3 Mit dieser Frage setzte sich zunächst Sulzer in einem frühen Aufsatz auseinander, den er am 27. Januar 1757 in der Berliner Akademie anlässlich der Geburtstagsfeier Friedrichs II. vorlas. Dass dieser Aufsatz als »früh« bezeichnet werden darf, liegt nicht so sehr an dessen Entstehungsdatum, sondern vielmehr an seinem begrifflichen Inhalt. In Anlehnung an eine alte kunsttheoretische Tradition erklärte dort Sulzer die Nachahmung der schönen Natur als gemeinsames Prinzip aller schönen Künste: »Der wahre Charakter der schönen Künste bestehet darin, dass sie das Schöne und Angenehme aller Art abbilden und nachahmen.«4 Dabei 2
3
4
So fängt z.B. der erste Band des Lexikons mit folgenden Artikeln an: A (Musik); Abdruck (Zeichnende Künste); Abentheuerlich (Dichtkunst); Abgüsse (Bildende Künste) usw. (In: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Neue vermehrte zweyte Auflage. Leipzig 1792 [ND mit einer Einl. hg. v. Giorgio Tonelli. Hildesheim 1970], Bd. 1, S. 1ff. Zu diesen allgemeinen Fragen des 18. Jahrhunderts vgl. Paul Oskar Kristeller: The Modern System of Arts. A Study in the History of Aesthetics (I). In: Journal of the History of Ideas 12 (1951), S. 496–527; ders.: The Modern System of Arts. A Study in the History of Aesthetics (II). In: Journal of the History of Ideas 13 (1952), p. 17–46; Werner Strube: Die Geschichte des Begriffs »Schöne Wissenschaften«. In: Archiv für Begriffsgeschichte 33 (1990), S. 136–216. Johann Georg Sulzer: Gedanken über den Ursprung und die verschiedenen Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste. In: ders.: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaf-
Johann Georg Sulzers ›System der schönen Künste‹
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blieb er ganz deutlich unter dem Einfluss von Charles Batteux, dessen Beaux-arts réduits à un même principe drei verschiedene Übersetzungen bzw. Bearbeitungen – durch Philipp E. Bertram, Johann Adolf Schlegel und Johann Christoph Gottsched – zwischen 1751 und 1754 erfuhren.5 Wie zahlreiche Kunsttheoretiker aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts bestand Sulzer allerdings auf einer scharfen Unterscheidung zwischen dem positiven Grundsatz der Nachahmung und dem negativen der Nachbildung.6 Zum Unterschied vom Abbildungsbegriff, der in der bloßen Reproduktion der Natur bestehe, ist Sulzers Nachahmungsbegriff untrennbar mit dem Prinzip der Schönheit oder der Verschönerung verbunden. Die Aufgabe des Künstlers bestehe nur darin, die »angenehmen Gegenstände« der Natur durch »Worte oder durch Zeichnung und Farben« nachzuahmen oder, wenn diese Gegenstände »allzusehr verstreut« sind, sie zusammenzubringen.7 Wichtig ist bei dieser ersten Definition der schönen Künste zunächst einmal deren Umfang. Eine detaillierte Liste der einzelnen Künste, die unter dem Begriff schöne Künste aufzufassen sind, gibt Sulzer in diesem frühen Aufsatz zwar nicht. Verschiedenen Hinweisen ist jedoch zu entnehmen, dass diese Liste eher kurz ausfallen würde. Mit Sicherheit gehören dazu Poesie, Baukunst, Bildhauerei und Malerkunst.8 Auffallend ist dabei die Beschränkung des Nachahmungsbegriffs und daher des Kunstbegriffs selbst auf die verbalen und visuellen Mittel der Worte, der Zeichnung und der Farben. Von der Musik, die in der Allgemeinen Theorie eine so wichtige Rolle spielen wird, ist noch gar keine Rede. Noch wichtiger für Sulzers frühes Verständnis eines Systems der schönen Künste ist allerdings seine Beschreibung der Beziehungen und Grenzen zwischen den Wissenschaften und den schönen Künsten. In dem Aufsatz von 1757 intendiert Sulzer eine klare Abgrenzung zwischen den beiden Bereichen und sieht diese vor allem in ihrer jeweiligen Entstehungs- und Wirkungsweise begründet. Dabei greift er auf wissenschafts- und geistesgeschichtliche Denkmuster zurück, die seit der Querelle des Anciens et des Modernes wohl bekannt sind – und dies vor allem seit den Fehden zwischen Perrault und La Bruyère, die in England u.a. durch William Wotton, William Temple und Richard Bentley fortgesetzt wurden.
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ten zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/1781 [ND Hildesheim 1974], Bd. 2, S. 110–128, hier S. 116 (im Folgenden VS Band, Seitenzahl). Charles Batteux: Les beaux-arts réduits à un même principe. Paris 1746 [31773; ND hg. von Jean Rémy Mantion. Paris 1989]; ders.: Die schönen Künste aus einem Grunde hergeleitet. Aus dem Französischen übersetzt von P. E. B. [Philipp E. Bertram]. Gotha 1751; ders.: Einschränkung der schönen Künste auf einem einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen. Leipzig 1751 (übers. von Johann Adolf Schlegel; 3. vermehrte Auflage Leipzig 1770); Johann Christoph Gottsched: Auszug aus des Herrn Batteux, öffentlichen Lehrers der Redekunst zu Paris »Schönen Künsten aus dem einzigen Grundsatze der Nachahmung hergeleitet«, zum Gebrauche seiner Vorlesungen mit verschiedenen Zusätzen und Anmerkungen erläutert. Leipzig 1754. Zur Batteux-Rezeption in Deutschland vgl. Manfred Schenker: Charles Batteux und seine Nachahmungstheorie in Deutschland. Leipzig 1909 [ND Hildesheim 1977]. Sulzer: Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste (s. Anm. 4), S. 116: »Ich unterscheide hier die Abbildung von der Nachahmung, weil ich sehe, daß diese zwey Sachen wirklich verschieden sind, obgleich man sie gemeiniglich mit einander vermischt. Ich nenne eine Abbildung die Beschreibung, die Darstellung oder die Herfürbringung eines Gegenstandes, so wie derselbe sich in der Natur befindet, und die Nachahmung die Darstellung eines Gegenstandes, der sich nicht in der Natur befindet, sondern den natürlichen Gegenständen ähnlich ist«. Ebd., S. 113. Ebd., S. 111.
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Schon kurz nach ihrem Anfang in der Antike seien die schönen Künste »der Vollkommenheit sehr nahe« gekommen, während die Wissenschaften sehr lange brauchten, um einen Cartesius, Leibniz oder Newton hervorzubringen, argumentiert Sulzer in seiner Schrift von 1757.9 Dieser zeitliche Unterschied in der Genese der Wissenschaften und schönen Künste lasse sich ebenfalls in deren Wirkungsweise feststellen. Während die schönen Künste schnell und kräftig auf alle menschlichen Seelen wirken,10 kennzeichnen sich die Wissenschaften durch die »außerordentliche Langsamkeit« und notwendige Beschränktheit ihrer Aufnahme: Die Wahrheiten der Wissenschaften sind allemahl das Resultat von einer großen Zahl von Untersuchungen, einer Menge von Beobachtungen und einer langen Folge von Vernunftschlüssen. Wer darüber urtheilen will, muß den langen Weg durchlaufen haben, der dahin geführt hat.11
Hervorzuheben bleibt jedoch, dass trotz dieser wichtigen Unterschiede die beiden Bereiche der Wissenschaften und der schönen Künste durch ihre gemeinsame prinzipielle Orientierung an der äußeren Natur eng miteinander verbunden bleiben: der Künstler muss die schöne Natur nachahmen und der Wissenschaftler muss sie beobachten und erklären. Für beide bleibt also ein außerhalb des Subjekts Gegebenes der letzte Zweck der künstlerischen bzw. der wissenschaftlichen Tätigkeit. Daher erweist sich die Unterscheidung zwischen Wissenschaften und schönen Künsten, wie sie im Titel des Aufsatzes angekündigt wird, als nur begrenzt. In einem gedanklichen System, in dem den schönen Künsten das Prinzip der Naturnachahmung zugrunde liegt, lassen sich diese Künste nur bedingt von den Wissenschaften abgrenzen.
1.2. Der Kurze Begriff aller Wissenschaften und seine verschiedenen Auflagen Sehr groß ist der Unterschied von diesem auf dem Nachahmungsprinzip beruhenden Kunstbegriff zu demjenigen, den Sulzer zwei Jahre später in der zweiten Auflage seines Kurzen Begriffs aller Wissenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit (1759) entwirft. In der »ganz veränderten und sehr vermehrten« Edition dieses enzyklopädischen Handbuchs zu den Wissenschaften führt Sulzer eine Definition der Kunst aus, die die Kunst nicht mehr prinzipiell durch ihre Beziehung zur Natur definiert, wie das aristotelische Prinzip der Naturnachahmung es erforderte, sondern durch ihre Beziehung zur menschlichen Psyche. Hauptzweck der Künste sei nicht mehr die Natur bzw. die schöne Natur nachzuahmen, sondern auf das Herz bzw. auf die Einbildungskraft der Menschen einzuwirken12. Damit verlagert sich die Grundbestimmung der Künste vom einem außen stehendem Objekt zum Subjekt. Diese Absage an das Prinzip der Naturnachahmung wird Sulzer in seinen späteren Schriften nicht müde, weiter auszuführen. Zwar komme Naturnachahmung in der Ausübung der schönen Künste oft vor, hebt er z.B. im 9 10 11 12
Ebd., S. 110f. Charles Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes erwähnt Sulzer im Artikel Die Alten. In: ders.: Allgemeinen Theorie der schönen Künste (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 47. Sulzer: Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste (s. Anm. 4), S. 124f. Ebd., S. 126f. Die »Schönekünste [sic] gehen hauptsächlich auf das Vergnügen und die Beschäftigung der Einbildungskraft und des Herzens«, hebt Sulzer nachdrücklich hervor (Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit. 2. ganz veränderte und sehr vermehrte Ausg. Leipzig 1759, S. 55, § 69).
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Artikel Nachahmung (schöne Künste) der Allgemeinen Theorie der schönen Künste hervor. Doch sei sie zur begrifflichen Begründung dieser Künste ein völlig unzulängliches Prinzip, insofern als sie jeder allgemeinen Gültigkeit entbehre. Auf die zeichnenden Künste (Malerei, Bildhauerei und in einer gewissen Hinsicht Architektur) lasse sich zwar der Grundsatz der Naturnachahmung verhältnismäßig gut anwenden, jedoch nicht auf die redenden Künste, auf Musik und auf Tanz, wo er als Mittel, keineswegs jedoch als Zweck eingesetzt werden kann.13 Der stöhnende Philoktet oder die jammernde Andromache rühren uns nicht wegen der Ähnlichkeit mit der Natur, sondern wegen der Kraft der Empfindung. Diese psychologische, subjektbezogene Wende im Kunstverständnis ist eigentlich mit Sulzers erkenntnistheoretischen Untersuchungen der ausgehenden 1750er und der beginnenden 1760er Jahre untrennbar verbunden. In der Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes (1759) und in den Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet (1763)14 versuchte Sulzer ein System der seelischen Vermögen auszuarbeiten, das die beiden Vermögen des Erkennens und des Empfindens voneinander streng unterschied. Diese scharfe Unterscheidung ging allerdings mit einer deutlicheren Abtrennung von Kunst- und Wissenschaftsbegriff einher. Man pflege, beanstandet Sulzer in den ersten Seiten der zweiten Edition seines Kurzen Begriffs aller Wissenschaften, alle Theile der Gelehrsamkeit mit dem allgemeinen Namen der Wissenschaften zu belegen, oder man nennet sie auch die Künste und Wissenschaften. In eigentlichem Verstande aber kommt der Name Wissenschaft nur denjenigen Theilen der Gelehrsamkeit zu, welche sich mit allgemeinen Wahrheiten beschäftigen, die aus der Natur der Dinge, von denen sie handeln, durch die Nachforschungen der Vernunft auf eine unumstößliche Art hergeleitet werden.15
So wie die Wissenschaften hiermit zum genuinen Gegenstand der Vernunft, d.h. des Erkenntnisvermögens erklärt werden, so werden die Künste zum spezifischen Gegenstand des Empfindungsvermögens gemacht. Nicht mehr durch ihren nachahmenden Bezug zur äußeren Natur werden diese definiert, sondern durch ihre Beziehung auf das »Herz« des produzierenden oder rezipierenden Subjekts. »Ihr Wesen [d.i. der schönen Künste, É.D.] besteht darin, daß sie durch das sinnliche Schöne und Vollkommene das Gemüth ergezen und rühren.«16
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Johann Georg Sulzer: Art. Nachahmung. In : ders.: Allgemeinen Theorie der schönen Künste (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 796. Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe, sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe urtheilet und handelt. In: VS 1, S. 99–121 (französische Erstveröffentlichung: Johann Georg Sulzer: Expliquation d’un paradoxe psychologique: Que non seulement l’homme agit et juge sans motifs et sans raisons apparentes, mais même malgré des motifs pressans et des raisons convainquantes. In: Histoire de l’Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres de Berlin. Année 1759. Berlin 1766, p. 433–450); ders.: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet. In: VS 1, S. 225–243 (französische Erstveröffentlichung: Johann Georg Sulzer: Observations sur les divers états où l’âme se trouve en exerçant ses facultés primitives, celle d’appercevoir et celle de sentir. In: Histoire de l’Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres de Berlin, Année 1763. Berlin 1770, S. 407– 420. Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften (s. Anm. 12), S. 8f. (§ 6). Ebd., S. 56 (§ 71).
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Dass diese neue erkenntnistheoretische Fundierung des Kunstbegriffs im Empfindungsvermögen zugleich eine Aufwertung desselben mit sich bringt, geht aus einem Vergleich zwischen der allerersten Ausgabe des Kurzen Begriffs aller Wissenschaften von 1745 und der zweiten, revidierten Edition von 1759 deutlich hervor. In der ersten Ausgabe des Kurzen Begriffs blieb Sulzer einem streng rationalistischen, auf das Erkenntnisvermögen zentrierten Verständnis der menschlichen Seele treu. Auffallend waren dabei erstens der sehr beschränkte Platz, der in diesem Panorama der Leistungen des menschlichen Geistes den Künsten eingeräumt wurde,17 und zweitens die im Vergleich mit der zweiten Ausgabe fehlende Abtrennung zwischen Kunst- und Wissenschaftsbegriff. Die Poesie, schreibt Sulzer in der ersten Ausgabe, ist die »Wissenschaft, die Worte in einer Sprache und die Gedanken also zu setzen, daß auch das äußerliche davon dienete die Gemüther der Menschen zu lenken. Die Absicht derselben ist, die Menschen, so zu sagen, auf eine mechanische Weise zu bewegen, dieses oder jenes zu thun oder zu glauben.« Die Redekunst ist die »Wissenschaft, die Gedanken auf eine solche Weise vorzubringen, wie es der besondere Entzweck der Rede erfordert. Z. E. die Leute zur Tugend oder überhaupt nach unserer Absicht zu lenken«.18 Für Poesie und Beredsamkeit sorgt also kein spezifisches, vom Erkenntnisvermögen abgetrenntes seelisches Vermögen: die Künste, die kennzeichnenderweise auch als »Wissenschaften« bezeichnet werden, lassen sich von dem allgemeinen Vermögen des Erkennens ableiten. Daher bleibt in dieser ersten Fassung des Kurzen Begriffs die Definition der Kunst bzw. der Künste noch sehr unspezifisch.19 Von Musik, Tanz oder Bildhauerkunst ist in der ersten Edition des Kurzen Begriffs aller Wissenschaften nicht die Rede.
1.3. Georg Friedrich Meiers und Moses Mendelssohns Definition der schönen Künste Zu einer solchen Abkoppelung des Begriffs der schönen Künste von dem Nachahmungsprinzip hat Sulzer zwar in der Kunstliteratur der 1750er Jahre einen entscheidenden Beitrag geliefert. Jedoch stand er in diesem Unternehmen bei weitem nicht alleine. 1757, also kurz vor der Publikation der revidierten Fassung des Kurzen Begriffs aller Wissenschaften, ließen Georg Friedrich Meier und Moses Mendelssohn jeweils Schriften erscheinen, die sich mit dieser Frage eng auseinandersetzten. In seinen Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften (1757) nahm sich Meier vor, aus philosophischen Gründen nachzuweisen, dass die »Nachahmung der Natur, oder der Satz, ahme der Natur nach« unmöglich zum ersten Grund-
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Flüchtig werden sie zweimal in dem der historischen Erkenntnis und zweimal in dem der philosophischen Erkenntnis gewidmeten Teil erwähnt. Vgl. Johannn Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit. Leipzig 1745, S. 24 (§ 30), S. 36f. (§ 46–48), S. 71–73 (§ 87–90). Ebd., S. 71–73 (§ 87–90). Unter dem Begriff der Kunst versteht Sulzer sowohl Poesie und Beredsamkeit als auch »alle Handwerke, Fabriken [oder] Handlungen« (ebd., S. 24 [§ 30]).
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satz aller schönen Künste und Wissenschaften angenommen werden könne.20 Mit dieser Schrift, die vor allem gegen Batteux und Gottsched gerichtet war, lieferte er eine der ersten und wichtigsten Widerlegungen des Nachahmungsprinzips aus philosophischen Gründen in Deutschland. Um als Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften zu fungieren, sei der Naturbegriff an sich schon zu unbestimmt. Was für eine Natur gelte es nachzuahmen? Gehe es dabei um die »Natur würklich vorhandener Dinge« oder aber um die Natur, »die man erdichtet«?21 Wie lasse sich darüber hinaus ein solcher Satz mit der in der Natur vorhandenen Hässlichkeit konsequent verbinden? Anstelle des Nachahmungsprinzips will also Meier folgenden Grundsatz als einzige Grundlage aller schönen Künste und Wissenschaften gelten lassen: »Die sinnliche Erkenntniß sey so schön als möglich.«22 Auf diesem Prinzip baut Meier seine Unterscheidung zwischen den hohen Wissenschaften23 einerseits und den schönen Künsten und Wissenschaften andererseits auf. Die hohen Wissenschaften (so z.B. die Mathematik oder die Physik) können nur auf deutlicher Erkenntnis beruhen und sind also Hervorbringungen des oberen Erkenntnisvermögens. Bei den schönen Künsten und Wissenschaften hingegen – d.h. in der Dichtkunst, Redekunst, Historie, Malerei, Musik, Baukunst und Bildhauerei – wirken unteres und oberes Erkenntnisvermögen eng miteinander.24 Auf die nähere Unterteilung des Kollektivs »schöne Künste und Wissenschaften« geht allerdings Meier nicht näher ein.25 Gerade mit dieser Frage setzt sich hingegen Mendelssohn in einer Schrift ausführlich auseinander, die genau im selben Jahr unter dem Titel Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften anonym erscheint. Ähnlich wie Meier verwirft Mendelssohn dort den Grundsatz der Naturnachahmung als den »unfruchtbarsten« überhaupt, den man zur Begründung der schönen Wissenschaften und Künste anführen könne, denn dieser Grundsatz bleibe nur auf die äußere Natur bezogen und lasse dabei die menschliche Seele beiseite, der den eigentlichen Kern der schönen Künste und Wissenschaften ausmache.26 Nur in der »sinnli20
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Georg Friedrich Meier: Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften. Halle 1757. Zitiert nach Georg Friedrich Meier: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen. Hg. von Hans-Joachim Kertscher, Günter Schenk. Halle 1999ff., Bd. 3, S. 170–206, hier S. 186 (§ 16). Ebd., S. 188, § 18. Ebd., S. 190, § 20. Diese Wissenschaften bezeichnet Meier als »hoch«, um sie von den »schönen« zu unterscheiden. Schön ist in Meiers Definition eine sinnliche Erkenntnis, insofern sie eine Reihe von Eigenschaften aufweist, zu denen Wahrheit, Lebhaftigkeit, Vielfalt, Ordnung und Fähigkeit zu berühren gehören. Das Prinzip der größten Schönheit der sinnlichen Erkenntnis betrifft allerdings sowohl die Produktion als auch die Rezeption der schönen Künste und Wissenschaften. Als »schöner Geist« wird sowohl der Künstler als auch der Rezipient bezeichnet, dessen Erkenntnisvermögen all diese Eigenschaften aufweist. Zwar unterscheidet er zwischen den Künsten und Wissenschaften, die sich der »Worte und anderer willkürlicher Zeichen« bedienen, wie etwa Redekunst und Poesie, und denjenigen, die »einen äusserlichen Gegenstand würklich machen«, wie etwa die Malerei oder die Musik (ebd., S. 199, § 26). Die Unterscheidung deckt sich aber nicht mit der Unterscheidung zwischen schönen Wissenschaften und schönen Künsten. [Anonymus=Moses Mendelssohn]: Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 1.1. (1757), S. 231–268 (wieder abgedruckt in: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Begonnen von Ismar Elbogen, fortgesetzt von Alexander Altmann, in Gemeinschaft mit Fritz Bamberger. Stuttgart 1971ff., Bd. 1, S. 165–190). Neu erschienen unter dem Titel: Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und
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chen«, d. h. klaren aber undeutlichen Erkenntnis der Vollkommenheit sieht Mendelssohn in Übereinstimmung mit Meier das ursprüngliche Prinzip der schönen Künste und Wissenschaften angesiedelt, zu denen er sieben Disziplinen – Dichtkunst, Beredsamkeit, Malerei, Skulptur, Tanzkunst, Musik und Architektur – zählt. Gegenüber Meier zeichnet sich allerdings Mendelssohn durch die ungleich schärfere Unterscheidung zwischen schönen Künsten und schönen Wissenschaften aus, die er aus dem Unterschied zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen herleitet. »Die schönen Wissenschaften, worunter man gemeinglich die Dichtkunst und Beredsamkeit verstehet, drücken die Gegenstände durch willkührliche Zeichen, durch vernehmliche Töne und Buchstaben aus.« Die schönen Künste hingegen »bedienen sich vornehmlich der natürlichen Zeichen«, die ihnen zur Verfügung stehen (so z.B. Töne für die Musik oder Farben und Linien für die Malerei), was auch erklärt, dass ihr Feld »eingeschränkter« ist.27 Damit gibt Mendelssohn dem »intellektuelleren« Feld der schönen Wissenschaften einen eindeutigen Vorzug vor dem bloß sinnlichen Bereich der schönen Künste. Dadurch, dass sie sich willkürlicher Zeichen bedienen, erfordern Poesie und Beredsamkeit eine intensivere Mitwirkung der oberen Erkenntniskräfte und erzielen auch eine bestimmtere und gezieltere Wirkung. Bei den schönen Künsten hingegen ist der Anteil der unteren, bloß sinnlichen Erkenntniskräfte grösser, so dass deren Wirkung auch unbestimmter ist. Exemplarisch für diese mangelnde Deutlichkeit steht in Mendelssohns Argumentation das Beispiel der Musik, deren Wirkung zwar »stark, lebhaft und rührend, aber unbestimmt« sei. »Man spürt sich von einer gewissen Empfindung durchdrungen, aber unsere Empfindung ist dunkel, allgemein, auf keinen einzelnen Gegenstand eingeschränkt« ‒ einem Mangelzustand, dem allerdings »durch Hinzuthuung deutlicher und willkürlicher Zeichen abgeholfen werden« kann.28
2. Binnendifferenzierung: Sulzers fortschreitende Erarbeitung eines ›Systems der schönen Künste‹ Worin besteht nun das ›System der Künste‹, das Sulzer zum ersten Mal in seiner neu bearbeiteten Fassung des Kurzen Begriffs am Ende der 1750er Jahre vorlegt? Zunächst einmal stellt Sulzer einen scharfen Unterschied zwischen den schönen oder ›freien‹ Künsten einerseits und den mechanischen andererseits fest. Die mechanischen Künste kennzeichnen sich dadurch, dass sie zu »den Bedürfnissen und zur Bequemlichkeit des Lebens dienen«, während die schönen Künste »hauptsächlich auf das Vergnügen und die Beschäftigung der Einbildungskraft und des Herzens« gehen. Zu den schönen Künsten selbst zählen sechs bzw. sieben Gattungen: (1) die Baukunst, (2) die Malerkunst, welche nicht nur die Malerei, sondern auch die Bildhauerei und die Stein- und Stempelschneiderkunst umfasst, (3) die Tanzkunst, (4) die Musik, (5) die Redekunst und (6) die Dichtkunst. Hinzu kommt noch (7) die Schauspielerkunst, der Sulzer nach-
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Wissenschaften. In: Moses Mendelssohn: Philosophische Schriften. Verbesserte Auflage. Berlin 1771, zweiter Teil, S. 97–152 (wieder abgedruckt in: ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. von Otto F. Best. Darmstadt 1974, S. 173–197, hier S. 175). Ebd., S. 182f. Ebd. S. 192.
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drücklich die Bedeutung einer wahrhaft schönen Kunst zuschreibt.29 Damit erarbeitet Sulzer ein System der schönen Künste, dem er – abgesehen von wenigen Abweichungen in der Zusammenstellung von einzelnen Künsten – bis zur Publikation der Allgemeinen Theorie treu bleiben wird. Um das Spezifische dieses Systems der schönen Künste richtig einschätzen zu können, muss ein kurzer Rückblick auf die vorhergehenden Systeme geworfen werden. Bekanntlich wurde der Begriff der schönen Künste zum ersten Mal durch Charles Perrault geprägt, der in seinem 1690 erschienenen Cabinet des beaux Arts die traditionellen Kategorien von freien und mechanischen Künsten als überholt erklärte und ihnen den neuen Begriff der beaux-arts entgegenstellte, die die acht Disziplinen der Beredsamkeit, Dichtung, Musik, Architektur, Malerei, Bildhauerkunst, Optik und Mechanik umfasste.30 In der französischen Kunstliteratur erfuhr der neue Terminus eine schnelle Verbreitung, die nicht zuletzt Batteux’ berühmter Schrift Les beauxarts réduits à un même principe (1746) zu verdanken ist. Dort wurde zum ersten Mal versucht, dem bisher etwas vagen Sammelbegriff beaux-arts eine kunsttheoretisch fundierte und systematische Definition zu geben. Der einzige Zweck der beaux-arts – zu denen Batteux die fünf Disziplinen der Musik, Dichtung, Malerei, Bildhauerei, Gestik oder Tanz zählt – bestehe darin, Vergnügen in der menschlichen Seele auszulösen. Dadurch unterscheiden sich die schönen Künste von den mechanischen, die bloß darauf zielen, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Zwischen den beiden Kategorien der schönen und der mechanischen Künste sieht Batteux eine dritte Art von Künsten, die angenehme Empfindungen erregen und zugleich einen gewissen Nutzen aufweisen. Dazu gehören Beredsamkeit und Architektur.31 Zur Popularisierung des neuen Begriffs der beaux-arts trugen in der französischen Tradition auch Lexika bei, wie etwa Jacques Lacombes Dictionnaire portatif des beaux-arts (1752), das von der Architektur, Skulptur, Malerei, Kupferstecherkunst, Poesie und Musik handelt.32 In seinem Discours préliminaire greift d’Alembert zwar gerne auf die traditionelleren Kategorien der mechanischen und freien Künste zurück, um seine Einteilung der Künste zu begründen. Den Begriff der beaux-arts kann er jedoch nicht ganz umgehen: Er bezeichnet ihn als den Unterteil der »freien Künste«, die auf die Nachahmung der Natur abzielen und einzig den Gesetzen der Einbildungskraft oder des Genies unterzogen sind. Zu den schönen Künsten gehören in d’Alemberts Verständnis Poesie, Musik, Malerei, Skulptur und bürgerliche Architektur, wozu noch in dem »Système raisonné des connaissances humaines« die Kupferstecherkunst hinzugefügt wird.33 Wie vertraut Sulzer mit dieser Tradition war, lässt sich zahlreichen seiner Schriften und vor allem der Allgemeinen Theorie der schönen Künste entnehmen. Mit Lacombes Lexikon beschäftigte er 29 30 31 32
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Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften (s. Anm. 12), S. 59 (§ 74). Charles Perrault: Le Cabinet des beaux Arts ou Recueil d’Estampes gravées d’après les Tableaux d’un plafond où les beaux Arts sont représentés. Paris 1690, vor allem p. 1–4. Charles Batteux: Les beaux-arts réduits (s. Anm. 5), p. 82. Jacques Lacombe: Dictionnaire portatif des beaux-arts ou Abrégé de ce qui concerne l’Architecture, la Sculpture, la Peinture, la Gravure, le Poésie et la Musique. Paris 1752 (vermehrte Auflagen 1753, 1759). Dieses Lexikon wurde 1781 ins Italienische übersetzt: Ders.: Dizionario portatile delle belle arti [...] per M. Lacombe, trasportato dalla franzese nella lingua toscana. Bassano 1781. Vgl. Jean Le Rond d’Alembert: Discours préliminaire de »l’Encyclopédie«. In: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Ed. par Denis Diderot, Jean-Baptiste Le Rond d’Alembert. Paris 1751, vol. 1, p. 106, 108f., 115, 119.
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sich intensiv. In der Mitte der 1750er Jahre unternahm er es, dieses französische Kunstlexikon ins Deutsche zu übersetzen – ein Projekt, das er allmählich aufgab, um sein eigenes kunsttheoretisches Lexikon zu verfassen.34 Batteux’ System der Künste war ihm ebenfalls sehr gut bekannt. Im Artikel Fehler der Allgemeinen Theorie beanstandet Sulzer, dass in den Beaux-arts réduits à un même principe »die Baukunst in Ansehung ihres Zwecks eine ganz besondere Gattung ausmache«.35 Meiers und Mendelssohns fast zeitgenössische Überlegungen zum Begriff der schönen Künste zitiert er zwar nie ausdrücklich. Jedoch kann man die Hypothese aufstellen, dass er diese deutschsprachigen Schriften aus befreundeten Kreisen gut kannte. Von diesen Traditionslinien weicht Sulzer dadurch ab, dass er dem System der schönen Künste eine bisher unbekannte Ausweitung und Flexibilität zuweist. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts waren Kunstsysteme entwickelt worden, die zwar darin übereinstimmten, die vier Künste der Poesie, Malerei, Skulptur und Musik zu den schönen Künsten zu zählen, sich aber über die Zuordnung zahlreicher weiterer Künste sehr uneinig waren. So wurde die Beredsamkeit (Redekunst, éloquence, ars oratoria), die ursprünglich zum trivium der mittelalterlichen artes liberales gehörte, zwar 1690 von Charles Perrault zu den »schönen Künsten« gezählt, von Batteux und d’Alembert aber zum eigentlichen Kern der schönen Künste nicht zugeordnet, weil sie nicht nur auf bloßes Vergnügen, sondern auf praktisches Bedürfnis zurückzuführen sei. In Mendelssohns System gehört die Beredsamkeit ebenfalls nicht zu den schönen Künsten, sondern zu den schönen Wissenschaften. Eine ebenso schwankende Stelle nahm in den damaligen Kunstsystemen die Architektur ein. Dieses Fach, das im Mittelalter nicht den artes liberales zugeordnet wurde, zählte zwar für Perrault und d’Alembert zu den schönen Künsten, wurde aber wiederum von Batteux aus den eigentlichen schönen Künsten als nutzbringend und -orientiert ausgeschlossen. Zu bemerken ist dabei, dass die aus praktischer »Nothdurft« entstandene Baukunst durch Mendelssohn ebenfalls nur begrenzt in die Gruppe der schönen Künste aufgenommen wird, wo sie als »Nebenkunst« bezeichnet wird.36 Ähnlich verhält es sich mit der Tanzkunst, die Batteux zu den schönen Künsten zählt, während Perrault sie aus seinem System der schönen Kunste ausschließt. In deutlicher Abgrenzung von diesen Modellen vertritt Sulzer ein dezidiert breites Verständnis der schönen Künste, das all die bisher mehr oder weniger als äußere Grenzgebiete betrachteten Gattungen (Beredsamkeit, Architektur, Tanz, Schauspiel34
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Sulzers Freund, Hans Caspar Hirzel, datiert die Entstehung des Projekts der Allgemeinen Theorie der schönen Künste auf das Jahr 1756, d.h. auf die ersten Übersetzungsarbeiten an Lacombes Dictionnaire portatif des beaux-arts zurück (vgl. dazu Hans Caspar Hirzel: Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen. 2 Bde. Zürich, Winterthur 1779, Bd. 1, S. 219). Zu Sulzers Beschäftigung mit Lacombes Lexikon, vgl. auch Christian Friedrich von Blanckenburg: Einige Nachrichten von dem Leben und den Schriften des Herrn J. G. Sulzer. In: VS 2, S. 70 (Blankenburg beruft sich dabei ausdrücklich auf Hirzel). In einem Brief an Bodmer vom Februar 1756 erwähnt Sulzer ebenfalls die Lektüre von Lacombes Wörterbuch: »Ich schreibe an einem Dictionnaire de beaux-arts. Ein Handlexikon* [*von Mr. La Combe] hat mich dazu veranlaßt« (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Ms. Bodmer 13a). Johan van der Zande erwähnt – allerdings ohne nähere Quellenangaben – einen Brief Sulzers an Albrecht von Haller aus dem Jahre 1759, in dem jener behauptet, dass er seit sechs Jahren an seinem Lexikon arbeite (Johan van der Zande: J. G. Sulzer’s »Allgemeine Theorie der schönen Künste«. In: Das achtzehnte Jahrhundert 22,1 (1998), S. 87–101, hier S. 91). Johann Georg Sulzer: Art. Fehler. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 374f. Mendelssohn: Ueber die Hauptgrundsätze (s. Anm. 26), S. 195.
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kunst, Kupferstecherei) vorbehaltlos integriert. Selbst die Geschichtsschreibung, die d’Alembert und Diderot aus dem Bereich der schönen Künste ausgeschlossen hatten, ist Sulzer gerne bereit, den schönen Künsten zuzuzählen — wie übrigens Meier schon vor ihm.37 Mit Sulzer erlangt der Begriff der schönen Künste mithin eine noch nie erreichte Breite.
3. Sulzers System der Künste in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste Vor diesem Hintergrund erhält die Form des rein alphabetisch geordneten, auf jede systematische Übersicht verzichtenden Lexikons, an der Sulzer trotz aller Angriffe für die Darstellung seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste so entschieden festhielt, eine besondere Bedeutung. Für Sulzers breit angelegten Kunstbegriff eignet sich diese Form besonders gut. Im Gegensatz zu den geschlossenen, mehr oder weniger systematisch geordneten Darstellungsformen, die durch seine Vorgänger und Zeitgenossen gepflegt wurden, ermöglicht diese alphabetische Anordnung der Einträge die Darstellung eines besonders breiten Begriffs der schönen Künste und lässt sogar die Möglichkeit einer Erweiterung dieses Begriffs durch einfache Hinzufügung einzelner Artikel offen. Worin besteht nun genau Sulzers System der schönen Künste, wie es in seiner letzten Phase, d.h. in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste ausgearbeitet wurde? Zur Beantwortung dieser Frage bieten sich zwei Wege an: ein textgebundener, der Sulzers verstreute Aussagen zur eigenen Systematik verfolgt, und ein statistischer, der auf der Zählung und proportionalen Verteilung der Artikel beruht. Zunächst einmal soll versucht werden, den ersten, textgebundenen Weg zu nehmen. Dabei muss aber von vorn herein hervorgehoben werden, dass dieser ein eigentlich vielfältiger ist. Aus der genauen Lektüre einzelner Kernartikel der Allgemeinen Theorie zur Frage des Kunstsystems gehen verschiedene Modelle hervor, die zwar miteinander grundlegende Gemeinsamkeiten aufweisen, jedoch in einigen wichtigen Punkten voneinander abweichen. Geht man von den Artikeln Redende Künste, Zeichnende Künste und Bildende Künste aus, so gelangt man zu einer Klassifikation der Künste, die sich vor allem durch eine besonders ausgeprägte Hierarchisierung der Kunstgattungen kennzeichnet. Die oberste Stufe dieser Hierarchie nehmen die »redenden Künste« ein, die die zwei Künste der Beredsamkeit und der Dichtkunst enthalten – wobei hervorgehoben werden soll, dass die Geschichtsschreibung als Untergattung der Beredsamkeit dazu gerechnet wird. »Daß die redenden Künste überhaupt in Absicht auf den Nutzen den ersten Rang unter den schönen Künsten behaupten, ist bereits an mehr Orten [sic] dieses Werks hinlänglich gezeiget worden«, hebt Sulzer hervor.38 Einen tieferen Rang nehmen dabei die »zeichnenden« Künste ein, unter denen Sulzer die »Classe der schönen Künste« begreift, »die durch die Darstellung sichtbarer Formen auf die Gemüther würken, bey
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Johann Georg Sulzer: Art. Redende Künste. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 963; Meier, Betrachtungen über den ersten Grundsatz (s. Anm. 20), S. 194 (§ 23). Johann Georg Sulzer: Art. Redende Künste. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 963.
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denen folglich die Zeichnung dieser Formen das Wesentliche der Kunst ausmacht«.39 Dabei gliedern sich die zeichnenden Künste in drei Gattungen: (1) diejenigen, die die Formen »nur flach aber durch die Zauberkraft der Vermischung des Lichts und Schattens« darstellen, d.h. die Malerei, die »mosaische Kunst«, die Kupferstecherkunst und das Formschneiden; (2) die »bildenden Künste«, die die Formen »körperlich bilden«, d.h. die Bildhauer-, Steinschneider-, Stempelschneider-, Stukkatur-, Bossier-, Schnitz- und Drehkunst;40 und (3) schließlich die Baukunst, die Sulzer im Gegensatz zu vielen Vorgängern zu den schönen Künsten unbedingt zählen möchte.41 Mit Nachdruck wird in diesen Artikeln darauf hingewiesen, dass die zeichnenden Künste der Gefahr ausgesetzt werden, entweder »blos zur Ueppigkeit und zur Unterstüzung einer eiteln Pracht« oder zum einfachen »Ergözen des Auges« angewandt zu werden42 – eine Schwäche, die ihre Unterlegenheit gegenüber den redenden Künsten erklärt. Zu den zwei Hauptgattungen der redenden und der zeichnenden Künste kommt noch die Gattung der Musik hinzu. Geht man aber vom letzten Teil des Kernartikels Künste; schöne Künste aus, so kommt man zu einer Klassifikation der Künste, die sowohl in der Begründung als auch in der Bewertung der einzelnen Kunstgattungen nicht unbedeutende Unterschiede zu diesem Modell aufweist. Dort entwirft Sulzer in der Tat ein ›System der schönen Künste‹, das seinem reiferen Kunstdenken gemäß auf der Beschaffenheit des Empfindungsvermögens basiert und daher als »ästhetisch« in Sulzers ursprünglichem Gebrauch des Wortes, d.h. als ästhesiologisch, bezeichnet werden darf. Die schönen Künste (Poesie, Malerei, Musik usw.) werden auf den jeweiligen Sinn zurückgeführt, aus dem sie entstanden sind, bzw. den sie am meisten ansprechen. Dabei muss von vornherein hervorgehoben werden, dass die daraus entstehende Klassifikation sich durch eine Offenheit und Flexibilität kennzeichnet, der die kurz vorhin skizzierte entbehrte. Diese zweite, erkenntnistheoretisch fundierte Klassifikation der Künste enthält noch viele Leerstellen und scheint die genaue Verortung einiger wichtiger Künste (wie z.B. der Architektur oder Skulptur) absichtlich offen zu lassen. Vor allem ermöglicht sie eine durchaus flexible Hierarchisierung der einzelnen Künste oder tendiert sogar dazu, sich von jedem Hierarchiedenken zu verabschieden. Worin besteht nun diese neue ästhetische, auf der Beschaffenheit des Empfindungsvermögens basierende Klassifikation der Künste? Unter den fünf Sinnen, mit denen die Natur den Menschen begabt hat, werden von vorn herein die drei Sinne des Tastsinns, des Geschmacks und des Geruchs als »niedrig«, »grob« und »tierisch« bezeichnet und daher zum Tragen einer »schönen« Kunst unfähig erklärt. Erst mit den beiden Sinnen des Gehörs und des Gesichts fange der Bereich der schönen Künste an. Damit nimmt Sulzer allerdings eine traditionelle Sinneshierarchie wieder auf, der er unter anderem in Mendelssohns Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften von 1757 hatte begegnen können.43 39 40 41
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Johann Georg Sulzer: Art. Zeichnende Künste. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 1281. Sulzer: Art. Bildende Künste. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 173. Ob die Baukunst für Sulzer eine Untergattung der bildenden Künste ist oder als eine eigenständige Gattung neben letzteren steht, ist unklar. Im Artikel Zeichnende Künste (s. Anm. 39), S. 1281, wird sie zu den bildenden Künsten gezählt. Sulzer erwähnt aber die Baukunst im Artikel Bildende Künste nicht. Ebd., S. 1282. Mendelssohn: Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften (s. Anm. 26), S. 184.
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In Sulzers Darstellung unterhalten nun die beiden höheren Sinne des Gehörs und des Gesichts eine durchaus zweideutige Beziehung zueinander. Der klassischen Sinneshierarchie gemäß scheint zwar das Gesicht in Sulzers Klassifizierung höher zu stehen als das Gehör. Ihm haftet von vorn herein eine ausgeprägte »geistige« oder intellektuelle Dimension an, während das Gehör als der »sinnlichste« Sinn dargestellt wird. Darüber hinaus liegt das Gesicht einer größeren Anzahl von Kunstmedien zugrunde (Malerei, Zeichnung, Skulptur usw.) und besitzt daher ein viel breiter angelegtes Wirkungsfeld.44 In der Intensität der Wirkung scheint jedoch das Gehör große Vorteile vor dem Gesicht zu haben. Es vermöge kräftiger als das Gesicht auf die Seele zu wirken, hebt Sulzer hervor. In Hinsicht auf die »Kraft« ist das Gehör der »erste« Sinn. Deshalb wird auch die Musik als die »erste und kräftigste« der Künste bezeichnet.45 In ihr offenbare sich exemplarisch die vorzügliche Beziehung der Künste zum Empfindungsvermögen. Musik entstehe aus der bloßen Empfindlichkeit des Gehörsinns des Künstlers und wirke sich direkt auf die Empfindung des Zuhörers aus – eine bevorzugte Eigenschaft, die den zentralen Platz der Musikartikel in der Allgemeinen Theorie erklärt. Hervorzuheben ist dabei, dass Sulzer es nicht versäumt, unter der Rubrik »Gehör« die redenden Künste, d.h. Poesie und Beredsamkeit, zu erwähnen. Vom Gehör hängen die redenden Künste zwar nur zum Teil ab. Der Wirksamkeit der Musik nähern sie sich jedoch dann, wenn sie durch sinnliche Klangeffekte versuchen, »ihren Vorstellungen eine Beykraft oder einen stärkern Nachdruck« zu geben. Deshalb spielen auch die Poesie und Beredsamkeit eine so wichtige Rolle in der Allgemeinen Theorie. Aus seiner den Sinnen gemäßen Einteilung der Künste leitet Sulzer eine weitere Regel ab, die in dem vorigen Klassifizierungsmodell gar nicht zum Vorschein kam. Besonders wirksam sind diejenigen Künste, die zugleich mehrere Sinne ansprechen und rühren, bzw. mehrere Kunstarten vereinigen. Zu diesen bevorzugten Künsten gehören etwa der Tanz, der durch »Auge und Ohr zugleich« rührt, der Gesang, in dem sich die redenden Künste mit der Musik vereinigen, und das Schauspiel, in dem »alle zugleich wirken«. Unter den Schauspielen nehmen das Theater und die Oper eine bevorzugte Stelle ein. Eine statistische Untersuchung der thematischen Verteilung der Lemmata der Allgemeinen Theorie bestätigt die hier flüchtig skizzierten Grundlinien von Sulzers »ästhetischem« Verständnis der schönen Künste, wie sie im Artikel Künste dargelegt werden. Allerdings fügt sie auch neue Aspekte hinzu. Das Lexikon besteht aus 982 Artikeln, die sich wie folgt zergliedern, wenn sie nach den von Sulzer selbst angegebenen Rubriken gezählt werden: etwa 17% der gesamten Einträge werden der Kunsttheorie,46 24% der Musik, 26% den »zeichnenden Künsten« (d.h. der Zeichnung, Malerei, Baukunst, Skulptur und Kupferstecherkunst), 14% den »redenden Künsten« (d.h. der Poesie und Beredsamkeit), 3% der Schauspielkunst und Tanzkunst, 0,5% der Gartenkunst und 2% einzelnen Personen und Werken gewidmet. Nur 13,5% der gesamten Einträge sind von jeder kategorischen Zuweisung frei. Zwar spiegelt diese statistische Aufnahme einige Aspekte der Systematik der Künste wider, wie sie Sulzer in dem Artikel Künste entworfen hatte. Dazu gehören etwa die Bedeutung der Musik sowie die nicht unbeachtliche Anzahl der Einträge, die den Schauspielen (Theater und Oper) gewidmet sind. Dabei muss aber 44 45 46
Johann Georg Sulzer: Art. Künste; schöne Künste. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 623ff. Ebd., S. 623. Diese Rubrik steht in Sulzers Sprachgebrauch unter dem Titel Schöne Künste.
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hervorgehoben werden, dass diese Daten einige neue Schlaglichter auf die innere Gewichtung einzelner Hauptgattungen, wie z. B. der redenden Künste, werfen. Sulzer begnügt sich nicht damit, die als schöne Kunst oft umstrittene Gattung der Beredsamkeit unter die schönen Künste vorbehaltlos aufzunehmen, sondern räumt ihr innerhalb der Rubrik der redenden Künste mehr Platz als der Poesie ein.47 Auch für Sulzers Verständnis der zeichnenden Künste bringt eine solche Untersuchung neue Erkenntnisse. Die Architektur wird nicht nur dezidiert unter diese Rubrik aufgenommen, sondern nimmt dort fast die Hälfte der Einträge ein.48 In der Baukunst sieht Sulzer in der Tat eine der wirkungskräftigsten Künste und damit ein durchaus effektives Werkzeug in der ästhetisch-psychologischen Erziehung des Menschen. Dafür erscheint aber die Bedeutung der Einträge, die er der Malerei und mehr noch der Bildhauerei widmet, im Vergleich mit den vorhergehenden und zeitgenössischen Kunstsystemen als merkwürdig gering. Für Sulzer bleibt die Malerei »in ihrer ursprünglichen Natur nichts anders [...], als eine Nachahmung sichtbarer Gegenstände auf flachem Grund, vermittelst Zeichnung und Farbe«.49 Als mimetische Kunst par excellence kann sie einen nur beschränkten Platz in einem System der Künste finden, der die Naturnachahmung als kunsttheoretischen Grundsatz energisch verwirft. Die Variationen, Verschiebungen, ja Ungereimtheiten in der Klassifizierung der Künste, die wir bei näherer Untersuchung der Allgemeinen Theorie der schönen Künste konstatiert haben, könnten leicht den Vorwurf des Eklektizismus nähren, der Sulzers Rezeptionsgeschichte seit Goethes Rezension in den Frankfurter gelehrten Anzeigen bis etwa zu Armand Nivelles Übersicht über die Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik geprägt hat.50 Zwar wäre es kühn, zu behaupten, dass die Allgemeine Theorie frei von theoretischen Spannungen ist. Doch sind diese Spannungen nicht vornehmlich auf die fehlende Kohärenz der Quellen zurückzuführen, aus denen Sulzer seine Theorie und Klassifikation der schönen Künste angeblich gespeist habe. Vielmehr hängen sie mit der inneren Entwicklung seines Kunstbegriffs zusammen. Wie vorhin erwähnt, erfuhr Sulzers philosophisches Denken – und ganz speziell seine Theorie des Empfindens – im Laufe der 1750er und der 1760er Jahre einen tiefgreifenden Wandel. Diese Entwicklung, die zeitlich mit dem Anfang der Redaktionsphase der Allgemeinen Theorie zusammenfiel, hinterließ im Lexikon deutliche Spuren. Einzelne, früh geschriebene Artikel bleiben seiner frühen Auffassung der seelischen Vermögen stark verpflichtet und weisen daher für die Klassifikation der Künste dem Erkenntnisvermögen eine größere und dem Empfindungsver47 48 49 50
Unter den »redenden Künsten« werden 43,1% der Artikel der Dichtkunst und 56,9% der Beredsamkeit gewidmet. Die den zeichnenden Künsten gewidmeten Artikel werden folgendermaßen verteilt: 48% betreffen die Baukunst; 26,3% die Malerei ; 7,2% die Bildhauerkunst; 5,5% die Kupferstecherkunst. Johann Georg Sulzer: Art. Mahlerey; Mahlerkunst. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 2), Bd. 2, S. 730. Johann Wolfgang Goethe: Rez. von: J. G. Sulzer, »Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung betrachtet« [Leipzig 1772]. In: ders.: Goethes Werke. 133 Bde. Hg. Im Auftrage d. Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887ff., Bd. 37, S. 206–214 (Erstveröffentlichung in: Frankfurter gelehrte Anzeigen 101 [18. Dezember 1772], S. 801–807). Die im Jahre 1772 von Goethe rezensierte Schrift entspricht den Artikel Künste; schöne Künste, den Sulzer aus Rücksicht auf die alphabetische Reihenfolge im ersten Band der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771) nicht hatte erscheinen lassen. Armand Nivelle bezeichnet Sulzer als einen bloßen »Ekklektiker«, dem es an jedem »leitende[n] Prinzip« fehle und der sich daher in zahlreiche »Widersprüche« verfangen habe (vgl. Armand Nivelle: Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik. Berlin 1960, S. 47, S. 49).
Johann Georg Sulzers ›System der schönen Künste‹
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mögen eine beschränktere Rolle zu (davon zeugt z.B. der Artikel Redende Künste). Andere Artikel sind hingegen von Sulzers späterer Auffassung der seelischen Vermögen durchdrungen, wie der letzte Teil des Artikels Künste; schöne Künste zeigt. Die alphabetische Einordnung seines Lexikons erlaubte es ihm also, die verschiedenen chronologischen Stadien seines Kunstdenkens innerhalb eines und desselben Werks zusammenzuhalten. Daher bieten die alphabetisch geordneten Artikel der Allgemeinen Theorie der schönen Künste kein »eklektizitisches« Denken im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern vielmehr eine durchaus originelle und persönliche kunstphilosophische Entwicklung dar. Für die Forschung ist es unvergleichlich fruchtbarer, die auffälligen Spannungen, ja Ungereimtheiten, die Sulzers Allgemeine Theorie zu kennzeichnen, als das Ergebnis dieses philosophischen Werdegangs zu betrachten, denn als das mehr oder weniger überzeugende Endprodukt eines ungeschickten Zusammenflickens fremder theoretischer Ansätze.
FRANK GRUNERT
Kurzer Begriff statt langer Geschichte. Sulzers Kurzer Begriff aller Wissenschaften im Kontext der Historia literaria des 18. Jahrhunderts
In seiner 1778, d.h. kurz vor seinem Tode verfassten und erst 1809 erschienenen Lebensbeschreibung, der Kurzen Nachricht von meiner Herkunft und von den wichtigsten Umständen meines Lebens,1 hat Johann Georg Sulzer seinem Kurzen Begriff aller Wissenschaften keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei gehörte dieses 1745 zum ersten Mal in Leipzig publizierte Buch – es war zunächst eher ein Büchlein von nicht mehr als 96 Seiten – zumindest äußerlich gesehen, d.h. hinsichtlich seiner Auflagenzahl, zu seinen erfolgreichsten Arbeiten. 1759 erschien, ebenfalls in Leipzig, eine zweite »ganz veränderte und sehr vermehrte Auflage«, die das Werk auf 240 Seiten ausbaute, weitere Auflagen folgten in den Jahren 1772, 1774, 1778 und 1786, wobei es jeweils exakt bei diesen 240 Seiten geblieben ist. Auch wenn der verkaufsfördernde Zusatz – »ganz veränderte und sehr vermehrte Auflage« – immer wieder repetiert wurde, so hat Sulzer den Kurzen Begriff bei Gelegenheit der verschiedenen Auflagen inhaltlich nicht mehr geändert. Zu dessen offensichtlichem Erfolg gehört auch die merkwürdige, weil eigentlich anachronistische lateinische Übersetzung, die Ludwig Heinrich Teucher 1793 unter dem Titel Joannis Georgii Sulzeri brevis notitia artium omnium et eruditionis partium wiederum in Leipzig vorgelegt hat. Allerdings markiert der im selben Jahr erschienene und nicht fortgesetzte erste Teil einer von Erduin Julius Koch vorgenommenen völligen Umarbeitung des Kurzen Begriffs,2 dass das Interesse an Sulzers Überblick offenbar nachzulassen begann. Zumindest wird dies sowohl durch das Ausbleiben von weiteren Teilen als auch durch die im Titel angezeigte Behauptung nahegelegt, dass der Anschluss an Sulzers Vorarbeiten nur noch im Wege einer grundlegenden Umarbeitung sinnvoll ist. Gleichwohl ist die Zahl der Auflagen in den siebziger Jahren markant, und insofern wird man in jedem Fall konstatieren dürfen, dass Sulzers Kurzer Begriff in der Zeit zwischen Wolffs Tod und Kants kritischer Phase bzw. dem diskursiven Bedeutungsgewinn des Idealismus eine lebhafte Nachfrage hat bedienen können.
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Johann Georg Sulzer: Kurze Nachricht von meiner Herkunft und von den wichtigsten Umständen meines Lebens. In: Johann George Sulzer’s ehedem Professors zu Berlin und Mitglieds der Königlichen Akademie der Wissenschaften Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt. Aus der Handschrift abgedruckt, mit Anmerkungen von Johann Bernhard Merian und Friedrich Nicolai. Berlin, Stettin 1809. [Erduin Julius Koch:] Johann Georg Sulzers kurzer Inbegrif aller Wissenschaften, völlig umgearbeitet von Erduin Julius Koch Prediger an der Marienkirche zu Berlin. Erste Abtheilung: Welche die Alterthumswissenschaften enthält. Berlin 1793.
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Frank Grunert
Die durch ihre Erscheinungsjahre hervorgehobenen Auflagen 3 bis 6 sind textidentisch mit der 1759 publizierten zweiten Auflage, die Moses Mendelssohn in einer Rezension – sie erschien noch im selben Jahr in den Briefen, die neueste Literatur betreffend – der »Aufmerksamkeit aller Liebhaber der Wissenschaften«3 empfohlen hatte. Mendelssohn vergaß dabei nicht hervorzuheben, dass es sich bei dem von ihm rezensierten Buch um die zweite »ganz veränderte und sehr vermehrte Auflage« einer Arbeit handele, die der Verfasser nun »völlig umgearbeitet« habe. Und »so wie es jetzt ist«4 – also ausdrücklich nicht vorher – habe, so Mendelssohn, das Buch das Interesse der gelehrten Welt verdient. Diese einigermaßen deutliche Abwertung der ersten Auflage dürfte mit Sulzers eigenem Urteil übereingekommen sein, bezeichnete er doch in der Vorrede zur zweiten Auflage den ursprünglichen Text als eine »Jugendarbeit«, die er »gänzlich vergessen« hatte. Mit der Idee des Verlegers, den Kurzen Begriff ein weiteres Mal aufzulegen, mochte sich Sulzer denn auch zunächst nicht anfreunden. Im Gegenteil: Die vielen von ihm festgestellten Unvollkommenheiten führten sogleich zu dem Entschluss, »die neue Auflage zu verhindern«5. Allerdings ist Sulzer dabei nicht geblieben; doch der Versuch, ein nach eigenem Urteil schlechtes Buch zu verbessern, führte am Ende zur Abfassung eines neuen: Unter der Verwendung der alten Materialien und »mit dem Zusaz von neuen und bessern« schickte Sulzer sich an, »ein neues und etwas festeres Werk zu verfertigen«.6 Dass dieses Buch in der zweiten Auflage nicht nur an Umfang zugelegt hat, sondern tatsächlich ein anderes geworden ist, wird bereits durch eine auf den ersten Blick marginal erscheinende Veränderung des Untertitels deutlich: 1745 wurde noch angekündigt, die »natürliche Verbindung aller Theile der Gelehrtheit« zeigen zu wollen, vierzehn Jahre später ist davon nicht mehr die Rede. Der Hinweis auf diese natürliche Verbindung aller Teile der Gelehrtheit ist aus dem Untertitel schlicht gestrichen worden, insofern darf mit Fug vermutet werden, dass das Projekt einer als »natürlich« apostrophierten Beziehung zwischen den Wissenschaften untereinander aufgegeben wurde. Geblieben ist der auch schon 1745 bekundete Anspruch, jeden Teil der Gelehrtheit »seinem Innhalt, Nutzen und [seiner] Vollkommenheit« nach »kürzlich« zu beschreiben. Die bereits im Titel angezeigten Änderungen in der zweiten Auflage scheinen also ausgesprochen weitreichend zu sein und betreffen nicht nur den Umfang des dargestellten Materials, sondern sie deuten zugleich – dies ist gravierender und ungleich interessanter – auf ein verändertes Verständnis von Wissenschaft, das sich auch auf die Möglichkeiten und Erfordernisse seiner Präsentation niederschlägt. Eine vergleichende Lektüre dieser beiden Bücher dürfte also von großem Reiz sein, insbesondere dann, wenn man die im Einzelnen noch zu rekonstruierenden Unterschiede der zugrundeliegenden Konzepte nach ihren möglichen Hintergründen befragt.7 Dies kann freilich nur dann 3 4 5
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Moses Mendelssohn: Ein und sechzigster Brief. In: ders.: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend. Berlin 1759, 3. Teil, S. 225–229, S. 226. Ebd., S. 226. Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften und anderer Theile der Gelehrsamkeit, worin jeder nach seinem Inhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. 2., ganz veränderte und sehr vermehrte Ausgabe. Leipzig 1759, hier zitiert nach der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1774, S. 4. Ebd., S. 3f. Ein solcher Vergleich ist – soweit absehbar – noch nicht unternommen worden. Mit Blick auf die Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Auflage verweist Hirzel in seiner frühen Biographie lediglich auf das in der ersten Auflage konstatierbare und durchaus bemerkenswerte Desinteresse an einer Darstellung der schönen Künste und Wissenschaften, dies habe sich erst durch Sulzers Erfah-
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sinnvoll bewerkstelligt werden, wenn man sich vorab und in aller Kürze den wissenschaftshistorischen Kontext des Werkes vor Augen führt und dabei anderweitig realisierte Konzepte namhaft macht, die zur näheren Konturierung des sulzerschen Unternehmens als Folie dienlich sein können.
1. Wissensordnung – Wissensvermittlung: Anspruch und Problem der Historia literaria Wissen und alles, was zu seiner Produktion, seiner Distribution und seiner Rezeption gehört, zählt unbestritten zu den zentralen Themen des 18. Jahrhunderts. Dies gibt nicht zuletzt ein unlängst erschienener Sammelband zu erkennen, der unter dem Titel Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert auf 680 Seiten nicht weniger als 80 Beiträge zum Thema aufbietet.8 Das ist viel, und dennoch wird damit das gesamte in Frage kommende Forschungsfeld längst nicht hinreichend abgeschritten. Der gesamte Bereich des akademischen Wissens und die damit nicht identische Diskussion von Gelehrtheit oder Gelehrsamkeit werden hier allenfalls indirekt zur Sprache gebracht. Dabei hatte man sich im 18. Jahrhundert gerade von der Gelehrsamkeit sehr viel versprochen. Schlägt man – um zu einer landläufigen Definition zu gelangen – etwa in Zedlers Universal-Lexicon unter dem fraglichen Stichwort nach, dann findet sich eine ausgreifende Begriffsbestimmung, die theoretische Momente auf ein dezidiert praktisches Ziel bezieht: »Gelehrsamkeit« – so heißt es im Zedler – ist eine fertige Geschicklichkeit diejenigen zum Nutzen des menschlichen Lebens nöthigen Wahrheiten, die nicht unmittelbar in die Sinne fallen, sondern nur durch künstliches Nachdencken sich erforschen lassen, scharffsinnig und aus ihren Grunde zu erkennen, zu Beförderung wahrer Weißheit unter den Menschen und folglich zu Erlangung wahrer Glückseligkeit.9
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rungen in Magdeburg geändert. Vgl. Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen. Zürich, Winterthur 1779. S. 74f. Weil Robert Hering in seiner nur knappen Bemerkung zu den Unterschieden zwischen beiden Auflagen des Kurzen Begriffs nicht über Hirzels Beobachtung hinauskommt, darf man vermuten, dass ihm die beiden Texte nicht vorgelegen haben. Die bemerkenswerten Differenzen zwischen den Auflagen hätten ansonsten sicher zu einer weitergehenden Diskussion Anlass gegeben. Siehe Robert Hering: Johann Georg Sulzer. Persönliches und Literarisches zur 150. Wiederkehr seines Todestages (25. Februar 1929). In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1928, S. 265‒326, hier S. 270f. Ulrich Dierse scheint in seiner noch immer unentbehrlichen begriffsgeschichtlichen Studie zur »Enzyklopädie« die tiefgreifenden Unterschiede zwischen der ersten und allen weiteren Auflagen von Sulzers Kurzem Begriff nicht realisiert zu haben. Er setzt seine Darstellung mit der ersten Auflage ein, zitiert dann aber ausschließlich aus der zweiten Auflage, wobei der Eindruck entsteht, als gelten sowohl die Belege als auch die damit dokumentierten theoretischen Befunde für alle Auflagen. Siehe Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bonn 1977, S. 39‒41. Vgl. auch Hans Erich Bödeker: Konzept und Klassifikation der Wissenschaften bei Johann Georg Sulzer (1720–1779). In: Martin Fontius, Helmut Holzhey (Hg.): Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Berlin 1996, S. 325–339, der sich ausschließlich auf die zweite Auflage konzentriert und für die Unterschiede zwischen der ersten und allen späteren Auflagen auf Hering verweist (vgl. S. 326). Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Berlin 2008. Art. Gelehrsamkeit. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Hg. von Johann Heinrich Zedler. Halle, Leipzig 1735, Bd. 10, Sp. 725.
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Der hohe Anspruch, mit dem Gelehrsamkeit allenthalben verbunden wurde – die praktische Perspektivierung besteht durchweg, nur die theoretischen Voraussetzungen variieren je nach Schulzugehörigkeit – führte sogleich zu einer ganzen Reihe weiterer Fragen, die dann freilich unterschiedlich beantwortet wurden, und zwar einerseits je nach theoretischen Vorannahmen und andererseits je nach spezifischen praktischen Zwecksetzungen und den dadurch bedingten pragmatischen Situationen: So fragte sich, was zur Gelehrsamkeit inhaltlich gehört und wie die einzelnen Teile der Gelehrsamkeit zu klassifizieren und zu hierarchisieren sind, und es fragte sich außerdem, wie und zu welchem Ende die Inhalte der Gelehrsamkeit sinnvollerweise an wen vermittelt werden können bzw. sollen. Antworten auf diese Fragen hatten schon im ausgehenden 17. Jahrhundert Konjunktur, und in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts sollte sich diese Konjunktur weiter verstärken. In diesen Kontext gehören ganz unterschiedliche, weil in ihren Zielsetzungen eben ganz unterschiedlich akzentuierte Werke, wie etwa die Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelahrtheit von Christian Thomasius,10 der ein disziplinär geordnetes Studienprogramm entwickelt, das eigentlich ausschließlich auf die Bildungsbedürfnisse von angehenden Juristen berechnet ist, und sich dabei nicht an Anfänger, sondern an Fortgeschrittene wendet.11 In diesen Kontext gehört auch Dieterich Hermann Kemmerichs Neu-eröffnete Academie der Wissenschafften,12 das vornehmlich Standespersonen beim Erwerb »einer vernünfftigen und wohlanständigen Conduite« behilflich sein soll. Musigs Licht der Weisheit13 und Grossers Gründliche Einleitung zur wahren Erudition14 sind in diesem längst nicht hinreichend erforschten Zusammenhang ebenso zu nennen, wie eine gänzlich unbekannte Schrift, die unter dem Titel Theatrum universae eruditionis humanae15 1704 in Frankfurt am Main erschienen ist. Diese kleine Schrift ist schon allein deswegen bemerkenswert, weil sie auf dem »Schauplatz der gesamten Menschlichen Gelehrsamkeit« nicht nur den üblichen Kanon der Disziplinen versammelt, sondern mit Kabbala, 10
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Christian Thomasius: Cautelae circa praecognita jurisprudentiae. Halle 1710 [ND ders.: Ausgewählte Werke. Hg. und mit einem Vorwort vers. von Friedrich Vollhardt. Hildesheim, Zürich, New York 2006, Bd. 19] sowie Christian Thomasius: Höchstnöthige Cautelen welche ein Studiosus Juris der sich zu Erlernung der Rechts=Gelahrheit auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will, zu beobachten hat. Halle 1713 [ND ders.: Ausgewählte Werke. Hg. und mit einem Vorwort vers. von Friedrich Vollhardt. Hildesheim, Zürich, New York 2005, Bd. 20]. Vgl. dazu Friedrich Vollhardt: ›Abwege‹ und ›Mittelstraßen‹: Zur Intention und Programmatik der »Höchstnöthigen Cautelen zur Erlernung der Rechts=Gelahrheit«. In: Heiner Lück (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Hildesheim, Zürich, New York 2006, S. 173–198. Dieterich Hermann Kemmerich: Neu-eröffnete Academie der Wissenschafften, Zu welchen vornehmlich StandesPersonen nützlich angeführet, und zu einer vernünfftigen und wohlanständigen Conduite geschickt gemacht werden. Leipzig 1711. Martin Musig: Licht der Weisheit. In denen nöthigsten Stücken der wahren Gelehrsamkeit, Zur Erkänntniß Menschlicher und Göttlicher Dinge, Nach Anleitung der Philosoph- und Theologischen Grundsätze Io. Francisci Buddei. Frankfurt a. M., Leipzig 1709–1711. Samuel Grosser: Gründliche Einleitung zur wahren Erudition, Darinnen in allerhand erbaulichen Unterredungen denen Angehenden zu nöthigem Unterricht, denen Fortgehenden aber zu anmuthiger Repetition Anlaß geben wird: Und zwar derselben Erster Theil, bestehend aus unterschiedlichen Gesprächen von der Erudition insgemein, und denen so genandten Instrumental-Disciplinen nebst einer fruchtbarlichen Anweisung zu denen in iede Disciplin gehörigen Scribenten. Dresden 1700. J.H.P.Z.E.D. u. M.: Theatrum Universae Eruditionis Humanae, Das ist Schauplatz der gesamten Menschlichen Gelehrsamkeit […] samt beygefügtem Theatro Universae Felicitatis Humanae Oder Schauplatz der gesamten Menschlichen Glückseligkeit. Frankfurt a. M. 1704.
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Magie und Alchemie – ganz außer der Reihe – auch ein Kapitel den okkulten Disziplinen widmet und sich außerdem Gedanken über die Neuformierung von Disziplinen macht. In diesen Kontext von Verzeichnung, Ordnung und Vermittlung von Wissen16 gehört auch, und zwar nicht zuletzt, die Historia literaria, die sich im ausgehenden 17. Jahrhundert zu etablieren begann und bis an die Schwelle zum 19. Jahrhundert erfolgreich bleiben sollte.17 Es dürfte wohl kaum einen Gelehrten im 18. Jahrhunderts gegeben haben, der mit der Historia literaria nicht in Berührung gekommen war, zumal die Geschichte der Gelehrsamkeit mehr und mehr auf Gymnasien und Universitäten als Propädeutikum an Bedeutung gewonnen hatte. Das gilt auch für Sulzer. In seiner Lebensbeschreibung hält er fest, dass es nach Beendigung seiner Schulstudien um seine »erworbenen Kenntnissen und Glücksumständen etwas mißlich« bestellt gewesen sei: »Außer etwas Mathematik, Philosophie, und den Elementarkenntnissen der Naturgeschichte besaß ich wenig Wissenschaft«; in der Theologie war ihm nur das »Nothdürftigste« bekannt, und nach eigener Auskunft hatte er lediglich schwache Kenntnisse in der alten Literatur, aber dafür »etwas mehr in der sogenannten historia literaria«.18 Das Programm der Historia literaria blieb trotz ihrer eigenen insgesamt wechselvollen Geschichte über einen vergleichsweise langen Zeitraum erstaunlich stabil. Von Lambecks Prodromus historiae literariae (1659) bis hin zu Meusels Leitfaden zur Geschichte der Gelehrsamkeit (1799) war man sich darüber einig, dass die Historia literaria über den Ursprung und den Fortgang der Gelehrsamkeit unterrichten sollte, und zwar von ihren Anfängen bis in die Gegenwart hinein. Geradezu klassisch heißt es in dem zuerst 1718 erschienenen, über das ganze 18. Jahrhundert hinweg vielfach aufgelegten und lange Zeit maßgeblichen Kompendium Conspectus Reipublicae Literariae von Christoph August Heumann: »Historia literaria est Historia literarum et literatorum, sive Narratio de ortu et progressu studiorum literariorum ad nostram usque aetatem.«19 Die Anregung zu einem solchen Unternehmen ging auf Francis Bacon zurück, der schon 1605 16
17
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Vgl. dazu ausführlich die Beiträge in: Frank Grunert, Anette Syndikus (Hg.): Wissensspeicher der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen. Berlin 2011. Sowie Wolfgang E. Weber, Theodor Stammen (Hg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Berlin 2004. Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006. Martin Schierbaum: Enzyklopädistik 1550-1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens. Münster 2009. Siehe zur Historia literaria die Beiträge in: Frank Grunert, Friedrich Vollhardt (Hg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007; Martin Gierl: Bestandsaufnahme im gelehrten Bereich. Zur Entwicklung der ‚Historia literaria‘ im 18. Jahrhundert. In: Denkhorizonte und Handlungsspielräume. Historische Studien für Rudolf Vierhaus zum 70. Geburtstag. Göttingen 1992. S. 53–80; Helmut Zedelmaier: ›Historia literaria‹. Über den epistemologischen Ort des gelehrten Wissens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Das achtzehnte Jahrhundert 22.1 (1998), S. 11–21. Frank Grunert, Anette Syndikus, Friedrich Vollhardt: Ein Leitfaden durch das Labyrinth. Zur Funktion der Gelehrsamkeitsgeschichte in der Frühen Neuzeit. In: Mitteilungen des Sonderforschungsbereichs 573 ‚Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit‘ (2006.2), S. 35–42. Sulzer: Kurze Nachricht von meiner Herkunft (s. Anm. 1), S. 17. Christoph August Heumann: Conspectus Reipublicae Literariae sive Via ad Historiam Literariam iuventuti studiosae aperta. Hannover 1733, S. 1. Siehe zu Heumann: Sicco Lehmann-Brauns: Neukonturierung und methodologische Reflexion der Wissenschaftsgeschichte. Heumanns Conspectus reipublicae literariae als Lehrbuch der aufgeklärten Historia literaria. In: Grunert, Vollhardt (Hg.): Historia literaria (s. Anm. 17), S. 129–160, sowie Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004, S. 355–362.
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in der Schrift Of the proficience and advancement of learning die Ergänzung der Historia civilis und der Historia ecclesiastica durch eine Historia literaria gefordert hatte. Diese sollte das gesamte verfügbare gelehrte Wissen präsentieren, um ausgehend von einem solchen möglichst vollständigen Archiv, das selbst erwiesene Irrtümer und gelehrte Sackgassen nicht ausspart, einen allgemeinen, d.h. wissenschaftlichen, technologischen und sozialen bzw. politischen Fortschritt zu ermöglichen. Der Begriff Historia war dabei von Anfang an doppelwertig: einerseits war damit die bloße Verzeichnung gegebener Daten der Gelehrsamkeit gemeint und andererseits ging es um den geschichtlichen Nachvollzug einer Entwicklung, um Ursprung und Fortgang der Gelehrsamkeit. Die mit der Historia literaria verknüpften Erwartungen waren im Allgemeinen vergleichsweise hoch. Für Jacob Friedrich Reimmann, einem Gelehrsamkeitshistoriker der frühen Stunde, steht ganz außer Zweifel, dass die Historia literaria »die materia prima derer Sciencen« ist, »ohne welche dieselbe eben so unmöglich [ist], wie ein natürlicher Cörper ohne Elemente, und eine Linie ohne Puncte, und eine verständliche Rede ohne Syllaben und Worten bestehen kann«. Die Historie sei »in dem circul derer menschlichen Wissenschafften gleichsam das erste Licht […] ohne welches wir in dem Erkäntnis der Gelehrsamkeit und derer Gelehrten unmöglich fortkommen können«.20 Und mit aufklärerischem Pathos heißt es bei Heumann: »Est ergo historia literaria lux veritatis et mater libertatis ingeniorum.«21 Dabei war die Historia literaria von Anfang an mit einer schweren Hypothek belastet. Das Programm einer vollständigen Verzeichnung aller Daten der Gelehrsamkeitsgeschichte war ausgesprochen ambitioniert, tatsächlich aber nicht einzulösen. Die schiere Menge des bereits bekannten und des noch unerschlossenen Materials, das dabei zu verarbeiten gewesen wäre, seine ganz praktische physische Unerreichbarkeit und die Probleme seiner Tradierung mussten denjenigen überfordern, der sich die vollständige Verzeichnung des Wissens zur Aufgabe gemacht hatte.22 Peter Lambeck hatte es versucht und war gescheitert. Die sich als »Abrisse«, »Einleitungen«, »Entwürfe«, »Versuche« oder gar als »Versuche von Einleitungen« ankündigenden Kompendien zur Historia literaria ziehen praktisch die Konsequenz daraus und halten doch an der ursprünglichen Utopie fest. Aufgegeben hatte man das Projekt eigentlich nie, und so wurden selbst die »Entwürfe«, »Abrisse« und »Einleitungen« trotz der behaupteten Beschränkung tatsächlich immer umfangreicher. Heumanns Werk wuchs von den anfänglichen 128 Seiten zu Beginn des Jahrhunderts auf 950 Seiten in der letzten, 1791 postum erschienenen Auflage an. Die sogar als »vollständig« apostrophierte Historie der Gelahrheit von Nicolaus Hieronymus Gundling, sie wurde auf der Basis von Vorlesungsmitschriften ebenfalls postum in den Jahren 1734 bis 1737 von Christian Friedrich Hempel herausgegeben, brachte es auf 6000 Seiten, und der Abriss einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit von Johann Andreas Fabricius – der letzte von drei Bänden war 1754 erschienen – hat 3200 Seiten in Anspruch nehmen müssen. 20
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Jacob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam so wohl insgemein als auch in die Historiam Literariam der Teutschen insonderheit. Halle 1708, S. 145. Zu Reimmann siehe Martin Mulsow, Helmut Zedelmaier (Hg.): Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743). Tübingen 1998. Heumann: Conspectus Reipublicae Literariae (s. Anm. 19), S. 4. Vgl. dazu Frank Grunert: »viel Tausend und Millionen Bücher«. Zur Bewältigung und Hervorbringung von Wissenspluralität in der frühneuzeitlichen Historia literaria. In: Jan-Dirk Müller, Wulff Oesterreicher, Friedrich Vollhardt (Hg.): Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit. Berlin 2010, S. 191–202.
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Gerade dieses Werk hat die mit dem Projekt verbundene Problematik noch einmal nachdrücklich vor Augen geführt, denn der dritte, »der neuern Zeit« gewidmete Band liefert auf 1148 Seiten im Grunde nichts weiter als Namen, die gerade noch den einzelnen Disziplinen zugeordnet werden. Die Historia literaria ist hier als Geschichte der Gelehrsamkeit gescheitert, sie ist nicht einmal mehr eine Bibliographie, allenfalls ein Anfang dazu. Was bleibt ist die beinahe informationslose Präsenz des nicht mehr handhabbaren Vielen. Orientierung als Voraussetzung für gelehrte Produktion kann hier nicht mehr geboten werden.
2. Vermeinte Nähe und tatsächliche Ferne: der Kurze Begriff als Alternative zur Historia literaria Zur Zeit der ersten Auflage des Kurzen Begriffs aller Wissenschafften – also 1745 – hat Johann Georg Sulzer genau diese unfreiwillige Demonstration eines wesentlichen Problems der Historia literaria noch nicht vor Augen haben können. Dennoch hat es den Anschein, als sei ihm dieses Problem durchaus gegenwärtig gewesen, zumal seine Ausführungen im »Vorbericht« und in der Einleitung zum »Allgemeinen Begriff der Gelehrtheit« zeigen, dass Sulzer sich mit der Gattung und den Gattungsanforderungen der Gelehrsamkeitsgeschichte auskennt, was wiederum die Annahme unterstützt, dass Sulzer angesichts der mit der Historia Literaria verbundenen Probleme eine Alternative zur Gelehrsamkeitsgeschichte habe vorlegen wollen. Allerdings kommt er – und das ist bemerkenswert – der Gattung dem Anschein nach zunächst entgegen. So wie ein großer Teil der Kompendien zur Gelehrsamkeitsgeschichte in propädeutischen Zusammenhängen entstanden war, ist auch Sulzers Kurzer Begriff vermutlich einer Nachfrage zu verdanken, die von Seiten seiner Schüler oder deren Eltern an ihn gerichtet wurde. Denn im »Vorbericht« gibt Sulzer an, er habe »diese wenigen Bogen« vor einiger Zeit »einer gewissen Person zu gefallen geschrieben«,23 und weil Sulzer Ende des Jahres 1743 eine Hauslehrerstelle in Magdeburg angetreten hatte, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Kurze Begriff ursprünglich dem eigenen Unterricht als Grundlage diente.24 Eine Publikation des seinem rhetorischen Gestus nach eindeutig propädeutischen Werkes hat Sulzer allerdings schon bald ins Auge gefasst, doch wollte er zuvor – und das nähert ihn wiederum der Historia literaria an – jeder einzelnen im Werk erörterten Wissenschaft eine »kurze Historie« hinzufügen. Außerdem wollte er »allemahl bey einer jeden Wissenschafft einige von den besten Büchern anzeigen«,25 seine Arbeit also um ein bücherkundliches Moment ergänzen, das für die Historia literaria immer schon ein wichtiges, wenn auch nicht unbedingt exklusives Kennzeichen war. Diese ohnehin nur beabsichtigten und nicht ausgeführten gelehrsamkeitsgeschichtlichen Anklänge machen aus dem Kurzen Begriff freilich noch keine Historia literaria. 23
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Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschafften. Worinn die natürliche Verbindung aller Theile der Gelehrtheit gezeiget, auch ein jeder ins besondere nach seinem Innhalt, Nutzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. Leipzig 1745, S. 3. Siehe dazu Hirzel an Gleim (s. Anm. 7), S. 74f. Wobei Hirzel darauf hinweist, dass die philosophischnaturwissenschaftlichen Akzente der ersten Auflage darauf schließen lassen, dass Sulzer sich hier noch an seinen zuvor in der Schweiz gepflegten Interessen orientiert hat. Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften (1745) (s. Anm. 23), S. 4.
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Frank Grunert
Dass Sulzer dies tatsächlich auch nicht gewollt hat, lassen bereits sein Gelehrsamkeitsbegriff und die damit verbundenen Konsequenzen erkennen. Sulzer beginnt seine Darstellung nämlich mit einem eher ungewöhnlichen und daher erklärungsbedürftigen Gelehrtheitsbegriff: »Durch die Gelehrtheit« – so heißt es im ersten Paragraphen – »wird in weitläufftigerm Sinn der Zusammenbegriff alles desjenigen verstanden, was die Menschen wissen können.«26 Zwar wurde auch in Zedlers Universal-Lexicon die Gelehrtheit zunächst nicht objective als ein Bestand von Kenntnissen, sondern subjective als eine Fertigkeit beschrieben, deren Resultate im eben noch nicht beendeten Verlauf der gelehrten Entwicklung nur zum Teil erfasst werden können. Doch üblich ist eine Definition, wie sie Sulzer selbst in der zweiten Auflage des Kurzen Begriffs liefert. Dort heißt es: Die Gelehrsamkeit ist der Inbegriff aller der Theile der menschlichen Erkenntnis, welche wegen ihres Umfangs und ihrer Wichtigkeit verdienen in Schriften verfaßt und nach eigenen Methoden vorgetragen zu werden. Sie ist demnach als ein Behältniß anzusehen, in welchem die Erkenntnis des menschlichen Geschlechts zur Verwahrung hingelegt wird.27
Irritierend und zugleich signifikant ist an der Begriffsbestimmung der ersten Auflage, dass hier nicht auf einen faktischen Bestand von Kenntnissen abgehoben, sondern die Gelehrtheit in die Potentialität des Wissbaren verlängert wird. Nicht das, bzw. nicht das allein ist Gelehrtheit, was faktisch gewusst wird, sondern hinzu kommt dasjenige, was gewusst werden kann. Gelehrtheit ist hier kein Archiv, bzw. nicht nur ein Archiv, es ist zugleich und womöglich in erster Linie eine Potenz, der Wissen und Wissenserwerb nicht widerfährt, sondern die Wissen hervorbringt. Betont wird damit ein dynamisch-generatives Moment der Gelehrtheit, womit noch einmal darauf aufmerksam gemacht wird, dass Sulzer hier keinen Wissensspeicher vorlegen will, vielmehr geht es ihm um eine Begriffsbestimmung aller Wissenschaften, und zwar im Hinblick auf ihren »natürlichen«, d.h. genetischen Zusammenhang, ihre je spezifischen Leistungen und ihre perspektivisch zu realisierende Produktivität. Letztere wird durch das dynamisch-generative Moment der Gelehrtheit möglich, das Sulzer wesentlich der philosophischen Erkenntnis zuschreibt, wobei er Überlegungen aufgreift, die Christian Wolff in seinem Discursus praeliminaris de philosophia in genere entwickelt hatte. Denn Sulzer unterscheidet genau wie Wolff insgesamt »drey Classen« der menschlichen Erkenntnis: und zwar sind dies zunächst die zwei »Haupt-Classen der Gelehrtheit«, nämlich »die Historische und die Philosophische« Klasse, jene umfasst »die Wahrheiten, welche durch die bloße Sinne erkannt werden, diese aber begreifft die Wahrheiten, welche die Vernunfft entdecket«.28 Diesen zwei Hauptklassen der menschlichen Erkenntnis, die von zwei unterschiedlichen menschlichen Vermögen abgeleitet werden, fügt Sulzer als dritte »Classe« die »mathematische Erkenntniß«29 hinzu, die es im Wesentlichen mit der Vielheit, also mit Quantitäten der Sachen zu tun hat. So dass Sulzer schließlich ganz im Sinne Wolffs erklären kann, dass »alle menschliche Erkenntnis« aus diesen »drei Classen« besteht.30 Während die »his-
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Ebd., S. 7. Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften (1759) (s. Anm. 5), S. 5. Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschafften (1745) (s. Anm. 23), S. 8f. Ebd., S. 10. Vgl. dazu das »Kapitel I. Von der dreifachen menschlichen Erkenntnis: der historischen, philosophischen und mathematischen«. In: Christian Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere. Einleitende
Sulzers Kurzer Begriff aller Wissenschaften
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torische Gelehrtheit« eine Erkenntnis der Dinge ist, »die geschehen sind, oder noch geschehen«, untersucht die »philosophische Erkenntnis« den »Grund der Dinge«.31 In der historischen, d.h. der empirischen, bloß wahrnehmenden und protokollierenden Erkenntnis sieht Sulzer »den Grund zu aller Wissenschafft […]. Denn wenn man nicht weiß, daß ein Ding ist, so kann man den Grund und die Stärke desselben nicht untersuchen«. Und Sulzer unterstützt diese Einsicht bezeichnenderweise mit der klassischen Behauptung des Empirismus: »Nihil quod est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu.«32 Allerdings handelt es sich bei der historischen Erkenntnis, lediglich um die geringste Stufe der Erkenntnis, die der Mensch mit den Tieren teilt; sie liefert das Material für die höherwertige philosophische Erkenntnis, die »die Geschichte untersucht, vergleicht, und daher neue Wahrheiten findet«.33 Der Neuigkeitswert der Wahrheiten beruht auf den spezifischen Operationen der Philosophie: wobei noch unklar ist, ob er sich schlicht der Ermittlung von Gründen verdankt, die insofern etwas Neues bieten, als sie Erkenntnisse liefern, die über das hinausgehen, was sinnlich wahrnehmbar ist. Oder ob Sulzer eine weitergehende Generierung von Neuem vor Augen hat, die vom historischen Material ausgeht und über den Rahmen seiner kausalen Erklärung hinausreicht. Der Hinweis auf den von der philosophischen Erkenntnis vorgenommenen Vergleich des empirischen Materials, könnte auf Letzteres hinweisen. Denn indem die philosophische Erkenntnis die historischen Kenntnisse als empirische miteinander vergleicht und nach deren Gründen fragt, kombiniert sie einerseits Sachverhalte miteinander und andererseits deren Gründe miteinander, was zu einer Neues generierenden Komplizierung von Sachverhalten und deren Gründen führt, denn durch den Vergleich werden Sachverhalte in eine produktives Verhältnis gesetzt, das durch den Philosophen künstlich geschaffen wurde. Philosophische Erkenntnis würde so »neue Wahrheiten finden«, die über den bloßen Kausalitätsnachweis einer gegebenen Tatsache hinausweist. Falls Sulzer eine solche Perspektive auf neuen Wahrheiten vor Augen gehabt haben sollte, würde er hierin trotz seiner Nähe zu Wolff doch über diesen hinausgegangen sein. Sulzers Distanz gegenüber einer gelehrsamkeitsgeschichtlichen Unternehmung im Stile der Historia literaria gründet nicht zuletzt in seiner Skepsis gegenüber einer umfassenden, ja vollständigen Gelehrsamkeit. Und diese ist als Folge eines erst für die jüngste Zeit zu konstatierenden dynamischen und im Prinzip unendlichen Erkenntniserwerbs historisch markiert. »Noch vor hundert Jahren« – so stellt Sulzer fest – war es zehen mahl leichter ein grosser Gelehrter zu seyn, als heute zu tage nur ein mittelmäßiger. Man entdecket ganz neue Wissenschaften, man erfindet Regeln, durch welche einer im Stande ist unzehlige Dinge zu entdecken, welches die Alten nicht konnten, ja man zwinget die Natur unzehlige Dinge zu tun, die sie von sich selbst nicht würde gethan haben. Daher werden 1) allezeit mehrere Sachen entdeckt. 2) Wird man allezeit mehr gewahr, daß unendlich vieles verborgen ist, das die Menschen auch wissen könnten. Also ist es allezeit schwerer gelehrt zu werden, und nunmehro unmöglich, daß ein
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Abhandlung über die Philosophie im Allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe, übersetzt, eingeleitet und herausgegeben von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. S. 3–31. Sulzer: Kurzer Begriff der Wissenschafften (1745) (s. Anm. 23), S. 9. Vgl. auch die Definitionen der historischen bzw. der philosophischen Erkenntnis in Wolff: Discursus praeliminaris (s. Anm. 30), §§ 3, 6. Sulzer: Kurzer Begriff der Wissenschafften (1745) (s. Anm. 23), S. 12f. Ebd., S. 9.
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Frank Grunert Mensch alle Theile der Gelehrtheit nur in so weit, als man dieselbe gebracht hat, wiße, welches vor Zeiten nicht schwer war.34
Wenn also schon der gegenwärtige Stand der Dinge in der gelehrten Welt nicht zu überblicken ist und immer weniger zu überblicken sein wird, dann hat die historische Perspektive erst recht keine Aussicht auf Erfolg mehr. Der dezidierten Wertschätzung, die Sulzer der Historia literaria im darstellenden Teil seines Kurzen Begriffs entgegenbringt, nimmt diese Einschätzung übrigens nichts. Im Gegenteil: Sulzer betont ihren »sehr großen Nutzen« und schließt sich der üblichen Behauptung an, dass »keiner, der gelehrt werden will, diese Historie«35 entbehren kann. Sulzer aber will etwas anderes. Ihm geht es darum, alle Teile der Gelehrsamkeit ihrem Inhalt, Nutzen und ihrer Vollkommenheit nach kurz zu beschreiben, und dabei geht es ihm in der ersten Auflage vor allem darum – das wird durch die Größe der Schrifttype im Druck des Titelblattes besonders hervorgehoben –, die »natürliche Verbindung aller Teile der Gelehrtheit« zu zeigen.
3. Erste Auflage: Drei »Classen« der menschlichen Erkenntnis als Klassifizierungsschema der Wissenschaften Johann Georg Sulzer war – darauf wurde bereits hingewiesen – mit seinem Kurzen Begriff unzufrieden genug, um eine Neuauflage zu verhindern. Worin er die Schwäche seiner »Jugendarbeit« aber genau gesehen hat, teilt er indes nicht mit. Ein Vergleich der ersten Auflage mit der zweiten dürfte in dieser Hinsicht aufschlussreich sein, denn jede Änderung in der zweiten markiert einen negativ bewerteten Aspekt der ersten Auflage. Doch die Schwächen der Auflage von 1745 werden bereits dann unübersehbar, wenn man Sulzer in seiner Darstellung folgt und sein Schema zur Klassifizierung der Wissenschaften zu rekonstruieren sucht. Dass es sich bei den zu konstatierenden Schwächen nicht nur um korrekturwürdige »Merkzeichen der Geschwindigkeit«36 handelt, von den Hirzel spricht, sondern vielmehr um grundlegende Probleme, dürfte auf diese Weise sehr rasch zu Tage treten. Sulzer knüpft an Wolffs Differenzierung der »dreifachen menschlichen Erkenntnis« an und versucht, entsprechend dieser Erkenntnisformen die einzelnen Disziplinen als Teile der »Historischen Gelehrtheit«, der »Philosophischen Gelehrtheit« und der »Mathematischen Gelehrtheit« zu begründen und zu etablieren. Das Bemühen, die einzelnen Disziplinen aus spezifischen Erkenntnisvermögen zu entwickeln, ist alles andere als originell, doch zeigt sich im Falle Sulzers
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Ebd., S. 13f. Ebd., S. 22. Siehe dazu auch Sulzers Ausführungen in der zweiten Auflage des Kurzen Begriffs, wo er vorschlägt, für jeden Teil der Gelehrtheit eine eigene Historie zu verfertigen, in der dann auch die »nicht gelungenen Bemühungen der Gelehrten, so umständlich, als möglich zu beschreiben« (S. 52) wären. Außerdem hält es Sulzer für wünschenswert, dass an Akademien und anderen gelehrten Gesellschaften immer eine Anzahl von jüngeren und befähigten Wissenschaftlern unter Aufsicht der Gesellschaft mit der Aufarbeitung der Gelehrsamkeitsgeschichte befasst sind, was ihm vor allem angesichts der »überhand genommenen Begierde der Gelehrten, sich durch öffentliche Arbeiten bekant zu machen« (S. 53) als dringlich erscheint. Hirzel an Gleim (s. Anm. 7), S. 73.
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besonders deutlich, dass genau dies Probleme mit sich bringt, die am Ende zum Scheitern des Klassifizierungsschemas führen. Sulzer beginnt mit der historischen Gelehrtheit, deren Teilgebiete werden durch »die Sachen selbst« bestimmt, und zwar sind »alle Dinge in der Welt« entweder einfach (unkörperlich) oder zusammengesetzt (körperlich): »Also theilet sich die Historie in zwei Haupt-Theile: in die Historie der einfachen Dinge und in die Historie der körperlichen Dinge.« Zu den einfachen Dingen gehören Gott, »vernünfftige Wesen, die von einer andern Natur sind, als die Menschen«,37 die Seele der Menschen und die Seele der Tiere. Dementsprechend existieren vier Teile einer Geschichte der einfachen Dinge: die Geschichte Gottes, von der die göttliche Offenbarung und die Heilige Schrift künden, und die Historie der vernünftigen Geister, die sich ebenfalls aus der Heiligen Schrift aber auch »aus Erfahrung und Erzehlung anderer Leute« beziehen lässt. Gemeint sind Geschichten von »Erscheinungen, Gespenstern, Teufeln«, die wahr oder falsch sein können; um aber genau dies untersuchen zu können, »muß man doch wißen« – so hält Sulzer in einer erläuternden Fußnote fest – »was die Leuthe davon sagen«, insofern sei »die Historie der Geister nicht zu verachten«.38 Die »Historie von der Seele der Thiere« befasst sich mit »den Begebenheiten der Thiere, [den] Künsten, welche sie lernen können«, wobei Sulzer einräumt, nur »zwey Bücher von dieser Materie« zu kennen, »nehmlich eins vom Plutarchus, das andere vom Rorarius, welche beyde viele Exempel von seltsamen Thieren erzehlen, die von der Vernunfft herzukommen scheinen«.39 Weil Sulzer nur zwei Referenzwerke nennen kann – eines aus der Antike und eines aus dem 16. Jahrhundert40 – ist der Eindruck kaum von der Hand zu weisen, dass sich Sulzer hier von den Vollständigkeitserfordernissen der einmal gewählten Systematik leiten lässt und dabei keinerlei Rücksicht auf die (systematische) Pragmatik bereits bestehender Fächeranordnungen nehmen will – schon die Begründung für die Geschichte der nichtmenschlichen vernünftigen Geister war wenig überzeugend. Von der Ableitung her ungewöhnlich, doch immerhin vom Ergebnis her nachvollziehbarer sind die einzelnen Teile der »Historie der menschlichen Seele«. Sie ist mit den menschlichen Taten befasst, »welche von der menschlichen Seele herkommen«,41 und weil »so wohl die Anzahl der Menschen, als ihrer Handlungen unzehlig ist, so ist die Historie der Menschen ungemein weitläufftig«.42 Ihre einzel37 38 39 40
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Ebd., S. 15. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 25. Sulzer bezieht sich hier auf Hieronymus Rorarius, päpstlicher Nuntius in Ungarn, der 1546 den Traktat Quod animalia bruta ratione utantur melius homine publizierte, weitere Ausgaben erschienen in Paris 1648, Amsterdam 1654 und 1666, s’Hertogenbosch 1702 und zuletzt in Helmstedt 1728. Reprint mit einem Vorwort von Jean École in: Christian Wolff: Gesammelte Werke. III. Abt.: Materialien und Dokumente. Band 93. Hildesheim, Zürich, New York 2005. Pierre Bayle widmete ihm einen ausführlichen Artikel in seinem Dictionnaire Historique et Critique (vgl. die sechste Auflage Basel 1741, p. 76–87), der mit Annotationen in Gottscheds Übersetzung erschien. Siehe Peter Baylens Historisches und Critisches Wörterbuch nach der neuesten Auflage ins Deutsche übersetzt, auch mit einer Vorrede und verschiedenen Anmerkungen sonderlich bey anstößigen Stellen versehen von Johann Christoph Gottscheden. Leipzig 1744, Bd 4, S. 78–94. Siehe zu Rorarius auch: Paul Münch: Verwandtschaft oder Differenz? Zur Theorie des Mensch/Tier-Verhältnisses im 17. Jahrhundert. In: Hartmut Lehmann, Anne-Charlott Trepp (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1999, S. 517‒535, hier S. 522. Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschafften (1745) (s. Anm. 23), S. 17. Ebd.
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nen Zweige orientieren sich an den »viererley Absichten, in welchen die Menschen ihre Handlungen verrichten«, und zwar handeln sie mit Blick auf die Religion, das bürgerliche Leben, die Wissenschaften und die Künste, so dass die Historie vierfach unterteilt ist: »1) Die KirchenHistorie, 2) die politische oder Staats-Historie, 3) die Gelehrten-Historie, 4) die KunstHistorie.«43 Diese achtfach filiierte Historie der einfachen Dinge wird durch die Historie der zusammengesetzten Dinge, d.h. durch die Natur-Historie ergänzt. Sie ist nach den »4 HauptGeschlechtern der natürlichen Dinge« differenziert und umfasst dementsprechend die folgenden vier Hauptteile: »I) Die allgemeine natürliche Erd-Beschreibung. II) Die Stein-Historie. III) Die Pflanzen-Historie. IV) Die Thier-Historie.«44 Nach einer kurzen Charakterisierung der Naturgeschichte geht Sulzer nicht unmittelbar zur »Philosophischen Gelehrtheit« über, sondern befasst sich zunächst mit den Hilfsmitteln der historischen Erkenntnis. Weil die historische Erkenntnis allein durch die äußerlichen Sinne vermittelt wird, müssen – nach Auffassung von Sulzer – die fünf Sinne als Mittel der historischen Gelehrtheit angesehen werden: »[A]us der Kunst, die Sinne recht zu gebrauchen«, sind »verschiedene Theile der Gelehrtheit gemacht worden«,45 insofern stellen die äußerlichen Sinne den Ausgangspunkt für weitere Differenzierungen dar. Den richtigen Gebrauch der Sinne lehrt die »allgemeine Erfahrungskunst«, diese zeige, wie die Sinne beschaffen sein müssen, wenn man mit ihrer Hilfe die Sachen richtig erkennen will, wie man die Sinne richtig gebraucht und mit welchen Hilfsmitteln den Sinnen geholfen werden kann.46 Die »Sehekunst« lehrt den richtigen Gebrauch des Auges.47 Weil das Gehör Sprache wahrnimmt und »die meisten Begriffe, die der Mensch durch das Gehör erlanget«, von der Sprache herkommen, reduziert Sulzer, die das Gehör betreffende Kunst – nicht eben überzeugend – auf die »Sprachkunst«, deren verschiedene Teile zur Philologie zusammengefasst werden. Dazu zählen dann 1) die Wörterkunst, welche zeiget, was vor Wörter man brauchen müsse zu einer deutlichen Sprache. 2) Die Schreibkunst, welche zeiget, wie man diese Wörter müsse durch sichtbare Zeichen andeuten. 3) Die Grammatik, welche lehret, wie die Wörter müssen zusammengesetzt werden, damit daraus eine verständliche Sprache entstehe. 4) Die Antiquitäten, welche lehren, wie man die alten Sprachen könne verstehen, vermittelst der Kenntniß der alten Gebräuche etc. 5) Die Critik, welche die allgmeinen Regeln vorschreibet, wodurch die Philologie verbessert wird.48
Zwar dienen auch Geruch, Geschmack und Gefühl der historischen Erkenntnis, doch sieht Sulzer ein, dass die Empfindungen dieser Sinne für die regelhafte Ausformulierung einer Kunst nicht hinlänglich deutlich sind. Die sich unmittelbar anschließende »philosophische Gelehrtheit« befasst sich mit denjenigen »Theilen der menschlichen Wissenschafft, welche die Gründe der Dinge untersuchen«.49 Sulzer beginnt mit der Ontologie, die als Haupt- oder Grundwissenschaft von demjenigen handelt, 43 44 45 46 47 48 49
Ebd., S. 18. Ebd., S. 27. Ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 35. Vgl. ebd., S. 36. Ebd., S. 36f. Ebd., S. 39.
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worin »alle Dinge in der Welt übereinkommen und warum«.50 Weil alle Dinge entweder einfach oder zusammengesetzt sind, entstehen zwei Hauptteile der Philosophie: zum einen die Monadologie, die mit den einfachen Dingen befasst ist, und zum anderen die Kosmologie, deren Gegenstand die zusammengesetzten Dinge sind.51 Die Monadologie befasst sich je nach der Beschaffenheit der einfachen Dinge mit den Elementen, den Seelen der Tiere, den vernünftigen Seelen und mit Gott. Sulzer reproduziert hier das in Zusammenhang mit der Historie angewandte Schema, und kann dies dann aber doch nicht in einzelne Wissenschaften übersetzen – schon bei der historischen Gelehrtheit war dies ein Problem. Die Untersuchung der Elemente wird gleich ausgegliedert und der Kosmologie zugeordnet, von der Seele der Tiere ist dann gar nicht mehr die Rede; die vernünftigen Seelen werden auf diejenigen der Menschen reduziert und so der Psychologie überantwortet. Gott ist Gegenstand der natürlichen Theologie, die auch traditionell der philosophischen Gelehrtheit zugerechnet wird, doch Sulzer zählt noch zusätzlich die geoffenbarte Gottesgelehrtheit zur Philosophie – offenbar aus einer systematischen Verlegenheit heraus, denn Theologie kommt bei ihm, dem gelernten Theologen, ansonsten nicht vor. Begründet wird dies mit der eher dürftigen Erklärung, dass man die geoffenbarte Gottesgelehrtheit zwar nicht durch die Vernunft erhalten kann, doch »kann man sie wohl hieher setzen, weil vieles durch die Vernunft muss bewiesen werden«.52 Dies alles gehört zu der mit den einfachen Dingen befassten Monadologie, die Kosmologie widmet sich demgegenüber den zusammengesetzten Dingen. Sie zeigt worin das Wesen aller Körper überhaupt bestehe, was vor allgemeine Eigenschafften dieselben haben, worin diese Eigenschafften gegründet sind etc. mit einem Worte sie muß zeigen, was durch die Körper möglich oder nicht, nehmlich insofern dieselbe insgemein betrachtet. Desgleichen muß sie den allgemeinen Zusammenhang derselben betrachten, welches man die körperliche Welt heißt.53
Diese allgemeine Kosmologie konkretisiert sich in der »Naturlehre oder Physic«, die sich der besonderen Eigenschaften der Körper annimmt, und gliedert sich entsprechend der »HauptClassen der natürlichen Dinge« in vier Teile: Physiologie, Erdbeschreibung, Mineralogie und Botanik. Hinzu kommen noch Zoologie und Medizin.54 Weil Sulzer nicht alle Wissenschaften der philosophischen Gelehrtheit durch eine einfache Zuordnung zu Monadologie oder Kosmologie systematisch unterbringen kann, öffnet er eine weitere Gattung der philosophischen Gelehrtheit: Während Monadologie und Kosmologie von den Dingen selbst ausgegangen waren, fehlen noch jene Wissenschaften, »welche die beschriebenen Dinge in verschiedenen Absichten betrachten«,55 und darunter fällt nicht zuletzt alles, was traditionell zur praktischen Philosophie gehört. Doch Sulzer spricht nicht von philosophia practica – mit Ethik, Ökonomie und Politik als Untergruppierung –, sondern er subsummiert alles der »allgemeinen Rechtsgelehrtheit«, denn sie zeigt ganz allgemein, »wie die freyen Handlungen der Menschen einzurichten sind, damit der Mensch glückselig werde«.56 Je nach den 50 51 52 53 54 55 56
Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 43. Ebd., S. 46. Ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 49–62. Ebd., S. 62f. Ebd., S. 63.
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Zuständen, in denen der Mensch verkehrt, verzweigt sie sich in differierende, zusätzlich mit Untergruppierungen versehenen Einzelwissenschaften: die »Haußhaltungs-Kunst«, die »StaatsWissenschafft« und die »Wissenschafft [...], welche den Kirchen-Stand zum Grunde hat«, dazu gehören »Kirchen-Politik und Kirchen-Rechts-Gelehrtheit«.57 Das Naturrecht befasst sich als Theorie allgemeiner Normen mit den allgemeinen Regeln, die in allen Ständen beachtet werden müssen. Hier ist von Tugenden und Laster die Rede, und die im Naturrecht enthaltene Beschreibung der »Pflichten gegen Gott, gegen den Nächsten und gegen sich selbst«58 stellt die Sittenlehre dar. Auffällig ist, dass diese Sittenlehre keine systematisch eigenständige Position erhält, sondern als Teil des Naturrechts der allgemeinen Rechtsgelehrtheit zugeordnet wird. Zu dieser allgemeinen Rechtsgelehrtheit zählt Sulzer schließlich auch, und zwar ausdrücklich als »unmittelbahre Hülffs-Mittel«59 die »Poesie und die Wohlredenheit«. Wobei beide Disziplinen mit Blick auf ihre strategischen Funktionen beschrieben werden, was freilich zur Vernachlässigung ihrer spezifischen Differenzen führt: Zwar soll die Poesie auch das Gemüt »ergötzen«,60 doch beschreibt Sulzer sie als eine Wissenschaft, die Worte einer Sprache und die Gedanken also zu setzen, daß auch das äußerliche davon dienet die Gemüther der Menschen zu lenken. Die Absicht derselben ist, die Menschen, so zu sagen, auf eine mechanische Weise zu bewegen, dieses oder jenes zu thun, oder zu glauben.61
Und gleiches gilt für die Redekunst, denn sie ist eine Wissenschaft, Gedanken in einer Weise hervorzubringen, die dem Ziel der Rede dienlich ist, »z. E. die Leute zur Tugend oder überhaupt nach unserer Absicht zu lenken«.62 Damit sind Sulzers Ausführungen zur philosophischen Gelehrtheit allerdings noch nicht an ihr Ende gekommen, vielmehr schließt er mit einem Nachtrag, dessen systematische Unverbundenheit umso erstaunlicher ist, als er doch eine zentrale philosophische Disziplin betrifft: Sulzer beeilt sich – kurz vor Beginn seiner Darstellung der mathematischen Gelehrtheit – noch rasch auf die »Vernunfft-Lehre oder Logik« hinzuweisen. Sie stellt die Voraussetzung für eine gründliche philosophische Erkenntnis dar, indem sie zeigt, wie die allgemeinen Wahrheiten aus der Erfahrung geschöpft, wie neue Wahrheiten entdeckt und die Erkenntnisse anderer beurteilt werden können.63 Auf einen genaueren Nachvollzug der von Sulzer erläuterten mathematischen Gelehrtheit, in der aus der Mathesis pura und der (angewandten) Mathesis mixta die Einzelglieder der Mathematik entwickelt werden,64 soll an dieser Stelle verzichtet werden; viel wichtiger ist die Frage nach den Erfolgsaussichten des von Sulzer gewählten Klassifizierungsschemas. Und hier fällt die Antwort nach der bisherigen Rekonstruktion eher ungünstig aus. Sulzer hat mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen, für die er keine überzeugende Lösung bieten kann. Nicht zu unterschätzende Fragwürdigkeiten dürften bereits durch die obige Darstellung sichtbar geworden 57 58 59 60 61 62 63 64
Vgl. ebd., S. 67–70. Ebd., S. 65. Ebd., S. 70. Ebd., S. 71. Ebd. Ebd., S. 73. Ebd., S. 74. Vgl. ebd., S. 74–95.
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sein. Dabei gehören die bisweilen festzustellenden Mängel hinsichtlich der Plausibilität einzelner Ableitungen oder die Defizite bei den inhaltlichen Füllungen der vermeinten Disziplinen noch zu den weniger gravierenden Problemen. Und gegen den Vorwurf unzureichender Vollständigkeit hat sich Sulzer etwa in Zusammenhang mit den Disziplinen der philosophischen Gelehrtheit – freilich unvollkommen – mit dem Hinweis zu versichern versucht, dass man »zu den erzehlten philosophischen Wissenschafften noch unzehlige andere hinzu thun« könne, insofern solle sich niemand einbilden, »daß die beschriebenen Wissenschafften die ganze Philosophie ausmachen«.65 Entscheidend für die Beurteilung des von Sulzer entwickelten Klassifikationsschemas ist vielmehr, dass eine Klassifizierung der wissenschaftlichen Disziplinen entlang der Erkenntnisvermögen, bzw. der Erkenntnisformen – Sinnlichkeit und Vernunft – zuzüglich der Mathematik alles andere als tragfähig ist. Schon die Reduzierung der Mathematik auf eine lediglich mit Quantitäten befassten Wissenschaft ist zweifellos ein Missverständnis, wurden doch etwa bei Wolff mit der Mathematik theoretische Operationen beschrieben, die eben nicht nur für die Mathematik selbst, sondern als Verknüpfung von Aussagen auch für die Philosophie typisch sein sollten. Und damit wird schließlich deutlich, dass die von Sulzer aufgezeigten Formen der Erkenntnis deswegen nicht als Kriterien für die Differenzierung der Disziplinen geeignet sind, weil die unterschiedlichen Formen der Erkenntnis häufig gar nicht getrennt, sondern in ein und derselben Disziplin gemeinsamen operieren, was am Ende zur Duplizierung, wenn nicht gar zur Triplizierung einzelner Disziplinen führt bzw. führen kann. Wenn Sulzer etwa behauptet, dass die Mineralogie als eine philosophische Gelehrtheit den Grund von denjenigen Erscheinungen angibt, von denen die »Stein-Historie nur historisch berichtet«,66 dann folgt er damit zwar dem systematischen Zwang, der von einer auf Erkenntnisformen basierenden Klassifizierung ausgeht, doch dividiert er damit – durchaus unplausibel – eine einzige Disziplin, indem er zwei ihr zugehörige Erkenntnisgebiete über die für sie spezifischen Erkenntnisformen zwei differierenden Wissenschaften zuordnet. Mit der Philosophie und ihrer Funktion, die Gründe der Dinge zu untersuchen, erhält dieses systematische Problem eine permanente Virulenz. Und es hat den Anschein als sei Sulzer zumindest auf dem Weg gewesen, dieses systematische Problem als ein solches zu erkennen. Denn im ersten Paragraphen seiner Darstellung der philosophischen Gelehrtheit, stellt er folgendes fest: »Die Philosophische Gelehrtheit begreifft alle diejenigen Theile der menschlichen Wissenschafft, welche die Gründe der Dinge untersuchen. Hiemit gehören dazu alle Dinge, die einen Grund haben, das ist, alles was ist oder möglich ist, weil nichts ohne einen genugsamen Grund ist. Woraus zu sehen« – so fügt Sulzer klarsichtig hinzu – »daß diese Gelehrtheit, welche auch Philosophie und Weltweisheit genennt wird, sehr weitläufftig ist«.67 Und mehr als das: weil alles, was ist, einen Grund haben muss, denn ohne einen solchen kann es nicht sein, ist letztlich alles Gegenstand der Philosophie. Was notwendigerweise zur Verdopplung all jener Disziplinen führt, die schon einmal der historischen Gelehrtheit zugerechnet wurden, und jetzt noch einmal unter der Rubrik philosophische Gelehrtheit aufgeführt werden müssen. Weil eben alles philosophisch betrachtet werden kann und 65
66 67
Ebd., S. 73. Gegen Ende des Kurzen Begriffs betont Sulzer noch einmal die Unvollständigkeit der Darstellung, bezieht dies hier aber auf Wissenschaften, die erst in der Zukunft entstehen werden (vgl. S. 95). Ebd., S. 52. Ebd., S. 39.
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muss, erweisen sich die von Sulzer gehandhabten Unterscheidungskriterien als nicht tragfähig. Seine Klassifizierungsbemühungen scheitern, weil die Formen der Erkenntnis zwar die Beschreibung unterschiedlicher Formen des Wissenserwerbs ermöglichen, doch begründen sie keine hinreichenden Kriterien für die Unterscheidung und Klassifizierung von Wissenschaften – darauf aber war es Sulzer gerade angekommen. Freilich steht Sulzer mit seinem Versuch, Disziplinen aus Formen der Erkenntnis oder aus Erkenntnisvermögen abzuleiten, nicht allein: Bacon hatte dies bereits vorgeführt und d’Alembert hat den Vorschlag des englischen Lordkanzlers aufgegriffen und modifiziert. Daher ist es umso bemerkenswerter, dass Sulzer mit der zweiten Auflage seines Kurzen Begriffs, d.h. 24 Jahre nach der ersten Auflage und acht Jahre nach dem Discours préliminaire von d’Alembert, mit bemerkenswerter Konsequenz einen anderen Weg eingeschlagen hat.
4. Zweite Auflage: Landkarte statt Stammbaum Wenn man die selbst geschaffenen Probleme schließlich selbst einsieht, etwa weil man zwischenzeitlich in die philosophische Klasse einer Akademie aufgenommen wurde und einem daher disziplinäre Zuordnungsprobleme deutlicher geworden sind, dann muss man in der Tat verhindern, dass der Verleger noch einmal publiziert, was man sich einmal im Alter von 25 Jahren ausgedacht hatte. Und dies dürfte am besten dann gelingen, wenn man sich die Arbeit noch einmal macht. Sulzer hat dies mit der zweiten Auflage getan. Den ursprünglichen Plan, die »natürliche Verbindung aller Theile der Gelehrtheit« zu zeigen, hat er dabei nicht mehr weiterverfolgt. »Es ist schwer, und vielleicht unmöglich, die verschiedenen Theile der Gelehrsamkeit in einem natürlichen, und keinem Zwang unterworffenen Zusammenhang vorzustellen«. Denn – so fährt Sulzer fort – »es ist ofte zweifelhaft, welcher dem andern vor oder nach gehe. Ich unterstehe mich also nicht, dieselben wie in einem Stammbaum, nach ihren genauesten Verwandschaften und Abstammungen vorzutragen«.68 Sulzer Konsequenz ist vergleichsweise radikal: Weil es seine eigentliche Absicht sei, die »Natur und den Werth« jedes Teils der Gelehrsamkeit zu zeigen und dazu noch nach Möglichkeit seinen jeweiligen »Grad der Vollkommenheit«69 zu notieren, verzichtet er auf jede genetische oder theoretische Ableitung und begnügt sich – ohne auch nur ein Wort über Herkunft und Zusammenhang zu verlieren – mit der Division und Darstellung von acht »Classen« »1) die Philologie, 2) die Historie, 3) die Künste, 4) die Mathematik, 5) die Physik, 6) die Philosophie, 7) die Rechte und 8) die Theologie«.70 Die nicht aufgeführte Medizin ist hier – ebenso wie alle anderen Naturwissenschaften – Teil der Physik. Obwohl die Reihenfolge wie eine Rangordnung aussieht, soll sie dennoch keine solche sein. Die einzelnen Teile der Gelehrtheit werden nicht auseinander entwickelt, sondern über ihren Gegenstand definiert und nebeneinander gestellt.71 Das dafür sinnfällige Bild ist nicht der Baum 68 69 70 71
Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften (1759) (s. Anm. 5), S. 6. Ebd., S. 6f. Ebd., S. 7. Insofern spricht Bödeker zu Recht von einer »horizontalen Differenzierung«, deren »philosophische und wissenschaftliche Grundentscheidungen kaum auszumachen sind«. Bödeker: Konzept und Klassifikation der Wissenschaften (s. Anm. 7), S. 337.
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mit Wurzeln, Stamm und Krone, sondern die Landkarte, auf der plan, d.h. auf gleicher Ebene die »verschiedenen Provinzen und Städte«72 verteilt sind. Und das wiederum heißt: Will man von A nach C gelangen, dann muss man nicht unbedingt über B gehen. Diese Verräumlichung bedeutet gleichzeitig mindestens die Relativierung, wenn nicht gar die Dequalifizierung des Zeitlichen. Ging es der Historia literaria um Ursprung und Fortgang der Gelehrsamkeit, also um den Nachvollzug einer zeitlichen Abfolge, so wird hier die Gelehrtheit von der Diachronie in die Synchronie gebracht, und das bedeutet, dass der Anspruch erhoben wird, den status quo der Wissenschaften mit Blick auf ihr produktives Potenzial abzubilden. Es geht darum, was hier und jetzt in der Wissenschaft getan wird, und zwar im Horizont dessen, was getan werden kann und getan werden sollte, das schließt freilich historische Hinweise nicht aus, misst ihnen aber nur eine reduzierte Bedeutung zu. Geschichte bleibt aber dennoch notwendig und in gewisser Weise unmittelbar präsent, denn Gelehrsamkeit ist ein »Schaz von Erkenntnis«, der die »Erfahrung, die Vernunft und die Weisheit aller Zeiten, und aller Völker« darstellt, »sie ist ein Behältniß dessen, was die klügsten Köpfe aller Zeiten gedacht, bemerkt und erfunden haben«.73 Gelehrsamkeit ist in der Geschichte akkumulierte Erfahrung und Erkenntnis, ohne dass es notwendig wäre, diese Geschichte im Stile der Historia literaria im Einzelnen nachzuerzählen. Was Sulzer also bietet, ist im Grunde eine »Encyclopädie«, die er selbst als ein Werk beschreibt, »worin alle Theile der Gelehrsamkeit abgehandelt werden«.74 Dieses Kriterium wird von dem Kurzen Begriff zweifellos erfüllt, und zwar unabhängig von Sulzers Vorbehalten gegenüber einem polyhistorischen Zugriff auf die Gelehrsamkeit:75 Obwohl er es - angesichts des
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Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften (1759) (s. Anm. 5), S. 6. Sulzer geht damit über den von d’Alembert in seinem Discours préliminaire (1751) erläuterten Vorschlag zur Ordnung des Wissen hinaus. D’Alembert stellt die Schwierigkeiten, die sich bei der Rekonstruktion einer Ordnung des Wissens ergeben, ebenso wenig in Frage wie die »stets herrschende Willkür«, mit der jeder Versuch einer Systematisierung verbunden bleibt. Zwar spricht d’Alembert in diesem Zusammenhang auch von einer »Weltkarte«, doch wird damit lediglich der optische Eindruck benannt, den die als »Stammbaum« konzipierte Gesamtübersicht vermittelt. Auf diesen »Stammbaum« aber kommt es d‘Alembert an: Die durch ihn versinnbildlichte Gesamtübersicht soll »alle Zweige unseres Wissens« unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt bringen »und zur Feststellung ihres Ursprunges und ihres Zusammenhanges«. Die Metapher der »Weltkarte« hat bei d’Alembert den »Stammbaum« epistemologisch noch nicht abgelöst. Vgl. Jean Le Rond d’Alembert: Einleitung zur Enzyklopädie. Durchgesehen und mit einer Einleitung hg. von Günther Mensching. Hamburg 1997, S. 40 und S. 42. Siehe zur graphischen Realisierung des Stammbaums: Essai d’une distribution généalogique des Sciences et des Arts principaux. Selon l’Explication détaillé du système des Connoissance Humaines dans le Discours préliminaire des Éditeurs de l’Encyclopédie publiée par M. Diderot et M. d’Alembert à Paris 1751. Reduit en cette forme pour découvrir la connoissance Humaine d’un coup d’œil. Par Chrétien Fréderic Guillaume Roth à Weimar 1769. In: Table analytique et raisonné des Métiers continues dans les XXXIII Volumes in-folio du Dictionnaire des Sciences, des Arts et des Métiers et dans son supplément. Tome Première. Amsterdam, Paris 1780. Vgl. zur Ordnung des Wissens in der Encyclopédie Robert Darnton, der in diesem Zusammenhang von einer »Verschränkung der Metaphern« spricht: Robert Darnton: Philosophen stutzen den Baum der Erkenntnis: Die erkenntnistheoretische Strategie der »Encyclopédie«. In: Christoph Conrad, Martina Kessel (Hg.): Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung. Stuttgart 1998. S. 209‒241, hier S. 214. Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften (1759) (s. Anm. 5), S. 8. Ebd., S. 9. Vgl. dagegen Dierse: Enzyklopädie (s. Anm. 7), S. 40f., der auf der Grundlage der zitierten Textstellen genau umgekehrt Sulzers entschiedene Ablehnung konstatiert, die eigene Einführung als Enzyklopädie
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Frank Grunert
»gegenwärtig sehr ausgedähnten Zustand[es] der Gelehrsamkeit« - für ein »eiteles Unternehmen hält«, wenn jemand danach streben wollte, sich »den Namen eines Polyhistors«76 zu verdienen, so darf doch »ein rechtschaffner Gelehrter […] in keinem Theile [der Gelehrsamkeit] ganz unwissend seyn«.77 Und so führt Sulzer vor, was er verlangt, nämlich eine materialiter eingeschränkte Enzyklopädie, die aber insofern vollständig ist, als sie alle »Theile der Gelehrsamkeit« präsentiert. Sulzer verabschiedet wohl eine inhaltliche, nicht aber die formale Vollständigkeit der Enzyklopädie, und damit dürfte er einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf spätere enzyklopädische Unternehmungen genommen haben. Deutlich wird dies etwa an Johann Joachim Eschenburgs enzyklopädischem Lehrbuch der Wissenschaftskunde, das ausdrücklich an Sulzers Vorarbeiten anknüpft. Eschenburg hält deren »Werth und Mängel« für hinlänglich bekannt und kündigt an, mit Hilfe einer Anleitung zur Bücherkunde das entscheidende Defizit von Sulzers Werk beheben zu wollen.78 Seiner grundsätzlich als Enzyklopädie, d.h. als »allgemeine Wissenschaftskunde«,79 verstandene Darstellung fügt Eschenburg damit ein Element hinzu, dass allgemein zu den Charakteristika der Historia literaria gerechnet wird. Sachlich befasst sich Eschenburg – ähnlich wie Sulzer – mit dem Inhalt und dem Umfang einer jeden Wissenschaft und führt dabei die darin vorgetragenen vorzüglichen Lehrsätze und die zu befolgende Methode vor. Auch das Bild von der Landkarte taucht wieder auf: eine enzyklopädische Übersicht aller Wissenschaften – so heißt es bei Eschenburg – »ist dem Gelehrten das, was einem Reisenden eine genaue und richtige Karte von den Gegenden und Ländern« ist, die »er zu durchreisen gedenkt«.80 Weil eine genaue Verbindung der Wissenschaften untereinander philosophisch zwar im Prinzip möglich bzw. denkbar, tatsächlich aber nicht erreichbar ist, lässt Eschenburg, darin ebenfalls seinem Vorbild folgend, eine solche Darstellung der Verbindungen der Wissenschaften untereinander auf sich beruhen. Er lässt es – auch darin folgt er Sulzer – bei der nebeneinander bestehenden Darstellung von acht Klassen der Wissenschaften bewenden und weicht allerdings in zweierlei Hinsicht von Sulzers Vorgabe ab: Die Medizin erhält nach der üblichen Fakultätseinteilung eine eigene Klasse, die Künste fallen aus dem Klassifizierungsschema der Wissenschaften heraus und werden nicht mehr berücksichtigt. Die sich bei Sulzer wie bei Eschenburg manifestierende Weigerung, die Wissenschaften philosophisch auseinander zu entwickeln, d.h. sie ineinander gründen zu lassen und so miteinander zu verbinden, könnte als eine Schwäche des philosophischen Begriffs aufgefasst werden, doch ließe sich darin auch eine bemerkenswerte, womöglich moderne Einsicht erblicken, die den bereits erreichten Ausdifferenzierungsgrad der wissenschaftlichen Entwicklung erkennt und daraus Schlüsse für die Pragmatik und die Darstellung von Wissenschaften ableitet.
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zu bezeichnen. Ebenso, und zwar offenbar im genauen Anschluss an Dierse: Bödeker: Konzept und Klassifikation der Wissenschaften (s. Anm. 7), S. 326. Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften (1759) (s. Anm. 5), S. 7. Ebd., S. 7. Johann Joachim Eschenburg: Lehrbuch der Wissenschaftskunde, ein Grundriß encyclopädischer Vorlesungen. Berlin, Stettin 1792, [S. 3]. § 16. Ebd. Ebd., § 17.
IV. PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
UDO ROTH
»Kinder zu ziehen ist ein Werk eines Philosophen« Johann Georg Sulzers Konzeption von Erziehung im Kontext der Aufklärungspädagogik.
Paedagogi aut sint eruditi plene, aut se non esse eruditos sciant.1
Als der gerade 25-jährige Johann Georg Sulzer 1745 seinen Versuch einiger vernünftiger Gedancken von der Auferziehung und Unterweisung der Kinder publiziert,2 ist die Pädagogik noch tief in der pietistischen Erziehungslehre August Hermann Franckes (1663–1727) verwurzelt. Deren Grundsätze sind geprägt von einem tiefen Misstrauen gegen alles Weltliche, dessen Verlockungen mit strenger Beaufsichtigung, tiefer Frömmigkeit und asketischer Lebensweise entgegenzuwirken sei. Die pietistische Pädagogik3 stellt die Vermittlung wahrer Gottseligkeit und der christlichen Klugheit, d.h. der auf der Liebe zur göttlichen Wahrheit, der Demut gegenüber Gott und seinem Nächsten sowie dem Fleiß im Sinne einer nützlichen, gottergebenen Tätigkeit aufbauende Lebenswandel, in den Vordergrund. An erster Stelle der Erziehung steht die ›Gemütspflege‹, als Voraussetzung rechter religiöser Haltung, wohingegen die Vermittlung von intellektuellem Wissen zweitrangig, wenn nicht gar schädlich sei – und hierher gehören auch die Literatur und die schönen Künste. Ziel der Erziehung ist ein christlicher Lebenswandel, der sich bewusst von den diesseitigen ›Freuden‹ abwenden, dabei aber den natürlichen Eigenwillen des Einzelnen brechen soll, da dieser in der verderbten Natur des Menschen die Ursache allen Bösen ist. Franckes Konzeptionen4 finden Eingang in die allgemeine preußische Schulordnung Friedrich Wilhelms I. von 1713 ebenso wie in die Principia regulativa, die Volksschulordnung von 1736,5 1 2
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Quintilian: De institutio oratoria I,1, 8. Johann Georg Sulzer: Versuch einiger vernünftiger Gedancken von der Auferziehung und Unterweisung der Kinder. Zürich 1745; in erweiterter Form in 2. Auflage unter dem Titel Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder. Zürich 1748; im Folgenden zitiert nach dieser 2. Aufl. in ders.: Pädagogische Schriften. Mit Einleitung und Anmerkungen hg. von Willibald Klinke. Langensalza 1922, S. 41–173. Vgl. dazu insbesondere August Hermann Francke: Kurtzer und einfältiger Unterricht, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und christlichen Klugheit anzuführen sind. Halle 1702; vgl. Walter Sparn: Religiöse und theologische Aspekte der Bildungsgeschichte im Zeitalter der Aufklärung. In: Notker Hammerstein, Ulrich Herrmann (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. München 2005, S. 134–168, v.a. S. 135–149. Wobei John Lockes Gedanken zur vernunftmäßigen und natürlichen Erziehungsweise, vor allem aber zur physischen Erziehung (im Sinne der ›Leibesertüchtigung‹) bald verstärkt Beachtung finden; vgl. John Locke: Some Thoughts concerning Education. London 1693; ders.: Gedancken von Erziehung junger Edelleute. Übers. von Sebastian Gottfried Starck. Greifswald 1708. Vgl. Wolfgang Neugebauer (Hg.): Schule und Absolutismus in Preußen. Akten zum preußischen Elementarschulwesen bis 1806. Berlin, New York 1992.
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aber auch über die Grenzen Halles und Brandenburg-Preußens hinaus gewinnt die pietistische Pädagogik an Einfluss. So wird Gottfried Wegeners (1644–1709) Plädoyer für eine »recht[e] und christlich[e] auferzieh[ung]« als Pflicht der Eltern nach 50 Jahren erneut gedruckt,6 posthum erscheinen Friedrich Eberhard Collins (1684–1727) die Erziehung mit christlichen Gedanken vermengenden ›Regeln‹7 ebenso wie Johann Jakob Rambachs »wohlunterwiesener Informator«.8 In diese Atmosphäre pietistisch-moralischer Pädagogik9 mochte Sulzers Versuch nicht recht passen. Zwar entwickelt sich seit etwa 1730 das konzeptionelle Potential der pietistischen Pädagogik nicht weiter,10 bleibt aber bis in die 1760er Jahre ein bedeutender Faktor nicht nur innerhalb des brandenburg-preußischen Erziehungswesens.11 Mit der ›Rehabilitierung‹ der wolffschen Philosophie in den späten 1730er Jahren in und der Rückkehr Wolffs 1740 nach Halle verlieren die hallensisch-pietistischen Prinzipien in anderen Disziplinen jedoch zusehends an Einfluss. Die rationale Theologie Siegmund Jakob Baumgartens (1706–1757) setzt, wie auch die des Martin Chladenius (1710–1759),12 der dogmatischen Lesart der Bibel ihre historische Lektüre entgegen und fordert ein historisches Denken in der Exegese,13 wobei auch das pädagogische Motiv eines Studiums der Geschichte zur Erkenntnis der conditio humana in den Blick kommt. Baumgartens jüngerer Bruder Alexander Gottlieb (1714–1762) stellt der Logik der höheren Erkenntnisvermögen eine solche der unteren Vermögen zur Seite, womit er eine Erkenntnis auch aufgrund sinnlicher Vorstellungen legitimiert.14 Alexander Gottliebs Schüler Georg Friedrich Meier (1718–1777) betont affektive Vorgänge auch in der Ethik.15 Wird so die Grenze zwischen der rein körperlichen Betrachtung des Menschen, der anthropologica physica, 6
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Gottfried Wegener: Kinder-Zucht, oder kurtzer doch wohlgemeinter Bericht von der schuldigen Amts-Pflicht der Eltern, wie sie ihre Kinder recht und christlich auferziehen sollen. Frankfurt a. M., Leipzig 1727 (zuerst Frankfurt a.d.O. 1677). Friedrich Eberhard Collin: Christliche Gedancken von guter Kinder-Zucht, in einigen Regeln und beygefügten Anmerckungen verfasset. So wol den Eltern selbst, als auch andern, die mit Auferziehung der lieben Jugend zu thun haben, zum fernern Nachdencken aufgesetzt. Halle 1732. Johann Jakob Rambach: Wohlunterwiesener Informator oder deutlicher Unterricht von der Information und Erziehung der Kinder, aus dem eigenen Manuscript des seligen Autoris mit einer Vorrede von desselben Verdiensten für das gesammte Schulwesen an Licht gestellet von Ernst Friedrich Neubauer. Züllichau 1737, 21742; der Theologe Rambach, später Nachfolger Franckes in Halle, hatte bereits 1720 in Jena ein pädagogisches Kolleg gehalten, auf dessen Manuskript Neubauers (1705–1748) Ausgabe beruht. Die auch in Frankreich Fuß fasste, man denke nur an die von Abbé Saint-Pierre (i.e. Charles Irénée Castel de Saint-Pierre, 1658–1743) propagierte »prudence chrétienne«. Vgl. Sparn: Religiöse und theologische Aspekte der Bildungsgeschichte (s. Anm. 2), S. 145f. Vgl. u.a. Martin Brecht: Der Hallische Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts – seine Ausstrahlung und sein Niedergang. In: Martin Brecht, Klaus Deppermann (Hg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Göttingen 1995, S. 319–357. Vgl. etwa Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. Leipzig 1742. Vgl. u.a. Siegmund Jakob Baumgarten: Unterricht von der Auslegung der Heiligen Schrift. Halle 1742; zur Neologie allgemein vgl. Walter Sparn: Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Rudolf Vierhaus (Hg.): Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1985, S. 18–57. Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Halle 1735, v.a. §§ CXV–CXVII. Vgl. Georg Friedrich Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. Halle 1744.
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und der moralischen und verstandesmäßigen, der anthropologica moralis, durchlässig,16 so formuliert Johann Joachim Spalding (1714–1804) in seinen Gedanken über die Bestimmung des Menschen (1748) in chiliastischer Wendung des eschatologischen Aspektes der christlichen Anthropologie die Aufgabe des Menschen in der Erkenntnis seiner Bestimmung und deren individueller und menschheitlicher Verwirklichung. Diese Entwicklung aber setzt das Studium des Menschen voraus und kann nur durch seine Erziehung realisiert werden. In der Vorrede zur zweiten Auflage seines Versuchs 1748 betont Sulzer, den Kritikern seiner Schrift17 sei diese einfach »zu kurz, zu abstrakt und zu schwer in Ausübung zu bringen« gewesen, sie dachten vermutlich, daß sie durch Lesung dieses Versuchs so tüchtig werden sollten, Kinder zu erziehen und zu unterweisen, wie man aus einer Unterweisung zur Rechenkunst geschickt wird, ein vorgeschriebenes Exempel herauszurechnen.18
Wendet sich Sulzer hiermit ganz offen gegen die später auch von Rousseau kritisierte Prämisse eines »nach der herkömmlichen Schablone zugesetzte[n], dressierte[n] und äußerlich wohlabgerichtete[n] Kind[es]«,19 so kritisiert er ebenso die Ignoranz und Unaufgeschlossenheit der zeitgenössischen ›Schulmeister‹: Sein Werk nämlich enthalte zwar »Regeln«, um aus einem Kind einen »vernünftigen, tugendhaften und wohlgesitteten Menschen« zu machen – die »Kraft und Geschicklichkeit« zu deren »Ausübung« aber gebe er nicht, diese müsse der Leser eigenständig erbringen;20 der Versuch erfordere also einen Leser, der »imstande« ist, der gleich des Verfassers Absicht recht einsieht und seine Absicht aus dem Gesichtspunkt beurteilt, in dem der Verfasser gestanden, als er seine Arbeit gemacht hat.21
Losgelöst von der »Verschiedenheit der Stände«, die »eine menschliche Erfindung [sei], die die Natur nicht kennt,«22 also sowohl von der immer noch präsenten Ausschließlichkeitsformel der Standeserziehung als auch der unter dem Einfluss Franckes wachsenden bürgerlichen Erziehungsideale23 war es aber nicht Sulzers Absicht, ein »allgemeines Buch zu schreiben, das für jedermanns Gebrauch wäre« – er wollte »für die schreiben, deren Werk es ist, Kinder zu zie-
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Vgl. hierzu bereits Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon. Leipzig 1726, 21733, 31740; hier nach der 4., ergänzten Aufl. hg. von Justus Christian Hennings. 2 Bde. Leipzig 1775, Bd. 1, Sp. 172f. Vgl. zur negativen Kritik am Versuch neben Sulzers Vorrede zur zweiten Auflage insbesondere Mag. Kinderlieb [sc. Martin Künzli]: Johann Georg Sulzers Versuch von der Auferziehung der Kinder einfältig widerlegt. Zürich 1748 sowie ders.: Klarer Beweis, dass das Büchelgen, betitelt: Johann Georg Sulzers Versuch von der Auferziehung der Kinder einfältig widerlegt, keine Satyre sei. Zürich 1748, der die Kritik satirisch überhöht. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 41. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Émile, ou de l’éducation. Den Haag [sc. Paris] 1762; im Folgenden zitiert nach ders.: Emil oder Über die Erziehung. Frei aus dem Französischen übersetzt von Hermann Denhardt. 2 Bde. Leipzig o. J., hier Bd. 2, S. 23. Zu Rousseau als Pädagogen vgl. überblicksartig u.a. Otto Hansmann: Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Baltmannsweiler 2002; zur Rousseau-Rezeption vgl. u.a. Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1994. Vgl. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 42. Ebd., S. 41. Ebd., S. 43. Vgl. Juliane Dittrich-Jacobi: Pietismus und Pädagogik im Konstitutionsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft. Historisch-systematische Untersuchung der Pädagogik August Hermann Franckes (1663–1727). Diss. Bielefeld 1976.
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hen.«24 Denn da »Vernunft und Tugend, desgleichen wohlanständige Sitten [...] Dinge« sind, die »weder an Stand noch Amt gebunden, sondern an allen Menschen schön und nützlich sind«, müssen alle Kinder dazu angeführt werden, daß sie so tugendhaft, so vernünftig, und so wohlgesittet werden, als es nach der natürlichen Bildung ihrer Gemüter und Temperamente möglich ist.25
Dies aber setze »notwendig eine genaue Kenntnis sowohl der menschlichen Natur überhaupt, als der kindlichen Gemüter insbesonders«, darüber hinaus aber auch »eine gründliche Einsicht [...] insonderheit [der] Philosophie und Moral« voraus.26 Tritt somit das Ziel der Erziehung deutlich hervor, so wird auch klar definiert: »Kinder zu ziehen ist ein Werk eines Philosophen, und keines gemeinen Schulmeisters«, schon gar nicht eines »gemeinen Mannes«.27 Da aber die »Unterweisung der Kinder insgemein« immer noch ›gemeinen Schulmeistern‹ anvertraut werde und damit Leuten, die »Gegenfüßler der Philosophen sind und für sich selbst nichts Deutliches im Kopfe haben«,28 plädiert Sulzer für die Einrichtung öffentlicher, von den staatlichen (nicht kirchlichen) Obrigkeiten finanzierter und überwachter Schulen mit »vernünftige[n] und ausgesuchte[n]« Erziehern29 – eine Sache, die »wohl zu wünschen, aber schwerlich zu hoffen« sei.30
1. Der Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder Sulzer betrachtet die Erziehung des Kindes gemäß dreier Absichten, die dieser zugrunde gelegt werden können: 1. insofern es ein mit gewissen Eigenschaften ausgestatteter »Mensch« sei – und zwar »kraft [seiner] Geburt«,31 2. insofern es »kraft der Geburt von einem gewissen Stand oder Rang« sei, und 3. insofern es »zu einer gewissen Lebensart«, also einer bestimmten späteren (Berufs-)Tätigkeit bestimmt sei.32 Von der zweiten und dritten dieser Absichten, die dem Kontext der Standeserziehung bzw. der utilitaristischen Bildungstheorie verhaftet sind, distanziert sich Sulzer zwar nicht explizit, doch will er sich im Versuch, der keine »ganze Abhandlung von der Auferziehung« sein soll, nur auf die »erste und wichtigste« dieser drei Absichten konzentrieren. Denn die »Auferziehung und Unterweisung« hat primär das Ziel, aus Kindern ver24 25 26 27 28 29 30
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Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 44 (Hervorhebung im Text). Ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 42f. Ebd., S. 43. Ebd., S. 52f. Vgl. ebd., S. 97. Vgl. ebd., S. 43; als Idealform des Erziehungswesens schwebt Sulzer die allein vom Staat getragenen Erziehung der Liliputaner vor, von der Lemuel Gulliver ausführlich berichtet (vgl. Jonathan Swift: Gullivers Tvavels. London 1726, Buch I, Kap. IV), vgl. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 45–47. Vgl. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen [1751/52]. In: ders.: Vermischte Philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/1781 [ND Hildesheim 1974], Bd. 1, S. 17: »Wir kommen mit einer allgemeinen Fähigkeit zu unzähligen Neigungen und Leidenschaften auf die Welt, ohne etwas anders mitzubringen, als diejenige Kraft, die das Wesen der Seele ausmacht.« [Im Folgenden VS Band, Seitenzahl.] Vgl. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 49f.
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nünftige, tugendhafte und sittsame Menschen zu machen, wobei Vernunft, Tugend und auch »wohlanständige Sitten« eben nicht an Stand oder Profession gebunden, sondern »an allen Menschen schön und nützlich sind«. Sulzer folgt also einer »ganz natürliche[n] Ordnung«, wenn er im Versuch 1. von dem Verstand, 2. von dem Willen und Gemüte, und 3. von der äußerlichen Aufführung und den guten Sitte sprechen werde.33
Insbesondere die Verstandesschulung nimmt in Sulzers pädagogischem Konzept einen breiten Raum ein. Die Natur nämlich hat, davon ist er überzeugt, »einem jeden Menschen ein gewisses Maß der Verstandeskräfte gegeben, das durch die Auferziehung und Unterweisung weder vermehrt noch vermindert werden kann«.34 Ein Mensch kann also auch ohne Erziehung und Unterricht den größten Verstand besitzen – es kommt jedoch darauf an, den Verstand zu bilden, ihn in die richtige Richtung zu lenken, dem Denken eine Ordnung zu geben, da ansonsten auch der größte Verstandesmensch hinsichtlich des Erkennens und Urteilens immer fehlgehen werde.35 Das Vermitteln eines geordneten Denkens nun ist die vornehmste Aufgabe der Erziehung, und das »Fundament der ganzen Vernunftlehre oder des richtigen Denkens sind deutliche Begriffe«.36 Es sei daher bei der Erziehung das erste Bemühen, die Kinder gemäß ihres Alters anzuleiten, »von allen Dingen, soviel als möglich, deutliche Begriffe zu bekommen«.37 Ein deutlicher Begriff aber ist eine solche Vorstellung eines Dingen in dem Verstande, die hinreichend ist, dieses Ding von allen andern Dingen in allen Umständen zu unterscheiden und zwar so, daß man den Grund des Unterschiedes abgeben kann.38
Mit der Anleitung zur Herausbildung deutlicher Begriffe geht diejenige »richtige[r]«, »vernünftige[r] und gesunde[r] Urteil[e]« einher, denn von »der Richtigkeit unseres Urteils hängt der größte Teil unseres Glücks ab«.39 Ab einem Alter von sieben Jahren sollen die Kinder lernen, aus leichten und deutlichen Erklärungen einzelner Sätze Folgerungen zu ziehen, später sind längere (historische) Erzählungen »zu zergliedern«, die Kinder sollen »die Hauptsache von den Umständen [...] unterscheiden, und endlich ein Urteil über das Ganze [...] fällen.«40 Um die Urteilsfähigkeit herauszubilden, bedarf es aber auch einer Übung des Gedächtnisses, da dieses dem Verstand »den Stoff zum Urteilen an die Hand gibt«.41 Diesen Überlegungen zur Verstandesbildung, mit denen das allgemeine Ziel der Erziehung, die Vervollkommnung des Menschen zum Zwecke der Glückseligkeit formuliert wird, schließt 33 34 35 36 37 38
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Ebd., S. 50. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 51. Ebd., S. 53. Ebd., S. 51; vgl. zum altersgemäßen Vorgehen ebd., S. 56: »Wenn man nun also bis in das sechste oder siebente Jahr die Kinder angeführt hat, alle Sachen, deren sie fähig sind, mit ihren Kennzeichen deutlich zu bemerken, so muß man sie hernach allgemach anführen, die deutlichen Begriffe der Sachen ordentlich mit Worten auszudrücken, das ist, Erklärungen von den Dingen zugeben.« Vgl. ebd., S. 58. Ebd., S. 61. Ebd., S. 67; hierbei wird insbesondere Wert gelegt auf das Auswendiglernen von Texten, aber auch das Anfertigen von Gedächtnisprotokollen zu Texten, vgl. ebd., S. 67–69.
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sich eine Auflistung derjenigen »Wissenschaften« an, in denen, wiederum ohne jedweden Unterschied von Stand oder zugedachter Profession, alle Kinder unterrichtet werden sollen. Hierher gehören die Geschichte und die Geographie ebenso wie die ›schönen‹ Wissenschaften (vornehmlich hinsichtlich der Bildung des ›Geschmacks‹) und das Naturrecht (letzteres an den niedern Schulen in Ansätzen, an den höheren in Gänze). Auch die Sprachen sind zu lehren, wobei Sulzer hier jedoch eine Unterscheidung zulässt: Schülern, die für eine bestimmte ›Lebensart‹ bestimmt sind, »die sie hindert, viele Bücher zu lesen«, genüge die Kenntnis der Muttersprache – begründet wird dies jedoch nicht mit eben jener Vorbestimmung, also in einem utilitaristischen Sinne, sondern rein pragmatisch, denn die erlernte lateinische oder französische Sprache werde aufgrund fehlender Sprachpraxis »bald wieder vergessen.«42 Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Ausbildung aber stehen Mathematik und Physik, erstere vor allem aufgrund ihres Beitrages zur Verstandesbildung, aber auch hinsichtlich ihres Nutzens im Alltag,43 letztere deshalb, weil sie »zu so vielen nützlichen Erfindungen, zu so vielen schönen Betrachtungen und zu so vielem Ergötzen Anlaß gibt«, aber auch, weil die Kenntnis um die »natürlichen Dinge« einem »elend[en] und abergläubisch[en]« Urteilen über sie vorbeugt.44 Hervorzuheben ist, dass der ausgebildete Theologe Sulzer in diesem Zusammenhang nicht weiß, was er von der »Gottesgelehrtheit sagen soll«, respektive nicht mehr sagen will, »als was mit der gesunden Vernunft übereinstimmt«. Kindern aber sollte zunächst die natürliche Religion nahegebracht werden, bevor man sie spät, im Alter von »wenigstens zwölf Jahren« mit der geoffenbarten, positiven Religion, dem Katechismus und anderen theologischen Schriften konfrontiere – und zwar vornehmlich, um die Grenzen von und die Unterschiede zwischen natürlicher und positiver Religion aufzuzeigen.45 Auch Rousseau wird später im vierten Buch des Émile dafür plädieren, dem heranwachsenden Menschen so spät wie irgend möglich die Religion nahezubringen, und auch er wird zunächst die Unterweisung in die natürliche Religion – dargelegt im »Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars« – in den Blick stellen, später könne man sich dann auch der positiven zuwenden.46 Bei dieser, aber auch jeder anderen Unterweisung sind laut Sulzer bestimmte Regeln zu beachten, um den praktischen Unterricht wesentlich zu erleichtern.47 So sei das Temperament der Kinder zu berücksichtigen, der Unterricht sei angenehm zu gestalten, und es sei darauf zu achten, »wie die Kinder lernen«, nicht darauf, »wieviel sie lernen«.48 Auch sei die gegenseitige Achtung von Bedeutung, ebenso das gute Beispiel des Lehrers in allen Dingen des Unterrichts. Allgemein aber gelte, den Unterricht nicht als Zwang erscheinen zu lassen, sondern den Kindern das Vergnügen am Lernen zu vermitteln. 42 43 44 45 46
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Vgl. ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 74. Vgl. ebd., S. 75. Vgl. Rousseau: Emil (s. Anm. 19), Bd. 2, S. 126–233; insbesondere die Profession de foi du vicaire savoyard setzten Rousseau massiven Angriffen der katholischen Kirche aus; der Émile, der bereits auf den Index gesetzt worden war – Rousseau selbst wurde mit Haftbefehl belegt –, wurde vom Erzbischof von Paris öffentlich ›verdammt‹; Anfeindungen aus dem reformierten Genf begegnete Rousseau mit dem Verzicht auf sein dortiges Bürgerrecht. Vgl. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 75–83. Ebd., S. 80 (Hervorhebung im Text).
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Hinsichtlich der eingangs genannten Erziehungsziele steht die Verstandesbildung eindeutig im Vordergrund, denn auch wenn »Verstand und Tugend in einer sehr engen Verbindung stehen«, sei der Verstand doch »die Hauptsache, weil ohne ihn die Tugend keine Tugend ist«.49 Gleichwohl nehmen die Ausführungen zur Willens- und Gemütsbildung als Voraussetzung eines tugendhaften und sittsamen Lebens im Versuch einen weitaus größeren Raum ein als jene zur Verstandesbildung. Denn das Ziel dieses Teiles der Erziehung stellt darauf ab: 1. Daß vor allen Dingen der Verstand gestärkt und erleuchtet wird, damit er eine vollkommene und unumschränkte Herrschaft über alle Neigungen nach den Gesetzen der Vernunft oder der Wahrheit haben könne. 2. Daß alle unmittelbar guten Eigenschaften und Neigungen den Kindern so viel als möglich eingepflanzt, die bösen aber ausgerottet werden, und daß endlich 3. die Mittelneigungen so weit unterdrückt werden, daß sie nicht in Hauptpassionen ausarten können, die sich der Herrschaft der Vernunft entziehen.50
Dies zu bewerkstelligen dienen drei Wege: die »Unterdrückung der bösen Neigungen und Passionen«,51 ein System von »Belohnungen und Strafen«52 sowie ein Katalog von intellektuellen und körperlichen, auf die jeweiligen Alterstufen abgestimmten Arbeiten zur Förderung von Willens- und Gemütsbildung.53 Da Sulzer davon ausgeht, dass »die Menschen überhaupt mit weit bessern Neigungen zur Welt kommen, als die sind, die sie im Fortgang zeigen«,54 er sich aber ebenso bewusst ist, dass bei der zuvor propagierten Form der Unterweisung auch Verfehlungen der Kinder vorkommen können, die der Zielsetzung abträglich sind, liegt in allen diesen drei Kapiteln der Fokus auf der Frage, woher das ›Böse‹ komme und insbesondere wie man ihm beikommen könne. Doch ist dieser Teil des Versuchs keine Anleitung zur rigorose Unterdrückung, ja Brechung des kindlichen Willens und zu einer vollständigen Disziplinierung. Ein Fehler etwa solle nicht eher bestraft werden, als bis man wisse, »daß es in eines Kindes Willen steht, ob es ihn lassen wolle oder nicht«.55 Gemeinhin aber werde ein Kind bestraft, wenn der Fehler, den es begangen habe, den Strafenden »zum Unwillen oder Zorn gereizt hat« – selten aber überlege der Strafende, »ob es Zeit ist zu strafen«.56 Es gelte nämlich zu überprüfen, ob nicht dunkle, verworrene 49 50 51 52 53 54 55 56
Ebd., S. 83. Ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 105–113. Vgl. ebd., S. 113–125. Vgl. ebd., S. 125–167. Ebd., S. 105. Ebd., S. 116. Ebd., S. 114; im Grunde wird damit doch nichts anderes einer harschen Kritik unterzogen als das, was auch Katharina Rutschky und Alice Miller der sogenannten ›Schwarzen Pädagogik‹ vorwerfen; Rutschky sucht in ihrer Anthologie Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung (München 82001; zuerst Frankfurt a. M. u.a. 1977) Texte vornehmlich des 18. Jahrhunderts psychoanalytisch als Verarbeitung innerer Konflikte der Schreibenden zu interpretieren, die sich gegen das Kind richten und durch eine gelungene Disziplinierung des Kindes, d.h. die Unterwerfung unter den Erwachsenenwillen, den Versuch darstellen, mit der eigenen – unterdrückten – Triebnatur fertig zu werden, also den unbewältigten Konflikt zwischen Natur und Vernunft im Menschen zu bewältigen; die Anthologie versammelt Texte aus dem Zeitraum von 1667 bis 1908, die aus dem Zusammenhang gerissen und von der Herausgeberin denn auch mit so programmatischen Überschriften versehen werden wie »Erziehung als totale Institution« – Sulzer ist hier mit »Der Nutzen einer genauen Ausforschung der Kinder« vertreten – oder »Erziehung als Triebabwehr« – Sulzers »Übungen zur völ-
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Seiten der Seele das Kind zu der Tat – bzw. den ›bösen Neigungen und Passionen‹ – verleitet haben. Auch wenn eine Anleitung zum klaren Denken und Übung in diesem Falle nicht fruchten, so bleibe ein Ausweg: die »Entgegensetzung widerwärtiger Dinge.«57 Basierend auf seinen vermögenspsychologischen Prämissen ist Sulzer davon überzeugt, dass man durch Erweckung anderer Affekte durch einen Umweg eine böse Neigung tilgt. So kann z. B. Trägheit getilgt werden, wenn man einem Kinde eine große Lust zu etwas macht, daß es ohne Arbeit nicht erlangen kann. Alsdann bemüht es sich zu arbeiten, es arbeitet mit Lust, und wenn man es lang genug in dieser Neigung erhalten kann, so gewinnt es endlich nach und nach Lust zur Arbeit überhaupt. 58
Diese Vorgehensweise aber erfordert einen Philosophen, der imstande ist, »einen Affekt durch Gründe zu unterdrücken« – und eben keinen gemeinen Schulmeister, der die Rute schwingt. Den Abschluss des Versuchs bildet ein kurzes Kapitel über die familiären und gesellschaftlichen Umgangsformen.59 Kurz deshalb, weil es einerseits »gute Bücher« gebe, in denen man nachlesen könne, andererseits und vor allem aber, weil dieser Teil der Erziehung »am weitesten getrieben« werde, da man allgemein mehr auf Äußerlichkeiten als auf Verstand und Tugend sehe.60 Gleichwohl gibt Sulzer einige Regeln, die nicht nur das familiäre und gesellschaftliche Auftreten berücksichtigen, sondern auch die Haushaltung und Körperpflege aufgreifen. Über die praktische Umsetzung all seiner Forderungen aber schweigt sich Sulzer aus – er habe schweigen wollen, so betont er in einer »Nachschrift«. Denn den »meisten Schulmänner[n]«, denen er zwar alle Achtung entgegenbringe, deren »Einrichtung der Schulen, und ihre Art an der Jugend zu arbeiten« ihm hingegen missfalle, würden »[s]eine Vorschläge vermutlich nicht gefallen haben«. Vielleicht aber, so stellt er in Aussicht, »geschieht es ein andermal«.61
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ligen Unterdrückung der Affekte« –, die Abschnittstitel reichen aber bis hin zu »Erziehung als Rationalisierung des Sadismus«, mit der Absicht, eine von der Geschichtsschreibung der Erziehungswissenschaften ausgeblendete ›dunkle‹ Seite der Pädagogik zu zeigen. Weiter noch geht Miller (vgl. Am Anfang war Erziehung. Frankfurt a. M. 1980), die die Abschaffung jedweder Erziehung fordert, da sie ›Erziehung‹ generell als Ausdruck unbewältigter eigener Konflikte interpretiert und die ›Schwarze Pädagogik‹ – auf der Basis von Rutschkys Textsammlung – dadurch gekennzeichnet sieht, dass sie danach trachte, dem Kind so früh wie möglich seinen Willen zu nehmen, ja mit repressiven Mitteln bis hin zur Folter seinen Willen zu brechen – ein Ansinnen, das doch vornehmlich der oben genannten, theologisch unterfütterten pietistischen Erziehung zuzuschreiben ist, da der individuelle Eigenwillen in der verderbten Natur des Menschen die Ursache allen Bösen sei, die Brechung des Willens also das Böse nicht zur Entfaltung kommen lässt. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 106. Ebd., S. 107. Vgl. ebd., S. 168–173. Vgl. ebd., S. 168. Ebd., S. 173; Sulzer verfasste nach dem Versuch eine Anweisung zur Erziehung meiner Töchter für die Leiterin der Züricher Töchterschule Susanna Goßweiler (1740–1793), vgl. Johann Georg Sulzer: Anweisung zur Erziehung meiner Töchter. Zürich 1781; vgl. ebenso ders.: Gedanken über die beste Art die klaßischen Schriften der Alten mit der Jugend zu lesen. Berlin 1765 und ders.: Vorübung zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens, zum Gebrauch einiger Klassen des Joachimthalschen Gymnasiums. Berlin 1768; institutionell umzusetzen suchte Sulzer seine Gedanken zur Erziehung im Entwurf zur Einrichtung des neugegründeten akademischen Gymnasiums in Mitau, vgl. ders.: Entwurf der Einrichtung des von Sr. Hochfürstl. Durchl. dem Herzoge von Curland in Mitau neugestifteten Gymnasii Academici. Mitau 1774.
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2. Der Einfluss Wolffs: Vollkommenheit und Glückseligkeit Wenn man den 1778 verfassten, von Friedrich Nicolai 1809 herausgegebenen autobiographischen Aufzeichnungen62 Glauben schenken darf, war die eigene ›Erziehung‹ bzw. ›Bildung‹ für Sulzer alles andere als seinen späteren Vorstellungen entsprechend. Auf der öffentlichen Stadtschule in Winterthur lernte er »nicht anders als aus Zwang«, was allein »die Schuld der damaligen schlechten Lehrart« der Schulen war, auch mit einem »Privatlehrer [...] wollte es nicht besser als in der Schule gehen«. Ganz zu schweigen vom Unterricht auf dem Züricher akademischen Gymnasium, wo er seine theologische Ausbildung erfahren sollte. Die Lektionen der Professoren waren »theils schlecht«,63 auch brachte er »gar zu wenig literarische Kenntniß« mit, so dass ihm »dabey noch kein Licht auf[ging]«.64 Nur »mit Ekel« lernte er, und auch der ihn beherbergende Pfarrer Christoph Geßner (1674–1742) »wußte weiter nichts an seinen Pensionärs zu thun, als sie zu ermahnen, fleißig die Bibel zu lesen, als das Buch aller Bücher«.65 Trotz der am eigenen Leibe erfahrenen schlechten Erziehung schien es, wie Sulzer selbst geradezu lamentierend feststellt, »[s]ein Schicksal zu seyn«, sich zeit seines Lebens »fast allein mit Schularbeiten abzugeben«.66 Auch sein späterer Biograph Hans Caspar Hirzel (1725–1803) weist darauf hin, dass »das Erziehungswesen« Sulzer sein »ganze[s] Leben vorzüglich beschäftigt« habe und »seine übrigen wichtigen Werke [...] Früchte seiner Erholung in den dem Vergnügen gewiedmeten Nebenstunden« gewesen seien.67 Warum, so scheint denn zu Recht Christian Friedrich von Blanckenburg (1744–1796), Verfasser der bedeutendsten Lebensbeschreibung Sulzers, zu fragen, habe Sulzer, stelle man »ihn unter die eigentlichen philosophischen Pädagogen Deutschlands«, sich nicht »Geschäfte der Art« gewählt und versucht, »über diese Materie [...] vorzüglich [zu] schreiben, und eine Menge, unter seinem Namen bekannter Schüler« heranzuziehen?68 Einen Grund für die zeitgenössisch fehlende positive Resonanz69 des pädagogischen Konzepts kann Blanckenburg benennen: 62 63
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Vgl. Johann Georg Sulzer’s Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt. Aus der Handschrift abgedruckt, mit Anmerkungen von Johann Bernhard Merian u. Friedrich Nicolai. Berlin, Stettin 1809. Ein Phänomen, das auch Hamann in seiner Lebensbeschreibung (1758/59) ausführlich beschreibt, vgl. dazu Johann Georg Hamann: Gedanken über meinen Lebenslauf. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Josef Nadler. 6 Bde. Wien 1949–1957, Bd. 2, S. 9–54, hier S. 12–21. Mit Ausnahme wohl von Breitinger und Bodmer; mit »dem berühmten Bodmer« verband Sulzer seit 1743 ein Briefwechsel, aus dem »eine genaue freundschaftliche Verbindung entstand, die bis jetzt mit herzlich gegenseitiger Zuneigung gedauert hat« (Sulzer’s Lebensbeschreibung [s. Anm. 62], S. 23); zum Einfluss Bodmers vgl. Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998, S. 312f.; vgl. generell Anett Lütteken, Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.): Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009. Sulzer’s Lebensbeschreibung (s. Anm. 62), S. 13. Vgl. ebd., S. 53. Vgl. [Hans Caspar Hirzel:] Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen. 2 Bde. Zürich, Winterthur 1779, Bd. 2, S. 106. Christian Friedrich von Blanckenburg: Einige Nachrichten von dem Leben und den Schriften des Herrn Johann Georg Sulzer. In: VS 2, S. 1–144, hier S. 93f. Gleichwohl empfiehlt Johann Bernhard Basedow (1724–1790) in seiner Dissertation den Versuch als die beste Erziehungsschrift (vgl. Basedow: Inusitata et optime honestioris juventutis erudiendae methodus. Kiel
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Udo Roth Herr Sulzer scheint mir übrigens bey dieser Arbeit zwar immer einen, durch Wolf gebildeten, systematischen, aber doch zugleich auch wahrhaft philosophischen und denkenden Kopf, und zwar darin zu zeigen, daß er, für das Wesentliche bey aller Erziehung, die Bildung des Kindes zu einem vernünftigen, tugendhaften, gesitteten Menschen hält, und die Wissenschaften nur als Mittel hiezu angesehen, und die Erlernung derselben nicht, wie es noch täglich geschieht, zum Hauptzweck alles Unterrichts gemacht haben will. [...] Ich weiß nicht, ob Herr Sulzer, bey allen seinen Vorschlägen, die wirkliche Natur des Menschen genug im Auge gehabt hat [...]? Sollte nicht seine frühzeitige Neigung zu Wolfs Schriften, ihn, besonders in seinen frühesten Schriften, zu dogmatisch gemacht haben? – Er will, in diesem Versuche, z. B. daß man, schon von dem zweyten Jahre des Kindes an, sich bemühen solle, ihm deutliche Begriffe beyzubringen.70
Mit der Philosophie Christian Wolffs war Sulzer bereits seit seiner Züricher Gymnasialzeit vertraut, »ein paar fleißige Studenten«, die seine Pension teilten und die »in Literatur und Wissenschaften schon etwas bewandert waren«, gaben ihm »die ersten Begriffe von dem, was man Literatur und Wissenschaft nennt«: »Eines der ersten Bücher das ich in die Hand nahm und mit großer Begierde las, war Wolf’s deutsche Metaphysik«, ein Werk, welches Sulzer nach den Stunden ekelhaften Lernens zur »Erholung« las.71 Der frühe Einfluss Wolffs schlägt sich unübersehbar in Sulzers Schriften nieder, prägnant herausgestellt etwa bereits im Kurzen Begriff aller Wissenschaften (1745),72 der dem »berühmten deutschen Weltweisen Wolf« innerhalb der Philosophie eine zentrale Stellung zuweist.73 Doch weiß Sulzer um die Abhängigkeit Wolffs von Leibniz, habe letzterer doch aus dem scholastischen »Schulstaub, darin sie so viel Jahrhunderte gelegen«, den Weg gebahnt, auf welchem ersterer »so glüklich fortgegangen« sei.74 Beinahe enthusiastisch – auch unter dem Eindruck der erst 1765 aus dem Nachlass publizierten Nouveaux essais sur l’entendement humain [1703/04]75 – stellt Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste fest:
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1752), und dem Philosophen und Ästhetiker Georg Friedrich Meier »gefällt« das »Buch [...] über die Erziehung der Kinder« (Samuel Gotthold Lange: Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe. 2 Bde. Halle 1769, Bd. 2, S. 207). Blanckenburg: Einige Nachrichten (s. Anm. 68), S. 35f. (Hervorhebung im Text). Sulzer’s Lebensbeschreibung (s. Anm. 62), S. 13; Christian Wolff: Vernüfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [Deutsche Metaphysik]. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Hildesheim, New York 1962ff., Abt. 1, Bd. 2. Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften, worinn die natürliche Verbindung aller Theile der Gelehrsamkeit gezeiget, auch ein jeder ins besondere nach seinem Innhalt, Nutzen und Vollkommenheit beschrieben wird. Leipzig 1745; 2., ganz veränderte und vermehrte Auflage unter dem Titel Kurzer Begriff aller Wißenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worinn jeder nach seinem Innhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. Leipzig 1759; beide Auflagen unterscheiden sich v.a. in der wissenschaftlichen Ausrichtung, in der 1. Auflage liegt der Schwerpunkt auf den Naturwissenschaften, erst in der 2. Auflage werden auch literarische und ästhetische Aspekten deutlich hervorgehoben; vgl. Robert Hering: Johann Georg Sulzer. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1928, S. 265–326, spez. S. 270f.; zum Kurzen Begriff vgl. Hans Erich Bödeker: Konzept und Klassifikation bei Johann Georg Sulzer (1720–1779). In: Martin Fontius, Helmut Holzhey (Hg.): Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Berlin 1996, S. 325–339 sowie den Beitrag von Frank Grunert in diesem Band. Vgl. zur Philosophie Sulzer: Kurzer Begriff 1759 (s. Anm. 72), §§ 186–239, S. 139–188, § 206, S. 158. Ebd., § 189, S. 143. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Œuvres philosophiques latines et françoises. Ed. par Rudolf Erich Raspe. Amsterdam, Leipzig 1765, p. 1–496; dt. Übers. in Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Werke nach Raspens Sammlung. Aus dem Französischen von Johann Heinrich Friedrich Ulrich. 2 Bde. Halle 1778– 1780, Bd. 1, S. 123–534, Bd. 2, S. 41–600.
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Nie ist ein erhabeneres System der Philosophie erdacht worden, als das Leibnizsche, das auch zugleich wegen der Kühnheit vieler seiner Lehren, die das höchste enthalten, was der menschliche Verstand jemals wagen wird, recht für den hohen Flug der Dichtkunst gemacht zu sein scheint. Seine Begriffe von einzelnen Wesen und eines jeden besondere Harmonie mit dem Ganzen, von den Monaden, von der Seele, seine allgemeine vorher geordnete Harmonie, seine Stadt Gottes.76
Was hier mit Blick auf Wielands frühe Lehrgedichte und der Hoffnung auf dessen ›Rückkehr‹ zur Lehrdichtung – denn was könne »ein philosophischer Poet großers wünschen« als dieses »erhabene System« in lehrende Dichtung umzugestalten –, mit Rekurs auf Leibniz und Wolff formuliert wird, bietet die Basis auch der pädagogischen Überlegungen Sulzers. Denn obwohl er insbesondere hinsichtlich der ›fachwissenschaftlichen‹ Erziehung auf Charles Rollins (1661– 1741) erzieherisch-moralisierende Manière d’enseigner et d’étudier des belles lettres77 verweist,78 hinsichtlich der Erziehung allgemein John Lockes »vortrefflichen Versuch«, die Thoughts concerning Education hervorhebt79 und sich dessen Gedanken vor allem zur körperlichen Ertüchtigung verbunden fühlt,80 sind es die philosophischen Systeme Leibniz’ und Wolffs, die Sulzer hinsichtlich seines Erziehungszieles, der Vervollkommnung des Menschen zum Zwecke seiner Glückseligkeit, zu Grunde legt. Da das Streben nach Vollkommenheit und Glückseligkeit konstitutiv ist für die erzieherische Konzeption Sulzers, er aber hinsichtlich eben dieser Konzeption entscheidende Modifikationen vornimmt, bedarf es zunächst eines kursorischen Blickes auf diejenigen Theoreme Leibnizens und Wolffs, die für Sulzers Programm konstitutiv sind. Zentral für Leibniz wie auch für Wolff ist der Begriff der Vollkommenheit. Die von Leibniz in der Monadologie (1714)81 entwickelte ontologische Hierarchisierung unterscheidet die Monaden als einfache, d.h. nicht ausgedehnte und daher nicht teilbare Substanzen hinsichtlich ihrer Perzeptionsfähigkeit, des intellektuellen Potentials, und ihrer Appetition, des inneren Prinzips
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Johann Georg Sulzer: Lehrgedicht. In: ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste, in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Neue vermehrte zweyte Auflage. Leipzig 1792 [ND mit einer Einleitung von Giorgio Tonelli. Hildesheim 1970, 21994]), Bd. 3, S. 172– 221, hier S. 175. Charles Rollin: De la manière d’enseigner et d’étudier des belles lettres. 4 Bde. Paris 1726–1728; ders.: Histoire ancienne. 12 Bde. Paris 1730–1738 ; ders.: Histoire romaine. 9 Bde. Paris 1738–1741. Vgl. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 69. Vgl. ebd., S. 45; berücksichtigt man die Zahl der Übersetzungen der Werke Lockes, so scheint Locke im 18. Jahrhundert weniger als Philosoph, sondern vor allem als Pädagoge wahrgenommen worden zu sein, vgl. Jennifer Willenberg: Distribution und Übersetzung englischen Schrifttums im Deutschland des 18. Jahrhunderts. München 2008, die S. 186 acht Übersetzungen der Thougts – davon drei vor Erscheinen des Versuchs –, aber nur zwei des Essay concerning Human Understandig – allesamt nach dem Versuch erschienen – dokumentiert. Vgl. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 145–147; Locke stellt zur ›Erziehung des Leibes‹ einige »wenige und leicht zu befolgende Regeln« heraus, so etwa »viel frische Luft, körperliche Bewegung und Schlaf, einfache Kost, keinen Wein oder starke alkoholische Getränke und sehr wenig oder gar keine Medizin, nicht zu warme und enge Kleidung, besonders Kopf und Füße kühl halten und die Füße an kaltes Wasser gewöhnen und oft der Nässe aussetzen« (§ 30; John Locke: Gedanken über Erziehung. Übers. u. hg. von Heinz Wohlers. Stuttgart 2007, S. 33). Das 1714 verfasste französische, ungetitelte Manuskript erschien 1720 in deutscher Übersetzung von Heinrich Köhler unter dem Titel Lehr-Sätze von den Monaden (Leipzig 1720), 1721 folgte eine lateinische Fassung, das französische Original erschien erst 1839/40 (vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. 7 Bde. Berlin 1875–1890, Bd. 6, S. 607–623).
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eines Strebens nach Veränderung dieser Perzeption.82 Die tätige Kraft einer jeden Monade besteht in der Vorstellung, wobei jedoch der Vorstellungsverlauf einer jeden Monade in sich selbst kreist.83 Aufgrund dieser ihr eignenden ›Entelechie‹ entwickelt jede Monade aus sich selbst heraus ihre Zustände und verwirklicht so ihr Sein.84 Jede Monade strebt so der ihr potentiell innewohnenden Vollkommenheit zu. Der Fokus liegt hier auf der Prämisse von den angeborenen Ideen (animae innatae) in der Nachfolge René Descartes’,85 die Leibniz in der Theodicée (1710) gegen Francis Bacon86 und gegen John Locke verteidigt. Nach Locke liegt den Verallgemeinerungen des Verstandes stets die Erfahrung zugrunde, Erkennen bestehe immer darin, durch Analyse der beobachteten Gegenstände allgemeine Bestimmungen herauszuheben. Die Seele sei mithin zunächst inhaltslos, gleichsam ein weißes, unbeschriebenes Blatt Papier oder eine tabula rasa, die ihre Erfüllung – alle Vorstellungen, die wir haben oder natürlicherweise haben können – erst in der Erfahrung, dem Beobachten äußerer wahrnehmbarer Dinge oder der inneren Vorgänge in unserer Seele erhalte.87 Hiergegen wendet Leibniz ein, dass »[t]ieferes Nachdenken« uns lehre, dass »alles (sogar Vorstellungen und Leidenschaften) mit voller Spontaneität aus eignem Grunde erzeugt« werde.88 Als eine Art Spiegel des Universums89 stellt sich eine jede Monade den ihr zukommenden Körper und folglich aufgrund der prästabilierten Harmonie das ganze Universum ihrer graduellen Stellung innerhalb der Hierarchie gemäß vor,90 je distinkter also die Vorstellungen, je höher die intellektuellen Fähigkeiten, desto vollkommener ist das endliche Wesen. Der Wille des Menschen als Vernunftwesen ist im Allgemeinen auf das Gute gerichtet; er soll auf die uns zustehende Vollkommenheit gehen, während die höchste Vollkommenheit allein in Gott ist. Alle Arten der Freude schließen irgendeine Voll82
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Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, § 14f. In: ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Übers. von Artur Buchenau. Mit Einl. u. Anm. versehen von Ernst Cassirer. 2 Bde. Hamburg 1996, Bd. 2, S. 603–621, hier S. 605. Vgl. ebd., § 7: »Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas hinein- oder heraustreten könnte« (S. 603). Vgl. ebd., § 18. Vgl. René Descartes: Meditationes de prima philosophia [1641], III,7. In: ders.: Œuvres. Ed. par Charles Adam, Paul Tannery. 12 Bde. Paris 1897–1910 [ND Paris 1982–1991], Bd. 7, p. 1–90, hier p. 37f.); vgl. dazu auch den siebten Einwand gegen Descartes’ Meditationen in Thomas Hobbes: Elementa philosophiae. Paris 1642 (Tl. 3: De cive) u. London 1655–1658 (Tl. 1: De corpore u. Tl. 2: De homine); ders.: Vom Körper. Ausgew. u. übers. von Max Frischeisen-Köhler. Hamburg 21967, S. 173f. Vgl. Francis Bacon: Novum Organon [1620]. Hg. u. mit einer Einl. von Wolfgang Krohn. Hamburg 1999, Einteilung, S. 49. Vgl. John Locke: An essay concerning human understanding. London 1690, II,1, § 2 (Versuch über den menschlichen Verstand. Übers. von Carl Winckler. 2 Bde. Hamburg 41981, Bd. 1, S. 107f.). Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de théodicée sur la bonté de dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal. Amsterdam 1710, p. 296 (Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Übers. von Artur Buchenau. Hamburg 1996, S. 306f., gegen Bacon; gegen Locke vgl. ebd., Anhang III: »Bemerkungen zu der Schrift vom Ursprung des Uebels, welche vor kurzem in England erschienen ist« 4, S. 422); in den Nouveaux essais sur l’entendement humain tritt die Kritik an Locke weit deutlicher hervor. Vgl. Leibniz: Monalodogie (s. Anm. 82), § 63. Vgl. ebd., § 62.
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kommenheit ein, wenn man sich aber auf sinnliche oder andere Freuden beschränkt zum Nachteil weit größerer Güter wie der Gesundheit, der Tugend, der Vereinigung mit Gott, der Glückseligkeit, so besteht der Fehler in der Hemmung alles ferneren Strebens.91
Bestimmung des Menschen ist es demnach, sich so weit wie möglich zu vervollkommnen. Und je mehr die Geschöpfe sich der höchsten Vollkommenheit – Gott – nähern, desto mehr nähern sie sich der vollkommenen Glückseligkeit.92 Auch für Sulzer kommt der Mensch als »endliche[s] Wesen« aus den Händen seines Schöpfers begabt mit allem, was es bedarf um so glücklich zu seyn, als es nach seinen Verbindungen und Verhältnissen mit allen übrigen Wesen seyn kann. Aber eh es das wird, muß es erst nach und nach seine Fähigkeiten entwickeln. Sein Daseyn fängt mit einer sehr dunklen und höchstschwachen Empfindung desselben an. Seine ersten Ideen sind ganz natürlich sehr verwirrt, und nur von sehr schwachen Empfindungen begleitet. Unterdessen werden die angebornen Fähigkeiten immer mehr geübt, immer weiter vervollkommnet; und also wird das Wesen selbst immer aufgeklärter. Seine Vergnügungen werden immer häufiger, und auch immer ausgebreiteter und gründlicher; ohne daß sie deswegen jemals aufhören müßten; denn sie sind eines Wachsthumes ins Unendliche fähig. So wird also dieses Wesen, das in dem ersten Augenblicke seines Daseyns nur eine gedankenlose und unempfindliche Monade war, in entferntern Zeitperioden ein erhabener Geist, der sich dem unendlichen Wesen unaufhörlich nähert, so nähert, wie sich ein endliches Wesen dem unendlichen nähern kann.93
Bleibt Sulzer mit der Betonung der angeborenen Ideen und dem Konnex zwischen Vollkommenheit respektive Vervollkommnung und Glückseligkeit Leibniz wie Wolff verbunden, so differenziert er den Vollkommenheits- wie den Glückseligkeitsbegriff auf der Grundlage wolffscher Reflexionen. Ist für beide Philosophen Vollkommenheit zunächst der consensus in verietate, also die größtmögliche Einheit in der größtmöglichen Vielfalt,94 so bereiten Wolff unter anderem krankhafte Veränderungen oder Unregelmäßigkeiten der Kreaturen bei einer solchermaßen bestimmten Vollkommenheit Schwierigkeiten. In der Folge erhält der Vollkommenheitsbegriff für Wolff eine heuristische Funktion für je spezifizierte Anwendungsbereiche von ›Vollkommenheit‹, womit dem Begriff zwar eine erkenntnisleitende Funktion zukommt, er selbst aber noch keine Erkenntnis ist.95 Auch Sulzer, der Vollkommenheit ebenfalls als consensus in varietate bestimmt,96 benennt äußere, mit »wirkliche[r] oder eingebildete[r] Difformität oder Unvollkommenheit« bzw. mit physischen Fehlern97 behaftete Gegenstände als unserer 91 92 93 94
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Leibniz: Theodicée (s. Anm. 88) I,33, S. 113. Vgl. ebd., I. Anhang: »Kurzer Abriß der Streitfrage auf schulgerechte Beweise gebracht«, VIII. Einwand, S. 402. Johann Georg Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen [1754]. In: VS 1, S. 323–347, hier S. 340. Vgl. den Brief Leibnizens an Wolff vom 18. Mai 1715 (Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolff. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Halle 1860 [ND Hildesheim 1971], S. 172; Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 71), § 152. Vgl. Christian Wolff: Philosophia prima sive ontologia, methodo scientifica pertractata. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 71), Abt. 2, Bd. 3, § 504. Vgl. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 31), S. 25–28; Sulzer spricht zwar in diesem Kontext von Schönheit, doch nennt er »alle Gegenstände schön, die unmittelbar der Einbildungskraft oder dem Verstande gefallen« (ebd., S. 25). Vgl. zum ›Fehler‹ auch Johann Georg Sulzer: Fehler. (Schöne Künste.). In: ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste (s. Anm. 76), Bd. 1, S. 217–219.
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Vervollkommnung – und damit der höchsten Vollkommenheit – ursächlich zuwiderlaufend und ›Schmerz‹ auslösend.98 Gleichwohl ist Sulzer von der Wohlgeordnetheit der Natur durch einen Schöpfergott überzeugt, Missgestaltigkeit und Fehler gibt es nur in der eingeschränkten Perspektive des Menschen, der hier in Frage stehende Schmerz gründet also auf dem Unvermögen bzw. dem noch nicht ausreichend und differenziert entwickelten Vermögen, die Ordnung der Natur zu erkennen.99 Nun ist Schmerz auch nach Leibniz die Empfindung der Unvollkommenheit, wie die Lust die Empfindung der Vollkommenheit ist.100 Wolff aber ändert diese Formel dahingehend ab, dass Lust die anschauende Erkenntnis (»cognitio intuitiva«) irgendeiner, wahren oder nur vermeinten Vollkommenheit ist.101 Der Mensch tritt also den ihm Lust oder Schmerz bereitenden Gegebenheiten nicht nur sinnlich empfindend, sondern auch qualitativ wertend gegenüber. Hier schließt Sulzer an. Zwei Hauptvermögen der Seele gebe es, das »Vermögen, sich etwas vorzustellen, oder die Beschaffenheit der Dinge zu erkennen«, und das »Vermögen zu empfinden oder auf eine angenehme oder unangenehme Art gerührt zu werden«.102 Ersteres ist die »erste Eigenschaft«, die ›Grundkraft‹ der menschlichen Psyche, Ideen zu haben, doch hängt deren materielle Beschaffenheit »einzig und allein von der Organisationsart der einzelnen Sinne« ab.103 Damit vertritt Sulzer jedoch keinen einseitigen Sensualismus, denn Sinnesempfindungen entstehen ihrer Form nach immer erst durch die »thätige Kraft der Seele«,104 womit jede Wahrnehmung nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv bedingt ist.105 Denn beim Vorstellen respektive »Nachdenken« ist der Verstand »mit einer Sache beschäfftiget, die er als ausser sich betrachtet«, und zwar so, dass er »ein abstraktes Wesen« wird, »das mit nichts in der Welt zusammenhängt«.106 Sulzer antizipiert hier Aspekte von Johann Nicolas Tetens’ psychologischer Analyse der Seele,107 wonach der Stoff unserer Begriffe von den Empfindungen, als »Veränderung unsres Zustandes, [als] neue Modification in der Seele«,108 herrührt, deren Form aber auf der Denk98 99
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Vgl. Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (s. Anm. 93), S. 327. Vgl. dazu Johann Georg Sulzer: Unterredungen über die Schönheiten der Natur nebst moralischen Betrachtungen über besondere Gegenstände der Naturlehre. Berlin 1770 [ND Frankfurt a. M. 1971], S. 92–116; die Versuche einiger moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur entstanden bereits zwischen 1740 und 1745, gedruckt Berlin 1745, die Unterredungen über die Schönheiten der Natur erschienen zuerst Berlin 1750. Vgl. den Brief Leibnizens an Wolff vom 21. Februar 1705 (Briefwechsel [s. Anm. 94], S. 18); vgl. Leibniz: Nouveaux essais (s. Anm. 75), II, 21, § 42 (Neue Anhandlungen über den menschlichen Verstand. Hg. von Ernst Cassirer. Hamburg 1996, S. 174). Vgl. Christian Wolff: Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata [1732]. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 71), Abt. 2, Bd. 5, § 511. Johann Georg Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet [1763]. In: VS 1, S. 225–243, hier S. 225. Johann Georg Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft [1758]. In: VS 1, S. 244–281, hier S. 249. Vgl. Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (s. Anm. 102), S. 248–252. Vgl. auch Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 31), S. 86: »Der Schmerz, z. B. ist nur eine Idee; denn der Geist ist es, der ihn empfindet, und der Geist kann nur Ideen empfinden.« Vgl. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 103), S. 229; vgl. auch Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 31) S. 9. Vgl. Johann Nicolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. 2 Bde. Leipzig 1777 [ND Hildesheim 1979], Bd. 1, S. IV. Vgl. ebd., S. 166f.
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kraft beruht,109 auf den »Wirkungen des Vermögens der Seele, womit sie Verhältnisse und Beziehungen in den Dingen erkennt.«110 Begriffe sind also bearbeitete Empfindungen.111 Hinsichtlich einer Vervollkommnung des Menschen sind für Sulzer nun zwei der Vorstellungskraft teilhaftige Vermögen von eminenter Bedeutung, nämlich die Einbildungskraft und das Gedächtnis.112 Während aber letzteres nur reproduziert, indem es der »erworbenen Ideen wieder erinnern, und sie erkennen« lässt,113 ist ersteres perzeptiv, produktiv und reproduktiv tätig,114 denn es »bearbeitet« »die Gegenstände, welche ihr die Sinne überliefert haben«, indem es »entweder neue daraus [bildet], oder [...] diejenigen [wiederholt], die den Sinnen nicht mehr gegenwärtig sind.«115 Anders als Tetens aber trennt Sulzer noch nicht terminologisch genau zwischen der Empfindung als dem, was »wir nicht sowohl für eine Beschaffenheit von uns selbst ansehen, als vielmehr für eine Abbildung eines Objekts, das wir dadurch zu empfinden glauben« und dem Gefühl (»Empfindniß«) als dem, »wovon ich weiter nichts weis, als daß es eine Veränderung in mir selbst sey, und es nicht so wie jenes auf äußere Gegenstände beziehe.«116 Für Sulzer hingegen ist ›Empfindung‹ eine »Handlung der Seele«, eine Vorstellung, die aber »mit dem Gegenstande, der sie hervorbringt, oder veranlasset, nichts gemein hat«, die Seele ist »bloß mit sich selbst beschäfftiget«, wird »bloß ihren eigenen Zustand deutlich gewahr«.117 Diese aber ist sowohl psychologisch als auch moralisch besetzt. Psychologisch bedeutet Empfindung eine Vorstellung, in so fern sie einen angenehmen oder unangenehmen Eindruk auf uns macht, oder in so fern sie auf unsre Begehrungskräfte würkt, oder in so fern sie die Begriffe des Guten oder Bösen, des Angenehmen oder Widrigen erweckt [...]. In moralischem Sinne ist die Empfindung ein durch öftere Wiederholung zur Fertigkeit gewordenes Gefühl, in so fern es zur Quelle gewisser innerlicher oder äußerlicher Handlungen wird.118
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Vgl. ebd., S. 336. Ebd., S. 295. Vgl. ebd., S. 340. Vgl. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 103), S. 265; Sulzer trennt hier das Gedächtnis von der Einbildungskraft, ganz im Gegensatz zu Wolff, der dieses als unteres Erkenntnisvermögen bestimmt, das die von der Einbildungskraft reproduzierten Ideen lediglich wiedererkennt, vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 71), § 249: Gedächtnis ist das »Vermögen Gedancken, die wir vorhin gehabt haben, wieder zu erkennen, daß wir sie schon gehabt haben, wenn sie uns wieder vorkommen«; vgl. Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung (s. Anm. 64), S. 198. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 103), S. 265. Vgl. zur traditionellen Bestimmung der Einbildungskraft u.a. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 71), § 235 (Hervorhebung im Text): »Die Vorstellungen solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pfleget man Einbildungen zu nennen. Und die Kraft der Seele dergleichen Vorstellungen hervorzubringen, nennet man die Einbildungskraft.« Sulzer: Untersuchungen über den Ursprung (s. Anm. 31), S. 26f.; vgl. auch Johann Georg Sulzer: Einbildungskraft. (Schöne Künste.) In: ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste (s. Anm. 76), Bd. 2, S. 10–15, hier S. 10: Die Einbildungskraft ist das »Vermögen der Seele die Gegenstände der Sinne und der innerlichen Empfindung sich klar vorzustellen, wenn sie gleich nicht gegenwärtig auf sie würken.« Vgl. Tetens: Philosophische Versuche (s. Anm. 107), Bd. 1, S. 214f. Vgl. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 103), S. 229f. Johann Georg Sulzer: Empfindung. (Schöne Künste.). In: ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste (s. Anm. 76), Bd. 2, S. 53–59, hier S. 53f.
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Wird nun die Vorstellungskraft zu »einer lebhaften Wirksamkeit gereizt«, so empfindet die Seele dies als angenehm, trifft die Vorstellungskraft auf »ein merckliches Hinderniß«, so ist die Empfindung unangenehm.119 Hinsichtlich der angenehmen Empfindungen, der ›Vergnügen‹ der Seele unterscheidet Sulzer drei Arten, das sinnliche, das intellektuelle und das moralische, die sich hierarchisch ordnen lassen.120 Während nämlich das sinnliche Vergnügen immer auf den Moment, auf die Dauer des Sinnenreizes beschränkt bleibt,121 ist das intellektuelle Vergnügen zwar dauerhafter, setzt aber notwendig spezifische (Vor-)Kenntnisse, also eine gewisse Bildung voraus,122 worüber hinaus seine »Gegenstände [...] Spekulationen [sind], die an sich wenig rühren.«123 Demgegenüber erfordert das moralische Vergnügen »nur allgemeine und leicht zu erwerbende Eigenschaften des Geistes«, ist also »für den großen Haufen« und »Jedermanns Fähigkeiten« zugänglich,124 und seine Gegenstände sind nicht nur solche, die »in die Sinne fallen«, sondern sie stehen auch mit der »Glückseligkeit in unmittelbarer Verbindung«, da die moralischen Ideen so zusammengesetzt und vielumfassend sind, dass man mit ihrer völligen Entwickelung nicht fertig werden kann; und das giebt denn weiter dem daher entstehenden moralischen Vergnügen eine sehr große Lebhaftigkeit
und führt so »natürlicher Weise andere moralische Vergnügungen« – und dies nicht nur der eigenen Seele – »mit sich«.125 Zielen die sinnlichen Vergnügen nur auf unsere »Erhaltung« und bergen immer auch die Gefahr unserer Zerstörung, so leisten die intellektuellen Vergnügen ebenfalls einen Beitrag, um unsere Natur der Vollkommenheit anzunähern, in welcher »das höchste Gut besteht«, denn ihr Genuss ist immer mit einer Vervollkommnung der intellektuellen Fähigkeiten verbunden.126 Das Gedächtnis kann die dem intellektuellen Vergnügen zugrundeliegenden Ideen in ihrer »ursprünglichen Klarheit« jederzeit und beliebig oft reproduzieren und so auf Dauer konservieren, gleichwohl aber machen sie die »schwächsten Eindrücke auf die Seele«, sie »rühren weit weniger als die sinnlichen Empfindungen«.127 Diese hingegen werden ebenso wie moralische Empfindungen nicht mittels des Gedächtnisses, sondern mittels der Einbildungskraft nicht nur vorgestellt, sondern auch reproduziert. Obgleich aber die »Ideen abwesender Dinge eine ähnliche Wirkung auf uns thun, als die Dinge selbst, die sie vorstellen«,128 bleibt etwa die Erinnerung an ein opulentes Mahl aufgrund des nur auf den Moment bezogenen sinnlichen Genusses im119
120
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Vgl. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 31), S. 18 (Hervorhebung im Text); Empfindung ist also »jede Vorstellung, in so fern sie angenehm oder unangenehm ist, oder in so fern sie Verlangen oder Abscheu hervorbringt« (Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft [s. Anm. 103], S. 229). Vgl. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 31), S. 24; alle genannte Vergnügen aber »beziehen sich am Ende [...] auf die intellektuellen Fähigkeiten der Seele« (ebd., S. 25), sie »entsprieß[en] [...] aus einerley Quelle« (ebd., S. 81). Vgl. ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 75 sowie generell ebd., S. 25–50. Ebd., S. 97. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 97f. Vgl. ebd., S. 76 (Hervorhebung im Text). Vgl. ebd., S. 62f. Ebd., S. 85.
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mer nur der »Schatten eines genoßenen Vergnügens«.129 Ganz anders verhält es sich mit den moralischen Ideen: Je deutlicher diese sich einbilden, desto lebhafter, desto stärker wird die Empfindung, ja die »Idee eines Guts oder Uebels [macht] eben die Eindrücke auf uns [...], als das Gut oder Uebel selbst«.130 In diesem Sinne wird die Einbildungskraft als Instrument zur Erreichung der Vollkommenheit und der Glückseligkeit funktionalisiert. Denn da die höchste Glückseligkeit nicht ohne die höchste Vollkommenheit bestehen kann; so muß es auch unsre angelegentlichste Sorge seyn, uns immer vollkommener zu machen. So lange wir empfinden, daß wir noch vollkommner seyn können, als wir sind; so lange können wir auch gewiß noch glücklicher seyn, als wir sind. Die frohe Hoffnung, daß unsere Vollkommenheit und Glückseligkeit unaufhörlich wachsen werde, muß uns ermuntern, mit Vergnügen auf der Bahn fortzugehen, die vor uns eröffnet ist.131
Die »Natur« der »verständigen Wesen« »selbst« hat diese zwar »einer unaufhörlichen Vervollkommnung fähig« gemacht,132 um die Fähigkeit jedoch umzusetzen, um also die Seele »vollkommner zu machen, d. h. die Glükseligkeit zu befördern«, muss man der Seele »zu ihrer Wirksamkeit die nöthigen Ideen« verschaffen respektive den »Mangel an Ideen ersetzen.«133 Der Mensch vermag also selbst etwas an der vermeintlichen Beschränkung seiner Glückseligkeit zu ändern, indem er sein Wissen vergrößert. Die Ideen eines jeden menschlichen Wesens sind »durch den Grad seiner Fähigkeit, und durch die Zeit, in welcher es dieselbe hat vervollkommnen können, [...] ganz verschieden bestimmt« und »eine lange Zeit hindurch nur sehr eingeschränkt« – so lange nehmlich das verständige Wesen nur einen gewissen Theil des Ganzen zu übersehen fähig ist. Nach und nach lernt es immer mehr übersehn, und seine Ideen werden also auch immer mehr erweitert und berichtigt.134
3. Empfinden und Vorstellen Dieser Konnex von höchster Vervollkommnung und höchster Glückseligkeit bleibt Sulzers primäres (Erziehungs-)Ziel. Einzig gestützt auf sinnliche Eindrücke und die wenigen Begriffe, die »zum allgemeinen Menschenverstande gehören«, aber kann sich die Wirksamkeit der Seele, 129 130 131
132 133
Vgl. ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 85f. Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (s. Anm. 93), S. 347; auch nach Leibniz sind Vollkommenheit und Glückseligkeit miteinander verwoben, denn die Lust ist »ein Gefühl der Vollkommenheit« und das Glück »eine dauerhafte Lust«, »ein Weg von Lust zu Lust« (vgl. Leibniz: Nouveaux essais [s. Anm. 75], II, 21, § 42; Neue Anhandlungen [s. Anm. 100], S. 174), ebenso wie für Wolff die Glückseligkeit der »Zustand einer beständigen Freude« ist und das höchste Glück des Menschen im unablässigen Fortgang zur höheren Vollkommenheit besteht (vgl. Christian Wolff: Vernüfftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit [Deutsche Ethik]. In: ders.: Gesammelte Werke [s. Anm. 71], Abt. 1, Bd. 4, § 44). Vgl. Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (s. Anm. 93), S. 347. Vgl. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 31), S. 79f.
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die »allein den Grund alles Vergnügens enthält«, nicht entwickeln. Es lassen sich nicht die geringsten Ideen schöpfen – der Mensch »lebt also in einer fast thierischen Dummheit und Unempfindlichkeit fort«.135 Die Ursachen dieser »Störung« gilt es zunächst zu entfernen und dem »Geiste diese Freyheit«, nämlich »innerlich geschäfftig zu seyn« zu geben.136 Doch gibt es immer wieder Kräfte, die den Menschen nötigen, »gegen [sein] Gutbefinden zu handeln«, ihn nötigen, »etwas für falsch oder wahr anzusehen, wovon wir doch zuverlässig wissen, daß es wahr oder falsch ist«.137 Die Ursachen dieser der Vervollkommnung und damit der Glückseligkeit ursächlich zuwiderlaufenden Missvergnügens können innerer, aber auch äußerer Natur sein. Als innere Ursachen sind dies einerseits die »Schwäche und eingeschränkte Fähigkeit des Geistes, welche ihm nicht erlaubt in allen seinen Untersuchungen so glücklich fortzugehn, wie er wünscht«, und andererseits die »Unvollkommenheit des moralischen Charakters, aus welcher Empfindungen und Handlungen entspringen, die den ewigen Gesetzen der Ordnung und der moralischen Schönheit zuwider sind.«138 Äußere Ursachen für den Schmerz sind dem Menschen äußerliche Gegenstände, die mit wirklicher oder eingebildeter Unvollkommenheit behaftet, ihm körperliche, oder aufgrund physischer oder moralischer Fehler139 geistige Schmerzen bereiten, können ebenso aber auch in den »Begebenheiten der Welt« liegen, »welche unseren Wünschen, unseren Absichten und Entwürfen widersprechen.140 Da die aus der Beschaffenheit seiner Ideen notwendig entspringenden und durch sie bestimmten Wünsche des endlichen Wesens unmöglich immer mit den Gegebenheiten der Welt in Übereinstimmung stehen können, betrügt es sich also nicht selten selbst in seinen »Erwartungen des Künftigen«, wünscht das Unmögliche.141 Wie Wolff unterscheidet also auch Sulzer zwischen ›wahrer‹ Glückseligkeit und einer bloß vermeintlichen, d.h. einer solchen Glücksseligkeitsvorstellung, die sich im Nachhinein als verfehlt herausstellt, da die Freude nicht beständig fortdauert.142 Was aber »von meiner Unwissenheit und meinem Irrthume herkommet, kan ich in keinem Falle der Sache zuschreiben, die ich nicht erkenne, und von der ich einen Irrthum hege«,143 d.h., wenn wir eine Sache nicht wollen, ist keine andere Ursache, als daß wir sie nicht erkennen. Wenn wir gar einen Abscheu davon haben, so müssen wir sie uns anders vorstellen als sie sind.144
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Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (s. Anm. 93), S. 342. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Johann Georg Sulzer: Erklärung eines psychologisch paradoxen Satzes: daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne ersichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe urtheilet und handelt [1759]. In: VS 1, S. 99–121, hier S. 105. Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (s. Anm. 93), S. 325f. Vgl. zum ›Fehler‹ auch Johann Georg Sulzer: Fehler. (Schöne Künste.). In: ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste (s. Anm. 76), Bd. 1, S. 217–219. Vgl. Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (s. Anm. 93), S. 327. Vgl. ebd., S. 342f. Vgl. Wolff: Deutsche Ethik (s. Anm. 131), § 54; Leibniz thematisiert den Gegensatz zwischen wahrer und eingebildeter Glückseligkeit in den Nouveaux essais, vgl. etwa Leibniz: Nouveaux essais (s. Anm. 75), II, 21, § 51 (Neue Anhandlungen [s. Anm. 100], S. 180). Wolff: Deutsche Ethik (s. Anm. 131), § 56. Ebd., § 6.
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Um zu beantworten, warum solche Kräfte »immer die Oberhand über die Wirkungen des Willens behalten«, nimmt Sulzer Zuflucht in der »von Leibnitz angefangenen und von seinen Schülern weiter geführten Theorie von den dunklen Vorstellungen«, dass es nämlich [a]ußer den klaren, oder denjenigen Vorstellungen, deren sich die Seele bewußt ist, und die ihre Aufmerksamkeit festhalten, [...] es zugleich eine große Menge anderer, mehr oder weniger dunkeln, Vorstellungen [gebe], die sie [die Seele] entweder gar nicht oder doch so wenig bemerket, daß sie dieselbe nicht unterscheidet.145
Wie aber sind diese dunklen Vorstellungen zu definieren? Gemeinhin übt die Seele das Empfindungs- und das Vorstellungsvermögen gleichzeitig aus – es gibt aber Fälle, in denen das eine oder das andere Vermögen so sehr die Oberhand gewinnt, dass es allein die ganze Wirksamkeit der Seele zu beschäftigen scheint.146 Hat das Empfindungsvermögen die Oberhand, ist es uns weder möglich, uns plötzlicher Eindrücke zu erwehren, also zu empfinden, noch ist es uns möglich, diese Eindrücke durch Vernunftschlüsse zu mildern: Wir empfinden das Verlangen, oder den Abscheu, ohne zu wissen, warum; wir werden von Kräften in Bewegung gesetzt, die wir nicht kennen. Es ist also nicht möglich, ihnen geradezu zu widerstehen.147
Als Konsequenz dessen negiert Sulzer die Willensfreiheit gegenüber den Empfindungen, der »Mensch ist nicht Herr über die ersten Bewegungen seiner Seele«, es »bleibt ihm nicht die geringste Freyheit übrig, zu empfinden oder nicht zu empfinden«.148 Die Entstehung von Empfindungen stellt Sulzer neurophysiologisch vor: Während bei einer Vorstellung einzig die Nerven im Gehirn aktiv seien, pflanze sich, wenn eine Vorstellung zur Empfindung werde, die Bewegung der Hirnnerven über eine noch unbekannte Verbindung in die Brust (Zwerchfell) fort, und dies sei »der Augenblick, in welchem die Vorstellung die Empfindung hervorbringt.«149 Dies geschehe umso heftiger, je dunkler, je verworrener eine Vorstellung sei. Aber eine Vorstellung ist nur darum verworren, weil ihre Theile, oder die einfachen Ideen, woraus sie besteht, in Eins vermenget sind, und auf einmal wahrgenommen werden.150
Soll eine Vorstellung »deutlich« werden, müsse man die »Theile derselben von einander absondern, und jeden insbesondere betrachten« – also klar denken –, denn bei einer einzigen Idee oder einer einzigen Vorstellung werde »nur ein einziger Nerve [im Gehirn] merklich erschüttert«, dessen Wirkung aber zu schwach sei, um »seine Erschütterung den Nerven der Brust mitzutheilen«.151 Nicht nur die Vorstellungen, alle Handlungen der Seele können dunkel, verworren sein: Es gibt dunkle Vorurteile, die wir fällen, »ohne uns dessen bewußt zu seyn, dunkle Empfindungen, ein dunkles Verlangen und einen dunklen Abscheu« – kurz
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Sulzer: Erklärung eines psychologisch paradoxen Satzes (s. Anm. 137), S. 107. Vgl. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 103), S. 225. Ebd., S. 241f. Ebd., S. 242. Sulzer: Erklärung eines psychologisch paradoxen Satzes (s. Anm. 137), S. 112f. Ebd., S. 113. Vgl. ebd.
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Udo Roth alle Kräfte der Seele können sich auf zweyerlei Art äußern; auf eine deutliche und so, daß wir wissen was wir thun, und uns davon Rechenschaft geben können; oder auf eine dunkle Art und so, daß wir selbst nicht wissen, wie die Sache in uns vorgeht.152
Letztere aber sind »die Feinde, die im Hinterhalte verborgen liegen: man wird von ihnen geschlagen, und sieht nicht, wo die Schläge herkommen«.153 Sich ihrer zu erwehren, ist geradezu unmöglich, der Mensch wird immer ein Sklave seiner Leidenschaften und seiner Vorurtheile bleiben, so lange er ihnen weiter nichts als die Vernunft entgegen zu setzen weiß.154
Hierin, im verworrenen Denken, liegt, so Sulzer weiter, der wahre Ursprung der tyrannischen Macht der Vorurtheile, der Leidenschaften, der vorgefaßten Meynungen, und so vieler andern Feinde der Vernunft. Sie stehen in den dunkeln Gegenden der Seele, wo man ihre feindlichen Bewegungen und listigen Unternehmungen nicht eher gewahr wird, bis es zu späte ist, sich dagegen zu setzen.155
Die Konsequenz, die Sulzer hieraus zieht, liegt in einer umfassenden Erziehung. Denn je mehr Zeit der Mensch darauf verwendet, die »Gründe natürlicher Dinge zu wissen«,156 seine »Kenntnisse vollkommner zu machen, desto mehr nähert es sich der höchsten Glückseligkeit«.157
4. Dichtung als Instrument der Erziehung Um die höchste Vollkommenheit und Glückseligkeit zu erreichen, deren ein endliches verständiges Wesen fähig ist, gilt es demnach, die ›Feinde‹ der Vernunft beizeiten auszumerzen oder – weit besser noch – sicherzustellen, dass sich diese gar nicht erst festsetzen. Und zwar schon im frühesten Kindesalter, denn die dunklen Empfindungen rühren aus »den Jahren unsrer Kindheit« her, sie beziehen sich auf eine Idee oder einen Vorfall aus diesen Jahren, »welche die Zeit ganz verdunkelt hat« – und das ist »der Ursprung jener dunklen Kräfte«.158 In seinem Versuch plädiert Sulzer denn auch dafür, die Kinder bereits früh in die Obhut eines – philosophisch gebildeten – Pädagogen zu geben, möglichst schon im ersten Lebensjahr, denn das bestehende Erziehungssystem müsse scheitern, weil bei dem bisher recht spät angesetzten Beginn der Erziehung die Kinder durch Eltern oder durch ihr Umfeld bereits ›verzogen‹ seien.159 Es würde zu weit führen, alle von Sulzer zur Verwirklichung des geordneten Denkens herangezogenen 152 153 154 155 156 157
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Ebd., S. 108. Ebd., S. 117. Ebd.; vgl. dazu Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 71), § 491: »[S]o macht die Herrschaft der Sinne, der Einbildungs-Kraft und Affecten die Sclaverey des Menschen aus.« Sulzer: Erklärung eines psychologisch paradoxen Satzes (s. Anm. 137), S. 117. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 74. Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (s. Anm. 93), S. 339; vgl. dazu auch Wolff: Deutsche Ethik (s. Anm. 131), § 53: »Da nun das höchste Gut durch die Erfüllung des natürlichen Gesetzes erhalten wird [...]; so ist auch die Beobachtung dieses Gesetzes das Mittel, wodurch man seine Glückseeligkeit erhält.« Sulzer: Erklärung eines psychologisch paradoxen Satzes (s. Anm. 137), S. 110. Vgl. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 126.
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Maßnahmen en detail darzulegen,160 doch sind es nicht nur intellektuelle Kriterien, die er anführt, sondern – hierin Locke verbunden – auch die körperliche Ertüchtigung;161 und zwar für beide Geschlechter, vor allem aber für Mädchen, denn es ist ihnen »in Sachen, wozu ihr Geschlecht bestimmt ist, sehr nützlich, wenn sie gesunde und starke Leiber haben.«162 Da ein »endliches verständiges Wesen« aber nicht eher glücklich sein könne, »bis es eine gewisse Reihe deutlicher Ideen gehabt« habe,163 bleibt die Vermittlung eines wohlgeordneten Denkens die vornehmste Aufgabe der Erziehung – denn das »Fundament der ganzen Vernunftlehre oder des richtigen Denkens sind deutliche Begriffe«.164 Mit Rekurs auf das in der Monadologie anhand der ›Fensterlosigkeit‹ der Monaden dargelegte principium identitatis indiscernibilium165 und dessen Anwendung hinsichtlich der verstandesmäßigen Erfassung der Begriffe bei Wolff166 sowie mit deutlicher Aufnahme wolffscher Überlegungen zur Vorgehensweise bei der Vermittlung167 entwirft Sulzer eine »Kindermetaphysik«,168 die darauf abzielt, auch die abstraktesten Begriffe durch Vergleichungen deutlich entwickeln zu lassen. Man beginne bei der Bildung der Begriffe mit sehr leichten Sachen, die deutlich ins Auge fallen, lasse ihre Unterschiede benennen und erklären; das Kind werde sodann die hieraus gewonnenen Erkenntnisse auf an160 161 162
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Vgl. zu den vier Altersstufen, die Sulzer unter Berücksichtigung der Ausbildung eines klaren, geordneten Denkens im Blick hat und den altersspezifischen Ausformungen ebd., S. 125–167. Vgl. ebd., S. 145–147 – gegenüber Locke stellt Sulzer übrigens heraus, dass alle Kinder auch schwimmen lernen sollten, vgl. ebd., S. 146. Ebd., S. 147; ganz anders Kant, der zwar darauf hinweist, dass zeitgenössisch »Mädchen nur dressirt zu Manieren, aber nicht gebildet zu Sitten und guter Denkungsart« werden (Immanuel Kant: Reflexionen zur Anthropologie. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin, Leipzig 1910ff. [im Folgenden: AA Band, Seite], hier AA XV.2, S. 564), die ›Erziehung‹ aber auf das männliche Geschlecht beschränkt, denn die weibliche Natur müsse erst noch »besser studiert« werden, um Vorgaben für die Erziehung zu machen – bis dahin sei es am besten, »die Erziehung der Tochter den Müttern zu überlassen und sie mit Büchern zu verschonen« (ebd., S. 570). Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (s. Anm. 93), S. 337. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 51. Vgl. Leibniz: Monadologie (s. Anm. 82), § 9: In der Natur gibt es niemals zwei Wesen, die einander vollkommen gleichen und bei denen sich nicht ein innerer oder ein auf eine innere Bestimmtheit gegründeter Unterschied entdecken lässt. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 71), § 286: »Es erweiset sich demnach der Verstand bey den Begriffen darinnen, daß wir dasjenige, was in einem Dinge, so wir uns vorstellen, anzutreffen ist, von einander unterscheiden, und indem wir es gegen dasjenige halten, was in andern Dingen verschiedenes angetroffen wird, den Unterschied der Dinge von einander bestimmen, wodurch wir zur Erklärung gelangen«; vgl. auch Christian Wolff: Vernüfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkänntniß der Wahrheit [Deutsche Logik]. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 71), Abt. 1, Bd. 1, § 36. Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechts [Deutsche Politik]. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 71), Abt. 1, Bd. 5, § 90: »Diese Arbeit wird folgender gestalt vorgenommen. Man leget ihnen Sachen vor, davon sie schon klare Begriffe haben und die ihnen bereits bekannt sind. Alsdenn zeiget man ihnen nach einander alles, was an ihnen verschiedenes anzumercken; lässet sie darauf acht haben, wie eines auf das andere folget und mit ihm verknüpft ist, auch alles mit seinem Namen nennen«. Vgl. Hirzel an Gleim über Sulzer (s. Anm. 67), Bd. 2, S. 212f.; Hirzel legt den »Entwurf« in die 1770er Jahre, was auch Blanckenburg: Einige Nachrichten (s. Anm. 68), S. 122 aufgreift, doch ist diese ›Kindermetaphysik‹ bereits im Versuch über die Erziehung greifbar.
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dere ihm bekannte Gegenstände ausweiten. Hernach nehme man etwas schwerere Dinge, dann bestimmte Tätigkeiten, etwa von Handwerkern, und endlich könne man auf abstrakte Begriffe wie etwa die sittlichen Handlungen kommen.169 Natürlich hat das von den Erziehern gelebte Beispiel die größte Wirkung auf die Kinder, doch wo findet man genug vernünftige, tugendhafte und wohlgesinnte Leute; wo Eltern, Wärterinnen und Lehrer, die vernünftig genug sind, den Kindern von klein auf mit gutem Beispiel voranzugehen?170 Da diese Forderung wohl ebenfalls auf immer nur ein Traum bleiben werde, legt Sulzer besonderes Gewicht auf die zweite Art von Exempeln, die beispielhaften Erzählungen und »Historien«, um das Telos, die Erziehung zur Tugendhaftigkeit zu erreichen. Auch hierin bleibt er ganz Wolff verpflichtet, der den Nutzen »wahre[r] Exempel, oder, wo man dergleichen nicht haben kan, durch erdichtete, (welche Fabeln genennet werden)« darin sah, »daß der Erfolg der guten und bösen Handlungen dadurch handgreiflich« werde.171 Unter handgreiflich versteht Wolff die ›Verwandlung‹ der »figürliche[n] Erkänntniß des guten und bösen in eine anschauende«,172 womit ein Nachdenken initiiert wird, nimmt dieses doch »von der anschauenden Erkäntniß [seinen] Anfang.«173 Wolff distanziert sich mit seiner Exempel- und Fabellehre174 eindeutig von der zeitgenössischen moralphilosophischen und -didaktischen Traktatliteratur sowie der ›Stände‹- und ›Sittenlehre‹.175 Locke hatte für den jungen gentleman eine altersgemäße Lektüre gefordert, jedoch eine »leichte, vergnügliche«, eine solche, die »Unterhaltung bieten, ihn mitreißen und die Mühen seines Lesens belohnen« kann, wie die Äsopischen Fabeln und den Reineke Fuchs.176 Nach Wolff hingegen verfolgt die Fabel immer den Zweck, eine moralische Wahrheit zu demonstrieren,177 denn sie dient dazu, »Bewegungs-Gründe«, die immer die Vorstellungen des Verstandes von Gut und Böse sind, in die Seele zu bringen und das Gegenüber, das »ich lencken will«, von ihrer Richtigkeit zu überzeugen oder gegebenenfalls zu überreden. Die Vorstellungen müssen also
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Vgl. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 54f.; um Kindern etwa den Begriff ›Vollkommenheit‹ zu verdeutlichen, reiche es so aus, zunächst auf die Beschaffenheit eines Löffels oder eines Messers aufmerksam zu machen und zu zeigen, ob der Gegenstand seiner Bestimmung gemäß gut oder schlecht – also mit Mängeln behaftet – sei; vgl. auch Blanckenburg: Einige Nachrichten (s. Anm. 68), S. 122; zur Bedeutung der Sprache bei der Entwicklung klarer Begriffe vgl. Sulzers Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache und der Sprache in die Vernunft [1767] (VS 1, S. 166–198) sowie den Beitrag von Hans-Peter Nowitzki in diesem Band. Vgl. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 94–97. Wolff: Deutsche Ethik (s. Anm. 131), § 373; vgl. ebd., § 167, zu den ›wahren Exempeln‹; Wolff gibt aber den erdichteten Fabeln eindeutig den Vorzug vor den historischen Exempeln, verweisen erstere doch auf fremde Erfahrungen, vgl. Christian Wolff: Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertractata. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 71), Abt 2, Bd. 10 u. 11, hier Bd. 11, § 322: »Fabula etiam præferendæ sunt exemplis, quæ debentur experientiæ alienæ, consequenter quæ ex historia petuntur« (Hervorhebung im Text). Wolff: Deutsche Ethik (s. Anm. 131), § 373. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 71), § 846. Vgl. Wolff: Philosophia practica universalis (s. Anm. 171), §§ 250–323; vgl. dazu Dietrich Harth: Christian Wolffs Begründung des Exempel- und Fabelgebrauchs im Rahmen der Praktischen Philosophie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 41–62. Vgl. dazu den noch in den späten 1760er Jahren von einem Anonymus publizierten Kurzen Auszug der Sittenlehre über die Pflichten des Menschen zum Gebrauche der adelichen Jugend der frommen Schulen. Wien 1768. Vgl. Locke: Gedanken über Erziehung (s. Anm. 80), § 156, S. 191f.
Sulzers Konzeption der Erziehung
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dergestalt eingerichtet – ›handgreiflich‹ – sein, dass das Gegenüber »an ihrer Gewißheit keinen Zweiffel hat«.178 Erziehung auf der Grundlage von Fabeln heißt nun auch für Sulzer, den »Kindern eine Menge schöner, wahrhafter oder erdichteter Begebenheiten in wohlgesetzten Erzählungen vorzulegen« – wohlgesetzt durch »eine geschickte Feder«, die den Leser »auf das kräftigste« zu rühren vermag.179 Warum werden aber diese Arten von Wahrheiten nicht auch wie die andern in Systemen gesammlet, worüber auf hohen und niedrigen Schulen Unterricht ertheilt wird? Könnte es nicht von ausnehmenden Nuzen seyn, diese Wissenschaft in deutlichen Aphorismos zu sammeln, und mit hinlänglichen Beyspielen aus der Historie zu erläutern? Man könnte auf Schulen bald für jede Stufe des Alters solche sammeln, und der Jugend mit großem Vortheil erklären.180
Auch für Sulzer haben fiktionale Erzählungen nämlich den Vorteil, dass man die Materie den Umständen entsprechend auswählen und »reizend«,181 d.h. mit dem »Reiz der Dichtkunst bekleidet«182 gestalten kann. Dies trifft in weit höherem Maße noch für das Lehrgedicht zu. Zwar ist jede literarische Gattung geeignet, dem Menschen »nützliche Lehren [zu] geben, und dem Verstand wichtige Wahrheiten ein[zu]prägen«, doch wird im Lehrgedicht ein »ganzes System von Lehren und Wahrheiten, nicht beyläufig, sondern als die Hauptmaterie im Zusammenhang vorgetragen«.183 Der Dichter übersieht aber nicht nur »den ganzen Umfang seiner Materie« und ordnet aus den »Theilen derselben ein Ganzes«, er »mahlt den Gegenstand lebhafter« und kann so die Vorstellungskraft umso lebhafter rühren.184 Die Darstellung eines »gründliche[n] System[s] praktischer Wahrheiten« durch die Dichtung trägt dazu bei, einen Menschen »von gutem Herzen zu einem vollkommenen Menschen« zu machen, denn es ist das Werk der Philosophie diese Wahrheiten zu entdeken; aber die Dichtkunst allein kann ihnen auf die beste Weise die würksame Kraft geben. Was der reine Verstand am deutlichsten begreift, wird am leichtesten wieder ausgelöscht, weil es an nichts sinnlichem hängt. Der Dichter ist nicht nur durchaus sinnlich, sondern sucht unter den sinnlichen Gegenständen die kräftigsten aus; an diese hänget er die Begriffe und Wahrheiten, und dadurch werden sie nicht nur unvergeßlich, sondern auch einnehmend, weil sich die Empfindung einigermaassen damit vermischt.185
Für die Erziehung eignen sich so von alten wie neuen Geschichtsschreibern erwähnte wahrhafte Begebenheiten ebenso wie moralische Gespräche großer Männer – vor allem aber auch »recht auf den Zustand der Kinder eingerichtet[e]« »erdichtete Begebenheiten«.186 Als Beispiele für erstere führt Sulzer neben den äsopischen Fabeln Plutarchs Historien und die Dialoge Lucians an; bei älteren Kindern auch die des Sokrates und die Fontenelles. Erdichtete Begebenhei177 178 179 180 181 182 183 184 185 186
Vgl. Wolff: Philosophia practica universalis (s. Anm. 171), Bd. 11, § 302: »Fabula dicitur expositio facti cujusdam ficti, veritatis, præsertim moralis docendæ gratia« (Hervorhebung im Text). Wolff: Deutsche Ethik (s. Anm. 131), § 373. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 97. Sulzer: Kurzer Begriff 1759 (s. Anm. 72), § 239, S. 188. Vgl. ebd. Sulzer: Lehrgedicht (s. Anm. 76), S. 172. Ebd. Vgl. ebd., S. 172f. Ebd., S. 174. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 97.
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ten – worunter Sulzer ausdrücklich auch »wohleingerichtete Schauspiele« zählt187 – müssten nach Art des Télémaque François de Salignac de la Mothe Fénelons (1651–1715)188 strukturiert sein und, für noch kleine Kinder, wie die, »die im vierten Teil der Pamela« enthalten sind.189 Einen wie auch immer gestalteten Kanon oder auch nur eine über die genannten Titel hinausgehende Auswahl nennt Sulzer im Versuch von der Erziehung noch nicht, doch legte er eine Sammlung von in Frage kommenden Texten 1768 unter dem Titel Vorübung zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens – mit Einschränkung für den Gebrauch auf »Knaben im achten Jahre bis zum Jünglinge im sechzehnten« – vor.190 In ihr finden sich neben den obligaten Fabeln »Merkwürdigkeiten der Natur« sowie geo- und ethnographischen Bemerkungen auch Texte unter anderem von Pope, Uz, Haller und Hagedorn – ganz in Übereinstimmung mit den Angaben im Artikel Lehrgedicht der Allgemeinen Theorie des schönen Künste.191 Nach Sulzers Tod erweiterte der Rektor des Joachimsthalischen Gymnasiums, Johann Heinrich Ludwig Meierotto (1742–1800),192 sie auf das Dreifache, untergebracht in vier Bänden, von denen der vierte, »[a]allein zum Gebrauch der Lehrer« bestimmte Band die ursprüngliche Vorrede Sulzers »[v]on dem Endzweck und dem Gebrauch dieses Buchs« enthält.193
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188
189 190 191 192
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Vgl. ebd.; Schauspiele haben überdies die Vorteile, dass sie »das Leben des Beispiels im Umgang und auch noch überdies die Vorteile der Historie« haben; vgl. dazu auch Johann Georg Sulzer: Philosophische Betrachtungen über die Nützlichkeit der dramatischen Dichtkunst [1760]. In: VS 1, S. 146–165. François de Salignac de la Mothe Fénelon: Suite du quatrième livre de l’Odyssée d’Homer, ou les aventures de Télémaque, fils d’Ulysse. Den Haag, Brüssel 1699; Fénelon selbst aber will in der Éducation des filles (Paris 1687), an die sich der Télémaque vom Duktus her anlehnt, die Lektüre von Romanen und Komödien aus dem Unterricht – hier natürlich speziell der des weiblichen Geschlechts – ebenso verbannt sehen wie das Erlernen moderner Fremdsprachen wie dem Spanischen und Italienischen – letzteres natürlich wegen der Gefahr ›unsittlicher‹ Lektüre; insgesamt bleibt Fénelon Erziehungsmaximen verhaftet, wie sie auch in Lockes Gedanken über Erziehung zum Ausdruck kommen (u.a. Standeserziehung, Betonung des Praktisch-Brauchbaren, Charakterbildung etc.) und die die nachfolgende Pädagogik auch in Deutschland stark beeinflussten; Fénelons Éducation wurde bereits in den 1690er Jahren auf Veranlassung August Hermann Franckes ins Deutsche übersetzt, vgl. François de Salignac de la Mothe de Fénelon: Von der Erziehung der Töchter. Aus dem Französischen übersetzt. Mit einer Vorrede von August Hermann Francke. Halle 1698; zu Fénelon vgl. u.a. Robert Spaemann: Reflexion und Spontaneität. Studien zu Fénelon. Stuttgart 21992, ebenso Günter R. Schmidt: François Fénelon. In: Hans Scheuerl (Hg.): Klassiker der Pädagogik. 2 Bde. München 1979, Bd. 1, S. 94–104. Vgl. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 98. Johann Georg Sulzer: Vorübung zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens, zum Gebrauch einiger Klassen des Joachimthalschen Gymnasiums. Berlin 1768. Vgl. Sulzer: Lehrgedicht (s. Anm. 76), S. 174. Der Theologe Meierotto wurde 1771 auf Veranlassung Sulzers als Professor an das Joachimsthalsche Gymnasium berufen, die von ihm auf der Grundlage von Sulzer Überlegungen erstellte Lehrordnung wurde 1779 per Kabinettsorder als Vorbild für sämtliche preußische Gymnasien verbindlich; vgl. auch Jens Bruning: Das protestantische Gelehrtenwesen im 18. Jahrhundert: Pietismus – Aufklärung – Neuhumanismus. In: Hammerstein, Herrmann (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 278– 323. Johann Georg Sulzer: Vorübung zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens. Zum Gebrauch einiger Klassen des Joachimthalschen Gymnasiums. Bearb. von Johann Heinrich Meierotto. 4 Bde. Berlin 1780–1782, Bd. 4, S. I–XXXII; eine Neubearbeitung von Meierotto erschien unter dem Titel Johann Georg Sulzer: Vorübung zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens. Zum Gebrauch für Lehrer und Lernende. 3 Bde. Berlin 1799; vgl. zur Kritik an Auswahl und Zielsetzung Hans-Georg Herrlitz: Jo-
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Bei alledem darf aber nicht übersehen werden, dass die Kinder zu einem wohlgeordneten Denken angeregt werden sollen, die Auseinandersetzung mit den Texten mithin die Kinder anregen soll, »von allen Dingen, soviel als möglich, deutliche Begriffe zu bekommen.«194 Sulzer stellt hierzu wie für die Erziehung allgemein Regeln auf: Unter anderem sei das Temperament der Kinder zu berücksichtigen, das Lernen dürfe nicht als Zwang angesehen werden, man solle die Kinder auch ihrem eigenen Fleiß überlassen, die Unterweisung solle angenehm gemacht werden und – die wohl wichtigste der insgesamt acht Regeln – man solle »mehr darauf [...] sehen, wie die Kinder lernen, als wieviel sie lernen«, denn da die »Hauptabsicht bei der Unterweisung« sein solle, den Verstand der Kinder aufzuklären und ihr Urteil gründlich zu machen [...] kommt es nicht sowohl darauf an, ob sie viel oder wenig wissen, als darauf, ob sie gründlich sind.195
Um dieses Ziel zu erreichen, steht für Sulzer neben den genannten Regeln ein Verfahren im Vordergrund, welches man heute als ›Unterrichtsgespräch‹ bezeichnen würde. Ist bereits in der »Kindermetaphysik« der Weg verdeutlicht, im Gespräch Kinder auch abstrakte Begriffe entwickeln zu lassen, so ist insbesondere die Auseinandersetzung mit Erzählungen geeignet, die Entwicklung deutlicher Begriffe zu forcieren. Wie Wolff darlegte, hat »die Zergliederung der Rede eine Aenlichkeit mit der Zergliederung der Begriffe« und es kann daher bey dem Lesen denen Kindern ein Begriff davon [...] beygebracht werden, der ihnen nach diesem die Sache nicht wenig erleichtert [...]. Nehmlich eine Rede stellet eine zusammengesetzte Sache vor. Sie lässet sich in ihre Theile, als in andere weniger zusammengesetzte Sachen zergliedern, und diese ferner in Wörter, die Wörter in Sylben, die Sylben endlich in Buchstaben. Hier haben wir ein gantz klares Bild von der Fortsetzung der Zergleiderung, wenn man immer vollständigere Begriffe haben will.196
Sulzer setzt dieses über den eigentlichen Unterricht hinaus in der außerschulischen Erziehung um. Wenn nämlich die Kinder imstande sind, zu lesen und zu schreiben, solle man sie zu den im schulischen Unterricht behandelten Themen nach eigenem Gutdünken Bücher zur weiteren Lektüre wählen197 und darüber Bericht erstatten lassen, auch können man einem Schüler »oft erlauben, sich nach eigenem Gefallen ein Buch auszusuchen und zu lesen« – auch hier müsse man aber »einen schriftlichen Aufsatz von dem, was er gelesen hat, fordern.«198 Ist also bereits seit frühester Kindheit die Erziehung und Unterweisung darauf abgestellt, ein wohlgeordnetes Denken zu forcieren, so führt Sulzer auch Überlegungen darüber durch, wie die Jugend – d.h. jetzt natürlich die Jünglinge ab dem 14. Lebensjahr – weiterhin zur Tugend erzogen werden könne. Handelt er in den Gedanken über die beste Art die klaßischen Schriften der Alten mit der Jugend zu lesen (1765) die Vorzüge der Lektüre der griechischen und lateinischen
194 195 196 197 198
hann Gottfried Herders Beitrag zur Didaktik der Schullektüre. In: Paedagogica Historica. International Journal of the History of Education 4 (1964), S. 343–369. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 53. Vgl. ebd., S. 75–83, Zitat S. 80 (Hervorhebung im Text). Wolff: Deutsche Politik (s. Anm. 167), § 90. Wobei eine Vorauswahl durch den Lehrer natürlich gegeben sein muss. Vgl. Sulzer: Versuch von der Erziehung (s. Anm. 2), S. 78–80; hierher gehören auch die von den Schülern zusammengestellten Sammlungen von Merkwürdigkeiten, die ihnen im Alltag oder beim Lesen auffallen, wobei mit zunehmendem Alter eine immer komplexere Systematik erarbeitet werden solle.
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Klassiker ab,199 so verlegt er im Entwurf der Einrichtung des akademischen Gymnasiums im kurländischen Mitau (1774) das Gewicht. Unter die wichtigsten Lektionen zählt Sulzer hier diejenigen, die »unter dem Namen deutscher Lecture aufgeführt sind«. Die Lektüre zeitgenössischer »nützlicher Bücher« in deutscher Sprache soll die Jugend ebenfalls »die Annehmlichkeit einer solchen Beschäftigung fühlen, den Nutzen derselben einsehen lernen, und zugleich viel nützliche Kenntnisse bekommen« lassen, darüber hinaus sei der Zweck dieser Lektüre aber, sie im Nachdenken, zur Erforschung des Sinnes der schweren Stellen, und auch in Beurtheilung und Anwendung der Sachen selbst, die gelesen werden, zu üben.200
5. Von Wolff über Blanckenburg zu Kant Der Schwierigkeiten, die sich aus seinen Forderungen ergeben, und der Kritik an seinem Vorgehen ist sich Sulzer durchaus bewusst: Man werde gegen diese Methode vornehmlich einwenden, dass sie erstens »zu viel Zeit erfordere«.201 Die Lektüre nämlich werde »sehr langsam gehen müssen, oft würden in einer Stunde nur zwey oder drey Sätze erkläret werden« können – »allein dieses schadet nichts«, denn es gehe nicht darum, einen Autor in kurzer Zeit zu erklären, sondern darum, »daß man der Jugend angewöhne, das, was sie liest, genau zu verstehen, und darüber nachzudenken.«202 Zweitens werde man einwenden, dass man die Schulen gar nicht mit solchen Lehrern besetzen könne, die tüchtig genug seien, nach einem solchen Plan zu unterrichten. Zweifellos gebe es eine solche Einrichtung nicht, doch wäre es, so Sulzer, »nicht unmöglich sie dahin zu bringen, wenn für die Schule so gesorgt würde, wie das Beste des Staates es erfordert«.203 Und zum Dritten – Sulzer benennt dies nicht explizit, sein Biograph Blanckenburg weist 1781 jedoch mit Nachdruck darauf hin – kann man einwenden, dass »das Kind oder der Jüngling« bei der Lektüre von fiktionaler Literatur »alle die Schönheiten der Dichter fühle«.204 Denn ein wahres Werk der Einbildungskraft und Empfindung kann vorzüglich nur auf Einbildungskraft und Empfindung wirken; dieses ist ein Gesetz der Natur [sic!], das sich weder läugnen, noch hemmen läßt. 199 200 201 202
203 204
Vgl. Johann Georg Sulzer: Gedanken über die beste Art die klaßischen Schriften der Alten mit der Jugend zu lesen. In: VS 2, S. 215–237, hier S. 216–226. Johann Georg Sulzer: Entwurf der Einrichtung des von Sr. Hochfürstl. Durchl. dem Herzoge von Curland in Mitau neugestifteten Gymnasii Academici [1774]. In: VS 2, S. 145–214, hier S. 202. Sulzer: Gedanken über die beste Art (s. Anm. 199), S. 236. Vgl. ebd., S. 229; ein deutlicher Rekurs auf die im Versuch von der Erziehung dargelegte »sehr wichtig[e]« Regel, dass man darauf sehen solle, »wie die Kinder lernen, nicht wieviel sie lernen«, denn die »Hauptabsicht bei der Unterweisung soll sein, den Verstand der Kinder aufzuklären und ihr Urtheil gründlicher zu machen« (Sulzer: Versuch von der Erziehung [s. Anm. 2], S. 80; Hervorhebung im Text). Vgl. Sulzer: Gedanken über die beste Art (s. Anm. 199), S. 237. Blanckenburg: Einige Nachrichten (s. Anm. 68), S. 38 (Hervorhebung im Text); vgl. dazu auch Johann Christian Weitsch: Wilhelm und Karl oder der entdeckte Zärtlichkeitsorden. Berlin 1789, 21792, S. 8: »Sonst hatte der die Schönheiten nach dem Sulzer gefühlt und geliebt, jetzt bediente er sich seiner nur zum Schein, denn was er fühlte und dachte, war a la Siegwart gedacht, und gefühlt«; vgl. den ›sentimentalen‹ Roman Siegwart. Eine Klostergeschichte (zuerst in 2 Tlen. Leipzig 1776) des Ulmer Gymnasialprofessors Johann Martin Miller.
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Auf den lebhaften, gefühlvollen Jüngling werden also Dichter, die für ihn Dichter sind, wirken; er wird diejenigen, die seine Einbildungskraft und seine Empfindungen treffen, gern lesen; – und die andern – ungelesen lassen. [...] Die claßischen Dichter werden wahrlich mehr – buchstabirt als gelesen, und mehr gelesen, als empfunden. Den mehrsten Menschen, und selbst vielen Gelehrten, scheint ein eifriger Bewunderer des Homers wenigstens – ein Schwärmer. Und nun frägt es sich – doch freylich ist es eigentlich keine Frage mehr [sic!] – ob in jenem Jünglinge, bey unserer Lebensart, bey unserer Erziehung, – so gar bey unserer Nahrung – nicht Einbildungskraft und Empfindung, wenn er zu öfterm Lesen der Dichter angehalten wird, zum Nachtheil aller andern Vermögen, die Oberhand erhalten müssen? – [...] Sollte man nicht ehe, bey der Erziehung, einen höchst sparsamen und vorsichtigen Gebrauch der Dichter anrathen?205
Dieses Urteil Blanckenburgs ist insofern überraschend, als er wenige Jahre zuvor in seinem Versuch über den Roman (1774)206 gefordert hatte, der Dichter solle »die Empfindungen des Menschen« zum Zwecke eines dynamischen Vervollkommnungsprozesses »bilden«.207 Dazu bedürfe es einer Darstellung der »Ausbildung und Formung, die ein Charakter durch seine mancherley Begegnisse erhalten kann, oder noch eigentlicher, seine innre Geschichte«,208 der »Ausbildung, oder vielmehr die Geschichte ihrer [der Figuren] Denkungs- und Empfindungskräfte«.209 Ein solcher Blick nämlich auf den Bildungsweg der Figur dient der Vervollkommnung des Lesers, die Selbstfindung der Figur wird zum Vorbild der eigenen, denn der Dichter »zeigt uns in seinem Werke wenigstens die möglichen Menschen der wirklichen Welt«.210 Der Dichter wird also dadurch zum »Lehrer seines Lesers«, dass er diesem die Gelegenheit gibt, die »erscheinenden Menschen selbst kennen zu lernen; die Bäume an den Früchten kennen zu lernen, die sie getragen haben«.211 Damit aber wird ein qualifizierendes Urteil hinsichtlich der Produktion von ›Literatur‹ ausgesprochen – denn »wozu helfen am Ende Empfindungen, die nichts sind, als Empfindungen?«212 Der Dichter soll die Empfindungen des Menschen bilden; er soll es uns lehren, was werth sey, geschätzt und geachtet, so wie gehaßt und verabscheuet zu werden. Er soll unsre Empfindungen nicht irre leiten; sondern uns Gelegenheit verschaffen, sie an würdigen Gegenständen zu üben, damit hernach, in der Wirklichkeit, wir sie nie verschwenden, oder unrecht ausspenden.213
Der Zweck der Dichtung ist also nicht, den Leser »mit Empfindungen [zu] unterhalten [...], die jener bereuen muß, gehabt zu haben, die er gerne zurück nehmen, gerne nicht gehabt haben mochte, wenn er könnte; – mit Empfindungen, die, da sie schlechterdings unrecht verspendet sind, nie zur Bildung derselben den geringsten Beytrag, den kleinsten Anlaß geben können«, sondern der »Romandichter« – Blanckenburg verweist explizit auf Fielding (Tom Jones, 1749) und Wieland (Agathon, 1766/67) – 205 206
207 208 209 210 211 212 213
Blanckenburg: Einige Nachrichten (s. Anm. 68), S. 38 (Hervorhebung im Text). Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig, Liegnitz 1774 [ND mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965]; vgl. Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten. Stuttgart, Weimar 1993, S. 91–98. Vgl. Blanckenburg: Versuch über den Roman (s. Anm. 206), S. 435. Ebd., S. 392 (Hervorhebung im Text). Ebd., S. 395. Ebd., S. 257 (Hervorhebung im Text). Vgl. ebd., S. 438. Ebd., S. 436. Ebd., S. 435.
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Udo Roth unterhalte uns [...] mit Wahrheit! Er gebe nicht zur Entstehung von Empfindungen Anlaß, die durch die Folge wieder aufgehoben werden; er führe uns nicht einen Weg, den wir genöthigt werden, wieder zurük zu gehen, und den wir also ganz vergebens gemacht haben. Die Gestalt, die er uns vorhält, sey immer wahr, sey immer so gebildet, daß wir, seine Leser, sie nicht mißkennen, und für was anders halten können, als sie ist.214
Blanckenburgs Kritik setzt also am Dualismus von rationalen und sinnlichen Vermögen respektive ihres Beitrages zum Erkenntnisgewinn an. Unterscheidet bereits Tetens zwischen der Empfindung als einer »Abbildung eines Objekts« und der »Empfindniß« als einer »Veränderung in mir selbst« ohne Bezug auf äußere Gegenstände,215 so differenziert noch Kant zwischen der Empfindung als »Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden«216 und somit als »objective Vorstellung der Sinne«, und dem Gefühl als dem, »was jederzeit blos subjectiv bleiben muß und schlechterdings keine Vorstellung eines Gegenstandes ausmachen kann«.217 Wenn also eine Bestimmung des Gefühls der Lust oder Unlust Empfindung genannt wird, so bedeutet dieser Ausdruck etwas ganz anderes, als wenn ich die Vorstellung einer Sache (durch Sinne, als eine zum Erkenntnißvermögen gehörige Receptivität) Empfindung nenne. Denn im letztern Falle wird die Vorstellung auf das Object, im erstern aber lediglich auf das Subject bezogen und dient zu gar keinem Erkenntnisse, auch nicht zu demjenigen, wodurch sich das Subjekt selbst erkennt.218
Das Gefühl als Subjektives kann somit zwar »wohl die Wirkung irgend einer Erkenntniß« sein, doch wird es »gar kein Erkenntnißstück werden« können, »denn durch sie erkenne ich nichts an dem Gegenstande der Vorstellung«.219 Daher hält Kant in seiner Vorlesung über die Pädagogik auch das »Romanlesen« für die »schädlichste« Beschäftigung der Kinder, da diese »nämlich weiter keinen Gebrauch davon machen, als daß sie in dem Augenblicke, in dem sie sie lesen, zur Unterhaltung dienen«; darüber hinaus »schwächt« das Romanlesen das Gedächtnis, denn »es wäre lächerlich, Romane zu behalten und sie Andern wieder erzählen zu wollen« – [m]an muß daher Kindern alle Romane aus den Händen nehmen. Indem sie sie lesen, bilden sie sich in dem Romane wieder einen neuen Roman, da sie die Umstände sich selbst anders ausbilden, herumschwärmen und gedankenlos da sitzen.220
Für Sulzer hingegen ist gerade diese später so scharf kritisierte ›Folge‹ der Lektüre ein überaus wichtiges Mittel zur Entfaltung moralischer Empfindungen. Denn die Einbildungskraft hat eine 214 215
216 217 218 219 220
Ebd., S. 437. Vgl. Tetens: Philosophische Versuche (s. Anm. 107), Bd. 1, S. 214f.; vgl. auch Platners Definition des Gefühls als »Bewußtseyn seines gegenwärtigen Zustandes«; Ernst Platner: Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik. Leipzig 1790, § 612, S. 245. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 34. Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft (AA V, S. 165–485), § 3, S. 206. Ebd. (Hervorhebung im Text). Ebd., Einleitung VII, S. 189. Immanuel Kant: Über Pädagogik. Hg. v. Friedrich Theodor Rink. Königsberg 1803 (AA IX, S. 437– 499), S. 473; vgl. dazu Traugott Weisskopf: Immanuel Kant und die Pädagogik. Beiträge zu einer Monographie. Zürich 1970 sowie Werner Stark: Vorlesung – Nachlass – Druckschrift? Bemerkungen zu ›Kant über Pädagogik‹. In: Kant-Studien 91 (2000), Sonderheft, S. 94–105, v.a. S. 98–101; vgl. auch Christiane Ruberg: Wie ist Erziehung möglich? Moralerziehung bei den frühen pädagogischen Kantianern. Bad Heilbronn 2002.
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zentrale Funktion bei der Erregung moralischer und ästhetischer Empfindungen.221 Kann sie nämlich sinnliche Vergnügen immer nur ›schattenhaft‹ reproduzieren,222 so haben die »Ideen abwesender Dinge eine ähnliche Wirkung auf uns [...], als die Dinge selbst, die sie vorstellen«.223 Ein lebhaft eingebildeter Seesturm kann den Schrecken der Seeleute empfinden lassen, ebenso wie eingebildete Unglücksfälle einen Schrecken in uns erzeugen: Und da die Poesie die besondere Sprache ist, die zur Einbildungskraft redet, so findet man auch in ihr alle Schönheiten der Einbildungskraft vereiniget.224
Erzeugt die Einbildungskraft etwa bei der Vorstellung eines Unglücksfalles Schrecken in uns, so befördert also die Erzählung eines solchen unsere Vorstellung noch, ja diese ist sogar lebhafter als die Begebenheiten selbst, und somit ist die Empfindung stärker als in der Realität.225 Eben diese Vorstellung nicht realer, von den Sinnen entkoppelter Gegenstände als wirklicher ist nun insbesondere bei den moralischen Empfindungen gegeben. Da die »Einbildungskraft« aber »nichts neues [erschafft], sie [...] nur das, was unsere Sinne gerührt hat, wieder heran[bringt]«, »muß sie durch Erfahrung bereichert werden«226 – und dieses leistet die Poesie. Die reproduktive Kraft der Einbildung wirkt somit produktiv auf die moralische Empfindung. So gewappnet hätte Sulzer auch dem Einwand Blanckenburgs entgegentreten können, der darüber räsoniert, ob der Philosoph, »der eigentlich jede Art von Kenntnis und Wissenschaft nicht für Zweck des Bestrebens, sondern blos als Mittel zur Vervollkommnung des Menschen überhaupt« ansehen muss, von »dem Dichter überhaupt verlangen könne, daß uns dieser vorzüglich, und so gerade zu, über Moralität [...] Unterricht gebe?«227 Für Sulzer steht dies – wie schon für Gottsched228 – außer Frage: Es ist das Werk der Philosophie diese Wahrheiten zu entdeken; aber die Dichtkunst allein kann ihnen auf die beste Weise die würksame Kraft geben. Was der reine Verstand am deutlichsten begreift, wird am leichtesten wieder ausgelöscht, weil es an nichts sinnlichem hängt. Der Dichter ist nicht nur durchaus sinnlich, sondern sucht unter den sinnlichen Gegenständen die kräftigsten aus; an diese hänget er die Begriffe und Wahrheiten, und dadurch werden sie nicht nur unvergeßlich, sondern auch einnehmend, weil sich die Empfindung einigermaassen damit vermischt.229
221 222 223 224 225 226 227 228
229
Zum Einfluß Shaftesbury und der moral-sense-Tradition vgl. Anna Tumarkin: Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer. Frauenfeld, Leipzig 1933, S. 96–104. Vgl. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 31), S. 76. Ebd., S. 85. Ebd., S. 26f. Vgl. ebd., S. 85f. Sulzer: Einbildungskraft (s. Anm. 115), S. 13; vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 71), § 807. Blanckenburg: Einige Nachrichten (s. Anm. 68), S. 39 (Hervorhebung im Text). Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. In: ders.: Schriften zur Literatur. Hg. von Horst Steinmetz. Stuttgart 2003, S. 12–196, hier S. 161: »Der Poet wählet sich einen moralischen Lehr-Satz, den er seinen Zuschauern auf eine sinnliche Art einprägen will. Dazu ersinnt er sich eine allgemeine Fabel, daraus die Wahrheit seines Satzes erhellet«, sowie S. 163: »Die ganze Fabel hat nur eine Haupt-Absicht: nämliche einen moralischen Satz.« Sulzer: Lehrgedicht (s. Anm. 76), S. 174; so könnte sich ein »Dichter von Wielands Geist [...] einen unsterblichen Namen machen, wenn er Leibnitzen würde, was Lukretius dem Epikur ist« (ebd., S. 175).
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Wenngleich nicht so explizit wie Wolff, so spricht auch Sulzer damit der ›Fabel‹ die Fähigkeit zu, nach erfolgter demonstratio der Wahrheit Sinn und Einbildungskraft dahin zu bringen, mit dem Verstand zusammenzustimmen.230 In Zusammenhang mit seiner Kritik stellt Blanckenburg auch die ›Tatsache‹ heraus, Sulzers Erziehungskonzept habe in pädagogischen Kreisen keinen bzw. kaum Nachhall, er selbst keine bzw. kaum »unter seinem Namen bekannte Schüler«231 respektive Nachahmer gefunden. Diese Einschätzung muss zumindest in Teilen revidiert werden. So legten Meierotto und auch Isaak Iselin (1728–1782)232 die im Versuch und der Vorübung entwickelten Konzeptionen ihren Lesebüchern zugrunde. Der frühe Basedow, den Sulzer später, 1771 in einem Brief an Johann Jakob Bodmer aufgrund seiner Effekthascherei und marktschreierischen Praxis als Leiter des ersten Philanthropins einen rechten »Charlatan« nannte,233 pries Sulzers Versuch um die Jahrhundertmitte nicht nur als die beste Erziehungsschrift, sondern griff in seinem Methodenbuch direkt auf ihn zurück: Die moralischen Regeln, wenn sie nicht durch Erzählungen bestätigt werden, beschäftigen nur den Verstand, aber nicht zugleich die Einbildungskraft. Solche Vorstellungen aber haben in der Seele weder eine starke noch eine dauerhafte Wirkung; sie werden leicht vergessen und selten wiederholt, weil die Wiederholung derselben nicht anders kann veranlaßt werden als durch Worte, nicht aber durch den Anblick oder durch die Erinnerung der sinnlichen Gegenstände. [...] Hingegen, wenn die Regeln durch Erzählungen bestärkt werden, so finden sie leichteren Eingang in die Tiefe der Seele, in das Herz des Menschen.234
Und auch Goethes Schwager Johann Georg Schlosser (1739–1799) beruft sich in seinem Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk von 1771235 auf die im Versuch systematisierten und erweiterten wolffschen Grundsätze einer moralischen Erziehung durch Beispielerzählungen.236 Gleichwohl distanzierte sich Schlosser bereits in den frühen 1780er Jahren öffentlich von seinem eigenen Konzept – es sei das Ergebnis jener »glücklichen Tage der moralischen und politi230 231 232
233 234
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236
Wolff: Philosophia practica universalis (s. Anm. 171), § 299: »Si quæ in disciplines demonstrata cognovimus exemplis confirmantur, sensus atque imaginatio ad consensum cum intellectu reducitur« (Hervorhebung im Text). Vgl. Blanckenburg: Einige Nachrichten (s. Anm. 68), S. 93f. Vgl. Isaak Iselin: Sammlung dem Nutzen und Vergnügen der Jugend gewidmet. Basel 1768; Iselin lässt auf seine Vorrede zu dieser Sammlung, die als erstes weltliches Schullesebuch gilt, die – gekürzte – Vorrede zu Sulzers Vorübung zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens folgen; vgl. zur schulischen Lektüre allgemein Brigitte Rehle: Aufklärung und Moral in der Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts. Philosophische und poetologische Grundlagen, untersucht an ausgewählten Texten. Frankfurt a. M. u.a. 1989, die jedoch weder Iselins Sammlung noch Sulzers Vorübung berücksichtigt. Vgl. den Brief vom 10. Dezember 1771 an Bodmer (Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer und Geßner. Aus Gleims litterarischem Nachlasse. Hg. von Wilhelm Körte. Zürich 1804, S. 402). Johann Bernhard Basedow: Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker. Altona, Bremen 1770; hier zitiert nach: ders.: Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker. Für den Schul- und Selbstgebrauch bearbeitet. Mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Aloys Josef Becker. Paderborn 1914, S. 74. Johann Georg Schlosser: Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk. Frankfurt a. M. 1771 [ND StuttgartBad Cannstatt 1998]; vgl. ebenso ders.: Katechismus der christlichen Religion, als der zweyte Theil des Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk. Leipzig 1776 sowie ders.: Sittenbüchlein für die Kinder des Landvolkes. Frankfurt a. M. 1773; zu Schlosser vgl. Rehle: Aufklärung und Moral in der Kinder- und Jugendliteratur (s. Anm. 232), S. 83–144. Vgl. zu Schlosser und Sulzer ebd., S. 211–223.
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schen Schwärmereien« gewesen, »wo jedes Gemälde der sittlichen Reinheit und Ordnung so vollkommen« gewesen sei.237 Warum der Propagator der Volkserziehung238 gerade in jenem Jahrzehnt eine Abkehr von seinen Idealen vollzog, in dem der Philanthropismus eines Johann Heinrich Campe (1746–1818) oder Basedow mit seinem deutlichen Desinteresse an der Etablierung einer volksschulischen, und d. h. auch der bäuerlichen Landbevölkerung zugänglichen, reformierten Bildung239 die pädagogische Konzeptbildung bestimmte, bedarf sicher noch einer eingehenden Aufarbeitung.240 Doch weist Schlosser mit dem Begriff der ›moralischen Schwärmerei‹241 in eine Richtung, die auch hinsichtlich der von Sulzer konzeptionierten Erziehungsideale und der Kritik an ihnen bemerkenswert ist. Wenn nämlich, wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft formuliert, Schwärmerei in der allergemeinsten Bedeutung eine nach Grundsätzen unternommene Überschreitung der Grenzen der menschlichen Vernunft ist, so ist moralische Schwärmerei diese Überschreitung der Grenzen, die die praktische reine Vernunft der Menschheit setzt, dadurch sie verbietet den subjectiven Bestimmungsgrund pflichtmäßiger Handlungen, d. i. die moralische Triebfeder derselben, irgend worin anders als im Gesetze selbst und die Gesinnung, die dadurch in die Maximen gebracht wird, irgend anderwärts, als in der Achtung für dies Gesetz, zu setzen.242
Alle Schwärmerei, insbesondere aber die moralische Schwärmerei könne in einem aufgeklärten Zeitalter nur aufkommen, wenn »sie sich hinter einer Schulmetaphysik verbirgt, unter deren Schutz sie es wagen darf, gleichsam mit Vernunft zu rasen« – und aus diesem »letzten Schlupfwinkel vertrieben« werde sie jetzt »durch kritische Philosophie«.243 Auch Schlosser fällt dem kantschen Anstürmen gegen diesen »Wahn [...], über alle Gränze der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, d. i. nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen), zu wollen«,244 anheim. Gegen die von 237 238 239
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241 242 243 244
Schlossers im Juni 1783 vor der Helvetischen Gesellschaft zu Oltern gehaltener Nachruf auf Iselin (gedruckt Basel 1783), vgl. ebd., S. 142. Vgl. dazu überblicksartig Reinhart Siegert: Volksbildung im 18. Jahrhundert. In: Hammerstein, Hermann (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte (s. Anm. 3), Bd. 2, 443–483, insbes. S. 454f. Vgl. dazu Hanno Schmitt: Die Philanthropine – Musterschulen der pädagogischen Aufklärung. In: ebd., Bd. 2, S. 262–277, hier S. 264; Campe variierte Schlossers Katechismus denn auch hinsichtlich der »Kinder aus gesitteten Ständen«, vgl. Joachim Heinrich Campe: Sittenbüchlein für Kinder aus gesitteten Ständen. Dessau, Leipzig 1777; vgl. Rehle: Aufklärung und Moral in der Kinder- und Jugendliteratur (s. Anm. 232), S. 143f.; eine Ausnahme dieser Fokussierung des Philanthropismus auf den »mittelmäßigen Menschen« (so Basedow, vgl. ebd.) stellt Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805) dar, der in Reckahn bei Brandenburg eine philanthropische Musterschule für die Kinder seiner bäuerlichen Gutsuntertanen schuf, vgl. Schmitt: Die Philanthropine, S. 266–268. Rehle verweist jedoch darauf, Schlosser habe bereits in einem Brief an Wilhelm Ludwig Gleim vom 25. Februar 1772 darüber räsoniert, ob er sich den »Endzweck« seines Katechismus »vielleicht zu schwärmerisch« vorgestellt habe (Aufklärung und Moral in der Kinder- und Jugendliteratur [s. Anm. 232], S. 142); insbesondere Campe aber sucht in den 1770er und 1780er Jahren, die ›wahre‹ Empfindsamkeit von der, einer Krankheit gleichgesetzten, übertriebenen Empfindsamkeit, der ›Empfindelei‹ zu unterscheiden, vgl. u.a. Joachim Heinrich Campe: Über Empfindsamkeit und Empfindelei in pädagogischer Hinsicht. Hamburg 1779. Zur ›patriotischen Schwärmerei‹ vgl. u.a. Hans Hubrig: Die patriotischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts. Weinheim 1957, ebenso Helmut Reinalter (Hg.): Aufklärungsgesellschaften. Frankfurt a. M. 1993. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, zitiert nach AA V, S. 1–163, hier S. 85f. Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (AA IV, S. 253–383), S. 383. Kant: Kritik der Urtheilskraft (s. Anm. 217), § 29, S. 275 (Hervorhebung im Text).
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Schlosser 1795 herausgegebenen und mit Anmerkungen versehenen Briefe Platons über die syrakusanische Staatsrevolution245 bezieht Kant 1796 in der Berlinischen Monatsschrift ebenso harsch wie unduldsam Stellung und bezichtigt Schlosser ebenso wie die »Kraftmänner« Herder oder Jacobi vehement, wenn auch nicht namentlich der Schwärmerei und der Philosophie »durchs Gefühl«.246 Und haben nicht allein Romanschreiber, oder empfindelnde Erzieher (ob sie gleich noch so sehr wider Empfindelei eifern), sondern bisweilen selbst Philosophen, ja die strengsten unter allen, die Stoiker, moralische Schwärmerei statt nüchterner, aber weiser Disciplin der Sitten eingeführt, wenn gleich die Schwärmerei der letzteren mehr heroisch, der ersteren von schaler und schmelzender Beschaffenheit war.247
Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, müsse man insbesondere dem »Vielerleilernen in den Schulen« Einhalt gebieten und »auf das Gründlichlernen des Wenigen« achten248 – auf die »reine, seelenerhebende, bloß negative Darstellung der Sittlichkeit«.249 Damit soll natürlich nicht die »Lesebegierde« unterdrückt werden, sie soll vielmehr kanalisiert werden, nämlich »daß sie absichtlich werde; damit dem Wohlunterwiesenen, nur das Gelesene, welches ihm baren Gewinn an Einsicht verschafft, gefalle, alles übrige aber anekle.«250 Zwar lassen sich »Handlungen anderer, die mit großer Aufopferung und zwar blos um der Pflicht willen geschehen sind«, »nur so fern Spuren da sind, welche vermuthen lassen, daß sie ganz aus Achtung für seine Pflicht, nicht aus Herzensaufwallungen« geschehen sind, »unter dem Namen edler und erhabener Thaten« in Erzählungen schildern: Will man jemanden aber sie als Beispiele der Nachfolge vorstellen, so muß durchaus die Achtung für Pflicht (als das einzige ächte, moralische Gefühl) zur Triebfeder gebraucht werden: diese ernste, heilige Vorschrift, die es nicht unserer eitelen Selbstliebe überläßt, mit pathologischen Antrieben (so fern sie der Moralität analogisch sind) zu tändeln und uns auf verdienstlichen Werth was zu Gute zu thun. Wenn wir nur wohl nachsuchen, so werden wir zu allen Handlungen, die anpreisungswürdig sind, schon ein Gesetz der Pflicht finden, welches gebietet und nicht auf unser Belieben ankommen läßt, was unserem Hange gefällig sein möchte. Das ist die einzige Darstellungsart, welche die Seele moralisch bildet, weil sie allein fester und genau bestimmter Grundsätze fähig ist.251
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Johann Georg Schlosser: Plato’s Briefe nebst einer historischen Einleitung und Anmerkungen. Königsberg 1795. Vgl. Immanuel Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (AA VIII, S. 387– 406), S. 401 (Hervorhebung im Text); vgl. zu diesen Auseinandersetzungen auch Christoph Gottfried Bardili: Grundriß der ersten Logik, gereiniget von den Irrthümern bisheriger Logiken überhaupt, der Kantischen insbesondere; keine Kritik, sondern eine medicina mentis, brauchbar hauptsächlich für Deutschlands kritische Philosophen. Stuttgart 1800, der die »deutsche Vaterlandsliebe« das Werk der »Berliner Akademie der Wissenschaften, den Herren Herder, Schlosser, Eberhard, jedem Retter des erkrankten Schulverstands in Deutschland, mithin vorzüglich auch dem Herrn Friedrich Nikolai« widmen lässt. Kant: Kritik der praktischen Vernunft (s. Anm. 242), S. 86. Vgl. Ludwig Ernst Borowsky: Cagliostro, einer der merkwürdigsten Abentheurer unsres Jahrhunderts. Seine Geschichte nebst Raisonnement über ihn und den schwärmerischen Unfug unsrer Zeit. Königsberg 1790, der Kants von ihm hierzu erbetene, briefliche Stellungnahme aus dem März 1790 teilweise wiedergibt, hier zitiert nach der 2. Aufl. Königsberg 1790 in Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. Hg. von Klaus H. Kiefer. Leipzig, Weimar 1991, S. 332–455, hier S. 435. Kant: Kritik der Urtheilskraft (s. Anm. 217), S. 275. Kant in Borowsky: Cagliostro (s. Anm. 248), S. 435. Kant: Kritik der praktischen Vernunft (s. Anm. 242), S. 85f.
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Der Einbildungskraft könne laut Kant »vielleicht verziehen werden, wenn sie bisweilen schwärmt, d. i. sich nicht behutsam innerhalb den Schranken der Erfahrung hält«; niemals aber könne man es dem »Verstand, der denken soll« verzeihen, wenn er »an dessen statt schwärmt«, denn nur er könne der »Schwärmerei der Einbildungskraft, wo es nöthig ist, Grenzen« setzen.252
6. Die ›aufgeklärte‹ Erziehung der Philanthropen Ein möglicher, in der Erziehung verankerter Ausweg schien sich für den frühen Kant in den Bemühungen der Philanthropen zu zeigen, insbesondere in denen Johann Bernhard Basedows, dessen »ietzige […] Anstalten« die ersten seien, die nach dem vollkommenen Plan geschehen sind. Dieses ist das grösste Phaenomen was in diesem Jahrhundert zur Verbesserung der Vollkommenheit der Menschheit erschienen ist dadurch werden alle Schulen in der Welt eine andere Form bekommen, dadurch wird das menschliche Geschlecht aus dem Schulzwange gezogen.253
So suchte Kant die Zuhörerschaft seines Anthropologie-Kollegs im Winter 1775/76 für die neue Pädagogik des Gründers der Dessauer Mustererziehungsanstalt zu begeistern; in zwei Artikeln in der Königsberger gelehrten und politischen Zeitung pries er 1776 und 1777 deren Vorzüge als ›Pflanzschule der guten Erziehung‹ öffentlichkeitswirksam an.254 Und als er im Wintersemester 1776/77 ein erstes Kolleg über praktische Pädagogik las – solche Kollegien waren 1774 auf Vorschlag der Universität »zur Verbesserung des hiesigen Schulwesens« von der preußischen Regierung angeordnet worden, die Professoren der philosophischen Fakultät sollten sich bei der Durchführung abwechseln –, legte Kant diesem Kolleg das Methodenbuch Basedows zugrunde.255 Trotz dieser Begeisterung für Basedows pädagogisches Konzept und sein 1774 in Dessau eröffnetes Philanthropinum256 – und den rousseauschen Émile257 – übt Kant aber auch Kritik am Philanthropismus. Zu den Fehlern Basedows zählen neben der spezifisch ausgerichteten 252 253 254 255
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Immanuel Kant: Prolegomena (s. Anm. 243), S. 317. Kant: Kollegmitschrift, AA XV,2, S. 792, Anm. Königsberger gelehrte und politische Zeitung 1776, 26. Stück, 28. März 1776 (Aufruf) und 1777, 25. Stück, 27. März 1777 (An das gemeine Wesen). Vgl. dazu Heiner F. Klemme: Die Schule Immanuel Kants. Mit dem Text von Christian Schiffert über das Königsberger Collegium Fridericianum. Hamburg 1994, spez. S. 55–60; ebenso Stark: Vorlesung – Nachlass – Druckschrift? (s. Anm. 220); seine weiteren Kollegien – Sommer 1780, Winter 1783/84, Winter 1786/87 – hielt Kant vorschriftsmäßig nach Friedrich Samuel Bocks Lehrbuch der Erziehungskunst (vgl. Bock: Lehrbuch der Erziehungskunst, zum Gebrauch für christliche Eltern und künftige Jugendlehrer. Königsberg, Leipzig 1780), 1790 wurde mit der Etablierung eines speziellen Seminars für die Lehrerausbildung das Kolleg eingestellt. Zu Basedow vgl. überblicksartig Joachim Specht: Ich, Johann Bernhard Basedow. Dessau 1999; ebenso Klaus Bleek: J. B. Basedows pädagogische Konzepte. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. München 1994, S. 237–252. Verwiesen sei hier auch auf die Anekdote, Kant habe, überwältigt von der Lektüre des Émile mehrere Tage seinen regelmäßigen Spaziergang versäumt, vgl. etwa Karl Vorländer: Immanuel Kant, der Mann und das Werk. Leipzig 1924, S. 118.
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›Glückseligkeitstheorie‹ die Belohnungspraktiken, denn diese machen die Kinder eigennützig und so zu Menschen, die nur darauf sehen, in der Welt auf die ihnen zuträglichste Weise fortzukommen.258 Die sich seit 1770 um Basedow, Campe, von Rochow, Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811) und Ernst Christian Trapp (1745–1818) scharenden Philanthropen259 propagierten eine im Sinne Rousseaus ›vernünftig-natürliche Erziehung‹, suchten aber ganz im Gegensatz zu Rousseaus Diktum einer dem »wirklichen Gang der Natur« gemäßen Erziehung ihre Zöglinge trotz aller Naturnähe möglichst schnell, ja übereilt zu berufs- und erwerbstüchtigen Bürgern zu erziehen. Der basedowschen Favorisierung des Spiels stellt Kant seinen strengen Pflichtbegriff entgegen.260 Zwar hebt auch er die spielerische körperliche Betätigung, also den ›Sport‹ hervor, doch diene sie vor allem der physischen Übung und solle an »fortdauernde Beschäftigung gewöhn[en]«,261 was wiederum beitrage zur Gewöhnung an Arbeit, denn »von der größten Wichtigkeit« sei es, »daß Kinder arbeiten lernen.«262 Generell aber ist Zwang [...] nöthig! Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen. Ohne dies ist alles bloßer Mechanism, und der der Erziehung Entlassene weiß sich seiner Freiheit nicht zu bedienen. Er muß früh den unvermeidlichen Widerstand der Gesellschaft fühlen, um die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten, zu entbehren und zu erwerben, um unabhängig zu sein, kennen zu lernen.263
Dieser Zwang muss jedoch der Entwicklung des Kindes zugute kommen, es muß frey erzogen werden. Es muß den Zwang dulden lernen, dem die Freyheit sich um seiner selbsterhaltung willen unterwirft. Also muß es disciplinirt werden. Dieses geht vor der instructuion vorher. Die Bildung ist das, was beständig fortdauren muß. Es muß entbehren lernen und fröhliches Gemüths dabey seyn. [...] Es muß nicht religion vor der moralität lernen. Es muß fein, aber nicht verwöhnt werden. [...] Es muß nicht vor den Jünglingsjahren die feine Lebensart lernen. Die Tüchtigkeit ist das erste. Er ist also länger roh, aber früher brauchbar und tüchtig.264
Mit seiner Kritik an den philanthropischen Konzepten stand Kant nicht allein. Basedows öffentlichkeitswirksame Werbung für sein Projekt, mehr aber noch die eigentliche Erziehungspraxis und Basedows Selbstdarstellung brachten das Philanthropin und auch den Philanthropismus immer stärker in die Kritik.265 So zieh August Ludwig von Schlözer (1735–1809) Basedows Projekt der Unbrauchbarkeit, ja Schädlichkeit,266 prangerte Johann Gottlieb Schummel (1748–
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Vgl. Kant: Über Pädagogik (s. Anm. 220), S. 480–483. Zu den Philanthropen vgl. u.a. Christa Kersting: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes ›Allgemeine Revision‹ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim 1992; ebenso Hanno Schmitt: Pädagogen im Zeitalter der Aufklärung – die Philanthropen: Johann Bernhard Basedow, Eberhard von Rochow, Joachim Heinrich Campe, Christian Gotthilf Salzmann. In: Klassiker der Pädagogik (s. Anm. 188), S. 119–143. Vgl. u.a. Kant: Über Pädagogik (s. Anm. 220), S. 472: »Schule ist eine zwangsmäßige Cultur. Es ist äußerst schädlich, wenn man das Kind dazu gewöhnt, Alles als Spiel zu betrachten.« Vgl. ebd., S. 466–469. Vgl. ebd., S. 471; zur Kritik an Basedow vgl. auch Walter Schwarz: Immanuel Kant als Pädagoge. Langensalza 1915. Kant: Über Pädagogik (s. Anm. 220), S. 453. Immanuel Kant: Reflexionen zur Anthropologie (s. Anm. 162), S. 652. Vgl. dazu u.a. Kersting: Die Genese der Pädagogik (s. Anm. 259), S. 46–76 u. S. 98–106. Vgl. die Vorrede zu Ludwig Renatur Caradeuc de la Chalotais: Versuch über den Kinder-Unterricht, aus dem Französischen übersetzt, mit Anmerkungen und einer Vorrede [von August Ludwig von Schlözer], die Unbrauchbar-
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1813) in seiner Satire Spitzbart (1779) die Dessauer »Idealenkrämer« an, die Kinder zigmal schneller zu Verstand bringen wollen als es sonst üblich sei.267 Karl Philipp Moritz setzte dem Philanthropin, das »in den Köpfen der Deutschen einen Schwindel hervorgebracht« hatte, in seiner »Allegorie« Andreas Hartknopf ein kritisches Denkmal268 und Herder sprach gar von einem »Treibhaus, oder vielmehr [...] Stall voll Menschlicher Gänse«, Basedow »möcht’ [er] keine Kälber zu erziehen geben, geschweig Menschen«.269 Friedrich Nicolai resümiert im Vorwort zu Sulzers Lebensbeschreibung, dieser sei weniger darum bemüht gewesen, auf die Mittel zu denken, wie sie glücklich auszuführen wären und darin Beharrlichkeit zu zeigen, da er vielmehr wegen der Schwierigkeiten die sich ihm entgegensetzten, bald der ganzen Sache beynahe überdrüßig ward. Es ging ihm wie manchen Verbesserern von Schulen und von Staaten, welche zwar das Unvollkommene alter bestehender Verfassungen sehr lebhaft einsehen, und daher alles ganz neu machen wollen, aber nicht genug überlegen, ob etwa ihre vorgeschlagenen Ideen neuer Organisationen auch allezeit in den vorliegenden Umständen ganz passend und ob sie so leicht auszuführen sind wie sie sich vorstellen. [...] Sulzer, nachdem er die Schule ganz umgeformt hatte, zog seine Hand ab, weil ihn die Schwierigkeiten verdrießlich machten, welche vor seinen Füßen lagen, aber woran er wenig gedacht hatte.270
Schwerer als die organisatorischen und finanziellen Schwierigkeiten, die Nicolai unter Bezug auf die basedowschen Philanthropine hier vornehmlich im Blick hat, wog aber die mangelnde Akzeptanz der erkenntnistheoretischen Grundlagen seines erzieherischen Konzeptes sowohl bei den ›aufgeklärten‹, Rousseau verpflichteten Pädagogen als auch den kritischen Rationalisten und Tranzendentalphilosophen. Erst in der Folge der zweiten Leibniz-Rezeption271 fanden in den 1780er Jahren vor allem durch Johann Stuve (1752–1793)272 und Friedrich Gedike (1754–1803)273 die erkenntnistheore-
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keit und Schädlichkeit des Basedowschen Erziehungs-Projecte betreffend. Göttingen, Gotha 1771 [Essai sur l’éducation nationale, ou plan d’études pour la jeunesse. Paris 1763]. Johann Gottlieb Schummel: Spitzbart. Eine komi-tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert. Leipzig 1779 [ND München 1983]. Karl Philipp Moritz: Andreas Hartknopf. Eine Allegorie. Berlin 1786 [ND Stuttgart 1968], S. 20, vgl. auch ebd., S. 22–27. Herder an Johann Georg Hamann, 24. August 1776 (Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Hg. von Walter Ziesemer, Arthur Henkel. 7 Bde. Wiesbaden, Frankfurt a. M. 1955–1979, Bd. 3, S. 251); auch Hegel spricht – im Zusammenhang mit Hamanns Schulbildung – von »Basedowschen, Campeschen u.a. Deklamationen und Aufschneiderei« und »pomphaften Unternehmungen«, vgl. die Rezension von Hamanns Schriften aus den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Hg. von Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1979, Bd. 11, S. 283. Sulzer’s Lebensbeschreibung (s. Anm. 62), S. 51, Anm. Johann Heinrich Friedrich Ulrich, der eine deutsche Übersetzung von Raspens Sammlung der lateinischen und französischen Schriften Leibnizens 1778/80 herausgibt, propagiert in den Anmerkungen zu den Essais insbesondere die Fruchtbarmachung der Frage nach den eingeborenen Ideen für die Pädagogik. Vgl. u.a. Johann Stuve: Allgemeine Grundsätze der Erziehung, hergeleitet aus einer richtigen Kenntniß des Menschen in Rüksicht auf seine Bestimmung, seine körperliche und geistige Natur und deren innigste Verbindung, seine Fähigkeit zur Glükseligkeit und seine Bestimmung für die Gesellschaft. In: Allgemeine Revision des gesammten Schulund Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Hg. von Joachim Heinrich Campe. 16 Bde. Hamburg 1785 (Bd. 1–5), Wolfenbüttel 1786/87 (Bd. 6–7), Wien, Wolfenbüttel 1787 (Bd. 8–9), Wien, Braunschweig 1788–1792 (Bd. 10–16), Bd. 1 (1785), S. 233–382; zu Stuve vgl. in diesem Kontext auch
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tischen und vermögenspsychologischen Prämissen Leibnizens und Wolffs Eingang in die pädagogische Diskussion und Theorienbildung.274 Gleichwohl berief sich das Gros des philanthropischen Lagers – das sich seit 1783/84 in der ›Gesellschaft praktischer Erzieher‹ zusammengefunden hatte275 – weiterhin ausschließlich auf Rousseau und Locke. Campe, der Herausgeber der Allgemeiner Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens, der zwar dem vermögenspsychologischen Ansatz nicht unbedingt ablehnend, aber doch kritisch gegenüberstand,276 versagte gar Vertretern anthropologisch-psychologischer Theorien wie Johann Karl Wezel und Karl Philipp Moritz den Beitritt in die ›Gesellschaft‹ wie die Publikation in der Revision.277
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Christa Kersting: Wissenschaft vom Menschen und Aufklärungspädagogik in Deutschland. In: Fritz-Peter Hager (Hg.): Bildung, Pädagogik und Wissenschaft in Aufklärungsphilosophie und Aufklärungszeit. Bochum 1997, S. 77–107, v.a. S. 95–99. Vgl. u.a. den Kommentar zu John Locke: Handbuch der Erziehung. Übers. von Ludwig Rudolphi. Wien, Wolfenbüttel 1787 [= Allgemeine Revision, Bd. 9]. Vgl. auch Kersting: Die Genese der Pädagogik (s. Anm. 259), S. 164–167. Vgl. hierzu ebd., S. 71–97. Vgl. neben Campes Über Empfindsamkeit und Empfindelei auch ders.: Von der nöthigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichts unter den menschlichen Kräften. Besondre Warnung vor dem Modefehler die Empfindsamkeit zu überspannen. In: Allgemeine Revision, Bd. 3 (1785), S. 291–434 sowie sein Vorwort zum 3. Band der Allgemeinen Revision. Vgl. Kersting: Die Genese der Pädagogik (s. Anm. 259), S. 78; vgl. Jürgen Jahnke: Moral und Erfahrungsseelenkunde als Problem der Pädagogik. In: Schings (Hg.): Der ganze Mensch (s. Anm. 256), S. 208–224; Wezel, der den Philanthropen nahestand und 1780 selbst die Einrichtung einer ›Privatanstalt für Unterricht und Erziehung junger Leute zwischen 12 und 18 Jahren‹ ankündigte, hatte in der dritten seiner Satirischen Erzählungen (Leipzig 1777), Die Erziehung der Moahi, die Auswüchse der zeitgenössischen Pädagogik ad absurdum geführt, in seinem Robinson Krusoe (2 Bde. Leipzig 1779/80) Campes Bearbeitung der defoeschen Vorlage (Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder. Hamburg 1779/89) als »trefliches Mittel wider das herrschende Empfindsamkeitsfieber, das er dadurch in seinem Keime bey jungen Seelen zu ersticken hoffte«, charakterisiert (Bd. 1, S. IIIf.); zu Wezel vgl. HansPeter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologie im Widerstreit. Berlin, New York 2003; für die Ablehnung des noch 1783 in der Liste der möglichen Beiträger zur Revision genannten Moritz macht Kersting persönliche Gründe Campes aufgrund des bekannten Streites um die von Moritz nicht gelieferte Beschreibung seiner Italienreise und der sich anschließenden öffentlich ausgetragenen Kontroverse 1789 geltend (vgl. dazu Gerhard Sauder: Ein deutscher Streit 1789. Campes Versuch »moralischen Totschlags« und Moritz’ Verteidigung der Rechte des Schriftstellers. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanistenkongresses Göttingen 1985. 11 Bde. Tübingen 1986, Bd. 2, S. 91–97; ebenso Moritz contra Campe. Ein Streit zwischen Autor und Verleger im Jahre 1789. Mit einem Nachwort hg. von Reiner Marx, Gerhard Sauder. St. Ingbert 1993) – einzuwenden bleibt, dass Moritz, der u.a. Texte zu Campes Kleiner Kinderbibliothek (12 Bde. Hamburg 1779–1784) beigetragen hatte, Italien erst zwischen August 1786 und Dezember 1788 bereiste (sechs der 16 Bände waren 1786 gedruckt); zu berücksichtigen wären bei einer Aufarbeitung der Gründe, warum Moritz nicht in der Revision publizieren ›durfte‹, wohl eher sein Magazin für Erfahrungsseelenkunde (1783ff.) sowie der Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik welche auch zum Theil für Lehrer und Denker geschrieben ist (Berlin 1786) und die sich inhaltlich mit diesem überschneidenden Denkwürdigkeiten, aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Guten (2 Bde. Berlin 1786–1788); zu Moritz’ Kinderlogik vgl. Albert Meier: Sprachphilosophie in religionskritischer Absicht. Karl Philipp Moritz’ ›Kinderlogik‹ in ihrem ideengeschichtlichen Zusammenhang. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), S. 252–266.
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Der »Erzieher« solle, so der Philanthrop Ernst Christian Trapp, »keiner von den vier Fakultäten angehören«, er solle ebensowenig Arzt wie Theologe, sondern »ein Erzieher« sein.278 Ein Anonymus konterte ganz im Sinne Sulzers: Indessen ist die Pädagogik doch nicht bloße Anthropologie, oder Psychologie, nicht bloße Moral, oder zum Theil Logik. Sie ist vielmehr dieses Alles auf die Natur der Kinder angewendet, welche noch nicht völlig Menschen sind, die sich selbst helfen können, sondern erst noch zu solchen Menschen durch Erziehung gebildet werden sollen.279
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Vgl. Ernst Christian Trapp: Versuch einer Pädagogik. Berlin 1780 [ND Paderborn 1977], § 101, S. 472f. Anonymus in den Neuesten Erziehungsbegebenheiten mit practischen Anmerkungen auf das Jahr 1781, 2. Jg. (1781), 5. Stück, S. 324; zitiert nach Kersting: Die Genese der Pädagogik (s. Anm. 259), S. 13.
DIETER HÜNING
»Diese sehr auffallende Verschiedenheit unter unsern Pflichten« Johann Georg Sulzers Versuch, Recht und Moral zu unterscheiden1
Problem erkannt, Problem gebannt so lautet ein alter Slogan. Dass Johann Georg Sulzer ein für die praktische Philosophie zentrales Problem, nämlich das Problem der systematischen Unterscheidung von Ethik und Rechtslehre bzw. der pflichtentheoretischen Einteilung von Tugend- und Rechtspflichten in seinem erstmals 1756 erschienenen Versuch, einen festen Grundsatz zu finden, um die Pflichten der Sittenlehre und des Naturrechts zu unterscheiden,2 deutlich erkannt hat, daran kann kein Zweifel bestehen. Sulzer konstatiert in seinem kurzen Aufsatz die »sehr auffallende Verschiedenheit unter unsern Pflichten«,3 die für ihn in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Auffassung mit der Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten zusammenfällt und die aus dem Unterschied von Ethik (»Sittenlehre«) und Naturrecht resultiert4 , und fragt danach, ob es ein Prinzip der notwendigen Unterscheidung der Pflichten gäbe. Dies ist in seinen Augen ein Problem, das die Philosophen bisher nicht gelöst hätten: »Sie haben niemals deutlich und genau einen Grundsatz festgesetzt, der die wesentliche Nothwendigkeit dieser Verschiedenheit zeigte, und eine allgemeine Vorschrift für alle Fälle seyn könnte«.5 Ob Sulzer das Problem nicht nur erkannt, sondern mit seinen Ausführungen auch gebannt hat, d.h. ob er tatsächlich einen »festen Grundsatz« der Unterscheidung beider Pflichtenarten gefunden hat, diese Frage zu beantworten ist Aufgabe der nachfolgenden Ausführungen. Zunächst einmal ist der merkwürdige Umstand zu konstatieren, dass die Frage nach dem systematischen Kriterium der Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten erst relativ spät die Aufmerksamkeit der Naturrechtslehrer bzw. Moralphilosophen erregt hat. Dies ist deshalb merkwürdig, weil einige mit dieser Unterscheidung thematisch eng verwandte Differenzie1 2
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Für Hinweise und Kritik danke ich Dr. Mikiko Tanaka (Marburg) und Daniel Bratanovic. Die Abhandlung wird zitiert nach Johann Georg Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden, um die Pflichten der Sittenlehre und des Naturrechts zu unterscheiden. In: ders.: Vermischten Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften gesammelt. 2 Bde. Leipzig, 1773/81, Bd. 1, S. 389–398. Ebd., S. 390. Die communis opinio der Naturrechtslehre im 18. Jahrhundert lautete, dass die Unterscheidung von Rechts- und Sittenlehre mit der Einteilung der Pflichten in vollkommene und unvollkommene Pflichten zusammenfällt, vgl. hierzu Martin Annen: Das Problem der Wahrhaftigkeit. Ein Beitrag zur Ethik und zum Naturrecht des 18. Jahrhundert. Würzburg 1997, S. 182. Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden (s. Anm. 2), S. 390.
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rungen wie diejenige zwischen vollkommenen und unvollkommenen, Zwangs- und Liebespflichten oder engen und weiten Pflichten zu den Gemeinplätzen der Moralphilosophie gehörten. Selbstverständlich bestand schon lange unter Philosophen und Juristen im wesentlichen auch Einigkeit darüber, dass sich Rechts- und Tugendpflichten dadurch unterscheiden, dass letztere kein Gegenstand rechtlichen Zwanges sein können. Thomasius und sein Schüler Gundling hatten in dieser Hinsicht wichtige Vorarbeiten geleistet. Allerdings bleibt die formelle Unterscheidung der Pflichten am Kriterium der Erzwingbarkeit so lange irrelevant, wie kein spezifisches rechtsphilosophisches Kriterium bereit gestellt wird, um überhaupt die Grenzen des rechtlich möglichen Zwangs zu bestimmen. Die älteren Naturrechtslehrer bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts behaupten zwar »zwangsmäßig durchsetzbare Rechte und suchen z. T. nach einem Prinzip der diesen Rechten korrespondierenden Pflichten, aber keiner von ihnen fragt auch nur nach dem Grund dafür, daß im Bereich dieser Rechte und Pflichten gezwungen werden kann«.6 Diese Frage, was überhaupt rechtlich erzwungen werden kann bzw. wo die »Grenzen der Wirksamkeit des Staates« (Wilhelm von Humboldt) verlaufen, war ein Problem, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt des systematischen Interesses tritt. Dies zeigt sich an den zahlreichen Versuchen, sich in diesem Punkt Klarheit zu verschaffen oftmals in Anknüpfung an die von Sulzer aufgeworfene Frage. In gewisser Weise kann man sagen, dass Sulzer diese Debatte angestoßen hat: viele der nachfolgenden Naturrechtslehrer der deutschen Spätaufklärung wie Karl Heinrich Heydenreich,7 Ludwig Julius Friedrich Höpfner,8 Gottlieb Hufeland,9 Ernst Ferdinand Klein,10 Moses Mendelssohn,11 Carl Christian Erhard Schmid,12 Karl Ignaz Wedekind13 und schließlich Immanuel Kant14 beziehen sich auf Sulzers Abhandlung und erkennen damit an, dass er ein grundlegendes Problem angesprochen hat.
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Gertrud Scholz: Das Problem des Rechts in Kants Moralphilosophie. Phil. Diss. Köln 1972, S. 232. Karl Heinrich Heydenreich: Wie sind Rechte und Pflichten verschieden? Und wozu bedürfen wir des Vernunftrechtes, als einer für sich bestehenden Wissenschaft? In: Berlinische Monatschrift 24 (1794), S. 149–178. Der Jurist Ludwig Julius Friedrich Höpfner verdient im Zusammenhang mit unserer Frage besondere Aufmerksamkeit, denn er hat ihr zwei längere Abhandlungen gewidmet, die einerseits sein präzises Problembewusstsein deutlich machen und andererseits einen kritischen Überblick über die bisherigen Antworten liefern, siehe Ludwig Julius Friedrich Höpfner: Erste und zweite Abhandlung: Warum sind die Menschpflichten entweder vollkommne oder unvollkommne? Und welche Pflichten gehören zu der ersten, welche zu der letzten Gattung? In: ders.: Naturrecht des einzelnen Menschen[,] der Gesellschaften und der Völker. Gießen 41787, S. 235ff. Höpfner fragt zu Beginn der ersten Abhandlung: »Aber wo ist die Quelle dieses wichtigen Unterschiedes; warum sind unsre Pflichten von so sehr verschiedener Natur; warum darf mich mein Nebenmensch zur Erfüllung einiger Verbindlichkeiten zwingen, nicht aller; wo ist die Grenzlinie; welche Pflichten sind erzwingbar, welche nicht?« (S. 236). Gottlieb Hufeland: Versuch über den Grundsatz des Naturrechts. Leipzig 1785, S. 110ff. Ernst Ferdinand Klein: Geschichte der natürlichen Rechtswissenschaft. In: ders.: Grundsätze der natürlichen Rechtswissenschaft nebst einer Geschichte derselben, Halle 1797, S. 362f. (§ 47). Moses Mendelssohn: Von vollkommenen und unvollkommenen Rechte und Pflichten. In: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Begonnen von Ismar Elbogen, fortgesetzt von Alexander Altmann, in Gemeinschaft mit Fritz Bamberger. Stuttgart-Bad Cannstatt 1971ff., Bd. 3.1, S. 280–282. Carl Christian Erhard Schmid: Versuch einer Moralphilosophie. Jena 21792, § 539. Karl Ignaz Wedekind: Über das besondere Interesse des Natur- und des allgemeinen Staats-Rechtes durch die Vorfälle der neueren Zeiten. Heidelberg 1793, S. 33.
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Die Frage nach dem systematischen Grund der Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten ist allerdings keine lediglich akademische und auch keine bloß philosophiegeschichtliche Frage, sondern eine Frage, die richtungweisend für das Problem der Legitimation rechtlichen Zwangs ist. Sie ist insofern auch eine zentrale praktisch-politische Frage, weil sie mit derjenigen, was überhaupt der juridische Grund der Möglichkeit rechtlichen Zwangs ist und wieweit überhaupt das Recht des Staates gehen kann, zusammenfällt: d.h. es geht um die Frage nach den Bedingungen und Grenzen des rechtlich möglichen staatlichen Zwangs. Sulzer dies kann als Ergebnis der hier nachfolgenden Überlegungen vorweggenommen werden erweist sich philosophisch als Vertreter einer durch materiale Prinzipien bestimmten Rechtstradition und politisch als Vertreter des älteren deutschen Naturrechts, d.h. als Autor, dessen Rechts- und Staatskonzeption an das wohlfahrtsstaatliche und paternalistische Staatsdenken Christian Wolffs anknüpft. Für diese Tradition ist charakteristisch, dass sie keine Schranken staatlicher Eingriffsmöglichkeiten in die individuelle Freiheit kennt, sondern vielmehr die Freiheit des einzelnen primär unter dem Aspekt ihres Gefährdungspotentials für die öffentliche Ordnung betrachtet.15 Im Folgenden behandle ich Sulzers Fragestellung in fünf Abschnitten. Zunächst gebe ich eine knappe Übersicht über die Differenzierungsversuche zwischen Recht und Ethik in der Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts (1.). Im zweiten Abschnitt skizziere ich die wesentlichen Argumente, die Sulzer in seiner Abhandlung vorbringt (2.). Daran anschließend zeige ich, dass Sulzers Überlegungen aus dem Geiste der wolffschen philosophia practica universalis erfolgen, die ihrerseits kein sicheres Kriterium für die Bestimmung der Pflichtendifferenz bereit-stellt (3.). Im vierten Abschnitt (4.) wird das Scheitern von Sulzers Versuch der philosophischen Begründung des Pflichtenunterschieds demonstriert. Abschließend wird die Antwort auf Sulzers Frage, die Kant in seiner Metaphysik der Sitten liefert, skizziert (5.).
1. Zur Vorgeschichte der Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten Die Bedeutung von Sulzers Abhandlung liegt nicht in den Antworten, die Sulzer auf die Frage nach dem Prinzip der Unterscheidung der Pflichten gibt, sondern darin, dass er diese Frage mit Nachdruck als eine prinzipientheoretische gestellt hat. In Sulzers Fragestellung artikuliert sich das Bewusstsein für die Unzulänglichkeit der Antworten, welche die zeitgenössische praktische Philosophie bis dato gegeben hatte. Sulzers Aufsatz ist darüber hinaus ein wichtiges Indiz dafür, dass auch unter denjenigen Philosophen, die Schüler Christian Wolffs waren oder doch durch dessen Philosophie beeinflusst waren, das Fehlen eines Prinzips zur Unterscheidung beider Pflichtenarten als Problem begriffen wurde. 14
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Immanuel Kant: [Rezenzion von] Gottlieb Hufeland, Versuch über den Grundsatz des Naturrechts. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin, Leipzig 1900ff. (im Folgenden: AA Band, Seite), hier AA VIII, S. 127. Vgl. hierzu die unverzichtbare Darstellung von Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976, insbesondere S. 57ff., S. 92ff.
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Zur Klärung des systematischen Stellenwerts der von Sulzer aufgeworfenen Frage möchte ich zunächst eine knappe, skizzenhafte historische Übersicht über die Entwicklung der Unterscheidung zwischen Recht und Ethik im 17. und 18. Jahrhundert vorausschicken.16 In gewisser Hinsicht ist der angeführte Mangel an systematischer Unterscheidung der beiden Pflichtenarten erstaunlich, da die Unterscheidung von Rechts- und Tugendlehre bzw. von Rechts- und Tugendpflichten als solche eine lange, bis in die Antike zurückreichende Vorgeschichte hat: Schon Cicero unterscheidet in De officiis17 die strengen officia iustitiae von den weiteren officia liberalitatis.18 Als Urheber der Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten in der Neuzeit wird im allgemeinen Hugo Grotius angesehen. Grotius hatte in seinem Werk De jure belli ac pacis zwischen verschiedenen Bedeutungen des Begriffs jus unterschieden: Neben dem jus in sensu objectivo, d.h. als Inbegriff der Gesetze, ist das jus im subjektiven Sinne die Bezeichnung für eine »qualitas moralis personæ«, also als Eigenschaft einer Person, etwas rechtmäßig zu besitzen oder zu tun. Insofern diese Eigenschaft vollkommen ist, d.h. ihr entsprechende Pflichten anderer korrespondieren, wird sie facultas genannt, im anderen Fall, nämlich wenn der mit ihr verknüpfte Anspruch unvollkommen ist, heißt sie aptitudo.19 Diese Unterscheidung wird von den nachfolgenden Naturrechtstheoretikern im Sinne eines pflichtentheoretischen Unterschieds weiter ausgebaut. So verweist Pufendorf in seinem Hauptwerk De jure naturae et gentium auf die »diversitas praeceptorum juris naturalis«.20 Während die vollkommenen Pflichten sich notwendig auf die Erhaltung der Gesellschaft (auf ihre »esse«) beziehen und mit Zwang durchgesetzt werden können,21 beziehen sich die unvollkommenen nur auf das Wohlergehen, das »bene esse« der menschlichen Gesellschaft. Deshalb ist ihre Befolgung für den Bestand einer Gesellschaft nicht unbedingt notwendig und hängt, weil nicht erzwingbar, von der Moralität des Normadressaten ab.22 16
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Es fehlt meines Wissens bisher eine umfassende philosophiegeschichtliche Studie, welche der Frage nach der Ausdifferenzierung der praktischen Philosophie im 18. Jahrhundert nachgeht. Einschlägige Hinweise finden sich bei Annen: Das Problem der Wahrhaftigkeit (s. Anm. 4), S. 173ff. Wichtige Vorarbeiten sind die Studien von Werner Schneiders (s. Anm. 27), Gertrud Scholz (s. Anm. 6) und Wolfgang Kersting (s. Anm. 22). Cicero: De officiis, I, 43 (155). Ebd., I, 15 (48). Hugo Grotius : De jure belli ac pacis libri tres. Editio nova cum [...] præfatione Christiani Wolfii. Marburg 1734, I, 1, § IV. Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium I, 7, § 7; vgl. Scholz: Das Problem des Rechts (s. Anm. 6), S. 217ff. Wobei die Durchsetzung im Naturzustand »vi belloque« stattfindet, während sie im Staat auf dem Gerichtswege durchgesetzt wird (Pufendorf: De jure naturae et gentium I, 7, § 7). In seinem naturrechtlichen Kompendium unterscheidet Pufendorf De officio hominis et civis die Pflicht, die »ex solo humanitatis« entspringt, von denjenigen, die »ex pacto aut promisso perfecto debentur«, weil letztere durch die Zwangsgewalt der Obrigkeit durchgesetzt werden können. Das Kriterium der Erzwingbarkeit stiftet den Unterschied zwischen jus perfectum bzw. imperfectum (Sanuel Pufendorf: De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo. Hg. von Walther Schücking. Oxford 1927, I, IX, § 4). Ähnlich noch Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Hg. von Michael Albrecht. Hamburg 2005, S. 46: »Das Gesetz der Gerechtigkeit, auf welches ein Recht sich gründet, ist entweder von der Beschaffenheit, daß alle Bedingungen, unter welchen das Prädikat dem Subjekte zukommt, dem Rechthabenden gegeben sind, oder nicht. In dem ersten Falle ist es ein vollkommenes, in dem
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Auch Christian Wolff kennt die Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten und betont, dass die »Liebes-Dienste (officia humanitatis)«23 nicht erzwingbar sind: die obligatio imperfecta ist diejenige, »zu deren Erfüllung niemand gezwungen werden kann«. Wolff beruft sich hierbei auf Grotius’ Unterscheidung zwischen jus und aptiduo.24 Ebenso ist auch für Wolff die Erzwingbarkeit der äußeren Pflichten gegenüber anderen Menschen das Kriterium für die Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten.25 Auch spätere Naturrechtslehrer sind dieser Auffassung, dass beide moralphilosophischen Disziplinen sich in erster Linie durch das Kriterium der Erzwingbarkeit unterscheiden, gefolgt.26 Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass diesen weniger systematischen als terminologischen Differenzierungsbemühungen bei den gleichen Autoren andere Passagen entgegenstehen, die erkennen lassen, dass sie über erste Ansätze der systematischen Unterscheidung von Recht und Ethik nicht hinausgekommen sind. Denn die überwiegende Anzahl der Vertreter der neuzeitlichen Naturrechtslehre behandelt von den systematisch weiter reichenden Differenzierungsversuchen bei Thomasius und in seiner Schule einmal abgesehen unter dem Titel Naturrecht sowohl »rechtliche und moralische Normen [...] ohne systematische Unterscheidung« und zugleich »ohne wirkliche diesbezügliche Differenzierung mit inneren und äußeren Verhaltensweisen«27, Rechts- und Tugendpflichten sind gleichermaßen Gegenstand des Naturrechts.28 Das
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andern ein unvollkommenes Recht. Bei dem unvollkommenen Rechte nämlich hängt ein Teil der Bedingungen, unter welchen das Recht zukömmt, von dem Wissen und Gewissen des Pflichtträgers ab. Dieser ist also auch in dem ersten Falle vollkommen, in dem andern aber nur unvollkommen zu der Pflicht verbunden, die jenem Rechte entspricht. Es gibt vollkommene und unvollkommene, sowohl Pflichten, als Rechte. Jene heißen Zwangsrechte und Zwangspflichten; diese hingegen Ansprüche (Bitten) und Gewissenspflichten.« Vgl. auch Höpfner: Naturrecht (s. Anm. 8), § 26: »Eine Verbindlichkeit gegen andere Menschen heißt eine vollkommne, (perfecta,) wann ein anderer Mensch befugt ist, mich zu ihrer Erfüllung zu zwingen; eine unvollkommne, (imperfecta,) Pflicht der Menschlichkeit, Liebespflicht, wann dazu niemand befugt ist«. Vgl. Scholz: Das Problem des Rechts in Kants Moralphilosophie (s. Anm. 6), S. 19; Wolfgang Kersting: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Frankfurt a. M. 1993, S. 81f. Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, Halle 1754, § 61. Ebd., § 80. Christian Wolff: Jus naturæ methodo scientifica pertractatum pars I. Frankfurt a. M., Leipzig 1740, § 656: die obligatio interna besteht im Gewissen, die obligatio externa ist demgegenüber diejenige, die sich auf andere Menschen bezieht und wodurch sie rechtswirksam (»effectum quendam juris«) wird. So Hufeland in seiner von Kant rezensierten Schrift Versuch über den Grundsatz des Naturrechts: »Freylich sind die Ausdrücke doch noch manchmal verschieden; der eine verspricht vollkommne, ein anderer äußerliche Pflichten zu lehren; dieser will die Pflichten vortragen, die vor das sogenannte forum externum gehören, jener endlich nennt ausdrücklich Zwangspflichten; der Verschiedenheiten noch zu geschweigen, die durch Trennung und Verbindung der beiden Ausdrücke: Rechte und Pflichten, entstehen. Es zeigt sich aber leicht, daß alle diese Worte als Synonymen gebraucht werden, und daß Zwang immer die specifische Bestimmung der sittlichen Begriffe ist, die sie im Naturrecht gelehrt haben wollen« (Hufeland: Versuch über den Grundsatz des Naturrechts [s. Anm. 9], S. 27). Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim, New York 1971, S. 91. Höpfner (Naturrecht [s. Anm. 8]) stellt als ersten Grundsatz des Naturrechts den Satz auf: »[T]hue was dir gut ist; oder mache dich glücklich, vollkommen; thue was dein wahres Wohl befördert, [...] in so weit du durch deine Vernunft einsehen kannst, daß es dir gut ist« (§ 24). Er zieht daraus die Konse-
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bedeutet mit anderen Worten, dass das Kriterium der Erzwingbarkeit einer Verbindlichkeit zwar bekannt ist, aber nicht als systematische Grundlage für die Unterscheidung der jeweiligen Arten der Verbindlichkeit und die Ausdifferenzierung verschiedenartiger Pflichtenlehren fruchtbar gemacht wird,29 zumal es in Konkurrenz zu anderen Prinzipien der Unterscheidung von Rechtslehre und Ethik steht.30 Ein Beispiel für diesen Mangel an Unterscheidungskraft ist Thomas Hobbes’ Schrift De cive, deren Kapitel über die natürlichen Gesetze rechtskonstitutive Regeln und Tugendvorschriften in bunter Mischung enthält.31 Auch Pufendorfs Kompendium De officio hominis et civis behandelt unter dem Titel Naturrecht noch sämtliche ›natürlichen Pflichten‹ des Menschen. Zwar grenzt Pufendorf nach den jeweiligen Erkenntnisquellen Vernunft, staatliches Gesetz und besondere Offenbarung Gottes das Naturrecht vom jus civile und von der Moraltheologie ab, aber das Naturrecht, dessen ratio cognoscendi das lumen rationis (»ex lumine rationis«) ist, hat die allgemeinsten Pflichten der Menschen (»officia hominis communissima«) zum Gegenstand, insbesondere aber diejenigen, die ihn dazu befähigen, sich mit anderen Menschen zu vergesellschaften.32 Im 18. Jahrhundert, insbesondere bei Thomasius und seiner Schule, werden die mit der Unterscheidung der beiden Arten von Pflichten verknüpften Ansätze zur Unterscheidung von Recht und Ethik weiter ausgebaut. Dies äußert sich zunächst in der Kritik an der Vermischung bzw. ungetrennten Behandlung von Naturrecht und Ethik. Der Thomasius-Schüler Nicolaus Hieronymus Gundling gilt als derjenige, der als erster das Naturrecht auf die Gewährleistung des äußeren Friedens bzw. der tranquillitas externa und damit »eigentlich auf diejenigen Rechte und Pflichten eingeschränkt hat, welche mit Zwang verbunden sind«.33 Während er Hobbes trotz seiner großen Fehler34 als wichtigen Vorläufer betrachtet, weil dieser in seiner Natur-
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quenz, dass wir nach diesem Grundsatz des Naturrechts »auch schuldig sind, andere glücklich zu machen. Denn eine wahre Glückseligkeit zu erlangen, ohne den Beystand anderer ist unmöglich« (§ 25). Vgl. hierzu Schneiders: Naturrecht und Liebesethik (s. Anm. 27), S. 316. Bei Wolff und seinen Anhängern unterscheiden sich Naturrecht und Ethik im engeren Sinne wie Theorie und Praxis, vgl. hierzu Annen: Das Problem der Wahrhaftigkeit (s. Anm. 4), S. 175ff. Neben den ersten drei natürlichen Gesetzen, die den juridischen Kern des Naturrechts betreffen, weil sie die konstitutiven Bedingungen der Sicherung des äußeren Friedens thematisieren, zählt Hobbes auch die klassischen Tugendvorschriften »contra contumeliam«, »contra Superbiam« bzw. »de modestia« usw. zu den natürlichen Gesetzen; vgl. Thomas Hobbes: De cive, cap. III. Samuel Pufendorf: De officio hominis et civis (s. Anm. 27): »Lectori benevolo salvtem« [unpaginiert]. Vgl. Scholz: Das Problem des Rechts in Kants Moralphilosophie (s. Anm. 6), S. 217: Was Pufendorf »unter dem Titel ›Naturrecht‹ abhandelt, ist das Ganze der von der Moraltheologie einerseits und dem bürgerlichen (d.h. positiven) Recht andererseits unterschiedenen Wissenschaft von den Pflichten des Menschen und des Bürgers.« Hufeland: Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (s. Anm. 9), S. 14. Dennoch hätten, wie Hufeland weiter bemerkt, viele Gelehrte an dem »alten Begrif vom Naturrecht, nach welchem es ein Synonym von Moral war«, festgehalten (ebd., S. 24). Nicolaus Hieronymus Gundling: Ausführlicher Discours über das Natur- und Völcker-Recht. Nach Anleitung des von ihm selbst zum zweytenmal herausgegebenen Ivris natvræ ac gentium. Frankfurt a. M., Leipzig 21747, §§ 35–38 (S. 58): »Hobbesius hat freylich grosse Fehler, deßwegen muß man ihn aber nicht verwerfen.«
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rechtslehre in erster Linie die Bewahrung der pax externa zum Gegenstand hatte,35 führt Gundling sein primum principium juris naturalis ein als Resultat einer kritischen Auseinandersetzung mit Grotius und Pufendorf. Diese hätten als Prinzip des Naturrechts das Gebot der Friedenssuche (»pacem quare«) aufgestellt, dabei aber »pacem internam & externam [...] nicht separirt, wie sie præcepta virtutis in ihren Büchern mit einfliessen« ließen. Sie hätten besser nach Gundling »bloß sollen tranquillitatem externam tractiren, und dasjenige, was ad internam gehöret, der Ethic überlassen«.36
2. Sulzers »Versuch, einen festen Grundsatz zu finden« In diesem Abschnitt sollen kurz die wichtigsten Argumente aus Sulzers Aufsatz dargestellt werden. Nach dem zuvor Gesagten fällt Sulzers erstmals im Jahre 1756 veröffentlichte Abhandlung in eine Epoche, in welcher trotz der gerade skizzierten Unterscheidungsversuche der Thomasius-Schule kein präzises Bewusstsein für die Differenz von Recht und Ethik vorhanden war. Auch Sulzer ist kein Autor, der ein präzises Bewusstsein der begründungs- und insbesondere der verbindlichkeitstheoretischen Fragen hätte, die mit der Unterscheidung von Recht und Ethik verbunden wäre. Dabei kann man Sulzers Ausgangspunkt durchaus zustimmen: Während »diese sehr auffallende Verschiedenheit unter unsern Pflichten« von jedermann anerkannt wird, und sich aus dieser Verschiedenheit »zwey verschiedene[...] Wissenschaften, die Sittenlehre und das Naturrecht« ableiten, so sei es »den Philosophen bisher nicht leicht gewesen«, den Unterschied der Pflichten »auf so deutliche und so allgemeine Grundsätze zurück zu führen, die auf alle Fälle angewandt werden können«.37 Die Philosophen so Sulzer weiter »haben niemals deutlich und genau genug einen Grundsatz festgesetzt, der die wesentliche Nothwendigkeit dieser Verschiedenheit zeigte, und eine allgemeine Vorschrift für alle Fälle seyn könnte«.38 Diese Einschätzung bildet nun die Grundlage für eine kritische Sichtung der bisherigen unzulänglichen Differenzierungsversuche. So behauptet Sulzer, die beiden naturrechtlichen 35
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In der Frage, »[o]b nicht die Menschen obligiret sind auch in statu naturali ruhig zu leben?«, glaubt sich Gundling von Hobbes entfernen zu müssen, weil er anders als dieser eine »obligatio ad pacem externam servandum ante pacta« annehme (Gundling: Ausführlicher Discours über das Natur- und VölckerRecht [s. Anm. 34], S. 59). Ebd., § 18 (S. 55). Einen ähnlichen Vorwurf erhebt Johann Georg Heinrich Feder: Grundlehren zur Kenntniß des Menschlichen Willens und der natürlichen Gesetze des Rechtverhaltens. Göttingen 31789, Bd. 3: Grundsätze des Naturrechts, Einleitung, § 1, Anm., S. 195: »Die ersten Lehrer des Naturrechts hatten auch selbst die Absicht, nach diesem Begriff [des Naturrechts als der »Wissenschaft von den natürlichen, vollkommenen und äusserlichen [...] Rechten und Pflichten«, D.H.] dasselbe zu bearbeiten. Aber sie kamen, ohne es zu bemerken, davon ab, und schweiften in die Lehre von den innerlichen und unvollkommenen Pflichten aus; theils weil sie die einzigen ächten Gründe der vollkommenen natürlichen Verbindlichkeit noch nicht deutlich erkannten; theils weil sie sich zu sehr dahin bestrebten, das natürliche Recht, in Ansehung der Vollständigkeit und Bestimmtheit, den angenommenen positiven Gesetzgebungen gleich zu machen, welches doch, vermöge der Natur der Sache, nicht möglich ist.« Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden (s. Anm. 2), S. 390. Ebd.
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Grundsätze des neminem laede und des suum cuique tribuere bzw. die Pflicht, niemanden zu beleidigen und jedem zu leisten, »was man ihm schuldig sei«39 seien »nicht bestimmt genug [...], um als allgemeine Grundsätze angenommen zu werden«.40 Was das suum cuique betrifft, so erneuert Sulzer einen schon von Hobbes erhobenen Einwand, nachdem diese klassische Formel der distributiven Gerechtigkeit eine bloße Leerformel ist, insofern seine Anwendung, d.h. die Zuteilung desjenigen, was jeder als das Seine für sich reklamiert, immer schon die Bestimmung des suums unterstellt.41 Auch Christian Wolff habe zur Frage der pflichtentheoretischen Unterscheidung keinen Beitrag geliefert, denn er sei über seine Vorgänger nicht wirklich hinausgegangen, weil er ebenso unreflektiert wie diese, nämlich »ohne diesen Begriff [der vollkommenen bzw. unvollkommenen Verbindlichkeit, D.H.] so weit zu zergliedern, daß man sähe, worauf dieser Unterschied gegründet wäre«,42 die Unterscheidung schlicht vorausgesetzt habe. Problematisch erscheint Sulzer insbesondere Wolffs Definition des vollkommenen Rechts, das nach Sulzers Verständnis dasjenige Recht sei, »welches durch das Recht der Natur uns vorgeschrieben ist, um unsre Pflicht zu erfüllen«.43 Diese Bestimmung des Rechts als Pflichterfüllungsfreiheit sei aber mit dem Erlaubnischarakter des Rechts nur schlecht zu vereinbaren, denn es gäbe Rechte, die zwar vollkommen sind, ich aber doch nicht »verbunden« bin, ihre Durchsetzung in jedem Falle zu fordern.44 Angesichts der von ihm konstatierten Unzulänglichkeit der bisherigen Versuche, den Unterschied der Pflichten zu bestimmen, will Sulzer nun seinerseits einen »neuen Versuch« wagen. Sulzer beginnt mit einer methodischen Überlegung: Zur Auffindung des gesuchten Grundsatzes sei es notwendig, »auf den Ursprung der Gesetze, auf das Wesen und den Zweck derselben zurück[zu]kommen«.45 Allerdings möchte er diesen Vorschlag einer genetischen Betrachtung der Gesetze nicht mit dem in der Naturrechtslehre geläufigen Rückgang auf den »sogenannten 39 40 41
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Ebd. Ebd. Thomas Hobbes: A Dialogue between a Philosopher and a Studend, of the Common Laws of England. Ed. by Alan Cromartie. In: The Clarendon Edition of the Works of Thomas Hobbes. Vol. XI. Oxford 2005, p. 13, 33f.; vgl. zur Rolle der Formel ›suum cuique‹ bei Hobbes: Dieter Hüning: From the Virtue of Justice to the concept of Legal Order: The Significance of the suum cuique tribuere in Hobbes’ Political Philosophy. In: Ian Hunter, David Saunders (ed.): Natural Law and Civil Sovereignty. Moral Right and State Authority in Early Modern Political Thought. Houndmills 2002, p. 139–152. Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden (s. Anm. 2), S. 391. Ebd. Diese Definition ist ungenau: auch dem unvollkommenen Recht korrespondiert eine natürliche Verbindlichkeit der Pflichterfüllung. Vollkommen wird ein Recht nach Wolff dadurch, dass mit ihm die Befugnis verbunden ist, »den anderen zu zwingen, daß er der Verbindlichkeit ein Genüge leiste, wenn er dieselbe nicht erfüllen wolte« (Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts [s. Anm. 23], § 80). Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden (s. Anm. 2), S. 391. Dies ist ein Einwand, den interessanterweise Kant in seiner Rezension von Hufelands Versuch über den Grundsatz des Naturrechts ebenfalls erhebt: »Allein daß die Befugniß zu zwingen sogar eine Verbindlichkeit dazu, welche uns von der Natur selbst auferlegt sei, durchaus zum Grunde haben müsse, das scheint Recensenten nicht klar zu sein; vornehmlich weil der Grund mehr enthält, als zu jener Folge nöthig ist. Denn daraus scheint zu folgen, daß man von seinem Rechte sogar nichts nachlassen könne, wozu uns ein Zwang erlaubt ist, weil diese Erlaubniß auf einer innern Verbindlichkeit beruht, sich durchaus und mithin allenfalls mit Gewalt die uns gestrittene Vollkommenheit zu erringen« (AA VIII, S. 128f.). Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden (s. Anm. 2), S. 391.
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Stand [...] der Natur« verwechselt wissen,46 der für ihn bloß das »Bild eines chimärischen Zustandes« darstellt. Wie viele andere Zeitgenossen betrachtet Sulzer den Naturzustand nicht in erster Linie als eine methodische Fiktion in rechtstheoretischer Absicht, sondern identifiziert ihn mit den historischen Entstehungsbedingungen der menschlichen Vergesellschaftung, an deren Anfang die isolierte Existenzweise der Menschen, somit ein Leben »ganz außer der Gesellschaft« steht. Aber ein solcher vorzivilisatorischer Zustand sei völlig ungeeignet, um aus ihm rechtsphilosophische Erkenntnisse zu gewinnen, denn es wäre »sehr überflüßig, die Rechte von Menschen zu untersuchen, die barbarisch genug wären, um von einander abgesondert zu leben«.47 Auch auf der Ebene der internationalen Beziehungen ist die Konzeption des Naturzustandes nicht anwendbar: die Annahme, dass sich die »Souverains der verschiedenen Staaten« gegen einander »im Verhältnisse jener von einander getrennten und abgesonderten Menschen befänden« hält Sulzer für unsinnig,48 denn auch die Souveräne, die man wie Privatpersonen betrachten könne, befinden sich in einem wenn auch nur rudimentären Zustand der rechtlichen Vergesellschaftung. Der »Zustand von Europa« mache deutlich, »daß die Souverains eine Republik unter einander ausmachen, die ihre Grundsätze hat, wenn sie gleich nicht förmlich für solche erklärt sind«.49 Aus diesem Grunde sei es für jeden Herrscher ein Gebot der Klugheit, gewisse Regeln anzuerkennen. Deshalb müsse die Untersuchung des Prinzips der Unterscheidung der Pflichten von der Voraussetzung ausgehen, »daß die Menschen allemal in großen Gesellschaften leben, deren Hauptwerk ist, ein jedes einzelne Mitglied so glücklich zu machen, als es werden kann«.50 Der Zweck des Staates sowohl im Hinblick auf seine Gründung wie seine Existenz ist deshalb »die Erhaltung einer größtmöglichen Glückseligkeit«,51 ein Zweck, der seinerseits nur durch die »vollkommenste [...] Beobachtung aller Pflichten der Menschheit« gewährleistet werden kann.
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Ebd., S. 392. Ebd. Der eigentliche Grund für die Ablehnung der Naturzustandshypothese liegt selbstverständlich in der Annahme der Allgegenwärtigkeit der aus dem natürlichen Gesetz entspringenden Verbindlichkeiten. Während für Hobbes die rechtlichen Verbindlichkeiten an die Schaffung einer souveränen Zwangsgewalt geknüpft sind (insofern ist der Gesellschaftsvertrag eo ipso der Akt der Schöpfung rechtlicher Verbindlichkeiten), leben für Sulzer (wie schon für Wolff und die auf Grotius sich stützende Naturrechtstradition) die Menschen immer schon in durch die lex naturae konstituierten Rechtsverhältnissen. Für Sulzer ist deshalb die Differenz von status naturalis und status civilis irrelevant, weil sich für ihn beide Zustände nicht durch die Art der Verbindlichkeit und die Geltung der Pflichten unterscheiden. Ebd., S. 393. Ebd. Ebd., S. 392f. Ebd., S. 394; vgl. dazu Wolff: Jus naturæ (s. Anm. 25), VIII, § 4, § 22: »ut felicitati omnium prospicitur«.
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3. Sulzers Versuch und der Geist der Wolffschen ›philosophia practica universalis‹ In Bezug auf die Notwendigkeit des Staates folgt Sulzer der protestantischen Tradition, an die auch Wolff angeknüpft hatte, dass nämlich staatliche Herrschaft und gesetzlicher Zwang ihren Grund in der menschlichen Bosheit und Unvernunft haben: Wären alle Menschen moralisch gut und weise, so würde die Gesellschaft gar keiner Gesetze bedürfen; ein jeder würde genau seine Pflicht erfüllen, und alles würde gut gehen. Aber viele Mitglieder der Gesellschaft sind zu einfältig, viele andre zu boshaft; man kann also nicht ihnen selbst die Beobachtung ihrer Pflichten überlassen, ohne die öffentliche Ruhe und Glückseligkeit in Gefahr zu setzen.52
Wegen dieser Einfalt, Bosheit und Willensschwäche des Durchschnittsmenschen muss dafür gesorgt werden, dass die Beobachtung der entsprechenden Pflichten nicht dem Gutdünken oder Gutbefinden der Bürger überlassen bleibt.53 Hieraus resultiert die »Nothwendigkeit der Gesetze, die Forderungen des natürlichen Gesetzes in Gestalt staatlicher, zwangsbewährter Normen zu positivieren und im Falle ihrer Übertretung Strafen zu verhängen, um dadurch »den Einfältigen sowohl als den Bösewicht [zu] verbinden« und ihn auf diese Weise zu zwingen »zur Glückseligkeit der übrigen, auch wider Willen«, beizutragen. Der zugrunde liegende Gedanke, der Zwang des Gesetzes habe seinen Grund in der natürlichen Bosheit der Menschen, hat eine lange moraltheologische bzw. -philosophische Tradition. Er findet sich z.B. im ersten Brief des Paulus an Timotheus. Paulus hatte dort die folgenreiche Auffassung vertreten, dass dem »Gerechten kein Gesetz gegeben ist, sondern den Ungerechten und Ungehorsamen, den Gottlosen und Sündern, den Unheiligen und Ungeistlichen, den Vatermördern und Muttermördern, den Totschlägern, den Unzüchtigen, den Knabenschändern, den Menschenhändlern, den Lügnern, den Meineidigen«.54 Luther hat diese Auffassung unter Berufung auf den Paulus-Brief in seiner Schrift Von der weltlichen Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523) zur Grundlage des protestantischen Staatsverständnisses gemacht: Nun sieh, diese Leute [d.h. ›alle Rechtgläubigen in Christus und unter Christus‹, D.H.] bedürfen keines weltlichen Schwerts noch Rechts. Und wenn alle Welt rechte Christen, das ist rechte Gläubige, wäre, so wäre kein Fürst, König, Herr, Schwert noch Recht notwendig oder nützlich. Denn wozu sollte es ihnen dienen, da sie den heiligen Geist im Herzen haben, der sie lehrt und macht, daß sie niemandem Unrecht tun, jedermann lieben, von jedermann gern und fröhlich Unrecht leiden, auch den Tod? [...] Warum das? Weil der Gerechte von sich aus alles und mehr tut, als alle Rechte fordern. Aber die Ungerechten tun nichts Rechtes, darum bedürfen sie des Rechts, das sie lehre, zwinge und dringe wohlzutun. [...] Diejenigen, die keine Christen sind, [werden] durchs Gesetz äußerlich von bösen Taten abgehalten.55
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Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden (s. Anm. 2), S. 394. Vgl. ebd. 1. Timotheus 1, 8‒11. Martin Luther: Von der weltlichen Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Hg. von Karin Bornkamm, Gerhard Ebeling. Frankfurt a. M. 1983, Bd. IV, S. 43f.
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Nur am Rande möchte ich bemerken, dass Kant der Antipode einer solchen Ableitung der Notwendigkeit des Staates aus den moralischen Defiziten der menschlichen Natur ist. Er erklärt nämlich im Hinblick auf solche Überlegungen, wie wir sie bei Wolff und Sulzer finden: Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewaltthätigkeit der Menschen belehrt werden und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Factum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang nothwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen [...].56
Sich den Zweck des Staates, die schon erwähnte »Erhaltung einer größtmöglichen Glückseligkeit«,57 zueigen zu machen, ist ein Zweck, zu dem uns die Ethik, nicht das Recht verbindet. Als Tugendzweck braucht er aber für die Tugendhaften und Guten nicht mit Zwang durchgesetzt zu werden. Das heißt mit anderen Worten: in Beziehung auf diesen und die übrigen ethischen Zwecke ist gar kein allgemeines Gesetz denkbar, gemäß welchem irgendein Zwang in Bezug auf die ›Erhaltung einer größtmöglichen Glückseligkeit‹ mit Notwendigkeit gefordert sein könnte: wie schon gesagt, »dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben«. Nur in Bezug auf die Bösen und Einfältigen ist der Zwang des Gesetzes überhaupt notwendig. Ein wie auch immer gearteter Zwang hat deshalb nur die Bedeutung eines pädagogischen Zwangs. Wir können also behaupten, dass der wolff-sulzersche Grundsatz, dass dem Gerechten kein Gesetz gegeben ist, und dass die gesetzliche Einschränkung der Freiheit überhaupt nur für die Bösen gilt, zugleich der Grund der Unmöglichkeit einer eigenständigen Rechtslehre ist: »Der Gedanke, die Staatsgewalt könne ihre Legitimation in einem ihr voranliegenden Rechte jedes einzelnen auf mögliche Ausübung eines gesetzlichen Zwanges haben«, liegt außerhalb der Gedankenwelt derjenigen Tradition, an welche Wolff und Sulzer anknüpfen.58 Da Wolffs praktische Philosophie erklärtermaßen gegen die bei Pufendorf und Thomasius zu findende Zurückdrängung der Moralphilosophie zugunsten einer eigenständigen Rechtslehre gerichtet ist, werden die zaghaften Versuche zur Unterscheidung von Moral- und Rechtslehre von ihm ignoriert. Wolffs praktische Philosophie erweist sich als eine Ethik (d.h. eine Tugendlehre), in welcher die verschiedenen Klassen der Pflichten, darunter eben auch die Rechtspflichten abgehandelt werden.59 Der Gesamtheit dieser Pflichtenlehre, zu der neben der Ethik im engeren Sinne (philosophia moralis) auch die Naturrechtslehre und die Ökonomie gehören, liegt die philosophia practica universalis zugrunde. Das Gemeinsame aller Pflichten ist der moralische Verbindlichkeits- und Befolgungsmodus, d.h. das Prinzip der vernünftigen Selbstbindung an das Gesetz: »Homo ratione valens & utens sibimetipsi lex est«.60 In Wolffs praktischer 56 57 58 59 60
Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 44 (AA VI, S. 312). Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden (s. Anm. 2), S. 394. Julius Ebbinghaus: Die Idee des Rechts. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Georg Geismann, Hariolf Oberer. Bonn 1988, Bd. 2, S. 146. Hufeland: Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (s. Anm. 9), S. 23: »Wolf begrif unter dem Namen: Naturrecht noch alle Arten von Pflichten, vgl. Wolff: Jus naturæ IV, T. I, § 1.« Christian Wolff: Philosophia practica universalis methodo scientifica pertractata, pars I. Frankfurt a. M., Leipzig 1738, § 268.
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Philosophie ist deshalb für eine Theorie einer spezifisch rechtlichen Verbindlichkeit, in welcher der Befolgungsmodus nicht die vernünftige Selbstbindung wäre, kein Platz. Aus diesem Grunde wird auch der Zwangscharakter des Rechts nicht moralphilosophisch begründet, sondern als Surrogat für diejenigen, die es an moralischer Selbstbestimmung fehlen lassen, eingeführt: wo es auf Seiten des Individuums an moralischer Einsicht fehlt, kann der Zwang an die Stelle der vernünftigen Einsicht treten. Das bedeutet aber keineswegs, dass es eine von der moralphilosophischen Begründung der Verbindlichkeit unabhängige oder unterscheidbare Theorie der Zwangspflichten gäbe. Dass Zwang moralisch möglich ist, wird von Wolff vielmehr ohne weiteres vorausgesetzt. Somit beruht auch die Verbindlichkeit der Rechtsnormen bei Wolff auf dem in der Philosophia practica universalis entwickelten Begriff der moralischen (bzw. natürlichen) Verbindlichkeit. An sich, nämlich mit Bezug auf die Erklärung ihrer Verbindlichkeit, ist den Rechtspflichten das Zwangsmoment äußerlich. Der Grundsatz, den Sulzer aus diesen Überlegungen weiter folgert, ist nun allerdings weniger ein Grundsatz für die Bestimmung des Pflichtenunterschieds, als vielmehr der Grundsatz der wohlfahrtsstaatlichen Reglementierung aller Lebensverhältnisse oder wie Sulzer selbst formuliert der Grundsatz, »alle vollkommne Pflichten des Menschen zu Zwangspflichten des Bürgers« zu machen.61 Sulzers Grundsatz lautet: [D]aß der Gesetzgeber alle vollkommne Pflichten, ohne irgend eine Ausnahme, zu Gesetzen machen müsse, und daß er dem Gutbefinden seiner Bürger nur das überlassen dürfe, was gar nicht durch Gewalt kann erhalten werden.62
Wie schon bei Wolff finden wir auch bei Sulzer die durchgängige Skepsis gegenüber allzu großer Freiheit auf Seiten der Bürger. Die obrigkeitliche Aufgabe besteht nach diesem Staatsverständnis darin, die äußere Freiheit der Untertanen möglichst weitgehend zu reglementieren, weil die individuelle Freiheit primär als Gefährdung der öffentlichen Ordnung angesehen wird: Denn je mehr man dem freyen Willen der Glieder der Gesellschaft überläßt, desto mehr setzt man sich der Gefahr aus, die Pflichten, welche das Wohl der Gesellschaft nothwendig macht, schlecht erfüllt zu sehn, und den Hauptzweck der bürgerlichen Vereinigung nicht zu erreichen.63
Deshalb sei es notwendig, »alle vollkommne Pflichten des Menschen zu Zwangspflichten des Bürgers« zu machen, weil man hierdurch »den Bösen und Einfältigen die Macht [nimmt,] Böses zu thun«. Zu den vollkommenen Pflichten gehört nach Sulzer »jede allgemeine Pflicht der Menschlichkeit«, weil sie »für alle Menschen ganz überzeugend gewiß und verbindend sind«.64 Abschließend versucht Sulzer dem Einwand zu begegnen, seine »Idee« der durchgängigen gesetzlichen Regulierung des Freiheitsgebrauchs sei »aus einer gewissen menschenfeindlichen Laune entsprungen«, die dazu führe, »den Bürgern alle Freyheit« zu rauben.65 Sein Grundsatz sei nicht freiheitswidrig, weil durch ihn nur die Bösen gehindert würden, »Böses zu thun«, während durch ihn die Freiheit des Weisen nicht beschränkt wird. Eine andere Fassung des Grundsatzes lautet, 61 62 63 64 65
Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden (s. Anm. 2), S. 395. Ebd. Ebd. Ebd., S. 397. Ebd., S. 395.
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daß die Gesetze alles dasjenige zur Pflicht machen müssen, was seiner Natur nach durch sie dazu gemacht werden kann; und daß sie nur dasjenige übergehen müssen, was gar kein Gegenstand der Gesetze seyn kann.66
Das Kriterium zur Bestimmung vollkommener Pflichten ist ihre »Gesetzesfähigkeit«67 bzw. ihre mögliche Positivierbarkeit. Während Sulzer an dieser Stelle die Notwendigkeit der Positivierung vollkommener Pflichten durch den Gesetzgeber hervorhebt, bestimmt er unmittelbar danach eine vollkommene Pflicht dadurch, dass sie »zu einem Gesetze gemacht werden kann«68 worin Hufeland mit Recht einen »offenbaren Zirkel in der Demonstration« gesehen hat.69 Wichtiger als dieser Mangel an logischer Stringenz ist jedoch das Problem, dass bei Sulzer hinter dieser umfassenden legislatorischen Ermächtigung, »daß die Gesetze alles dasjenige zur Pflicht machen müssen, was seiner Natur nach durch sie dazu gemacht werden kann«, der Gedanke steht, dass der Staat auch faktisch alle entsprechenden Lebensbereiche und Handlungsmöglichkeiten der Bürger regulieren müsse. Denn andernfalls, »wenn sie dem Bürger die Freyheit ließen«, die Pflichten nach eigenem Gutdünken »zu beobachten oder nicht zu beobachten«, würden die Gesetze »unvollkommen« sein.70 Aus der potentiellen, aber nicht notwendig vollständig realisierten legislatorischen Allmacht bei Hobbes wird bei Sulzer eine umfassende Regulierungs- und Reglementierungsforderung an den Staat. Wir wissen nun, dass alles, was »seiner Natur nach« überhaupt zu einer gesetzlichen Pflicht gemacht werden kann, auch tatsächlich gesetzlich bestimmt werden soll. Aber nunmehr stellt sich die Frage, woran wir erkennen, was denn konkret in eine gesetzlich bestimmte Pflicht verwandelt werden kann. Spätestens bei der Antwort, die Sulzer auf diese Frage gibt, tauchen auch beim ›wohl gesonnenen‹ Leser Zweifel auf, ob Sulzer ein angemessenes Problembewusstsein derjenigen Fragen hat, die er in seiner Abhandlung thematisiert. Denn aus dem vorstehenden Grundsatz, »daß die Gesetze alles dasjenige zur Pflicht machen müssen, was seiner Natur nach durch sie dazu gemacht werden kann«, wird nun der von Anfang an gesuchte Grundsatz gefolgert, der gewiß entscheiden wird, was eine vollkommne und unvollkommne Pflicht sey. Er ist dieser: diejenigen sittlichen Pflichten, welche ganz unumstößlich gewiß, und allgemein bekannt sind, sind vollkommne Pflichten; diejenigen aber, von denen ein jeder Mensch nur selbst urtheilen, und sie nur sich selbst auflegen kann, sind unvollkommne Pflichten, und keinen Gesetzen unterworfen.71
War zuvor die vollkommene Pflicht durch ihre mögliche gesetzliche Bestimmbarkeit definiert, so ist es nun die unumstößliche Gewissheit und allgemeine Bekanntheit, dass etwas Pflicht sei, die als Kriterium dafür fungiert, dass es sich um eine vollkommene Pflicht handelt; demgegen66 67
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Ebd., S. 396. Wolfgang Kersting: Das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit. In: ders.: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. Abhandlungen zur praktischen Philosophie der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1997, S. 91. »Eine Pflicht, die zu einem Gesetze gemacht werden kann, ist eine vollkommene Pflicht: eine Pflicht, die niemals durch ein Gesetz kann befohlen werden, ist eine unvollkommne Pflicht« (Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden [s. Anm. 2], S. 396, Anm.). Hufeland: Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (s. Anm. 9), S. 110. Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden (s. Anm. 2), S. 396. Ebd. Auch hier trifft die Kritik Hufelands zu: »Es fällt in die Augen, wie schwankend dieser Grundsatz ist und wie unsichere Anwendung er gestatte« (Hufeland: Versuch über den Grundsatz des Naturrechts [s. Anm. 8], S. 111).
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über sind diejenigen Pflichten unvollkommen, »von denen ein jeder Mensch nur selbst urtheilen, und sie nur sich selbst auflegen kann«.72 Dass Sulzers Unterscheidung der sittlichen Pflichten »diejenigen sittlichen Pflichten, welche ganz unumstößlich gewiß, und allgemein bekannt sind, sind vollkommne Pflichten; diejenigen aber, von denen ein jeder Mensch nur selbst urtheilen, und sie nur sich selbst auflegen kann, sind unvollkommne Pflichten, und keinen Gesetzen unterworfen«73 tautologisch ist, hat schon Wolfgang Kersting hervorgehoben.74 Das zeigt sich auch an den tautologischen Konsequenzen, die Sulzer zieht, wenn er sagt, »daß man niemals Zwang gebrauchen dürfe, als wenn der, der ihn gebraucht, gewiß überzeugt ist, daß dasjenige, was man von einem fodert, wirklich seine Pflicht sey«, ein Argument, für das jeder Inquisitor und Hexenrichter Sulzer dankbar gewesen wäre, denn sie waren sicherlich »gewiß überzeugt«, dass Hexerei ein Verbrechen bzw. ihre Unterlassung eine erzwingbare Pflicht und ihre Bestrafung eine legitime Sanktion sei. Sulzer glaubt nun aus seinem Grundsatz »verschiedene nützliche Wahrheiten« folgern zu können. Als Anwendungsbeispiel wählt er einen Fall, »über den man sehr viel gestritten hat. Ist es eine vollkommne oder unvollkommne Pflicht, daß man sich zu der herrschenden Religion des Landes, in dem man lebt, bekenne?«.75 Die Frage selbst ist allerdings schon ein Indiz dafür, dass Sulzer mit der Benennung eines pflichtentheoretischen Kriteriums nicht auf eine Eingrenzung der vollkommenen Pflichten abzielt. Dennoch argumentiert er zunächst auf der Linie der Aufklärungsphilosophie, soweit diese zwischen inneren und äußeren Handlungen unterscheiden wollte und nur letztere zum Gegenstand einer staatlichen Gesetzgebung machen wollte: Denn sofern der Glaube nur von den besonderen »Einsichten und Kenntnissen« des einzelnen abhängt, kann niemand jenseits dieser eigenen »Einsichten und Kenntnisse« zur Übernahme einer Überzeugung bzw. eines Fürwahrhaltens verpflichtet werden. »Jeder Mensch« so Sulzer weiter »hat ein natürliches Recht, Freyheit des Gewissens für sich zu fodern«.76 Der Leser atmet an dieser Stelle dankbar auf ein klarer und deutlicher, wenngleich nicht sonderlich origineller Gedanke. Das Auftatmen und die freudige Dankbarkeit halten jedoch nicht lange an. Denn schon im nächsten Satz relativiert Sulzer die gerade gefolgerte ›nützliche Wahrheit‹, dass sich die bürgerlichen Gesetze an den Prinzipien des Naturrechts orientieren müssten: Allein da sich alle bürgerlichen Gesetze von den Gesetzen der Natur zuweilen entfernen; so ist es noch eine ganz andere Frage, ob ein Souverain dieses oder jenes Gesetz geben könne, das sich nicht auf das Gesetz der Natur gründet?77
Ich muss gestehen, dass ich nicht zu entscheiden vermag, wie Sulzer diese Überlegung verstanden wissen wollte. Als bloß rhetorischen, aber offenkundig absurden Einwand gegen die zuvor postulierte Gedankenfreiheit, oder ob er – wie Wolff – für den äußeren Zwang in Glaubensdingen plädieren wollte. Wolffs Position in Bezug auf die Gedankenfreiheit ist bekanntlich ambivalent. Er hatte in seiner Rede über die Oratio de Sinarum philosophia practica und an anderen Stellen 72 73 74 75 76 77
Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden (s. Anm. 1), S. 396. Ebd. Kersting: Das starke Gesetz (s. Anm. 67), S. 92. Sulzer: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden (s. Anm. 1), S. 397. Ebd. Ebd.
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die Auffassung vertreten, dass auch Atheisten die Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes anerkennen könnten und dass deshalb die Behauptung eines notwendigen Zusammenhangs zwischen Unglaube und Amoralität falsch sei. Darüber hinaus hatte Wolff den Grundsatz, die Gedanken seien »zoll-frey«,78 also kein Gegenstand rechtlichen Zwangs, aufgestellt. Dennoch hatte er sich weder dazu durchringen können, das Bekenntnis zum Unglauben für straffrei zu erklären, noch darauf verzichtet, der Staatsgewalt die Aufsicht über die Einhaltung der religiösen Vorschriften und insbesondere den Verzicht auf die Kontrolle des regelmäßigen Besuches des Gottesdienstes zu empfehlen. Aus der staatlichen Aufgabe, die Wohlfahrt der Gesellschaft79 zu befördern, leitet Wolff dementsprechend auch die aus der Sorge um Frömmigkeit und Religiosität80 erwachsenden religionspolitischen und kirchenrechtlichen Maßnahmen der Staatsgewalt ab. So folgt aus der sittlichkeitsstiftenden Wirkung des Gottesdienstes die Pflicht der einzelnen Bürger zur Teilnahme am Gottesdienst,81 während andererseits der Herrscher verpflichtet ist, dafür zu sorgen, dass Gott verehrt wird, dass die kirchlichen Feiertage eingehalten werden und alle Untertanen an diesen Tagen am Gottesdienst teilnehmen. Dem Einwand, der Zwang zur Teilnahme am Gottesdienst produziere nur Heuchelei, begegnet Wolff folgendermaßen: »[S]o weiß doch ein jeder, daß im bürgerlichen Leben die Heucheley besser ist, als öffentlich gottlose seyn, weil dadurch das Aergernis gehoben und der Werth der Religion erhalten wird«.82
4. Das Scheitern des Sulzerschen Versuch Sulzers rechts- und staatsphilosophische Überzeugungen, insbesondere sein Begriff des Staatszwecks und seine Begründung der Notwendigkeit der Gesetze, bewegen sich auf dem Boden von Wolffs praktischer Philosophie. Sulzer ist deshalb wie schon Wolff der Repräsentant einer Konzeption des Naturrechts, in welcher die Versuche der Thomasianer, Recht und Ethik zu trennen, wieder rückgängig gemacht werden, indem sämtliche Pflichten, auch die »Pflichten gegen sich selbst«, wieder in das Naturrecht aufgenommen wurden und die Frage der Erzwingbarkeit, der ihrerseits die Frage nach dem Prinzip eines möglichen rechtlichen Zwangs zugrunde liegt, wieder in den Hintergrund gedrängt wird.83 Die Abhängigkeit Sulzers von Wolff hat also gerade für seinen Versuch, Rechts- und Tugendpflichten zu unterscheiden, weit reichende Folgen: Wolffs praktische Philosophie bietet für die hier gesuchte derartige Differenzierung nicht nur keine angemessene systematische Basis, sie ist vielmehr so beschaffen, dass sie den Gedanken einer wie auch immer gearteten Unabhängigkeit des Naturrechts von der Ethik viel78 79 80
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Wolff: Jus naturæ (s. Anm. 25),VIII, § 643, Anm. Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (s. Anm. 23), § 837. Wolff: Jus naturæ (s. Anm. 25), VIII, § 457f.; ders.: Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen [Deutsche Politik]. Hg. von Hasso Hoffmann. München 2004, § 366; Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (s. Anm. 23), § 1024. Wolff: Deutsche Politik (s. Anm. 79), § 421. Wolff: Jus naturæ (s. Anm. 25), VIII, § 471. Ernst Ferdinand Klein: Geschichte der natürlichen Rechtswissenschaft. In: ders.: Grundsätze der natürlichen Rechtswissenschaft nebst einer Geschichte derselben. Halle 1797, S. 358 (§ 44).
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mehr systematisch ausschließt84 eine Einschätzung, für die im übrigen Kant als Kronzeuge benannt werden kann. Dieser hatte nämlich in seiner Naturrechtsvorlesung aus dem Jahre 1784 mit Blick auf die wolffsche Schule erklärt: Man hat noch gar nicht dem jure naturae seine Stelle in der praktischen Philosophie aus Prinzipien zu bestimmen, und die Grenzen zwischen demselben und der Moral zu zeigen gewußt. Daher laufen verschiedene Sätze aus beiden Wissenschaften in einander. Dieses also auszumachen, muß man die Begriffe des Rechts zu entwicklen suchen.85
Diese Behauptung von der systematischen Unmöglichkeit des Naturrechts als eigenständigem Teil der praktischen Philosophie klingt angesichts des Umstands, dass Wolff als Verfasser eines achtbändigen voluminösen Naturrechts zu dem noch ein ebenfalls dickleibiges Jus gentium als neunter Band zu zählen ist bekannt ist, vielleicht skandalös oder wenigstens merkwürdig. Dieser Umstand ändert allerdings nichts daran, dass Wolff das Naturrecht nur als Anhängsel der Ethik begreift und es als Wissenschaft vom Unterschied der guten und bösen Handlungen am Leitfaden des ethischen Begriffs der Vollkommenheit konzipiert. Die von vielen Interpreten thematisierte ›Moralisierung der Rechtsverhältnisse‹ gehört zu den Folgen des Wolffianismus, die die Naturrechtslehre der deutschen Spätaufklärung zu bewältigen hatte. Weil Wolff in Opposition zu Pufendorf und Thomasius und in Anknüpfung an Grotius86 die Abtrennung des Rechts von der Ethik ablehnt, spielt bei ihm der Gedanke, die juridische Möglichkeit des Zwangs auf der einen und die Legitimation der Staatsgewalt auf der anderen Seite könne in der Freiheit der einzelnen ihren Grund haben, keine Rolle. Noch weniger findet sich bei ihm der Gedanke, dass der Mensch ursprünglich gerade darauf, nämlich jenseits seiner Tugendhaftigkeit ein Recht auf die gesetzliche Bestimmung des äußeren Freiheitsgebrauchs haben könnte. Zwar spricht auch Wolff davon, dass der Mensch, der frei und sein eigener Herr ist, aufgrund seines eigenen Rechtes tun kann, was ihm »unbeschadet seiner Verbindlichkeit beliebt«.87 Aber das Phantom der Möglichkeit von moralisch indifferenten Handlungen verschwindet sofort, wenn man Wolffs Konzeption des Rechts näher betrachtet: Weil ein jedes Recht aus irgendeiner logisch vorangehenden Verbindlichkeit resultiert jus oritur ex obligatione , bezieht sich die rechtliche Erlaubnis jeweils nur auf die »Freiheit der Wahl unter den Mitteln der Pflichterfüllung«.88 Das »licitum«, das rechtlich Erlaubte, bezeichnet »keine freie
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Hufeland: Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (s. Anm. 9), S. 100f.: Wolff »setzt noch alle sittliche Gesetze unter die Rubrik des Naturrechts, und denkt dies dadurch um desto mehr zu beschönigen, daß er bey jeder Pflicht ein Recht sie auszuüben, lehrt [...]. Für Zwangsrechte lehrt er keinen eignen Grundsatz, sondern giebt diese blos an als eine Art des Rechts, etwas von andern zu fodern«. Immanuel Kant, AA XXVII/2.2, S. 1321; vgl. hierzu Manfred Baum: Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie. In: Jürgen Stolzenberg (Hg.): Kant in der Gegenwart. Berlin, New York 2007, S. 213– 226. Die von Wolff veranstaltete Edition von Grotius’ Hauptwerk, zu der er eine kommentierende Einleitung verfasst hat, muss deshalb als wissenschaftspolitische Kampfansage an die Naturrechtslehren von Pufendorf und Thomasius verstanden werden. Wolff: Jus naturæ (s. Anm. 25), I, § 138: »Qui liber seu sui juris est, is facere potest, quod salva obligatione sua facere libet.« Klaus-Gert Lutterbeck: Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 198.
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Handlungsmöglichkeit außerhalb des Naturrechts (im Sinne der Unabhängigkeit von der Pflichterfüllung)«.89 Wolff ist der Gedanke, dass die staatliche Gesetzgebungskompetenz auf die Gewährleistung der gesetzlichen Bedingungen des äußeren Freiheitsgebrauchs eingeschränkt wäre, so dass sich die Aufgabe des Staates in den spezifisch juridischen Zwecken der Gewährleistung dessen, was zum Überleben notwendig ist, der Sicherheit und Ruhe,90 erschöpft, völlig fremd. Der vielfach thematisierte Paternalismus der Wolffschen Staatskonzeption hängt aber nicht an Wolffs subjektiver Vorliebe für den zeitgenössischen Absolutismus, sondern daran, dass sein Begriff des subjektiven Rechts auf die bloße Freiheit der Pflichterfüllung eingeschränkt ist: jus oritur ex obligatione lautet die Wolffsche Formel der Rechtsbegründung, und sie besagt, dass ein Mensch unmöglich ein Recht jenseits der Erfüllung seiner Pflichten haben kann.91 Die kantische Konzeption einer rechtlich indifferenten Freiheit der Willkür, d.h. von rechtlich indifferenten subjektiven Zwecksetzungen und der daraus resultierenden Handlungen, der einziger Maßstab ihrer Vereinbarkeit mit der gleichen Freiheit aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz ist, hätte Wolff als zutiefst anstößig, weil unmoralisch empfunden. Eine solche Freiheit ist in seinen Augen bloße licentia (Zügellosigkeit), deren Verhinderung und Unterdrückung der vornehmste Zweck der Moral ist. Schon in der Deutschen Politik hatte Wolff betont, dass die Beförderung der Tugend eine zentrale Staatsaufgabe darstellt: ´ Das gemeine Wesen wird zu dem Ende angerichtet, damit man in dem Stande ist dem höchsten Gute desto sicherer nachzustreben. Derowegen, da dieses durch die Tugend befördert wird; so hat man im gemeinen Wesen auch davor zu sorgen, daß die Leute tugendhafft werden.92
Deshalb hat nach seiner Auffassung der Staat auch die Aufgabe, die Untertanen ihre ethischen Pflichten gegenüber Gott, gegen sich selbst und gegen andere anzuhalten,93 also dafür zu sorgen, dass sie nicht wie Wolff selbst sagt vom Pfad der Tugend abweichen.94 Der wolffsche Staat wird auf diese Weise zum allgemeinen Tugendzwangsstaat bzw. zum »Agenten der Vervollkommnung«.95 Die Auffassung, dass der Staatszweck allein in der Gewährleistung der Rechtssicherheit bestehe, so dass man sich »im gemeinen Wesen [...] an der äusserlichen Zucht [begnüge] und [...] 89 90 91
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Ebd., S. 198. Wolff: Jus naturæ (s. Anm. 25), VIII, §§ 10‒13. Georg Geismann: Ethik und Herrschaftsordung. Ein Beitrag zum Problem der Legitimation. Tübingen 1974, S. 2: Das wolffsche subjektive »›Naturrecht‹ auf alles, was zur Selbstvervollkommnung notwendig ist, gründet [...] in der der menschlichen Natur inhärenten ethischen Verpflichtung, nach Vollkommenheit zu streben.« Wolff: Deutsche Politik (s. Anm. 79), § 316. Zu dem »erheblichen Rückschritt«, den Wolffs Strafrechtslehre gegenüber Pufendorf und Thomasius dadurch bewirkt, dass sie moralisches Fehlverhalten als strafrechtlich relevant betrachtet und entsprechende Laster – insbesondere die Sexual- und Religionsdelikte (Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (s. Anm. 23), § 1052) kriminalisiert, vgl. Christoph Link: Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre. Wien, Köln, Graz 1979, S. 143. Wolff: Jus naturæ (s. Anm. 25), § 426. Ebd., § 655. So die treffende Formulierung von Lutterbeck: Staat und Gesellschaft (s. Anm. 87), S. 192ff.
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sich nicht umb das innere, welches zur Tugend mit hauptsächlich gehöret«, bekümmere, wird ausdrücklich als Irrtum bezeichnet, der daraus resultiere, dass man die Frage der Strafbarkeit, gemäß welcher »bloß das äusserliche Thun und Lassen der Menschen«, nicht aber ihre Gedanken bestraft würden, mit der Frage nach den Staatsaufgaben verwechsle: »Es ist aber gantz etwas anders, wenn man fraget, was in dem gemeinen Wesen zu bestraffen ist, und gantz was anders, wenn man fraget, zu was für Handlungen man die Menschen im gemeinen Wesen bringen soll.« Auf diese Weise übernimmt die Staatsgewalt die Rolle eines paternalistischen obersten Tugendwächters bzw. eines ›Agenten der Vervollkommnung‹, der in umfassender Weise reglementierend in den Alltag seiner Untertanen eingreift96 und der deshalb auch keine vom Vervollkommnungszweck unabhängige rechtliche Freiheit der Willkür anerkennt.97 Auf diese schrankenlose Ausweitung der Staatsaufgaben im Dienste der Vervollkommnung, die durch die »Transformation der unvollkommenen Liebespflichten in staatlich verwaltete Zwangspflichten«98 bewerkstelligt wird, war der Vorwurf Kants gemünzt, dies sei der »größte denkbare Despotismus«.99 Nun gibt es allerdings in Bezug auf die Realisierung der Glückseligkeit überhaupt keine unbedingte Notwendigkeit der Konstitution einer Rechtszwangsgewalt. Dies betrifft zunächst die Materie der Gesetzgebung, d.h. die Frage, welche Handlungen durch Gesetze überhaupt geregelt, erlaubt oder verboten werden sollen. Weil die Glückseligkeit, bonum commune oder Vollkommenheit Zwecke sind, deren Realisierung von empirischen Faktoren abhängt, enthalten sie als solche keinerlei Kriterien, welcher Freiheitsgebrauch mit den Bedingungen ihrer Realisierung vereinbar ist. Als Prinzip der Freiheitseinschränkung bleibt nur der paternalistische Wille der Obrigkeit.
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Wolffs Zweifel an der Rationalität des Durchschnittsbürgers und an dessen Moralität bringen ihn dazu, die Durchsetzung religiöser Überzeugungen für eine Aufgabe zu halten, derer sich der Staat zur Sicherung der öffentlichen Ordnung in verstärktem Maße widmen muss. Aus der staatlichen Aufgabe, die Wohlfahrt der Gesellschaft zu befördern, leitet Wolff dementsprechend auch die aus der Sorge um Frömmigkeit und Religiosität (Wolff: Jus naturæ (s. Anm. 25), VIII § 457f.; ders.: Deutsche Politik (wie Anm. 79), § 366) erwachsenden religionspolitischen und kirchenrechtlichen Maßnahmen der Staatsgewalt ab. Z.B. folgt aus der sittlichkeitsbildenden Wirkung des Gottesdienstes die Pflicht der einzelnen Bürger zur Teilnahme am Gottesdienst, während andererseits der Herrscher verpflichtet ist, dafür zu sorgen, dass Gott verehrt wird, dass die kirchlichen Feiertage eingehalten werden und alle Untertanen an diesen Tagen am Gottesdienst teilnehmen (Wolff: Jus naturæ [s. Anm. 25], VIII, § 471). Lutterbeck: Staat und Gesellschaft (s. Anm. 87), S. 198, der betont, dass »das [rechtlich, D.H.] Erlaubte keinen Restbereich der Individualfreiheit [...] [markiert], sondern den eigentlichen Bereich kreativer Staatstätigkeit [...]«; Frank Grunert: Absolutism(s). Necessary Ambivalences in the Political Theory of Christian Wolff. In: The Legal History Review 73 (2005), p. 141–152. Kersting: Das starke Gesetz (s. Anm. 67), S. 105. Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII, S. 290f.: »Eine Regierung, die auf dem Princip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Unterthanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urtheile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Unterthanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt).«
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Aber auch im Hinblick auf den Willen der einzelnen kann von einer unbedingten Notwendigkeit der Gesetze keine Rede sein, und zwar aus den vorhin schon genannten Gründen, dass Wolff wie Sulzer behaupten, dass für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen weiter nichts vorauszusetzen sei, als die ethische Bereitschaft der einzelnen, in tugendhafter Gemeinschaft mit anderen den Zweck der allgemeinen Glückseligkeit befördern zu wollen. Dieser Zweck ist wie Wolff und Sulzer richtig sehen ein Tugendzweck, d.h. seine Realisierung ist einzig und allein abhängig von der Bereitschaft der einzelnen, in Übereinstimmung mit diesem Zweck zu handeln, d.h. von ihrer Bereitschaft, tugendhaft zu sein. Ob es eines rechtlichen Zwangs bzw. einer staatlichen Zwangsgewalt bedarf, ist nach dieser Vorstellung eine Frage der individuellen Tugendbereitschaft. Diese Wolffianische Überzeugung von der Unterordnung des Naturrechts unter die Zwecke der Ethik finden wir bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von vielen Autoren wiederholt. Karl Heinrich Heydenreich bringt, in seinem bereits erwähnten Aufsatz zur Frage »Wie sind Pflichten und Rechte verschieden? Und wozu bedürfen wir des Vernunftrechtes, als einer für sich bestehenden Wissenschaft?« seine Zweifel schon in der Fragestellung zum Ausdruck. In der Tat kommt Heydenreich zu dem Ergebnis, dass das Naturrecht eine Eigenständigkeit nur in einer beschränkten Perspektive beanspruchen kann. Denn erst »wenn durch bürgerliche Gesellschaft ein unveränderlich-feststehender Zustand der verbundenen Menschen entstehen soll, welcher zugleich mit der moralischen Vernunft vollkommen harmonire«, entstehe auch das Bedürfnis einer zugrunde liegenden »vollständige[n] und scharfe[n] Bestimmung der Rechte des Menschen, bloß als Menschen betrachtet«. Hierin sieht Heydenreich den alleinigen »Grund [...], weßhalb das Naturrecht als eine für sich bestehende Wissenschaft nothwendig ist«. Es bezieht sich das Naturrecht »ganz auf das natürliche Staatsrecht«,100 ist also bloß die Lehre von der rechtlichen Verfassung des Staates, nicht aber eine Lehre der rechtlichen Freiheit der Menschen.
5. Kants Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten Zum Abschluss sei ein Blick auf Kant, genauer gesagt auf Kants Metaphysik der Sitten erlaubt. In dieser Schrift, welche »die Emanzipation des Naturrechts von der Moralphilosophie«101 in systematischer Hinsicht abschließt, beendet Kant die fruchtlosen Versuche seiner Vorgänger, den Unterschied von Rechts- und Tugendpflichten auf der Grundlage unzulänglicher Kriterien zu bestimmen. Er tut dies auf eine originelle und überraschende Art und Weise, nämlich durch die Einführung einer zweifachen, in einen juridischen und einen (tugend-)ethischen Zweig gegliederten Gesetzgebung der praktischen Vernunft. Diese Lösung war auch für seine Anhänger und insbesondere diejenigen Kantianer, die schon vor der Metaphysik der Sitten mit eigenen Naturrechtsentwürfen hervorgetreten waren, überraschend und z.T. unverständlich. Die wie ich sie einmal nennen möchte kantianisierenden Naturrechtstheoretiker philosophischer und 100 101
Heydenreich: Wie sind Rechte und Pflichten verschieden (s. Anm. 7), S. 177. Michael Annen: Das Problem der Wahrhaftigkeit (s. Anm. 4), S. 182.
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juristischer Provenienz hatten zumeist geglaubt, in der Grundlegungsschrift eine hinreichende Basis für die Entwicklung weiterführender juridischer Überlegungen zu besitzen. Das Erscheinen der Metaphysik der Sitten zeigte dagegen, dass davon keine Rede sein konnte. Es zeigte sich vielmehr, dass die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aus dem Jahre 1785 gerade keine Grundlegung für das darstellt, was im Jahre 1797 Metaphysik der Sitten heißt, so bedeutsam die im Jahre 1785 von Kant vorgebrachten Überlegungen auch sind: Die Grundlegung stellt »Kants auf der Freiheitslehre der Kritik der reinen Vernunft beruhende[n] Versuch einer Theorie über die rein rationalen Gründe der Möglichkeit einer Metaphysik der Sitten« dar; als solche enthält sie weder Kants Ethik noch liefert sie die Begründung von deren Prinzipien.102 In der Grundlegung geht es Kant primär um die »Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität«,103 das rein rational und formal104 ist und damit jeglichen Bezug auf die Glückseligkeit ausschließt.105 Aufgrund dieser spezifischen Aufgabenstellung kann von einem System der Sittlichkeit, das auch den prinzipiellen Unterschied von Recht und Ethik klärt, in der Grundlegung keine Rede sein. Macht man sich dies klar, so kann man ermessen, welche gedankliche Arbeit noch notwendig war, damit Kant zur Konzeption von der doppelten Gesetzgebung der praktischen Vernunft in der Metaphysik der Sitten gelangen konnte. Erst in dieser Schrift entwickelt Kant ein umfassendes »System der allgemeinen Pflichtenlehre«,106 das sowohl das System der juridischen als auch der ethischen Pflichten umfasst. Gemeinsame Grundlage beider Systemteile ist die Lehre vom kategorischen Imperativ, der in seiner allgemeinsten Funktion als »oberste[r] Grundsatz der Sittenlehre«107 »überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei«: »Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft«.108 Das Rechtsgesetz, das Kant im § B der Rechtslehre anführt, ist als »das Pflichtgesetz der [äußeren, D.H.] Handlungen« ein kategorischer Imperativ,109 sofern er das Gesetz enthält, das die praktische Vernunft der Willkür in Bezug auf äußere Handlungen gibt. In verbindlichkeitstheoretischer Hinsicht ist deshalb das Rechtsgesetz »als das Gesetz a priori der Bestimmung der äußeren Freiheit durch den kategorischen Impera-
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Hariolf Oberer: Sittlichkeit, Ethik und Recht bei Kant. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), S. 259f. Oberer wendet sich mit Recht gegen das in der Kant-Forschung auch »heute noch weit verbreitete Fehlurteil, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die Kritik der praktischen Vernunft seien die Texte, in denen Kant seine Ethik niedergelegt habe«. AA IV, S. 392. Entsprechend findet sich in der Kritik der praktischen Vernunft eine Tafel »praktische[r] materiale[r] Bestimmungsgründe im Princip der Sittlichkeit«, die allesamt der kantischen Kritik verfallen. Namentlich genannt werden folgende Autoren: Montaigne, Mandeville, Epikur, Hutcheson, Wolff und die Stoiker, Crusius und die theologischen Moralisten (AA V, S. 40). Die »Tugend in ihrer eigentlichen Gestalt ist nach Kant nichts anderes als »die Sittlichkeit von aller Beimischung des Sinnlichen und allem unächten Schmuck des Lohns oder der Selbstliebe entkleidet« (AA IV, S. 426, Anm.). AA VI, S. 379. AA VI, S. 226. Er lautet: »handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann!« (AA VI, S. 225); vgl. auch die Formulierung in der Tugendlehre (AA VI, S. 389): »Handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne«. AA VI, S. 222. AA VI, S. 391.
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tiv gefordert«, es steht »in seiner möglichen Verbindlichkeit [...] unter dem kategorischen Imperativ«.110 Welches ist nun Kants »Princip der Absonderung der Tugendlehre von der Rechtslehre«, auf welcher die »Obereintheilung der Sittenlehre überhaupt beruht«?111 Insofern beide Teile der Metaphysik der Sitten sich auf den Begriff der Freiheit beziehen, d.h. Pflichten des Gebrauchs der Freiheit enthalten, ist die prinzipientheoretische »Eintheilung in die Pflichten der äußeren und inneren Freiheit nothwendig«, wobei nur »die letztern allein ethisch sind«,112 weil die Bestimmung der inneren Freiheit nur Selbstbestimmung sein kann. Die Pflichten können jeweils in Bezug auf ihr Normierungsobjekt eingeteilt werden, also je nachdem, ob sie den inneren oder äußeren Freiheitsgebrauch bzw. den »innern Gebrauch [...] der Willkür« bzw. innere Handlungen (als Gesinnungen, d.h. als Bereitschaft, das Handeln nach ethischen Maximen auszurichten) oder die »Freiheit im äußeren Gebrauche« und deswegen »bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit« betreffen:113 Alle Pflichten sind entweder Rechtspflichten (officia iuris), d. i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten (officia virtutis s. ethica), für welche eine solche nicht möglich ist.114
Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die ethischen Gesetzgebung nicht bloß den inneren Gebrauch der Willkür zum Gegenstand hat, sondern sie umfasst sowohl die Gesetze des inneren und äußeren Handelns, weil auch die Gesetze des äußeren Freiheitsgebrauchs solche Normen sind, welche aus ethischen Bestimmungsgründen befolgt werden sollen: [Die] Gesetze der Freiheit heißen zum Unterschiede von Naturgesetzen moralisch. So fern sie nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch [...]. Die Freiheit, auf die sich die ersteren Gesetze beziehen, kann nur die Freiheit im äußeren Gebrauche, diejenige aber, auf die sich die letztere beziehen, die Freiheit sowohl im äußeren als innern Gebrauche der Willkür sein, sofern sie durch Vernunftgesetze bestimmt wird. [... M]ag die Freiheit im äußeren oder inneren Gebrauche der Willkür betrachtet werden, so müssen doch ihre Gesetze, als reine praktische Vernunftgesetze für die freie Willkür überhaupt, zugleich innere Bestimmungsgründe
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114
Julius Ebbinghaus: Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus. In: ders.: Gesammelte Schriften (s. Anm. 58), Bd. 2, S. 242. AA VI, S. 406; vgl. hierzu die Ausführungen über den Unterschied von Recht und Ethik bei Rainer Friedrich: Eigentum und Staatsbegründung in Kants Metaphysik der Sitten. Berlin 2004, S. 27ff. AA VI, S. 406. AA VI, S. 239; vgl. auch AA XXIII, S. 392: »Die Eintheilung der verschiedenen Handlungen in Ansehung deren uns eine Pflicht obliegt kann a priori nur von der Art wie man überhaupt verbindlich seyn oder gemacht werden kann abgeleitet werden und da enthalten die Pflichten (officia) entweder solche Verbindlichkeit welche blos Handlungen oder auch solche die die Maxime der Handlung zur Pflicht macht. Die erste können Rechtspflichten überhaupt heißen und beruhen lediglich auf der nothwendigen übereinstimmung mit dem Gesetz der Freyheit in Beziehung auf seine eigene Person oder auf Andere ausgeübt haben also eigentliche Gesetze d. i. strickt-bestimmende Grundsätze, und da sind die Gesetze die aus der Persönlichkeit des Menschen seine eigene Freyheit einschränken die Bedingung der Möglichkeit die Freyheit anderer einzuschränken.« AA VI, S. 214.
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Dieter Hüning derselben sein: obgleich sie nicht immer [nämlich nicht in der Rechtslehre, D.H.] in dieser Beziehung betrachtet werden dürfen.115
Entsprechend dieser Gliederung der Pflichten auf der Grundlage des Freiheitsbegriffs kann die »Eintheilung einer Metaphysik der Sitten« auch anhand der »Verschiedenheit der Gesetzgebung«116 vorgenommen werden: Zu aller Gesetzgebung (sie mag nun innere oder äußere Handlungen und diese entweder a priori durch bloße Vernunft, oder durch die Willkür eines andern vorschreiben) gehören zwei Stücke: erstlich ein Gesetz, welches die Handlung, die geschehen soll, objectiv als nothwendig vorstellt, d.i. welches die Handlung zur Pflicht macht, zweitens eine Triebfeder, welche den Bestimmungsgrund der Willkür zu dieser Handlung subjectiv mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft; mithin ist das zweite Stück dieses: daß das Gesetz die Pflicht zur Triebfeder macht. Durch das erstere wird die Handlung als Pflicht vorgestellt, welches ein bloßes theoretisches Erkenntniß der möglichen Bestimmung der Willkür, d. i. praktischer Regeln, ist: durch das zweite wird die Verbindlichkeit so zu handeln mit einem Bestimmungsgrunde der Willkür überhaupt im Subjecte verbunden.117
Der Unterschied der jeweiligen Gesetzgebung des Rechts bzw. der Ethik liegt außer in dem jeweils verschiedenen Normierungsobjekt in dem differenten Befolgungsmodus118 der juridischen bzw. ethischen Verbindlichkeiten, der seinerseits auf einem »in Ansehung der Triebfedern« beider Gesetzgebungen beruht.119 Während die ethischen Pflichten um ihrer selbst willen befolgt werden müssen, insofern »die Idee dieser Pflicht [...] für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden« ist,120 ist bei den juridischen Pflichten auch eine »andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbst« zulässig. In dieser Sphäre ist es möglich, den ›äußeren Zwang‹ als motivierenden Bestimmungsgrund der Handlung vorzustellen. Allerdings betrifft diese Zulässigkeit von »pathologischen Bestimmungsgründen der Willkür der Neigungen und Abneigungen« in der juridischen Gesetzgebung,121 wodurch z B. die Rechtsgesetze aus Furcht vor Strafe befolgt werden, nur den spezifischen Befolgungsmodus der Rechtspflichten, nicht aber den Grund ihrer Verbindlichkeit. Rainer Friedrich hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die maßgebliche systematische Unterscheidung von Recht und Ethik gemäß der Unterscheidung der Gesetzgebung für den äußeren und inneren Gebrauch der Willkür von Kant »auch auf ältere pflichtensystematische Differenzierungen bezogen« wird,122 so z.B. auf die Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten,123 auf den Unterschied von weiter und enger Verbindlichkeit,124 so auf
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Ebd., S. 214. Ebd., S. 218, 220. Ebd., S. 218. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik (s. Anm. 27), S. 329: Kant konzentriert sich bei der Unterscheidung von Recht und Moral »auf die Weise der Ausübung der Pflichten«. AA VI, S. 219. Ebd., S. 219; hierin besteht für Kant »das Eigenthümliche der ethischen Gesetzgebung« (ebd., S. 220). AA VI, S. 219. Friedrich: Eigentum und Staatsbegründung (s. Anm. 110), S. 28. Schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hatte Kant sich mit der Frage der »Eintheilung der Pflichten« beschäftigt, sich die systematische Durchführung aber »für eine künftige Metaphysik der Sitten« vorbehalten und sich zugleich von dem in den »Schulen angenommenen Wortgebrauch« der vollkommenen bzw. unvollkommenen Pflichten distanziert, insofern nach Kant die Unterscheidung
»Diese sehr auffallende Verschiedenheit unter unsern Pflichten«
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das Kriterium der Erzwingbarkeit,125 aber auch auf die Differenzierung der jeweiligen Triebfedern der juridischen und der ethischen Gesetzgebung. Kant steht somit in der Rechtslehre und seiner Auffassung ihres Unterschieds von der Tugendlehre zwar »auf dem Boden der Differenzierung von erzwingbaren und unerzwingbaren Pflichten«, aber diese Differenzierung hat bei ihm nur einen abgeleiteten Charakter.126
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von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten nicht mit derjenigen der äußeren bzw. inneren Pflichten zusammenfällt, weil es auch »innere vollkommene Pflichten« gäbe (AA IV, S. 421). AA, VI, S. 390. »Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht wesentlich darin unterschieden: daß zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich ist, jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht« (AA VI, S. 383). Annen: Das Problem der Wahrhaftigkeit (s. Anm. 4), S. 183; vgl. auch Kersting: Das starke Gesetz (s. Anm. 67), S. 110.
HEINER F. KLEMME
Johann Georg Sulzers ›vermischte Sittenlehre‹ Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Problemstellung von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten1
1. Einleitung Johann Georg Sulzer, weithin bekannt und geschätzt als Autor der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771–1774), zählt sicherlich nicht zu den Klassikern der Ethik.2 Er gehört auch nicht zu der Gruppe von Autoren, deren ethische Schriften wir trotz aller grundlegenden Defizite zur Lektüre empfehlen können, weil sich in ihnen eine originelle Formulierung, eine scharfsinnige Beobachtung oder eine geistreiche Pointe findet. Obwohl Sulzers Ethik weder originell noch geistreich ist, ist sie für die Geschichte dieser Disziplin aber auch nicht völlig irrelevant. Relevant ist Sulzers Ethik, weil sie einen Typus des Denkens repräsentiert, den wir populär (oder auch eklektisch) nennen können. Wie der Skeptiker misstraut der Popularphilosoph einseitigen Heilsversprechen. Aber im Unterschied zum Skeptiker gibt er den Anspruch auf durch Ver1
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Für Hinweise und weiterführende Diskussionen danke ich den Organisatoren und Teilnehmern der Tagung Johann Georg Sulzer. Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume am Interdisziplinärem Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (Halle/Saale, 12.–14. Februar 2009) und der DoktorandInnentagung Probleme der Kant-Forschung: Metaphysik, Ästhetik und Ethik (Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 1.‒2. Juli 2010). Mein besonderer Dank gilt Saneyuki Yamatsuta (Mainz) sowie Reinhard Brandt (Marburg) und Falk Wunderlich (Mainz). Siehe auch Saneyuki Yamatsuta: Kant über die Popularphilosophie und den Begriff der Achtung. Anmerkungen zu H. F. Klemmes ›Georg Sulzers vermischte Sittenlehre‹. In: Antonio Falduto, Caroline Kolisang, Gabriel Riovero (Hg.): Metaphysik – Ästhetik – Ethik. Beiträge zur Interpretation der Philosophie Kants. Würzburg 2012. Sulzer hat keine Monographie zur Ethik geschrieben. Sachlich einschlägig für die Darstellung und Kritik seiner ethischen Auffassungen sind vor allem die folgenden, 1773 in seinen Vermischten philosophischen Schriften (Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/81 [ND Hildesheim 1974]; [im Folgenden VS Band, Seitenzahl]) in deutscher Übersetzung gesammelten Arbeiten: 1. der vierte Abschnitt seiner Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (zuerst 1751), der den Titel trägt Von den moralischen Vergnügungen (VS 1, S. 77–98); 2. der Beitrag Erklärung eines psychologisch paradoxen Satzes: daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe urtheilet und handelt (zuerst 1759; VS 1, S. 99–121); 3. der Aufsatz Psychologische Betrachtungen über den sittlichen Menschen (zuerst 1769; VS 1, S. 282–306); 4. der Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen (zuerst 1754; VS 1, S. 323–347) und schließlich 5. der Versuch, einen festen Grundsatz zu finden, um die Pflichten der Sittenlehre und des Naturrechts zu unterscheiden (zuerst 1755; VS 1, S. 389–398).
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Heiner F. Klemme
nunft gerechtfertigte Meinung nicht auf. Der bodenlose Skeptizismus ist ihm so unangenehm wie ihm die Metaphysik als ein geschlossenes System überdreht erscheint. Der Popularphilosoph konstruiert keine Systeme, sondern sammelt Ansichten und Lehren, die er zu einem kohärenten Bild der Wirklichkeit zusammenzufügen versucht. Produktiv kann sich diese Tätigkeit auswirken, wenn sie Philosophen, die die Popularphilosophie ablehnen, neue Einsichten und Perspektiven vermittelt. Und ganz in diesem Sinne ist Sulzers Stellung in der Geschichte der Ethik zwischen der Vollkommenheitsethik Christian Wolffs, der Gefühlsethik der schottischen Moralphilosophen und der Ethik der reinen praktischen Vernunft Immanuel Kants zu bewerten. Besonders eindrucksvoll kann diese These durch Kants Reaktion auf Sulzer belegt werden: Sulzer lenkt Kants Aufmerksamkeit auf Positionen der »populären Moralphilosophie«,3 die Kants Überzeugung nach im Rahmen einer »reinen praktischen Weltweisheit, oder […] Metaphysik der Sitten«4 überwunden werden müssen, um unsere ›gemeine‹ sittliche Praxis verstehen und verbessern zu können. Dass Sulzer diesen Einfluss auf Kant ausgeübt haben könnte, deutet sich in einer Anmerkung in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) an. In ihr will Kant zur Verbesserung der Sitten durch eine Analyse des obersten Moralprinzips, des Kategorischen Imperativs, beitragen. Entsprechend hebt er die Vorzüge einer Moralphilosophie der reinen Begriffe, die er Metaphysik der Sitten nennt,5 in Abgrenzung zu einer Theorie der Moral hervor, in der Vernunft und Gefühl, Anthropologie und Psychologie, Physik und Theologie miteinander vermischt werden. Wenn wir die Natur unserer moralischen Verbindlichkeiten verstehen und unsere sittliche Praxis verbessern wollen, könnten wir demnach nicht schlechter beraten sein, als eine »vermischte Sittenlehre«6 vortragen. So verfehlt Kants Ansicht nach die zum Typus einer »vermischten Sittenlehre« zählende »Wissenschaft der Glückseligkeit«7 von Sulzer ihr Ziel, die Ausübung unserer Tugenden zu befördern, weil sie nicht fähig ist, in der Vernunft den Grund unserer moralischen Pflichten und das alleinige bewegende Prinzip unseres sittlichen Handelns zu sehen. Die reine Vernunft motiviert uns nicht nur, aus Achtung vor dem Moralgesetz zu handeln, an der Reinheit unserer Gesinnung, d.h. an unserer Achtung vor dem Moralgesetz, bemisst sich auch die Moralität unseres Handelns.8 Aus der Perspektive der Grundlegung betrachtet wäre Sulzers ›vermischte Sittenlehre‹ allerdings nur als ein Beispiel für eine verfehlte Ethikkonzeption von Interesse, wenn Sulzers An3
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Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. (im Folgenden AA Band, Seite), hier AA IV, S. 392. Zitate aus der Kritik der reinen Vernunft (KrV) werden durch die Angabe der Originalpaginierungen (A/B) belegt. AA IV, S. 410. »Eine Metaphysik der Sitten ist also unentbehrlich nothwendig, nicht bloß aus einem Bewegungsgrunde der Speculation, um die Quelle der a priori in unserer Vernunft liegenden praktischen Grundsätze zu erforschen, sondern weil die Sitten selber allerlei Verderbniß unterworfen bleiben, so lange jener Leitfaden und oberste Norm ihrer richtigen Beurtheilung fehlt.« (AA IV, S. 389f.) AA IV, S. 411. Im ersten Abschnitt seines Aufsatzes Über den Gemeinspruch (1793) wird Kant in seiner Kritik an dem Popularphilosophen Christian Garve die Theorie »mitwirkender Motive« als den »Tod aller Moralität« (AA VIII, S. 285) bezeichnen. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 2), S. 3. »Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetz gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen« (AA IV, S. 390).
Johann Georg Sulzers ›vermischte Sittenlehre‹
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sichten nicht auch für die Entwicklungsgeschichte der Kantischen Ethik zwischen 1770 und 1785 relevant wären. Worin ihre Relevanz genau besteht, möchte ich in Abschnitt 4 zu klären versuchen. Zuvor sollen Sulzers um die drei Prinzipien der Weisheit, der Gerechtigkeit und der Großmut kreisende ethische Ansichten kurz beschrieben (Abschnitt 2) und ihr philosophischer Gehalt diskutiert (Abschnitt 3) werden.
2. Sulzers ethische Ansichten Als typischer Vertreter einer vor allem durch Leibniz und Wolff9 geprägten eudämonistischen Ethik geht Sulzer wie selbstverständlich davon aus, dass die Ethik Tugenden beschreibt, die uns dazu befähigen, die »höchste Glückseligkeit« und die »höchste Vollkommenheit« zu erreichen.10 Und ebenso selbstverständlich ist für Sulzer, dass Gott die Welt als ein System geschaffen hat, dessen »Endzweck«11 in der Glückseligkeit der Menschen besteht. Der Mensch kann diesen Zweck jedoch nur dann erreichen, wenn er empirische Beobachtungen über den Zustand und den Gebrauch seiner Seelenvermögen anstellt. Weil diese »Physik der Seele«12 eine »Wissenschaft der Glückseligkeit« ist,13 muss sie sich vor allem der Analyse unserer Vergnügungen widmen. Wir müssen den »wahren Werth«14 der Vergnügungen erkennen, »um glücklich zu seyn, und über die Mittel, wie wir sie uns verschaffen sollen, entscheiden« zu können.15 Sulzer geht davon aus, dass die Seele genau dann glücklich ist, wenn sie gemäß ihrer Bestimmung wirksam wird. Die Bestimmung der Seele besteht im Denken.16 Von ihm hängt unser Vergnügen ab. Unter den drei möglichen Arten der sinnlichen, intellektuellen und moralischen Vergnügungen haben die letztgenannten den Vorzug: Genöße jemand auch alle sinnlichen und intellektuellen Vergnügungen, es fehlte ihm aber an den moralischen, so würde er des besten Theils der Glückseligkeit beraubt seyn und gerade das Köstlichste in dem Daseyn eines denkenden Wesens nicht kennen.17
Aus diesem Zitat wird deutlich, dass Sulzer eine realistische Position moralischer Gründe vertritt. Die »Wirklichkeit der Gründe der Moral« beruht auf der »Natur unsrer Empfindungen«.18 Wodurch aber zeichnen sich die moralischen vor anderen Empfindungen aus? Sulzers Ansicht nach sind die moralischen Vergnügungen »die Folge und d[er] Lohn guter Handlungen und
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Aus Gründen des Umfangs verzichte ich im Folgenden darauf, Parallelen zwischen Sulzer auf der einen und Leibniz und Wolff auf der anderen Seite durch Zitate zu belegen. Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (s. Anm. 2), S. 347. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 2), S. 3. Sulzer: Erklärung eines psychologisch paradoxen Satzes (s. Anm. 2), S. 100. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung (s. Anm. 2), S. 3. Ebd. Ebd., S. 4 Das Denken ist »unsere wesentliche Thätigkeit, der Grundtrieb aller unserer Unternehmungen, aller unserer freyen Handlungen« (ebd., S. 8f.; vgl. S. 91). Sulzer: Von den moralischen Vergnügungen (s. Anm. 2), S. 98. Sulzer: Psychologische Betrachtungen (s. Anm. 2), S. 285
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tugendhafter Gesinnungen«.19 Würde in der Tugend kein Vergnügen liegen, handelte kein Mensch tugendhaft. Die Aussicht auf Vergnügen ist also der Beweggrund unseres tugendhaften Handelns. Dass die Tugend ein moralisches Vergnügen hervorruft, kann nach Sulzer nicht ernsthaft bestritten werden. Doch welche Gegenstände verursachen ein moralisches Vergnügen? Sulzer bedient sich in seiner Antwort auf diese Frage des Begriffs der »moralischen Güter«,20 die sich dadurch auszeichnen, dass sie »die natürliche Thätigkeit unserer Seele vollkommner« machen oder sie erleichtern.21 Als Beispiel verweist er auf das moralische Gut der Freundschaft. Die Freundschaft ruft in uns ein moralisches Vergnügen hervor, weil sie uns zum Denken anregt und unser Gemüt belebt. Die Belebung unseres Gemüts erfreut uns, weil der Geist im freien Hervorbringen von Ideen seine natürliche Bestimmung findet. Doch wir erfreuen uns nicht allein an Gütern, die die Tätigkeit unseres eigenen Geistes unmittelbar befördert, uns bereitet auch die Glückseligkeit anderer Personen ein moralisches Vergnügen. Nehmen wir wahr, dass eine Person durch ihre Freundschaft mit anderen Personen ein moralisches Vergnügen empfindet, belebt dies mittelbar auch unser eigenes Denken.22 Warum wir ein tätiges Interesse am Wohl des Anderen nehmen, erklärt sich Sulzer durch die »wohltätige Hand« Gottes. Gott hat dafür Sorge getragen, dass wir unser eigenes Glück so ernsthaft wie das Glück unserer Mitmenschen erstreben: Aus unsrer Theorie ist es klar, daß die kostbaren Keime der Tugend durch eben die wohlthätige Hand in unsre Seele gepflanzt worden, der wir die Neigungen, die auf unsre Erhaltung zielen, zu danken haben; und daß wir nicht weniger unsrer Natur gemäß handeln, wenn wir der Neigung zur Tugend, als wenn wir dem Triebe zu andern Vergnügungen folgen. Der Mensch wird durch sein Wesen selbst bestimmt, sich nach der Glückseligkeit anderer Wesen, die der Glückseligkeit fähig sind, eben so sehr als nach seiner eigenen zu bemühen.23
Eine tugendhafte Person befördert demnach die »doppelten Glückseligkeit« ihrer Mitmenschen und ihrer selbst, indem und weil sie der »Stimme der Natur« folgt.24 Ergänzend weist Sulzer darauf hin, dass sich in uns nur dann eine angenehme moralische Empfindung einstellt, wenn wir das Glück der anderen Menschen aus einer bestimmten Perspektive betrachten. Ohne dass Sulzer diesen Begriff verwenden würde, können wir diese Perspektive als die Perspektive der Unparteilichkeit beschreiben.25 Wir nehmen diese Perspektive nach Sulzer ein, wenn wir uns
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Sulzer: Von den moralischen Vergnügungen (s. Anm. 2), S. 77. Ebd., S. 84. Ebd., S. 85. »Ich bemerke also, daß jedes verständige Wesen durch seine Natur bestimmt ist, an allem Guten und Bösen, das andre betrifft, ohne alle vorhergegangene Ueberlegung, Theil zu nehmen. Die deutliche Idee eines Guts muß notwendig eine angenehme Empfindung erwecken, auch wenn uns selbst dieses Gut nicht gehört; denn die Ideen haben dieselbige, nur eine schwächere Wirkung, als die Dinge selbst« (S. 85). Wir haben schlichtweg »einen natürlichen Hang […], an dem guten und Uebel anderer Theil zu nehmen« (ebd., S. 86). Ebd., S. 91. Ebd., S. 92f. Vgl. ebd., S. 88.
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mit dem Anderen identifizieren, ihn als einen Teil von uns selbst betrachten. Urteilen wir unparteilich, nehmen wir die Perspektive der gesamten Menschheit ein.26 Sulzer hätte argumentieren können, dass die Glückseligkeit in Gestalt moralischer Empfindungen zwar der Lohn der Tugend ist, aber ein Leben ohne Schmerz auch für den Tugendhaftesten nicht möglich ist, weil Gott aus metaphysischen Gründen nichts Vollkommenes schaffen kann. Wir können als Geschöpfe Gottes eine höchste, aber wir können niemals eine vollkommene Glückseligkeit erlangen. Doch er entscheidet sich für eine andere Argumentation. Gemäß dem Grundsatz, dass wir nur zu solchen Handlungen verbunden sind, die wir auch vollziehen können, vertritt er die Ansicht, dass wir der vollkommenen Tugend und damit der vollkommenen Glückseligkeit bereits in dieser Welt fähig sind. Es ist für uns Menschen eine realistische Option, ein »vollkommenes glückliches Leben« mit ausschließlich angenehmen Empfindungen zu führen.27 Unser heute empfundener Schmerz ist eine notwendige Voraussetzung dafür, vielleicht schon morgen die Vollkommenheit zu erreichen. Dieser Schmerz beruht entweder auf inneren oder auf äußeren Ursachen. Widerspricht unser moralischer Charakter »den ewigen Gesetzen der Ordnung« und ist er »der moralischen Schönheit zuwider«,28 entsteht ebenso Schmerz wie im Falle von Wünschen, die wir aufgrund der äußeren Umstände unseres Handelns nicht verwirklichen können. Doch die Abwesenheit von Schmerz bedeutet nach Sulzer nicht, dass wir glücklich sind. Insbesondere unsere moralischen Vergnügungen setzen eine bestimmte Tätigkeit voraus.29 Wollen wir den Schmerz überwinden, dann müssen wir unsere Erkenntnis der moralischen Ordnung der Welt verbessern. Erkennen wir sie, dann handeln wir ihrer Natur und unserer Bestimmung entsprechend. Wenn die vollkommene Glückseligkeit in dieser Welt möglich ist, warum hat Gott die Menschen dann nicht von Anfang an als glückliche Wesen geschaffen? Sulzer beansprucht, eine originelle Antwort auf diese Frage geben zu können: Gott hat die beste »moralische Einrichtung« der Welt geschaffen.30 Aber es stand ihm nicht frei, den »endlichen Wesen […] den höchsten Grad der Glückseligkeit [zu] geben«,31 weil er nicht Wesen schaffen kann, die zugleich endlich und vollkommen sind. Die Endlichkeit des Menschen zeigt sich nach Sulzer jedoch nicht darin, dass er der vollkommenen Tugend und Glückseligkeit in dieser Welt nicht teilhaftig werden kann. Seine Endlichkeit besteht vielmehr ›nur‹ darin, dass er sich »in einer gewissen Zeit« Kenntnisse darüber erwerben muss, was ihn glücklich macht.32 Sulzers These lautet also, 26
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»Sobald man sich angewöhnt hat, die übrigen Menschen als Theil von sich selbst zu betrachten, so ist man Freund des ganzen menschlichen Geschlechts, und empfindet über dessen Wohlergehen Vergnügen« (ebd. S. 97). Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (s. Anm. 2), S. 324. Ebd., S. 326. »Sie fordern eine beständige aufmerksame Sorgfalt, den Zustand andrer verständiger Wesen kennen zu lernen, und eine Fähigkeit in dieselben wirken zu können. Dieß setzt in den verständigen Wesen selbst eine vollkommne moralische Güte und die genaueste Verbindung zwischen ihnen voraus. Denn ohne diese Verbindung könnte sich die moralische Güte gar nicht äußern.« (Ebd., S. 330; vgl. S. 328.) Ebd., S. 323 Ebd., S. 335. Ebd., S. 337; vgl. auch ebd., S. 335: »[…] die Natur eines endlichen Wesens erlaubt nicht, daß es denjenigen Grad von Vollkommenheit, welcher zu der höchsten Glückseligkeit nothwendig ist, erreiche, ohne vorher eine gewisse Anzahl niedrigerer Grade, wo es bald Vergnügen, bald Schmerz empfand, durchgegangen zu seyn.«
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dass unsere Endlichkeit endlich ist, weil wir nach und nach ein vollkommenes Wissen und damit eine vollkommene Glückseligkeit erlangen können. Ein wissender Mensch kennt keinen Schmerz.33 Während der »ehrliche Mensch […] den Weg der Tugend« findet,34 verfehlt ihn der Böse. Der böse Mensch vollzieht Handlungen, die »seinen natürlichen und unveränderlichen Neigungen widersprechen« und verstößt somit gegen den »Satz der Weisheit«.35 Weil jeder nach seinem Glück strebt, die schlechte Handlung aber unglücklich macht, will der Böse das Böse gar nicht. Das Böse hat keine selbständige Realität, sondern stellt eine defizitäre Form des Guten dar. In einer Anmerkung zur deutschen Übersetzung von Humes Enquiry concerning Human Understanding von 1755 führt Sulzer aus: »[S]o wird das Böse ganz aus der Schöpfung wegfallen, und man wird sagen müssen, das Böse sey nur ein geringerer Grad des Guten, das böseste Wesen sey von dem guten nur durch einen geringeren Grad des Guten unterschieden.«36 Wenn das Streben nach dem Bösen auf Unkenntnis beruht, droht das Problem seiner Unzurechenbarkeit. Um dies zu umgehen, greift Sulzer dankbar auf Humes Konzeption der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit zurück. Der Böse handelt freiwillig, weil ihn keiner zwingt, böse zu handeln. Was will man denn mehr haben, um frey zu seyn, als nur das zu thun, was man selbst gerne will. Wenn nun gleich unser gerne wollen eine nothwendige Folge der vorhergegangenen Vorstellungen ist, so ist es darum nichts desto weniger unser eigen Werk und unser eigener Trieb.37
Mit dem »Satz« oder dem »Principium der Weisheit« hat Sulzer ein erstes moralisches Prinzip gefunden, dem er mit dem »Princip der Gerechtigkeit« und dem Prinzip der Großmut zwei weitere zur Seite stellt. Mit dem »Princip der Gerechtigkeit« drückt Sulzer unsere wechselseitigen Verbindlichkeiten aus und beruft sich dabei auf die »natürliche Gleichheit der Menschen«, eine Gleichheit, die für Sulzer den Status eines Axioms hat.38 Er argumentiert, dass sich jeder Mensch gemäß den Notwendigkeiten, denen er aufgrund seiner eigenen Natur unterliegt, bestimmte Dinge schuldet, auf die er dementsprechend auch Ansprüche hat. Ansprüche bezeichnen Rechte. Aufgrund der Gleichheit der Menschen muss ich meine Rechte auch anderen Menschen zugestehen. Diese Rechte verpflichten mich zur Gerechtigkeit. Da die Gründe auf beyden Seiten gleich sind, so würde es ungereimt und widersprechend seyn, entgegengesetzte Schlüsse darauf zuziehen. Und dieß ist, welches eben so gegründet und gewiß ist, als das Principium der Weisheit.39
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»[…] je vollkommner die Fähigkeiten eines endlichen Wesens sind; desto gesicherter es vor dem Schmerze, und desto fähiger es zum Genuße jeder Art von Vergnügen ist. Hieraus folgt also, (wenn alle übrigen Umstände gleich sind) daß je mehr Zeit es angewandt hat, seine Kenntnisse vollkommner zu machen, desto mehr nähert es sich der höchsten Glückseligkeit« (ebd., S. 339). Sulzer: Psychologische Betrachtungen (s. Anm. 2), S. 283 Ebd., S. 287. David Hume: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntnis. Hamburg, Leipzig 1755 [ND Reception of the Scottish Enlightenment in Germany: Six Significant Translations, 1755–1782. 7 vols. Ed. and with introductions by Heiner F. Klemme, Bristol 2000, vol. I.], S. 237. Ebd., S. 234 Sulzer: Psychologische Betrachtungen (s. Anm. 2), S. 287. Ebd.
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Die Erkenntnis unserer Pflichten gegenüber anderen Personen entwickelt nach Sulzer allerdings nur dann eine bewegende Kraft, wenn sie auch empfunden wird. »Die Wahrheit, die man empfinden will, muß die Seele gleichsam berühren, und sich ihr einverleiben, wenn ich mich so ausdrücken darf.«40 Wir empfinden eine Verpflichtung, wenn unsere Kenntnis von einem emotionalen Zustand des Unbehagens begleitet wird, den wir überwinden möchten. Erkenne ich beispielsweise das Elend meines Nachbarn, ruft dies in mir unangenehme Empfindungen hervor, die ich durch eine gerechte Handlung überwinden möchte. Während die Gerechtigkeit auf die Verhinderung eines Bösen und Schlechten zielt, richtet sich das dritte moralische Prinzip der Großmut auf die Beförderung des Guten: Die Gerechtigkeit will die Menschen einander gleich, die Großmuth will alle zu einem einzigen Individuo machen; denn sie ist eigentlich nichts anders als der Hang und die Neigung, seinen Vortheil und sein Bestes bloß in dem Vortheile und in dem Besten des ganzen menschlichen Geschlechts zu sehen und zu empfinden.41
3. Der philosophische Gehalt von Sulzers Ethik Was ist von Sulzers ethischen Ansichten zu halten? Die Beschäftigung mit seinen Schriften ist kein Selbstzweck. Man möchte, wenn nicht philosophisch belehrt, dann doch wenigstens mit begrifflichen Präzisierungen, originellen Problembeschreibungen und überraschenden Perspektiven unterhalten werden. Das alles findet sich bei Sulzer eher nicht. Wer die Voraussetzungen und Eckpfeiler des kontinentaleuropäischen, vor-kantischen Eudämonismus kennen lernen möchte, ist gut beraten, Leibniz zu lesen und findet in Wolff einen Autor, der sich ausführlicher und mit größerer Energie dem Zusammenhang von Vollkommenheit und Glückseligkeit als Sulzer widmet.42 Wer verstehen will, welche Optionen einer Theorie der Moral zur Verfügung stehen, die Glückseligkeit, Gefühl und Teleologie verbinden möchte, beschäftigt sich mit Francis Hutcheson – oder mit David Hume, wenn er bereit ist, die Glückseligkeit in den Hintergrund treten zu lassen und auf die Teleologie ganz zu verzichten. Probleme und Alternativen, die im Kontext der angelsächsischen, insbesondere der schottischen Moralphilosophie von Hobbes bis Adam Smith in aller Ausführlichkeit diskutiert worden sind, werden von Sulzer nicht aufgegriffen und einer Lösung zuzuführen versucht. In der Beobachtung der eigenen psychischen Vorgänge und Prozesse glaubt er einen festen Grund für seine Aussagen zu finden, der keiner externen Belehrung bedarf und durch keine abweichende Meinung erschüttert werden kann. Gibt es wirklich eine »höchste Glückseligkeit« in dieser Welt, in der höchste Vollkommenheit und höchste Lust harmonieren? Hatte nicht schon einer von Sulzers Gewährsmännern, nämlich Leibniz, berechtigte Zweifel an dieser Auffassung angemeldet, wenn er in den Nouveaux Essais Theophilus sagen lässt:
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Ebd., S. 295. Ebd., S. 305. Siehe weiterführend u.a. Massimo Mori: Glück und Autonomie. Die deutsche Debatte über den Eudämonismus zwischen Aufklärung und Idealismus. In: Studia Leibnitiana 25.1 (1993), S. 27–42.
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Heiner F. Klemme Ich weiß nicht, ob eine größte Lust möglich ist; ich würde eher denken, daß sie ins Unendliche wachsen kann, denn wir wissen nicht, bis wohin unsere Kenntnisse und Organe in all der Ewigkeit gebracht werden können, die uns erwartet. Ich glaube daher, daß das Glück eine dauernde Lust ist, was ohne einen dauernden Fortgang zu neuen Freuden nicht statthaben kann.43
Und vertritt Thomas Hobbes im Leviathan nicht die Ansicht, dass es gar keinen permanenten Glückszustand geben kann, weil der Mensch bewegte Materie ist und sich nach der Befriedigung der einen Neigung schon die nächste regt, die nach Erfüllung drängt? Hätte Hobbes mit seiner Auffassung recht, wonach unsere Wünsche und Begierden der Hydra gleichen, wäre alles, was Leibniz und Sulzer über die Glückseligkeit sagen, falsch. Aber nicht einmal ansatzweise informiert Sulzer seine Leser über diese wichtige Alternative zu seiner Glückskonzeption und zeigt entsprechend auch kein Interesse daran, sie argumentativ zurückzuweisen. Sulzer scheint ganz nach dem Motto vorzugehen: Worüber ich schweige, darüber lohnt es sich auch nicht, nachzudenken. Sulzer wird auch nicht zum Problem, was Hume mit seiner Theorie der künstlichen Tugenden behauptet, nämlich dass Gerechtigkeit keine natürliche Tugend sein kann, weil wir über kein universelles Wohlwollen und schon gar nicht über eine Großmut verfügen, die die Differenz zwischen uns und den anderen in praktischer Hinsicht nivelliert.44 Auch Sulzers Schweigen über das Prinzip der Sympathie, das nach Hume wie kein zweites kennzeichnend für die moralische Natur des Menschen ist und erklärt, wie wir mit anderen Personen mitempfinden können, überrascht ebenso wie das Fehlen jeglichen Bezugs auf die smithsche Idee eines unparteiischen Zuschauers. Sulzer wäre als Autor ethischer Schriften also kaum der Erinnerung wert, wenn seine »Wissenschaft der Glückseligkeit« nicht von Kant einer expliziten Kritik für würdig erachtet worden wäre. Mit Blick auf Kants Ethik des Kategorischen Imperativs gewinnen Sulzers Ausführungen eine für die problemorientierte Historiographie der modernen Ethik unerwartete Relevanz.
4. Sulzers Frage nach der motivierenden Kraft der Tugend und Kants Antwort Im zweiten Abschnitt (»Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten«) der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten betont Kant die Notwendigkeit einer »völlig isolirte[n] Metaphysik der Sitten, die mit keiner Anthropologie, mit keiner Theologie, mit keiner Physik oder Hyperphysik, noch weniger mit verborgenen Qualitäten (die man hypophysisch nennen könnte) vermischt ist«.45 Diese Metaphysik sei nicht allein für die Erkenntnis unserer Pflichten von zentraler Bedeutung, sondern gerade auch »ein Desiderat von der höchsten Wich43 44
45
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Frz./dt. Hg. von Hans Heinz Holz. Darmstadt 1985, II, § 41, S. 305. Siehe Heiner F. Klemme: Naturalismus ›sans phrase‹. Humes Konzeption der Gerechtigkeit. In: Olaf Asbach (Hg.): Vom Nutzen des Staates. Das Staatsverständnis des klassischen Utilitarismus: Hume – Bentham – Mill. Baden-Baden 2009, S. 109–128. AA IV, S. 410.
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tigkeit zur wirklichen Vollziehung ihrer Vorschriften.«46 Als Beleg für die Relevanz der Metaphysik für unser Handeln fügt Kant die folgende Beobachtung an: Denn die reine und mit keinem fremden Zusatze von empirischen Anreizen vermischte Vorstellung der Pflicht und überhaupt des sittlichen Gesetzes hat auf das menschliche Herz durch den Weg der Vernunft allein (die hiebei zuerst inne wird, daß sie für sich selbst auch praktisch sein kann) einen so viel mächtigern Einfluß, als alle andere Triebfedern, die man aus dem empirischen Felde auf bieten mag, daß sie im Bewußtsein ihrer Würde die letzteren verachtet und nach und nach ihr Meister werden kann; […].47
Wer demgegenüber »eine vermischte Sittenlehre« vertrete und Gefühle und Vernunftbegriffe vermenge, könne die »Bewegursachen« unter kein Prinzip bringen. Das »Gemüth« werde dann nur »zufällig zum Guten, öfters aber auch zum Bösen« geleitet.48 In einer Anmerkung zu diesem Text weist Kant auf den Autor hin, der mit Blick auf unsere »Triebfedern« und »Bewegursachen« zwar die richtige Frage gestellt, aber leider eine falsche bzw. unzureichende Antwort gegeben hat: Ich habe einen Brief vom sel. vortrefflichen Sulzer, worin er mich frägt: was doch die Ursache sein möge, warum die Lehren der Tugend, so viel Überzeugendes sie auch für die Vernunft haben, doch so wenig ausrichten. Meine Antwort wurde durch die Zurüstung dazu, um sie vollständig zu geben, verspätet. Allein es ist keine andere, als daß die Lehrer selbst ihre Begriffe nicht ins Reine gebracht haben, und indem sie es zu gut machen wollen, dadurch, daß sie allerwärts Bewegursachen zum Sittlichguten auftreiben, um die Arznei recht kräftig zu machen, sie sie verderben. Denn die gemeinste Beobachtung zeigt, daß, wenn man eine Handlung der Rechtschaffenheit vorstellt, wie sie von aller Absicht auf irgend einen Vortheil in dieser oder einer andern Welt abgesondert selbst unter den größten Versuchungen der Noth oder der Anlockung mit standhafter Seele ausgeübt worden, sie jede ähnliche Handlung, die nur im mindesten durch eine fremde Triebfeder afficirt war, weit hinter sich lasse und verdunkle, die Seele erhebe und den Wunsch errege, auch so handeln zu können. Selbst Kinder von mittlerem Alter fühlen diesen Eindruck, und ihnen sollte man Pflichten auch niemals anders vorstellen.49
Leider ist aus dieser Textstelle nicht ersichtlich, wann der 1779 verstorbene Sulzer Kant diesen Brief geschrieben hat.50 Erhalten ist allerdings ein vom 8. Dezember 1770 datierter Brief, in dem Sulzer eine Problematik anspricht, die sehr gut zur kantischen Anmerkung in der Grundlegung passt.51 Sulzer äußert in diesem Brief eine Bitte an Kant: Ich wünschte wohl von ihnen zu erfahren, ob wir Hoffnung haben können, Ihr Werk über die Metaphysik der Moral bald zu sehen. Dieses Werk ist bei der noch so wankenden Theorie der Moral 46 47 48 49 50
51
Ebd. AA IV, S. 410f. Ebd. AA IV, S. 411. In der von Christoph Horn, Corinna Mieth und Nico Scarano besorgten kommentierten Ausgabe der Grundlegung wird Sulzers Tod fälschlich auf das Jahr 1799 datiert (siehe Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kommentar von Christoph Horn, Corinna Mieth, Nico Scarano, Frankfurt a. M. 2007, S. 201). Otto Schöndörffer (siehe Immanuel Kant: Briefwechsel. Auswahl und Anmerkungen von Otto Schöndörffer, bearbeitet von Rudolf Malter. Hamburg 31986, S. 822) bezweifelt im Unterschied zur Akademie-Ausgabe und zu Werner Stark (siehe Immanuel Kant: Vorlesungen zur Moralphilosophie. Hg. von Werner Stark. Berlin, New York 2004, S. 32, Anm. 28), dass sich Kant auf diesen Brief Sulzers bezieht.
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Heiner F. Klemme höchst wichtig. Ich habe auch etwas in dieser Art versucht, indem ich unternommen diese Frage aufzulösen: Worin besteht eigentlich der physische oder psychologische Unterschied der Seele, die man tugendhaft nennt, von der, die lasterhaft ist. Ich habe gesucht die eigentlichen Anlagen zur Tugend und zum Laster in den ersten Äußerungen der Vorstellungen und der Empfindungen zu entdecken, und glaube, die Untersuchung um so weniger ganz vergeblich unternommen zu haben, da sie mich auf ziemlich einfache und leicht zu fassende Begriffe geführet hat, die man ohne Mühe und Umwege auf den Unterricht und die Erziehung anwenden kann.52
Sulzer hat sich dieser Problematik in seinen zuerst 1769 publizierten Psychologischen Betrachtungen über den sittlichen Menschen zugewandt und behauptet, dass das »bloße Nachdenken […] hinlänglich« ist, »uns zur Weisheit zu leiten; aber es ist nicht hinlänglich, die Tugend der Gerechtigkeit zu zeugen.«53 Will »man nach Grundsätzen gerecht seyn«, muss man zwar einen »sehr einfachen Vernunftschluß gemacht haben […]: alle Menschen sind einander gleich; folglich haben sie alle dieselben natürlichen Ansprüche.« Doch das »Räsonnement allein ist nicht hinlänglich, die Gerechtigkeit in dem Herzen des Menschen zu zeugen.«54 Damit die »Wahrheit wirksam« wird, muss etwas hinzutreten: Man kann »nicht eher gerecht seyn […] bis man zu dem Grade der Vernunft gelangt ist, der die Vorstellung oder die Erkenntniß des Wahren in Empfindung verwandelt. Jene Wahrheit, welche den Grund der Gerechtigkeit ausmachet, muß der Seele dergestalt einverleibet seyn, daß sie sich da als eine ihrer Modificationen empfinden lasse; daß bey allem, was dieser Wahrheit zuwider zu seyn scheint, nicht nur der Verstand den Widerspruch bemerke, sondern auch die Seele den Zwang und die Gewalt, die ihr dadurch angethan wird, so empfinde, wie sie dieselben alsdann empfindet, wenn sie von einer sinnlichen Empfindung gezwungen wird, etwas, das ihrer Natur zuwider ist, zuzugeben.« Weil wir die »Stärke der Evidenz« und der »Wahrheit«, zumal wenn sie die Bedürfnisse anderer Personen betrifft, nur »durch eine lange Gewohnheit und Uebung« empfinden, erklärt dies, »warum es so selten ist, wahrhaftig gerechte Menschen zu finden; und warum es hundert mitleidige und wohlthätige Personen gegen eine einzige gerechte Person giebt.«55 Warum verweist Kant in seiner 1785 erschienenen Grundlegung auf eine briefliche Nachfrage Sulzers, die vielleicht auf das Jahr 1770 zurückgeht, in der er sich auf einen 1769 publizierten Beitrag von ihm bezieht? Eine Antwort auf diese Frage ist zweifellos darin zu sehen, dass Kant Sulzers Bitte zum Anlass nimmt, die Eigentümlichkeiten seiner Metaphysik der Sitten gegenüber der der Praxis der Sittlichkeit abträglichen »vermischten Sittenlehre« der Popularphilosophie, die überwunden werden muss, herauszustellen. Sulzer hat nach Kant völlig zu Recht gesehen, dass es einen Zusammenhang zwischen Begriffen und Empfindung (Gefühl) geben muss, wenn wir aus Grundsätzen moralisch handeln wollen. Doch Sulzer ist es nach Kant nicht gelungen, diesen Zusammenhang zu klären. Das Motiv unseres tugendhaften Strebens beruht weder in der Aussicht auf unser Glück und Wohlergehen, noch handelt es sich bei dem Gefühl der 52
53 54 55
Kant: Briefwechsel (s. Anm. 51), S. 86. – In seiner einflussreichen Studie Kant und die Ethik der Griechen über Kants ›platonische‹ Wende in der Moralphilosophie zwischen 1767 und 1770 geht Klaus Reich (Kant und die Ethik der Griechen [1935]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Manfred Baum, Udo Rameil, Klaus Reisinger, Gertrud Scholz. Hamburg 2001, S. 113–146) auf Sulzer und das Problem der moralischen Motivation nicht ein. Sulzer: Psychologische Betrachtungen (s. Anm. 2), S. 301. Ebd., S. 301f. Alle Zitate ebd., S. 302f.
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Achtung um ein in bestimmter Weise kultiviertes Gefühl, eine »Neigung« oder ein »Verlangen«.56 Wer verstehen will, wie uns eine ›Wahrheit‹ motivieren kann, muss das Moralgesetz in seiner von allen empirischen Elementen absehenden »Reinigkeit und Strenge« vorstellen.57 Nur dann entfaltet die reine praktische Vernunft in Gestalt eines durch sie in uns gewirkten Gefühls der Achtung ihre höchste motivationale Schubkraft. Demnach beschreitet Sulzer mit seiner Psychologisierung der Moral den falschen Weg: Wer das Moralgesetz in seiner normativen und motivationalen Dimension verstehen will, braucht eine Metaphysik der Sitten, keine empirische Seelenkunde. Wer die »Reinigkeit und Strenge« des Moralgesetzes in Zweifel zieht, untergräbt die Sittlichkeit. Je mehr Anthropologie, Theologie und Physik wir in die Theorie mit der Absicht mischen, sie schmackhafter zu machen, desto weniger erreichen wir unser praktisches Ziel, nämlich die Verbesserung der Sitten.58 Wenden wir uns Kants Antwort auf Sulzer in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive zu, stellt sich die Frage, warum Kant Sulzers Frage nicht bereits in der Kritik der reinen Vernunft von 1781 beantwortet hat.59 Vielleicht beantwortet Kant diese Frage 1781 deshalb nicht unter Verweis auf Sulzer, weil er zu diesem Zeitpunkt noch keine Antwort gefunden hat, die ihn selbst restlos überzeugen würde. Zwar steht für Kant 1781 fest, dass das Moralgesetz auf der reinen Vernunft beruht.60 Aber zu diesem Zeitpunkt seiner philosophischen Entwicklung hat Kant 56 57
58
59
60
Ebd., S. 305. AA IV, S. 405. Kant wird nicht müde, die praktische Relevanz der reinen Vernunft herauszustellen. So heißt es an einer anderen Stelle der Grundlegung: »Aus dem Angeführten erhellt: daß alle sittliche Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung haben und dieses zwar in der gemeinsten Menschenvernunft eben sowohl, als der im höchsten Maße speculativen; daß sie von keinem empirischen und darum bloß zufälligen Erkenntnisse abstrahirt werden können; daß in dieser Reinigkeit ihres Ursprungs eben ihre Würde liege, um uns zu obersten praktischen Principien zu dienen; daß man jedesmal so viel, als man Empirisches hinzu thut, so viel auch ihrem ächten Einflusse und dem uneingeschränkten Werthe der Handlungen entziehe« (AA IV, S. 411). Zu einigen zentralen Aspekten der Kantischen Theorie moralischer Motivation zwischen 1775 und 1785 siehe Heiner F. Klemme: Praktische Gründe und moralische Motivation. Eine deontologische Perspektive. In: Heiner F. Klemme, Manfred Kühn, Dieter Schönecker (Hg.): Moralische Motivation. Kant und die Alternativen. Hamburg 2006, S. 113–153 (mit weiterführenden Literaturangaben). Diese Feststellung trifft Kant bereits in seiner Inauguraldissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis von 1770 (»Die Moralphilosophie wird mithin, sofern sie die ersten Grundsätze der Beurteilung an die Hand gibt, nur durch den reinen Verstand erkannt und gehört selber zur reinen Philosophie, und Epikur, der ihre Unterscheidungsmerkmale in das Gefühl der Lust und Unlust verlegt hat, wird mit höchstem Recht getadelt, zusammen mit gewissen Neueren, die ihm in weitem Abstand bis zu einem bestimmten Punkt gefolgt sind, wie Shaftesbury und dessen Anhänger.« § 9, zitiert nach der Übersetzung in Immanuel Kant: Werke in 10 Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983, Bd. 5, S. 39–41) und Mitte der siebziger Jahren in seinen Vorlesungen über Moralphilosophie (›Nachschrift Kaehler‹) (vgl. Kant: Vorlesungen zur Moralphilosophie [s. Anm. 51], S. 32: »Das motivum morale muß also gantz rein und vor sich selbst erwogen und von andern motivis der Klugheit und der sinne abgesondert werden […] Und ein reiner moralischer Grund hat grössere Triebfeder, als wenn er untermengt ist mit pathologischen und pragmatischen motivis; denn solche motiva haben mehr bewegende Krafft für die Sinnlichkeit, aber der Verstand sieht auf die allgemeine gültige bewegende Krafft«) und über Anthropologie. So heißt es in der ›Anthropologie-Friedländer‹: »Das Vermögen nach Grundsätzen und Maximen zu handeln, beruht darauf, daß der Mensch nach Begriffen handeln kann, die Begriffe aber müssten bey ihm zur Triebfeder werden. die Begriffe sind aber keine Triebfedern, denn was ein Gegenstand des Verstandes ist, kann doch nicht ein Gegenstand des Gefühls seyn,
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Heiner F. Klemme
noch nicht gesehen, wie uns die reine Vernunft subjektiv motivieren kann, ohne dass ein direkter Bezug zur Glückseligkeit hergestellt wird.61 Ganz in diesem Sinne gesteht Kant in der Sulzer-Anmerkung der Grundlegung, dass seine Antwort auf Sulzers Frage »durch die Zurüstung dazu, um sie vollständig zu geben, verspätet« wurde. Mit anderen Worten: Kant scheint der eigenen Wahrnehmung nach erst 1785 Sulzers Frage öffentlich beantworten zu können. Erst zu diesem Zeitpunkt hat Kant mit der Lehre vom Gefühl der Achtung den – wie es sich in der Moralphilosophie ›Kaehler‹ ausdrückt – »Stein der Weisen« gefunden: »Urtheilen kann der Verstand freylich, aber diesem VerstandesUrtheil eine Krafft zu geben, und daß es eine Triebfeder werde den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen.«62 Der Schlüsselbegriff zum Verständnis von Kants eigener Überwindung von Restbeständen des popularphilosophischen Eudämonismus zugunsten einer Theorie der Achtung und der Autonomie ist der Begriff der Würdigkeit. Während Kant in der Ende 1787 erschienenen Kritik der praktischen Vernunft und in der Kritik der Urteilskraft (1790) den Begriff der Würdigkeit einzig und allein mit der Frage nach dem Gegenstand unseres moralischen Hoffens in Verbindung bringt, bezieht er 1781 den Begriff der »Würdigkeit, glücklich zu sein«,63 noch auf die Frage »Was soll ich tun?«.64 Die Frage, was ich tun soll, wird 1781 durch folgenden Imperativ beantwortet: »Tue das, wodurch du würdig wirst, glückselig zu sein.«65 Dieser Begriff der Glückseligkeit leitet dann zur Frage nach dem Gegenstand meines moralischen Hoffens über: Das »System der Sittlichkeit« ist »in der Idee der reinen Vernunft« mit »dem der Glückseligkeit unzertrennlich« verbunden, weil »jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache« haben muss.66 Mit anderen Worten: Könnte ich nicht hoffen, durch mein tugendhaftes Handeln glückselig zu werden, könnte ich mich dieser Glückseligkeit auch nicht würdig erweisen. Würdig kann man sich nur demgegenüber erweisen, was man auch erreichen kann. Das kategorische Gebot der reinen Vernunft, mich der Glückseligkeit würdig zu erweisen, wäre ansonsten leer. Ich hätte kein Motiv, moralisch zu handeln. Ultra posse nemo obligatur. Die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Glückswürdigkeit und Glückshoffnung wird Kants Denken immer begleiten. Aber die Antwort, die Kant in der Grundlegung gibt,
61
62 63 64 65 66
eine Triebfeder aber ist ein Gegenstand des Gefühls, damit sie uns bewegen könne. Obgleich nun die Begriffe vom guten und bösen nicht Gegenstände des Gefühls sind, so können sie doch dazu dienen, daß sie das Gefühl rege machen, nach diesen Begriffen zu handeln, alsdenn handelt man nach Grundsätzen und Maximen.« (AA, XXV, S. 649.) Es ist bemerkenswert, dass Kant in der ›Nachschrift Kaehler‹ die motivierende Kraft der reinen Vernunft zunächst zu bemerken scheint, im nachfolgenden Satz aber eine Beziehung zum Wohlgefallen Gottes herstellt: »Und ein reiner moralischer Grund hat grössere Triebfeder, als wenn er untermengt ist mit pathologischen und pragmatischen motivis; denn solche motiva haben mehr bewegende Krafft für die Sinnlichkeit, aber der Verstand sieht die allgemein gültige bewegende Krafft. Die Sittlichkeit ist zwar von schlechtem Eindruk, sie gefällt und vergnügt nicht so, aber es ist eine Beziehung auf das allgemein gültige Wohlgefallen, sie muß so gar dem höchsten Wesen gefallen, und das ist der stärkste BewegungsGrund.« (Kant: Vorlesungen zur Moralphilosophie [s. Anm. 51], S. 32f.) Ebd., S. 69; vgl. die Hinweise zu kontroversen Interpretationen dieser Passage von Werner Stark in seiner Anmerkung zu dieser Textpassage. KrV A 806/B 834. KrV A 805/B 833 KrV A 808f./B 836f. KrV A 809/B 837.
Johann Georg Sulzers ›vermischte Sittenlehre‹
321
unterscheitet sich signifikant von der, die er in der Kritik der reinen Vernunft anführt. Denn in seinen ab 1785 erschienenen Schriften betont Kant mit Nachdruck, dass weder die Geltung noch die objektive Motivationsleistung der reinen Vernunft durch Zweifel am Gegenstand unseres Hoffens untergraben werden kann.67 Diese späteren Antworten betonen also eine Differenz zwischen der Frage nach dem moralischen Sollen und dem moralischen Hoffen auf eine Art und Weise, wie sie sich in den beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft nicht findet. Eine Formulierung jedenfalls, wonach wir uns durch die reine praktische Vernunft von unseren unmittelbaren sinnlichen Reizen distanzieren und uns von Überlegungen leiten lassen müssen, die auf das gerichtet sind, »was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert, d.i. nützlich und gut ist«,68 lesen wir nur in der Kritik der reinen Vernunft, nicht aber in denjenigen Schriften, in denen Kant die Begriffe der Autonomie und der Achtung in das Zentrum seiner Ausführungen stellt. Mit diesen Begriffen wird 1785 die unmittelbare Verbindung von Sollen und Glückseligkeitswürdigkeit gekappt. Vor dem Hintergrund dieser zentralen entwicklungsgeschichtlichen Aspekte von Kants Denken leistet Sulzer durchaus einen Beitrag wenn nicht zur Genese, dann zumindest zur Problemstellung der modernen Ethik. Denn Sulzer macht Kant bereits 1770 auf ein Problem aufmerksam, dessen Lösung der Königsberger Philosoph erst nach der Publikation der Kritik der reinen Vernunft gelingen will. In der Terminologie von Kants moralphilosophischen Vorlesungen aus den siebziger Jahren formuliert: Die Vernunft ist nicht nur das principium dijudicationis, es ist auch das principium executionis der Moral.69 Die bewegende Kraft der reinen Vernunft wird uns allerdings erst dann deutlich, wenn wir das Prinzip der Moral in einer Metaphysik der Sitten aufsuchen und die »vermischte Sittenlehre« der Popularphilosophen auch im Bereich der Motivationslehre zurückweisen. Wir erkennen dann, dass das Gefühl, das uns die Stimme der reinen Vernunft in uns auch subjektiv ernst nehmen lässt, durch diese Vernunft selbst bewirkt worden ist. Erst mit der 1785 vorgetragenen Theorie der Achtung ist es Kant dem eigenen Selbstverständnis nach gelungen, den Gordischen Knoten im Verhältnis von Vernunft und Gefühl auch im Bereich der Motivationslehre zu durchschlagen. Erst in der Grundlegung hat Kant den Schlüssel zum Übergang von der »populären Philosophie, die nicht weiter geht, als sie durch Tappen vermittelst der Beispiele kommen kann, bis zur Metaphysik (die sich durch nichts empirisches weiter zurückhalten läßt und, in dem sie den ganzen Inbegriff der Vernunfterkenntnis dieser Art ausmessen muß, allenfalls bis zu Ideen, wo selbst die Beispiele uns verlassen)« gefunden.70 Und weil der Popularphilosoph und Eklektiker Sulzer die richtige Frage zum richtigen Zeitpunkt in Kants philosophischer Entwicklung gestellt hat, dankt ihm 67
68 69 70
Siehe beispielsweise Kants Diskussion eines »rechtschaffenden Mannes (wie etwa den Spinoza) […], der sich fest überredet hält, es sei kein Gott« (AA V, S. 452) in § 87 in der Kritik der Urteilskraft sowie seine Ausführungen im Aufsatz Über den Gemeinspruch: »Die Triebfeder, welche der Mensch vorher haben kann, ehe ihm ein Ziel (Zweck) vorgesteckt wird, kann doch offenbar nichts andere sein als das Gesetz selbst, durch die Achtung, die es (unbestimmt, welche Zwecke man haben und durch dessen Befolgung erreichen mag) einflößt. Denn das Gesetz in Ansehung des Formalen der Willkür ist ja das einzige, was übrig bleibt, wann ich die Materie der Willkür (das Ziel, wie sie Hr. G.[arve] nennt) aus dem Spiel gelassen habe« (AA VIII, S. 282). KrV A 802/B 830. Siehe Kant: Vorlesungen zur Moralphilosophie (s. Anm. 51), S. 55ff. AA IV, S. 412.
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Heiner F. Klemme
Kant 1785 in Form einer Anmerkung.71 Durch Kants freundliche Geste ist Sulzer damit ein Platz in der hintersten Reihe des philosophischen Olymps sicher, obwohl er sich aufgrund der suboptimalen Qualität seiner philosophischen Argumente nicht darüber hätte beschweren können, wenn ihm der Einlass verwehrt worden wäre.
71
An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Kants berühmtes Bekenntnis, David Hume habe ihn aus seinem »dogmatischen Schlummer« (AA IV, S. 260) erweckt, auch als Anspielung auf eine Aussage von Sulzer zu verstehen ist, der in seiner Vorrede zur deutschen Übersetzung von Humes Enquiry concerning Human Understanding 1755 schreibt: »Mich dünkt, daß Deutschland mehr, als andere Länder der Gefahr eines schädlichen philosophischen Friedens ausgesetzt ist. Es sey, daß die philosophische Erkenntniß in Deutschland weniger ungewiß ist, als bey andern Völkern, oder daß Deutschland weniger zweifelnde Köpfe zeuget, so dünkt mich einmal gewiß, daß es eine Menge Philosophen in Deutschland giebt, deren Waffen durch den langen Frieden stumpf geworden oder verrostet sind. Ich hoffe, daß die Bekanntmachung dieses Werkes [sic. von Hume, H.K.] sie aus ihrer müßigen Ruhe ein wenig aufwecken, und ihnen eine neue Thätigkeit geben werde. Dieses ist einer von den Gründen, die mich zur Herausgebung dieses Werkes bewogen haben.« (Vgl. Hume: Philosophische Versuche [s. Anm. 36], S. IV n.p.) Nach Sulzer wäre es »kein geringer Vortheil für die Philosophie, wenn jedem Weltweisen in seinen Untersuchungen ein Zweifeler an die Seite gesetzt würde, der ihn immer beym Ärmel zöge, so oft er die Gewissheit einer Sache behauptet, gegen welche noch wichtige Zweifel übrig sind.« (Ebd., S. III n.p.; vgl. KrV A 769/B 797.)
V. ANHANG
Zeittafel
16. 10. 1720
Geburt Johann Georg Sulzers in Winterthur als Sohn des Ratsherren Heinrich Sulzer
1734
Tod der Eltern am Fleckfieber; Sulzer wird unter Vormundschaft eines Freundes seines Vaters gestellt, der ihn auch als Privatlehrer unterrichtet; auf Wunsch des Vaters Ausrichtung der Ausbildung auf den geistlichen Stand
1736
Sulzer bezieht das Gymnasium Carolinum in Zürich und wohnt bei einem Pfarrer zur Pension; erste Kontakte zur Philosophie Christian Wolffs; Freundschaft mit Johann Geßner (1709–1790)
1739
Ordinariat zum Geistlichen der Züricher Synode – ohne Aussicht auf eine Pfarrei
1740
Sulzer wird Hofmeister in Zürich; Freundschaft mit Johann Jakob Bodmer; erste Publikationen
1741
Übernahme einer Predigerstelle in Knonau; ausgedehnte Studien in Philosophie und Naturgeschichte; Freundschaft zum ältesten Sohn von Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733)
1742
Reise durch die Alpen; daraus entsteht: Beschreibung der Merckwürdigkeiten, welche er in einer Ao. 1742 gemachten Reise durch einige Orte des Schweitzerlandes beobachtet hat. Zürich 1743
326
Zeittafel
1743/44
Auf Vermittlung eines befreundeten Züricher Kaufmanns Übernahme einer Hauslehrerstelle bei einem vermögenden Kaufmann in Magdeburg; Bekanntschaft mit dem Berliner Hofprediger Friedrich August Sack
1745
Reise nach Berlin; Bekanntschaft mit dem Mathematiker Leonhard Euler (1707–1783) und dem Mathematiker und Philosophen Pierre-Louis Moreau de Maupertuis (1698–1759); erste pädagogische Schriften
1746
Übersetzung von Johann Jakob Scheuchzers Itineribus Alpinis, publiziert als Natur-Geschichte des Schweitzerlandes in Zürich
1747
Auf Initiative Sacks, Eulers und Maupertuis’ Angebot und Übernahme einer Professur für Mathematik am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin; Freundschaft mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719– 1803), Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) und Christian Ewald von Kleist (1715–1759)
1749
Gründung des Montagsklubs zusammen mit Johann Georg Schulthess, Karl Wilhelm Ramler (u.a.)
1750
Aufnahme als ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaft zu Berlin; Reise nach Zürich in Begleitung von Johann Georg Schulthess (1758–1802) und Friedrich Gottlieb Klopstock; auf der Rückreise nach Berlin: Besuch bei Albrecht von Haller in Göttingen; Heirat mit Catherine Wilhelmine Keusenhof
ab 1751
Regelmäßige Vorträge über philosophische Themen in der Akademie der Wissenschaften, zunächst publiziert in der Histoire de l’Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres; 1773 und 1781 übersetzt und gesammelt in Sulzers Vermischte philosophische Schriften; Beginn der Arbeit an der Allgemeinen Theorie der schönen Künste
1753
Geburt der Tochter Auguste
Zeittafel
327
1755
Herausgabe der ersten Übersetzung von David Humes Essay concerning Human Understandig in Hamburg
1761
Tod seiner Frau; Sulzer verfällt in tiefe Melancholie; einer der ersten Förderer Anna Luisa Karschs (1722– 1791)
1762
Reise nach Magdeburg und in die Schweiz; Sulzer erholt sich nur allmählich
1763
Auf Veranlassung Friedrichs II. Rückreise nach Berlin; Sulzer soll Pläne für eine neuartige Erziehungsanstalt entwerfen; Sulzer fasst allerdings Pläne zur gänzlichen Übersiedelung in die Schweiz
1764
Lukratives Angebot des Königs auf ein Gehalt für den Akademieposten sowie zukünftig für eine Stellung in der neu zu schaffenden Erziehungsanstalt; Sulzer nimmt an und bleibt in Berlin; Freundschaft mit Johann Heinrich Lambert (1728–1777)
1765
Errichtung der neuen Königlichen Ritterakademie zu Berlin; Sulzer erhält eine Professur für Philosophie; Sulzer und Lambert intrigieren gegen den Akademiepräsidenten Euler, der nach St. Petersburg geht; Sulzer übernimmt den Vorsitz der Kommission zur Reform des Joachimsthalschen Gymnasiums
ab 1766
Sulzer sitzt mehreren Kommissionen vor, die das Schulwesen in Preußen reformieren sollen; in diesem Zusammenhang Bekanntschaft mit Johann Joachim Spalding (1714–1804)
1771–1774
Allgemeine Theorie der schönen Künste erscheint in Leipzig
1772
Sulzer erkrankt schwer; bleibende Lungenkrankheit
1775–1776
Reise nach und Kuraufenthalt in Nizza; Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa […] gethanen Reise […]. Leipzig 1780; Bekanntschaft und Freundschaft mit Charles Bonnet (1720–1793)
328
Zeittafel
1776–1779
Direktor der philosophischen Klasse der Akademie der Wissenschaften
27. 02. 1779
Tod in Berlin
Bibliographie
HAR = Histoire (Mémoires) de l’Académie Royale des Sciences et des BellesLettres [de Berlin] pour l’année […]. Berlin. NMA = Nouveaux Mémoires de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres [de Berlin] pour l’année […]. Berlin. VS = Sulzers Vermischte philosophische Schriften. 2 Bde., Leipzig 1773/1781.
Werke Kurze Anleitung zu nützlicher Betrachtung der schweizerischen Naturgeschichte, nebst einer Uebersetzung von Carl Linné: Anleitung, nach welcher ein Naturforscher die Historie eines jeden natürlichen Dinges genau und mit gutem Fortgange verfertigen kann. In: Neuer Historischer Merkurius, oder Sammlung auserlesener, alter und neuer Merkwürdigkeiten aus der Philosophie, Gottesgelahrtheit und Sittenlehre. Zürich 1741. Ausführliche Beschreibung einer merkwürdigen Entdeckung verschiedener Antiquitäten, in dem in der Herrschaft Knonau gelegenen Dorf Nieder-Lunneren, in dem Jahre 1741. In: Neuer Historischer Merkurius, St. 3; auch einzeln erschienen: Zürich 1741; auch in: Johann Jakob Breitinger (Hg.): Zuverlässige Nachricht und Untersuchung von dem Alterthum der Stadt Zürich, und von einer neuen Entdeckung merkwürdiger Antiquitäten […]. Zürich 1741. Fortsetzung der Beschreibung merkwürdiger Antiquitäten, welche bei Lunneren, in der Herrschaft Knonau, sind gefunden worden. Zürich 1742. Gespräch von den Cometen. Zürich 1742. Beschreibung der Merckwürdigkeiten, welche er in einer Ao. 1742 gemachten Reise durch einige Orte des Schweitzerlandes beobachtet hat. Zürich 1743; auch unter dem Titel: Joh. Georg Sulzers Beschreibung einiger Merckwürdigkeiten, welcher er in einer Ao. 1742 gemachten Berg-Reise durch einige Oerter der Schweiz beobachtet hat. Zürich 1747. Versuch einiger vernünftiger Gedanken von der Auferziehung und Unterweisung der Kinder. Zürich 1745; 2. vermehrte und verbesserte Ausg. Zürich 1748.
330
Bibliographie
Versuch einiger moralischer Betrachtungen über die Werke der Natur. Nebst einer Vorrede von A. F. W. Sack. Berlin 1745; Berlin 1750; neue Auflage unter dem Titel: Betrachtungen über besondere Gegenstände der Naturlehre. In: ders.: Unterredungen über die Schönheit der Natur. Berlin 1750; Berlin 1770; Berlin 1774; Berlin 1779; französische Übersetzung von Jean Henri Samuel Formey unter dem Titel: Essais de Physique appliqués à la Morale. In: Jean Henri Samuel Formey (Hg.): Mélanges philosophiques. Leiden 1754, Tome 2d, S. 355–462; die Abteilungen I, III und V vorher veröffentlicht unter dem Titel: Moralische Betrachtungen über die Werke der Natur. In: Neuer Historischer Merkurius 1741; 1742; 1743. Kurzer Begriff aller Wissenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worin jeder nach seinem Innhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. Leipzig 1745; 2. ganz veränderte und sehr vermehrte Ausg. Leipzig 1759; 3. Aufl. Frankfurt a. M. und Leipzig 1772; 4. ganz veränderte und sehr vermehrte Ausg. Frankfurt a. M. und Leipzig 1774; 5. Aufl. Frankfurt a. M. und Leipzig 1778; 6. Aufl. Frankfurt a. M. und Leipzig 1786; lateinische Übersetzungen von Friedrich Wilhelm von Ferber unter dem Titel: Johann Georg Christoph Neide (Hg.): Descriptio artium et disciplinarum. Leipzig 1790, und von Ludwig Heinrich Teucher unter dem Titel: Walther (Hg.): Brevis notitia artium omnium et eruditionis partium. Leipzig 1790; zum Teil umgearbeitet von Erduin Julius Koch in: Erduin Julius Koch (Hg.): Encyklopädie aller philologischen Wissenschaften für Schulen und Selbstunterricht. Berlin 1793. Untersuchung von dem Ursprung der Berge. Zürich 1746; auch in Johann Jakob Scheuchzer: Naturgeschichte des Schweitzerlandes, samt seinen Reisen über die Schweitzerische Gebürge. 2 Theile. Aufs neue hg. von Johann Georg Sulzern. Zürich 1746. Damon oder die platonische Liebe. In: Johann Jakob Bodmer: Pygmalion und Elisa. Hg. von Johann Georg Sulzer. Berlin 1749; einzeln erschienen: Berlin 1749. Unterredungen über die Schönheiten der Natur. Berlin 1750; neue Auflage zusammen mit den Betrachtungen über besondere Gegenstände der Naturlehre: Berlin 1770; Berlin 1774; Berlin 1779. Französische Übersetzung von Jacques–Emmanuel Roques unter dem Titel: Tableau des beautés de la nature. Francfort-sur-le-Mein 1755. Recherche sur l’origine des sentiments agréables & désagréables I–II. In: HAR MDCCLI (1753), p. 57–100; Recherche sur l’origine des sentiments agréables & désagréables III– IV. In: HAR MDCCLII (1754), p. 350–390; einzeln erschienen unter dem Titel: Nouvelle théorie des plaisirs […]; avec des réflexions sur l’origine du plaisir, par Mr. Kaestner […]. 1767; deutsch erschienen unter dem Titel: Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. In: Christoph Friedrich Nicolai (Hg.): Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und Künste. Bd. V. Berlin 1762; einzeln erschienen: Berlin 1762; neu erschienen unter dem Titel: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. In: VS 1, S. 1–98. Gedanken von dem vorzüglichen Werth der epischen Gedichte des Herrn Bodmers. Berlin 1754.
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Nouvel Essai sur la mesure des hauteurs par le moyen du Baromètre. In: HAR MDCCLIII (1755), p. 114–129. Essai sur le bonheur des Etres intelligens. In: HAR MDCCLIV (1756), p. 399–417; deutsch unter dem Titel: Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen. In: VS 1, S. 323–347. Pensées sur l’origine et les différens emplois des sciences et des beaux arts, discours prononcé dans l’Assemblée publique de l’Académie royale des Sciences et des Belles-Lettres, le 27. Janvier 1757. Berlin 1757; deutsch unter dem Titel: Gedanken über den Ursprung und die verschiedenen Beschäftigungen der Wissenschaften und schönen Künste. o.O. 1762; auch von Franz Xaver Sonnleithner übersetzt unter dem Titel: Gedanken über den Ursprung und die verschiedenen Dienste der schönen Künste. Wien 1781; unter dem Titel Gedanken über den Ursprung und die verschiedenen Bestimmungen der Wissenschaften und schöne Künste auch in: VS 2, S. 110–128; auch in: [Hans Casp.] Hirzel an [Johann Wilhelm Ludwig] Gleim über Sulzer den Weltweisen. Zürich, Winterthur 1779, Bd. 1, S. 228–260. [Ankündigung des späteren Werkes »Allgemeine Theorie der schönen Künste«, bestehend aus Stellen von Sulzer mit kritischen Bemerkungen der Herausgeber unter dem Titel:] Vermischte Nachrichten. In: Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn (Hg.): Bibliothek der schönen Wissenschaften. Leipzig 1757, Bd. 1, St. 1, S. 222–229; neue Fassung der Ankündigung, mit Antwort auf diese kritischen Bemerkungen, unter dem Titel: Acht und siebenzigster Brief. Herr Prof. Sulzers Schreiben von dem Unterschiede seines Wörterbuchs der schönen Wissenschaften und des Gottschedischen Handlexicons. In: Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn (Hg.): Briefe, die neueste Litteratur betreffend. 5. Theil. Berlin 1760, S. 33–64; auch erschienen unter dem Titel: Schreiben über seine Theorie der schönen Künste. In: Johann Georg Heinzmann (Hg.): Literarische Chronik. Bern 1788, Bd. 3, S. 293– 314. Nouvelles Expériences sur la résistence que souffre une balle de fusil en passant par l’air. In: HAR MDCCLV (1757), p. 104–116. Description d’un barometre portatif, avec une nouvelle méthode pour faire des thermometres d’une division constante. In: Acta Helvetica, physico-mathematico-anatomico-botanicomedica 3 (1758), p. 259–265. Recherches sur un principe fixe, qui serve à distinguer les devoirs de la Morale de ceux du Droit Naturel. In: HAR MDCCLVI (1758), p. 450–456; deutsch erschienen unter dem Titel: Versuch, einen festen Grundsatz zu finden, um die Pflichten der Sittenlehre und des Naturrechts von einander zu unterscheiden. In: VS 1, S. 389–398. Lobrede auf den König, welche den 24. des Jenners 1758 an Seiner Majestät Geburthstage […] gehalten worden. Berlin 1758; auch in: Johann Georg Heinzmann (Hg.): Literarische Chronik. Bern 1788, Bd. 3, S. 3–50. Analyse du Genie. In: HAR MDCCLVII (1759), S. 392–404; deutsch unter dem Titel: Entwickelung des Begriffs vom Genie. In: Christoph Friedrich Nicolai (Hg.): Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Bd. V. Berlin 1762, 1. St., S. 5–157; auch in: VS 1, S. 307–322.
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Gedanken über die beste Art die classische Schriften der Alten mit der Jugend zu lesen. Berlin 1765; Frankfurt a. M. und Leipzig 1784; auch in: VS 2, S. 215–237. Analyse de la Raison. In: HAR MDCCLVIII (1765), p. 414–442 ; deutsch unter dem Titel: Zergliederung des Begriffs der Vernunft. In: VS 1, S. 244–281. Explication d’un paradoxe psychologique; Que non seulernent l’homme agit & juge quelquefois sans motifs & sans raisons apparentes mais même malgré des motifs pressans & des raisons convainquantes. In: HAR MDCCLIX (1766), p. 433–450 ; deutsch unter dem Titel: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe, sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe urtheilet und handelt. In: VS 1, S. 99–121. Sur l’Apperception, et son influence sur nos jugemens. In: HAR MDCCLXIV (1766), p. 415–434; deutsch unter dem Titel: Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsere Urtheile. In: VS 1, S. 199–224. Réflexions philosophiques sur l’utilité de la Poésie dramatique. In: HAR MDCCLX (1767), p. 326–340; niederländische Übersetzung unter dem Titel: Wysgeerige Bedenkingen, over het nut der tooneelpöezy. Leyden; ebenso unter dem Titel: Bedenkingen over de schouwtoneelen, door de Heeren Formey en Sulzer. 1771; deutsch unter dem Titel: Philosophische Betrachtungen über die Nützlichkeit der dramatischen Dichtkunst. In: VS 1, S. 146–165. De l’Energie dans les ouvrages des Beaux-Arts. In: HAR MDCCLXV (1767), p. 475– 492; deutsch unter dem Titel: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste. In: VS 1, S. 122–145. Sur la résistence des fluides. In: HAR MDCCLXI (1768), p. 41–49. Vorübungen zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens; zum Gebrauch einiger Klassen des Joachimsthalischen Gymnasiums. Berlin 1768; 2. [vermehrte] Ausg. Berlin 1771; 3. [von Johann Heinrich Ludwig Meierotto umgearbeitete] Ausg. in 4 Theilen: 1. T. = Zum Gebrauch der letzten Klasse des Joachimsthalischen Gymnasiums. Berlin 1780; 2. und 3. T. = Zum Gebrauch einiger Klassen des Joachimsthalischen Gymnasiums. Berlin 1780f.; 4. T. = Allein zum Gebrauch der Lehrer. Berlin 1782; neue Aufl. Berlin 1816–1825; dänische Übersetzung von Carl Chr. Kalnein unter dem Titel: Forberedende Øvelser til Opmærksomhedens og Eftertankens Opvækkelse. Kopenhagen 1784–1787. Conjecture physique sur quelques changemens arrivés dans la surface du Globe terrestre. In: HAR MDCCLXII (1769), p. 90–98. Observations sur l’influence réciproque de la raison sur le langage & du langage sur la raison. In: HAR MDCCLXVII (1769), p. 413–438; deutsch unter dem Titel: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache und der Sprache in die Vernunft. In: VS 1, S. 166–198. Observations sur les divers états où l’âme se trouve en exerçant ses facultés primitives, celle d’appercevoir et celle de sentir. In: HAR MDCCLXIII (1770), p. 407–420; deutsch unter dem Titel: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet. In: VS 1, S. 225–243.
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Considérations psychologiques sur l’homme moral. In: HAR MDCCLXIX (1771), p. 361–380 ; deutsch unter dem Titel: Psychologische Betrachtungen über den sittlichen Menschen. In: VS 1, S. 282–306. Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln abgehandelt. 1. T. Leipzig 1771; 2. T. Leipzig 1774; Abdruck I–IV Leipzig 1773f.; Biel 1777; 2. Aufl., Leipzig 1777f.; Leipzig 1778f.; neue (durch bibliographische Zusätze von Christian Friedrich von Blanckenburg) vermehrte Ausg. Leipzig 1786f.; Leipzig 1792ff.; Register (V. Bd.): Leipzig 1799; die Zusätze von Blankenburg und das Register auch einzeln I–III. Leipzig 1796ff.; Art. Künste; Schöne Künste vorher einzeln gedruckt als: Die schönen Künste, in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung betrachtet. Leipzig 1772; Art. Fabel als Neudruck unter dem Titel: Theorie der Aesopischen Fabel. In: Johann Gottlob Samuel Schwabe (Hg.): Phaedri, Augusti Liberti, Fabularum Aesopiarum Libri V. Halle 1780, vol. II, S. IX–XXII; Art. Allegorie in französischer Übersetzung: [Hg. ungenannt:] De l’Allégorie, ou Traités sur cette matière, par Winckelmann, Addison, Sulzer […]. Paris 1799. Cymbelline, König von Brittannien, ein Trauerspiel; nach einem von Shakespeare erfundenen Stoffe. Danzig 1772. Développement de la Notion de l’Etre éternel. In: NMA MDCCLXX (1772), p. 268– 276; deutsch unter dem Titel: Entwickelung des Begriffs vom ewigen Wesen. In: VS 1, S. 377–389. Observations sur quelques propriétés de l’âme comparées à celles de la matière; pour servir à l’examen du Matérialisme. In: NMA MDCCLXXI (1773), p. 390–410; deutsch unter dem Titel: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, in so fern sie mit den Eigenschaften der Materie eine Aehnlichkeit haben, zur Prüfung des Systems des Materialismus. In: VS 1, S. 348–376. Description d’un Instrument fait pour noter des Pièces de Musique, à mesure qu’on les exécute sur le clavecin. In: NMA MDCCLXXI (1773), p. 538–546. Vermischte philosophische Schriften, aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773; 2. Aufl. Leipzig 1782; 3. Aufl. Leipzig 1800; 2. Teil auch unter dem Titel: Vermischte Schriften. Eine Fortsetzung der vermischten Philosophischen Schriften, nebst einigen Nachrichten von dem Leben und den Schriften des Herrn J. G. Sulzer (von Fried. von Blankenburg). Leipzig 1781; 2. Aufl. Leipzig 1800. Entwurf der Einrichtung des von Sr. Hochfürstl. Durchl. dem Herzoge von Curland in Mitau neugestifteten Gymnasii academici. Mitau 1774; auch in: VS 2, S. 145–214. Sur l’immortalité de l’âme considérée physiquement I–II. In: NMA MDCCLXXV (1777), p. 359–387; III. In: NMA MDCCLXXVI (1779), p. 349–359; IV–V. In: NMA MDCCLXXVII (1779), S. 313–330; deutsch unter dem Titel: Über die Unsterblichkeit der Seele, als ein Gegenstand der Physik betrachtet. In: VS 2, S. 1–84. Sur un clou de cuivre trouvé dans une carrière de pierres à chaux près du port de Nice en Provence. In: NMA MDCCLXXVI (1779), p. 45–48.
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Briefe Samuel Gotthold Lange (Hg.): Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe. 1. Theil. Halle 1769, S. 262–313; 2. Theil. Halle 1770, S. 93–95, S. 169–173. Wilhelm Körte (Hg.): Briefe deutscher Gelehrten aus Gleims litterarischem Nachlasse herausgegeben. Zürich 1804ff., Bd. 1 [Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner]. Johann Georg Sulzer: Briefe. Mitgeteilt von Rudolf Hunziker. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 351, 397, 448, 487 (1929).
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Forschungsliteratur Monathliche Nachrichten von Zürich (1751), S. 136–142. Sulzers Tod. Aus einem Briefe. Berlin, den 27. Februar 1779. In: Das Deutsche Museum (1779), Bd. I, April, S. 386. [Hans Casp.] Hirzel an [Johann Wilhelm Ludwig] Gleim über Sulzer den Weltweisen. Zürich, Winterthur 1779. J. Wegelin: Etwas über Sulzern. In: Das Deutsche Museum (1780), Bd. II, Juli, S. 10– 19. Christian August von Bertram: Abbildungen berühmter Gelehrten und Künstler Deutschlands. Berlin 1780. Jean Henri Samuel Formey: Éloge de M. Sulzer. In: NMA MDCCLXXIX (1781), p. 45–60; vorher einzeln erschienen in deutscher Übersetzung unter dem Titel: Lobrede auf Herrn Sulzer. Abgelesen in der oeffentlichen Versammlung der Koeniglichen Akademie der Wissenschaften Donnerstags, den 3 Junii 1779 […]. Berlin 1779. Christian Friedrich von Blanckenburg: Einige Nachrichten von dem Leben und den Schriften des Herrn Johann George Sulzer. In: VS 2, S. 1–144.
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Personenregister
Abbt, Thomas 91 Alembert, Jean‒Baptiste le Rond d’ 211, 219‒221, 243 Aristoteles 53, 204 Bacon, Francis 232, 258 Basedow, Johann Bernhard 48, 67, 279‒281 Batteux, Charles (Abbé Charles) 211‒213, 217, 220 Baumgart, Alexander Gottlieb 12, 63, 75, 85‒87, 94‒96, 98, 101, 107, 126, 132, 148, 174, 248 Baumgarten, Siegmund Jakob 248 Bayle, Pierre 237 Bentley, Richard 213 Bertram, Philipp E. 213 Blanckenburg, Christian Friedrich von 37, 59, 61, 191, 220, 255, 272‒276 Bodmer, Johann Jakob 139f., 151, 193, 276 Bonnet, Charles 41, 61, 76‒78, 80 Boscovich, Roger 51 Breitinger, Johann Jakob 140, 160 Brockes, Barthold Heinrich 151 Bruyère, Jean de La 213 Büchner, Georg 73f. Buffon, Georges de 12 Burke, Edmund 101, 122
Campe, Johann Heinrich 277, 280, 282 Cheselden, William 159 Chladenius, Martin 248 Collin, Friedrich Eberhard 248 Condillac, Étienne Bonnot de 138, 153‒157, 160 Coward, Wiliam 41, 46 Crusius, Christian August 66, 99 Cudworth, Ralph 40 Descartes, René (Renatus Cartesius) 23, 29f., 38f., 45, 49, 51‒54, 64, 74, 79, 112f., 117, 127, 173, 214, 258 Diderot, Denis 50, 153, 159, 221, 243 Dubos, Jean‒Baptiste 90, 211 Eberhard, Johann August 69 Eberstein, Wilhelm Ludwig Gottlob Freyherr von 15, 62 Elisabeth von der Pfalz 112 Epikur (Epikuros) 74, 319 Eschenburg, Johann Joachim 244 Euler, Leonhard 49f., 54 Fabricius, Johann Andreas 233 Feder, Johann Georg 67
343
Personenregister
Fénelon, François de Salignac de la Mothe 270 Fielding, Henry 273 Fontenelle, Bernard le Bovier de 269 Formey, Johann Heinrich Samuel 155 Francke, August Hermann 247, 249 Friedrich II. (König von Preußen) 11, 13‒15, 73, 212 Friedrich Wilhelm I. (König von Preußen) 247 Garve, Christian 143, 310 Gedike, Friedrich 281 Gehler, Johann Samuel Traugott 49 Geßner, Christoph 255 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 193 Goethe, Johann Wolfgang von 69f., 175, 188, 191f., 204f., 207f., 224 Goßweiler, Susanna 254 Gottsched, Johann Christoph 62, 200, 213, 217, 275 Grosser, Samuel 230 Grotius, Hugo 288f., 300 Gundling, Nicolaus Hieronymus 233, 286, 290f. Hagedorn, Friedrich von 270 Haller, Albrecht von 41, 64, 66, 270 Hamann, Johann Georg 281 Hartley, David 41 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 133 Heydenreich, Karl Heinrich 286, 303 Helvétius, Claude Adrien 41, 61 Hempel, Christian Friedrich 233 Hennings, Justus Christian 38‒40, 52, 54
Herder, Johann Gottfried 11, 34, 60, 66, 69f., 76, 85, 88, 93f., 97‒99, 138, 155, 165, 278, 281 Heumann, Christoph August 231‒233 Hirzel, Hans Caspar 220, 236, 255 Hißmann, Michael 22, 27‒33, 42, 61, 68f., 75‒77 Hobbes, Thomas 39, 290, 297, 315f. Höpfner, Ludwig Julius Friedrich 286 Holbach, Paul Henri Thiry d’ 37, 41, 43, 50, 61, 67 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 165, 171 Hufeland, Gottlieb 286, 297 Humboldt, Wilhelm von 140 Hume, David 12, 14f., 21, 63, 68, 84, 113, 126, 150‒152, 170, 181, 314‒316, 322 Hutcheson, Francis 98, 102, 104f., 113f., 129, 315 Iselin, Isaak 276 Jacobi, Friedrich Heinrich 14, 278 Kant, Immanuel 11f., 14‒17, 21, 40, 50f., 57, 75, 83‒88, 92‒99, 124, 126, 132f., 138, 198, 205, 227, 267, 272, 274, 278f., 286, 295, 300‒306, 310f., 316‒322 Keller, Gottfried 208 Kemmerich, Dieterich Hermann 230 Klein, Ernst Ferdinand 286 Klügel, Georg Simon 51 Knutzen, Martin 40, 52, 62 Koch, Erduin Julius 227 Krüger, Johann Gottlob 52f., 145 Lacombe, Jacques 219 Lambeck, Peter 231
344 Lau, Theodor Ludwig 50 Leibniz, Gottfried Wilhelm 23, 34, 40, 42f., 52f., 59, 63, 77, 81, 84, 87, 94, 96, 107f., 112f., 120, 139, 145, 153, 156f., 176, 214, 256, 258f., 263‒265, 282, 311, 315 Lesser, Johann Philip Friedrich 161 Lessing, Gotthold Ephraim 11, 13, 15, 60, 66, 76, 151 Linné, Carl von 12, 192 Locke, John 17, 29, 33, 39, 73, 104, 153, 156, 160, 247, 257f., 267f., 282 Lossius, Johann Christian 69 Lucian von Samosata 269 Luther, Martin 294 Malebranche, Nicolas 53 Manteuffel, Ernst Christoph von 73 Maupertuis, Pierre‒Louis Moreau de 50, 154 Meier, Georg Friedrich 12, 40, 63, 67, 93, 101, 174, 211, 216‒218, 221, 248, 256 Meierotto, Johann Heinrich Ludwig 270 Meiners, Christoph 28‒31, 33, 61, 68f., 144 Mendelssohn, Moses 11, 61, 67, 74, 83, 88, 96, 99, 147f., 151, 211, 216‒218, 220, 222, 228, 286 Merian, Johann Bernhard 21f., 24‒27, 29f. Mettrie, Julien Offray de La 39, 41, 50f., 60f., 67 Meusel, Johann Georg 231 Michaelis, Johann David 155 Moritz, Karl Philipp 281f. Musig, Martin 230 Newton, Isaac 120, 139, 214 Nicolai, Friedrich 15, 255, 278, 281
Personenregister
Nivelle, Armand 224 Paul, Jean 191 Paulus 294 Pearce, Charles Sanders 158f. Perrault, Charles 213f., 219f. Platon 278 Platner, Ernst 28, 33, 53f., 64, 68, 71f., 74f., 79 Plutarch 237, 269 Pomponazzi, Pietro 65, 73 Pope, Alexander 270 Pouilly, Louis‒Jean Lévesque de 90, 148 Priestley, Joseph 41, 51 Pufendorf, Samuel von 288, 290, 295, 300 Rambach, Johann Jakob 248 Ramler, Karl Wilhelm 148, 159 Reich, Philipp Erasmus 143 Reimann, Jacob Friedrich 232 Reinhold, Karl Leonhard 21, 102 Rochow, Friedrich Eberhard von 280 Rollin, Charles 257 Rousseau, Jean‒Jacques 153, 249, 252, 281 Rüdiger, Andreas 27 Salignac de la Mothe Fénelon, François de 270 Salzmann, Christian Gotthilf 280 Schiller, Friedrich 11, 130, 191‒193, 199, 204‒207 Schlegel, Johann Adolf 213 Schlözer, August Ludwig von 280 Schlosser, Johann Georg 276‒278 Schmid, Carl Christian Erhard 286 Schulze, Gottlob Ernst 21f. Schummel, Johann Gottlieb 280
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Personenregister
Shaftesbury, Earl of (Anthony Ashley‒Cooper) 43, 102, 113, 119, 319 Smith, Adam 315 Sokrates 269 Sophie Charlotte von Hannover (Herzogin von Braunschweig und Lüneburg) 81 Spalding, Johann Joachim 249 Spinoza, Baruch (Benedictus) 74 Stuve, Johann 281 Süßmilch, Johann Peter 154f. Suhm, Ulrich Friedrich von 14 Temple, William 213 Tennemann, Wilhelm Gottlieb 14f. Tetens, Johann Nicolas 14, 40, 60, 68, 75, 77, 88, 260f., 274 Teucher, Ludwig Heinrich 227 Thomasius, Christian 230, 286, 289‒291, 295, 299f. Toland, John 41, 50 Trapp, Ernst Christian 280, 282 Uz, Johann Peter 270 Vico, Giambattista 160, 163 Voltaire (François‒Marie Arouet) 14, 73 Walch, Johann Georg 38f. Wedekind, Karl Ignaz 286 Wegelin, Jakob 38 Wegener, Gottfried 248 Weiße, Christian Felix 144 Wezel, Johann Karl 282 Wieland, Christoph Martin 60, 65, 67, 75f., 200, 273 Wolff, Caspar Friedrich 12, 80 Wolff, Christian 11‒17, 21‒29, 33, 35, 40f., 43, 50, 57, 59, 61f., 64, 66f., 74, 76, 78, 84, 86‒90, 92, 94‒96, 98, 107, 111‒120, 125,
129, 132, 138f., 145, 151, 163, 170, 176, 178‒181, 183, 192, 227, 234‒237, 248, 256, 259, 263, 267f., 271f., 276, 282, 287, 289, 292, 295f., 298‒303, 310f., 315 Wotton, William 213 Zedler, Johann Heinrich 234