Jeremia 25-52 3161566335, 9783161566332, 9783161566349, 9783161566325

Der vorliegende Kommentar baut auf den neueren Erkenntnissen zur Textgeschichte des Jeremiabuches auf, die sich aus den

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German Pages 832 [843] Year 2019

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen
Einleitung
1. Das Konzept dieses Kommentars und praktische Hinweise zum Gebrauch
2. Der Text des Jeremiabuchs
3. Die Entstehung von Jer 25–52
4. Literatur zum Buch Jeremia
5. Abkürzungsverzeichnis
Kommentar
25,1–14: Der Feind aus dem Norden
25,15–38: Der Zornbecher und die Völker
26: Jeremias Tempelprozess und die Ermordung des Propheten Urija
27–29: Wider die Falschpropheten
27: Jeremias Zeichenhandlungen mit den Jochgeschirren
28: Jeremia und Hananja
29: Jeremias Brief an die Exilanten
Exkurs: Die Lebensverhältnisse der judäischen Exilanten
30–31: Die Trostschrift
30,1–31,26: Die originale Trostschrift mit Vorrede
31,27–40: Die Anhänge zur originalen Trostschrift
32: Jeremias prophetische Symbolhandlung mit dem Ackerkauf , sein Gebet und Jhwhs Antwort
Exkurs: Kinderopfer, Moloch und Tofet
33,1–13: Neues Heil für Jerusalem, Juda und Israel
33,14–26: Verheißungen für die Davididen, die Leviten und Israel
34: Jeremias Verschonungsorakel für Zidkija und der Widerruf der Sklavenfreilassung
35: Die Erprobung der Rechabiter
36: Die Entstehung, Zerstörung und Ersetzung der „Urrolle“
Exkurs: Jer 36, die Geschichte des Jeremiabuchs und der Schriftprophetie
37–45: Die Belagerung und Zerstörung Jerusalems , die Ermordung Gedaljas und die Flucht der nichtexilierten Judäer nach Ägypten
37,1–38,28b: Jeremias Haft während der babylonischen Belagerung Jerusalems
38,28c–39,14: Die babylonische Eroberung Jerusalems und die Befreiung Jeremias
Rückblick: Die Apologie Jeremias 34,7 + *37,3–39,14
39,15–18: Das Verschonungsorakel für Ebed-Melech
40,1–6: Jeremias Befreiung durch Nebusaradan
40,7–41,18: Die Sammlung der nichtexilierten Judäer bei Gedalja und dessen Ermordung
Rückblick: Das Jischmael-Dossier 40,13–14 + *41,1–15
42: Jhwhs Warnung vor der Auswanderung nach Ägypten
43: Die Emigration der nichtexilierten Judäer nach Ägypten und Jeremias prophetische Symbolhandlung in Tachpanhes
Rückblick: Die Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums 34,7 + *37,3–43,7b
44: Jeremias Disput mit den judäischen Ägyptenemigranten
45: Das Verschonungsorakel für Baruch
46–51: Die Worte gegen fremde Völker
46: Ägypten
47: Philister
48: Moabiter
49,1–6: Ammon
49,7–22: Edom
49,23–27: Damaskus
49,28–33: Kedar und Hazor
49,34–39: Elam
50–51: Babylon
52: Geschichtlicher Epilog
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Handbuch zum Alten Testament Herausgegeben von Jan Christian Gertz und Reinhard Müller

I/12,2

Hermann-Josef Stipp

Jeremia 25–52

Mohr Siebeck

Hermann-Josef Stipp, geboren 1954; 2000–04 Professor für Altes Testament am Fachbereich Katho­

lische Theologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; 2004–18 Professor für Alttestamentliche Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München; seit 2003 Honorarprofessor (Buitengewone Professor) an der Universität Stellenbosch (Südafrika). orcid.org/0000-0003-0302-1870

ISBN (Ln) 978-3-16-156633-2 ISBN (fBr) 978-3-16-156632-5

eISBN 978-3-16-156634-9 DOI 10.1628/978-3-16-156634-9

ISSN 2364-2513 / eISSN 2510-6384 (Handbuch zum Alten Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nati­onalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. ©  2019 Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Minion und Myriad gesetzt und von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt. Die Leinenausgabe wurde von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden; die fadengeheftete Broschur von Gulde Druck in Tübingen. Printed in Germany.

Vorwort Praktische Gründe gaben den Ausschlag, in diesem Kommentar den zweiten Band vor dem ersten zu erarbeiten: Die Einleitung hat ihren ordnungsgemäßen Platz am Anfang, sollte aber zuletzt geschrieben werden, wenn die Thesen des Werkes feststehen. Außerdem läuft meine eigene Meinungsbildung nicht einfach der Abfassung des Kommentars voraus, sondern schreitet weitgehend damit einher, weil ständig neue Beobachtungen und Neuerscheinungen zu Korrekturen und Präzisierungen veranlassen. Wollte ich sichergehen, nicht im zweiten Band die Einleitung neu entwerfen zu müssen, blieb nur der Weg, die Aufgabe von hinten anzupacken. Deshalb beschränkt sich die Einführung zu diesem Band neben einem Überblick über den Werdegang der Kap. 25–52 im Rahmen des Wachstums des Jeremiabuches auf das Nötigste, das zum Verständnis des Kommentars erforderlich ist. Mein Dank gilt meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mich in vielfältiger Weise unterstützt haben. Juliane Eckstein, Andreas Feil, Dr. Augustinus Müller und Dr. Nicole Katrin Rüttgers lasen Korrektur, beseitigten zahllose Versehen und machten hilfreiche Verbesserungsvorschläge. Claudia Meinzold und Julia Fuß kümmerten sich um die sekretariellen Aufgaben. Prof. Dr. Erasmus Gaß hat mich bereitwillig in Fragen der Geschichte und Topographie Moabs beraten und die Moab-Karte auf S. 708 entworfen. Die Münchner Alttestamentliche Sozietät gab Gelegenheit, einzelne Thesen zur Diskussion zu stellen und abzuklären. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die großzügige Förderung des Projekts. Dieser Kommentar wurde überwiegend während verschiedener Studienaufenthalte in Südafrika verfasst. Meine Freundinnen und Freunde am Departement Antieke Studie und der Fakulteit Teologie der Universität Stellenbosch wissen selbst am besten, welches Maß an Dank ich ihnen für ihre unermüdliche Hilfsbereitschaft und langjährige Freundschaft schulde. Mein herzlichster Dank geht an meine liebe Frau, die über Jahrzehnte hinweg die Lasten des wissenschaftlichen Lebens mitgetragen hat. Zuletzt hat sie mit Engelsgeduld die immergleichen Versicherungen hingenommen, dass dieses Opus nun wirklich bald seinen Abschluss finden werde. Umso glücklicher bin ich, ihr das Werk hiermit endlich widmen zu dürfen. München / Stellenbosch, im Juli 2018

Hermann-Josef Stipp

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Einleitung 1. Das Konzept dieses Kommentars und praktische Hinweise zum Gebrauch . . 1 2. Der Text des Jeremiabuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3. Die Entstehung von Jer 25–52 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 4. Literatur zum Buch Jeremia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 5. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Kommentar 25,1–14: Der Feind aus dem Norden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 25,15–38: Der Zornbecher und die Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 26: Jeremias Tempelprozess und die Ermordung des Propheten Urija . . . . . . . 80 27–29: Wider die Falschpropheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 27: Jeremias Zeichenhandlungen mit den Jochgeschirren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 28: Jeremia und Hananja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 29: Jeremias Brief an die Exilanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Exkurs: Die Lebensverhältnisse der judäischen Exilanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 30–31: Die Trostschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 30,1–31,26: Die originale Trostschrift mit Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 31,27–40: Die Anhänge zur originalen Trostschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 32: Jeremias prophetische Symbolhandlung mit dem Ackerkauf, sein Gebet und Jhwhs Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Exkurs: Kinderopfer, Moloch und Tofet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 33,1–13: Neues Heil für Jerusalem, Juda und Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 33,14–26: Verheißungen für die Davididen, die Leviten und Israel . . . . . . . . . . 362 VII

Inhaltsverzeichnis

34: Jeremias Verschonungsorakel für Zidkija und der Widerruf der Sklavenfreilassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 35: Die Erprobung der Rechabiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 36: Die Entstehung, Zerstörung und Ersetzung der „Urrolle“ . . . . . . . . . . . . . . . 421 Exkurs: Jer 36, die Geschichte des Jeremiabuchs und der Schriftprophetie . . . . . . . . . . . . 461 37–45: Die Belagerung und Zerstörung Jerusalems, die Ermordung Gedaljas und die Flucht der nichtexilierten Judäer nach Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 37,1–38,28b: Jeremias Haftwährend der babylonischen Belagerung Jerusalems 476 38,28c–39,14: Die babylonische Eroberung Jerusalems und die Befreiung Jeremias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 Rückblick: Die Apologie Jeremias 34,7 + *37,3–39,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 39,15–18: Das Verschonungsorakel für Ebed-Melech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 40,1–6: Jeremias Befreiung durch Nebusaradan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 40,7–41,18: Die Sammlung der nichtexilierten Judäer bei Gedaljaund dessen Ermordung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 Rückblick: Das Jischmael-Dossier 40,13–14 + *41,1–15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 42: Jhwhs Warnung vor der Auswanderung nach Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 43: Die Emigration der nichtexilierten Judäer nach Ägyptenund Jeremias prophetische Symbolhandlung in Tachpanhes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 Rückblick: Die Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums 34,7 + *37,3– 43,7b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593

44: Jeremias Disput mit den judäischen Ägyptenemigranten . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 45: Das Verschonungsorakel für Baruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 46–51: Die Worte gegen fremde Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 46: Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 47: Philister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665 48: Moabiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 49,1–6: Ammon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 49,7–22: Edom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718 49,23–27: Damaskus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734 49,28–33: Kedar und Hazor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738 49,34–39: Elam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744 50–51: Babylon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 52: Geschichtlicher Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814

VIII

Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1: Darstellung des „Herrn der Tiere“ auf einem neuassyrisch-neubabylonischen Siegel, aus: O. Keel, Jahwes Entgegnung an Ijob. Eine Deutung von Ijob 38–41 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bildkunst (FRLANT 121), Göttingen 1978, 98 Abb. 28. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Abb. 2: Assyrische Soldaten, die erbeutete Götterplastiken tragen, aus: Keel, Geschichte I 434 Abb. 309. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Abb. 3: Assyrischer Soldat, der einen Lampen‑ oder Räucherständer trägt, aus: Keel, Geschichte I 311, Abb. 197. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Abb. 4: Schematische Querschnitte von Zisternen, aus: Keel, Bildsymbolik 61, Abb. 79. 496 Abb. 5: Schematische Darstellung von Zisternen, aus: Keel, Bildsymbolik 61, Abb. 78. . . 497 Abb. 6: Blendung eines aufständischen Fürsten durch Sargon II., aus: P. É.  Botta, Monument de Ninive, Bd. 2: Architecture et sculpture, Paris 1849, Pl. 118. . . . . . . . . . . . . 523 Abb. 7: Backform aus Mari, aus: U. Winter, Frau und Göttin. Exegetische und ikonographische Studien zum weiblichen Gottesbild im Alten Israel und in dessen Umwelt (OBO 53), Freiburg Schweiz – Göttingen 1983, Abb. 519. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Abb. 8–10: Schildformen, aus: Keel, Bildsymbolik 202 f., Abb. 305–307. . . . . . . . . . . . . 648/649 Abb. 11: Terrakottakopf einer gehörnten Göttin, aus: J. Eggler, Art. Hörnerkrone ­(erstellt: Sept. 2009), WiBiLex (Internet); mit freundlicher Genehmigung von Frau Ulrike Zur­kinden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698

Einleitung 1. Das Konzept dieses Kommentars und praktische Hinweise zum Gebrauch Das Konzept dieses Kommentars ist in der Einleitung zum Gesamtwerk zu erklären; ebenso sind dort die üblichen Einleitungsthemen zum Jeremiabuch zu behandeln. Einige Detailfragen sind jedoch schon für das Verständnis des vorliegenden Bandes so fundamental, dass sie vorwegnehmend hier angeschnitten werden müssen. Nicht zu Unrecht existieren zur Bibel verschiedene Kommentarreihen gleichzeitig, denn kein Kommentarkonzept kann alle Leserwünsche erfüllen. Deshalb muss es zu jedem biblischen Buch verschiedene Erläuterungen geben, zugeschnitten jeweils auf bestimmte Sektoren der Vielfalt von Bedürfnissen und Budgets: Kurzkommentare für Bibelleser mit Wissbegierde, aber schmalerem Geldbeutel; Formate für Nutzer mit theologischer Vorbildung, die konzise Information für die Gestaltung von Gottesdiensten und Unterricht benötigen; Kommentare für methodische oder hermeneutische Interessenschwerpunkte wie Intertextualität, feministische Theologie, Postkolonialismus u. a. m.; dazu den enzyklopädischen Kommentar für die Fachdebatte. Das vorliegende Exemplar soll entsprechend dem Konzept der Reihe nach Anspruch und Informationsangebot einen Mittelweg gehen, also einerseits den Kenntnisstand vorantreiben und trotzdem noch einen lesbaren Rahmen wahren, in der Hoffnung, dass auch Leser, die nicht mit Forschung befasst sind, einen Gewinn daraus ziehen können. Ein gewisses Vorverständnis für die Eigenart und Methodik wissenschaftlicher Exegese sowie Grundkenntnisse ihrer Fachterminologie sind freilich unverzichtbar. Das Format verlangt Kompromisse. So greifen die Literaturangaben nur in Ausnahmefällen hinter die Grenze von 1990 zurück, unter der Prämisse, dass die ältere Literatur über die jüngere erschließbar ist. Ferner beschränkt sich das Gespräch mit alternativen Lehrmeinungen auf Beispiele, während die detailliertere Auseinandersetzung meinen begleitend erschienenen Einzeluntersuchungen vorbehalten bleiben muss. Monografische Arbeiten, die in der einleitenden Literaturliste zu diesem Band aufgeführt sind, werden nur mit Namen der Verfasser und Kurztitel zitiert. Publikationen in den Literaturlisten zu einzelnen Perikopen werden in den zugehörigen Erklärungen mit dem Namen des Autors angegeben. Auf Kommentare wird durch Verfassername mit Stern verwiesen (wie *Rudolph). Im Konzert der Zugangsweisen situiert sich dieser Kommentar im historisch-kritischen Fach; d. h. das hervorgehobene Augenmerk gilt den auktorialen Intentionen und den Aussagen der Texte in ihren Ursprungswelten, was das Studium der 1



Einleitung

Textgenese – also diachrone Fragestellungen – unumgänglich macht. Dies geschieht nicht nur aus Respekt für die Tradition der Reihe, sondern mehr noch aus Überzeugung. Für den gewählten Ansatz sprechen zunächst innerexegetische Gründe. Gewiss ist heute der Hang verbreitet, die Synchronie gegen die Diachronie auszuspielen, also die Endtextexegese als (ergiebigere) Alternative zur (idealerweise zusätzlich zur Endtextauslegung betriebenen) Interpretation rekonstruierter Vorstufen zu feiern. Eine solche Neigung offenbart jedoch Geschichtsvergessenheit, weil sie verkennt, dass die Diachronie im Dienste der Synchronie erschlossen wurde, nämlich als Erklärungsweg, um bestimmte Merkmale der Endtexte endlich plausibel herleiten zu können, was seinerzeit als ungeheurer Befreiungsschlag erfahren wurde und weiterhin ihre Aufgabe bleibt. Ohnehin zeigt die Entwicklung der Exegese in den letzten Jahrzehnten, dass alle Kritik und aller Dissens den Fachvertretern ihre diachronen Fragen nicht auszutreiben vermochten, da die Textbefunde sie allzu gebieterisch einfordern, was immer man von den gegebenen Antworten jeweils halten mag. Mittlerweile hat sich die diachrone Forschung nachgerade zu einem Paradebeispiel für die Lebensweisheit gemausert, dass Totgesagte länger leben. Überdies geht der Verweis auf die angeblich unüberwindlichen methodischen Probleme der Diachronie nicht selten mit einer eklatanten Unterschätzung der methodischen Fallstricke rein synchroner Ansätze einher. Aber wichtiger noch ist ein übergreifendes theologisches Motiv: Beharrlich hält sich die Überzeugung, dass das Studium der literarischen Strategien, mit denen unsere biblischen Autoren ihre situationsgebundenen religiösen Probleme zu bewältigen suchten, nach wie vor theologischen Gewinn verspricht, da der Blick auf ihre Interpretationsbemühungen sowohl eine Bereicherung als auch ein Korrektiv unserer eigenen religiösen Praxis im kirchlichen wie im persönlichen Leben bereitstellen kann. Diachrone Untersuchungen sind dazu bestimmt, die Menschen hinter den Texten ein Stück weit wieder zum Leben zu erwecken. Für dieses Bestreben spricht im gegebenen Fall umso mehr, als die ebenso dramatische wie traumatische Ära, aus der das Jeremiabuch erwuchs, zu jenen Epochen der Geschichte Israels zählt, über die wir immerhin noch am meisten wissen, nicht zuletzt aus dem Jeremiabuch selbst. Wollen wir jedoch an die theologisch bearbeiteten Situationen heran, ist der Blick hinter den situationsenthobenen Endtext unausweichlich. Dem hier zu kommentierenden Werk kommt dabei obendrein die Besonderheit zu, dass es als einziges Buch des Alten Testaments seine eigene Entstehung thematisiert: In dem einschlägigen Kap. 36 geben sich Tradenten des Buches selbst überzeugt, dass das Werk einen Wachstumsprozess durchlaufen hat, der zwar mit dem namengebenden Propheten anhob, aber von weiteren Händen fortgeführt wurde (s. z. St.). Regen schon alle diese Tatsachen zur textgenetischen Rückfrage an, tritt beim Jeremiabuch noch eine Triebkraft hinzu, die in der neueren Forschung immer wichtiger geworden ist und in der Art seiner Textüberlieferung wurzelt. Weil die betreffenden Befunde für die Auslegung der in diesem Band behandelten zweiten Buchhälfte weitreichende Konsequenzen zeitigen, sind sie bereits hier näher vorzustellen.

2

Einleitung



2. Der Text des Jeremiabuchs Literatur: P.-M. Bogaert, Jeremias / Ieremias / Jeremia, in: S. Kreuzer (Hg.), Einleitung in die Septuaginta (Handbuch zur Septuaginta. LXX.H 1), Gütersloh 2016, 577–595. K. Finsterbusch, N. Jacoby, MT-Jeremia und LXX-Jeremia 1–24. Synoptische Übersetzung und Analyse der Kommunikationsstruktur (WMANT 145), Neukirchen-Vluyn 2016. K. Finsterbusch, N. Jacoby, MT-Jeremia und LXX-Jeremia 25–52. Synoptische Übersetzung und Analyse der Kommunikationsstruktur (WMANT 146), Göttingen 2017. G. Fischer, Jeremia. Der Stand der theologischen Diskussion, Darmstadt 2007, 17–53. G. Fischer, Die Diskussion um den Jeremiatext, in: ders., Der Prophet wie Mose, 73–89. G. Fischer, Jeremiah. 7.3 Septuagint, in: A. Lange, E. Tov (Hg.), Textual History of the Bible, Vol. 1: The Hebrew Bible. B: Pentateuch, Former and Latter Prophets, Leiden, Boston 2017, 543–555. A. Lange, Jeremiah. 7.2 Ancient Hebrew-Aramaic Texts, ebd. 514–542. A. Lange, Texts of Jeremiah in the Qumran Library, in: J. R. Lundbom (u. a., Hg.), The Book of Jeremiah, 280–302. R. Liwak, Vierzig Jahre Forschung zum Jeremiabuch. I. Grundlagen, ThR 76 (2011) 131–179.163–173. Ł. Popko, Marriage Metaphor and Feminine Imagery in Jer 2:1–4:2. A Diachronic Study Based on the MT and LXX (EtB.NS 70), Pendé 2015, 33–66. A. G.  Shead, Jeremiah, in: J. K. Aitken (Hg.), The T & T Clark Companion to the Septuagint (Bloomsbury Companions), London, New York 2015, 469–486. A. G. Shead, The Text of Jeremiah (MT and LXX), in: J. R. Lundbom (u. a., Hg.), The Book of Jeremiah, 255–279. H.-J. Stipp, Zur aktuellen Diskussion um das Verhältnis der Textformen des Jeremiabuches, in: ders., Studien zum Jeremiabuch, 57–82. H.-J. Stipp, Der prämasoretische Idiolekt im Jeremiabuch, ebd. 83–126. H.-J. Stipp, Die Jeremia-Septuaginta als theologische Programmschrift. Zur Kommentierung des griechischen Jeremiabuches in der „Septuaginta Deutsch“ (LXX.D), ebd. 155–173. R. D.  Weis, Jeremiah. 7.1 Textual History of Jeremiah, in: A. Lange, E. Tov (Hg.), Textual History of the Bible (s. o.), 495–513.

Wie innere Merkmale anzeigen, hat das Jeremiabuch  – wie nicht wenige andere biblische Bücher  – bis zu seinem Endtext eine Fülle von Ausgaben durchlaufen, bedingt durch die stattliche Anzahl seiner Bearbeitungsstufen. Dabei können wir nicht wissen, wie viele Editionen längere Zeit nebeneinander existierten und welche Abzweigungen zusätzlich entstanden, die verloren gegangen sind. Das Jeremiabuch bildet indes insofern einen Spezialfall, als es schon aus der vorchristlichen Antike in zwei deutlich unterschiedenen, vollständigen Texttypen auf uns gekommen ist. Kanonischen Rang hat im Judentum und westlichen Christentum der hebräische Text in der masoretischen Edition (MT) errungen. Mitsamt seiner tiberischen Vokalisation ist er genauer als tiberischer Text (TT) zu bezeichnen; das ist die Fassung, die unsere gedruckten und elektronischen hebräischen Bibelausgaben auf der Basis jenes tiberischen Musterkodex repräsentieren, der als Codex Leningradensis (mitunter auch inkorrekt: Codex Petropolitanus) bekannt ist. Daneben steht die antike, in Ägypten angefertigte griechische Übersetzung (JerG*), die gegenüber MT etwa um ein Siebtel kürzer ist und eine andere Makro‑ und zum Teil auch Mikrostruktur aufweist. Nach dem mittlerweile nahezu einhelligen Fachurteil gehen diese Divergenzen in der Regel nicht auf den Übersetzer, sondern auf seine Vorlage zurück. Dies belegen zunächst die Qumran-Fragmente 4Q71 und 4Q72a (andere Nomenklatur: 4QJerbd) sowie das Fragment Schøyen 4612/9 mit hebräischen Auszügen aus Jer, die den entsprechenden rückübersetzten Passagen aus JerG* hochgradig ähneln. Wo immer sich ferner JerG* mit MT vergleichen lässt, beweist der Übersetzer eine äußerste Quellentreue, indem er durchweg eine isomorphe Wiedergabetechnik anwandte, d. h. er repräsentierte 3



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nahezu jedes hebräische Morphem (Wörter, Pronomina, grammatische Morpheme) durch ein griechisches Äquivalent. Ferner behielt er die Wortstellung seiner Vorlage bei und nahm regelmäßig schwerwiegende Verstöße gegen die Stilistik und Idiomatik der Zielsprache in Kauf. So wenig Zugeständnisse er an das Sprachempfinden zeitgenössischer griechischer Muttersprachler machte, so geringe Freiheiten erlaubte er sich in inhaltlichen Belangen. Mitunter brachte er kaum verständliche oder gar groteske Resultate hervor, sofern diese den Sinn der Vorlage widerspiegelten, wie er ihn auffasste; notfalls griff er zu bloßen Transkriptionen. Bezeichnend ist sein Umgang mit den Verdammungsurteilen über die ägyptische Diaspora in 42,10–22 und 44 (JerG* 49,10–22 und 51,1–30), die er nicht im Geringsten abmilderte, obwohl diese Stücke seinen eigenen Adressaten den Untergang ankündigten. Wegen alldem erscheint unglaubhaft, dass derselbe Übersetzer in großem Stil Auslassungen, Glättungen oder Umstellungen vorgenommen habe. Daher sind JerG*, deren Vorlage und die einschlägigen hebräischen Fragmente als Zeugnisse für einen – übereinzelsprachlichen und naturgemäß randunscharfen  – Texttyp zu werten, der hier „alexandrinisch“ heißen soll (JerAlT oder kürzer AlT), weil er ein Hauptverbreitungsgebiet im ägyptischen Alexandria besaß (wenngleich er nicht nur dort vorkam, wie die genannten Qumran-Fragmente dokumentieren). Der Vergleich von JerAlT mit JerMT ergibt nun, dass JerAlT gegenüber JerMT eine Art der Priorität innehat, die sich als „global“ oder auch „generell“ beschreiben lässt. Das soll heißen: Der alexandrinische Texttyp verkörpert eine insgesamt ältere Wachstumsstufe des Buches, die aber JerMT nicht in direkter Linie vorausliegt, sondern nach der Gabelung der Texttradition in zwei Arme noch ein geringes Maß an Eigenentwicklung durchlaufen hat, teilweise auch in Form versehentlicher Textverluste (Parablepsen bzw. Augensprünge). In anderen Worten: JerAlT repräsentiert einen früheren Stand der Buchgenese, allerdings mit gewissen Ausnahmen. Die globale Priorität von JerAlT bestätigt sich an vielerlei Lesartendifferenzen, doch den solidesten Beweis liefert eine ausgeprägte Besonderheit der masoretischen Varianten: der prämasoretische Idiolekt, ein Repertoire von – nach Zählung bei Abschluss dieses Manuskripts (Juli 2018) – 94 sprachlichen Merkmalen mit zusammen über 280 Belegen, die in den Sonderlesarten von JerMT mindestens zweimal auftreten, aber in JerAlT fehlen. Davon kommen 45 Phänomene mit insgesamt 138 Belegen im AT sogar niemals außerhalb des masoretischen Sonderguts in Jer vor. Die Zusammensetzung des prämasoretischen Idiolekts ist so geartet, dass keinerlei Motive ersichtlich sind, warum jemand gewünscht haben könnte, das betreffende Vokabular aus dem Buch zu verbannen. Deshalb muss das Sondergut von JerMT in der Regel aus Fortschreibungen herrühren, angebracht von einer kleinen Zahl von Bearbeitern. Folglich haben wir in JerAlT einen Texttyp vor uns, der – mit geringfügigen Abstrichen  – einer Vorstufe von JerMT gleichkommt, die nicht eigens hypothetisch rekonstruiert zu werden braucht (und die sich, so wie sie ist, auch gar nicht mit literarkritischen Verfahren wiederherstellen ließe), sondern die uns als semi-empirische Größe vorliegt (semi-empirisch deswegen, weil die globale Priorität von JerAlT nicht von vornherein feststeht, sondern argumentativ aufgewiesen werden muss und obendrein Ausnahmen einschließt). Nach Ausscheidung der gegenüber MT sekundä4



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ren Lesarten bildet diese Textgestalt den Ausgangspunkt für jede weitergehende Rekonstruktion. Keinesfalls ist der nächste gemeinsame Vorfahr von JerMT und JerAlT mit dem „Urtext“ des Werkes gleichzusetzen, eine Kategorie, die auf das Jeremiabuch angesichts seiner vielstufigen Entwicklungsgeschichte ohnehin nicht anwendbar ist. Primärer Gegenstand eines biblischen Kommentars bleibt gleichwohl der kanonische tiberische Text, von dem die übrigen theologischen Fächer ausgehen und der normalerweise die Grundlage der Bibelübersetzungen liefert, die im Gottesdienst und in privater Lektüre gelesen werden. Absolute Treue zu TT erweist sich in der praktischen Arbeit indes als unerreichbar, zumal es bei gravierenden Fehlern und unverständlichen Passagen wenig sinnvoll erscheint, die Ressourcen zur Reparatur von Schäden, wie sie von der antiken Textüberlieferung und nötigenfalls plausiblen Konjekturen geboten werden, ungenutzt zu übergehen. Deshalb verfährt dieser Kommentar wie folgt: Die Übersetzungen geben TT wieder, sofern keine gewichtigen Gründe für die Rekonstruktion einer älteren Lesart sprechen. Masoretische Überschüsse werden durch [eckige Klammern] markiert, und die weitaus weniger häufigen qualitativen Varianten (Abweichungen bei ungefähr gleicher Textmenge) können, wenn von besonderem Interesse, nach Schrägstrich  / hinzugesetzt werden. Nach demselben losen Kriterium können die sporadischen alexandrinischen Überschüsse in in die Wiedergabe eingehen. Bei komplexeren Befunden wird die alexandrinische Fassung in runden Klammern beigegeben, nach dem Muster: (AlT: …). Die Übersetzungen vermögen solche Informationen jedoch immer nur in Auswahl zu bieten, soll ihre Lesbarkeit nicht allzu sehr leiden. Das geschähe aber, würde Vollständigkeit angestrebt, da die strukturellen Differenzen zwischen dem Hebräischen und dem Deutschen regelmäßig kaum durchschaubare Notationen hervorbrächten. Außerdem sind Vereinfachungen unvermeidlich. Beispiele: 36,4 [%WrB'] bTok.YIw: 30,8 [A]L[u 27,16 ~[k,]yaeybin> yrEb.DI 26,2 hd"Why> [yrE[']-lK'

Übersetzung von MT

AlT

[Baruch] schrieb [sein] Joch die Worte [eurer] Propheten alle [Städte] Judas

er schrieb das Joch die Worte der Propheten ganz Juda

Der Leserschaft wird zugetraut, jeweils das korrekte Äquivalent für AlT ableiten zu können. Die Übersetzungen vermitteln somit stets nur Eindrücke von den Unterschieden zwischen der masoretischen und der alexandrinischen Textform; sie sind keine Synopse! Ist neben einer masoretischen Stellenangabe auch eine abweichende alexandrinische Fundstelle zu nennen, folgt sie nach Schrägstrich gemäß der Kapitel‑ und Verszählung der JerG*-Edition von Ziegler, also z. B. 26/33,1; 25,14/13 oder 49,23/30,12. Weiterhin besagt die globale Priorität von JerAlT zwar, dass bei Lesartendifferenzen in der Regel der alexandrinische Wortlaut den älteren Stand bewahrt hat, doch verlangt die wissenschaftliche Redlichkeit, dass trotzdem in allen Fällen die urteilsleitenden Argumente offengelegt werden, zumal jederzeit mit Ausnahmen zu rechnen ist. Ein solcher Versuch würde indes schon wegen der schieren Zahl der Abweichungen das Format dieses Kommentars sprengen, und der Nachvollzug der Gedankenführung 5



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setzt naturgemäß geeignete Kenntnisse der betroffenen antiken Sprachen voraus. Daher blieb nur der Weg, die Nachweisversuche auf das Notwendigste zu beschränken und detaillierte Analysen in einen begleitend erarbeiteten textkritischen Kommentar für ein Fachpublikum auszulagern, auf den in diesem Band mit dem Kürzel TK verwiesen wird. Die Übersetzungen sind bemüht, soweit sinnvoll, Wörtlichkeit und Konsistenz zu verbinden, und verdanken daher viel der revidierten Einheitsübersetzung von 2016, der revidierten Elberfelder Bibel von 2006 sowie dem Kommentar von *Wanke. Innerhalb der Erläuterungen werden Übersetzungen in Kursivschrift zitiert; sie können bei Bedarf an den jeweiligen Argumentationszusammenhang angepasst sein. Der Name Nebukadnezzar wird als Nebukadrezzar repräsentiert, wenn dies der Schreibung im Hebräischen entspricht. Der hebräische Text ist in Sätze gegliedert, markiert durch lateinische Buchstaben. Grundlage ist die Satzeinteilung des hebräischen Jeremiabuches in den Biblia hebraica transcripta (BHt) von W. Richter, doch erlaube ich mir gelegentliche Abweichungen sowie Vereinfachungen: Infinitive, Anreden und Interjektionen werden nicht separiert. Relativsätze bleiben ungekennzeichnet und führen die Zählung mit lateinischen Buchstaben fort (deshalb 25,1aR BHt = 25,1b hier). Dasselbe gilt für Bestandteile von Sätzen aus vorangehenden Versen (deshalb 33,11v in BHt = 33,11a hier; 25,5vI BHt = 25,5a hier). Pendentia werden nur separiert und durch P markiert, wenn sie von ihrem Matrixsatz getrennt, aber noch im selben Vers auftreten (wie 27,8bP). Ohne Kennzeichnung bleiben in Kontaktstellung angeordnete Pendentia (wie 26,14a hier = 26,14aP + 26,14a BHt). Die Bestandteile von Klammerkonstruktionen (d. h. durch Einbettungen aufgespaltene Sätze) werden im Interesse leichterer Zitierbarkeit mit Indexziffern gezählt (a1, a2, a3).

3. Die Entstehung von Jer 25–52 Literatur: A. Aejmelaeus, Jeremiah at the Turning-Point of History. The Function of Jer. XXV 1–14 in the Book of Jeremiah, VT 52 (2002) 459–482. R. Albertz, Exilszeit 231–260. P.-M. Bogaert, De Baruch à Jérémie. Les deux rédactions conservées du livre de Jérémie, in: ders. (Hg.), Le livre de Jérémie, 168–173.430–432. R. P.  Carroll, Halfway through a Dark Wood. Reflections on Jeremiah 25, in: A. R. P. Diamond (u. a., Hg.), Troubling Jeremiah, 73–86. M. K.  Chae, Redactional Intentions of MT Jeremiah concerning the Oracles against the Nations, JBL 134 (2015) 577–593. D. L.  Christensen, In Quest of the Autograph of the Book of Jeremiah. A Study of Jeremiah 25 in Relation to Jeremiah 46–51, JETS 33 (1990) 145–153. G. Fischer, Jer 25 und die Fremdvölkersprüche. Unterschiede zwischen hebräischem und griechischem Text (1991), in: ders., Der Prophet wie Mose, 3–23. M. Haran, The Place of the Prophecies against the Nations in the Book of Jeremiah, in: S. M. Paul (u. a., Hg.), Emanuel (FS E. Tov; VT.S 94), Leiden 2003, 699–706. B. Gosse, Jérémie xlv et la place du recueil d’oracles contre les nations dans le livre de Jérémie, VT 40 (1990) 145–151. B. Gosse, La place primitive du recueil d’oracles contre les nations dans le livre de Jérémie, BN 74 (1994) 28–30. B. Gosse, Structuration des grands ensembles bibliques et intertextualité à l’époque perse. De la rédaction sacerdotale du livre d’Isaïe à la contestation de la Sagesse (BZAW 246), Berlin, New York 1997. E. K.  Holt, The Meaning of an inclusio: A Theological Interpretation of the Book of Jeremiah MT, SJOT 17 (2003) 181–205. M. Kessler, The Function of Chapters 25 and 50–51 in the Book

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of Jeremiah, in: A. R. P. Diamond (u. a., Hg.), Troubling Jeremiah, 64–72. M. Kessler, The Scaffolding of the Book of Jeremiah, in: ders. (Hg.), Reading the Book of Jeremiah, 57–66. N. Mastnjak, Jeremiah as Collection. Scrolls, Sheets, and the Problem of Textual Arrangement, CBQ 80 (2018) 25–44. H. G. L.  Peels, „You Shall Certainly Drink!“ The Place and Significance of the Oracles against the Nations in the Book of Jeremiah, EuroJTh 16 (2007) 81–91. A. Rofé, The Arrangement of the Book of Jeremiah, ZAW 101 (1989) 390–398. Schmid, Buchgestalten. C. R.  Seitz, The Prophet Moses and the Canonical Shape of Jeremiah, ZAW 101 (1989) 3–27. C. R.  Seitz, Mose als Prophet. Redaktionsthemen und Gesamtstruktur des Jeremiabuches, BZ 34 (1990) 234–245. O. H.  Steck, Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis. Wege der Nachfrage und Fährten zur Antwort, Tübingen 1996. Stipp, Prosaorakel. H.-J. Stipp, Sprachliche Kennzeichen jeremianischer Autorschaft, in: H. M. Barstad, R. G. Kratz (Hg.), Prophecy in the Book of Jeremiah (BZAW 388), Berlin 2009, 148–186. H.-J. Stipp, Legenden der Jeremia-Exegese (I): Das eschatologische Schema im alexandrinischen Jeremiabuch, VT 64 (2014) 484–501. H.-J. Stipp, Probleme des redaktionsgeschichtlichen Modells der Entstehung des Jeremiabuches, in: ders., Studien zum Jeremiabuch, 261–297. H.-J. Stipp, Das judäische und das babylonische Jeremiabuch. Zur Frage der Heimat der deuteronomistischen Redaktionen des Jeremiabuchs, in: ders., Studien zum Jeremiabuch, 325–347. H.-J. Stipp, A Semi-Empirical Example for the Final Touches to a Biblical Book: The Masoretic Sondergut of the Book of Jeremiah, in: R. Müller, J. Pakkala (Hg.), Insights into Editing in the Hebrew Bible and the Ancient Near East. What Does Documented Evidence Tell Us about the Transmission of Authoritative Texts? (CBET 84), Leuven 2017, 295–318. Thiel, Dtr Redaktion II.

Die vorliegende Erklärung des masoretischen Jeremiabuchs ist auf zwei Bände verteilt. Der Einschnitt zwischen den Kapiteln 24 und 25 ist orientiert an der Makrostruktur der masoretischen Ausgabe des Buches, die daher eingangs nach Eigenart und Entstehung zu charakterisieren ist, selbst wenn wiederholt Nachweise vorausgesetzt werden müssen, die erst bei der Analyse der betroffenen Referenztexte nachgereicht werden können. Die gewählte Zäsur verbleibt insofern in gewohnten Bahnen, als häufig eine makrostrukturelle Trennlinie nach 25,14 oder in der Umgebung von Kap. 25 verortet wird. Zu dessen makrostruktureller Sonderstellung trägt die Tatsache bei, dass ab 25,14 die Buchaufbauten der masoretischen und der alexandrinischen Edition des Werkes getrennte Wege gehen. Die Geschichte der makrostrukturellen Organisation des Jeremiabuchs ist daher ab Kap. 25 in zwei empirisch belegten Stufen bezeugt. Das Prioritätsurteil, welche der beiden Ausgaben die ältere ist, stellt wegen der Größenordnung der Differenzen entscheidende Weichen für das Bild, das sich für die Genese des Buches insgesamt abzeichnet. Trotz der im Detail oft schwer durchschaubaren Gliederung des Jeremiabuchs wird in beiden Textformen weithin übereinstimmend eine grobe Dreiteilung nebst einem Epilog bzw. Anhang angenommen. Zumeist wird das erste makrostrukturelle Segment in 1,1–25,14/13 gefunden, das in beiden Ausgaben dieselbe Position einnimmt und verschiedene, überwiegend poetische Textsorten enthält. Hier dominieren Vorwürfe und Gerichtsansagen an die Adresse Jerusalems und Judas, zumal auch andere Gattungen wie Gottesklagen und die sog. Konfessionen als Anklagen lesbar sind. Daneben sticht eine Anzahl von Gerichtsreden hervor, denen Prosaform und predigtartige Natur eignen, dazu als auffälligstes Merkmal das deuterojeremianische Vokabular, d. h. jenes typische Formelgut, das viele prosaische Gottes‑ und Prophetenreden des Jeremiabuches markiert, dabei den deuteronomistischen (dtr) Passagen des Deutero7



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nomistischen Geschichtswerks (DtrG) ähnelt und weithin als sicheres Anzeichen sekundären, redaktionellen Ursprungs anerkannt ist. Im Vergleich zum zweiten Teil des Buches kennzeichnen das erste Segment ferner die schwache Ausprägung narrativer Züge, die sich auf eine Handvoll ausführlicherer Einleitungen zu Redekompositionen beschränken,1 sowie die Seltenheit von Datierungen.2 Die Unheilsansagen prophezeien regelmäßig das Kommen eines anonymen Eroberers aus dem Norden, der erst ab Kap. 20 in einer kleinen Gruppe literarischer Einheiten mit Namen als die Babylonier kenntlich gemacht wird.3 Im Übrigen befolgt der erste Buchteil das Babelschweigen, ein Sprachtabu, das Klarnamen für Babylonien und seine Exponenten (den König von Babylon, babylonische Götter und Offiziere usw.) strikt vermeidet und nur ihre andeutende bzw. indirekte Identifikation gestattet.4 Wie die Analyse von Jer 25 ergeben wird (s. z. St.), ist das Kapitel insgesamt innerhalb der masoretischen Makrostruktur als separate Größe zu werten, die weder dem ersten noch dem zweiten Segment angehört, sondern als Gelenkstück fungiert, das den ersten Buchteil mit dem Rest des Werkes verkoppelt, indem es die vorangegangenen Anklagen gegen die Judäer auf den Hauptvorwurf des im Götzendienst manifesten Ungehorsams zuspitzt (Vv. 4–8) und daran die Ansage eines dreiphasigen Gerichts knüpft (Vv. 9–26): Zuerst wird das Unheil Juda und Jerusalem befallen, wie in MT der zweite Buchteil Kap. 26–45 zusätzlich sowohl ankündigt als auch beschreibt (Näheres sogleich); sodann wird das Gericht die Fremdvölker heimsuchen, wie im dritten Buchteil die Kap. 46–49 prophezeien, um zuletzt auch Jhwhs Strafwerkzeug, die Babylonier, einzuholen, womit der dritte Buchteil in den Kap. 50–51 schließt. In MT bündelt Jer 25 also retrospektiv den ersten Buchteil, um dann proleptisch die Themen der beiden folgenden Buchteile abzustecken, und zwar doppelt: Nach der Kurzfassung in den Vv. 9–14 zählt ein zweiter Durchgang innerhalb der sog. Becherperikope Vv. 15–26 die Opfer von Jhwhs Unheilshandeln detailliert auf. Er beginnt mit Jerusalem und Juda (V. 18) und fährt fort mit einer Liste von Fremdvölkern (Vv. 19–26), deren Reihenfolge ungefähr den Fremdvölkerorakeln in den Kap. 46–51 entspricht (s. u.). Jüngere Fortschreibungen der Becherperikope (Vv. 27–38) führen das Thema des weltweiten Gerichts breiter aus. Die Kap. 26–45 MT werden durch einen ausgedehnten Satz dominanter literarischer Merkmale als zweite makrostrukturelle Einheit ausgewiesen: Der Komplex ist mit wenigen Ausnahmen prosaisch; dabei entfällt ein erheblicher Anteil auf Erzählstoffe, nämlich die Kap. 26, 28 und 36 sowie die novellenartige Komposition 37– 44, die weitaus umfangreichste Prophetenerzählung im AT. Ferner werden die berichteten Vorgänge regelmäßig datiert5 oder durch spezifische Verumständungen  13,1–7; 18,1–4; 20,1–3; 21,1–2; 24,1–3. 3,6; 24,1. Vgl. weiterhin die Vv. 1–3 in Kap. 25, das jedoch einen Sonderstatus einnimmt (dazu sogleich) und wo die Datierung sekundär ergänzt wurde (s. z. St.). 3  19,14–20,6; 21,1–10; 22,24–27; 24 sowie 25 MT. 4  Typische Beispiele für diese verhüllende Redeweise von den Babyloniern in 1–25: 1,14–15; 4,5– 7.15–16; 5,17; 6,1.22.25–26; 8,3.16; 9,15; 10,22; 12,7.12; 13,1–11.19–20; 14,18; 15,8–9.11–14; 16,13; 17,4; 18,17; 19,7.9; 22,12.22.26.28; 23,8; ferner aus 25 AlT die Vv. 9–13. 5  26,1; 28,1; 32,1–5; 35,1; 36,1.9; 37,1; 39,1–2; 41,1.4; 42,7; 45,1; MT 27,1. 1

2 1,2–3;

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historisch eingeordnet,6 und zwar unter Einschluss solcher Einheiten, die ganz oder primär als deuterojeremianische Gottes‑ und Prophetenreden gestaltet sind.7 Auch sonst findet sich im Mund Jhwhs bzw. Jeremias zumeist deuterojeremianisches Vokabular im Dienst der Unheilsansage. Die Erzählung 37–44 ist streckenweise als Erfüllungsbericht zu den Drohworten des Buches über Jerusalem und Juda lesbar. Im Gegensatz zum ersten Buchteil treten Babylon und seine Exponenten nun reichlich unter ihren Namen auf. Aus dem Rahmen fallen allerdings die Kap. 30–33, die Heil für Israel und Juda verheißen und in *30,5–31,22 einen poetisch formulierten Komplex einschließen, der zum Babelschweigen zurückkehrt. Das dritte klar abgegrenzte makrostrukturelle Segment in MT bilden die Kap. 46– 51 mit den Fremdvölkersprüchen, die in 46,1 MT eine eigene Überschrift tragen. Abgesehen von den Überschriften zu den einzelnen Gedichten, kleineren Prosaeinsprengseln und 51,59–64d, dem Bericht von einer prophetischen Zeichenhandlung als Anhang zu den Babylonorakeln, ist das Korpus poetisch geformt. Mit Ausnahme der offenkundig redaktionellen Vorspänne, der Babelworte Kap. 50–51 und einem wahrscheinlichen Einschub in 49,30de befolgen auch die Fremdvölkersprüche das Babelschweigen.8 Der Epilog Kap. 52 steht wie Kap. 25 außerhalb der dreigliedrigen Makrostruktur von JerMT. Der Anhang ist aus 2 Kön 24,18–25,30 abgeleitet und stellt einen Erfüllungsbericht zu vielen Unheilsansagen des Buches über Jerusalem und Juda bereit. Bedingt durch die Eigenart seiner Quelle, ist das Kapitel vollständig in Prosa abgefasst und kennt kein Babelschweigen. Die alexandrinische Ausgabe des Jeremiabuches bietet die makrostrukturellen Segmente 2 und 3 von JerMT in umgekehrter Position; dazu treten weitere Differenzen im Detail. Hier verkoppelt nur 25,1–13 den ersten Buchteil mit den beiden anderen, und zwar ohne Rücksicht auf deren Anordnung. Die Fremdvölkersprüche JerAlT 25,14–32,24 folgen als Buchteil 2 unmittelbar auf 25,13, wobei 25,14* AlT ≙ 25,13c MT als Gesamtüberschrift des Korpus dient. Ferner sind die Orakel andersartig aufgereiht. Sodann bildet die erweiterte Becherperikope einen Bestandteil der Fremdvölkersprüche und bezeichnet in JerAlT 32 deren Abschluss, bevor JerAlT 33 || 26 MT den narrativ geprägten dritten Buchteil eröffnet. Allerdings nimmt der ebenso wie in MT platzierte Ausklang Kap. 52 hier keinen strukturellen Sonderstatus ein, sondern er setzt mit seinem prosaischen, berichtenden Charakter und seinen Datierungen9 den dritten Buchteil fort, indem er sich mit JerAlT 44–51 || JerMT 37–45 zu einem Erfüllungsbericht verbindet, der dyschronologisch gefügt ist, wie es für dieses Segment insgesamt typisch ist (s. u.). Welchem Buchaufbau und welcher Reihenfolge der Fremdvölkersprüche kommt das höhere Alter zu? Da Priorität in makrostruktureller Hinsicht nicht notwendigerweise auch Priorität bei der Mikrostruktur bedeutet, sind die beiden Bereiche ge6 29,1–3;

33,1; 34,1.6–7.8–11; 37,11; 39,15; 40,1; 44,1.  27; 29 (in Briefform); 32–35; 39,15–18; 43,8–13; 44; 45. 8 Beispiel für die verhüllende Sprechweise finden sich etwa in 46,6.10.19.20.24; 47,2; 48,7.​8.11.​12.​ 15.​18.32; 49,3.20. Dazu zählen auch Passagen, die die Identität des Angreifers durch die Nord-SüdRichtung seines Vormarschs andeuten: 48,1c–5.18–20; 49,3.7–8.23–24. 9  52,1.4–7.12.31; MT 52,28–30. 7

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trennt zu beurteilen. Es hat Vorteile, bei der Mikrostruktur zu beginnen, also der Aufreihung der Völkerorakel. Die folgende Tabelle soll den Vergleich erleichtern. Weil das Arrangement der Fremdvölkersprüche in MT dem Aufbau der Völkerliste in der Becherperikope (MT 25,18–26 || AlT 32,4–12) nahekommt, gibt die Tabelle auch diese Liste wieder. Die masoretischen Überhänge sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. Den Atbasch-Kryptoskripten Simri und Scheschach (s. zu 25,25) sind die zugehörigen Klarnamen Elam und Babylon beigegeben. Becherperikope (MT 25,15– Fremdvölkersprüche in MT 26 || AlT 32,1–12) (MT 46–51) Jerusalem und Juda Ägypten Völkergemisch

[Uz] Philister Edom Moab Ammon

Ägypten

Fremdvölkersprüche in AlT (AlT 25,14–31,44) Elam / Persien Ägypten

(Trostwort für Jakob)

(Trostwort für Jakob) Babylon

Philister

Philister Edom

Moab Ammon Edom

Phönizier: Tyrus, Sidon und ihre Kolonien

Damaskus

Dedan, Tema, Bus; die mit ­gestutztem Schläfenhaar [Arabien] Völkergemisch in der Wüste [Simri / Elam] Elam Medien alle Könige des Nordens alle Königreiche [Scheschach / Babylon]

Kedar und Hazor; die mit ­gestutztem Schläfenhaar

Ammon Kedar und Hazor; die mit ­gestutztem Schläfenhaar Damaskus Moab

Elam Babylon

Die Reihenfolge in MT ähnelt der Völkerliste in der Becherperikope, soweit die beiden Korpora dieselben Größen berücksichtigen. Die Anordnung folgt grob einer Route von Südwesten (Ägypten) gen Nordosten (Elam, Babylon), wobei für Elam (und Medien) eine Ausnahme anzunehmen ist mit dem Effekt, dass Babylon, das im Buch beständig als Vollstrecker von Jhwhs Unheilsplänen firmiert, erst danach dem Untergang anheimfällt. Die Divergenzen zwischen den beiden Serien beschränken sich 10

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auf folgende Einzelheiten: (1) Edom geht in 25,21 (wie in 27,3) Moab und Ammon voran, während es in den Fremdvölkersprüchen den beiden anderen ostjordanischen Nachbarn Israels nachsteht. (2) Damaskus hat in 25,18–26 kein Pendant und nimmt dafür die Stelle der Phönizier (Tyrus, Sidon) ein, wobei Damaskus mit Sidon etwa die gleiche geographische Breite teilt. (3)  Der arabische Raum ist jeweils durch unterschiedliche Namen von Stämmen bzw. Ortslagen vertreten, die aber in 25,23 und 49,32 gleichlautend als die mit gestutztem Schläfenhaar zusammengefasst werden; obendrein belegen sie in beiden Reihen dieselbe Position. (4)  Die Becherperikope repräsentiert die Babylonier zunächst nach den Maßgaben des Babelschweigens als alle Könige des Nordens, die in der Nähe und die in der Ferne (25,26a; vgl. 1,15). Dem hat ein Ergänzer (s. z. St.) alle Königreiche [der Welt], die es auf der Erde gibt, angefügt (26ab), bevor der prämasoretische Zusatz [Der König von Scheschach wird nach ihnen trinken] (26c) den Babyloniern wieder die von ihrer unheilstheologischen Rolle geforderte Schlussposition verlieh. Das alexandrinische Arrangement hingegen zeigt keine Affinität zur Völkerliste der Becherperikope. Stattdessen lässt es das Bestreben erkennen, die altvorderorientalischen Großmächte Persien, Ägypten und Babylonien an den Anfang zu rücken, sofern man den Namen Elam als Chiffre für Persien wertet, wie es für das Elam­ orakel 49,34–39 MT || 25,14*–19 AlT bei dessen Abfassung galt (Nachweis s. z. St.). Demnach hat der Name in AlT seine originale Funktion bewahrt, während der Spruch in der masoretischen Systematik ausweislich seiner Position ein Volk repräsentiert, das den Babyloniern zum Opfer fällt. In MT bezeichnet der Name also wie in der Becherperikope in buchstäblicher Referenz das Volk der Elamiter. Weiterhin haben die drei genannten Orakel die Besonderheit, mit Regierungsjahren judäischer Könige verknüpft zu sein: Elam/Persien mit dem Thronbesteigungsjahr Zidkijas (49,34/26,1), Ägypten mit dem 4.  Jahr Jojakims (46/26,2) und Babylonien mit dem 4. Jahr Zidkijas (51/28,59). So zeichnet sich in AlT folgende kompositionelle Logik ab: Der verantwortliche Redaktor vergab den ersten Platz an das Imperium seiner eigenen Gegenwart; Ägypten und Babylonien schloss er an, wie es sowohl ihrer historischen Wachablösung als auch der buchinternen Chronologie entspricht. Hinter der Abfolge der übrigen Sprüche in AlT hat sich bisher kein steuerndes Prinzip aufspüren lassen; hier waltete offenbar der Zufall. Diese Befunde sprechen mit vollem Nachdruck für die Priorität der alexandrinischen Anordnung, denn man kann zwar erklären, wie MT aus AlT hervorging, nicht aber den umgekehrten Verlauf: MT wurde aus AlT abgeleitet, weil man die Reihenfolge der Fremdvölkerorakel an die Völkerliste in der Becherperikope annähern wollte. Denn die Liste besitzt einen logischeren Aufbau, insofern sie die Strafe für den Vollstrecker Babylon auch literarisch an jenem Ort zur Sprache bringt, der ihr zeitlich zwangsläufig zufiel, also am Ende. Dabei begnügte man sich mit einer ungefähren Übereinstimmung, wie die abweichende Position Edoms illustriert. Wer hingegen den Vorrang des masoretischen Arrangements behauptet, kann allenfalls die ersten drei Positionen in AlT aus dem Wunsch herleiten, den drei Großmächten Persien, Ägypten und Babylonien den Vortritt einzuräumen. Freilich wäre dann darzulegen, warum man diesem Bedürfnis nachträglich die logischere Ordnung des MT 11



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geopfert haben sollte. Weiterhin bestünde die Pflicht zu verdeutlichen, wieso bzw. nach welchen Kriterien auch die übrigen Orakel umgestellt worden wären. Zudem muss die These der masoretischen Priorität dem Elamspruch ein seltsames Geschick attestieren: Wie die Analyse des Orakels erweist, ist es in Abhängigkeit von seinem Kontext im Jeremiabuch unter persischem Regiment als verschleierte Prophezeiung über den aktuellen Unterdrücker entstanden (s. z. St.). Doch als der Passus in seinen angeblich masoretisch strukturierten Kontext einging, müsste er, wie seine Stellung bezeugt, schon seine ursprüngliche Funktion verloren haben, was erst zu hellenistischer Zeit plausibel ist. Zuletzt hätte er in AlT seine ehemalige Stoßrichtung zurückerhalten, was seinerseits die Andauer der persischen Herrschaft voraussetzt. Glaubhaft ist daher allein die Annahme der alexandrinischen Priorität, die impliziert, dass erst der Austausch der alexandrinischen gegen die masoretische Reihenfolge in der hellenistischen Epoche den Verlust der originalen Referenz des Namens Elam auf Persien literarisch besiegelte. Weitere Beobachtungen erhärten den textgeschichtlichen Vorrang des alexandrinischen Arrangements: In MT besitzt das Moabkapitel als einziger Spruch des Korpus eine Unterschrift in Gestalt des masoretischen Überschusses 48,47b Bis hierher reicht das Gericht(swort) über Moab. Eine derartige Sonderbehandlung der Moabkomposition ist nur im Rahmen der alexandrinischen Reihenfolge zu begreifen, weil die Unheilsansagen über Moab dort am Ende stehen (JerAlT 31), sodass der Satz vor dem Wechsel zur masoretischen Anordnung zugleich die Serie der Völkergedichte beschloss. Außerdem folgt den Moaborakeln in AlT die erweiterte Becherperikope Kap. 32 (|| MT 25,15–38), deren Beginn im Unterschied zu den anderen, in AlT sämtlich vorausgehenden Fremdvölkersprüchen nicht per Überschrift, sondern allein durch eine prophetische Botenformel eröffnet wird, wie sie in 48/31,40a auch das Moabkapitel gliedert. So erklärt sich, warum ein Schreiber das Bedürfnis empfand, die Grenze zwischen der Moabkomposition und der Becherperikope hervorzuheben. Diese Herleitung impliziert, dass ein Teil des masoretischen Sonderguts noch vor der Umgruppierung in das Buch einging (was ohnehin auch aus anderen Gründen, die hier nicht entfaltet werden können, wahrscheinlich ist). Weiterhin ist der Ort des Trostworts für Jakob (46/26,27–28) im alexandrinischen Arrangement besser zu motivieren als im masoretischen, denn in AlT geht das Stück den Babelgedichten voran, die zur innergeschichtlichen Konkretion der Heilszusagen an Jakob beitragen, während die masoretische Position zwischen dem Ägypten‑ und dem Philisterorakel zufällig wirkt. Hier jedoch lässt sich die sekundäre Natur der zufälligen Platzierung gut begründen: Sie kam zustande, als das Trostwort für Jakob bei der Umgruppierung der Völkergedichte nur noch als Anhang zum Ägyptenorakel aufgefasst wurde, während es originär sowohl als Kontrast zu den Ägyptensprüchen geformt war (durch den adversativen Auftakt mit hT'a;w> du aber 46/26,27a) und zugleich als verständnisleitendes Präludium den Babylonkapiteln vorgeschaltet wurde. Somit sprechen schlagende Argumente für den textgeschichtlichen Vorrang der alexandrinischen Reihenfolge. Wie bereits angedeutet, erfolgte der Übergang zur masoretischen Anordnung wahrscheinlich in hellenistischer Zeit, nach der Tatsache zu urteilen, dass Elam in MT nicht mehr als Chiffre für Persien dient. 12

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Was die prioritäre Makrostruktur des Buches angeht, so muss man zunächst die beliebte, aber textfremde Vorstellung vermeiden, das alexandrinische Jeremiabuch sei nach dem sogenannten eschatologischen Schema aufgebaut. Der Begriff steht für das Postulat, es habe ein geprägtes dreiteiliges Strukturmodell alttestamentlicher Prophetenbücher gegeben, das mit Unheilsworten über Israel bzw. Juda anhob, an zweiter Stelle Drohungen gegen Fremdvölker folgen ließ und drittens mit Heilszusagen für Israel/Juda in einem hoffnungsvollen Finale gipfelte. Diese Architektur kennzeichnet eindeutig das Ezechielbuch sowie etwas abgewandelt das Buch Zefanja, doch schon die häufig vorgenommene Anwendung des Erklärungsmusters auf das Protojesajabuch kommt kaum ohne Gewaltsamkeiten aus. Es ist daher zweifelhaft, ob das eschatologische Schema als normiertes Aufbauprinzip prophetischer Schriften überhaupt existierte. Doch wie dem auch sei: Will man die Makrostruktur des alexandrinischen Jeremiabuchs mit ihrer Mittelposition der Fremdvölkerorakel auf das eschatologische Schema zurückführen, muss man dem dritten, narrativ geprägten Segment in AlT (Kap. 33–52 AlT || 26–45 + 52 MT) aufgrund der heilstheologischen Komposition Kap. 37–40 AlT (|| 30–33,13 MT) die Rolle der Heilsweissagung für Israel zuweisen. Dazu ist die Tatsache zu bagatellisieren, dass der einbettende Buchteil weit überwiegend von Unheilsansage und ‑schilderung beherrscht wird und obendrein auch AlT mit dem Katastrophenpanorama von Kap. 52 den Schlussakkord setzt. In Wahrheit verhält es sich mit der in der Globalstruktur verankerten Verhältnisbestimmung von Heil und Unheil geradezu umgekehrt: Der narrativ geprägte Buchteil repräsentiert nicht in JerAlT 33–52 die Heilsprophetie für Israel/Juda, sondern er bekräftigt und expliziert im Gegenteil in JerMT 26–45 die summarischen Unheilsansagen gegen Juda in 25,9–11.18. Und was den Buchschluss angeht, so klingt das masoretische Jeremiabuch insgesamt auf einer heilvolleren Note aus als die alexandrinische Edition, wenn es die Babylonorakel mit ihren Untergangsszenarien für den verhassten Peiniger und mit ihren Heimkehr‑ und Restitutionsverheißungen für Israel und Juda10 nahe dem Buchende platziert (Chae). Überdies hätte, wer das Werk dem eschatologischen Schema unterwerfen wollte, die heilstheologische Komposition an den Buchschluss versetzen können, mit dem zusätzlichen Gewinn, dass die Kap. 32– 33 (39–40 AlT) hinter Jer 37–38 (44–45 AlT) zu stehen gekommen wären, während bei der vorfindlichen Abfolge in beiden Texttypen erst verspätet geklärt wird, wie die vorausgesetzte Haft Jeremias im Wachhof zustande kam. Die Verschiebung hätte also das Verständnis der Kap. 32/39–33/40 bei linearer Lektüre erheblich erleichtert, wohingegen der Komplex an seinen gegebenen Positionen in MT und AlT auf den umständlichen Vorspann 32/39,1–5 angewiesen ist. Zu alldem würde das Theorem des eschatologischen Schemas nicht einmal zu entscheiden gestatten, ob das alexandrinische Arrangement primär oder sekundär zustande kam, denn immerhin könnte das Schema ja nachträglich sowohl hergestellt als auch umgekehrt anderen makrostrukturell verankerten Aussagezielen geopfert worden sein. Selbst wenn also die Theorie berechtigt wäre, vermöchte sie für die Prioritätsfrage kein Kriterium beizusteuern.  V. a. 50,4–5.8.19–20.28.33–34; 51,5.19.35–36.50; MT 51,45–46.

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Die Suche nach dem älteren Buchaufbau muss sich deshalb auf andere Indizien stützen. Dann gilt: Die masoretische Architektur des Buches entspricht nicht nur mikrostrukturell der Fremdvölkerliste der Becherperikope, sondern sie korrespondiert auch makrostrukturell jenem universalhistorischen Programm eines dreistufigen Gerichts über Juda, die Fremdvölker und schließlich die Babylonier, das in 25,9–26 doppelt vorgezeichnet wird. Insbesondere nimmt Babylon im masoretischen Bucharrangement sowohl mikrostrukturell (im Rahmen der Fremdvölkergedichte) als auch makrostrukturell (auf der Ebene des Buches) die logisch geforderte Endposition ein (von Kap. 52 abgesehen), denn der Untergang von Jhwhs Vollstrecker hat natürlich seinen ordnungsgemäßen Platz sowohl nach jenen Ereignissen, von denen die Kap. 26–45 berichten, als auch nach dem Eintreffen der Katastrophen, die in den Kap. 46–49 angekündigt werden. Wenn ferner das masoretische Jeremiabuch mit den Babylonorakeln ebenfalls die darin enthaltenen Heilsverheißungen für Israel und Juda11 nahe dem Buchschluss anordnet, gewährt es ihnen das wirkungsgesteigerte Achtergewicht, sodass JerMT trotz Kap. 52 insgesamt mit einem lichteren Ausblick endet als die alexandrinische Ausgabe (s. o.). Schon deshalb ist einzig der Wechsel von der alexandrinischen zur masoretischen Makrostruktur plausibel, nicht umgekehrt (wobei man dem Kap. 52 seine Rolle als Buchschluss wohl deswegen beließ, weil auch seine Quelle in 2 Kön diese Funktion ausübt). Außerdem ist hier nochmals die Schlussnotiz des Moab­ orakels 48,47b MT Bis hierher reicht das Gericht(swort) über Moab hervorzuheben. Der Einschub ist nur vor der erweiterten Becherperikope 25,15–38/32,1–24 erklärlich, also bei Anordnung der Fremdvölkerorakel in der Buchmitte, nicht aber vor Kap. 52, dessen Anfang klar markiert ist. Damit lässt sich auch die denkbare Alternative ausschließen, die masoretische Makrostruktur sei original, aber mit alexandrinischer Reihenfolge der Fremdvölkersprüche. Der kurze Satz 48,47b beweist also die Priorität sowohl der Makro- als auch der Mikrostruktur von JerAlT. Weitere Indizien liefert die Prosarede 25,1–14 MT. Oben wurde ihre makrostrukturelle Funktion an ihrem Endtext abgelesen, aber nun sind Annahmen zu ihrem literarischen Wachstum heranzuziehen (Näheres z. St.). Die Rede ist als prophetisches Gerichtswort geformt, freilich mit dem Widerspruch, dass die Vorwürfe in den Vv. 3–7 nur Juda und Jerusalem anklagen, während die Strafansage in den Vv. 8–11 auch über alle [diese] Nationen ringsum (9c) ergeht. Ferner werden in V. 9 die Babylonier zum Strafwerkzeug Jhwhs bestellt, um Unheil zu verhängen, das für immer (~l'A[) in Kraft bleiben soll. Doch dann prophezeien die Vv. 12–14, dass die Knechtschaft Judas und seiner Leidensgenossen bloß siebzig Jahre währen wird, nach deren Ablauf sich das babylonische Reich selbst zur Strafe unter das Joch der Fremdherrschaft beugen muss. Deshalb wird zurecht weithin angenommen, dass das Drohwort sekundär auf nichtisraelitische Adressaten mitsamt den Babyloniern ausgedehnt wurde. Eine solche Expansion ist jedoch wahrscheinlicher, wenn sie ehemals nicht nur zur erweiterten Becherperikope, sondern zum gesamten Korpus der Fremdvölkersprüche überleiten sollte, wie es in AlT der Fall ist. Vor allem bildet 25,13c was Jeremia über [alle] Nationen prophezeite eine ungeeignete Fortsetzung der Unheilsprophetie über Babylon in  S. Anm. 11.

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13ab, während der Satz in 25,14* AlT als Überschrift zu den Fremdvölkerorakeln in Gestalt eines rv,a]-Zitateinleitungssatzes (s. z. St.) die einzig plausible Aufgabe erfüllt, die ihm zwar sekundär entzogen worden sein kann, aber gewiss nicht erst sekundär zugewachsen ist. Diese Fingerzeige untermauern den textgeschichtlichen Vorrang des alexandrinischen Buchaufbaus mit dem Fremdvölkerkorpus in der Buchmitte. MT hingegen wurde so umgestaltet, dass Jer 25,9–26 nunmehr die makrostrukturelle Agenda für den zweiten und dritten Buchteil vorgibt, beim dritten Buchteil dazu auch das mikrostrukturelle Muster: Das Unheil hebt an bei Juda und Jerusalem (Kap. 26–45) und erfasst dann die Fremdvölker, literarisch entfaltet nach dem Vorbild der Fremdvölkerliste der Becherperikope 25,19–26, mit dem Sturz Babylons als Höhepunkt (Kap. 46–51). Die Pläne Jhwhs mit der Welt und ihre innere Folgerichtigkeit treten so literarisch prägnanter hervor. Weil man die erweiterte Becherperikope 25,15–38 || AlT 32 mit 25,1–14 zu einem Programmtext für den Rest des Buches vereinen wollte, sah man davon ab, sie zusammen mit den übrigen Fremdvölkerworten ans Buchende zu verschieben. Weiterhin sind im masoretischen Buchaufbau der zweite und dritte Buchteil enger verklammert, weil mehrere literarische Brücken die Grenze zwischen den beiden Makrosegmenten überspannen. Wenn Jhwh in 45,5 prophezeit, er werde Unheil über alles Fleisch bringen, lässt MT sogleich in Gestalt der Fremdvölkerorakel die nähere Explikation dieser Ansage folgen. Ferner bietet MT in Jer 42–46 eine geschlossene Serie von Weissagungen, die allesamt Ägypten betreffen, insofern sie der Ägyptendiaspora (42; 44,1–28) oder dem Land selbst gelten (43,8–13; 44,29–30; 46,2–26). Auch Kap. 45 gehört in diese Reihe, weil das dort angekündigte Schicksal Baruchs sich laut dem Vortext (43,6–7) in Ägypten erfüllen sollte. Sodann sind die Kap. 45 (V. 1) und 46 (V. 2) übereinstimmend ins 4. Jahr Jojakims datiert. Obendrein besitzen die Fremdvölkersprüche in MT auch eine Anknüpfung nach unten, weil dort das Thema Babylon die Kap. 50 f. mit dem Epilog 52 verbindet: Der Bericht von den Untaten Babylons an den Judäern steht in MT deutlicher im Schatten der angesagten Vergeltung. Will man dem masoretischen Buchaufbau das höhere Alter bescheinigen, muss man die Annahme in Kauf nehmen, dass all diese intertextuellen Nahbezüge nachträglich aufgelöst worden seien. Bestätigend hinzu kommt eine Besonderheit von Jer 45: Wie dargelegt, ist das Kapitel in MT organischer in seinen Kontext integriert, was für einen sekundären ordnenden Eingriff spricht. Nun trägt es obendrein noch Merkmale, laut denen es ursprünglich als Buchschluss konzipiert war. Zugleich verbinden es zentrale Eigenarten mit dem redaktionellen Stratum der individuellen Prosaorakel, das auch in den Fremdvölkersprüchen anzutreffen ist (s. u. sowie z. St.). Folglich muss diese Sammlung vor Kap. 45 gestanden haben – wie im alexandrinischen Arrangement. Nach alldem zählen die Makrostruktur und die andersartige Reihenfolge der Fremdvölkersprüche ebenfalls zu den prioritären Zügen der alexandrinischen Ausgabe des Jeremiabuchs.12 12  29,13 AlT (|| 49,12 MT) setzt noch vor der Becherperikope (Kap. 32 AlT) deren Kenntnis voraus. Doch angesichts der Gesamtbilanz der Indizien vermag auch dieses Faktum nicht den Vorrang der alexandrinischen Buchstruktur zu erschüttern. Der Vers ist Bestandteil des Prosanachtrags Vv. 12–13 (s. z. St.), den ein im Jeremiabuch versierter Redaktor anbrachte mit Blick auf Adressaten, denen er denselben Kenntnisstand zutraute.

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Das Jeremiabuch ist somit in drei makrostrukturelle Segmente gegliedert, die sich durch solch klare Unterschiede voneinander abheben, dass diese Komponenten schon in der Antike als separate Einheiten wahrgenommen wurden, lieferten sie doch die Basis für den Umbau des Werkes in der auf MT zulaufenden Texttradition. Wie aber nun darzulegen ist, führt die gegebene Weise der Gliederung auf Informationen zum literarischen Wachstum des Buches, die weit über das durch antike Textzeugen dokumentierte Rearrangement hinausgehen. (Die folgenden Ausführungen zählen die Buchteile der Einfachheit halber nach der masoretischen Struktur.) Um mit den Fremdvölkerorakeln zu beginnen: Mit Ausnahme der Babelgedichte respektieren sie nahezu durchgängig das Babelschweigen, wie es auf das Gros des ersten Buchteils zutrifft. Zudem teilen sie – von den Worten über Elam und Babylon abgesehen – mit den meisten poetischen Partien des ersten Buchteils und mit der originalen Trostschrift *30,4–31,22.26 (s. u.) im zweiten Buchteil eine Fülle signifikanter Sprachmerkmale, freilich von einer Art, die nicht zur Imitation einlud, sodass die Gemeinsamkeiten auf identische Verfasserschaft deuten. Gleichwohl fehlen deuterojeremianische Redekompositionen, wie sie die beiden übrigen Buchteile durchsetzen. Demnach hat das Korpus der Fremdvölkersprüche einen gänzlich anderen Werdegang durchlaufen als der Rest des Buches (Näheres s. u.). Doch auch die deuterojeremianisch überformten Segmente 1 und 2 repräsentieren trotz ihrer Bindeglieder sukzessive Wachstumsschübe. Dafür sprechen bereits die oben aufgeführten formalen Differenzen, die sie als separate Komponenten konstituieren: Buchteil 1 (Kap. 1–24) bietet vor allem Unheilsprophetie über Juda und Israel, überwiegend poetisch gefasst; die eingestreuten Prosastücke übermitteln predigtartige Gottes‑ und Prophetenreden mit nur dürftig ausgeprägtem narrativem Beiwerk. Außerdem begegnen bloß drei Datierungen (1,2–3; 3,6; 24,1),13 von denen sich zudem wahrscheinlich machen lässt, dass allein die erste von früh an dem Buch angehört hat und somit seinem ursprünglichen Konzept entspricht, während die beiden anderen erst im Zuge späterer Wachstumsprozesse eingedrungen sind (s. jeweils z. St.). Teil 2 hingegen (Kap. 26–45) besteht mit geringen Ausnahmen aus Prosa, wobei sich narrative Passagen mit Redekompositionen des aus Teil 1 bekannten Typs mischen. Wenn dann obendrein die Stoffe nun regelmäßig datiert oder näher verumständet werden und an die Stelle des Babelschweigens geradezu eine Omnipräsenz der mit ihren Klarnamen belegten Babylonier tritt, lassen sich diese Gegensätze kaum mehr auf literarische Gestaltungsabsichten zurückführen, sondern stellen Spannungen zu Teil 1 dar. Weitere Widersprüche kommen hinzu: Laut dem Buchpräskript endete das prophetische Wirken Jeremias im 5. Monat des 11. Regierungsjahrs Zidkijas (1,3), während Teil 2 in den Kap. 42–44 von Auftritten berichtet, die nicht vor dem 7. Monat jenes Jahres (41,1) stattfanden. Ferner weiß die alexandrinische Ausgabe der sog. Tempelrede 7,1–15 noch nichts davon, dass diese Predigt am Tempel vorgetragen worden sei, wie die narrativ eingekleidete Kurzfassung in 26 voraussetzt (s. z. St.). Ohnehin bedarf schon die Existenz zweier Parallelversionen als solche einer Erklärung. Diese  Zu dem Scharniertext Kap. 25 s. o.; zu den sekundären Datierungen in 25,1–3 vgl. die Analysen

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z. St.

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Diskrepanzen sind nur begreiflich, wenn Teil 2 bei der Abfassung von Teil 1 noch nicht vorgesehen war. Die durch ihr geprägtes Vokabular als deuterojeremianisch ausgewiesene Ebene des Buches ist zwar sprachlich ausnehmend homogen, aber konzeptionell und nach Ursprungsdatum trotzdem breit gefächert, wie besonders eindrucksvoll die Tatsache beweist, dass die charakteristische Phraseologie bis zum jüngsten Stratum des Buches, dem masoretischen Sondergut, fortlebte. Daher ist innerhalb der deuterojeremianischen Ebene eine Pluralität von Schichten zu veranschlagen. Der vorliegende Kommentar geht davon aus, dass sich darunter auch Strata befinden, die im Rahmen einer reflektierten wissenschaftlichen Terminologie als deuteronomistisch zu klassifizieren sind, weil sie wie vergleichbare theologische Traktate im DtrG die einschlägige Diktion nutzen, um typische theologische Kernanliegen einzukleiden, so namentlich die Kultreinheit (die Alleinverehrung Jhwhs bzw. das 1. Gebot des Dekalogs) als Bedingung des dauerhaften Landbesitzes. Wegen der sprachlichen und sachlichen Nähe erscheint das Etikett „deuteronomistisch“ berechtigt, obwohl die jeremianischen Deuteronomisten (JerDtr) eine Form des Deuteronomismus verkörpern, die gegenüber dem  – kurz vorexilisch entstandenen  – DtrG* weiterentwickelt ist, wie signifikante Differenzen belegen. So verzichtet JerDtr auf die Forderung der Kulteinheit (Opferzentralisation), wohl ein Reflex der Tatsache, dass zur Zeit von JerDtr der Tempel in Trümmern lag. Dafür hat JerDtr sozialkritische Anklagen in sein Themenspektrum aufgenommen (7,5–6.9; 22,3; 34,8–16). Obendrein weisen die beiden Korpora bei allen Gemeinsamkeiten im Vokabular auch jeweils eigene typische Wendungen auf, die im anderen Korpus nur vereinzelt oder gar nicht vorkommen. Vergleicht man indes die dtr Passagen in den Buchteilen 1 und 2, treten Indizien zutage, laut denen sie an weit voneinander geschiedenen Orten verfasst wurden. Teil 1 entstand fraglos in Juda. Das zeigen die düsteren Farben, mit denen dieser Redaktionsschub das Exil ausmalt, am deutlichsten in 16,13: Ich werde euch aus diesem Land fortschleudern in das Land, das ihr nicht kanntet, ihr und eure Väter. Ihr werdet dort anderen Göttern dienen […], ‚die‘ euch keine Gnade gewähren werden. In Babylonien geschrieben, wäre der Vers lesbar gewesen als Hinnahme kultischer Assimilation, da ja Götzendienst mit dem Vollzug des Strafwillens Jhwhs gleichgesetzt wird. So konnte man lediglich aus der Ferne über die Verbannten reden, nicht aus der Nähe zu ihnen. 8,3 porträtiert das Exil als einen Ort totaler Hoffnungslosigkeit: Tod wird begehrenswerter sein als Leben für den ganzen Rest, der übrig bleibt von dieser […] Sippe an allen […] Orten, wohin ich sie versprengt haben werde. Für 9,15 wartet auf die Deportierten bloß die Ausrottung: Ich werde sie unter die Nationen zerstreuen, die sie nicht kannten, sie und ihre Väter. Ich werde hinter ihnen das Schwert herschicken, bis ich sie vernichtet habe. Um dieselbe Botschaft einzuschärfen, schickt 13,1–11 den Propheten zweimal bis zum Eufrat, damit er dort einen leinenen Schurz zur irreversiblen Unbrauchbarkeit verrotten lässt und das Ergebnis in Jerusalem vorführt. Wie der Eufrat das Exil symbolisiert, so diente der Schurz dem Redaktor als Chiffre, um klarzustellen, was er für die Exilanten erwartete. Folgerichtig ruft das Deutewort den Verschleppten das Todesurteil nach: Dieses böse Volk … es werde wie dieser Schurz, 17



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der zu gar nichts taugt! (13,10). Ein solcher Umgang mit dem Thema Exil ergab nur auf judäischem Boden Sinn. Dagegen wiederholen die drei dtr Säulentexte im Buchteil 2 (26*; 34; 44,1–28) dieses Schreckensbild der Verbannung nicht mehr. Stattdessen übernimmt Kap. 44 aus der vorangehenden „Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums“ 34,7 + *37,3–43,7b (UPJ-Erzählung; s. u.), das Konzept der Totalemigration, d. h. die Idee, die in 43,4–7b den Kulminationspunkt der Quelle bildet, wonach die Flucht der nichtexilierten Judäer nach Ägypten die Heimat völlig von ihren rechtmäßigen Bewohnern entblößt habe (s. z. St.). Laut 44,2 haben die Auswanderer ihr Land als unbewohntes Trümmerfeld hinterlassen, was V. 7 dahingehend präzisiert, dass ihr von euch Mann und Frau, Kleinkind und Säugling aus der Mitte Judas ausrottet. Da man schwerlich seine eigene Existenz bestreiten kann und die Kap. 42–44 die Ägyptendiaspora in einer Weise verdammen, die das Nilland ebenfalls als Abfassungsort ausschließt, verbleibt als mögliches Ursprungsmilieu der dtr Passagen des zweiten Buchteils nur die babylonische Gola. Dafür spricht auch das Heilswort für Zidkija in 34,5, das dem letzten judäischen König standesgemäße Totenfeiern verheißt, ohne sein Begräbnis zu erwähnen. Zu exilischer Zeit in eine literarische Komposition eingewoben, als der unglückliche Monarch längst deportiert war, vermochte das Heilsorakel nur noch ein Publikum zu interessieren, vor dessen Augen der entthronte Herrscher verstorben war, ohne dass ihm die davidische Grablege in Jerusalem offenstand, also im babylonischen Exil. Den exilischen Ursprung des zweiten Buchteils bestätigen die eingeflochtenen Quellen. Die Babylonier sind hier ständig präsent und erhalten trotz ihrer fatalen realhistorischen Rolle ein bemerkenswert vorteilhaftes Image. Jeremia wird als ihr Parteigänger stilisiert, der beharrlich zur Fügsamkeit gegenüber dem Aggressor aufruft und dafür ein erträgliches Joch in Aussicht stellt (Kap. 27–29; 37–43). 27,6 spricht Nebukadnezzar die Weltherrschaft zu; wer sich ihm nicht beugen will, ist laut V. 8 dem Untergang geweiht. Zwar droht 10a mit der Deportation, aber das Entsetzen, das 10bc damit verbindet (ich werde euch versprengen, und ihr werdet zugrunde gehen), ist erst die Nachinterpretation einer prämasoretischen Hand. Für 29,7 kommt sogar das Heil der Verbannungsorte dem Heil der Verschleppten gleich. (Wenn indes die Vv. *10–14a obendrein die Heimkehr verheißen und die Gola feierlich als Ort der Gottesnähe proklamieren, wo Jhwh Gebete erhört und sich jenen erschließt, die ihn aufrichtig suchen, ist eine jüngere redaktionelle Stimme zu vernehmen; s. z. St.) Daraus folgt für die Buchgenese: Die dtr Schichten in den Buchteilen 1 und 2 repräsentieren zwei sukzessive Schübe theologischer Arbeit. Da nur der erste Buchteil in dem Präskript 1,1–3 einen ordnungsgemäßen Anfang besitzt und noch keine Kenntnis des zweiten Buchteils verrät, ist er der ältere. Vom Präskript abgesehen, war die Komposition gerahmt durch zwei dtr Einheiten: den Visionsbericht 1,11–19 und das Gerichtswort *25,1–13a2, die beide das Kommen des anonymen Feindes aus dem Norden prophezeien und mit dem Fremdgötterdienst der Judäer begründen. In dieser dtr geprägten Schrift, für die sich das Etikett „judäisches Jeremiabuch“ anbietet, dürfte jene Vorform des Buches zu greifen sein, die erstmals nach Anlage und Charakteristik dem heutigen Erscheinungsbild ähnelte. Allerdings bot sie wohl reine Unheilsprophetie. Was aus Jer 1–25 für den originalen Bestand in Frage kommt, war 18

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noch völlig mit der theologischen Aufarbeitung der Katastrophe befasst und wagte noch keinen Ausblick auf eine mögliche Schicksalswende, weswegen das Werk relativ früh in der exilischen Epoche entstanden sein muss. Möglicherweise wurden dem judäischen Jeremiabuch schon wenig später die jeremianischen Fremdvölkersprüche angehängt, d. h. das Korpus ohne die Orakel über Babylon und Elam. Der Schöpfer des judäischen Jeremiabuchs hatte für dieses Material, obwohl authentisch, kein Interesse aufgebracht, weil es ihm um die theologische Erklärung der Niederlage Judas ging und die ursprüngliche Funktion der echten Fremdvölkergedichte – die Warnung vor Bündnissen gegen die Babylonier – nicht mehr aktuell war. Anschließend wurde das Buch auf mesopotamischem Boden um Teil 2 erweitert, und zwar, wie sogleich näher zu belegen ist, ebenfalls von dtr Händen und zu einer Zeit, als das babylonische Reich noch stets keinen Anlass gab, seinen baldigen Kollaps zu erhoffen. So wurde das „judäische“ um das „babylonische Jeremiabuch“ bzw. seine babylonische Fortschreibung verlängert. Die Urheber der beiden Wachstumsschübe seien als die jeremianischen Deuteronomisten I und II bezeichnet (JerDtr I und II). Weil bei den beiden dtr Schichten trotz ihrer Unterschiede die Gemeinsamkeiten überwiegen, ist die Spekulation reizvoll, aber natürlich nicht entscheidbar, ob sich dahinter derselbe Autor verbirgt, der zwischenzeitlich deportiert worden war. In der Frühphase der nachexilischen Erneuerung Judas trat in Gestalt von Kap. 32* ein heilstheologisch orientierter Text hinzu, dessen konzeptionelle Eigenart erlaubt, ihn der dtr Sphäre zuzurechnen, obgleich als ein Grenzfall (s. z. St.), der somit als JerDtr III zu zählen ist. Fragt man nach der internen Textentwicklung des zweiten Buchteils, lohnt sich der Einstieg bei einem eklatanten Paradox: Teil 2 verbindet eine Fülle an Datierungen mit einem dyschronologischen Arrangement. Dabei beginnt er mit dem frühesten Datum, als sei eine zeitlich lineare Aufreihung der Stoffe vorgesehen: 26,1 verankert Jeremias Tempelprozess im Jahr von Jojakims Thronbesteigung (609). Der masoretische Überhang 27,1 tut dasselbe mit einem Auftrag Jhwhs an Jeremia, der allerdings erst zur Zeit Zidkijas auszuführen ist (Vv. 2–11), wie es V. 12 berichtet. 28,1 AlT verlegt Jeremias Konflikt mit dem Falschpropheten Hananja ins 4. Jahr Zidkijas (594/3), dem MT indes die unvereinbare Angabe am Anfang der Königsherrschaft Zidkijas (597) zur Seite stellt. Weil jedoch Kap. 27 die Handlungen des Propheten zur Zeit Zidkijas nicht mit einer Jahreszahl belegt, kollidiert keine der Datierungen in 28,1 mit dem Vortext. Laut 29,1–3 hat Jeremia seinen Brief an die Gola zu einem ungenannten Zeitpunkt unter Zidkija auf den Weg geschickt. Jhwhs Auftrag an Jeremia zur Niederschrift der Trostschrift 30,1–3 spielt lediglich auf die bereits erfolgte Deportation von Judäern (und Israeliten) an und verweist hiermit ebenfalls auf die Regentschaft Zidkijas. Die Kap. 32–33 schreiten voran in dessen 10. Jahr (587/6), als Jerusalem von den Babyloniern eingeschlossen war, und näher noch in die Phase, die der Prophet in königlichem Gewahrsam verbrachte (32,1–2; vgl. 33,1), wohin er laut 37,11–21 während einer Unterbrechung der Belagerung geraten war. Danach gleitet Kap. 34 erstmals auf der Zeitskala zurück, obgleich nur ein wenig, indem es ebenfalls während der Belagerung spielt (Vv. 1.7), aber am Schluss den mittlerweile eingetretenen Abzug der 19



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Babylonier erwähnt (588; V. 22), ohne etwas von einer Haft Jeremias zu wissen. Die beiden nächsten Kapitel blenden dann weit in die Vergangenheit zurück, indem sie wie 26 unter König Jojakim angesiedelt sind. Kap. 35 nennt kein Datum, setzt aber den Vormarsch Nebukadnezzars nach Juda voraus (V. 11) und gehört daher frühestens in das Jahr der Schlacht bei Karkemisch (605), das dem 4. Jahr Jojakims entspricht (46,2). Kap. 36 spielt in eben diesem (V. 1) und im folgenden Jahr (V. 9 MT). Danach meldet 37,1 die Thronbesteigung Zidkijas, schwenkt also an den Anfang seiner Herrschaft (597), bevor V. 3 sogleich nahe an deren Ende springt, um die Schilderung jener Vorgänge während der Belagerungspause aufzunehmen, die den Propheten in den Kerker führten (588). Hiermit ist die Darstellung wieder an die Zeithöhe herangerückt, die schon mit 32–34 erreicht worden war. Dabei stellt sich heraus: Jetzt erst berichten die Kap. 37–38 von Ursachen und Verlauf jener Gefangenschaft Jeremias, die bereits die Kulisse der Kap. 32–33 geliefert hatte. Die dyschronologische Position nötigt den letzteren Komplex zu einer wortreichen Orientierung über Jeremias Lage in 32,1–5, die sichtlich von 37–38 abhängt, aber die Gründe für die Haft des Propheten fühlbar verschiebt (s. z. St.). Die Verbindung von chronologischer und sachlicher Inkonsistenz schafft eine gravierende Spannung. Im weiteren Fortgang ordnet der Bericht sein Material bis zur großen Rede Jeremias an die Ägyptenflüchtlinge in Kap. 44 zeitlich linear, bei zwei Ausnahmen in Kap. 39: Der masoretische Überhang Vv. 4–13 setzt ein mit dem Fluchtversuch Zidkijas, den man sich wohl vor dem in V. 3 beschriebenen Tribunal der Babylonier vorstellen muss, und das Verschonungsorakel für Ebed-Melech Vv. 15–18 soll zwar noch während der Haft Jeremias ergangen sein (V. 15), wird aber erst nach deren Ende mitgeteilt. Wenn dann abschließend in Kap. 45 Baruch ebenfalls ein Verschonungsorakel erhält, blendet der Buchteil erneut in das 4. Jahr Jojakims zurück (V. 1; vgl. 36,1). Man hat hinter dem dyschronologischen Arrangement ein gezielt eingesetztes künstlerisches Ausdrucksmittel vermutet, das die Dramatik und Turbulenz der geschilderten Epoche nicht nur sachlich, sondern auch strukturell vergegenwärtigen sollte: „The text’s structure, or lack of structure, is the key to the meaning of the book. The chaos is the message; the structure or its absence is the meaning.“14 Das erscheint jedoch für den zweiten Buchteil wenig glaubhaft. Sind schon Zweifel angebracht, ob in der Antike jemand darauf verfallen wäre, Dyschronologie als ästhetisches Instrument einzusetzen, enthält das babylonische Jeremiabuch obendrein starke Indizien, wonach es ursprünglich – also in jener Wachstumsphase, die der Katastrophe am nächsten stand! – strikt linear organisiert war, während das fünfmalige Zurückdrehen der Uhr in allen Fällen aus Fortschreibungsprozessen erwuchs, die andere Ziele als die literarische Vergegenwärtigung von Chaos und Anarchie verfolgten. (1) Die textgenetischen Wurzeln der Dyschronologie treten am deutlichsten bei dem masoretischen Überschuss 39,4–13 hervor, den sowohl Spannungen zum Kontext als auch Merkmale des prämasoretischen Idiolekts als späten Einschub erweisen 14  L. Stulman, Commentary as Memoir? Reflections on Writing/Reading War and Hegemony in Jeremiah and in Contemporary U. S. Foreign Policy, in: C. Maier, C. J. Sharp (Hg.), Prophecy and Power. Jeremiah in Feminist and Postcolonial Perspective (T & T Clark Library of Biblical Studies 577), London, New York 2013, 57–71, 68. Vgl. auch die Arbeiten von Di Pede.

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(s. z. St.). Ein Ergänzer hat ihn je zum Teil aus 52,7–16 entlehnt und aus 40,2–5 abgeleitet, weil er in Kap. 39 eine Schilderung der babylonischen Einnahme Jerusalems vermisste und überdies Nebusaradans Großzügigkeit gegenüber dem Propheten, wie in 40,1–6 beschrieben, auf den erklärten Willen Nebukadnezzars gründen wollte, im Einklang mit jenem Bild des Fremdherrschers, das auch sein Ehrentitel als Knecht Jhwhs vergegenwärtigt (MT 25,9; 27,6; 43,10). (2) Ähnlich offen liegen die redaktionsgeschichtlichen Wurzeln der Rückblende der Kap. 35–36 in die Zeit Jojakims. Denn die benachbarten Komplexe 34 und 37,3 ff., die unter Zidkija angesiedelt sind, bildeten ehemals einen geschlossenen, chronologisch kohärenten Zusammenhang, den der Nachtrag von 35–37,2 aufgesprengt hat, wie mehrere Befunde erweisen. Das dtr Kap. 34 verkoppelt das Heilswort für Zidkija, das Jeremia während der babylonischen Belagerung Jerusalems vorgetragen habe (Vv. 1–7), mit dem Bericht von der widerrufenen Sklavenbefreiung (Vv. 8–22), laut dessen Schlussversen (Vv. 21–22) zumindest die Rücknahme des Rechtsakts zu einem Zeitpunkt stattfand, als die Babylonier aus einstweilen ungenannten Gründen von Jerusalem abgezogen waren, während Jeremia ihre Wiederkehr prophezeite. Nach dem Blick in die Zeit Jojakims schließt 37,1–2 erneut zur Herrschaft Zidkijas auf, bevor mit 37,3 ein ausgedehnter Erzählfaden anhebt, der aus der genannten Belagerungspause erwächst und nun auch deren Auslöser klärt: Die Babylonier hatten vom Anmarsch eines ägyptischen Heeres vernommen (37,3–8). Somit endet Kap. 34 mit einem merkwürdigen Ausklang: Nach den Nachrichten über die verzweifelte Lage Judas in 34,1.7 kommt der Verweis auf die schon eingetretene Belagerungspause in den Vv. 21–22 völlig unvorbereitet, und auf Informationen über die Ursache der überraschenden Wende müssen die Hörer/Leser bis Kap. 37 warten. Die Stoffdisposition erscheint jedoch weniger seltsam, wenn Kap. 34 unmittelbar vor 37,3 ff. gerückt wird, wie die folgende Textkombination demonstriert: … ​ 21  Zidkija Jer 34,12  Da erging das Wort Jhwhs an Jeremia [von Jhwh]: ​ aber, den König von Juda, und seine Patrizier werde ich in die Hand ihrer Feinde geben [und in die Hand derer, die ihnen nach dem Leben trachten,] sowie [in die Hand] der Streitmacht des Königs von Babel, die von euch abgezogen ist. ​ 22  a  Siehe, schon gebe ich Befehl – Spruch Jhwhs –, ​ b  und hole sie zu dieser c  Sie werden gegen sie kämpfen, ​ d  sie erobern ​ e  und sie im Stadt zurück. ​ f  Und die Städte Judas mache ich zur Ödnis ohne Bewohner. Feuer verbrennen. ​ (Jer 35–36) Jer 37,1  a  Anstelle von [Konja, dem Sohn] Jojakim[s], wurde [König] Zidkija, der Sohn Joschijas, König, ​ b  den Nebukadrezzar, [der König von Babel,] als König eingesetzt hatte im [Land] Juda. ​ 2  a  Aber er, seine Diener und das Volk des Landes hörten nicht auf die Worte Jhwhs, ​ b  die er durch [den Propheten] Jeremia redete. 3  a  Da sandte der König Zidkija Juchal, den Sohn Schelemjas, und den Priester Zefanja, den Sohn Maasejas, zu [dem Propheten] Jeremia, und ließ ihm sagen: ​ 4  a  Jeremia aber ging (noch) b  Bete doch für uns zu Jhwh, [unserem Gott]! ​ b  und aus inmitten des Volkes / der Stadt; ​ c  sie hatten ihn (noch) nicht ins ein ​ 21



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Gefängnis gesteckt. ​ 5  a  Die Streitmacht des Pharao war (damals) von Ägypten aufgebrochen. ​ b  Da hörten die Chaldäer, [die Jerusalem belagerten,] die c  und rückten von Jerusalem ab. ​ 6  Nun erging das Wort Nachricht von ihnen ​ Jhwhs an [den Propheten] Jeremia: ​ 7  a  So spricht Jhwh, [der Gott Israels]: ​ b  So sollt ihr zum König von Juda sagen, der euch zu mir gesandt hat, um mich zu befragen: ​ c  Siehe, die Streitmacht des Pharao, die zu eurer Hilfe aufgebrochen 8  a  Dann werden die Chaldäer zurückist, kehrt in [ihr] Land Ägypten zurück. ​ kehren, ​ b  diese Stadt bekriegen, ​ c  sie erobern ​ d  und im Feuer verbrennen. Klammert man neben den Kap. 35–36 auch die annalistische Notiz 37,1–2 aus, knüpft 37,3 ff. nahtlos an der Situation der Belagerungspause an, mit der Kap. 34 endet. Aussagekräftig ist insbesondere der masoretische Zusatz die Jerusalem belagerten in 5b. Diese Erklärung ist erforderlich, weil die Vv. 1–2 zwar nach Kap. 36 den Schritt in die Tage Zidkijas vollziehen, aber versäumen, den Hintergrund der folgenden Szene zu erläutern. Deshalb erfahren die Hörer/Leser erst verspätet in V. 5, dass die Episode schon nahe dem Ende von Zidkijas Amtszeit spielt und der König sein Fürbittgesuch vortrug, als die babylonische Belagerung Jerusalems ein unverhofftes Ende gefunden zu haben schien (so jedenfalls der vorliegende Text; Näheres s. zur Textgenese von 37). Folglich erstaunt umso mehr, dass die zitierten Worte in AlT fehlen, denn der Rest von V. 5 schließt die Informationslücke nur unzureichend. Der masoretische Überschuss ist freilich überflüssig, wenn 34 tatsächlich unmittelbar vor 37,3 ff. zu stehen kommt, weil dann 34 die nötige Orientierung über die Lage verschafft. Diese Konstellation kann nicht zufällig sein; mithin schloss 37,3 ehemals direkt an 34,22 an. Dazu passt, dass in 34,7 wahrscheinlich der originale Beginn des Erzählkomplexes 37,3 ff. vorliegt (s. z. St.), nämlich der Anfang der „Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums“ (UPJ-Erzählung; s. u.). Auf dieser Basis lassen sich maßgebliche Schritte des Textwachstums in den Kap. 34– 37 rekonstruieren. Als die dtr Komposition 34 entstand, wurde sie auf zweierlei Weise mit der UPJ-Erzählung verzahnt: Der originale Beginn der UPJ-Erzählung ging als V. 7 in Kap. 34 ein, das seinerseits mit einer notdürftigen Überleitung zu 37,3 ff. endete. Als der Nachtrag des Jojakim-Blocks 35 f. diesen Konnex durchtrennte, stellte der redaktionelle Kitt 37,1–2 den Anschluss zur alten Fortsetzung 37,3 ff. wieder her, allerdings in so unbefriedigender Manier, dass ein prämasoretischer Tradent in 37,5b nachbesserte. Die Kap. 35 f. sind ein Werk der patrizischen Redaktion (PR), die außerdem vor allem Jer 26 um die Vv. 7 und 10–16 erweiterte sowie 40,1–6 einfügte. PR war bestrebt, das Bild der judäischen Führungsschicht aufzuhellen, die sich vorrangig aus einigen machtvollen Familien rekrutierte. Ihre Angehörigen, ~yrIf' Obere, Beamte, Patrizier genannt, hatten Jeremia zu seinen Lebzeiten großenteils bekämpft und sind daher in seinem Buch scharfer Kritik ausgesetzt. Um dem entgegenzuwirken, schob PR narrative Gegenbeispiele ein, die die judäische Aristokratie zur Gänze in Parteigänger des mittlerweile durch die Geschichte bestätigten Propheten verwandelten. PR platzierte ihre Beiträge ohne Rücksicht auf die Chronologie vornehmlich in der Nachbarschaft von Erzähltexten, die den Ruf der Patrizier beschädigen. Da PR mit auffälliger Beharrlichkeit den Einsatz ihrer Trägerkreise für Jeremia mit 22

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Schauplätzen am Tempel verbindet, zu denen die Priesterschaft am nachexilischen Jerusalemer Heiligtum den Laien den Zutritt entziehen wollte, scheint diese Redaktion in frühnachexilischer Zeit im Zusammenhang mit Streitigkeiten um Zugangsrechte am Tempelneubau aktiv geworden zu sein. (Zur Rechtfertigung des Äquivalents Patrizier für rf; s. zu Jer 26.) (3) Auch die leichte chronologische Inkonsistenz zwischen den Kap. 32–33 und 34 hat redaktionsgeschichtliche Ursachen. Die Kap. 32–33 gehören zu dem heilstheologisch geprägten Block 30–33, der aus dem sonst nahezu ganz von Unheilsprophetie und ‑schilderung dominierten zweiten Buchteil herausragt. Schon diese Sonderrolle schürt den Verdacht sekundärer Expansion, den der Beginn von 32 und der Auftakt von 33, der daran anknüpft, bestätigen: 32,1–5 situiert Jeremias Zeichenhandlung mit dem Ackerkauf in Anatot umständlich während der Haft Jeremias im Wachhof, von der erst die Kap. 37–38 Näheres berichten. Die Art der Komposition mit aufwendiger Vorwegnahme später entfalteter Informationen plädiert entschieden für literarische Nacharbeit. Ferner reagieren die Heilszusagen auf Probleme der Neukonstitution Judas nach dem Exil, während die Texte von JerDtr II noch keine Kenntnis von einer Wende zum Besseren verraten. 33,14–26 ist so jung, dass das Stück nicht mehr in die G*-Vorlage eingegangen ist. Die Wahl des Ortes für den heilstheologischen Block entsprang dem Umstand, dass Jer 29 in den Vv. 10–14a bereits um eine Verheißung der Heimkehr aus dem Exil erweitert worden war, die dann die ähnlich geartete Trostschrift Kap. 30 f. an sich zog, sukzessive gefolgt von den übrigen Einheiten des Korpus. (4) So verbleiben die Verschonungsorakel für Ebed-Melech (39,15–18) und Baruch (45). Auch sie verkünden Heilszusagen und sind an ihrer Terminologie als redaktionelle Produkte kenntlich, ohne deshalb unterscheidend dtr Züge zu tragen. Sie entstammen einer postdtr Schicht, die hier das Etikett „individuelle Prosaorakel“ erhält (zur Rechtfertigung s. jeweils z. St.). Die Einordnung des Heilsworts für Ebed-Melech als Rückblende nach einem klaren Einschnitt (39,14) ersparte dem Redaktor die Suche nach einem chronologisch passenderen Ort innerhalb der Schilderung von Jeremias Haftzeit. Wenn hingegen das Verschonungsorakel für Baruch mit seiner Schreibertätigkeit bei der Schaffung der sog. „Urrolle“ synchronisiert wird (45,1), wie in Kap. 36 geschildert, und ursprünglich – vor dem Nachtrag von Kap. 52 – als Buchschluss dienen sollte, war der Einheit zusätzlich eine Aufgabe zugedacht, die einem literarisierten Äquivalent eines Kolophons nahekam (zum Begriff s. zu 36,22–23). Der Lohn für Baruch spiegelte die Zuverlässigkeit seiner Arbeit, die im Gegenzug die Vertrauenswürdigkeit des vorliegenden Buches als authentisches Zeugnis der Prophetie Jeremias verbürgt. Weitere Einzelnachweise voraussetzend, die im Zuge der Kommentierung zu erbringen sind, lässt sich folgende Skizze der Literargeschichte des babylonischen Jeremiabuchs entwerfen. Der Buchteil entstand im Exil als Fortschreibung des judäischen Jeremiabuchs, und zwar noch vor jener Phase in den 540er Jahren, als die Perser aufgrund ihrer Eroberung Kleinasiens dem babylonischen Reich gefährlich zu werden begannen (s. Einleitung zu 50 f.). Dem judäischen Jeremiabuch war damals wahrscheinlich schon eine Sammlung authentischer Fremdvölkersprüche angehängt worden, d. h. wohl alle Gedichte außer jenen über Elam und Babylon. Der Schöpfer des babyloni23



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schen Jeremiabuchs war ein dtr Redaktor, womöglich derselbe, der schon das judäische Vorläuferwerk geschaffen hatte. Wie jene Vorstufe bildete das in Babylonien angefügte Korpus ein redaktionelles Sammelwerk, das von Beginn an durch dtr Säulentexte strukturiert war, hier die Einheiten 26*, 34 und 44,1–28, die der Redaktor nicht bearbeitete, wie häufig angenommen wird, sondern die er im Zuge der Herstellung seines Werkes erstmals verfasste. Wir begegnen hier einem Typ von Redaktor, der ältere Materialien zu einer Komposition vereinte, seine Eigenbeiträge aber nicht auf knappe Nähte und Glossen beschränkte, sondern sich in hohem Maße als Autor betätigte, indem er umfangreiche Neuschöpfungen einfügte, die dem Endprodukt den verständnisleitenden Stempel aufprägten. Zu diesem Zweck behielt er etwa die Rahmenpositionen am Anfang und am Schluss eigenen Erzeugnissen vor, wie auch der Urheber des judäischen Jeremiabuchs verfahren war. Ähnliche, allerdings weniger durchgreifende Formen redaktioneller Arbeit trieben später wiederholt die Buchgenese voran (s. u.). Das babylonische Jeremiabuch war chronologisch angelegt. JerDtr II hat seinem Werk wohl nur zwei Quellen einverleibt, beide exilischen Ursprungs. Nach seinem Eigenbeitrag zum Tempelprozess Jeremias 26,1–6.8*–9.17–23, datiert im Thronbesteigungsjahr Jojakims, ordnete er die erste Quelle ein, die Falschprophetenkomposition Jer *27–29, die Ereignisse unter Zidkija spiegelt und selbst schon ein gestuftes Wachstum samt redaktionellen Bearbeitungen im Exil durchlaufen hatte. Separiert durch Kap. 34, ließ der Redaktor die UPJ-Erzählung (34,7 +) *37,3–43,7b folgen, die Vorgänge in den Monaten um die babylonische Einnahme Jerusalems schildert. Ihre ursprüngliche Zugehörigkeit zum babylonischen Jeremiabuch unterliegt keinem Zweifel, denn ihr Beginn ist in Kap. 34 eingegangen, das zudem an seinem Ende zu 37,3 ff. überleitet; weiterhin wird das Finale der UPJ-Erzählung mit der Totalemigration der nichtexilierten Judäer von dem seinerzeitigen Schlusskapitel 44* vorausgesetzt, das einen Disput des Propheten mit den judäischen Flüchtlingen in Ägypten wiedergibt, bis heute die späteste in der Bibel überlieferte Begebenheit aus dem Leben Jeremias. Der Schöpfer des babylonischen Jeremiabuchs setzte das Bestreben seines judäischen Vorgängers fort, die Schuld der Judäer an der Exilskatastrophe bloßzulegen. Doch darüber hinaus deutete er erste Hoffnungsperspektiven an, gegründet auf die Chancen, die er in einem auskömmlichen Verhältnis zu den Babyloniern erblickte. Deshalb machte er sich die Falschprophetenkomposition *27–29 zu eigen, die Jeremia im Kampf gegen antibabylonische Prophetenkollegen zeigt und seinen Brief an die Exilanten zitiert, in dem er dazu aufrief, tatkräftig ein langes Überleben in der Fremde zu sichern und nichts weniger als das Heil des Ortes der Verbannung zu erstreben (29,5– 7.15.21–23abe; s. z. St.). Ferner nahm JerDtr II die UPJ-Erzählung in sein Werk auf, die ein auffallend freundliches Porträt der Babylonier zeichnet und ihnen sogar die künftige Erlaubnis zur Heimkehr zutraut (42,12). Obendrein propagiert sie die Idee, dass die nichtexilierten Judäer gegen die eindringlichen Warnungen Jhwhs (*42,10–22) samt und sonders nach Ägypten geflohen seien (43,5–7b), wo sie dem Tod geweiht sind (42,16–18; V. 22?), mit der impliziten Konsequenz, dass nur noch die babylonischen Exilanten den Fortbestand des Volkes ermöglichen konnten. Darin hat auch JerDtr II eine Hauptaufgabe seiner Mitgefangenen gesehen. Deshalb übernahm er in 44* die 24

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Rhetorik der Totalemigration und rechtfertigte den künftigen Untergang der Ägyptenauswanderer zusätzlich aus dem konzeptionellen Repertoire der dtr Theologie. Der hier zu kommentierende Bereich der Kap. 25–52 hat bereits in frühnachexilischer Zeit größere Bearbeitungen erfahren, ein Ausweis des Ansehens, den das Werk rasch gewonnen haben muss. Die Maßnahmen konzentrierten sich allerdings auf den Rahmen des babylonischen Jeremiabuchs, während die Fremdvölkersprüche nur geringfügig fortgeschrieben wurden. Einen namhaften Wachstumsschub steuerte die patrizische Redaktion bei, die sich an Erzähleinheiten mit missliebigen Nachrichten über die judäischen Führungskreise heftete, wie sie nur im babylonischen Jeremiabuch auftraten, sodass PR ihre Aktivitäten, soweit erkennbar, auf diesen Buchteil beschränkte: Neben kleineren Zutaten erweiterte sie Kap. 26 um die Vv. 10–16, schaltete den Erzählungen in 37 f. die Kap. 35 f. vor und beanspruchte in 40,1–6, Jeremia habe sich nach Kriegsende aus freien Stücken für den Verbleib bei dem Schafaniden Gedalja entschieden. Der Verfasser der in mancher Hinsicht ähnlichen individuellen Prosaorakel setzte hingegen seine Merkzeichen im gesamten Werk unter Einschluss der Fremdvölkersprüche. In Jer 25–52 sind ihm wahrscheinlich 28,15–17; 29,24–32; 39,15–18; 44,29–30; 45; 46,25 und 50,17c–18 zuzuschreiben (s. jeweils z. St.). Ein besonders lange anhaltendes Buchwachstum ist in 25,27–38/32,13–24 zu erkennen, den Anhängen zur sog. Becherperikope 25,15–26/32,1–12 (s. z. St.). Weiterhin schwoll der heilstheologische Block 30–33 schrittweise bis in die jüngsten Entwicklungsstufen des Buches an. Dabei trat in Gestalt der originalen Trostschrift *30,4–31,22.26 nach den authentischen Fremdvölkersprüchen das einzige Korpus hinzu, das die eigene Stimme des Propheten in größerem Umfang bewahrt haben dürfte. Sofern die jeremianischen Deuteronomisten I und II die in die Trostschrift eingegangenen Jeremiaworte kannten, hatten sie keine Verwendung dafür, denn Heilszusagen für die verschleppten Nordstämme waren nicht ihr Thema, und selbst JerDtr II fand offenbar die Zeit noch nicht reif für die Reapplikation der Verheißungen auf Juda, weil seine Hoffnung auf Heimkehr noch weit entfernt blieb von jener Zuversicht, die diesen einzigen erhaltenen Komplex von jeremianischen Heilsorakeln beflügelt. Zu einem nicht näher bestimmbaren, aber gewiss vorgerückten Zeitpunkt wurde dem Werk eine revidierte Fassung des Endes von 2 Kön angehängt. Die relative Chronologie der verschiedenen redaktionellen Maßnahmen ist nicht immer zweifelsfrei aufzuhellen; erst recht muss sich die absolute Chronologie gerade bei den jüngeren Schichten wiederholt mit vagen Eingrenzungen bescheiden. Das Buchwachstum verebbte allem Anschein nach im späten 3. oder frühen 2. Jahrhundert, als zuletzt wenige, aber jedenfalls mehrere prämasoretische Tradenten ihre Retuschen anbrachten. Redaktoren im geläufigen Sinn kann man diese Schreiber kaum mehr nennen, da sie zwar nicht weniger als ein rundes Siebtel zum Volumen des Endtextes beisteuerten, aber vor allem, indem sie ohnehin buchtypisches floskel‑ und formelhaftes Material vermehrten oder Dubletten erzeugten. Nur noch sehr zurückhaltend tasteten sie die Aussagen ihrer Vorlage an mit Modifikationen, die zumeist von lokaler Bedeutung blieben und untereinander keine Zusammenhänge aufwiesen, sodass der Generalnenner ihrer Beiträge nicht in einer konzeptionellen Leitidee, sondern allenfalls in einem Stilideal besteht. Dabei füllten die Rezensoren von allen 25



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Buchteilen das ehemalige babylonische Jeremiabuch am stärksten auf, weil sein überwiegend narrativer Charakter ihrer Vorliebe für redundante Einsprengsel wie Namen, Titel und Formelgut die reichsten Entfaltungsmöglichkeiten bot. Allerdings scherten sogar in dieser Spätzeit vereinzelt noch Eingriffe von erheblicher Tragweite aus dem phasentypischen Muster aus. Zwei markante Ausnahmen ragen heraus: Die messianische Verheißung 33,14–26 zählt zu den jüngsten Bausteinen des Buches (s. z. St.). Weiterhin vertauschte einer der prämasoretischen Tradenten – jedenfalls nicht der erste (vgl. 48,47b; s. o.) – die Buchteile 2 und 3 der alexandrinischen Makrostruktur und ordnete die Fremdvölkersprüche neu, um dem gesamten Werk, wie oben beschrieben, einen folgerichtigeren Aufbau einzupflanzen. Diese buchgenetische Teilskizze ist abschließend im Interesse der wissenschaftlichen Redlichkeit einem unvermeidlichen Vorbehalt zu unterstellen: Die älteste mit relativ geringem Theorieaufwand greifbare Fassung des Jeremiabuchs ist der gemeinsame Ahne der alexandrinischen und der masoretischen Ausgabe. Selbstredend ist nicht auszuschließen, dass das Werk auf seinem Weg vom judäischen Jeremiabuch bis zu jenem Gabelungspunkt zeitweilig Bestandteile enthielt, die ausgeschieden wurden und unwiederbringlich verloren gingen. Hier stoßen Rekonstruktionsversuche an eine unüberschreitbare Grenze. Im Ergebnis lassen das judäische und das babylonische Jeremiabuch je für sich recht klare Buchkonzepte erkennen, die die diversen literarischen Einheiten hochgradig integrierten und auf übergreifende Aussageziele hinordneten. Doch allein schon die Verlängerung des judäischen Grundstocks um den babylonischen Teil mit der Verkopplung der darin propagierten konträren Urteile über das Exil vollzog den Schwenk zu einer Entwicklung, die dem Werk infolge sukzessiver Aufnahme konzeptionell disparater Materialien einen zunehmend polyphonen und eher anthologischen Charakter aufprägte. Das Endresultat ist von kapitalen Widersprüchen durchzogen. Um nur ein besonders drastisches Beispiel hervorzuheben: Die Babelgedichte, laut 51,59 im 4. Jahr Zidkijas von Jeremia in Kraft gesetzt, vergleichen in 51,34 Nebukadnezzar mit dem Chaosungeheuer. Das hinderte einen prämasoretischen Ergänzer indes nicht daran, dem babylonischen Großkönig im Mund Jhwhs den Ehrentitel mein Knecht beizulegen (25,9; 27,6; 43,10), im letzten Fall sogar in einem Gotteswort, das laut der buchinternen Chronologie erst nach dem 4. Jahr Zidkijas ergangen sei. Die enorme Vielstimmigkeit des Buches spiegelt die oft weit auseinanderstrebenden theologischen Lösungsstrategien, mit denen die Judäer im Lauf der Jahrhunderte ihre drängenden existenziellen Probleme zu bewältigen suchten. Es ist theologisch alles andere als unerheblich, dass die Tradition diesem überaus pluralen Spektrum die Würde der Kanonizität zugesprochen hat.

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CAD DDD² Ges18 GK HAE HAL

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5. Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen für biblische Bücher folgen den Loccumer Richtlinien: K. Fricke, B. Schwank, Ökumenisches Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien, 2. Aufl., im Auftrag der Ökumenischen Revisionskommission neu bearb. von J. Lange. Stuttgart 1981. AJ Apologie Jeremias (s. zu 39,14) AlT alexandrinischer Text (s. Einleitung 2.) D Dopplungsstamm (Piel) D pass Dopplungsstamm Passiv (Pual) dtr deuteronomistisch DtrG Deuteronomistisches Geschichtswerk G Grundstamm (Qal) G das Alte Testament in griechischer Überlieferung G* die ursprüngliche Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische H H-Stamm (Hifil) H pass H-Stamm Passiv (Hofal) JD Jischmael-Dossier (s. zu 41,15) JerDtr jeremianischer Deuteronomist (s. Einleitung 3.) MT masoretischer Text N N-Stamm (Nifal) PR patrizische Redaktion (s. zu 26,10–16) S Peschitta (die Bibel in syrischer Übersetzung) tD Dopplungsstamm mit t-Präfix (Hitpael) TT tiberischer Text (der masoretische Text mit tiberischer Vokalisierung) UPJ (Erzählung vom) Untergang des palästinischen Judäertums (s. zu 43,7) V Vulgata

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Der Feind aus dem Norden Tiberische Fassung: b  das an Jeremia über das ganze Volk von Juda erging im vier1  a  Das Wort, ​ ten Jahr Jojakims, des Sohnes Joschijas, des Königs von Juda, ​ c  [– das war das 2  das [der Prophet Jeremia] erste Jahr Nebukadrezzars, des Königs von Babel –] ​ zum ganzen Volk von Juda und zu [allen] Bewohnern Jerusalems redete: 3  a1  Vom / Im dreizehnten Jahr Joschijas, des Sohnes Amons, des Königs von b  – [nun schona] dreiundzwanzig Jahre lang – ​ Juda, und bis zum heutigen Tag ​ a2  [ist das Wort Jhwhs an mich ergangen,] ​ c  und ich habe unermüdlichb zu d  [doch ihr habt nicht gehört.] ​ 4  a  Beständig sandte Jhwh euch geredet, ​ [alle] seine Knechte, die Propheten, unermüdlich zu euch (AlT: Beständig sandte b  – aber ihr habt nicht ich meine Knechte, die Propheten, unermüdlich zu euch) ​ c  und euer Ohr nicht geneigt, [um zu hören] –, ​ 5  a  mit den Worten: ​ gehört ​ b  Kehrt doch um, jeder von seinem bösen Weg und der Bosheit eurer Taten, ​ c  damita ihr auf dem Ackerboden wohnen bleiben dürft, ​ d  den Jhwh euch und euren Vätern seit jeher und für immer gegeben hat. (AlT: den ich euch und 6  a  Lauft nicht anderen euren Vätern seit jeher und für immer gegeben habe.) ​ b  und Göttern nach, um ihnen zu dienen und euch vor ihnen niederzuwerfen, ​ c  damit ich euch nichts Böses beleidigt mich nicht durch das Werk eurer Hände, ​ 7  Aber ihr habt nicht auf antun muss! (AlT: sodass ihr euch selber Böses antut!) ​ mich gehört [– Spruch Jhwhs  –, um mich zu beleidigen durch das Werk eurer Hände, zu eurem eigenen Schaden]. b  Weil ihr meinen Worten 8  a  Darum: So spricht Jhwh [der Heerscharen]: ​ 9  a1  siehe, ich sende hin ​ b  und hole alle nicht gehorcht / geglaubt habt – ​ Sippen des Nordens (AlT: die Sippe aus dem Norden) herbei [– Spruch Jhwhs –], ​ a2  [und zu Nebukadrezzar, dem König von Babel, meinem Knecht]. ​ c  Ich lasse sie über dieses Land und seine Bewohner kommen und über alle [diese] Nationen ringsum. ​ d  Ich werde an ihnen den Bann vollziehen ​ e  und mache sie zu einem Bild des Entsetzens, zum (Ort abwehrenden) Pfeifens und zur Einöde / 10  Ich werde aus ihnen ausmerzen Schmach für immer. ​ Jubelruf und Freudenruf, den Ruf des Bräutigams und der Braut, das Geräusch der Handmühle und das Licht der Lampe. 11  a  [Dieses] ganze Land wird [zur Trümmerstätte,] zu einem Bild des Entsetzens werden, ​ b  und siebzig Jahre lang werden diese Nationen dem König von Babel dienen. (AlT: und siebzig Jahre lang werden sie untera den Nationen 37

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Der Feind aus dem Norden

dienen.) ​ 12  a  Und [es wird geschehen:] ​ b  Wenn siebzig Jahre vorübera sind, werde ich [den König von Babel und] jene Nation heimsuchen [– Spruch Jhwhs –, c  und ich werde sieb zu einer Ödnis ihre Schuld, und das Land der Chaldäer], ​ 13  a1  Ich lasse über jenes Land alle meine Worte kommen, ​ für immer machen. ​ b  die ich über es geredet habe, ​ a2  alles, was in diesem Buch geschrieben steht; ​ c  was Jeremia über [alle] Nationen prophezeit hat. ​ 14  a  [Denn viele Nationen b  [Ich werde ihnenb nach und große Könige werdena sieb ihrerseitsc knechten.] ​ b b ihrem Tun und nach dem Werk ihrer Hände vergelten.] 3 a Zu dieser Bedeutung von hz< s. Ges18 295a s. v. hz< 3b. b Der Inf. abs. ~yKev.a; ist ein Aramaismus: BL § 46g'. 5 a Imperativ nach Aufforderung als Äquivalent eines Finalsatzes: JM § 116 f. 11 a Für diese Deutung von AlT s. TK. 12 a Wörtl. voll. b D. h. die Nation; im Hebr. Atao mit enklitischem Personalpronomen im maskulinen Singular, bezogen auf yAG Nation 12b. 14 a Lies Wdb.[;y: (Haplographie des y aufgrund des vorausgehenden yKi). b D. h. die Babylonier (12b). c hM'he-~G: betont das enklitische Personalpronomen in ~b'; vgl. 1 Sam 19,23.

Alexandrinische Fassung: Hochgestellte Anführungsstriche bezeichnen qualitative Abweichungen in AlT. b  das an Jeremia über das ganze Volk von Juda erging im vier1  a  Das Wort, ​ ten Jahr Jojakims, des Sohnes Joschijas, des Königs von Juda, [ ] ​ 2  das [ ] er zum ganzen Volk von Juda und zu [ ] den Bewohnern Jerusalems redete: 3  Im dreizehnten Jahr Joschijas, des Sohnes des Amos, des Königs von Juda, und bis zu diesem Tag  – [ ] dreiundzwanzig Jahre lang  – [ ] habe ich unermüdlich zu euch geredet. [ ] ​ 4  a  Beständig sandte ich [ ] meine Knechte, b  – aber ihr habt nicht gehört ​ c  und die Propheten, unermüdlich zu euch ​ 5  a  mit den Worten: ​ b  Kehrt doch um, jeder von euer Ohr nicht geneigt [ ] –, ​ c  damit ihr auf dem Ackerseinem bösen Weg und von der Bosheit eurer Taten, ​ boden wohnen bleiben dürft, ​ d  den ich euch und euren Vätern seit jeher und für immer gegeben habe. ​ 6  a  Lauft nicht anderen Göttern nach, um ihnen zu dienen und euch vor ihnen niederzuwerfen, ​ b  damit ihr mich nicht durch das 7  Aber Werk eurer Hände beleidigt, ​c  sodass ihr euch selber Böses antut! ​ ihr habt nicht auf mich gehört [ ]. b  Weil ihr meinen Worten nicht geglaubt 8  a  Darum: So spricht Jhwh [ ]: ​ 9  a1  siehe, ich sende hin ​ b  und hole die Sippe aus dem Norden habt  – ​ c  Ich lasse sie über dieses Land und über seine Bewohner kommen herbei [ ]. ​ d  Ich werde an ihnen den Bann vollziehen ​ und über alle [ ] Nationen ringsum. ​ e  und mache sie zu einem Bild des Entsetzens, zum (Ort abwehrenden) Pfeifens 10  Ich werde aus ihnen ausmerzen und zur Schmach für immer. ​ Jubelruf und Freudenruf, den Ruf des Bräutigams und der Braut, das Geräusch der Handmühle und das Licht der Lampe.

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Der Feind aus dem Norden

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11  a  Das [ ] ganze Land (/Die ganze Welt) wird [ ] zu einem Bild des Entsetzens werden, ​ b  und siebzig Jahre lang werden sie unter den Nationen dienen. ​ 12  ab ​ Und [ ] wenn siebzig Jahre vorüber sind, werde ich [ ] jene Nation c  und sie zu einer Ödnis für immer machen. ​ 13  a1  Ich lasse heimsuchen [ ] ​ über jenes Land alle meine Worte kommen, ​b  die ich über es geredet habe, ​ a2  alles, was in diesem Buch geschrieben steht. 14  Was Jeremia über die [ ] Nationen prophezeit hat: Literatur: A. Aejmelaeus, Jeremiah at the Turning-Point of History. The Function of Jer. XXV 1–14 in the Book of Jeremiah, VT 52 (2002) 459–482. P. M.  Bogaert, La datation par souscription dans les rédactions courte (LXX) et longe (TM) du livre de Jérémie, in: J. Joosten, Ph. Le Moigne (Hg.), L’apport de la Septante aux études sur l’antiquité, Paris 2005, 137–159. R. P.  Carroll, Halfway through a Dark Wood. Reflections on Jeremiah 25, in: A. R. P. Diamond (u. a., Hg.), Troubling Jeremiah, 73–86. R. de Hoop, Perspective after the Exile: The King, ‫עבדי‬, ‚My Servant‘ in Jeremiah – Some Reflections on MT and LXX, in: B. Becking (Hg.), Exile and Suffering (OTS 50), Leiden 2009, 105–121. J. Erzberger, Nebuchadnezzar, Judah, and the Nations: Shifting Frames of Reference in Jer 25, in: M. Meiser (u. a., Hg.), Die Septuaginta – Geschichte, Wirkung, Relevanz (WUNT 405), Tübingen 2018, 685–700. S. Gesundheit, The Question of LXX Jeremiah as a Tool for Literary-Critical Analysis, VT 62 (2012) 29–57. Goldman, Prophétie et royauté. B. Gosse, Nabuchodonosor et les évolutions de la rédaction du livre de Jérémie, SE 47 (1995) 177–187. M. A.  Halvorson-Taylor, Enduring Exile. The Metaphorization of Exile in the Hebrew Bible (VT.S 141), Leiden 2011. Hill, Friend or Foe. J. Hill, The Construction of Time in Jeremiah 25, in: A. R. P. Diamond (u. a., Hg.), Troubling Jeremiah, 146–160. E. K.  Holt, King Nebuchadrezzar of Babylon, My Servant, and the Cup of Wrath. Jeremiah’s Fantasies and the Hope of Violence, in: A. R. P. Diamond, L. Stulman (Hg.), Jeremiah (Dis) Placed, 209–218. L. Jonker, The Chronicler and the Prophets: Who Were His Authoritative Sources? (2008), in: E. Ben Zvi, D. V. Edelman (Hg.), What Was Authoritative for Chronicles? Winona Lake 2011, 145–164. M. Kessler, Jeremiah 25,1–29: Text and Context. A Synchronic Study, ZAW 109 (1997) 44–70. M. Kessler, The Function of Chapters 25 and 50–51 in the Book of Jeremiah, in: A. R. P. Diamond (u. a., Hg.), Troubling Jeremiah, 64–72. C. Levin, Noch einmal: Die Anfänge des Propheten Jeremia (1981), in: ders., Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum Alten Testament (BZAW 316), Berlin 2003, 217–226. P. Rota Scalabrini, La parola profetica a futura memoria. Ger 25,13 e la teologia del Libro, in: M. Crimella (u. a., Hg.), Extra ironiam nulla salus (FS R. Vignolo; Biblica 8), Milano 2016, 243–261. A. Schenker, Nebukadnezzars Metamorphose vom Unterjocher zum Gottesknecht. Das Bild Nebukadnezzars und einige mit ihm zusammenhängende Unterschiede in den beiden Jeremia-Rezensionen (1982), in: ders., Text und Sinn im Alten Testament. Textgeschichtliche und bibeltheologische Studien (OBO 103), Freiburg Schweiz 1991, 136–165. E. Silver, Framing the Oracle of a Seventy-Year Servitude. Early Contestation of the Jeremian Legacy in the Vorlage of the LXX of Jeremiah 25:1–7, CBQ 78 (2016) 648–665. K. A. D.  Smelik, My Servant Nebuchadnezzar, VT 64 (2014) 109–134. H.-J. Stipp, Jer 25,1–14 im masoretischen und im alexandrinischen Text des Jeremiabuchs. Ein Gespräch mit Shimon Gesundheit, erscheint in: VT 69 (2019). Thiel, Dtr Redaktion I 262–275. D. S. Vanderhooft, „Nebuchadnezzar, King of Babylon, My Servant“: Contrasting Prophetic Images of the Great King, HeBAI 7 (2018) 93–111. R. D.  Weis, A Conflicted Book for a Marginal People: Thematic Oppositions in MT Jeremiah, in: W. Kim (u. a., Hg.), Reading the Hebrew Bible for a New Millennium. Form, Concept, and Theological Perspective. Vol. 2: Exegetical and Theological Studies, Harrisburg 2000, 297–309.

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Dieser Kommentar zieht die Grenze zwischen den beiden Bänden vor Kap. 25, eine Entscheidung, die sich an den Makrostrukturen des masoretischen und des alexandrinischen Jeremiabuchs orientiert, in denen Jer 25 MT bzw. 25,1–13a2 AlT jeweils zentrale strukturbildende Rollen spielen. Wie die Skizze der Buchgenese in der Einleitung darlegt, hat das Werk erstmals mit der Entstehung des „judäischen“ Jeremiabuchs im Umfang der Kap. *1–25,13a2 Gestalt angenommen. Weitere wichtige Wachstumsschritte waren die Ankoppelung der Fremdvölkerorakel nach 25,13a2, im Einklang mit der textgeschichtlichen Priorität des alexandrinischen Bucharrangements, und die Schaffung des „babylonischen“ Jeremiabuchs durch den Nachtrag der Kap. *26–44. Wie nun die Auslegung näher zu begründen hat, geht 25,1–13/14 auf ein deuteronomistisches Gerichtswort zurück, das ursprünglich das Finale des judäischen Jeremiabuchs bildete, mit dem es zwei prägende Signaturen teilte: das Babelschweigen und das Fehlen von Datierungen, vom Buchpräskript 1,1–3 abgesehen. Der Schuldaufweis Vv. *4–7/8 konzentrierte sich auf den Hauptvorwurf der jeremianischen Deuteronomisten an die Adresse der Judäer: Ungehorsam gegenüber den beständigen prophetischen Umkehrrufen, vom Fremdgötterdienst abzulassen; dazu sprach das folgende Drohwort Vv. *9–13a2 den Judäern endgültig das Urteil, indem es die Prophezeiung der Ankunft des anonymen Feindes aus dem Norden erneuerte (9b) und so einen Inklusionsbezug zum Beginn des Werkes stiftete (vgl. 1,13–16). Bei oder nach der Vereinigung mit den beiden anderen makrostrukturellen Komponenten erfuhr der Schlussstein des judäischen Jeremiabuchs mehrere Erweiterungen. Sie brachten die Fassung 25,1–13a2 AlT hervor, die das Stück mit den neuen Buch­ teilen verzahnte, sodass es sich aus einem abschließenden Summarium von Jhwhs Botschaft an die vorexilischen Judäer in ein Bindeglied verwandelte, das den Konnex zu den folgenden Buchteilen herstellt. Dazu trugen folgende Fortschreibungen bei: (1) Der Einschub der Vv. 11–12 begrenzte die Gültigkeit der Strafansage auf siebzig Jahre, nach deren Ablauf die Babylonier  – hier weiterhin anonym als jene Nation apostrophiert (12b AlT)  – ihrerseits dem Untergang anheimfallen sollten. Wie die Fortdauer des Babelschweigens, die deutliche Überschätzung der Länge des Exils (11b.12b) und die unerfüllte Prophezeiung der bleibenden Verheerung Babylons (12c) anzeigen, griff dieser Redaktor ein, noch bevor die Perser in den späten 540er Jahren zu einer ernsten Gefahr für das babylonische Reich aufstiegen (s. die Einleitung zu Kap. 50 f.). (2) Der Nachtrag der Wortgruppe und alle Nationen ringsum 9c AlT erweiterte den Kreis der Opfer auf Judas Nachbarn und baute so das Gerichtswort zu einer Überleitung zu den anschließenden Fremdvölkersprüchen JerAlT 25,14–32,24 aus. (3) In einem separaten Schritt wurden mit den Vv. 1b*–3 die Datumsangaben ergänzt. In Kombination mit den ehemaligen Schlussworten 13a2 alles, was in diesem Buch geschrieben steht identifizierte der Einschub den Inhalt des Werkes ausdrücklich mit der laut 36/43,1–2 im vierten Regierungsjahr Jojakims niedergeschriebenen „Urrolle“ (s. zu Kap. 36) und verklammerte so im alexandrinischen Arrangement den ersten Buchteil mit dem dritten, von Erzählstoffen dominierten Großsegment (Kap. 33–51 AlT || 26–45 MT). Der Nachtrag setzt mit Jer 36 die frühnachexilische patrizische Redaktion voraus (s. Einleitung), geht aber kaum auf deren Schöpfer zurück (s. zu V. 1–2). 40

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Weil bei der Umstellung auf das masoretische Bucharrangement die erweiterte Becherperikope JerAlT 32  || JerMT 25,15–38 nicht mit den übrigen Fremdvölkerorakeln zum Buchende wanderte (vor Kap. 52), schließt sie nun per einfacher Zitatformel 15a (s. z. St.) an 25,14 MT an. Deshalb ist sie in MT mit dem Gerichtswort zu einer neuen Komposition verknüpft, die die Vernetzung der Buchteile erheblich verdichtet und systematisiert, indem auf das deuteronomistische Summarium der Anklagen des ersten Buchteils (Vv. 4–8) die doppelt entfaltete Agenda für die makrostrukturellen Komponenten 2 (Kap. 26–45) und 3 (Kap. 46–51) des masoretischen Buchaufbaus folgt. Dazu trugen auch prämasoretische Glossen bei, die in den Vv. 11– 12, 14 und 26c die Straffälligkeit der Babylonier betonten. Infolgedessen umreißen das expandierte Drohwort in den Vv. 9–14 MT und das Becherorakel Vv. 15–26 MT zweifach mit unterschiedlichen Akzenten das Programm des dreiphasigen göttlichen Gerichts, das das masoretische Jeremiabuch prägt: Zunächst bereiten die Drohungen in den Vv. 9–13 und 18 das Gericht über Juda vor, das – begleitet von weiteren Unheilsansagen – in den Kap. 26–45 geschildert wird. Dann verweisen die Worte über alle [diese] Nationen ringsum 9c MT sowie die Völkerliste in den Vv. 19–26b voraus auf die Kap. 46–49, wo die Reihenfolge der Völkerorakel in MT zudem stark ihren Korrespondenzgliedern in der Becherperikope angenähert ist. Schließlich sagen die Vv. 12–14 und 26c MT dem Gerichtswerkzeug selbst – also den Babyloniern – das Ende an, wie in den Kap. 50–51 breit entfaltet. Obwohl die ersten beiden Stufen weitgehend gleichzeitig verlaufen, werden sie unterschieden (V. 29). 11b setzt ihnen einen Schlusspunkt nach siebzig Jahren (vgl. 29,10) und markiert so den Umschlag zur dritten Stufe als epochale Wende. Wenn folglich Jer 25 MT die drei Phasen des Gerichts doppelt ankündigt, betont das Gerichtswort vor allem die Schwere der Verwüstung und den Untergang der Babylonier, während die Vv. 18–26 eine detaillierte Liste der betroffenen Völker beisteuern (s. z. St.). 25,1–13 übt also schon im alexandrinischen Jeremiabuch eine Brückenfunktion aus, die im masoretischen Kap. 25 zu einer systematischen Vorstrukturierung der nachfolgenden Buchteile ausgebaut ist. Dagegen ist Jer 24 als Korrektur von 23,7–8 und weiterer Texte nach oben hin orientiert (s. die Einleitung und z. St.). Diese Befunde hindern daran, Kap. 25 einem der makrostrukturellen Bausteine zuzurechnen. Vielmehr dient es als Scharniertext, der den Übergang vom ersten Buchteil zum gesamten Rest vollzieht, indem er die Quintessenz von Teil 1 zusammenfasst und das Publikum auf die Teile 2 und 3 einstimmt, indem er diesen ihre Agenda voranschickt. Den genannten Struktursignalen trägt die hier entworfene Exegese Rechnung, indem sie die maßgebliche Zäsur vor Jer 25 lokalisiert.

Textgenese und Gliederung Jer 25,1–14 gehört zu den wenigen Einheiten des Buches, in denen sich die masoretische Edition nicht nur – wie insbesondere für Prosastücke typisch – durch zahlreiche Überschüsse, sondern auch durch signifikante qualitative Unterschiede von der alexandrinischen Ausgabe abhebt (also durch abweichenden Wortlaut bei ungefähr gleicher Textmenge). Die qualitativen Divergenzen konzentrieren sich in den Vv. 4–6. 41

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Keine Version ist spannungsfrei, doch die masoretische Fassung weist einen deutlich höheren Grad an Kohärenzstörungen auf als ihr alexandrinisches Gegenstück. Daraus wurde bisweilen geschlossen, AlT sei ein geglättetes Derivat von MT, doch ist im Folgenden zu zeigen, dass MT auch hier einen fortgeschrittenen Entwicklungsstand verkörpert, erwachsen aus dem missglückten Versuch, eine Diskrepanz zu beheben, die in AlT unvermindert bewahrt geblieben und ihrerseits aus einer früheren Fortschreibung hervorgegangen ist. Die Indizienlage ist besonders komplex und verlangt die Beachtung zahlreicher Details. Zugleich enthalten die Befunde in 25,1–14 bedeutsame Implikationen für unser Bild vom Werden des Buches insgesamt. Um den Nachvollzug der Argumentation zu erleichtern, ist oben auch die ältere alexandrinische Ausgabe der Einheit in Übersetzung wiedergegeben. 1. Es hat Vorteile, die Frage nach der Textentwicklung bei einem durchgängigen Unterschied zwischen den beiden antiken Editionen von 25,1–14 zu beginnen: AlT befolgt das Babelschweigen, das in den Kap. 1–19 beide Fassungen kennzeichnet, während MT die Babylonier und ihren König in mehreren Überschüssen beim Namen nennt (1c.9a2.11b.12b). Starke Indizien stützen das Urteil, dass es sich dabei um späte Zutaten handelt: Die Überhänge enthalten wiederholt Ausdrucksweisen aus dem Repertoire des prämasoretischen Idiolekts (9a2.11b.12b; TK). Zwei der betroffenen Passagen sind syntaktisch mangelhaft in ihre Umgebungen integriert: Der Satzteil 9a2 führt über 9b hinweg 9a1 weiter und verwandelt so 9b in eine Parenthese, um danach regelwidrig syndetisch (mit w und) fortzufahren. In 12c ignoriert das maskuline singularische Personalpronomen in Atao den vorausgehenden masoretischen Überhang in 12b und verweist stattdessen auf aWhh; yAGh; jene Nation in demjenigen Bestand, der auch von AlT bezeugt wird. Innerhalb des Überschusses verdoppelt ~yDIf.K; #r, denn der Übersetzer nutzte das griechische Imperfekt regelmäßig zur Wiedergabe präteritaler oder präterital interpretierter w˙=qatal‑ und yiqtul-Formationen; vgl. z. B. 2,15a.25f; 5,7 f.8b.26d u. v. a. 6  Vgl. mit Partizip bei (u. a.) präsentischer Zeitdeixis 26,5.

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Wechsel des Verbalaspekts erzeugt in AlT eine weitere Diskrepanz, weil die Präsenz der Propheten die erfahrbare Seite des beständigen Redens Jhwhs ausmacht, das in V. 3 AlT wie in den Parallelstellen als perfektiver Sachverhalt geschildert wird, hier mit Narrativ.7 Daher ist der Gegensatz zwischen den Vv. 3 und 4 in AlT nochmals stärker ausgeprägt als in MT. 6. Das Gerichtswort ist laut seinem Vorspann für das ganze Volk von Juda und [alle] Bewohner Jerusalems bestimmt (Vv. 1b.2; vgl. auch zu euch 3c.4a) und klagt folgerichtig in seinem Schuldaufweis Vv. 3–7/8 nur die Judäer an. Dagegen soll das angekündigte Unheil nach den Vv. 9–10 zwar über dieses Land und seine Bewohner, also über Juda hereinbrechen, aber zusätzlich auch alle diese Nationen ringsum (MT) bzw. alle Nationen ringsum (AlT) in Mitleidenschaft ziehen (9c). Überdies erhebt das Scheltwort einzig den Vorwurf des Götzendienstes, der, an Fremdvölker gerichtet, in dtr Rahmen höchst auffällig wäre (vgl. Dtn 4,19–20). Der Einschluss der Nachbarvölker in die Strafansage ist durch die Begründung nicht gedeckt, was die Frage aufwirft, ob dieser Zug originär in der Einheit verankert ist. In V. 11 schreiben die beiden Textformen diese Sicht auf unterschiedliche Weisen fort. Nach MT 11a soll taZOh; #r du aber) den Redebefehl, obwohl sich die Kommunikationssituation nicht geändert hat. Ferner ist das aufgetragene Prophetenwort nunmehr poetisch, und an die Stelle der Ich-Rede Jhwhs (27h.29ba2e) tritt die durchgängige Rede über ihn in 3. Person. Weiterhin erhält der Konflikt Jhwhs mit den Völkern eine neue Stoßrichtung: Sein Vorgehen wird jetzt explizit als Gericht ausgewiesen (jpv‑N 31c) mit dem Ziel, die Frevler dem Schwert auszuliefern (31d). Daher lässt die Botenformel 32a zunächst eine Gerichtsrede zur Verurteilung der Frevler erwarten, doch folgt stattdessen eine Unheilsansage über die Hirten (34a.35.36a), deren Einleitung den Hergang gegenläufig zum Vortext ausmalt: Dringt Jhwhs Donnerstimme dort vom Zentrum in die Peripherie, nämlich aus [der Wohnung] seines Heiligtums (30d) bis ans Ende der Erde (31a), bricht die Katastrophe hier umgekehrt von den Rändern her herein: Ein gewaltiger Sturm wird entfesselt von den Grenzen der Erde (32c). Folglich hat in den Vv. 30–31 ein neuerlicher Zusatz die Darreichung des Bechers zum weltweiten Scheidungsgericht gegen die Frevler umgedeutet, und die Vv. 32–38 bilden eine dritte größere Fortschreibung, die ihrerseits nochmals um den formelhaften, prosaischen Einschub V. 33 vermehrt wurde. In der prämasoretischen Phase traten neben den Floskeln, wie sie diese Schicht kennzeichnen, einige formelhafte Einsprengsel hinzu, insbesondere in V. 18.33bc.38b. In 16b wich der ältere Wortlaut sie werden sich erbrechen (vgl. 27e) der offenbar von einem Tradenten bevorzugten, idiolektalen Formulierung sie werden torkeln (TK). Die Völkerliste Vv. 19–26 wurde in einer Weise angefüllt, die jeweils z. St. zu erläutern ist. Da von buchstrukturierendem Rang, sei bereits hier die Anfügung an ihrem Ende in 26c hervorgehoben, wo Babel unter dem Atbasch-Kryptoskript (s. z. St.) Scheschach ergänzt wurde. Solche verschlüsselten Schreibweisen kommen nur in masoretischen Überschüssen vor, gehören also ebenfalls dem prämasoretischen Idiolekt an (TK), was ihre sekundäre Natur bestätigt; außerdem nimmt 26c den Wechsel zur Gottesrede in V. 27 vorweg, aber desgleichen ohne sie einzuleiten. Der Einschub steigerte die Übereinstimmung mit dem masoretischen Aufbau der Fremdvölkerorakel in Kap. 46–51, indem er die schon durch alle Könige des Nordens (26a) gegebene Kor66

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respondenz zu den Babylonsprüchen in Kap. 50–51 unterstrich. – In 34d liegt eine offenbar fehlerhafte Glosse vor, die wohl ich werde euch zerschmettern lauten sollte. Wenn korrekt rekonstruiert, widerspricht die Ich-Rede Jhwhs dem Charakter des Kontextes als Prophetenwort, das über Jhwh spricht (33a.36b.38a). Der Zusatz wurde wahrscheinlich angebracht, nachdem in MT 34e die erlesenen Widder in erlesenes Gefäß bzw. Prunkgefäß verschrieben worden waren (TK). Folglich begann das Wachstum der Becherperikope mit einem authentischen Kern, dem die Vv. 15–17.19–25 entstammen (unter Abzug von 15a?). Er wurde sukzessiv um drei Redeaufträge verlängert: Vv. 27–29 (wohl samt der im Vortext ergänzten Vv. 18 und 26ab); Vv. 30–31 und *32–38, die nochmals um V. 33 vermehrt wurden. In der masoretischen Texttradition traten noch kleinere Einschübe hinzu. Der literarische Werdegang prägt auch die Struktur des Endtextes: Dem Handlungsbefehl an den Propheten nebst Ausführungsbericht (Vv. 15–26) sind drei Redeaufträge angeschlossen (Vv. 27–29.30–31.32–38).

Erklärung Im masoretischen und im alexandrinischen Buchaufbau schließt die Becherperikope 15–16 ohne Verumständung an den jeweiligen Vortext an. Folglich müsste der einleitende Befehl laut MT im 4. Regierungsjahr Jojakims ergangen sein, gleichbedeutend mit dem 1. Regierungsjahr Nebukadnezzars, also im Jahr der Schlacht von Karkemisch (605), in dem die dort vorangehende Gerichtsrede 25,1–14 verortet wird (V. 1). Die gleiche Datierung lässt sich auch aus AlT herauslesen, insofern sie dort für die Mehrzahl der Fremdvölkerorakel gilt, die laut 25,1 in Verbindung mit 25,9–13 (vgl. 46/26,2) überwiegend – d. h. zumindest mit Ausnahme des Elamorakels (vgl. 49,34/26,1) – im selben Jahr geoffenbart wurden. In den vorliegenden Fassungen erfolgt der Auftakt durch eine von der prophetischen Botenformel abgeleitete Zitatformel (15a ≙ AlT 32,1a). Die prämasoretische Beigabe von zu mir nahm die Merkmale des Selbstberichts aus V. 17 vorweg und unterstrich die narrative Natur des Satzes; außerdem schuf die Vorschaltung von yKi denn; jawohl eine lockere Anknüpfung an den Vortext. Die so eröffnete Gottesrede beauftragt Jeremia, aus der Hand Jhwhs einen Becher mit Wein entgegenzunehmen und einem Kreis von Völkern zu trinken zu geben, der einstweilen durch den Relativsatz zu denen ich dich sende präzisiert wird (15b–d). Die Angabe zum Inhalt des Bechers voll Wein (15b) wird durch die Apposition (genauer:) voll Zorn erläutert. Die ungelenke Konstruktion ist wohl das Ergebnis einer alten Glosse, die die Charakterisierung des Gefäßes dem Bild vom „Zorn-“ bzw. „Giftbecher“ (vgl. Hab 2,15) und speziell dem Zornbecher Jhwhs anglich, wie exemplarisch von Jes 51,17 repräsentiert (vgl. auch 51,22). Bei den Empfängern soll der Trank die üblichen Folgen exzessiven Alkoholgenusses hervorrufen: geminderte Bewegungskontrolle und Bewusstseinstrübung (16bc). Der Befehl an Jeremia greift ein verbreitetes Motiv auf, das Jhwh zeigt, wie er Menschen einen Becher reicht. Dieser Kelch kann eine Heilsgabe im Rahmen einer metaphorisch als Gastmahl imaginierten Heilszuwendung verkörpern (Ps 23,5), oder Jhwh selbst kann in seiner Eigenschaft 67

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als dem, der das Schicksal des Beters bestimmt, bildhaft als mein Becher angeredet werden (Ps 16,5). Aber zumeist vergegenwärtigt das Gefäß ein Gerichtshandeln, und zwar dann auffälligerweise immer an Kollektiven – offenbar bedingt durch die Vorstellung der Tafelrunde  –, wobei das Trinken aus dem Becher in der Regel selbst schon das Gericht darstellt.9 Selbst wenn der Inhalt des Bechers nicht genannt wird, werden die Folgen regelmäßig in drastischen Bildern der toxischen Effekte von Alkohol beschrieben, wie es auch hier der Fall ist: Der Trank führt Rauschzustände herbei (27d; 51,7b; Ez 23,33; Klgl 4,21), er verursacht Anfälle von Wahnsinn (16c; 51,7d), er löst Erbrechen (16b AlT; 27e; 48,26), Taumel (16b; Jes 51,17.22; Hab 2,16 [korr.]; Sach 12,2; Ps 60,5), Stürze (27fg) und Ohnmacht (Jes 51,20) bis hin zum Tod (Jes 51,39.57) aus; er verleitet zu törichtem und selbstschädigendem Gebaren (Ez 23,34) wie Entkleidung (Hab 2,15; Klgl 4,21); deshalb gibt er das Opfer der Lächerlichkeit preis (Ez 23,32). Die Vorstellung, dass Jhwh Menschen betrunken macht, kann auch ohne Erwähnung eines Gefäßes auftreten.10 Man hat versucht, die Wurzel des Motivs in einem ursprünglichen Sitz im Leben zu finden, und entdeckte ihn beispielsweise in Erwartungen eines eschatologischen Festmahls mit der Gottheit, mutmaßlichen babylonischen Vorstellungen vom Lebens‑ und Todesbecher, dem – in Israel freilich unbekannten  – Giftbecher als Instrument der Todesstrafe, dem Becherorakel (vgl. Gen 44,4–5), dem Ordalwesen (Gottesurteile zur Wahrheitsfindung in der Rechtspflege; vgl. Num 5,11–31), dem Motiv vom heimtückischen Gastgeber (Jer 8,14; 9,14; 23,15) und anderem. Doch nichts davon hält der Überprüfung stand.11 Zwar findet man Becher vielfach in altorientalischen Texten und Bildern, zumal solchen mythologischer Art, was indes nicht überrascht, da das Trinken zur Nahrungsaufnahme gehört und Becher zum elementaren Hausrat zählen; außerdem sind Mähler und Gelage ein bevorzugter Gegenstand von Mythos und Epik. Trotzdem fehlen bislang überzeugende außerisraelitische Parallelen zu der Vorstellung von einem Gott, der vorsätzlich betrunken macht. Sie scheint daher in Israel geprägt worden zu sein, und die Beiläufigkeit, mit der Ob 16 und Ps 60,5 darauf anspielen, belegt, wie vertraut sie gewesen ist. Zu ihrer Erklärung genügt der Verweis auf Alltagserlebnisse: Wie ein guter Schluck das Wohlbefinden heben kann und sich daher naturgemäß als Metapher für Heilserfahrungen anbietet (vgl. Ps 23,5; 116,13), so wohlbekannt ist der Kontrollverlust im Gefolge übermäßigen Alkoholkonsums. Dasselbe gilt für die Tatsache, dass Drogen sich hinterhältig nutzen lassen, um andere manipulierbar zu machen und sie zu erniedrigen, wie gespiegelt in Hab 2,15. Ein solcher Hintergrund ist im gegebenen Fall noch glaubhafter, sollte, wie Hab 2,15 nahelegt, das Substantiv hm'xe Zorn im Zusammenhang mit dem Bechermotiv, d. h. als Nomen rectum in einer Konstruktusverbindung mit einer Bezeichnung für ein Trinkgefäß (15b; Jes 51,17.22; Hab 2,15[korr.]), die Zweitbedeutung Gift im Sinne von Rauschmittel tragen12 und psychoaktive Zutaten meinen, die die toxischen Wirkungen des Weines erhöhen. Al9 Jes

51,17.22–23; Ez 23,32–35; Hab 2,16; Sach 12,2; Ps 60,5; 75,9; Klgl 4,21; vgl. Offb 14,10; 18,6. 13,13; 48,26; 51,39.57; Ps 60,5; vgl. Jer 49,13; Jes 63,6 (Text?); Nah 3,11. 11 Vgl. die fortschreitend aktualisierten kritischen Berichte bei Brongers; Seidl 4–14; H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (BK 11.14), Neukirchen-Vluyn 2010, 231–234. 12  Vgl. Dtn 32,24.33; Ps 58,5; 140,4; Ijob 6,4. 10 Jer

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lerdings lassen sich die übersteigerten Effekte des Alkoholgenusses auch allein durch ihre Projektion in die göttliche Sphäre erklären (Dubach 256). „Zentral am Bild des Bechers ist die Tatsache, dass aus ihm getrunken werden muss. Was sonst fröhliches Vergnügen ist, wird hier zum todernsten Zwang. Der Becher … wird zu einem Machtinstrument, wenn er Unterlegenen gereicht wird.“ (Dubach 257) Laut V. 15–16 will Jhwh den Propheten als Mitarbeiter nutzen, um die Völker durch Drogeneinfluss in einen Zustand der Wehrlosigkeit zu versetzen. Dabei wird das Bechermotiv in einer rationalisierten Variante gebraucht, insofern es nicht das Unheil zur Gänze repräsentiert, sondern den ersten Schritt vergegenwärtigt, der über das Delirium die Völker hilflos macht vor dem Schwert, das ich unter sie sende (16cd) und das die eigentliche Katastrophe vollstreckt (die beliebte Bewertung dieser Worte als Zusatz aus 27c–h ist nicht hinreichend gesichert). Der Anordnung Jhwhs folgt sogleich der Ausführungsbericht, nun schon vorma- 17 soretisch als Ich-Rede Jeremias. Der Bericht beschränkt sich auf die Erfüllung des Auftrags an den Propheten, also die Bechergabe (15b–d), und spart die angekündigten Effekte bei den Empfängern aus (V. 16). V. 18 eröffnet die Völkerliste, die bis 26b eine 18 ausgedehnte Folge von explizierenden Appositionen zu den in 17b genannten Nationen bildet. Die erstgenannten Größen Jerusalem und die Städte Judas weichen dabei durch die singuläre, formelhafte Entfaltung der zerstörerischen Absichten Jhwhs vom Rest der Liste ab, was anzeigt, dass V. 18 wahrscheinlich sekundär vorgeschaltet wurde. Sein deuterojeremianisch geprägter Verfasser interpretierte damit aus der Rückschau das Unheilsgeschick Judas als Auftakt eines universalen Plans Jhwhs mit der Völkerwelt. Wie die Hervorhebung der Könige und Patrizier verrät, hat ihn die besondere Verantwortung der führenden Schichten Judas nach wie vor bewegt. Zur Charakterisierung der Absichten Jhwhs nutzte er die Katastrophenformel,13 laut der sich das Land in eine schaudererregende Ödnis verwandeln sollte, sodass die Betrachter Pfeif‑ oder Zischlaute ausstießen als apotropäische Gesten, mit denen man sich gegen die den Trümmerstätten innewohnende, mythische Unheilsmacht feien wollte. Eine prämasoretische Hand fügte hinzu, dass Juda auch zum Fluch werden sollte. Das ist vor dem Hintergrund antiker Segens‑ und Fluchpraxis zu verstehen: Wie es bei Segenssprüchen üblich war, geläufige Beispiele eines heilvollen Lebens als Exempel des zugewünschten Wohlergehens anzuführen (Gen 48,20), so werde man umgekehrt in Flüchen auf die verheerten Städte Judas als Vorbilder des herabgerufenen Unheils verweisen. Ein illustratives Beispiel dafür findet sich in 29,22 (s. dort). Ferner sollte die Verwüstung bereits heute eingetreten sein, im Widerspruch zum älteren Vortext, der die Gottesrede auf einen Zeitpunkt vor der Katastrophe verlegt. Der Ergänzer nahm den Anachronismus in Kauf, um die Imagination des kriegszerstörten Juda anzuregen und den Lesern zu bedeuten, dass auch sie auf ihre Weise zum Kreis der Opfer zählten (vgl. Dtn 29,13–14). Die Völkerliste lässt in ihrer alexandrinischen Fassung nach Abzug von V. 18 eine 19–26 grobe Systematik erkennen: Sie durchläuft einen Bogen von Ägypten über die Levante und das westliche iranische Bergland bis nach Mesopotamien; bei bedeutenderen  Vgl. v. a. 18,16; 19,8; 24,9; 25,9.11; 29,18 MT; 42,18; 44,6.8.12.22; 49,13; 51,37 u. a. (Kon 158 f.).

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Der Zornbecher und die Völker

19 Staatsgebilden sprach Jeremia von Königen. Ägypten, wohl der ursprüngliche Beginn,

wird breiter bedacht: Neben dem Herrscher kommen auch die Führungskreise und das Volk zur Sprache. Das gesteigerte Gewicht dürfte sich aus der Sonderrolle des Landes erklären: Viele Judäer suchten am Nil den Retter vor der mesopotamischen Hegemonialmacht – Hoffnungen, die zu zerstreuen Jeremia sich beauftragt sah (s. zu 20 37,6–8). Wenn die Liste in V. 20 mit dem ganzen Völkergemisch fortfährt, wird dies entgegen der Versgliederung noch zur Ägyptenpassage gehören und die umfangreichen Kontingente an Söldnern und auswärtigen Arbeitskräften meinen, für die das Nilland in der Antike berühmt war (s. zu 46,9.16.21). Ein prämasoretischer Ergänzer hat hier alle Könige des Landes Uz eingeschoben und damit einen Sprung nach Nordwestarabien östlich des Golfes von Akaba vollzogen, wo die als Heimat Ijobs (Ijob 1,1) bekannte Gegend zu suchen ist. Den Anlass dürfte Klgl 4,21 geboten haben, ein Beleg des Bechermotivs (s. o.), wo den in Uz lokalisierten Edomitern angedroht wird, den Becher des Gerichts leeren zu müssen (vgl. zur Assoziation von Uz mit Edom auch die genealogischen Angaben in Gen 36,28 in Verbindung mit 36,20–21). Weil Edom ebenfalls von Jeremia den Becher empfängt (V. 21), wurde Uz hier nachgetragen, offenbar an verfrühter Stelle. Ursprünglich schritt die Liste von Ägypten voran zur südlevantinischen Küstenebene in den Siedlungsraum der Philister, aus deren Pentapolis vier Stadtstaaten namentlich auftreten. Der Ort Gat fehlt (ebenso Am 1,6–8; Zef 2,4; Sach 9,5–7), weil er infolge der Zerstörung durch Hasaël von Damaskus (2 Kön 12,18) um 800 seine Bedeutung verloren hatte. Die Rede vom Überrest von Aschdod spiegelt den Zustand der Stadt vor dem Philisterfeldzug Nebukadnezzars 604/3 21 (s. Textgenese). Vom Westen der südlichen Levante gleitet der Blick nach Osten zu Edom, Moab und Ammon, den Völkern östlich von Araba und Jordan, denen ent22 lang der Weg nach Norden verläuft. Dann wandert die Liste wieder zurück zur Küste und nennt mit Tyrus und Sidon die wichtigsten Zentren der Phönizier, gefolgt von einem Seitenblick auf ihre überseeischen Kolonien. Dass auch bei Tyrus und Sidon beide Male von Königen im Plural die Rede ist, unterstreicht den rein theoretischen Charakter der Szene. Eigenartigerweise fehlt ein Verweis auf die Aramäer mit ihrer Metropole Damaskus, das in den Fremdvölkersprüchen mit einem Drohwort bedacht wird (49,23–27). 23

Literatur: A. Hausleiter, Art. Tema (erstellt: Dez. 2007), WiBiLex (Internet). E. A.  Knauf, Art. Dedan (erstellt: Sept. 2015), WiBiLex (Internet).

Der nächste Schritt der Liste ist anscheinend als großer Ausgriff nach Osten zu verstehen, selbst um den Preis eines weiten Schwenks zurück ins tiefere Nordwestarabien (nördlicher Ḥiğāz), um Oasenstädte bzw. zugehörige Stämme dieser Gegend aufzuführen. Dedan entspricht dem heutigen al-Ulā im nordwestlichen Saudi-Arabien, Tema dem nord-nordöstlich davon gelegenen Taymā. Das von Jeremia in demselben Raum gesuchte Bus ist nicht identifiziert. Wie in 9,25 und 49,32 gilt das gestutzte 24 Schläfenhaar als kennzeichnende Haartracht der Bevölkerung jener Zone. Eine prämasoretische Hand hat in V. 24 noch alle Könige Arabiens hinzugesetzt, aber vielleicht aufgrund einer Dittographie, denn Arabien (br"[]) weist konsonantenschriftlich dieselben Grapheme auf wie das Wort für Völkergemisch (br ~x,N"YIw: Jhwh bereute … 19d), was der Prophet im Gewand eines Finalsatzes für den Fall der Umkehr verheißen hatte (… hw"hy> ~xeN"yIw> damit Jhwh 85

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bereut …). Überdies heben sie hervor, dass die Zeitgenossen Hiskijas unterließen, wovor Jeremia die Judäer gewarnt hatte: die Tötung des Propheten (twm‑H 15b.19a). Allerdings gießen sie das Thema der Umkehr in andere Worte als Jeremia (vgl. 19bc mit 13ab) und umgehen die Frage der Echtheit seines prophetischen Anspruchs. So ist das Plädoyer der Ältesten zwar anders als V. 16 mit beiden Versionen der Anklage verbindbar, doch ist die Antwort der Patrizier und des Volkes enger auf V. 11 bezogen als die Argumentation der Ältesten, die ihrerseits den Vorwurf V. 9 mit einem exakt entsprechenden Präzedenzfall entkräften. Dem entspricht die Adressierung ihrer Rede an die ganze Volksversammlung (17b), was an 9d anknüpft: Da versammelte sich das ganze Volk um Jeremia im Haus Jhwhs. Folglich ist das Plädoyer der Ältesten Vv. 17–19 auf die Anklage in der Fassung von V. 9 gemünzt, während die Patrizier und das ganze Volk in V. 16 den Vorwurf der Priester und Propheten in V. 11 zurückweisen. 6. Der Schluss V. 24 ist mangelhaft integriert. Nachdem die Erzählung mit V. 19 bereits den Tempelprozess Jeremias verlassen und sich der Urijaepisode (V. 20–23) zugewandt hatte, kehrt sie zu Jeremias Verfahren zurück, um ein Detail nachzutragen, das sein Überleben letztlich gesichert haben soll. Dabei wird mit Ahikam ben Schafan wieder eine neue Figur eingeführt, die einzige, die neben Jeremia unter den Prozessbeteiligten namentlich identifiziert wird. Die Notiz widerspricht den Vv. 10–16, reibt sich aber auch mit dem Plädoyer der Ältesten, insofern sie für eine weitere Figur das Verdienst seiner Bewahrung reklamiert, ohne das Verhältnis Ahikams zu den Ältesten zu klären. Außerdem retten den Propheten jetzt nicht mehr entlastende Argumente, sondern physische Protektion. Neben diesen Spannungen ist vielfach die deuterojeremianische Terminologie, die vor allem die Reden prägt (vgl. 2–5.8b.9a.13.19d–f.20a; Belege unten z. St.), als Indiz redaktioneller Aktivitäten gewertet worden. Zwar wird die Einheitlichkeit des Kapitels immer noch verteidigt (z. B. Lohfink, Deuteronomistische Bewegung 360 f.; Westbrook; Otto; Knobloch), doch dies verlangt, allzu massive Kohärenzstörungen herunterzuspielen. Wo mit Textwachstum gerechnet wird, herrscht Konsens, dass das Plädoyer der Ältesten nur holprig an V. 16 anschließt, weswegen vor V. 17 eine Schichtengrenze verlaufen muss. Auf dieser Grundlage ergeben sich zwei Alternativen: Entweder gehen die Vv. 17 ff. auf Fortschreibung zurück, oder die Vv. 10–16 wurden sekundär zwischen V. 9 und 17 eingeschoben. Diese Modelle wurden in verschiedenen Varianten mit Annahmen kombiniert, die die deuterojeremianischen Redepassagen auf Bearbeiter zurückführen. Nach dem oben referierten Beobachtungsstand ist in den Vv. 10–16 ein Nachtrag zu greifen, weil das Volk sich dort überraschend für Jeremias Verteidigung aufgeschlossen zeigt, während die Rede der Ältesten folgerichtig V. 9 weiterführt. Da jedoch in den Vv. 17–24 die Priester und Propheten nicht mehr auftreten, während sie in den Vv. 10–16 als Ankläger Jeremias eine Hauptrolle spielen, ist zu schließen, dass sie zwecks Integration von V. 10–16 vorweg ergänzt wurden, und zwar durch den Einbau von V. 7 sowie ihre zusätzliche Nennung in 8c. Die Abtrennung dieser Passagen behebt zusätzlich den Widerspruch zu dem Prophetenbild von V. 5. Ein separater Zusatz ist V. 24. Dagegen erscheint es nicht angezeigt, mit Thiel, Graupner, Hardmeier u. a. am Auftreten deuterojeremianischer Sprache redaktionelle Eingriffe 86

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abzulesen. Diese Stücke sind harmonisch in ihre Kontexte eingewoben. Die geprägten Wendungen sind wie üblich in thematisch geeigneten Reden konzentriert, namentlich in solchen Jhwhs und Jeremias, wo sie aufgrund ihres paränetischen Schwerpunkts zu erwarten sind; und ohnehin würde ihre konsequente Ausscheidung einen Torso hinterlassen. Das deuterojeremianische Vokabular erweist sich wie auch häufig sonst als integrierender Bestandteil umfangreicherer Schichten narrativen Charakters und ist für deren Horizontbestimmung nutzbar zu machen. So ergibt sich folgendes Bild der Entstehung von 26: Am Beginn standen die Vv. 1–6.8*–9.17–23, die, wie Sprachgebrauch und Tendenz (s. u.) belegen, im Zuge der Schaffung des babylonischen Jeremiabuchs von einem deuteronomistischen Autor verfasst wurden, der im Exil gewirkt hat, wie aus andernorts manifesten Merkmalen dieses Buchteils hervorgeht. Fraglich bleibt, ob innerhalb dieses Bestandes weitere Schichtung anzunehmen ist (C. Maier). Im nächsten Schritt wurde V. 24 angefügt, der noch keine Kenntnis davon verrät, wie in der dritten Stufe der Einbau von V. 7.8c*.10–16 die Rolle des Volkes neu bestimmte. Die Übereinstimmungen des letzteren Zusatzes mit dem Plädoyer der Ältesten (13cd || 19de; vgl. auch 15b mit 19a) gehen somit auf Nachahmung zurück. Die beiden Erweiterungen repräsentieren Schübe einer ebenfalls deuterojeremianisch geprägten Redaktionsschicht, die in frühnachexilischer Zeit die Interessen der Patrizier verfocht, indem sie schilderte, wie deren vorexilische Väter unter Führung prominenter Sippen wie der Schafaniden dem mittlerweile historisch bestätigten Propheten Jeremia beigestanden hatten. Damit tritt erstmals die patrizische Redaktion (PR) in Erscheinung, die dem zweiten Buchteil durch umfangreiche Zutaten ihren Stempel aufgeprägt hat. Weitere Glossierung wie in 5c ist nicht auszuschließen. Die Retuschen dauerten fort bis in die prämasoretische Phase, u. a. indem man die Patrizier von der Mitschuld am Tod Urijas entlastete (21b), eine späte Nachwirkung der PR. Die dtr Grundschicht 1–6.8*–9.17–23 ist in vier Abschnitte gegliedert: Der Prophetenauftrag an Jeremia bildet das erste Segment mit einer geschlossenen Szene (Vv. 1–6). In 8a eröffnet die Gliederungsformel K. yhiy>w: mit Infinitivus constructus den zweiten Abschnitt (Vv. 8–9) mit einer neuen Szene, die nach einem summarischen Rückblick auf die erfolgte Übermittlung der Botschaft sogleich zur Reaktion von Jeremias Publikum fortschreitet. 9d entwirft durch die Schilderung des Volksauflaufs eine weitere Szene, doch die Art, wie V. 17 die Figurengruppe der Ältesten des Landes einführt, lässt dort den Beginn des dritten Abschnitts suchen, der sich auf das Plädoyer zugunsten Jeremias beschränkt (Vv. 17–19). Diese Textteile gestalten das Geschehen nahezu ausschließlich als Abfolge von Reden. Der vierte Abschnitt (Vv. 20–23) ist demgegenüber als separate Episode mit anderen Akteuren und Schauplätzen sowie dem Verzicht auf Reden deutlich abgesetzt. Die Einschübe der PR verlängerten den ersten Abschnitt um einen Vers (V. 7), und mit V. 10–16 trat ein Abschnitt hinzu, konstituiert durch die Einführung der Patrizier zu Beginn, die neuartige Gruppierung der Parteien und die Geschlossenheit der Dialogszene. V. 24 steht als Nachbemerkung für sich. Weil sich die Schichten klar und in der Hauptsache blockweise voneinander abheben, erfolgt ihre Erklärung nachstehend getrennt. 87

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Erklärung 1 Die deuteronomistische Grundschicht 1–6.8*–9.17–23 beginnt in V. 1 mit einer da-

tierten Wortereignisformel, die keinen Empfänger nennt, als verstehe sich die Adressierung an Jeremia von selbst (vgl. sonst nur AlT 26,1 ≙ MT 49,34). Die kleine Anomalie belegt, dass das babylonische Jeremiabuch niemals für sich existierte, sondern als Fortschreibung des judäischen entstand. Weiterhin fällt infolgedessen der Name Jeremias zuerst in V. 8 und überhaupt nur noch ein weiteres Mal in V. 20 am Beginn der Urija-Episode, die sich einem anderen Protagonisten zuwendet. Darin tritt bereits eine prägende Eigenart des Kapitels zutage: Seine Schichten verarbeiten zwar einen Stoff aus dem Leben Jeremias, hegen aber keine biographischen Interessen, sondern verfolgen andersartige Beweisziele, die jeweils in der Gesamtauslegung zu erheben sind. Der Erzählauftakt verlegt das Geschehen in das Jahr der Thronbesteigung Jojakims (609). Die Verbindung tWkl.m.m; tyviarE (o. ä.), wörtlich Anfang der Königsherrschaft, hat im Akkadischen das synonyme Äquivalent rēš šarrūti und bezeichnet die Frist zwischen der Thronbesteigung und dem nächsten Neujahrsfest, bei dem die offizielle Krönung stattfand, also das Antrittsjahr bzw. Akzessionsjahr. V. 1 identifiziert das Gerichtsverfahren am Tempel als das früheste datierte Ereignis aus Jeremias Leben im babylonischen Jeremiabuch in seiner alexandrinischen Fassung (zu MT vgl. 27,1). Noch weiter zurück reichen nur Angaben im judäischen Jeremiabuch: die Berufung im 13. Regierungsjahr Joschijas (1,2; 25,3) sowie 3,6, wo die folgende Einheit allgemein in den Tagen Joschijas verankert wird. Wenn schon der Herrschaftsantritt Jojakims als geeigneter Moment für eine Gesamtreprise von Jeremias Prophetie (V. 2) gilt, ist daran ablesbar, dass die jeremianischen Deuteronomisten der Regentschaft Joschijas keinen Sonderstatus mehr zubilligten, wie es die Schöpfer des Deuteronomistischen Geschichtswerks getan hatten, als sie dem Reformerkönig bescheinigten, in Juda ideale kultische Verhältnisse hergestellt zu haben (2 Kön *22,1–23,30). Denn nach dem Erzählbeginn muss Jhwh schon zu Zeiten Joschijas Gründe gehabt haben, den Judäern eindringliche Warnrufe vortragen zu lassen. Diese Sicht wird durch V. 5 bestätigt und entspricht dem Umgang mit dem vielgerühmten Herrscher auf der deuterojeremianischen Ebene des Buches insgesamt: Jeremia wurde bereits unter Joschija zu einem Propheten berufen (1,2; 25,3; 36,2), dem vor allem die Umkehrpredigt oblag. Nirgends wird angedeutet, dass die Regierungsjahre des im DtrG zum Musterbeispiel idealer Umkehr erhobenen Davididen (2 Kön 22,2; 23,25) das regelmäßig angeprangerte Kontinuum aus Schuld und vergeblicher Prophetensendung unterbrochen hätten.1 Auf die joschijanische Reform verweist das Buch einzig durch Anspielungen (3,10; 7,22; 44,18; s. jeweils z. St.), wie überhaupt die Opferzentralisation im Gegensatz zum Alleinverehrungsanspruch Jhwhs kein Thema ist. Da die Reform mit ihren Anliegen den katastrophalen Untergang von Tempel, Staat und Königtum keineswegs verhindert hatte, war sie den jeremianischen Deuteronomisten zur schamvoll verschwiegenen Verlegenheit geworden.  Vgl. z. B. 7,13.25–26; 25,3–4; 32,33; 35,14–15; 44,4–5; MT 11,7; 29,19.

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Literatur: A. C.  Hagedorn, Canons and Curses. Some Observations on the „Canon-Formu- 2 la“ in Deuteronomy and its Afterlife, in: K. J. Dell, P. M. Joyce (Hg.), Biblical Interpretation and Method (FS J. Barton), Oxford 2013, 89–105. C. Koch, Art. Kanonformel (erstellt: März 2012), WiBiLex (Internet). B. M.  Levinson, „Du sollst nichts hinzufügen und nichts wegnehmen“ (Dtn 13,1): Rechtsreform und Hermeneutik in der Hebräischen Bibel, ZThK 103 (2006) 157– 183. B. M.  Levinson, Die neuassyrischen Ursprünge der Kanonformel in Deuteronomium 13,1, in: St. Beyerle (u. a., Hg.), Viele Wege zu dem Einen. Historische Bibelkritik – die Vitalität der Glaubensüberlieferung in der Moderne (BThSt 121), Neukirchen-Vluyn 2012, 23–59. N. Mastnjak, Deuteronomy and the Emergence of Textual Authority in Jeremiah (FAT 2.87), Tübingen 2016, 64–70. M. Oeming, „Du sollst nichts hinzufügen und nichts wegnehmen“ (Dtn 13,1). Altorientalische Ursprünge und biblische Funktionen der sogenannten Kanonformel (1992), in: ders., Verstehen und Glauben. Exegetische Bausteine zu einer Theologie des Alten Testaments (BBB 142), Berlin 2003, 121–137. E. Otto, Deuteronomium 1,1–4,43 (HThKAT), Freiburg 2012, 539–544. E. Otto, Deuteronomium 12–34. Erster Teilband: 12,1–23,15 (HThKAT), Freiburg 2016, 1234–1238. U. Rüterswörden, Die sogenannte Kanonformel in Dtn 13,1, in: U. Dahmen, J. Schnocks (Hg.), Juda und Jerusalem in der Seleukidenzeit. Herrschaft – Widerstand – Identität (FS H.-J. Fabry; BBB 159), Göttingen 2010, 19–29. J. Taschner, „Fügt nichts zu dem hinzu, was ich euch gebiete, und streicht nichts heraus!“ Die Kanonformel in Deuteronomium 4,2 als hermeneutischer Schlüssel der Tora, in: G. Steins, J. Taschner (Hg.), Kanonisierung – die Hebräische Bibel im Werden (BThSt 110), Neukirchen-Vluyn 2010, 46–63. A. Vonach, Die sogenannte „Kanon‑ oder Ptahotepformel“. Anmerkungen zu Tradition und Kontext einer markanten Wendung, PzB 6 (1997) 73–80.

Jeremias Auftritt am Tempel als Anlass seines Prozesses wird vor allem im Modus seiner Beauftragung durch Jhwh dargestellt (Vv. 2–6). Sie beginnt hier mit einer prophetischen Botenformel (2a), die im gegebenen Rahmen allerdings ihre Aufgabe gewandelt hat, weil sie kein im göttlichen Ich auszurichtendes Prophetenwort, sondern einstweilen bloß für Jeremia bestimmte Vorbemerkungen einleitet. Sie ist daher Erzähler‑ und noch keine Figurenrede (Jeremias bzw. Jhwhs); sie vollzieht keinen deklarativen (so spricht Jhwh), sondern einen repräsentativen bzw. berichtenden Sprechakt (so sprach Jhwh). Solche zur Zitatformel refunktionalisierten prophetischen Botenformeln sind jedoch in den deuterojeremianischen Stücken des Buches verbreitet (s. zu 25,15a, Textgenese), sodass 2a die durchgehende Prägung schon der Grundschicht durch diese Sprachtradition exemplifiziert. 2bc entspricht dann dem gattungstypischen Auftakt einer Prophetenbeauftragung mit Geh‑ und Redebefehl,2 wobei ersterer hier zu dem Geheiß abgewandelt ist, im Hof des Hauses Jhwhs Aufstellung zu nehmen (2b). Jeremia soll – wie mehrfach in deuterojeremianischen Texten  – seinen Auftritt an einem Ort absolvieren, der in einem Sachzusammenhang mit der jeweiligen Botschaft steht, damit die Kulisse den Ernst der Botschaft unterstreicht.3 Der Redebefehl 2c nennt den unter den Umständen weitestmöglichen Adressatenkreis: alle [Städte] Judas,4 näher umschrieben als jene, die kommen, um sich im Haus Jhwhs niederzuwerfen. Die formelhafte Spezifikation5 ergibt sich zunächst einfach aus dem Charakter des Ortes; obendrein könnte der Autor an eines der Feste 2 Vgl.

z. B. 2,2; 3,12; 13,1.4.6 u. v. a. MT; 17,19; 19,2; 22,1. 4 So MT mit einer deuterojeremianischen Floskel (vgl. 1,15; 34,7; 44,2); AlT: ganz Juda. 5  Vgl. z. B. 7,2 MT; 17,20; 19,3 AlT; 22,2; 36,6; 36,9 MT; gesamtes Vergleichsmaterial in Kon 24 f. 3 7,2

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gedacht haben, für die das deuteronomische Gesetz die Wallfahrt nach Jerusalem vorschreibt (Dtn 16,16; vgl. Ex 23,17), sodass der Anlass theoretisch ermöglichte, buchstäblich alle Judäer zu erreichen, also ein ideales Auditorium herzustellen. Der Ausdruck erzeugt jedoch obendrein eine hintergründige Ironie, insofern dieselben Pilger, die ordnungsgemäß ihre liturgischen Pflichten erfüllen, die vernichtende Kritik Jhwhs hinnehmen müssen, seine vorrangigen Wünsche beharrlich zu missachten, und zwar in einem Ausmaß, dass Jhwh sich genötigt sieht, die Stätte eben jenes Kultes dem Untergang preiszugeben (V. 6). Wenn auch nicht eigens betont, klingt so immerhin der in der Vorlage 7,1–15 entfaltete Gedanke an, dass die Perversion der Lebensführung den Gottesdienst zur Farce geraten lässt, die statt der erhofften göttlichen Abwehr von Gefahren das Gegenteil bewirkt. Den Inhalt des verlangten prophetischen Auftritts gibt der Redebefehl zunächst nur summarisch an (2cd): Jeremia soll seine gesamte bisher aufgetragene Verkündigung lückenlos wiederholen, wie Jhwh mit Anleihen bei einer Wendung einschärft, die traditionell als Kanonformel bekannt ist (2e). Als ihre Normalform gelten meist die beiden Belege in Dtn 4,2 und 13,1, die zwei Prohibitive verkoppeln: das Erweiterungsverbot nichts hinzufügen (al{ + Präfixkonjugation 2. Person von @sy) und das Kürzungsverbot nichts weglassen (wörtlich abschneiden; al{ + Präfixkonjugation 2. Person von [rg). Die Verbote beziehen sich jeweils auf ein Wort (rb'D"), das laut dem Kontext für gesetzliches Material aus dem deuteronomischen Korpus steht. Jer 26,2e greift aus diesen Komponenten das Kürzungsverbot heraus, gebildet als Vetitiv (la; + Präfixkonjugation 2. Person), und appliziert es auf die bisherigen prophetischen Verkündigungsaufträge Jeremias. Umgekehrt warnt Spr 30,6 mit dem Erweiterungsverbot per Vetitiv vor dem freizügigen Umgang mit Gottesworten. Bei ihren Bezugsgrößen schillern diese Belege zwischen einem festen, womöglich in Schriftform kodifizierten Textbestand einerseits und dessen Sachgehalt andererseits. Daneben bietet die Weisheitsliteratur weitere, formal flexiblere Fälle, die mit den genannten negierten Verben die Souveränität des schöpferischen Handelns Gottes beschreiben, mit dem Nachdruck auf der Unmöglichkeit, dass externe Kräfte dazu beitragen oder darin eingreifen können (Koh 3,14; Sir 18,6; 42,21). Diese atl. Redeweisen sind Zweige einer weitgefächerten antiken Tradition von Textsicherungsklauseln, die in einer Vielzahl von Gattungen bezeugt sind und bei autoritativen Dokumenten wie Inschriften, Urkunden, Rechtskorpora, Epen, Weisheitslehren, Zaubersprüchen u. a. etwa unbefugte Eingriffe abwehren, den Anspruch auf textliche Korrektheit erheben oder die Wirksamkeit sichern sollten – wobei freilich Fälle mit belegter Nachgeschichte bezeugen, dass solche Verbote spätere Manipulationen keineswegs unterbanden (Oeming). So ermahnt etwa das als „Lehre des Ptahhotep“ bekannte ägyptische Weisheitsbuch aus dem späten 3. Jahrtausend: Nimm nicht ein Wort weg und bringe es dann wieder, setze nicht das eine an die Stelle eines anderen.6

 Z. 608 f.: G. Burkard, Die Lehre des Ptahhotep, TUAT III (1997) 195–221, 220.

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Die Sefire-Stelen, benannt nach ihrem Fundort in Syrien, überliefern Verträge zwischen den Königen Bar-Ga’yah von Ktk und Mati‘-Il von Arpad aus der Mitte des 8. Jahrhunderts. Darin verlangt der folgende Passus die lückenlose Einhaltung der Abmachungen: [Diese] Verträge […] müssen eingehalten werden und kein einziges der Worte dieser Inschrift soll verschwiegen werden.7

Die Loyalitätseide, mit denen der assyrische Großkönig Asarhaddon im Jahr 672 seine Vasallen auf die Treue zu seinem Sohn und designierten Thronfolger Assurbanipal einschwor, listeten u. a. das Verbot auf, den Vertragstext abzuwandeln: Ihr sollt weder ändern noch abwandeln das Wort Asarhaddons, des Königs von Assyrien.8

Diese Parallele ist besonders bedeutsam, weil man davon ausgehen darf, dass sie in Juda wohlbekannt war. König Manasse (696–642) gehörte als assyrischer Vasall zum Kreis jener untertanen Herrscher, die die Gelöbnisse leisten mussten. Wie ferner archäologische Funde nahelegen, waren die Schwüre auf Tontafeln in den wichtigsten Tempeln der Hauptstädte der assyrischen Provinzen und Vasallenstaaten ausgestellt, wo sie vermutlich periodisch (am akītu‑ bzw. Neujahrsfest?) zeremoniell erneuert wurden.9 Trifft dies zu, ist für den Jerusalemer Tempel dasselbe anzunehmen. So erklärt sich zwanglos, wie die Loyalitätseide Asarhaddons mehrfach das deuteronomische Gesetz beeinflussen konnten, darunter neben den Fluchlisten in Dtn 28,20–44 namentlich Dtn 13,1–12 mit dem Beleg der Kanonformel in V. 1.10 Gegen das Etikett „Kanonformel“ für die biblischen Belege (vgl. auch Offb 22,18– 19) sind allerdings triftige Einwände vorgetragen worden: Zur Entstehungszeit des AT konnte noch kein Kanon im Sinne eines abgeschlossenen, religiös verbindlichen Literaturkorpus existieren, weswegen der Terminus in diesem Rahmen einen Anachronismus darstellt. Weiterhin dient die Formel in der atl. Weisheitsliteratur für Aussagen, die sich keinesfalls unter ihrem herkömmlichen Namen subsumieren lassen. Deshalb hat man Alternativen wie Wort(laut)sicherungsformel, Textsicherungsformel und weitere vorgeschlagen, die aber ebenfalls immer nur Ausschnitte des Funktionsspektrums der Wendung abdecken. In 2e soll das Kürzungsverbot im Vorblick auf  Sefire I B Z. 7–8: O. Rössler, Aramäische Staatsverträge, TUAT I.2 (1983) 178–189, 182.  VTE § 4, Z. 57 f.; vgl. Levinson 41; R. Borger, Assyrische Staatsverträge, TUAT I.2 (1983) 155– 177, 162; S. Parpola, K. Watanabe, Neo-Assyrian Treaties and Loyalty Oaths (State Archives of Assyria 2), Helsinki 1988, 31. Online: http://oracc.museum.upenn.edu/saao/corpus (Abruf: 9. 3. ​2017). 9  In einem neuassyrischen Tempel auf dem Tell Tayinat (bei Antakya in der Türkei) war eine Tontafel mit den Loyalitätseiden Asarhaddons im Allerheiligsten auf einem Podest montiert. Vorläufige Edition: J. Lauinger, Esarhaddon’s Succession Treaty at Tell Tayinat. Text and Commentary, Journal of Cuneiform Studies 64 (2013) 87–123. Vgl. H. U.  Steymans, Deuteronomy 28 and Tell Tayinat, Verbum et Ecclesia 34 (2013), Art. #870 (Internet); T. P.  Harrison, Recent Discoveries at Tayinat (Ancient Kunulua/Calno) and Their Biblical Implications, in: C. M. Maier (Hg.), Congress Volume Munich 2013 (VT.S 163), Leiden 2014, 396–425. Ferner J. Lauinger, The Neo-Assyrian adê: Treaty, Oath, or Something else?, ZABR 19 (2013) 99–115. – Zu den schon seit Mitte der Fünfzigerjahre bekannten, von den Entdeckungen auf dem Tell Tayinat vereindeutigten Befunden in Nimrud (antikes Kalḫu) vgl. nun C. Barcina, The Display of Esarhaddon’s Succession Treaty at Kalḫu as a Means of Internal Political Control, Antiguo Oriente 14 (2016) 11–52. 10  Vgl. zuletzt Otto, Deuteronomium 12–34, 1234–1263. 7 8

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die Fortsetzung unterstreichen, dass Jhwh damals alle prophetischen Kräfte Jeremias aufbot, um die Judäer durch eine ultimative Verwarnung (Vv. 4–6) zur Umkehr zu bewegen. Doch ausgerechnet diese Anstrengung hatte einen geradezu gegenteiligen Effekt: Sie veranlasste die Adressaten bloß, für den Propheten das Todesurteil zu fordern. Zugleich erhebt 2e indirekt den Anspruch, dass der in V. 4–6 erteilte Redeauftrag den Sachkern von Jeremias Gesamtverkündigung zutreffend auf den Punkt bringt. Im Ergebnis tritt die schicksalhafte Bedeutung des Augenblicks in der doppelten Totalität von Auditorium und Botschaft eindrücklich hervor. 3 Den Zweck des Auftrags verrät der Autor indirekt durch eine Reflexion, die Jhwh vor den Ohren Jeremias – und somit auch vor den Adressaten des Buches – über die möglichen Folgen anstellt: Vielleicht11 (3a) würde dieses letzte Aufgebot aller Mittel die Judäer doch noch umstimmen; dann würde er seinerseits das ihnen längst zugedachte Unheil bereuen (3c). Trägt das zugrunde liegende Verb ~xn‑N das Subjekt Jhwh, ist zu beachten, dass es kein bedauerndes Eingeständnis eines Fehlurteils bezeichnet. Vielmehr meint es überwiegend Jhwhs Selbstbeherrschung bzw. seine Selbstüberwindung, einen bereits gefällten, berechtigten Strafbeschluss unausgeführt zu lassen (Jeremias 46 im Anschluss an Johannes Hempel). Rettung und Heil haben Vorrang vor der gerechten Ahndung. Der Korrekturbedarf wird einstweilen ganz formelhaft und abstrakt umschrieben: Ein jeder soll von seinem bösen Weg umkehren (3b; Kon 128 f.); es ist die Bosheit ihrer Taten (3d; Kon 122), derentwegen Jhwh ihnen das Unheil (wörtlich: das Böse) anzutun plant (3cd; Kon 52). Wie der Passus sprachlich und konzeptionell offenbart, hat der Verfasser Jeremia seinem typisch dtr Prophetenbild angeglichen und in einen Warner verwandelt, der seine Hörer mit begründeten Drohungen zur Umkehr bewegen soll (7,23–28; 25,3–7; 44,4–5; vgl. 2 Kön 17,13). Wie zugleich der einheitliche Gebrauch von Ableitungen der Wurzel [[r böse, schlimm sein für sowohl die Vergehen als auch die Strafe demonstriert, war diesem dtr Theologen daran gelegen, den folgerichtigen Zusammenhang zwischen Schuld und Sühne herauszukehren und damit die Verhältnismäßigkeit der angedrohten Strafe zu betonen, so furchtbar sie auch ausfallen mochte. Denn wie weitere Merkmale untermauern werden, blickt die Grundschicht bereits auf die Exilskatastrophe zurück. Weil schon die intendierten Adressaten wussten, dass die in V. 3 geäußerte Hoffnung Jhwhs scheitern würde, stiftet V. 3 eine Erzählspannung, die nicht von der Frage angetrieben wird, ob, sondern wie die Judäer die eingeräumte Chance ausschlagen würden. Die Aufmerksamkeit des Publikums wird so auf die Antwort des Volkes gelenkt. Damit nutzt der Autor die erweiterten Möglichkeiten der narrativen Gestaltung der Tradition von Jeremias Tempelrede gegenüber der reinen Predigt in der Vorlage 7,1–8,3, insofern die Reaktion seitens der Hörer in der Erzählfassung ihren natürlichen Platz hat. 4–5 Ein zweiter Redebefehl, gefolgt von einer prophetischen Botenformel in klassischer Rolle, schließt sich an, um Jeremia nun ein konkretes Prophetenwort vorzugeben, das 11  Mitunter wird eine literarische Abhängigkeit von Am 5,15 postuliert, aber dies ist wenig wahrscheinlich, weil sich das Modalwort yl;Wa vielleicht dort auf das Handeln Jhwhs, hier aber auf das der Judäer bezieht. Ohnehin begrenzt die Alltäglichkeit des Wortes seine Signifikanz.

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er augenscheinlich seiner bisherigen Verkündigung (2cd) als deren Summe beifügen soll, um sie zu einem Höhepunkt von situationsgerechter Dramatik zu führen. Das Zitat ist als bedingte Drohung mit ausholender Protasis (4c–5) und knapper, aber, wie sich zeigen wird, hoch provokanter Apodosis (V. 6) angelegt. Die Protasis präsentiert die entscheidende Forderung: Wenn ihr nicht auf mich hört (4c), die durch zwei modale Infinitivkonstruktionen inhaltlich konkretisiert wird. Der erste Infinitiv in 4c meine Weisung (ytir"AtB.) zu befolgen setzt das Hören auf Jhwh mit dem Toragehorsam gleich, was bei einem deuteronomistischen Autor primär die Befolgung jenes Gesetzeskorpus meint, das als fassbarer Ausdruck des nahe am Ursprung Israels geoffenbarten Gotteswillens ins Buch Dtn eingebettet ist und hier bereits als bekannte Größe vorausgesetzt wird. Der zweite Infinitiv indem ihr auf die Worte meiner Knechte, der Propheten, hört (5a) identifiziert die Toraobservanz ihrerseits mit dem Hören auf die Propheten, die mit dem Ehrentitel meine Knechte (Kon 100) als zuverlässige Sachwalter Jhwhs gewürdigt werden. Ferner gilt wie im dtn Prophetengesetz (Dtn 18,9–18), dass die Propheten durch göttliche Sendung in lückenloser Sukzession präsent sind (Unermüdlichkeitsformel 5b; s. zu 25,3; Kon 131 f.), allerdings ohne bislang Gehör gefunden zu haben (5c). Die Propheten werden so insgesamt wie zuvor schon Jeremia (V. 3–4) in typisch dtr Weise (vgl. 2 Kön 17,13) als Umkehrprediger begriffen, die Jhwhs Hauptforderung des Toragehorsams anmahnen. Entsprechend ist der Redeauftrag von dem Leitwort hören geprägt ([mv 3a.4c.5ac). Alle diese Aussagen belegen durch Sprache und Vorstellungswelt die deuteronomistische Abkunft der Erzählung 26*.

Literatur: I. Finkelstein, The Archaeology of the Israelite Settlement, Jerusalem 1988, 6 205–234. I. Finkelstein, Sh. Bunimovitz, Z. Lederman, Shiloh. The Archaeology of a Biblical Site (Sonia and Marco Nadler Institute of Archaeology Monograph Series 10), Tel Aviv 1993. E. Ga, Die Ortsnamen des Richterbuchs in historischer und redaktioneller Perspektive (ADPV 35), Wiesbaden 2005, 400–404. S. Kreuzer, Art. Schilo, NBL III (2001) 474–476. D. G.  Schley, Shiloh. A Biblical City in Tradition and History (JSOT.S 63), Sheffield 1989.

Die Apodosis legt die Konsequenzen der Nichtbefolgung von Jhwhs Forderungen offen: die Verwüstung von Tempel und Stadt. Wenn sich die Drohung auf diese Größen beschränkt, während sie von Juda schweigt, ist sie von vornherein auf das von den Ältesten in 18d–f als Präzedenzfall zitierte Orakel Mi 3,12 zugeschnitten, das dem Zion, Jerusalem und dem Tempelberg die Verheerung prophezeit. Die enge Korrespondenz zwischen Jeremias Unheilsbotschaft und dem Präzedenzfall soll die Beweiskraft der entlastenden Argumentation sichern. Die ankündigten Zerstörungen werden hier im Dienste der Effektsteigerung auf indirekten Wegen benannt. Die Untergangsdrohung gegen das Gotteshaus, als die wichtigere Größe vorangestellt, wird nicht einfach unverhüllt ausgesprochen, sondern in die Umschreibung gekleidet, Jhwh werde den Tempel behandeln wie Schilo (6a). Der Ort, heutiges Ḫirbet Sēlūn, lag zwischen Bet-El und Sichem (Ri 21,19). Wohl während der Mittelbronzezeit im 17./18. Jh. gegründet, fiel er gegen 1500 einem Brand zum Opfer, existierte aber in deutlich kleinerem Umfang weiter. Nachdem israelitische Stämme mit Beginn der frühen Eisenzeit (ca. 1200–1000) in der Region sesshaft geworden waren, erlebte Schilo ab etwa 1150 eine neue Blüte, die um 1050 durch eine erneute Feuersbrunst ihr Ende fand. Fortan erlangte der Ort nie wieder 93

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seine frühere Bedeutung. Der Ausgräber Finkelstein folgert aus aufgefundenen Kultgeräten und der generellen Anlage der Siedlung, dass der Ort von früh an als überregionales Kultzentrum gedient habe. Allerdings wurde bislang kein Heiligtum nachgewiesen, vielleicht jedoch nur deshalb, weil an dessen natürlichem Platz – der Hügelkuppe – die archäologischen Spuren aufgrund späterer Entwicklungen nahezu völlig verloren gingen. Laut dem AT beherbergte Schilo das wichtigste israelitische Jhwh-Heiligtum vor dem Bau des salomonischen Tempels, wo die (heute meist so genannte) Bundeslade stationiert gewesen sei, beaufsichtigt vom Priestergeschlecht der Eliden (1 Sam 1–4 u. ö.). Für die Zerstörung der Stadt kommen dann die Philister in Betracht (vgl. 1 Sam 4), ohne dass sich die Frage derzeit entscheiden ließe. Die Erinnerung an die Vernichtung des Gotteshauses ist nur in dtr Literatur außerhalb der Geschichtsbücher bewahrt geblieben, nämlich in den betroffenen Schichten des Jeremiabuches und dem ebenfalls dtr gefärbten Ps 78. Diese Quellen behandeln das Ereignis indes in einer Weise, die bei den Adressaten ein grundlegendes Vorwissen voraussetzt. Wenn Jhwh in Jer 26,6a ankündigt, er werde den Jerusalemer Tempel Schilo gleichmachen (K. !tn), muss man bei fehlenden Geschichtskenntnissen der anschließenden Drohung gegen Jerusalem in 6b entnehmen, was gemeint ist. Gleiches gilt für das Zitat von Jeremias Prophezeiung im Mund der Ankläger 9bc. Mit diesen Sprechweisen variiert der Verfasser seine Vorlage 7,12.14, der zufolge Jhwh dem Tempel antun will, was er bereits Schilo angetan hat (l. hf[ 7,12e.14e). Ps 78,60 beschränkt sich auf die Aussage, Jhwh habe seine Wohnung (!K'v.mi) in Schilo verworfen (vjn). Wo also die Urheberschaft von Schilos Untergang zur Sprache kommt, wird einzig Jhwh genannt, während der konkrete Vollstrecker keine Rolle spielt. Wie die Kontexte erweisen, hielten diese Theologen das Gedenken an das Schicksal der Stadt lebendig, weil es für sie eine entscheidende Zäsur im Gottesbezug Israels markierte: Laut den jeremianischen Deuteronomisten hatte der Jerusalemer Tempel das Heiligtum von Schilo als Wohnsitz des Namens Jhwhs abgelöst (7,12c), und Ps 78 geht noch weiter: Danach verbriefte das Ende von Jhwhs Residenz in Schilo die Verwerfung der Nordstämme, die der göttlichen Erwählung Judas, des Zion und der Davidsdynastie den Weg bereitete (Vv. 67–71). Der Rekurs auf den Präzedenzfall Schilo beleuchtet die Dramatik der Lage, indem Jhwh daran gemahnt, dass er einen gleichartigen Schlussstrich schon einmal gezogen hatte, weshalb ihm auch weiterhin ein solch radikaler Schnitt zuzutrauen war. Um die Tragweite der Drohung zu ermessen, muss man sich vor Augen führen, dass Tempel in der Antike primär als Gotteswohnungen verstanden wurden, wie auch die atl. Bezeichnungen Haus Jhwhs bzw. mein Haus illustrieren. Als irdische Exklaven der himmlischen Sphäre verbürgten die Heiligtümer die Präsenz und damit die Zugänglichkeit und Hilfsbereitschaft ihres Besitzers. Deshalb musste die Vernichtung eines Tempels das Gottesverhältnis der betroffenen Verehrergemeinde tiefgreifend in Zweifel ziehen, zumal sich die Frage stellte, inwiefern die einwohnende(n) Gottheit(en) sich als unfähig erwiesen oder sich von ihren eigenen Schutzbefohlenen distanziert hatte(n); eben die letztere Interpretation legt ja Ps 78 dem Untergang des Heiligtums von Schilo bei. Für einen Denkrahmen, der menschlichen Fortbestand in einer von mannigfaltigen feindlichen Mächten heimgesuchten Welt unabdingbar 94

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auf göttlichen Beistand angewiesen sah, geriet damit die Existenz des Verehrerkreises schlechthin in Gefahr. Diese Überzeugungen wurden sogar von militärischen Siegern respektiert, indem sie bei der Schleifung eroberter Städte keineswegs regelmäßig die Tempel niederrissen, sondern nur dann, wenn sie Gründe für besonders drakonische Vergeltung sahen (Mayer). Zwar hat die dtn/dtr Theologie die Bindung Jhwhs an das Jerusalemer Heiligtum differenzierter zu beschreiben gesucht und infolgedessen relativiert, insbesondere durch Aussagen der Art, dass Jhwh dort nur seinen Namen wohnen lasse (s. zu 7,12)12 bzw. sein Name darüber ausgerufen sei (s. zu 7,10).13 Aber damit verlor der Tempel nicht einfach seinen Rang als Schaltstelle zwischen irdischer und göttlicher Sphäre. Vor diesem Hintergrund stellt 6a eine verheerende Niederlage in Aussicht und kommt jedenfalls der Drohung nahe, das Gottesverhältnis Judas total aufzukündigen, wenngleich die bloße Existenz der Erzählung belegt, dass für die jeremianischen Deuteronomisten diese letzte Konsequenz trotz der mittlerweile hereingebrochenen Katastrophe nicht eingetreten war – sonst hätten sie ihr Lehrstück gar nicht erst aufzuzeichnen brauchen. Auf jeden Fall erteilt das Unheilsorakel gegen das Jerusalemer Heiligtum jener Tempeltheologie eine Absage, die in der Langfassung der Tempelrede 7,1–15 bekämpft wird und die in völlig illusorischem Vertrauen der Kultstätte zutraute, die Unbezwinglichkeit des Zion ganz unabhängig vom Verhalten seiner Bewohner zu garantieren (s. zu V. 9). Aus der Warte des Autors hatte die Bewahrheitung des Gottesworts Jhwhs Urteil über diese Tempeltheologie unterdessen ratifiziert. Bei alldem gilt, dass Jhwh selbst strikt Herr des Geschehens bleibt: Er ist das Subjekt von 6ab, wie immer das angekündigte Desaster sich konkret bewahrheiten mochte. 6b erweitert die Unheilsansage auf den Standort des Tempels, indem Jhwh mit einer für JerDtr II typischen Wendung androht, er werde Jerusalem zum Fluch machen bei allen Nationen der Erde (vgl. 44,8). Der Ausdruck rekurriert auf den Brauch, in Segens‑ und Fluchformeln prominente Paradebeispiele besonders glücklicher oder bitterer Schicksale einzuflechten, die den Maßstab für das zugewünschte Wohlergehen oder Elend abgeben sollten. Wie man das bei Segensworten tat, illustriert Gen 48,20: Mit dir (d. h. unter Nennung von Efraim und Manasse) soll Israel segnen mit den Worten: Gott mache dich wie Efraim und wie Manasse! Ein Exempel für die Fluchpraxis ist in Jer 29,22cd überliefert: Jhwh mache dich Zidkija und Ahab gleich, die der König von Babel im Feuer geröstet hat. Nach analogem Muster will Jhwh die Stadt Jerusalem in ein weltweit in Fluchformeln zitiertes Exempel radikaler Vernichtung verwandeln. Auch hier wird das kommende Unheil nicht direkt benannt, sondern bloß über eine Folgewirkung angedeutet, allerdings einer solchen, aus der das Publikum auf eine beispiellose Katastrophe rückschließen muss. Dass dabei der imaginäre Blickwinkel der Fremdvölker eingenommen wird, steigert nochmals den Schrecken, da in Ehre-Scham-Gesellschaften die Erniedrigung vor anderen besonders

12 Vgl. weiterhin die sog. Zentralisationsformel Dtn 12,11; 14,23; 16,2.6.11; 26,2; Esr 6,12 (aram.); Neh 1,9; ferner Dtn 12,5 (Kon 136). 13 Weiterhin 7,11.14.30; 32,34; 34,15; 1 Kön 8,43 || 2 Chr 6,33; Bar (hebr.) 2,26 (Kon 119 f.).

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schmerzlich erlebt wird – erst recht wenn, wie hier, der Kreis der Zeugen ins Extrem getrieben ist. 8 Eine Gliederungsformel (8a) eröffnet den zweiten Abschnitt. Es entspricht den Gepflogenheiten alttestamentlicher Erzählökonomie, nach einem Prophetenauftrag den Erfüllungsbericht auszusparen.14 Hier ist er zu einer Zeitangabe für die Reaktion der Hörerschaft herabgestuft, wobei indes eigens festgehalten wird, dass Jeremia die von Jhwh verlangte doppelte Totalität von Botschaft und Auditorium in die Tat umsetzen konnte; erst nachdem diese fundamentale Bedingung erfüllt war (8ab), schritt das ganze Volk gegen ihn ein (8c*). Infolgedessen ist allen Judäern die vorweg zitierte ultimative Warnung zu Ohren gekommen, sodass im Sinne des Textes absolut niemand entschuldbar ist, der sie nicht beherzigt. Damit pocht der dtr Theologe auf die uneingeschränkte Verantwortung der vorexilischen Generation für die Exilskatastrophe. Die Reaktion des Volkes in Kenntnis von Jeremias vollständiger Botschaft läuft jedoch dem in V. 4–5 geforderten Gehorsam gegenüber der Tora und dem Umkehrruf der Propheten diametral zuwider: Man nimmt den Gottesboten fest (8c) und erklärt ihm mit der einschlägigen todesrechtlichen Formel tWmT' tAm du bist (unweigerlich) des Todes,15 dass seine Exekution bevorsteht. 9 Zur Begründung zitiert das chorisch auftretende Volk einen charakteristisch abgewandelten Auszug aus dem Jeremia aufgetragenen Orakel, eingebettet in eine mit [:WDm; warum? eröffnete Beschuldigungsfrage (9a),16 die Jeremia abverlangt, sich für seine Botschaft zu rechtfertigen, ein Ansinnen, das dem Vorgang Züge eines Lehrzuchtverfahrens verleiht (Hossfeld/Meyer). Dass eine Vernichtungsdrohung gegen Tempel und Stadt blanker Blasphemie gleichkommt, setzen die Ankläger einfach als selbstverständlich voraus (9bc). Wenn sie ferner mit einer in deuterojeremianischem Rahmen beliebten Wendung anprangern, dass Jeremia seine Worte im Namen Jhwhs17 vorgetragen hat, also mit dem Anspruch, von Jhwh dazu beauftragt und ermächtigt worden zu sein, treibt für sie der prophetische Modus seines Redens die Gotteslästerung bloß auf die Spitze. Das Zitat 9bc reduziert die Vorlage auf eine verkürzte Version des zweigliedrigen Drohworts V. 6, womit die Sprecher die konditionierte Strafansage in eine unbedingte verwandeln. Ihrem Zerrbild von Jeremias Prophetie wohnt insofern eine sublime Ironie inne, als sie eben jenen Bestandteil unterschlagen, der durch ihr eigenes Verhalten gegenstandslos geworden ist: Sie zitieren, was ihretwegen von Jeremias Worten eintreffen wird. Zu alldem verschweigen sie in beiden Hälften die Urheberschaft Jhwhs, von der das Original ausgegangen war. In dieser Verkürzung mutiert der Umkehrruf zur Blasphemie. Die Empörung über Jeremias Untergangsprophetie gegen Tempel und Stadt, wie sie die Grundschicht dem ganzen Volk zuschreibt, ist theologiegeschichtlich durchaus nachvollziehbar. Um den Tempel und die Stadt Jerusalem rankte sich ein Komplex von Vorstellungen, die unter dem Titel Zionstheologie zusammengefasst werden 14 Vgl. z. B. 16,1–9; 19,1–13; 21,8–10; 27,1–11; 29,30–32; 35,13–17 MT (13–19 AlT); 36,29–31; 43,8–13; 51,59–64d; 1 Kön 21,19–20; 2 Kön 1,2–6; Jes 7,3–9 u. ö. 15 Vgl. z. B. Gen 2,17; 20,7; 26,11; Ex 19,12; 21,12.15–17; 22,18 u. v. a. 16 Vgl. z. B. 14,19; 32,3; 36,29; Ex 1,18; 5,14; Num 12,8 u. v. a. 17  Vgl. noch 20a; ferner 11,21; 14,14.15; 23,25; 27,15; 29,9; MT 29,21 (Kon 136).

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und in der Überzeugung gipfelten, dass der Zion als Jhwhs irdischer Wohnsitz uneinnehmbar sei, weil sein göttlicher Herr mit seinem mythischen Waffenarsenal – bestehend aus Gewitterphänomenen wie Blitz und Donner sowie dem Gottesschrecken, einer numinosen Panik – jedweden Angreifer in die Flucht schlüge, wie besonders enthusiastisch bejubelt in den sog. Zionspsalmen (Ps 46; 48; 76). Diese Ideen waren durch eine vergröbernde Rezeption des Propheten Jesaja und der seinerzeitigen, von der sog. Assur-Redaktion18 geprägten Ausgabe des Jes-Buches stark gefördert worden und erlebten in den Jahren vor dem Exil namentlich im Zuge der Auseinandersetzung mit dem babylonischen Imperialismus in Teilen der tonangebenden Kreise Judas eine Hochkonjunktur (Hardmeier). Laut dem dtr Autor von 7,2*–8,3 verdichtete sich die zionstheologisch inspirierte Rettungsgewissheit in dem Slogan: Der Tempel Jhwhs, der Tempel Jhwhs ist hier! (7,4b AlT). Die bloße Gegenwart von Jhwhs Residenz machte Jerusalem vermeintlich unverwundbar. Dem stand Jeremia aufgrund seiner Sicht der Schuldverfallenheit Judas in strikter Opposition gegenüber.19 Dies versetzte ihn in die Position des theologischen Neuerers, während aus der Warte einer allzu selbstgewissen Zionstheologie Aussagen wie V. 6 und 9bc auf schiere Gotteslästerung hinausliefen, auf die die Schandstrafe der Steinigung stand (Lev 24,16), erst recht wenn wie in V. 6 der Zionsherr zum Zerstörer seines eigenen Wohnsitzes ausgerufen wurde. Die Zeugnisse von Übergriffen gegen Jeremia, in die sich auch Kap. 26 einreiht,20 sind vor diesem Hintergrund vollauf plausibel, selbst wenn das vorliegende Beispiel möglicherweise rückdatiert worden ist, weil Jojakim 609 gerade von den Ägyptern inthronisiert worden war (2 Kön 23,34), mit dieser Fremdmacht also einstweilen auf gutem Fuße stehen musste und erst 605 mit dem babylonischen Sieg bei Karkemisch (s. zu 36,1; 46,2) eine akute Bedrohung durch einen äußeren Aggressor in den Gesichtskreis trat. – In 9d konstituiert sich nun jene Volksversammlung, an die sich in V. 17 die Ältesten wenden werden: Laut MT versammelte sich (lhq-N) das ganze Volk um (la,) Jeremia im Haus Jhwhs; doch ist hier, wie so oft in der Orthographie des Jeremiabuches, die Präposition la, zu, bei, um an die Stelle von älterem l[; über, gegen getreten, das noch von G* (ἐπί), der Peschitta (‘l) und der Vulgata (adversum) vorausgesetzt wird. Die Verbindung lhq-N + l[; bezeichnet indes vorwiegend eine bedrohliche Zusammenrottung21 (eine spezielle forensische Bedeutung von lhq-N ist hingegen nicht nachweisbar). V. 17 ist die ursprüngliche Fortsetzung der dtr Grundschicht. Indem die Männer 17 von den Ältesten des Landes in das Geschehen eintreten und vor der Übermacht der Volksversammlung zugunsten Jeremias das Wort ergreifen, wird der dritte Abschnitt dieses Stratums eröffnet. Ob die Ältesten des Landes eine spezifische Klasse von Würdenträgern bezeichnen, ist mangels Belegen nicht zu entscheiden (vgl. sonst nur 1 Kön 20,7 innerhalb eines im Nordstaat angesiedelten Stoffs sowie Spr 31,23). 18 H. Barth, Die Jesaja-Worte in der Josiazeit. Israel und Assur als Thema einer produktiven Neuinterpretation der Jesajaüberlieferung (WMANT 48), Neukirchen-Vluyn 1977. 19 Vgl. bes. 4,5–6,30; 8,4–9,21; 10,17–22; 12,7–13; 13,18–27; 15,5–9; 17,1–4.14–18; 18,18–23. 20 Vgl. v. a. 1,19; 11,18–21; 12,6; 15,10.15.20–21; 18,18–23; 20,1–6.7–12; 28; 29,25–26; 32,2–3; 36,5.23.26.29; 37,13–16.18; 38,4–6.9.24–27; 43,2–3. 21  Num 16,3; 17,7; 20,2; vgl. Ex 32,1; Ez 38,7 (BHS).

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Kennzeichnend für das Bild von Jeremias Tempelprozess im dtr Stratum ist die Mitteilung, dass nur Männer von, d. h. bloß einige wenige Fürsprecher dem Propheten beigesprungen seien. Die Wortwahl verrät die Absicht, den Unterstützerkreis als möglichst klein hinzustellen – gerade eben gewichtig genug, damit Jeremias Überleben noch Plausibilität besitzt. Die leitende Intention ist in der zusammenfassenden Auslegung zu ermitteln. 18 Das Plädoyer der Ältesten beruft sich auf den Präzedenzfall des Propheten Micha und führt als Beleg Mi 3,12 an. Mit Rücksicht auf ihr Beweisziel (s. zu V. 19) verbinden die Sprecher das zitierte Drohwort mit der Regierungszeit des frommen Königs Hiskija (18a; vgl. 2 Kön 18–20) und vereindeutigen die situative Verankerung der Passage dergestalt in einer Weise, die aus der Quelle nicht hervorgeht (vgl. Mi 1,1). Außerdem schicken sie dem Zitat die Adressatenangabe zum ganzen Volk Judas voran (18b), obwohl das Original sich mit der Anrede ihr Häupter des Hauses Jakob und ihr Anführer des Hauses Israel (Mi 3,9) nur an die führenden Schichten wendet; damit bereiten sie ihre Argumentation in 19bc AlT vor, laut der die Chance, Jhwh umzustimmen, ganz Juda in die Pflicht nimmt. Hier begegnet der einzige Fall, in dem ein alttestamentliches Prophetenbuch explizit einen anderen Schriftpropheten zitiert. Weil das Zitat bis auf eine dialektale Abweichung (~yYI[i statt !yYI[i Trümmerhaufen) mit der Quelle übereinstimmt, legt sich der Schluss nahe, dass der Autor eine Vorform des heutigen Buches Micha benutzt hat. Wie V. 18 voraussetzt, konnte diese Prophetenschrift bereits über Parteigrenzen hinweg als Autorität ins Feld geführt werden; sie verkörperte also protokanonische Tendenzen in der israelitischen Literatur. Das historische Exempel passt insofern präzis auf den Vorwurf des Volkes, Untergangsprophetie gegen Tempel und Stadt sei ein Kapitalverbrechen (8d–9), als das Micha-Zitat ebenso dem Tempel (18f) und der Stadt (18e; sowie zusätzlich dem Zion 18d) die Verwüstung ankündigt. Die vorangeschickte prophetische Botenformel (18c; vgl. Mi 3,5) unterstreicht, dass Michas drastische Ansagen gleichermaßen als Gotteswort gelesen wurden, wie Jeremia es für sich reklamiert (4b). Sollte es unter den Adressaten des Verfassers noch Gegner Jeremias gegeben haben, zielte der Nachweis der Legitimität seiner Prophetie auch auf sie. 19 Die Lehren des Präzedenzfalls bringen die Ältesten ihrem Auditorium in rhetorischen Fragen nahe, als ob sie lediglich an allseits bekannte Tatsachen zu erinnern bräuchten (19a–e; so weit dürfte die Wirkung der Fragepartikeln 19ab reichen). So appellieren sie an das unterstellte Wissen ihrer Zuhörer, dass die Judäer unter Hiskija den prophetischen Störenfried keineswegs aus dem Weg räumten (19a), sondern seine Drohworte als bedingte Warnungen begriffen, mithin als Aufruf, die richtigen Konsequenzen zu ziehen, indem sie Jhwh fürchteten, d. h. in dtr Kontext vor allem: indem sie seine Gebote befolgten22 (19bc AlT; MT hat das vorbildliche Verhalten auf Hiskija eingeengt). So ließ sich Jhwh bewegen, auf bereits angekündigte Strafmaßnahmen zu verzichten (19de; vgl. zu 3c). Dabei wird der Erfolg der Beschwichtigung Jhwhs strikt auf die Ära des frommen Königs bezogen; der Autor sah also darüber hinweg, dass 22  Vgl. z. B. Dtn 5,29; 6,2.24–25; 8,6; 13,5; 17,19 u. ö.; 1 Sam 12,14; Jer 44,10 MT. Vgl. H. F.  Fuhs, Art. ary, ThWAT III (1982) 869–893, 885–887.

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man zu seiner Zeit Michas Unheilsansage in der Katastrophe von 587 bewahrheitet finden konnte. In der Logik der Ältesten hat Jhwh in der Vergangenheit schon einmal getan, was er laut 3cd jetzt den Judäern in Aussicht gestellt hat. Folglich betrifft der angeführte Präzedenzfall nicht nur Jeremias Unheilsprophetie, sondern auch den Effekt, den Umkehr bei Jhwh erzielt. Die Ältesten beziehen sich damit auf eine sonst nicht belegte Hiskija-Tradition, die allerdings zu den Sonderüberlieferungen der Deuteronomisten hinter 26* gehört haben kann.23 Im Ergebnis setzen die Sprecher dem negativen Präzedenzfall Schilo (V. 6) einen positiven entgegen: Wie das Beispiel Schilos den Ernst der Strafansage untermauert, so beglaubigt das Vorbild Hiskijas (samt seiner Generation; so AlT) die Abwendbarkeit des Unheils. Die den Ältesten in den Mund gelegte Interpretation der Prophetie Michas als Umkehrruf ist weder durch das Zitat 18d–f noch durch seine Quelle gedeckt und zeigt mithin, dass der Autor das Buch Mi wie die Prophetie Jeremias durch die Brille eines dtr Prophetenbildes las, das Prophetie – und namentlich die Unheilsprophetie – grundsätzlich als konditioniert auffasste, insofern ihre Bewahrheitung stets von der Reaktion der Adressaten abhing. In einem solchen Denkrahmen war auch die einstweilige Nichterfüllung von Michas Unheilsansage weder der Ausweis seines Scheiterns noch seine Entlarvung als Falschprophet, sondern im Gegenteil sein Ziel, ebenso wie die Buße der Niniviten (Jona 3,5–10) den eigentlichen Erfolg Jonas darstellte, nachdem er dem Wortlaut zufolge ohne Wenn und Aber den Untergang der sündigen Riesenstadt angekündigt hatte (Jona 3,4). Nach diesem Verständnis von Prophetie kam ein Drohwort niemals einem endgültigen Todesurteil gleich. Deshalb nutzen die Ältesten den Präzedenzfall Michas auch dazu, die von der Anklage unterschlagene Bedingtheit der Drohung V. 4–6 in Erinnerung zu rufen. Der dtr Stempel tritt weiterhin zutage in der formelhaften Wendung Jhwh bereute das Unheil, das er über sie geredet hatte (19de; vgl. zu 3cd) wie auch in dem Schlusssatz und wir tun uns selbst großes Unheil an! (19f), typisch für die Handschrift von JerDtr II (ähnlich 44,7). So steht am Ende eine als Feststellung verkleidete Warnung, die die Folgen einer Fehlentscheidung rhetorisch vorwegnimmt. Die Redekunst der Ältesten überlässt es den Hörern, die korrekte Applikation der Lehren der Geschichte auf die eigene Lage selbst zu finden: Die Forderung nach einem Todesurteil ist unbegründet; nichts wäre nun falscher als ein Justizmord an dem Unheilspropheten. Es gilt vielmehr, die Möglichkeit zu ergreifen, die von Jhwh angekündigten Übel zu verhüten. Das gelingt jedoch nicht, indem man den Boten gewaltsam zum Schweigen bringt, sondern indem man seine Botschaft beherzigt. So verlagern die Ältesten das Problem von der Legitimität des jeremianischen Kerygmas auf die Frage nach dem angemessenen Umgang mit ihm, um dem Volk (sowie im Endtext auch den Priestern und Propheten) ein Modell entgegenzuhalten, wie die richtige Antwort auf die  – immer als konditioniert aufgefasste – Unheilsprophetie aussieht. 23  Vgl. auch die Grundschicht von 2 Kön 18 f., die einem mit Jeremia verfeindeten Zweig der deuteronomistischen Schule entstammt, und dazu den Rückblick auf die „Apologie Jeremias“ bei 39,14. Mit 26,19 setzten die jeremianischen Deuteronomisten zumindest der Sache nach dem Kreis hinter 2 Kön *18 f. ihre eigene Erklärung entgegen, warum Jerusalem 701 der Zerstörung durch die Assyrer entging.

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Damit schließt die dtr Erzählung von Jeremias Tempelprozess und wendet sich dem Ergehen eines prophetischen Mitstreiters Jeremias zu: Urija ben Schemaja (Vv. 20– 23). Wie soll man sich nun den Ausgang der Verhandlung vorstellen? Eigentlich müsste das Plädoyer der Ältesten verfangen haben, mit der Folge, dass das von ihnen befürchtete große Unheil hätte ausbleiben müssen. Denn von Gewalttaten gegen Jeremia lesen wir nichts, und laut dem Jer-Buch ist der Prophet nach dieser recht frühen Wegmarke in seiner Laufbahn mindestens zwei Jahrzehnte aktiv geblieben. Warum teilt dann die Grundschicht – anders als die patrizische Redaktion (V. 16) – keinen formellen Freispruch mit, sondern baut auf das Vorwissen ihrer Adressaten, dass Jeremia das Lehrzuchtverfahren unbeschadet überstanden haben musste? Eine sachgemäße Antwort auf diese Frage verlangt, auch den Anhang Vv. 20–23 einzubeziehen. 20 Der vierte Abschnitt teilt eine Episode mit, die nach Akteuren, Schauplätzen und Erzählweise (keine Reden) eigene Wege geht. Allerdings signalisieren der Anschluss mit ~g:w> (wörtlich) und auch sowie die Parallelisierung der Hauptfigur mit Jeremia (20b) von vornherein einen Zusammenhang; ferner erweisen Analogien und Kontraste der übermittelten Schicksale, dass das Stück mit Bedacht im selben Arbeitsgang dem Bericht von Jeremias Tempelprozess angeschlossen worden ist, um das Gerichtsverfahren noch aus der Rückschau in ein bestimmtes, vom Verfasser gewünschtes Licht zu rücken. Dieser Anhang ist somit integraler, verständnisleitender Bestandteil der literarischen Einheit, die erst mit ihm ihr Aussageziel einholt. V. 20 präsentiert als neue Figur den Propheten Urija ben Schemaja aus der Kleinstadt Kirjat-Jearim (Deir al-’Azhar ca. 13 km westnordwestlich von Jerusalem). Ob diese Herkunftsangabe lediglich die Sorgfalt des Chronisten hervorkehrt, die Identifikation erleichtern sollte oder ehemals spezifischere Assoziationen weckte, ist unbekannt. Darüber hinaus erhält Urija die doppelte Charakterisierung, er habe im Namen Jhwhs prophezeit (20a),24 und zwar gemäß allen Worten Jeremias (20b). Damit erfüllt er genau jene Anklagepunkte, die Jeremia in V. 9 das Todesurteil von Seiten des Volkes eintrugen. Allerdings nimmt sein Schicksal einen anderen Verlauf. Wenn Urija ferner über [diese Stadt und] dieses Land prophezeit haben soll (20b), unterläuft dem Verfasser ein textsyntaktisches Missgeschick, insofern er binnen der Erzählerrede das Demonstrativpronomen in situationsdeiktischer Weise gebraucht, wie dies in narrativem Kontext für Figurenrede typisch ist. Er formuliert mithin, als dauere die Rede der Ältesten noch an. Das kleine Versehen begünstigt die Annahme, dass die Urija-Episode in einem Zug mit dem Vortext entstanden ist. 21 Mit 21a betreten abermals neue Akteure die Bühne: König Jojakim und alle Patrizier, prämasoretisch noch um alle seine Elitekämpfer vermehrt, schlüpfen in die Rolle, die bei Jeremia das ganze Volk ausgeübt hatte, indem sie Urijas Botschaft vernehmen und ebenfalls bestrebt sind, den Warner zu eliminieren (21b AlT; zur Entlastung der Patrizier in MT s. Textgenese). Von Unterstützern verlautet bei diesem Propheten hingegen nichts. Damit ist das Figureninventar komplementär zu *1–9.17–19 angelegt. Urija sucht sein Heil in der Flucht nach Ägypten (21c–f). Sofern die Nachricht eine historische Basis besitzt, lässt sich über die Hintergründe der Wahl seines Asyls  Vgl. 9a und zum deuterojeremianischen Hintergrund oben Anm. 17.

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nur spekulieren, zumal die Notiz nicht datiert ist. Jojakim war von Pharao Necho II. (610–595) anstelle seines Halbbruders Joahas als ägyptischer Vasall in Jerusalem inthronisiert worden (2 Kön 23,30–36) und müsste daher gute Beziehungen mit dem Land am Nil gepflegt haben. Möglicherweise nutzte Urija den Umstand, dass Jojakim im Gefolge der Schlacht von Karkemisch (605; s. zu V. 9 und Kap. 46) unter babylonische Herrschaft geraten war. Als der König indes gegen Nebukadnezzar rebellierte (2 Kön 24,1), kam dies im damaligen Machtkonzert einer proägyptischen Reorientierung gleich, sodass er die Auslieferung Urijas erreichte (23ab). Jojakim schickt eine Delegation zur Festnahme Urijas nach Ägypten. Aus den 22 Mitgliedern wird ein gewisser Elnatan ben Achbor namentlich vorgestellt, den wir in 36,12.25 überraschenderweise unter den Parteigängern Jeremias wiederfinden (s. z. St.). Ob er mit Jojakims Schwiegervater zu identifizieren ist (2 Kön 24,8), muss wegen der Gängigkeit des Namens Elnatan offenbleiben. Dem Greiftrupp gelingt es, des Delinquenten habhaft zu werden, ihn nach Juda zu 23 expedieren und an den König zu überstellen (23ab). Historisch kann sich dahinter nur verbergen, dass der Jerusalemer Hof bei den ägyptischen Behörden die Auslieferung Urijas erwirken konnte (nach kurzfristigem Umschlag der politischen Wetterlage?). Der Verfasser verliert über die Rolle der Ägypter freilich kein Wort, sondern stilisiert die Aktion ausschließlich als eine Tat von Jojakims Helfershelfern. Der König lässt Urija hinrichten (23c) und raubt ihm zusätzlich unter demonstrativer Entehrung die Totenruhe, indem er seinen Leichnam ohne Begräbnis auf einen Friedhof der einfachen Bevölkerung werfen lässt (‫‑שׁלך‬H 23d), ähnlich der Behandlung, die Jeremia dem König selbst androhte (22,19; 36,30c). Das Schicksal Urijas, des Propheten vom Schlage Jeremias, nimmt somit einen ganz anderen Ausgang als das seines bekannteren Gesinnungsgenossen, was rückwirkend in mehreren Hinsichten ein neues Licht auf den Tempelprozess wirft. Zum einen bekräftigt der Tod Urijas, dass Jeremia tatsächlich in Lebensgefahr schwebte. Zum anderen zeigen die Judäer nun ihr wahres Gesicht: Das Entkommen Jeremias ändert nichts daran, dass die vorexilischen Judäer es nicht dabei beließen, die Warnungen Jhwhs zu überhören, sondern obendrein seine Sendboten blutig bekämpften. Weiterhin erzielt die komplementäre Anlage der Figureninventare in den auf Jeremia und Urija bezogenen Berichten einen prägnanten Effekt. Denn nachdem sich zuvor bereits das Volk diskreditiert hatte, erweist jetzt die Täterschaft der Führungskreise, dass die Verstocktheit gegenüber den prophetischen Umkehrrufen sämtliche Schichten der judäischen Bevölkerung bis hinauf zum König durchdrang. Folglich verhindert das Beispiel Urijas, das Überleben Jeremias den Judäern entlastend zugute zu halten; der Berechtigung des von allen Judäern verschuldeten großen Unheils (19f) tut es keinen Abbruch. Insofern arbeitet auch die Grundschicht von 26 an dem großen theologischen Projekt der jeremianischen Deuteronomisten, der Theodizee. Dann ist es auch nur folgerichtig, wenn die Grundschicht es dem Publikum überließ, das konkrete Ergebnis des Prozesses aus dem eigenen Vorwissen zu ergänzen, und die Ältesten ihre abschließende Warnung in das Gewand einer Feststellung kleiden. Wie der dtr Charakter und die Anspielungen in V. 3–6 anzeigen, wurde 26* in Kenntnis der Exilskatastrophe abgefasst. Wie ferner insbesondere die Urija-Episo101

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de klarstellt, partizipiert die Erzählung an dem zentralen Anliegen der dtr Ebene des Buches, die Ursachen des großen Unheils offenzulegen. Der Autor nutzte dazu im Falle des Tempelprozesses einen Stoff, der sich nur bedingt für seine Absichten eignete, weil die Vorgänge zwar den Warner an den Rand des Todes brachten, aber einen glimpflichen Ausgang nahmen. Der diskrete Umgang mit Jeremias Freispruch und das Gegenbeispiel Urijas dienten dazu, das Material für den zugedachten Zweck aufzubereiten: Für diesen dtr Theologen bildete schon die bloße Behelligung des wahren Propheten eine jener himmelschreienden Sünden, die die vorexilischen Generationen kennzeichneten und schließlich die Katastrophe heraufbeschworen. Er trug sein Werturteil in die berichteten Vorgänge ein, indem er den Kreis von Jeremias Fürsprechern möglichst klein hielt, den Erfolg ihres Plädoyers durch Aussparung herunterspielte und mit dem Beispiel Urijas unerwünschten Interpretationen entgegentrat. Ohnehin war die von Jhwh geforderte Umkehr ausgeblieben, obwohl die Judäer von ihren eigenen Führungskreisen an ein Vorbild erinnert worden waren, wie die angemessene Antwort auf die Botschaft dieser Propheten hätte aussehen müssen (V. 19). Im Ergebnis präsentiert 26* zwei einander bekräftigende narrative Exempel von vertanen Chancen, mit denen die Judäer wider besseres Wissen ihre Lage nur verschlimmerten und so mit Macht der Katastrophe entgegentrieben, ein Motiv, das sich in den Erzählmaterialien des babylonischen Jeremiabuches wiederholt (vgl. 34,8– 22; *40,7–43,7b). Das Missverhältnis zwischen Stoff und Aussageziel bei Jeremias Tempelprozess erfüllt indes das aus der Leben-Jesu-Forschung bekannte Kriterium der Tendenzwidrigkeit und belegt, dass diese Überlieferung jedenfalls kaum für die vorliegende Erzählung erfunden wurde, was die Möglichkeit offenhält, dass ihr ein historischer Kern zugrunde liegt. Theologisch bemerkenswert am Umgang von 26* mit der Reminiszenz vom Lehrzuchtverfahren Jeremias ist die Tatsache, dass für diesen Autor allein schon die Bedrohung des in göttlichem Auftrag redenden unbequemen Warners und theologischen Neuerers zur Kumulation von Schuld in einem Ausmaß beitrug, das eine Strafe in den Dimensionen der Exilskatastrophe verlangte. Sein Zeugnis gibt eine Idee davon, welche Verantwortung auf der Unterscheidung der Geister lastet. PR: 24 Der ältere Zusatz der patrizischen Redaktion (PR) reklamiert das entscheidende Verdienst um Jeremias Rettung für Ahikam, einen Sohn jenes Schafan, der zur Zeit Joschijas als Staatsschreiber das höchste Amt im königlichen Kabinett bekleidete. Ahikam ist vor allem bekannt aus 2 Kön 22,3–20, wo er neben seinem Vater im Zentrum der Vorgänge rundum die Auffindung jenes Gesetzbuches steht, das mit guten Gründen als eine Vorform des Buches Dtn gilt („Urdeuteronomium“) und als Blaupause der joschijanischen Reform gedient haben soll.25 Schafan und Ahikam wird damit 25 Im Antikenhandel wurde eine Bulle (Siegelabdruck) erworben mit der Inschrift [l’]ḥyqm [b]n špn: [dem A]hikam [So]hn des Schafan [(gehörig)]: Avigad, Corpus 181 f., Nr. 431; HAE II/2 1.52. Allerdings muss dieses Zeugnis, da ungewisser Herkunft, einstweilen außer Betracht bleiben, bis seine Echtheit zweifelsfrei erwiesen ist; vgl. C. Uehlinger, Spurensicherung: alte und neue Siegel und Bullen und das Problem ihrer historischen Kontextualisierung, in: S. Lubs (u. a., Hg.), Behutsames Lesen. Alttestamentliche Exegese im interdisziplinären Methodendiskurs (FS C. Hardmeier; ABG 28), Leipzig 2007, 89–137, bes. 95.

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indirekt eine Hauptrolle bei der Umgestaltung des judäischen Kultwesens durch Joschija zugeschrieben. Schafans Nachkommen haben in den Jahrzehnten vor dem Exil weiterhin hohe Ämter am Jerusalemer Hof innegehabt (vgl. 29,3; 36,10–13), und Ahikams Sohn Gedalja wurde von den Babyloniern zu ihrem judäischen Verwaltungschef bestellt (Kap. 39–41). Die Schafaniden waren danach die prominenteste patrizische Sippe in Juda um die Wende vom 7. zum 6. Jahrhundert. Angehörige der Familie treten im Jeremiabuch wiederholt als Parteigänger Jeremias auf: Schafans Söhne Ahikam (26,24), Elasa (29,3) und Gemarja (36,10.12.25; vgl. 36,19) sowie seine Enkel Micha ben Gemarja (36,11–13 in Verbindung mit V. 19) und Gedalja ben Ahikam (40,5–6). In einen Stammbaum übertragen, liefern die biblischen Angaben folgendes Bild: Schafan ben Azalja ben Meschullam (2 Kön 22,3–20) Ahikam Gemarja (2 Kön 22,12.14; (Jer 36,10.12.25) Jer 26,24)

Elasa (Jer 29,3)

Gedalja Micha (Jer 39,14; 40,5–43,6; (Jer 36,11.13) 2 Kön 25,22–25)

Nach den genannten Zeugnissen haben die Schafaniden in den heftigen politisch-religiösen Richtungskämpfen der Endphase des judäischen Staates, in die Jeremia an maßgeblicher Stelle verwickelt war, wichtige Sympathisanten des Propheten gestellt. Ihr Rückhalt für Jeremia erscheint als das bedeutendste Beispiel für die Solidarität, die der Prophet in Teilen des judäischen Patriziats genoss und die eine entscheidende Voraussetzung dafür gewesen ist, dass er in den tonangebenden Kreisen Judas Gehör fand, wenn sie nicht gar mitunter sein physisches Überleben sicherte (so V. 24; ähnlich 36,19.25; s. z. St.). So haben sich die Schafaniden als typische Repräsentanten des judäischen Patriziats, aber auch andere Angehörige dieser Gesellschaftsschicht als Unterstützer des Propheten bewährt. Daran zu erinnern hat sich, wie der vorliegende Zusatz illustriert, die patrizische Redaktion zum Anliegen gemacht. Zu den Motiven, die dabei die Feder führten, s. zu V. 10–16. Die patrizische Redaktion (PR) in 7.8c*.10–16 gruppiert die Parteien im Prozessgeschehen um: Das ganze Volk wechselt an die Seite Jeremias. Neu eingeführt werden die Patrizier (von Juda), die als Hauptverbündete des Propheten profiliert werden, sowie die Priester und die Propheten (in G* als ψευδοπροφήται Falschpropheten vereindeutigt), die jetzt die Anklage übernehmen. Vorbereitend hält V. 7 fest, dass Priester, Propheten und Volk den Auftritt Jeremias im Tempel miterlebt haben, und in 8c werden die Priester und Propheten dem Volk beigesellt, das Jeremia festnimmt und ihm das Todesurteil spricht. Für den patrizischen Redaktor waren die Patrizier Judas keine Ohrenzeugen von Jeremias Auftritt, denn er sucht ihren normalen Aufenthaltsort wie in 36,12 ff. im 103

PR: 7.8c*. 10–16

7 8c

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Königspalast, wo sie hohe Ämter im Regierungsapparat ausüben. Es ist das Todesurteil für Jeremia, das sie, sobald ruchbar geworden, zum Einschreiten veranlasst, sodass sie sich an den Ort des Volksauflaufs begeben. Laut 10b müssen sie dazu vom Königspalast zum Haus Jhwhs hinaufsteigen (hl[), ein Detail, das sich für das Gesamtverständnis der PR als bedeutsam erweisen wird: Danach findet das Tribunal im Tempelvorhof statt, der gegenüber dem Palasthof erhöht angelegt war.26 Im Tempelvorhof lassen sich die Patrizier am Eingang des Neuen Jhwh-Tors nieder (10c), das die PR nochmals in 36,10 als neues Tor des Hauses Jhwhs erwähnt und vielleicht identisch ist mit dem oberen Tor des Hauses Jhwhs, das König Jotam (ca. 739–734) eingerichtet haben soll (2 Kön 15,35) und in Jer 20,2 als oberes Benjamintor die Kulisse einer weiteren Repressalie gegen Jeremia wegen unerwünschter Äußerungen am Tempel abgibt. Da Tore damals die regulären Orte von Gerichtsverhandlungen darstellten,27 demonstriert der Akt der Patrizier ihren Anspruch, den Fall zu entscheiden: Sie konstituieren einen Gerichtshof, der hier umständehalber nicht an einem Stadt‑, sondern an einem Tempeltor tagt. Die PR hegt damit erheblich präzisere Vorstellungen vom Schauplatz des Prozesses als die ältere deuteronomistische Redaktion, die sich mit der Angabe im Haus Jhwhs begnügte (9d). Der Vergleich beleuchtet die Pedanterie der Verortung in der PR: Das Tor ist zwar die natürliche Stätte einer Gerichtsverhandlung, doch innertextlich notwendig ist dieser Grad der Exaktheit nicht. Der Schauplatz des Geschehens ist also in der PR auffällig übercharakterisiert. Doch wie die Parallele in 36,10 bestätigt, bilden solche genauen Lokalisierungen im Tempelareal ein Markenzeichen der PR, das in der Gesamtauslegung ihres Beitrags zu erklären ist. 11 Obwohl die Patrizier bereits den Gerichtshof etabliert hatten (10c), stellt sich sogleich heraus, dass in der Textwelt die Jurisdiktion über den gegebenen Rechtsfall einem Forum obliegt, das neben den Aristokraten auch das ganze Volk einschließt (11a). Entsprechend fordern die Priester und die Propheten als die neuen Ankläger vor diesem Tribunal jetzt jenes Todesurteil (tw nun also leitet wie üblich von der Rückschau in die Vergangenheit zur Gegen- 13 wart über, um ein neues Thema anzuschneiden: den Appell, aus der Warnung die richtigen Konsequenzen zu ziehen, die hier gänzlich in deuterojeremianisches Formelmaterial gegossen und abstrakt formuliert sind: die Besserung von Wegen und Taten (13a; vgl. 7,3.5; 18,11; 35,15; Kon 40) und der Gehorsam gegenüber der Stimme Jhwhs (13b; Kon 137 f.). Ebenso abstrakt wird der verheißene Effekt umschrieben: damit Jhwh das Unheil bereut, das er über euch geredet hat (13cd). Jhwh werde also von der Vollstreckung seiner angekündigten Strafmaßnahmen absehen (vgl. zu 3c), womit Jeremia den Judäern weitergibt, was Jhwh ihm in 3c als seine Hoffnung anvertraut hatte. Der patrizische Bearbeiter zeigt sich damit nachhaltig von der deuteronomistischen Tradition geprägt, wie neben der Sprache das Verständnis Jeremias als Umkehrprophet dokumentiert. Allerdings gebraucht er hier die typische Kombination der Wendungen (nicht) hören, bezogen auf die Judäer (13b), und Unheil reden, ausgesagt von Jhwh (13cd), die nur in der PR belegt ist und deren Handschrift verrät (noch 35,16–17; 36,31; 40,2–3). Der Relativsatz 13d unterstreicht, dass die Unheilsansage Gottes‑ und nicht Menschenwort gewesen ist. Der Prophet nutzt also seine Verteidigungsrede, um seine Verkündigung fortzusetzen, indem er einschärft, was für den Redaktor den Kern der Botschaft ausmacht. Literatur: D. Erbele-Küster, Art. Blutschuld (erstellt: Sept. 2015), WiBiLex (Internet).

Mit betonendem selbstständigem Personalpronomen ynIa]w: ich aber und dem Deiktikon ynIn>hi siehe, ich (14a) setzt Jeremia eine rhetorische Zäsur, um zu seinem Rechtsfall zurückzulenken. Er bekennt sich freimütig zu seiner illusionslosen Einschätzung seiner Lage, wenn er erklärt, dem Gutdünken des Gerichtshofs ausgeliefert zu sein (14a). Demgemäß zeichnet der Imperativ in 14b handelt an mir gemäß dem, was gut und recht ist in euren Augen! im Gewand einer Aufforderung ein Bild seiner Situation: „Ihr könnt mir antun, was ihr wollt …“ Er macht damit den Herren des Verfahrens eine taktische Konzession, indem er das Recht ihrer Verfügungsgewalt über ihn anerkennt, um eine gemeinsame Basis des Einverständnisses zu schaffen, das ihre Bereitschaft, sich von seiner Unschuld überzeugen zu lassen, zu steigern verspricht. Folgerichtig fällt er sich sogleich selbst mit einem Einwand ins Wort, mit adversativem %a; bloß, freilich eingeleitet und durch eine Figura etymologica betont: W[d>Te [:doy" ihr sollt wissen (15a), um seinen Richtern ins Gewissen zu reden und sie an die Folgen ihrer Entscheidung zu erinnern (für ein analoges rhetorisches Verfahren vgl. 28,6–9 mit %a; vor Aufforderung 7a). Wie er herausstellt, brächte der geforderte Justizmord Blutschuld über Jerusalem (15a–c), in einem antiken Denkrahmen eine sehr ernste Warnung vor einem Fehlurteil, da Jhwh die Untat rächen würde,28 zumal man annahm, dass  Gen 9,5; 2 Sam 21,1–14; 1 Kön 2,32–33; 2 Kön 9,25–26; Jona 1,14.

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das Blut als Sitz des Lebens, das den Tod des Körpers überdauerte,29 selbstständig die Sühne des Unrechts betreiben könne (Gen 4,10; vgl. Mt 27,24–25). Deswegen bildete unschuldig vergossenes Blut eine Gefahrenquelle, der mit äußerster Vorsicht zu begegnen war.30 Mit der Tötung Jeremias würden sich die Judäer selbst einen Strick drehen. Zur Begründung bündelt und rahmt er seine Verteidigung abschließend mit einer variierten Reprise seines ersten Satzes (15d || 12b), wobei er im Hebräischen steigernd und betont die Beteuerung in Wahrheit, wirklich voranstellt, um jenen Anspruch zu bekräftigen, mit dem er als einziges Argument sein prophetisches Wirken rechtfertigt: die Sendung durch Jhwh, die seine beanstandete Rede am Tempel in ihrer vollen Breite deckt. 16 Die Patrizier und das ganze Volk lassen sich von Jeremias Plädoyer einnehmen, wie ihre Rede an die Priester und die Propheten dokumentiert (16a), in der sie deren Strafantrag aus 11b unter wörtlichem Zitat ablehnen, nur mit vertauschter Satzteilfolge und um die Negation vermehrt (16b), sodass ihre genau gegenteilige Bewertung der Sachlage prägnant hervortritt. Die Art, wie sie sich Jeremias Rechtfertigung zu eigen machen, gibt zu erkennen, dass für sie die Sendung durch Jhwh (so der Prophet in 12b.15d) und im Namen Jhwhs reden (16c) dasselbe sind. Kennzeichnend für den parteilichen Standpunkt des Autors, tun die Sprecher aus seiner Warte einfach dadurch das Richtige, dass sie der Erklärung des wahren Propheten vertrauen, ein wahrer Prophet zu sein. Im Unterschied zur Grundschicht endet der Zusatz der PR mit einem expliziten Freispruch Jeremias. Hielt ferner der Autor der Grundschicht die Zahl der Verteidiger Jeremias so klein wie möglich (17a), um Abstriche an der Schuld der vorexilischen Generation zu vermeiden, verfährt die PR gegenteilig, indem sie den Kreis seiner Unterstützer auf nahezu alle Judäer ausdehnt (16a). Weiterhin bedingt der Nachdruck auf der Blutschuld, die aus der Todesstrafe für Jeremia erwüchse, dass das Urteil, ebenfalls im Gegensatz zur dtr Erzählung, zugunsten seiner Richter ausschlägt: Sie haben sich nicht an dem wahren Propheten vergangen; sie sind unschuldig! Zuzüglich differenziert der Autor die Schuldfrage durch sorgfältige Unterscheidung der Parteien im Prozessgeschehen: Die Priester und Propheten sowie die Patrizier und das ganze Volk werden konstant gleichlautend in dieser Ausführlichkeit benannt und einander gegenübergestellt (11a.12a.16a), sodass sich nur Erstere als Verfolger des wahren Propheten versündigen, während Patrizier und Volk Verdienste um ihn erwerben, indem sie ihm das Leben retten – obwohl auch für die PR der Gehorsam, den Jeremia in 13ab nach 4c–5b erneut formelhaft verlangt, nicht eingetreten sein kann. Die Entlastung nahezu aller Judäer erhärtet, was schon die Position des Textes in der literarischen Stratigraphie nahelegt: Der Autor zählt trotz seiner Schulung in dtr Sprache und Theologie nicht mehr zu den Deuteronomisten, die ja in Jer ausdauernd die Verantwortung ganz Judas geißeln und dabei regelmäßig eigens die Patrizier und das Volk brandmarken,31 wie es auch die Grundschicht tut (Volk: V. 8*–9.17b; vgl. 19f; 29 Gen

9,4; Lev 17,11.14; Dtn 12,23. 19,10.13; 21,1–9; 1 Kön 2,31. 31 Vgl. 1,18; 8,1–2; 32,32; 34,10–11.19–21; 44,9AlT.17.21. 30 Dtn

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26,10–16

Patrizier: 21b AlT). Daher gilt: In der erzählten Welt sprechen die Patrizier in 26,16 Jeremia frei, doch in der Welt des Erzählers sprach 26,16 die Patrizier frei. Neben den Einschüben in 26 sind der PR weiterhin der Komplex 35–37,2, die Einheit 40,1–6 sowie eine Retusche in 39,14c zuzurechnen (s. jeweils z. St.). Wie besonders deutlich Kap. 36 untermauert, feilte der Verfasser am Ansehen der judäischen Aristokratie, indem er die historisch glaubwürdige Erinnerung, dass Angehörige der Jerusalemer Hofkreise Jeremia in den Bedrängnissen seines prophetischen Daseins beigestanden hatten, dahingehend ausgestaltete, dass nunmehr sämtliche Patrizier als seine Unterstützer erscheinen. Wie die Patrizier in 26,10–16 dem Propheten das Leben retten, so tun sie in 36,19 dasselbe mit Jeremia und Baruch, indem sie ihnen rechtzeitig den Rat zur Flucht in den Untergrund erteilen und damit obendrein der verschrifteten jeremianischen Prophetie den Fortbestand sichern. Die PR bildet insofern das Gegenstück zur Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums (UPJ-Erzählung 34,7 + *37,3–43,7b), die in 37 f. umgekehrt die Feindschaft einer Fraktion der judäischen Führungskreise – wie in ihrer Quelle, der Apologie Jeremias (34,7 + *37,3–39,14), geschildert – auf den gesamten Adel des Landes erweiterte (s. den Rückblick auf die UPJ-Erzählung bei 43,7). Die Kollektivierung der patrizischen Solidarität mit Jeremia lässt sich auch innerhalb von 26 beobachten: V.  24, der allerdings wahrscheinlich selbst schon einer Frühform der PR entstammt, hielt die Rettung Jeremias einem einzelnen Mitglied der politischen Führungskaste zugute, während die große Interpolation V. 10–16 das Verdienst auf die Patrizier insgesamt (von MT in 12a ganz im Sinne der PR als alle Patrizier präzisiert) und sogar das ganze Volk ausdehnte. Wann und wo war die PR tätig, und mit welchem Ziel? Der Redaktor arbeitete später als der Schöpfer des babylonischen Jeremiabuchs (JerDtr II), der in der Exilsepoche wirkte, wie sein Streben nach Erklärung der Katastrophe, sein exilischer Standort und seine Unkenntnis des Endes der babylonischen Herrschaft erweisen. Die PR korrigierte das dtr Jeremiabuch durch die Aufhellung des Porträts der Patrizier. Dabei nehmen die Zusätze zu 26 die Priester und die Propheten schlechthin als Gegner ins Visier, eine Polemik, von der Jeremia, obwohl selbst Prophet (12b), ohne Erklärung ausgenommen wird. Ferner lokalisiert die PR die Verdienste des Adels für Jeremia mit auffälliger Vorliebe an exakt umschriebenen Orten im inneren Tempelareal (10c; 36,10; vgl. 35,4). Nun sind aus nachexilischer Zeit expansive Konzepte priesterlicher Verfügungsgewalt am Tempel bekannt, die anstrebten, Nichtpriestern den Zutritt zu jenen Zonen zu entziehen (Näheres zu 36). Solche Bedingungen hätten den patrizischen Einsatz für Jeremia an den betreffenden Orten von vornherein verhindert. Erst recht die von der PR in 26 vertretene Vorstellung, dass die Patrizier und sogar das Volk am Tempel über Belange des Tempels Recht sprachen und die Priester sich ihrer Autorität beugen mussten, war nach allem, was wir wissen, in der nachexilischen Epoche undenkbar. Diese Indizien deuten auf folgenden Hintergrund nach Entstehungszeit und Problemlage: Die PR entstammt den Jahren der Neuordnung Judas in frühnachexilischer Zeit, als das Machtgefüge der gesellschaftlichen Gruppen in einem rei­ bungs­vollen Prozess neu ausgehandelt wurde. Der Konflikt wurde offenbar wesentlich 107

26,10–16

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über Anspruch und Bestreitung politischer Legitimität ausgetragen, die sich an der Mitverantwortung für die Exilskatastrophe bemaß, ablesbar zumal an der Haltung gegenüber dem mittlerweile durch den Gang der Geschichte bestätigten Propheten Jeremia. In diesem Rahmen suchte die PR als Apologie des Patriziats den Nachweis zu erbringen, dass ihr Trägerkreis entgegen anderslautenden Stimmen – darunter das dtr redigierte Jeremiabuch – sich durch seinen gemeinschaftlichen Beistand für Jeremia historisch bewährt habe und somit angemessene Mitsprache bei der Lenkung der Geschicke Judas verlangen könne. Ein aktueller und dem Redaktor besonders wichtiger Aspekt der Kontroverse scheint Zugangsrechte und Befugnisse am zweiten Tempel betroffen zu haben, ein Feld, auf dem nichtpriesterliche Gruppen nach dem Exil tatsächlich fühlbare Einbußen hinnehmen mussten. Hier dürfte der Grund liegen, warum die PR bevorzugt die Priester angriff und wiederholt den Tempelbezirk als jenen Raum markierte, wo die Patrizier denkwürdige Verdienste erworben hatten (26,10; 36,10; vgl. 35,4). Konflikte der fraglichen Art brachen naturgemäß im Zuge von Planung und Bau des Heiligtums auf, womit der Zeitrahmen und der wahrscheinliche Anlass für die Entstehung der PR abgesteckt sind. Eine auffällige Besonderheit der Fortschreibung 26,10–16 ist der Nachdruck auf dem Schulterschluss der Patrizier mit dem ganzen Volk. Die judäische Bevölkerung bzw. ihre relevanten Vertreter dürften daher auch jenes Publikum bezeichnen, um dessen Unterstützung für die Anliegen der Patrizier die Bearbeitung von 26 bemüht war. Auf dasselbe Motiv wird eine Merkwürdigkeit bei der Zeichnung des Volkes in 36 zurückzuführen sein: Das Kapitel betont zwar, dass Baruchs Rezitation der „Urrolle“ eine möglichst große Zahl von Judäern erreichte. Deshalb findet die Verlesung gemäß Jeremias Auftrag (V. 6) im stark frequentierten Tempelareal an einem Fasttag statt (Vv. 8–10). Aber trotz der von Jhwh in V. 3 geäußerten Hoffnungen auf Gehör spielt die Reaktion des Volkes anschließend keine Rolle. Die breite Resonanz hätte nach den Umständen nur negativ ausfallen können, doch weil die PR ihren umworbenen politischen Bundesgenossen nicht mehr belasten wollte, war die Antwort des Volkes kein Thema mehr. Freilich wagte auch der patrizische Redaktor nicht, die seinen Beweiszielen zuwiderlaufenden Nachrichten in seinen Vorlagen zu tilgen, und er konnte nicht leugnen, dass die von Jhwh geforderte Umkehr ausgeblieben war. Deshalb geben die Patrizier – wie das Volk – im Endtext nur ein gemischtes Bild ab. Dass die Priester konstant in Tateinheit mit den Propheten auftreten, hat Erklärungen angeregt, wonach Jer 26 Probleme des Konflikts von Wahr‑ und Falschprophetie reflektiere bzw. ein narratives Exempel ihrer Unterscheidung nach den Maßstäben des dtn Prophetengesetzes (Dtn 18,9–22) entwerfe, das die wahre Prophetie über das Erfüllungskriterium ermittelt (Dtn 18,21–22). Doch hallen in Jer 26 zwar verstörende Erfahrungen mit der Kollision widersprüchlicher Zukunftsansagen mit Offenbarungsanspruch nach, und das Kapitel verarbeitet Erinnerungen an heftige Streitigkeiten um den Spielraum innerjahwistisch legitimer Prophetie. Aber das Erfüllungskriterium spielt keine Rolle, obwohl die Autoren sich darauf hätten berufen können, da aus ihrer Perspektive Jeremias Drohung ja mittlerweile Wirklichkeit geworden war. Es ging ihnen jedoch um anderes. Schon der Vorwurf gegen Jeremia ist nicht mit dem möglichen Eintreffen oder Nichteintreffen seiner Worte befasst, son108

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dern einzig mit der Frage, ob Untergangsansagen gegen Jerusalem und seinen Tempel prinzipiell zulässig seien (9bc) – also Orakel, die in der Sicht von Menschen, die wie die Ankläger dachten, ohnehin nicht in Erfüllung gehen konnten. Folglich lässt die Erzählung auch keinen Einfluss des dtn Prophetengesetzes erkennen, wie immer das diachrone Verhältnis der beiden Stücke zu bestimmen sein sollte.32 Die Rechtfertigung Jeremias durch die Bewahrheitung seiner Prophetie war zwar in der Welt der Erzähler ein Implikat des Stoffes, trug indes nicht mehr den Ton. Ferner verstand die deuteronomistische Grundschicht, die noch keine prophetischen Gegner Jeremias kannte, die Botschaft ihres Helden nach dem generellen Muster des Prophetenbildes im dtr Stratum des Buches (s. zu V. 3.19) als warnenden Umkehrruf, der durch bedingte Drohungen seine Dringlichkeit einschärft (Vv. 2–6). Auf konditionierte Prophetie ist das Erfüllungskriterium aber prinzipiell nicht anwendbar, weil die ausbleibende Bewahrheitung notwendiges Ingredienz ihrer Funktionsweise ist und bei bedingter Unheilsprophetie sogar das erklärte Ziel darstellt: Warnungen sind nun einmal dazu da, das Eintreffen der negativen Konsequenzen zu verhindern; ihr gewünschter Erfolg ist ihre Nichterfüllung (Jona 3!). Im gegebenen Fall sollte die Drohung zur Umkehr bewegen, sodass Jhwh seinen Sinn wandelte und das angekündigte Unheil eben nicht in die Tat umsetzte (V. 3). Folgerichtig rechtfertigen die Ältesten Jeremias Verkündigung mit einem historischen Präzedenzfall unerfüllter Prophetie (Vv. 18–19). Umgekehrt darf es in einer Welt, in der das Erfüllungskriterium gilt, genau genommen überhaupt keine konditionierte Prophetie geben. Dass jedoch in Texten aus derselben theologischen Schule einander ausschließende Konzepte vertreten werden, braucht nicht zu erstaunen  – innerhalb desselben Kreises konnte man, abhängig von jeweiligen Situationen und Interessen, einmal so und einmal anders reden, denn die Antike war im Hinblick auf konzeptionelle Konsistenz toleranter als die Moderne. Die patrizischen Zusätze reihen zwar die Propheten unter Jeremias Gegner ein, schreiben ihnen aber keinerlei prophetische Aktivitäten zu, im Gegensatz etwa zu 23,9–32 und 27–29. Wenn ferner Patrizier und Volk die Wahrhaftigkeit von Jeremias prophetischem Autoritätsanspruch anerkennen (V. 16), gründen sie dies allein auf seine Versicherung, dass Jhwh mich wirklich zu euch gesandt hat (15d), während das Eintreffen seiner Unheilsprophetie nicht thematisiert wird und in der erzählten Welt ohnehin nicht überprüfbar gewesen wäre; lediglich in der Welt des Erzählers steht die Korrektheit von Jeremias Ansagen fest. Die Eigenart dieser Logik tritt besonders klar im Kontrast zu 28,9ac hervor, wo Jeremia mit den Worten zitiert wird: Am Eintreffen des Wortes […] erkennt man den Propheten, den Jhwh wirklich gesandt hat. Wie der Umgang der PR mit ihrem Stoff erweist, ging es auch ihr nicht um die Reflexion des Aufeinanderprallens von Wahr‑ und Falschprophetie. Vielmehr gab die PR unter historischen Umständen, als die Authentizität Jeremias längst unangefochten war, ihre eigene Antwort auf die Frage, wer beanspruchen durfte, ihm zu Lebzeiten beigestanden zu haben. Wenn dann die Propheten an der Seite der Priester zu den Feinden Jeremias zählen, mögen Reminiszenzen an Auseinandersetzungen Jeremias 32  Die Priorität bei Jer sieht etwa Nicholson; vgl. auch Köckert; dagegen glaubt Knobloch 251–259 in Jer 26 eine kritische Rezeption des Prophetengesetzes zu erkennen.

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Jeremias Tempelprozess und die Ermordung des Propheten Urija

mit Falschpropheten den Hintergrund abgeben, aber für die PR gab wahrscheinlich die Tatsache den Ausschlag, dass die von den Patriziern bekämpfte Ausweitung priesterlicher Privilegien seinerzeit auch von prominenten priesterlichen Propheten verfochten wurde (vgl. v. a. Ez 40–48).

Ein ganz anderes Verständnis vertritt Knobloch, für den die als literarisch einheitlich aufgefassten Kapitel „Jer 26 und Jer 36 als sich aufeinander beziehende, einheitliche Pfeilertexte zu lesen und zu verstehen sind, weil sie einem gemeinsamen Verfasserkreis von jeremianischen Tradentenpropheten entstammen, dem es in erster Linie um fundamentaltheologische Fragen geht, wie sie die mosaische Prophetentheorie der nachexilischen Pentateuchredaktion aufgeworfen hat“ (283). Statt in der Exilsepoche existenzielle Fragen nach den tieferen Ursachen der Exilskatastrophe zu bearbeiten oder in frühnachexilischer Zeit gegen den drohenden Entzug politischer Partizipationsrechte aufzubegehren, habe der „Verfasser frühestens aus der zweiten Hälfte des 5. Jh.s“ (277) einen Gelehrtenstreit um „fundamentaltheologische Fragen nach der Präsenz der Gottesoffenbarung und nach der Bedingung der Möglichkeiten eines erneuten Eingreifens Gottes in der Zukunft“ munitioniert (Otto 517, zit. bei Knobloch 221). Dies soll gelten, obwohl V. 2, wie für die deuterojeremianische Ebene des Buches typisch,33 auf einem möglichst breiten Auditorium für Jeremia insistiert, da seine Botschaft auf einen Wandel des Verhaltens sämtlicher Judäer zielt (V. 3). Gegen die Priester, die den Pentateuch redigierten, habe dieser Tradentenprophet in der Figur Jeremias die Faktizität nachmosaischer prophetischer Offenbarung verteidigt. Die These fußt im Kern auf einer Überinterpretation von Dtn 34,10–12, wonach das sog. Mose-Epitaph „das Ende jeglicher Prophetie mit dem Tod des Erzpropheten koinzidieren lässt“ (178). Damit verbinden sich zahlreiche schwer nachvollziehbare Postulate zu literarischen Verweisen auf den Pentateuch, die ein Ausmaß erreichen sollen, dass Jer 26 und 36 sogar „ihre theologische Grundgrammatik der Rezeption von Ex 32 und Ex 34 in ihrer pentateuchredaktionellen Gestalt verdanken“ (224), neben weiteren zentralen Bezugstexten wie insbesondere den Ämtergesetzen in Dtn 16,18–18,22. Unentbehrliche Prämisse solcher Vorstellungen sind überaus optimistische Annahmen hinsichtlich der Erwartungen, die biblische Autoren an die Fähigkeiten ihrer Adressaten richten konnten, intertextuelle Bezüge wahrzunehmen und im intendierten Sinne zu deuten. Im Falle von Jer 26 ist die These schon an der Tatsache zu messen, dass in 7.8c.11a.16a die Propheten in konstanter Eintracht mit den Priestern als Widersacher Jeremias auftreten, gleich doppelt seinen Tod verlangen (8cd.11ab) und sich von dritter Seite abermals doppelt über die Legitimität seiner Botschaft belehren lassen müssen (Vv. 16.17–19). Man fragt sich, warum ein dem Prophetismus verbundener Autor zu dem behaupteten späten Abfassungsdatum die prophetischen Kollegen Jeremias angeschwärzt haben sollte, um dafür der judäischen Aristokratie der Zeit seines Helden ein Denkmal zu setzen. (Zur detaillierteren Auseinandersetzung mit Knobloch s. Stipp, Intertextualität.)

 Vgl. z. B. 1,18; 7,2; 11,2; 17,20; 19,14; 22,2; 25,1–2; 27,16; 35,13.17; 36,6.10; 44,1.20.24.26.

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Textgenese und Gliederung Auf Buchebene ist Jer 27–29 Bestandteil des Blockes Kap. 26–29, der zusammengehalten wird durch das gemeinsame Motiv der Konflikte Jeremias mit prophetischen Gegnern. Diese Klammer spielt in Kap. 26 allerdings nur eine Nebenrolle, insofern die Propheten dort lediglich als Helfershelfer der Priester gegen Jeremia juristisch vorgehen, ohne typisch prophetische Aktivitäten auszuüben (s. z. St.). Stärker ausgeprägt sind mehrere Eigenheiten, die die Kapitel 27–29 vernetzen und als eine gesonderte kompositionelle Einheit markieren: 27–28 bilden einen Erzählzusammenhang. Weiterhin sind alle drei Kapitel verzahnt durch die Reflexion der Frage, welche 112

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Haltung im Licht der Jhwh-Religion zum als Weltherrschaft begriffenen babylonischen Regiment über den Vorderen Orient und speziell Juda einzunehmen sei. Dieses Thema verbindet sich mit scharfer Kritik an der Falschprophetie, gleichgesetzt mit antibabylonischer Wahrsagerei, die den Widerstand gegen den babylonischen Imperialismus anfeuert bzw. das baldige Ende der Fremdherrschaft ankündigt. Dazu treten orthographische Besonderheiten in Gestalt von Schreibweisen für Eigennamen, wie sie vor allem die Spätphasen der atl. Literaturproduktion kennzeichnen. Hier sind erstens Jhwh-haltige Personennamen mit auslautendem theophorem Element zu nennen. Während der Buchkontext dafür die sprachgeschichtlich älteren Langformen auf ‑jahū bevorzugt, begegnen in Kap. 27–29 zumeist Kurzformen auf ‑jā, wie sie sich nachexilisch zunehmend verbreiteten, um etwa im 5./4. Jh. die Oberhand zu gewinnen (Hornkohl). Die Kurzform des Namens Jeremia hy"m.r>yI Jirmejā kommt in Jer allein in 27,1–29,1 vor (s. u.), neben 9 weiteren Belegen in Dan, Esr, Neh und 1 Chr.1 Für den judäischen König Jojachin benutzen die Kap. 27–29 die Kurzform hy"n>k'y> Jekonjā (27,20Q; 28,4; 29,2; 27,20K hy"n>wk'y>), die sonst nur in den späten Quellen Est 2,6; 1 Chr 3,16.17 auftritt, während der Rest des Buches die Schreibungen Why"n>K' Konjahū (22,24.28; 37,1 MT) und Why"n>k'y> Jekonjahū (24,1) verwendet, neben !kiy"Ahy> Jehōjakīn 52,31, das aus 2 Kön 25,27 entlehnt ist. Laut den (nicht ganz widerspruchsfreien) Angaben von Hornkohl enthält JerMT bei solchen Namen insgesamt 241 Lang‑ und 83 Kurzformen (ca. 25,6 %). Auf die drei Kapitel 27–29 MT entfallen daraus 8 Lang‑ und 34 Kurzformen (etwa 81 % bzw. nicht weniger als 41 % der Kurzformen des gesamten Buches), in signifikantem Kontrast zum Rest des Werkes mit 233 Lang‑ und 49 Kurzformen (21 %). JerAlT 27–29 bietet mit 7 Lang‑ und 27 Kurzformen (ca. 79,5 %) dasselbe Bild wie MT. Die zweite orthographische Besonderheit betrifft den babylonischen Großkönig: In Kap. 27–29 dominiert die Schreibung rC;ank;Wbn> „Nebukadnezzar“ (die sich heute allgemein durchgesetzt hat), während das Buch andernorts – wie sonst nur Ez – die etymologisch korrektere Variante rC;ark;Wbn> „Nebukadrezzar“ verwendet, die dem akkadischen Original Nabū-kudurrī-uṣur: Nabu (mesopotamischer Gott der Schreibkunst), schütze meinen Erstgeborenen! näher steht.2 Weiterhin ragen die drei Kapitel heraus durch das Maß an Fortschreibung, das sie in den jüngsten Phasen der Textentwicklung erfuhren: Kein anderer Sektor des Buches ist noch in der prämasoretischen Ära derart durch vielfältige kleinere Einschübe angeschwollen (d. h. solchen im Umfang bis zu wenigen Versen, also abgesehen von den ausgedehnten, in sich geschlossenen Überschüssen 33,14–26 und 39,4–13). So wurde beispielsweise der Prophetentitel prämasoretisch nirgends so intensiv vermehrt wie in Kap. 28 bei den Kontrahenten Jeremia und Hananja. 1  Dan 9,2; Esr 1,1; Neh 10,3; 12,1.12.34; 1 Chr 5,24; 12,5.11. Davon bezeichnen Dan 9,2 und Esr 1,1 den Propheten Jeremia. 2  Der Übergang /r/ ⇒ /n/ erklärt sich wahrscheinlich nach dem häufigen Wechsel zwischen liquiden Konsonanten (/l, m, n, r/) wie bei hebräisch !Be ben und aramäisch rB' bar Sohn. Zur These von van Selms, die Namensvariante mit /n/ gehe auf eine Verballhornung mit akkadisch kūdanu(m) / kūdannu Maultier zurück, vgl. Hornkohl 101: „There is no evidence for the derogatory epithet in Babylonian sources.“

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Der Komplex muss daher Einflüssen ausgesetzt gewesen sein, die den Rest des Buches nicht erfassten. *Rudolph etwa nahm an, die drei Kapitel seien als Flugschrift gegen bekämpfte Heilspropheten im Exil ausgekoppelt worden; während dieser unabhängigen Existenzphase habe der Auszug seinen besonderen Charakter angenommen, um dann später die ältere Fassung im Buch zu ersetzen. *Wanke wertet die sprachlichen Eigenheiten als Ausweis für den eigenständigen Ursprung der Komposition. Erklärungsversuche müssen indes folgende Daten beachten: Nachstehend werden Indizien zur Textgenese angeführt, laut denen die Kap. 27–29 auch von postexilischen und buchweiten Redaktionen bearbeitet wurden. Erst aus den spätesten Perioden der Buchwerdung rührt gar die enorme prämasoretische Expansion, deren sekundäre Natur durch eine besonders hohe Dichte von idiolektalen Zügen gesichert wird (TK), von einem offenkundigen Textausfall in 27,12b.14ab (AlT 34,10) abgesehen. Dabei gilt für die orthographischen Eigentümlichkeiten bei den Namen: Einerseits schließen sie das masoretische Sondergut ein, andererseits decken sie sich nicht exakt mit den Grenzen der drei Kapitel, wie die wichtigsten Beispiele veranschaulichen:

rC;ank;Wbn> rC;ark;Wbn> hy"m.r>yI Why"m.r>yI hy"[.m;v. Why"[.m;v.

Nebūkadnē’ṣṣar 27,6.[8c].[20]; 28,[3b].[11c].[14b]; 29,[1c].[3b] Nebūkadrē’ṣṣar 29,[21b] Yirmeyā 27,[1]; 28,5.6a.10a.11d.12.[12].15a; 29,1b Yirmeyahū 29,27.29.30 Šema‘yā 29,31bc.32b Šema‘yahū 29,24

Das masoretische Sondergut verwendet die jüngere Schreibung Nebukadnezzar reichlich, kehrt aber noch innerhalb von Kap. 29 zur älteren Orthographie zurück, die im Rest des Buches verwendet wird. Für die beiden Zugaben des Namens Jeremia benutzt das Sondergut die Kurzform, während es andernorts konsequent die Langform vermehrt. Hier ist es schon der vormasoretische Wortlaut, der im Schlussteil von Kap. 29 die Langform wieder aufgreift, während er im selben Bereich bei Schemaja aus Nehelam umgekehrt die Lang‑ gegen die Kurzform tauscht. Die orthographischen Besonderheiten sind somit eine Eigenart der Kap. 27–29, nicht bestimmter Schichten und auch nicht des masoretischen Sonderguts, das vielmehr hier wie andernorts die Schreibweisen des älteren Bestandes übernimmt. All das ist weder mit einer frühzeitigen Ausgliederung noch mit einem späten Einbau der Komposition vereinbar. So folgt: Die Merkmale, die heute den Eigencharakter von Jer 27–29 ausmachen, sind sehr verschiedenen Alters. Bestimmte Züge hat der Komplex erst auf den jüngsten Stufen der Textgenese angenommen, wie die enorme Expansion auf prämasoretischer Ebene. Die orthographischen Abweichungen müssen sogar noch später eingedrungen sein, ohne dass sich die Ursachen für diese Sonderentwicklungen bislang klären ließen. Deutlich älter ist dagegen die eingangs betonte thematische Kohärenz: Die Kap. 27–28 sind durch einen gemeinsamen Erzählfaden verknüpft, und Kap. 29 treibt die theologische Interpretation der Fremdherrschaft und die Auseinandersetzung mit der antibabylonischen Heilsprophetie weiter voran. Diese Merkmale identifizieren 27–29 jedenfalls als zusammengehörige Falschprophetenkomposition, 114

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die als solche zu behandeln ist und daher auch den Ausgangspunkt der textgenetischen Rückfrage abgibt. Das Wachstum des Komplexes ist allerdings nach allen Anzeichen so verwickelt und vielstufig verlaufen, dass die Rekonstruktion seiner Genese bloß näherungsweise erfolgen kann, wie im gegebenen Fall insbesondere die ausgiebigen prämasoretischen Zuwächse illustrieren, die nur in Ausnahmefällen (wie 27,1.7 oder 29,16–20) erkennbar wären, würde uns kein materieller Zeuge darüber unterrichten. Den Zusammenhang von 27 und 28 stiftet das verbindende Thema prophetischer Zeichenhandlungen Jeremias mit Jochgeschirren. Trotzdem bilden die beiden Kapitel keine originäre Einheit. 27 ist als Selbstbericht stilisiert (12a.16a; MT 2a) und besteht nach der einleitenden Wortereignisformel V. 1 MT zur Gänze aus drei ausgedehnten Gottes‑ bzw. Prophetenreden (Vv. 1–11.12–15.16–22). Dagegen führt 28 mit Jeremias heilsprophetischem Gegenspieler Hananja eine neue Figur ein und ist ab V. 5 konsequent als Fremdbericht gestaltet (zu den Vv. 1–4 sogleich); dazu trägt das Kapitel mit dem Wechsel von Erzählerstimme und Figurenreden samt Dialogen gattungstypische Merkmale der Erzählung. Ferner rechnet 27 mit einer Vielzahl antibabylonischer Falschpropheten (Vv. 9–10.14–18), während in 28 Hananja als singulärer Erfinder der Heilsprophetie hingestellt wird (Vv. 8–9; s. z. St.). In 27 gehört schon die Wortereignisformel V. 1 zum masoretischen Sondergut. Sie datiert die Offenbarung der ersten Jhwh-Rede in das Jahr von Jojakims Regierungsantritt (609), obwohl die Rede bestimmte Vorfälle aus der Zeit Zidkijas (597–587) behandelt, als seien sie aktuell gegenwärtig (V. 3). Wie ein weiterer masoretischer Überschuss in 28,1a zeigt (s. u.), meinte der Ergänzer das Thronbesteigungsjahr Zidkijas (vgl. auch 49,34 MT), doch er vertat sich, indem er die Formulierungshilfe von 26,1 in Anspruch nahm, aber den Königsnamen auszutauschen versäumte. Trotzdem färbte er seine Kopie mit Merkmalen des prämasoretischen Idiolekts ein, die den späten Ursprung des Verses dem Zweifel entziehen (TK). Demnach begann das Kapitel ehemals mit der zur Einleitung einer Gottesrede an den Propheten umgewidmeten Botenformel 2a wie in 13,1a; 19,1a; 22,1a; 25,15a. Die erste Gottesrede (Vv. 2–11) hebt an mit dem Geheiß an Jeremia, Jochgeschirre aus Stricken und Jochstangen3 anzufertigen (2b), auf seinen Nacken zu laden (2c) und sie den Königen von fünf Kleinstaaten der Region zuzustellen, und zwar über deren Gesandte, die sich bei König Zidkija in Jerusalem aufhalten (V. 3). In den Vv. 4–11 offenbart Jhwh dem Propheten eine Deuterede, die die Übergabe der Jochgeschirre an die ausländischen Diplomaten begleiten soll, eingeleitet durch die Aufforderung an die Botschafter, die Rede an ihre Dienstherren zu übermitteln (V. 4). Der Sinn des Be3  Zwickel hat für hj'Am die Deutung erneuert, das Substantiv bezeichne lediglich Jochhaken, d. h. Pflöcke, die vertikal in den Jochbalken getrieben wurden, um den Jochbalken über dem Nacken des Zugtiers zu fixieren. Diese Interpretation ist indes wohl zu eng. Das Wort tritt in 27–28 wiederholt pluralisch auf (27,2b; 28,13de), doch für das Gerät, das Hananja in 28,10a.12a von Jeremias Nacken zerrt und zerbricht, tritt singularisches hj'Am ein. Die Erzähler von 27–28 stellten sich zudem kaum vor, dass Jeremia für seine Symbolhandlungen bloß einen oder mehrere Jochhaken und Stricke als Requisiten eingesetzt habe, denn es erscheint doch fraglich, ob sie damit das gemeinte Symbol (Joch) als hinreichend repräsentiert erachtet haben könnten. Um Festlegungen zu vermeiden, wird hier die Wiedergabe Jochstange bevorzugt, die einfach einen länglichen hölzernen Bestandteil des Jochgeschirrs bezeichnen soll.

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fehls, der Prophet solle die Last von fünf Jochgeschirren auf seinen eigenen Schultern transportieren (2c), erhellt erst aus Kap. 28, wo eine Jochstange auf Jeremias Rücken eine zentrale Rolle spielt (V. 10). Das Gerät ist dort schon bei seiner Erstnennung durch Artikel determiniert (hj'AMh; die Jochstange 10a) und wird somit als bekannt vorausgesetzt, obwohl es in der Hananja-Erzählung vorweg noch nicht zur Sprache kam. Der Befund erklärt sich aus der sekundären Verzahnung von 27* und 28*, im Zuge derer am Beginn der ersten Jhwh-Rede in 27 die aus den beiden Quellen bezogenen Aufträge verschmolzen wurden: 2c AlT (d. h. ohne das pluralische Objektpronomen sie) ist ein Fragment des weggebrochenen Anfangs der Hananja-Erzählung und betraf ehemals nur jenes Jochgeschirr, das der Heilsprophet in 28,10 von Jeremias Schultern zerrt, während 2b und V. 3 originär mit den folgenden Vv. 4–11 zusammengehören. Demnach vereint die Kombination der Kap. 27 und 28 zwei unterschiedliche, aber eng verwandte Symbolhandlungen Jeremias: In 27 versucht er, Jochgeschirre an Könige der Region durch ihre in Jerusalem weilenden Diplomaten zu schicken, und wendet sich so an ein internationales Publikum; in 28 schleppt er ein Jochgeschirr durch Jerusalem, um seine Mitjudäer anzusprechen. Die erste Gottesrede 27,2–11 wurde mehrfach erweitert. Der Vergabe der Weltherrschaft an Nebukadnezzar in V. 6 wurde nachträglich durch V. 5 ein aus 32,17 entlehntes schöpfungstheologisches Fundament vorgeschaltet. Wie nämlich der abrupte Beginn von V. 6 AlT mit asyndetischem qatal (yTit;n") bezeugt, ist dort der ehemalige Auftakt des in V. 4 eingeleiteten Deuteworts an die Empfänger der Jochgeschirre zu suchen. Nachdem V. 5 dazwischengetreten war, hat ein prämasoretischer Revisor durch den Einschub von ykinOa' hT'[;w> nun aber, ich … den Übergang geglättet. V. 7 verheißt bereits den Zusammenbruch des babylonischen Reiches, was dem umgebenden Appell zur Hinnahme der Fremdherrschaft zuwiderläuft. Die ungeschickte Platzierung, das Fehlen in AlT und prämasoretischer Idiolekt (TK) erweisen den Vers samt der Überleitung zum älteren Kontext 8a als späte Zutat. In deuterojeremianisch getränkter Sprache warnen die Vv. 9–10a sowie die zweite Rede Vv. *12–15, durch 15ab als Jhwh-Worte markiert, vor dem unheilvollen Einfluss von Mantikern, die im Ausland und in Juda gleichlautend (9c = 14b) zur Rebellion gegen Babylon aufrufen. Noch weitere Parallelen verbinden die beiden Passagen.4 Die Vv. 9–10a (sowie 10bc MT) führen die Anrede der in V. 3 aufgezählten Nachbarkönige fort und zählen mit Rücksicht auf die in ihren Heimatländern vorausgesetzte Wahrsagepraxis nicht weniger als fünf Arten einschlägiger Spezialisten auf (vgl. die ähnlichen Listen Dtn 18,10.14). Dagegen ist die zweite Gottesrede an Zidkija adressiert (12a) und rechnet in Juda einzig mit Propheten (14a). Die beiden parallelen Stücke gehören kaum der Grundschicht der Einheit an. Der an die Nachbarkönige gerichtete Passus beeinträchtigt die Balance zwischen den Hälften der ihnen unterbreiteten Alternative (Vv. 8 + 11). Das für Zidkija bestimmte Pendant ist insofern unvorbereitet, als der judäische König nicht zu den in V. 3 aufgezählten Empfängern der Jochgeschirre samt begleitendem Deutewort gehörte. Deswegen bedarf es nun auch einer separaten Rede, die ohne göttlichen Auftrag ergeht. Ihre Thematik kennzeichnet, dass sie nicht einfach die Botschaft an  In AlT: 9ab || 14a; 10a || 14c.15b; ferner ist 10bc MT aus 15bc ergänzt.

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die Nachbarkönige auf Juda zuschneidet, sondern sich weitgehend auf ein breiteres Gegenstück zur Falschprophetenpolemik in V. 9–10a beschränkt. Und wie jenes Korrelat spricht auch das Orakel für Zidkija ein pluralisches Publikum an, was zeigt, dass der König nur als innertextlicher Vertreter außertextlicher Adressaten fungiert. Zusammen mit der geprägten Sprache in den parallelen Passagen zeigen diese Indizien eine Redaktionsschicht an, die den älteren Textbestand zu einer umfassenden Kritik an antibabylonischer Prophetie verallgemeinert hat. Diese Falschprophetenredaktion dürfte für die Komposition Jer 27–29 insgesamt verantwortlich sein, denn wie sich im Fortgang zeigen wird, trägt 29,8–9 ebenfalls ihre Signatur, und vielleicht geht auch 29,23cd auf ihr Konto. Weiterhin wird sich herausstellen, dass die Redaktion die Tätigkeit einer Vorläuferin fortsetzte, die in ähnlicher Weise gegen Pseudoprophetie polemisierte und die Komposition *27–28 erstellte. Deshalb ist die Urheberin der Vv. 9–10a und 12ab.14–15 als zweite Falschprophetenredaktion zu bestimmen. Ihre Beiträge in Kap. 27 sind prämasoretisch v. a. durch 10bc und – nach dem Aufkommen an prämasoretischem Idiolekt zu schließen – 12c–13 erweitert worden, während AlT 34,10 (≙ MT 27,12b*.14ab*) ausweislich seiner Inkohärenz an gleicher Stelle einen versehentlichen Textverlust erlitten haben muss. Den Adressatenkreis von V. 3 verlässt auch die dritte Gottesrede in den Vv. *16– 22, gerichtet an Priester und Volk. Sie trägt einen erneuten Warnruf gegen Falschpropheten vor (V. 16*; vgl. V. 18*), der ihnen allerdings ein deutlich bescheideneres Programm ankreidet als die zweite Falschprophetenredaktion, denn er reduziert die Botschaft der Heilspropheten auf die Verheißung der Rückgabe der Tempelgeräte (16d). Diese Version steht den Worten Hananjas in 28,3 nahe und nimmt sie in einer Weise vorweg, die die folgende Szene ihres Überraschungsmoments beraubt. Die dritte Gottesrede fungiert folglich als redaktionelle Klammer zwischen *27,2–11 und 28*. Zu ihrer Beschaffenheit sind nach der textgenetischen Analyse von 28 weitere Einzelheiten nachzutragen. Dabei wird sich ergeben, dass hier die erste Falschprophetenredaktion zu greifen ist, die den Komplex *27–28 schuf. 27,16–22 wurde in der Spätphase des Textwachstums besonders intensiv ausgebaut. Zum einen wurde die Idee vom Dienst am König von Babel als Weg zum Leben eingetragen (V. 17 wie schon 12cd). Das bevorzugte Augenmerk galt indes der materiellen Beute der Babylonier: Während die alexandrinische Version der Vv. 18–22 nur ankündigt, es würden zusätzliche Kultgeräte nach Babylonien entwendet werden, sollen laut der masoretischen Fassung sämtliche verbliebenen Preziosen aus Tempel, Palast und Stadt bei der Einnahme Jerusalems in die Hände der Eroberer fallen, aber auch später zurückerstattet werden. Dieses Kontinuitätsmotiv reklamiert die Identität der Jerusalemer Wertgegenstände in der nachexilischen Epoche – einschließlich der Kultrequisiten – mit jenen der Königszeit. Weil sich die Kontroverse zwischen Jeremia und seinen heilsprophetischen Widersachern damit auf unterschiedliche Erwartungen an die Dauer der Konfiskation verminderte, hat man in das Zitat seiner Gegner in 16d noch die Fristangabe und zwar bald eingefügt. Dass die erste Gottesrede mit ihren Aufträgen ursprünglich einen Ausführungsbericht besaß, der durch 28* ersetzt wurde, ist wenig wahrscheinlich, denn vergleichbare Berichte von prophetischen Symbolhandlungen kommen häufig ohne dieses Ele117

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ment aus,5 wie Prophetenaufträge überhaupt (s. zu 26,8). So dürfte die Grundschicht von 27 in den Vv. 2ab.3–4.6.8.11 ganz oder annähernd unversehrt erhalten geblieben sein. Die Quelle muss zeitnah entstanden sein, denn der Besuch der Diplomaten bei Zidkija wird als wohlbekanntes Ereignis behandelt, das keiner Erläuterung bedarf. Andererseits bedroht das Deutewort Vv. 8 + 11 den Widerstand gegen die Babylonier mit dem Untergang (bis ich sie aufgerieben habe durch seine Hand 8b AlT), während der Lohn für die Bereitschaft, sich der göttlich verliehenen Herrschaft der Babylonier zu fügen, im Ausbleiben der Deportation bestehen soll (11ade), was darauf hindeutet, dass der Verfasser bereits auf die Katastrophe von 587 zurückschaute. Er eröffnete sein kleines Werk in typisch deuterojeremianischer Manier mit der zur Zitatformel abgewandelten prophetischen Botenformel 2a (s. zu 26,2), wie es auch in den im Ich Jeremias stilisierten, deuteronomistischen Berichten von prophetischen Zeichenakten in 13,1–11 und 19,1–13 geschah (vgl. 13,1a AlT; 19,1a; ferner 22,1a; 25,15a). Auf einen ähnlichen Horizont weisen das bei Autoren dieses Schlages besonders beliebte Epitheton Gott Israels (4b) sowie die Wendungen mit Schwert und Hunger heimsuchen (8b; vgl. 11,22; 15,3; 44,13) und dem König von Babel dienen (11bc; Kon 99). Auch die Ansage gegensätzlicher Konsequenzen für alternative Verhaltensweisen wie in den Vv. 8 + 11 ist ein typisches, wenngleich nicht ausschließliches Merkmal deuterojeremianischer Theologen.6 Man wird daher die Abfassung nach der Einnahme Jerusalems zu datieren haben, aber nicht zu fern davon, sodass das Deutewort noch glaubwürdige Erinnerungen an die Prophetie Jeremias vor der Katastrophe bewahren konnte (vgl. die ähnliche Alternative 38,17.21–22). In 28 bestätigt schon der erste Satz, dass die Hananja-Erzählung sekundär mit 27* verknüpft wurde. Denn die originale, in AlT einzige Datierung im vierten Jahr Zidkijas, des Königs von Juda (1a) hat kein Korrelat in Kap. 27. Erst ein prämasoretischer Ergänzer stellte ihr ohne Rücksicht auf den eklatanten Widerspruch eine zweite Zeitangabe zur Seite: im selben Jahr, am Anfang der Königsherrschaft Zidkijas, und verklammerte so die Hananja-Erzählung explizit mit dem Vortext. Die zusätzliche Datierung verlegt Jeremias Erfüllung der in 27,2–11 erteilten Aufträge sowie die beiden Reden in 27,12–22 rückwirkend an den Beginn der Regierung Zidkijas. Dabei fallen die Gemeinsamkeiten der problematischen masoretischen Datierungen in 27,1 und 28,1a auf: Beide betonen das Thronbesteigungsjahr, ausgedrückt durch ein idiolektales Element (tk,l,m.m; tyviarEB. am Beginn der Königsherrschaft; TK). Folglich griff hier wie dort derselbe Bearbeiter ein, der die in 27–28 geschilderten Ereignisse im Jahr des Herrschaftsantritts Zidkijas verankern wollte, sich aber in 27,1 an 26,1 anlehnte und versäumte, sein Vorbild an den neuen Kontext anzupassen (s. o.). So ist zwar 28* unabhängig von Kap. 27 entstanden, doch kann 28,1 AlT nicht den originalen Auftakt darstellen, weil V. 10 – wie betont – das Jochgeschirr auf dem Nacken Jeremias wie eine bekannte Größe behandelt, obwohl es innerhalb des Kapitels hier erstmals vorkommt. Demnach hat 27* einen älteren Erzählbeginn ersetzt, der einen Gottesbefehl zur Symbolhandlung in 28* umfasst haben muss, woraus lediglich 5 Vgl.

z. B. 16,1–9; 19,1–13; 43,8–13; 51,59–64d; Jes 7,3–9 u. ö. 7,3–15; 21,8–9; 17,19–27; 22,3–5; sonst etwa 38,17.(18.)21–23; vgl. 40,4–5.

6 Deuterojeremianisch:

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das Fragment 27,2c AlT in den neuen Textanfang eingegangen sein dürfte. Vermutlich hat 27* auch ein älteres Deutewort verdrängt. Bei der redaktionellen Fusion der beiden Quellen wurde 28 eingangs zum Ich-Bericht umgeformt (Hananja … sagte zu mir 28,1b), eine inkonsequente Kontextanpassung, wie die Tatsache zeigt, dass der Umschlag zum Er-Bericht mit V. 5 an einer Stelle eintritt, wo keine Schichtengrenze verlaufen kann. Der letztere Befund untermauert zusätzlich, dass hier zwei separate Einheiten verklammert wurden, denn wäre 28* eine Fortschreibung von 27*, wäre in 28 durchgehend das Ich des Propheten zu erwarten. Bis V. 14 verläuft die Hananja-Erzählung spannungsfrei. Ihre Exegese wird ergeben, dass sie zu den ältesten narrativen Stücken des Buches gehört und noch zu Lebzeiten Jeremias abgefasst wurde, und zwar im oder bald nach dem fünften Jahr Zidkijas (593/2) und jedenfalls vor dem Beginn der babylonischen Belagerung Jerusalems (589/8). Dagegen sind die Vv. 15–17 jüngeren Datums. In den Vv. 12–14 erhält Jeremia den göttlichen Befehl, seinem Widersacher eine Strafrede auszurichten, die an Hananjas Zerbrechen der Jochstangen erinnert und daran ein Orakel knüpft, das die babylonische Herrschaft in Metaphern kleidet, die mit solchen Gerätschaften operieren: Hananja werde das hölzerne Joch durch ein eisernes ersetzen. Die aufgetragene Rede ist somit sachlich und terminologisch eng mit dem Vortext verzahnt (vgl. 13de mit V. 10–11). In den Vv. 15–16 hingegen übermittelt Jeremia seinem Gegenspieler ein prophetisches Gerichtswort, das keine Gemeinsamkeiten mit dem Redebefehl Vv. 13d–14 aufweist. Dabei reicht das Scheltwort (der Schuldaufweis) über die vorweg erzählte Situation hinaus, denn es verurteilt weder Hananjas Ansage des Endes der babylonischen Weltherrschaft samt der Heimkehr der geraubten Tempelgeräte, des Königs Jojachin und der Gola (Vv. 2–4.11), noch verdammt es seinen Gewaltakt gegen Jeremia (V. 10), sondern es beschuldigt Hananja ganz allgemein der Falschprophetie, die ohne Rücksicht auf ihren Inhalt charakterisiert wird durch das unspezifische Summarium, er habe das Volk auf Trug vertrauen lassen (15d). Zudem hatte Jeremia in V. 9 erklärt, die göttliche Sendung eines Heilspropheten sei an der Bewahrheitung seiner Vorhersagen abzulesen. Dieses Kriterium war gemünzt auf Hananjas Verheißung in den Vv. 3–4, Jhwh werde binnen zwei Jahren (3a; vgl. 11c MT) die Wende herbeiführen (wobei die zwei Jahre nach der für die Antike typischen inklusiven Zählweise das laufende und das kommende Jahr meinen, also in heutiger Sprache: ein Jahr). Danach müsste einfach das Verstreichen der selbstgesetzten Zeitspanne den prophetischen Anspruch Hananjas Lügen strafen. In 15c jedoch wird seine Inauthentizität von Jeremia vorab autoritativ festgestellt, um sich dann in V. 17 lange vor dem Ablauf der Jahresfrist bereits zwei Monate später (vgl. 1a) zu bestätigen, indem die Ankündigung seines baldigen Todes (16c) eintrifft. Zu alldem gebraucht der Passus mit der Wendung auf Trug vertrauen lassen (rq,v,-l[; xjb‑H 15d) einen Ausdruck, der auf den/die Verfasser der individuellen Prosaorakel deutet. Er kehrt einzig in 29,31 wieder, dort ebenfalls kombiniert mit dem Vorwurf, nicht von Jhwh gesandt zu sein. Auf dieselbe Schicht weist die Drohung zu „sterben“ (16c). Der formelhafte Schuldaufweis 15cd lässt sich keinem späteren Eingriff zuschreiben, da dies auf die These hinausliefe, dass das Gerichtswort erst im Zuge von Wachstumsprozessen seine gattungsgerechte Form angenommen habe. Dasselbe gälte für das Wortspiel, das Schelt‑ und Droh119

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wort verknüpft: Weil Hananja sich als Prophet aufführt, obwohl Jhwh ihn nicht geschickt hat (xlv‑G 15c), wird Jhwh ihn vom Erdboden wegschicken (xlv‑D 16b). Die Vv. 15–17 bilden somit eine redaktionelle Zutat, was dann auch für die Datierung im fünften Monat in 1a gelten muss. Der Schöpfer der individuellen Prosaorakel hatte ein persönliches Strafwort für Hananja vermisst und trug es nach, entsprechend seinem Anliegen, durch göttliche Belohnung oder Strafe für verdiente oder schuldverstrickte Akteure aus dem Umkreis Jeremias Gerechtigkeit herzustellen. Die Fortschreibungen setzen bereits den Einbau der Falschprophetenkomposition ins Jeremiabuch voraus, da die betreffende Redaktion ihre Spuren buchweit gestreut hat. Zusätzliche Hinweise zu ihren Tendenzen folgen unten bei 29,24–32. Mit den an 28 gesammelten Beobachtungen lässt sich das Verfahren jenes Redaktors, der mittels *27,16–22 die beiden Quellen *27,2–11 und *28,1–14 verkoppelte, präziser beschreiben. Zunächst gestaltete er seinen Beitrag als Ich-Bericht (16a) und dehnte diese Verfasserfiktion anfänglich auf seine zweite Quelle aus, indem er in der Einleitung zur ersten Rede Hananjas yl;ae zu mir ergänzte (28,1b1). Möglicherweise glich er sich dabei nur der Gepflogenheit an, jeremianische Symbolhandlungen überwiegend als Selbstberichte zu stilisieren.7 Aus 28* entlehnte er das Publikum (die Priester und alles Volk 27,16a; vgl. 28,1b2.5.7b.11a; AlT 10a), die Verknüpfung des symbolischen Aktes mit einem innerprophetischen Konflikt und dessen Zuspitzung auf die Tempelschätze. Dabei ging er in zwei Hinsichten über die Hananja-Erzählung hinaus: Während Jeremia dort nur die Erwartung der Rückkehr verwirft (28,6–9), prophezeit er in 27,19–22 AlT den Raub weiterer Kultgeräte (zu MT s. o.). Ferner vermehrte der Redaktor die Gegner Jeremias auf eine Vielzahl heilsprophetischer Widersacher (27,16ce.18) und erhob so die Zeichenhandlung zum Fanal gegen eine breite heilsprophetische Strömung. Folglich sah er sich nach wie vor genötigt, eine wirkmächtige, prophetisch unterstützte Heilstheologie zu bekämpfen, obwohl er laut 27,19–22 bereits auf die Niederlage von 587 zurückschaute. Für seine Zwecke verzahnte der Redaktor zwei Berichte von symbolischen Akten Jeremias mit Jochgeschirren. Mit der Stimme der ersten Quelle verankerte er die babylonische Weltherrschaft in einem Dekret Jhwhs, begleitet von alternativen Ankündigungen für jene, die rebellierten, und jene, die sich fügten. Mit dem zweiten Dokument hob er auf die dissonanten prophetischen Voten zur Lage ab, ein Thema, das er in seinem Verbindungsstück weiter ausbaute. Darin festigte er auch die Autorität seines prophetischen Gewährsmanns, indem er ihm die korrekte Vorhersage des Verlusts weiterer Kultgeräte in den Mund legte. Da bereits eine jüngere Falschprophetenredaktion in 27,9–10a.12–15* identifiziert wurde und keine weitere zutage treten wird, ist in *27,16–22 die erste Falschprophetenredaktion zu erkennen, die die erste Falschprophetenkomposition *27–28 hervorbrachte. 29 beansprucht, einen Brief Jeremias an die Jojachin-Gola zu überliefern. Voran steht die Einleitung Vv. 1–4, die, von der Syndese in 1a abgesehen, mit einem absoluten Textanfang anhebt, der Dtn 1,1 ähnelt. Der Vorspann unterstellt das Folgende explizit der Autorschaft Jeremias und informiert über Entstehungsumstände und  13,1–11; 16,1–9 MT; 19,1–13 AlT; 32,6–15; vgl. 18,1–12; 43,8–13; 51,59–64.

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Adressaten. Dazu charakterisiert er das Schreiben durch einen Relativsatz, der sich von 1b bis zum Ende von V. 3 erstreckt und u. a. eine ausgedehnte Datierung durch Präposition, Infinitivus constructus und eine Kette von Akteuren (V. 2) enthält sowie zusätzliche Relativsätze einbettet (1c.3b). V. 2 wartet zwar mit etlichen Einzelheiten auf, hält aber die Zeitangabe so allgemein, dass der Passus ohne Verlust entfallen könnte, denn er spricht bloß die Selbstverständlichkeit aus, dass Jeremia seinen Brief an die Gola richtete, nachdem diese im Zuge der ersten Deportation von 597 entstanden war. So wird die gesamte Zeitspanne offengehalten, die sich aus V. 3 und dem kompletten Buch ohnehin ergibt, nämlich von der ersten Exilierung bis zu jener Phase, als die Kriegsereignisse infolge des babylonischen Feldzugs von 589/7 solche Kontakte unterbunden haben dürften. Wenn V. 3 die Zustellung des Schreibens in die Hände einer diplomatischen Delegation verlegt, die im Auftrag Zidkijas zum König von Babel reiste, hätten zeitnahe Leser damit vermutlich konkretere Erinnerungen verknüpfen können, doch V. 2 nutzt dieses Detail nicht zu einer engeren Fixierung des Vorgangs im eröffneten maximalen Zeitrahmen. So gibt es etwa keinen Grund, die Gesandtschaft mit der in 51,59 erwähnten Mission aus dem vierten Jahr Zidkijas zu identifizieren. Weiterhin teilt V. 2 Gemeinsamkeiten mit 2 Kön 24,12.14–16 und Jer 24,1 (vgl. Bar 1,9), insbesondere in dem Wortpaar Schmied(e) und Schlosser, das nur hier und in 2 Kön 24,14.16; Jer 24,1 belegt ist. Daneben stehen jedoch gravierende Unterschiede: Wenn König Jojachin hinausgeht (acy), meint dies im Gegensatz zu 2 Kön 24,12 nicht die Kapitulation, sondern die Deportation, wie die Liste seiner Begleiter zeigt. Ferner verschweigt 29,2 die Urheberschaft der Babylonier: Während hier die Exilanten einfach aus Jerusalem fortgehen, werden sie in den Parallelen von den Babyloniern nach Babylon verschleppt (hlg‑H 2 Kön 24,14.15; Jer 24,1; Bar* 1,9), als Verschleppte weggeführt (hl'AG %lh‑H 2 Kön 24,15) oder als Verschleppte weggebracht (hl'AG awb‑H 2 Kön 24,16; vgl. Jer 24,1; Bar* 1,9). Außerdem erwähnt nur 29,2 die Königsmutter unter ihrem Titel Herrin (hr"ybiG>; vgl. 2 Kön 24,12 AMai seine Mutter; 24,15 %l,M,h; ~ae die Mutter des Königs). Für das Verhältnis zum Kontext zählt auch der Umstand, dass V. 2 bei der Zusammensetzung der Exilsgemeinde von ganz anderen Gruppen ausgeht als V. 1. Überdies entfernt V. 2 die Umstandsangabe … hf'['l.a, dy:B. durch Elasa … 3a sehr weit von ihrem zugehörigen Prädikat xl;v' er sandte 1b, ein Effekt, der durch prämasoretische Einschübe nochmals gesteigert wurde. Nach alldem liegt in V. 2 wahrscheinlich eine Glosse vor, die sich lose an 2 Kön 24,12–16 anlehnt.8 Die Einleitung identifiziert bei ihren verschiedenen Nachrichten über Bewegungen zwischen Juda und dem Aufenthaltsort der Exilanten immer nur den heimatlichen Pol durch den Ausdruck ~Il'v'Wrymi aus/von Jerusalem. So hält 1b den Allgemeinplatz fest, dass Jeremia seinen Brief aus Jerusalem geschickt habe, während die Adressatenangabe bloß Personengruppen aufzählt: an die Ältesten der Gola, an die Priester usw., ein Anlass für einen prämasoretischen Ergänzer, den konkreten Aufenthaltsort Babel nachzutragen (1c), allerdings in spannungsvoller Weise. Denn nunmehr muss V. 2 – 8  V. 2 hat darüber hinaus mit Jer 24,1 und Bar* 1,9 die sehr spezifische Übereinstimmung gemein, dass diese Quellen den Rückblick auf die erste Verbannung als Infinitivkonstruktion mit yrEx]a; formulieren. Hier dürfte indes 24,1 aus 29,2 abgeleitet sein (s. z. St.), um dann seinerseits das Vorbild für Bar 1,9* abzugeben.

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im Hebräischen nur eine Präpositionalgruppe mit Infinitiv – zunächst als Bestandteil eines von 1c eröffneten Satzes erscheinen, sodass es klingt, als bezeichne er einen zweiten, separaten Deportationsschub, der erst nach den in V. 2 beschriebenen Vorgängen stattfand. Laut V. 2 sind die Exilanten im Zuge der ersten Deportation von Jerusalem fortgegangen (acy), doch ihr Ziel bleibt unerwähnt  – im Unterschied zu der Parallele 24,1, die ausdrücklich hinzusetzt: und er (Nebukadnezzar) brachte sie nach Babel (lb,B' ~aebiy>w: 24,1c). Laut 4b schließlich hat Jhwh die Gola aus Jerusalem verschleppt, und wie in V. 1 blieb es einer prämasoretischen Hand überlassen, das Ziel nach Babel beim Namen zu nennen. Anders verfährt dagegen 3b mit der Notiz, dass Zidkija seine Diplomaten zum König von Babel nach Babel gesandt habe, aber hier geht es um die Residenz Nebukadnezzars, nicht den Standort der Exilanten. Die gegensätzliche Behandlung der beiden Pole der Achse ist gut erklärlich, wenn der Vorspann für ein Publikum in der Gola bestimmt war, das nicht an seine derzeitige Heimat erinnert zu werden brauchte. Eine mesopotamische Herkunft der Einleitung fügt sich überdies zu der Tatsache, dass der Brief an die Gola gerichtet ist und dort über den Tag hinaus Orientierung zu spenden geeignet war. Es ist nicht auszuschließen, aber auch nicht beweisbar, dass der Vorspann 29,1.3–4 erst durch den zweiten Falschprophetenredaktor abgefasst wurde, als er den Briefauszug in seine Komposition aufnahm. Alternativ könnte die historisierende Glosse V. 2 auf ihn zurückgehen. In V. 5 beginnt das Schreiben ohne das übliche Präskript mit einem Aufruf an die Verbannten, sich auf eine Verweildauer in der Größenordnung von Generationen einzurichten, weswegen ihr Überleben nur durch Fortpflanzung zu ermöglichen sei (V. 5–6). Dabei trat erst prämasoretisch 6e damit sie Söhne und Töchter gebären hinzu, um wie der Überschuss 27,7 die Vorstellung eines drei Generationen währenden Exils einzutragen. Der Appell zum Selbsterhalt schließt notwendig eine Zukunftsperspektive ein und stellt damit indirekt das Ende des Exils in Aussicht, vermeidet es aber im Unterschied zu V. 10–14, die Heimkehr anzukündigen oder gar ein Datum zu nennen. Hier spricht ein Autor, dem die Macht des babylonischen Reiches noch felsenfest erschien, sodass er den Fortbestand der verschleppten Judäer sichern zu müssen meinte, indem er sie drängte, einen konstruktiven Umgang mit dem unabsehbar langen Verbleib in der Fremde zu finden. Die Ungewissheit über die Dauer der Deportation setzt eine Abfassungszeit deutlich vor 539 voraus. Weil die Problemsicht zur „probabylonischen“ Haltung Jeremias passt, wie häufig und zuletzt in Kap. 27–28 dokumentiert, ist bei den Vv. 5–7 gut denkbar, dass sie tatsächlich einem authentischen Schreiben des Propheten entstammen, wie es der Vorspann behauptet. Die ursprüngliche Fortsetzung von V. 5–7 ist wahrscheinlich in der zitierten Rede der Adressaten V. 15 sowie dem Strafwort gegen die exilischen Propheten Ahab und Zidkija in V. 21–23 zu finden. Denn V. 15 führt die Vv. 5–7 sinnvoll weiter, steht aber zu den Vv. 8–14 in Spannung. Weiterhin ist er mit den Vv. 21–23 durch die Thematik der Falschprophetie in der Gola verbunden, während das masoretische Sondergut Vv. 16–20 hierzu schweigt, stattdessen ein uneingeschränkt positives Bild der Prophetie voraussetzt (V. 19) und ohnehin durch mehrere Merkmale des prämasoretischen Idiolekts als später Einschub erwiesen wird (TK). Was das Verhältnis von V. 15 zu seinem Vortext angeht, so taugen die Worte der Exilanten in 15a zwar als Zurückweisung 122

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von V. 5–7, nicht aber als Replik auf die Vv. 8–14. Denn wenn die Sprecher auf Propheten in den eigenen Reihen verweisen, bringen sie wie eine Neuigkeit vor, was in V. 8–9 schon die Zielscheibe der Polemik abgab. Ferner verkünden die Vv. 10–14a AlT derart affirmative Heilsprophetie zugunsten der Gola, dass man sich fragt, warum die Verbannten es trotzdem lieber mit anderen Orakelspendern halten. Weiterhin deuten darstellerische Aspekte in V. 21–23 wie bei V. 5–7 auf ereignisnahen Ursprung. Der Verfasser präsentiert Ahab und Zidkija als wohlbekannte Figuren, die keine Vorstellung benötigen. Filiationen waren entbehrlich (21a AlT), und nicht einmal über ihre Botschaft brauchte das implizierte Publikum unterrichtet zu werden. Natürlich musste es sich um antibabylonische Heilspropheten handeln, die nach Art Hananjas ein rasches Ende des Exils verhießen, was den Kollaps des mesopotamischen Großreiches einschloss (vgl. 28,2b.4b.11c). Wenn die Adressaten in V. 15 mit dem Verweis auf Propheten in der Gola die Appelle in den Vv. 5–7 abwehren, personifizierten Ahab und Zidkija das Gegenprogramm zu Jeremias Brief. Außerdem wird sich die babylonische Justiz kaum mit demonstrativ brutalen Kapitalstrafen (22d) in private Händel der Exilanten eingemischt haben (23ab), wobei es zufällig Propheten traf. Ein derart auf Abschreckung kalkuliertes Durchgreifen war vielmehr angezeigt, wenn man an Rädelsführern aufrührerischer Umtriebe ein Exempel statuieren wollte. Dagegen hat wohl erst eine redaktionelle Hand mit 23cd den expliziten Vorwurf der Falschprophetie erhoben, der nach 23ab die Exekution ein zweites Mal motiviert, noch dazu in geprägter Sprache (vgl. für eine ähnliche Formulierung Dtn 18,20; ferner Kon 116.135). Auf einen Nachtrag deutet zusätzlich die Betonung der Zeugenschaft Jhwhs 23e, die zwar zur Anklage des normalerweise klandestinen Ehebruchs passt, nicht aber zur naturgemäß öffentlichen Prophetie. Thematisch harmoniert der Zusatz am ehesten mit der bereits in 27–28 identifizierten zweiten Falschprophetenredaktion, die vielleicht den Vorspann Vv. 1–4 verfasst (s. o.) und, wie sogleich darzulegen ist, auch 29,8–9 eingetragen hat. Folglich verfuhr der Autor des originalen Drohworts wie jemand, der über die wahren Gründe für die Todesstrafe Ahabs und Zidkijas durchaus im Bilde war, es aber vorzog, darüber zu schweigen und die beiden durch den Ersatztatbestand sozialschädlicher sexueller Zügellosigkeit zu diskreditieren. Wenn der Verfasser diesen Umweg wählte, muss er den beiden exilischen Propheten, obwohl offenbar bereits hingerichtet, noch einen beachtlichen Anhang zugetraut haben. Wenn er überdies vermied, ihre Botschaft zu zitieren, fürchtete er anscheinend weiterhin deren Zugkraft; allerdings können auch Rücksichten auf die Empfindlichkeiten babylonischer Behörden eine Rolle gespielt haben. Als Zielscheibe des Passus schälen sich somit Kreise in der Gola heraus, die, durch den heilstheologischen Enthusiasmus prophetischer Wortführer vom Schlage Ahabs und Zidkijas bestärkt (15b), den baldigen, wunderhaft herbeigeführten Zusammenbruch des Großreiches erwarteten und die beiden Opfer babylonischer Insurrektionsbekämpfung als ihre Märtyrer verehrten. Leider wissen wir nichts darüber, was solche Haltungen für das Leben der Exilantengemeinde konkret bedeuteten. Jedenfalls sah der Autor Grund genug, antibabylonischer Obstruktion entgegenzutreten. Dies tat er durch den Versuch, das Schicksal der Galionsfiguren umzuwerten, indem er die Todesstrafe auf andere Delikte zurückführte und den 123

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Anspruch erhob, Jhwh habe sein Urteil über die beiden gesprochen, indem er ihr grauenvolles Ende vorweg prophetisch annoncierte (V. 21). All dies deutet auf realweltliche Verankerung der Textdetails und zeitnahen Ursprung. Da das Stück obendrein eine negative Folie zum Optimismus der Vv. 5–7 abgibt, indem es an einem drastischen Exempel die Risiken der Missachtung des Gotteswillens veranschaulicht, erscheint es nicht abwegig, in V. 15.21–23abe ein weiteres Fragment aus Jeremias Brief zu erkennen (das nicht notwendig die unmittelbare Fortsetzung von V. 7 gebildet haben muss). Der Vorwurf des Ehebruchs gegen Falschpropheten ist in einem wahrscheinlich authentischen Kontext auch in 23,14 belegt. Nach V. 5–7 warnen die Vv. 8–9, durch die neuerliche Botenformel 8a abgehoben, in ähnlicher Weise vor irregeleiteten Mantikern unter den Exilanten, wie dies zuvor die zweite Falschprophetenredaktion in 27,9–10a.12ab.14–15 getan hatte. Wie dort wird den bekämpften Wahrsagern angelastet, dass sie in meinem Namen Trug prophezeien (ymiv.Bi rq,v, abn-N 9a; 27,15b; vgl. rq,v, abn-N 27,10a.14c.15cAlT), obwohl ich sie nicht gesandt habe (~yTix.l;v. al{ 9b; 27,15a), Dazu tritt der Vorwurf, ihr Publikum zu täuschen (avn-H 8b), während im Unterschied zu den korrespondierenden Passagen in Kap. 27 explizite Angaben zur Botschaft der attackierten Divinatoren fehlen. Da, wie sogleich zu begründen ist, in V. 10–14 jüngere theologische Stimmen das Wort ergreifen, gingen die Vv. 8–9 ehemals direkt dem Passus zu Ahab und Zidkija V. 15.21–23abe voraus, zu dem sie allerdings in Spannung stehen, denn V. 15 zitiert die Exilanten mit einem Hinweis auf Propheten in ihren eigenen Reihen, der nach V. 8–9 zu spät kommt, weil dort deren Existenz bereits vorausgesetzt wird. Die Vv. 8–9 sprengten demnach erstmals den alten Zusammenhang Vv. 5–7 + 15.21–23abe auf. Wie somit ihre Kontexteinbettung und Sprache nahelegen, entstammen sie ebenfalls der zweiten Falschprophetenredaktion (wie wohl auch 23cd und vielleicht die Vv. 1.3– 4 bzw. 2; s. o.). Wenn der Redaktor zum Kerygma seiner Gegner schweigt, dürfte der Grund derselbe sein wie bei seiner Vorlage, die mit Ahab und Zidkija ebenso verfuhr: Er rechnete mit einer einschlägig informierten Hörerschaft, ein Indiz, dass er selber in Exilantenkreisen tätig war. Obendrein sagten seine früheren Einschübe, der Kontrast zu V. 5–7 sowie die ursprüngliche Fortsetzung V. 15.21–23abe genug. Der zweite Falschprophetenredaktor hat somit den gesamten Block 27–29 bearbeitet und wohl auch durch die Vereinigung von *27–28 mit 29* allererst komponiert. Er kreierte oder erweiterte also einen Komplex, der dem Jeremiabrief ohne materialbedingte Notwendigkeit (vgl. 28,1 AlT mit 29,2) die privilegierte Schlussposition zuwies und somit selbst am ehesten in ein exilisches Milieu passt. Dabei wirkte der Redaktor in einem Umfeld, wo die Frage der rechten Haltung zu den Babyloniern noch immer für Streit sorgte, wie es die „Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums“ (34,7 + *37,3–43,7b) für die Gola zwischen 587 und spätestens 570 bezeugt (s. zu 43,7). So entstand ein Dokument, das Falschprophetie – verstanden als antibabylonische Agitation mit Offenbarungsanspruch – nacheinander in drei geographischen Räumen angriff, jeweils durch neu geschaffene Gottesworte verstärkt: in den Nachbarstaaten (*27,2–11, mit dem redaktionellen Kommentar 9–10a), in Juda (*27,12–28,14, mit dem Eigenbeitrag 27,12ab.14–15) und schließlich unter den Deportierten (*29,1–23, mit den Einschüben Vv. 8–9 und 23cd[?]). Deshalb erscheint es 124

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wohlberechtigt, die Wirkungsstätte des Redaktors in Mesopotamien zu suchen; dies gilt umso mehr, wenn auch *29,1–4 auf ihn zurückgeht. Für sein Werk bewährt sich *Rudolphs Beschreibung als „Kampfschrift gegen falsche Propheten, die im Exil vorschnell politische Hoffnungen erweckten“. Nochmals durch eine separate prophetische Botenformel abgesetzt, aktualisiert 29,10–14a das Sendschreiben Jeremias für eine Situation, wie sie wahrscheinlich für die frühnachexilische Epoche typisch war. Der Zusatz bereichert Jeremias briefliche Prophetie an die Gola um eine Rückkehrverheißung, die auf dem Konzept basiert, dem babylonischen Reich sei von vornherein eine Lebensspanne von siebzig Jahren beschieden gewesen (10b). Die aus 25,11–12 entlehnte Zahl ließ sich aus judäischer Warte auf die mesopotamische Großmacht anwenden, weil sie grob der Dauer der babylonischen Herrschaft über die Levante entsprach (s. z. St.). Demzufolge schaute dieser Redaktor bereits auf das Ende des Exils zurück. Wenn er ferner das Ziel der Reise mit dem Ausdruck dieser Ort (10c) belegte, verrät er damit seinen judäischen Blickwinkel aufgrund bereits erfolgter Heimkehr. Ein Jerusalemer Verfasserstandort reimt sich überdies gut mit der Tendenz des Einschubs zusammen. Der Passus artikuliert ein außerordentliches Selbstbewusstsein der ehemaligen Exilanten: Sie sind Empfänger einer Restitutionsverheißung (10c) und Gegenstand von Jhwhs Heilsgedanken (V. 11); sie erfreuen sich Jhwhs Zusicherung, er werde sie erhören (12d) und ihnen seine Nähe gewähren, indem sie ihn finden (13b); ja, nach 14a AlT werde er ihnen sogar erscheinen (har-N). Gewiss sind diese Zusagen an Bedingungen geknüpft: Die Verbannten sollen zu Jhwh beten, nach ihm verlangen und ihn von ganzem Herzen suchen (12c.13ac).9 Doch wenn ihnen dies im Angesicht des Exilsendes (oder gar erst nach der Heimkehr) gesagt wird, können sie bilanzieren, dass ihre Bemühungen Jhwhs Wohlgefallen gefunden haben. Gestützt auf diese Heilsprivilegien, dürfte der Zusatz einen gebührenden Platz für die ehemaligen Exilanten im Leben der nachexilischen persischen Provinz Jehud eingefordert haben. Nach der Unheilsansage über Ahab und Zidkija 29,21–23 wechselt V. 24 unvermittelt von der pluralischen Anrede der Gola (vgl. 29,5–15.19c–21) in den Singular mit dem Befehl an einen einzelnen (maskulinen) Adressaten, einem bislang unerwähnten Mann eine Rede auszurichten: Zu Schemaja aus Nehelam aber sollst du sagen (V. 24). Wer spricht hier zu wem? Da in V. 25 MT und AlT weit auseinandergehen, ist zunächst der Befund in MT zu erheben. Dort schließt sich in 25a eine Botenformel an, die die Fortsetzung als Gotteswort ausweist. Weil zuvor weder der Briefrahmen formell beendet noch eine neue Kommunikationssituation gestiftet worden ist, hat es kurzzeitig den Anschein, als ob Jhwh in V. 24 einfach im Rahmen der brieflich übermittelten Prophetie seine Rederolle behielte, wie zuletzt erneuert durch die Botenformel 21a und repräsentiert durch das Ich Jhwhs nebst Gottesspruchformel im vorhergehenden Satz 23e. Die aufgetragene Gottesrede 25b–28 wird eingangs als Protasis eines Kausalgefüges markiert (rv,a] ![;y: weil 25b). Darin wird Schemaja vorgeworfen, er habe auf dem Postweg das gesamte Volk in Jerusalem (25b1c), alle Priester sowie speziell den auch aus 21,1 und 37,3 bekannten, hier als  Zu der Theorie, V. 12c–14a sei von Dtn 4,29 abhängig, s. weiter unten.

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Chef der Tempelpolizei identifizierten Zefanja ben Maaseja (25b2–26) aufgefordert, gegen prophetische Aktivitäten Jeremias einzuschreiten (V. 27). Dabei habe Schemaja zur Begründung aus dem Jeremiabrief zitiert, wie zuvor wiedergegeben (28c–f || V. 5). Demnach attackiert das Scheltwort bereits eine Reaktion auf den Brief des Propheten mit der Konsequenz, dass die Vv. 24–32 nicht mehr seinem Schreiben angehören können. So stellt sich indirekt heraus, dass die singularische Anrede in V. 24 nicht die Adressatenschaft des Jeremiabriefs verengt, sondern den Briefrahmen überhaupt ohne nähere Kennzeichnung abrupt aufgibt. V. 29 berichtet dann, Zefanja habe dem Propheten das Schreiben Schemajas vorgelesen. Anschließend leitet die Wortereignisformel V. 30 eine weitere Gottesrede ein, nun ausdrücklich für Jeremia bestimmt, mit dem Auftrag, ein Gerichtswort über Schemaja an die Verbannten zu senden (Vv. 31–32). Dies bekräftigt die vom Kontext nahegelegte, aber nirgends explizit bestätigte Erwartung, dass sich der Redebefehl Vv. 24–28 ebenfalls an Jeremia wandte. Darüber hinaus können die Leser den Vv. 30–31 noch zwei weitere Informationen zum Verständnis der Vv. 24–28 entnehmen: Erstens stellt sich nun nachträglich zweifelsfrei das Exil als Standort Schemajas heraus, und zweitens kann der Redeauftrag an Jeremia in V. 24 nicht wörtlich gemeint sein, da der Empfänger ja fernab in Mesopotamien weilt. Wo folgt die Apodosis der mit 25b anhebenden Kausalperiode? Darauf lässt der Text zwei gegensätzliche, jeweils mit gravierenden Problemen belastete Antworten zu. Laut der ersten Leseweise endet die durch 25a eröffnete Gottesrede mit V. 28, und in den Vv. 29–30 ergreift die Erzählerstimme das Wort, die in V. 1–3 zu vernehmen war. Infolgedessen entfällt die Apodosis, sodass die Vv. 24–28 ein Anakoluth (unvollständiger Satz) bilden. Ferner vermisst man in V. 29 die syntaktische Markierung als Vorvergangenheit, da ja die Verlesung des Schemajabriefs an Jeremia dem Redeauftrag V. 24–28 vorangegangen sein müsste. Und obendrein konkurriert der Sendungsauftrag 31a dann direkt mit dem Redebefehl V. 24. Will man hingegen in den Vv. 29– 32 überhaupt eine Apodosis finden, muss zunächst die Nachricht V. 29 die Protasis fortsetzen, indem sie innerhalb eines Schuldaufweises festhält, wie Schemajas Brief dem Propheten zur Kenntnis kam. Dann verbleiben für die Apodosis die Schlussverse 30–32, und es ergibt sich ein Aufbau, der einem prophetischen Gerichtswort ähnelt, aber mit eigenartigen Abwandlungen: Nach dem Redebefehl V. 24 und der prophetischen Botenformel 25a fungieren die Vv. 25b–29 als Protasis mit dem Scheltwort. Die Apodosis wird nicht wie üblich durch !kel' darum mit der prophetischen Botenformel eingeleitet, sondern durch die Wortereignisformel V. 30. Die Vv. 31–32 dienen als Drohwort, allerdings mit mehreren Auffälligkeiten. Eine Wortereignisformel als Bestandteil einer auszurichtenden Prophetenrede ist eine singuläre Besonderheit im AT. Ferner stellt die Strafansage nochmals ein eigenes und nunmehr formgerechtes Gerichtswort dar: Es beginnt mit dem Schuldaufweis 31c–e, eröffnet durch rv,a] ![;y: weil 31c wie 25b MT; dann leitet !kel' nebst prophetischer Botenformel 32a zum Drohwort 32b–e über, dem in MT die zusätzliche Anklage 32f angehängt ist. So bilden die Vv. 24–32 ein prophetisches Gerichtswort, bei dem die Strafansage nochmals als Gerichtswort gestaltet ist. Bei beiden Leseweisen stehen die Vv. 25–28 und 30–32 in 126

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Spannung, da die erste Passage Schemaja anredet, während sich die zweite an die Exilanten wendet (31a) und in 3. Person über Schemaja spricht (31c–e.32b–f). Die Schwierigkeiten sind in der alexandrinischen Ausgabe kaum weniger ausgeprägt, selbst wenn man voraussetzt, dass die von Ziegler rekonstruierte LXX-Lesart von V. 25 wahrscheinlich bereits auf innergriechische Verderbnis zurückgeht, also nicht mehr G* und folglich auch nicht mehr die hebräische Gestalt des alexandrinischen Textes widerspiegelt, die glatter verlaufen sein dürfte (für diese diffizile Problematik vgl. TK). Rekonstruiert man AlT nach solchen Maßgaben, erhält man einen Wortlaut, der die Botenformel 25a noch nicht kennt. Weiterhin fehlt in 25b die Konjunktion rv,a] ![;y: weil, sodass die Scheltrede an Schemaja nicht als kausale Protasis angelegt ist. Damit entfällt zwar die Suche nach der Apodosis, doch verlangen die Vorwürfe in den Vv. 25b–28 trotzdem eine Antwort auf die Frage, wie Jhwh darauf reagiert hat. Ferner war laut AlT das in V. 26–28 zitierte Schreiben Schemajas ehemals nur an Zefanja ben Maaseja in dessen Eigenschaft als Befehlshaber des Jerusalemer Tempelordnungsdienstes gerichtet, während MT die Adressierung auf das ganze Volk, das in Jerusalem ist und alle Priester ausdehnt und deshalb von Briefen im Plural redet (25bc). Die Probleme des Anschlusses der Vv. 24 und 29 an ihre Vortexte bleiben davon jedoch unberührt und entstammen folglich schon der Frühgeschichte des Abschnitts. Darüber hinaus ist der Widerspruch zwischen den Vv. 25–28 und 30–32 in AlT (aufgrund nachträglicher Verschärfung?) stärker ausgeprägt: In den Vv. 25– 28 wird Schemaja der versuchten Behinderung von Jeremias Prophetie beschuldigt. Dabei präsentiert ihn V. 26 AlT als Verächter jeglicher prophetischer Aktivität, wenn er Zefanja ben Maaseja göttlich beauftragt sieht, ausnahmslos gegen jeden prophezeienden Mann und jeden verrückten Mann vorzugehen. In 31c–e wird er jedoch als Falschprophet angeklagt, müsste also selbst ein Mantiker gewesen sein. Die meisten dieser Unebenheiten entfielen, wäre der Abschnitt konsequent als Bericht gestaltet, indem dem Zitat aus dem Schemaja-Brief V. 26–28 kein prophetischer Redeauftrag mit beginnender Scheltrede (Vv. 24–25), sondern ein narrativer Vorspann vorausginge, sodass V. 29 die natürliche Fortsetzung böte. Zuweilen wird ein solcher Einstieg postuliert. Dagegen spricht freilich die Tatsache, dass Jer an anderer Stelle ein analoges redaktionelles Vorgehen mit nach Struktur und teilweise auch nach Vokabular identischem Wortlaut bezeugt. Ein solch jäher Schwenk der Sprechrichtung Jhwhs von einer prophetisch vermittelten Rede an Dritte zu Jeremia selbst, gleichlautend eingeleitet mit der Wendung rm;aTo X‑la,w> zu X aber sollst du sagen, kehrt in 21,8 im Rahmen eines Exemplars der individuellen Prosaorakel wieder. Noch weitere Merkmale verknüpfen 29,24–32 mit diesem Stratum. Die Verbindung dqepo ynIn>hi siehe, ich suche heim (o. ä., 32b) gehört zum Idiolekt der individuellen Prosaorakel.10 Die Wendung rq,v,‑l[; xjb‑H, wörtlich: auf Trug vertrauen lassen (31e) ist sonst einzig in 28,15d belegt (s. o. zu 28,15–17). Ferner eignet der betreffenden Schicht ein auffälliger Affekt gegen Heilsprophetie (vgl. 20,6; 28,15). Dazu passt, dass das Scheltwort 31c–e Schemaja der Falschprophetie bezichtigt, obwohl es ihm keine konkreten mantischen Aktivitäten nachzusagen weiß. Sodann ist die späte Wirkung der Strafe  11,22; 23,2; 46,25; 50,18; ähnlich 44,29 (Kon 112).

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typisch: Es sind Schemajas Nachkommen, denen jenes Heil verweigert wird, das Jhwh der Gola bestimmt hat (32c–e), eine Ankündigung, die den postexilischen Standort des Autors anzeigt. Nach alldem zeigt der Wechsel der Redesituation samt Sprechrichtung in V. 24 den Beginn einer Fortschreibung an, die den individuellen Prosaorakeln zuzurechnen ist. Auf innere Uneinheitlichkeit weisen der problematische Anschluss von V. 29/30 an den Vortext sowie die Spannungen zwischen den Vv. 25–28 und 31–32, wozu sich die schichtentypischen Merkmale im letzteren Passus gesellen. Nach diesen Indizien nutzte der Redaktor wahrscheinlich in den Vv. 26–28 ein originales Briefzitat für einen ersten Schuldaufweis, in dem noch der konkrete Konflikt Jeremias mit Schemaja von Nehelam nachhallt, wie die Auslegung untermauern wird. Die Strafansage Vv. 30–32 gestaltete er dann nach seinen eigenen theologischen Anliegen, wobei er ein in sich gerundetes prophetisches Gerichtswort schuf. Folglich wurde *29,24–32 von vornherein ungefähr in der von AlT gespiegelten Form in das Buch hineinverfasst.11 Der Beginn lässt sich zwar nicht nach modernen Maßstäben wohlgeformter Texte erklären, aber doch wenigstens auf die redaktionelle Absicht zurückführen, eine zwischen Bericht und reinem Redeauftrag schillernde Einheit eng mit einem Vortext zu verkoppeln, der als briefliche Prophetie gestaltet ist, weswegen der Ergänzer auch dem neu geschaffenen Anhang eingangs die Form einer Gottesrede verlieh und die kaum vermeidbaren Inkonsequenzen in Kauf nahm. Dieser Wunsch und das gewählte Verfahren dürften für heutige Leser infolge gewandelter Rezeptionsgewohnheiten schwer nachvollziehbar bleiben, aber das steht auf einem anderen Blatt. Wie weitere Belege der individuellen Prosaorakel mit ihrem charakteristischen Tonfall erweisen, wollte dieser Redaktor primär Bestrebungen abwehren, Serubbabel als neuen Herrscher von persischen Gnaden in Jerusalem zu installieren. Dazu bestritt er den Davididen den Anspruch auf den judäischen Thron. Vor allem versuchte er, durch göttliche Belohnung oder Strafe für verdiente bzw. schuldbehaftete Akteure aus dem Umkreis Jeremias Gerechtigkeit herzustellen. Dabei sollten die Strafen wiederholt gerade die Nachgeborenen treffen, was auf den Wunsch schließen lässt, die Ambitionen der betreffenden Sippen in nachexilischer Zeit in die Schranken zu weisen. Das Ressentiment gegen die – jetzt nicht mehr als antibabylonisch gekennzeichnete – Heilsprophetie dürfte durch eine heilsprophetische Hochkonjunktur im Umkreis Serubbabels und des Tempelbaus veranlasst sein (vgl. Hag, Proto-Sach). Auch Kap. 29 hat in der prämasoretischen Phase über die bereits genannten Fälle hinaus noch erhebliche Modifikationen erfahren. Hervorgehoben seien folgende Beispiele: Laut AlT boten die Sätze 12c–13b ehemals einen Wechsel zwischen Imperativen für Aufforderungen und w˙=qatal-Formationen für deren Folgen. Bei oder 11 Die beliebte Hypothese, nur der zweite Schuldaufweis nebst Überleitung zum Drohwort 31c–32a sei redaktioneller, näherhin dtr Herkunft (z. B. Thiel, Graupner, Hardmeier), muss unterstellen, das Gerichtswort 31c–32 habe erst durch Nacharbeit seine gattungsgerechte Form angenommen. Ferner wäre zu erklären, wie die Adressaten in der Gola im Sinne des Textes ohne das Scheltwort wissen sollten, warum Schemaja überhaupt seiner Strafe verfallen war. Die topischen Züge sind ferner nicht kennzeichnend für die dtr Redaktion, sondern für die individuellen Prosaorakel, und sie lassen sich nicht vollständig eliminieren.

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nach dem Einbau von 12ab wurde die Sequenz auf eine uniforme w˙=qatal-Kette umgestellt, um die bedingten Zusagen an die Jojachin-Gola in unbedingte zu verwandeln, in 13a wohl auch durch Dtn 4,29 angeregt. Damit harmoniert der Überhang Vv. 16–20, der die Botschaft von Kap. 24 hierher übertrug, wonach die nichtexilierte Zidkija-Gruppe durch Zerstreuung aus der Heilslinie Judas ausschiede, eine Polemik gegen die (nicht-babylonische) Diaspora mit der Konsequenz, dass die spätnachexilische Gemeinde allein aus der Jojachin-Gola hervorgegangen sein kann. Diese Eingriffe artikulieren wie Jer 24 das Selbstverständnis des spätnachexilischen Judentums in Palästina, zur Gänze aus Nachkommen der Exilanten von 597 zu bestehen (s. z. St.). Dem widerspricht der masoretische Überschuss 29,14b–f, der die Heilsverheißung an die Gola auf die gesamte Diaspora umdeutet. Die späten Modifikationen innerhalb von 29,12–20 gehören zu den Anzeichen, dass die prämasoretische Textebene des Buches nicht ganz einheitlich sein kann. Das Wachstum der Falschprophetenkomposition Jer 27–29 dürfte daher etwa wie folgt verlaufen sein: Am Anfang standen zwei Darstellungen von prophetischen Symbolhandlungen Jeremias mit Jochgeschirren. Auf die ältere Quelle geht 28,1–14 zurück. Das Schriftstück wurde noch unter Zidkija abgefasst und bot eine stark apologetisch gefärbte Erzählung, die einen Konflikt Jeremias mit einem prophetischen Widersacher im Gefolge seines zeichenhaften Aktes schilderte. Das jüngere Dokument entstand bald nach der Eroberung Jerusalems und warnte vor der Missachtung der göttlichen Gabe der Weltherrschaft an Nebukadnezzar. Es ist in 27,2ab.3–4.6.8.11 möglicherweise unversehrt erhalten und beschränkte sich dann schon immer auf einen Auftrag nebst Deutewort. Der erste Falschprophetenredaktor vereinigte die beiden Vorlagen, indem er den Beginn der Hananja-Erzählung im Wesentlichen durch die jüngere Quelle ersetzte, die so in seinem Werk die Rolle des göttlichen Auftrags samt Deuterede übernahm. Zusätzlich verband er seine Vorlagen durch den Eigenbeitrag *27,16–22. Das Ergebnis, die erste Falschprophetenkomposition *27,2–28,14, warnte in frühexilischer Zeit vor antibabylonischen Heilspropheten (27,16d; 28,1– 4.11) und warb für Gefügigkeit gegenüber den Siegern. Wie die Einzelerklärung darlegen wird, arbeitete dieser Redaktor wohl unter den Verbannten. Im nächsten Schritt baute der zweite Falschprophetenredaktor das kleine Werk zur zweiten Falschprophetenkomposition *27–29 aus. Dazu fügte er *29,1–23 an, einen Auszug aus einem Brief Jeremias an die Gola (Vv. 5–7.15.21–23abe) samt dem sekundären (selbst verfassten?) Vorspann *29,1–4. Außerdem verzahnte er sein Material zusätzlich durch neu geschaffene Gottesworte gegen die Falschpropheten in 27,9–10a.12ab.14–15; 29,8–9.23cd(?).12 In seinen Eigenbeiträgen stilisierte er die befehdeten Mantiker nicht mehr wie sein Vorläufer als Heilspropheten, sondern als 12 In 14,13–16 und 23,25–32 finden sich formal ähnliche Invektiven gegen Pseudopropheten, allerdings mit dem Unterschied, dass die falschen Mantiker dort die Verschonung vor Krieg und Hungersnot verheißen (14,13c–e.15d), wobei sie – wie für den ersten Buchteil typisch – das Babelschweigen wahren (vgl. auch den Vorwurf der Verführung zum Götzendienst 23,27). Dagegen werden sie hier mit der Botschaft zitiert: Dient nicht dem König von Babel! (27,9c = 14b), ohne dass ihnen eine explizite Heilszusage in den Mund gelegt würde. Es handelt sich daher allem Anschein nach zwar um ähnliche, aber getrennte redaktionelle Vorgänge.

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bloße antibabylonische Agitatoren (27,9c.14b). Mit seiner Schrift attackierte er ebenfalls noch in frühexilischer Zeit antibabylonische Prophetie im Ausland (*27,2–11), in Juda (*27,12–28,14) und unter den Verbannten (*29,1–23). Auch sein Standort ist allem Anschein nach in der Gola zu suchen, wo er sich weiterhin veranlasst sah, prophetisch geschürten Heilsenthusiasmus zu bekämpfen. Unbestimmbar bleibt die Reihenfolge der beiden nächsten Wachstumsschritte: Wohl bald nach dem Exilsende beanspruchte der Zusatz *29,10–14a einen angemessenen Platz für die Heimkehrer im judäischen Gemeinwesen. In dieselbe Ära gehören die individuellen Prosaorakel 28,15–17 und 29,24–32, deren Schöpfer gegen bestimmte Galionsfiguren einer Gegenpartei polemisierte, die, wie Indizien in anderen Zusätzen des Stratums anzeigen, die Restauration des davidischen Königtums in Juda propagierte. Spätestens jetzt müssen die Kap. *27–29 in das Buch eingegangen sein, denn diese Redaktion hat ihre Spuren buchweit hinterlassen. Verankerung im Buch setzt auch 27,5 voraus, eine schöpfungstheologische Anleihe bei 32,17. Jer 27–29 wurde in der prämasoretischen Phase besonders stark erweitert, und zwar, wie der Widerspruch zwischen 29,14b–f und 16–20 anzeigt, in mindestens zwei Schüben. Zuletzt nahmen die Kapitel aus ungeklärten Gründen ihre orthographischen Besonderheiten an. In der Makrogliederung von 27–29 wirken die eingeschmolzenen Quellen nach. Während 29 mit dem aufwendig eingeleiteten Jeremiabrief und seinen Folgen sowie dem thematischen Fokus auf der Gola deutlich abgesetzt ist, überlagern sich in 27–28 zwei literarische Eigenarten: Unter gattungskritischem Aspekt hebt sich die Redenfolge in 27 von der Erzählung in 28 ab, zumal 28,1 einen markanten Neueinsatz vollzieht, indem Hananja mit separater Datierung als neue Hauptfigur eingeführt wird. Doch in thematischer Hinsicht gliedert sich der Text nach den Standorten der bekämpften antibabylonischen Heilspropheten: 27,1–11 richtet den Blick auf das Ausland, während die Reden in 27,12–22 mit ihrem innerjudäischen Horizont auf die Seite von Kap. 28 gehören. Auf der Mikroebene zerfällt 27 in die drei Reden Vv. 1–11, 12–15 und 16–22. Kap. 28 ist gegliedert in Jeremias Konfrontation mit Hananja in den Vv. 1–11 sowie den Gottesworten an seine Adresse in den Vv. 12–14 und 15–17. Kap. 29 zerfällt in den Jeremiabrief V. 1–23 und das göttliche Urteil über Schemaja aus Nehelam in den Vv. 24–32.

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Jeremias Zeichenhandlungen mit den Jochgeschirren 1  [Am Anfang der Königsherrschaft Jojakims, des Sohnes Joschijas, des Königs 2  a  So sprach Jhwh [zu von Juda, erging dieses Wort von Jhwh an Jeremia:] ​ b  Mach [dir] Stricke und Jochstangen ​ c  und leg [sie] auf deinen Nacken! ​ mir]: ​ 3  Schicke sie zum König von Edom, zum König von Moab, zum König der Ammoniter, zum König von Tyrus und zum König von Sidon durch Gesandtea, die nach Jerusalem zu Zidkija, dem König von Juda, gekommen sind. ​ 4  a  Du sollst ihnen an ihre Herren folgendes auftragen: ​ b  So spricht Jhwh [der Heerscharen], der c  So sollt ihr zu euren Herren sagen: ​ 5  a1  Ich selbst habe die Gott Israels: ​ b  [die auf dem Angesicht der Erde gemacht, [die Menschen und das Getier,] ​ a2  mit meiner großen Kraft und meinem ausgereckten Arm, ​ c  und Erde sind,] ​ d  der recht ist in meinen Augen. ​ 6  a  [Nun aber:] Ich gebe ich gebe sie dem, ​ (hiermit)a alle diese Länder (AlT: die Erde) [in die Hand] Nebukadnezzars, des Königs von Babel, [meines Knechts,] (AlT: Nebukadnezzar, dem König von Babel,) ​ b  und sogar das Getier des Feldes [gebe ich ihm (hiermit)a], damit sie ihm dienen. ​ 7  a  [Alle Nationen werden ihm, seinem Sohn und dem Sohn seines Sohnes dienen, bis auch die Zeit seines eigenen Landes kommt.] ​ b  [Dann werden ihn viele 8  a  Und [es wird geschehen:] ​ bP ​ die Nationen und große Könige knechten.] ​ c  die [ihm nicht dienen wollen – dem NebukadnezNation und das Königreich, ​ zar, dem König von Babel, –] ​ d  [und diea] nicht ihrena Nacken unter das Joch des a Königs von Babel beugen will  – ​ b  mit Schwert und Hunger [und Seuche] werde ich jene Nation heimsuchen – Spruch Jhwhs –, bis ich sie aufgerieben habeb durch seine Hand. ​ 9  a  Ihr aber, hört nicht auf eure Propheten, Wahrsager, Träumera, Zeichendeuter und Zauberer, ​ b  die [zu euch] sagen: ​ c  Dient nicht dem König 10  a  Denn Lüge prophezeien sie euch, um euch von eurem Ackervon Babel! ​ boden zu vertreiben. ​ b  [Ich werde euch versprengen,] ​ c  [und ihr werdet zugrunde gehen.] ​ 11  aP ​ Die Nation aber, ​ b  die ihren Hals in das Joch des Königs von Babel gibt ​ c  und ihm dient – ​ a  die werde ich auf ihrem Ackerboden d  Sie kann ihn bebauen ​ e  und darauf wohnen. belassen [– Spruch Jhwhs]. ​ 12  a  Auch zu Zidkija, dem König von Juda, redete ich gemäß allen diesen Worten: ​ b  Gebt eure Hälse in das Joch des Königs von Babel!a  c  [Dient ihm und d  [damitb ihr lebt!] ​ 13  a  [Warum sollt ihr sterben, du und dein seinem Volk,] ​ b  [wie Jhwh der Nation angedroht Volk, durch Schwert, Hunger und Seuche,] ​ c  [die dem König von Babel nicht dienen will?] ​ 14  a  [Hört nicht auf die hat,] ​ b  Dient nichta dem Worte der Propheten, die zu euch folgendermaßen sagen:] ​ c  weil sie euch Lüge prophezeien! ​ 15  a  Denn ich habe sie König von Babel!, ​ nicht gesandt – Spruch Jhwhs –, ​ b  doch sie prophezeien lügnerischa in meinem 131

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Namen, damit ich euch versprenge (AlT: um euch zu versprengen) ​ c  und ihr zugrunde geht, ihr und die Propheten, die euch prophezeien. 16  a  Zu den Priestern und diesem ganzen Volk redete ich folgendermaßen: ​ b  So spricht Jhwh: ​ c  Hört nicht auf die Worte [eurer] Propheten, die euch prophezeien: ​ d  Siehe, die Geräte des Hauses Jhwhs werden aus Babel zurückgebracht, [und zwar bald]!, ​ e  weil sie euch Lüge prophezeien.  ​ c  [damita ihr lebt!] ​ d  [Warum soll diese Stadt zur Trümmerstätte werden?] ​ 18  a  Wenn sie Propheten sind ​ b  und wenn das Wort Jhwhs wirklich bei ihnen ist, ​ c  sollen sie doch Jhwh [der Heerscharen] / mich bedrängen, ​ d  [dass die Geräte, die im Haus Jhwhs, im Palast des Königs von Juda und in Jerusalem übriggeblieben sind, nicht (auch noch) nach Babel gelangen]. ​ 19  Denn so spricht Jhwh [der Heerscharen über die Säulen, das Meer, die Kesselwagen und den Rest der Geräte, die in dieser Stadt übriggeblieben sind], (AlT: Auch vom Rest der Geräte,) ​ 20  die [Nebukadnezzar,] der König von Babel, nicht mitgenommen hat, als er Jechonja, [den Sohn Jojakims, den König von Juda,] von Jerusalem [nach Babel] 21  [Ja, so spricht verschleppte, [samt allen Vornehmen Judas und Jerusalems]. ​ Jhwh der Heerscharen, der Gott Israels, über die Geräte, die im Haus Jhwhs, im 22  a  Nach Palast des Königs von Juda und in Jerusalem übriggeblieben sind:] ​ Babel werden sie gebracht werden, (AlT: werden welche nach Babel gebracht werden) ​ b  [und dort werden sie (bleiben) bis zu dem Tag, da ich mich ihrer c  [Ich werde sie heraufbringen] ​ d  [und zurückannehme,] – Spruch Jhwhs. ​ schaffen an diesen Ort.] 3 a Vgl. J. Barr, Determination and the Definite Article in Biblical Hebrew, JSS 34 (1989) 307–335, der das Determinationsgefälle zwischen ~ykia'l.m; und ~yaiB'h; als Beispiel für den relative article wertet (323–325). 6 a qatal-Formation für Koinzidenz (performativer Sprechakt). 8 a Das maskuline Prädikat !TeyI und das Personalpronomen in AraW"c; kongruieren mit yAG Nation 8bP (vgl. auch 8b MT). b yMiTu mit ungrammatischer kausativer Funktion des Grundstamms von ~mt. AlT: bis sie aufgerieben sind. 9 a So mit den antiken Übersetzungen; MT durch den Ausfall eines Buchstabens Träume. 12 a In AlT fehlen auch Teile von 12b. Der verstümmelte Wortlaut ist offenbar Ergebnis eines versehentlichen Textverlusts (TK). b Imperativ nach Aufforderung als Äquivalent eines Finalsatzes: JM § 116 f. 14 a AlT und dient; s. 12 a. 15 a Vgl. Jenni, Lamed 280 Rubrik 9238. 17 a S. 12 b.

Literatur: S. Lit. zu 27–29. – A. Aejmelaeus, „Nebuchadnezzar, my Servant“. Redaction History and Textual Development in Jer 27, in: F. García Martínez (ed.), Interpreting Translation (FS J. Lust; BEThL 192), Leuven 2005, 1–18. M. Anbar, To Put One’s Neck Under the Yoke, in: Y. Amit (u. a., Hg.), Essays on Ancient Israel in Its Near Eastern Context (FS N. Na’aman), Winona Lake 2006, 17–19. Applegate, Fate of Zedekiah. P.-M. Bogaert, La datation par souscription dans les rédactions courte (LXX) et longe (TM) du livre de Jérémie, in: J. Joosten, Ph. Le Moigne (Hg.), L’apport de la Septante aux études sur l’antiquité, Paris 2005, 137–159. J. Erzberger, Nebuchadnezzar, Lord of the Wild Animals. Understanding a Difference Between Jer LXX and Jer MT in Light of Dan, in: M. Karrer (u. a., Hg.), Die Septuaginta – Orte und Intentionen (WUNT 361), Tübingen 2016, 678–687. Y. Goldman, Juda et son roi au

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Erklärung Die von 27 eröffnete Ereigniskette wird in 28 fortgesetzt, und die Makrogliederung der Falschprophetenkomposition 27–29 nach den Standorten der antibabylonischen Falschpropheten übergreift die folgende Kapitelgrenze: Während 27,1–11 dem Ausland gewidmet ist, richtet 27,12–28,17 den Blick auf Juda, bevor sich 29 der Gola zuwendet. Trotzdem ist es sinnvoll, der Auslegung die Kapitelgliederung zugrunde zu legen, weil sie die ältere Zäsur an der Nahtstelle zwischen den Bausteinen des Berichts von den Symbolhandlungen Jeremias mit den Jochgeschirren (27–28) spiegelt: 27 besteht einzig aus einer Abfolge von drei Reden, die zusammen mit ihren wechselnden Sprechern und Adressaten die innere Struktur des Kapitels konstituieren: Vv. 1–11 Auftrag Jhwhs an Jeremia; V. 12–15 prophetisch vermittelte Gottesrede an Zidkija; 133

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Vv. 16–22 prophetisch vermittelte Gottesrede an die Priester und das ganze Volk. Dagegen eröffnet 28,1 mit einer Datierung die Erzählung mit dem neuen Protagonisten Hananja.

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Der zum masoretischen Sondergut gehörige V. 1 stimmt nahezu völlig mit 26,1 überein. Er eröffnet den ersten Abschnitt des Kapitels mit Jhwhs Geheiß an Jeremia, im Rahmen einer Zeichenhandlung Jochgeschirre an ausländische Diplomaten zu senden, die bei König Zidkija weilen, und ihnen eine begleitende Botschaft an ihre Herren aufzutragen (Vv. 2–11). In den spätesten Wachstumsphasen des hebräischen Jeremiabuchs hat ein prämasoretischer Texttradent die Offenbarung der Gottesrede auf einen Zeitpunkt weit vor ihrer Ausrichtung fixiert, indem er ihr eine Kopie der mit dem Akzessionsjahr (s. zu 26,1) Jojakims verknüpften Wortereignisformel 26,1 vorschaltete, wobei er bloß die dort vermisste Adressatenangabe an Jeremia ergänzte. Die sekundäre Einleitung datiert den göttlichen Befehl in das Jahr 609 und widerspricht daher eklatant dessen Wortlaut, weil er das Diplomatentreffen unter Zidkija (597–587) wie ein gegenwärtiges Ereignis behandelt (V. 3). Welche Absichten hinter dem seltsamen Zusatz standen, ist unter Einbezug von 28,1 zu klären, wo derselbe Bearbeiter eingriff und Jeremias Streit mit Hananja im selben Jahr verankerte, das nun freilich mit dem Anfang der Königsherrschaft Zidkijas (597) identisch sein soll (28,1a). Die Synchronisierung der Vorgänge in Jer 27 und 28 war nur natürlich und ist wohl auch historisch korrekt, da beide Kapitel von symbolischen Akten des Propheten mit Jochgeschirren berichten. Wie indes die Worte im selben Jahr in 28,1a anzeigen, wollte der Ergänzer die Jhwh-Rede 27,2–11 keineswegs mit dem Antrittsjahr Jojakims, sondern mit der Thronbesteigung Zidkijas verbinden. Dabei nahm er sich, getreu der Vorliebe der prämasoretischen Revisoren für das geprägte Sprachmaterial des Buches, die Datierung 26,1 zum Vorbild. Bloß versäumte er bei ihrer Adaption an den neuen Kontext, den Königsnamen auszutauschen. Als er ferner in 28,1a den Zwist Jeremias mit Hananja an den Anfang der Königsherrschaft Zidkijas datierte, vergaß er obendrein, die ältere Angabe im vierten Jahr (Zidkijas) zu löschen (s. z. St.). Sein Schnitzer verrät uns allerdings, dass die Hananja-Erzählung ehemals an einem Zeitpunkt haftete, für den auch die historische Wahrscheinlichkeit spricht (s. u.). Doch selbst wenn der Bearbeiter dies kaum mehr wissen konnte, muss er einen Grund gehabt haben, warum er das in 28,1 überlieferte vierte Jahr Zidkijas verwarf, um die in Kap. 27 f. mitgeteilten Ereignisse stattdessen in Zidkijas Akzessionsjahr zu verorten. Sein Motiv erhellt aus dem Vergleich des Gottesbefehls mit dem Korpus der Fremdvölkersprüche (46–51). Laut 27,3 sollte Jeremia die aufgetragene Botschaft den Königen von Edom, Moab, Ammon, Tyrus und Sidon übermitteln lassen. Diese Staatswesen gehören sämtlich zu den Zielscheiben der Fremdvölkerorakel des Buches: Edom (49,7–22), Moab (48) und Ammon (49,1–6) erhalten je eigene Kompositionen; Tyrus und Sidon werden im Philistergedicht bedroht (47; dort V. 4). Deshalb lag es nahe, in den Fremdvölkerorakeln die ausführliche Explikation der Prophetie 134

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Jeremias anlässlich der Zeichenhandlungen mit den Jochgeschirren zu erkennen. Dazu musste der Ergänzer indes die Kap. 27 f. mit den Fremdvölkersprüchen zeitlich abgleichen. In dem Korpus fand er drei Datierungen vor, die Eindeutigkeit besitzen, insofern sie nicht nur wie 47,1 MT und 49,28ab auf simultane Ereignisse verweisen, sondern Jahreszahlen nennen. Darunter kehrt in 51,59 auch das vierte Jahr Zidkijas wieder, freilich jetzt um den Moment zu markieren, als Jeremia die Unheilsansagen über Babylon in Kraft setzte, indem er sie durch einen Stellvertreter rezitieren und im Eufrat versenken ließ (ein weiterer symbolischer Akt: 51,59–64d). Weil Jhwh aber in Kap. 27 den Babyloniern die Weltherrschaft überträgt, konnte es wenig plausibel erscheinen, dass er ihnen zeitgleich den Untergang angekündigt habe. Obendrein steckt 51,59 streng genommen nur den terminus ad quem der Offenbarung der Babelworte ab. Somit schied für den Bearbeiter das vierte Jahr Zidkijas trotz 28,1a AlT aus. Der Haftpunkt der Ägyptengedichte im vierten Jahr Jojakims (46,2), dem Jahr der Schlacht bei Karkemisch (605), hätte zwar einen tauglichen historischen Hintergrund für sämtliche Fremdvölkersprüche geliefert (außer den Babelworten und dem eigens datierten Elam-Spruch), schied aber ebenfalls aus, weil die Kap. 27 f. unter Zidkija spielen. So verblieb die Verankerung des Elam-Orakels im Akzessionsjahr dieses Monarchen (MT 49,34 ≙ AlT 26,1; s. z. St.). Deshalb übertrug der prämasoretische Ergänzer dem Herrschaftsantritt des letzten judäischen Königs die Rolle der Generaldatierung des Korpus (außer Ägypten und Babylon) und wollte ihm die Stoffe in Kap. 27 f. zuordnen, vertat sich aber doppelt, indem er in 28,1a die ältere Datierung zu tilgen versäumte und in 27,1 den Königsnamen Jojakim beibehielt. Mit seinem Versehen hat der prämasoretische Bearbeiter eine geschichtliche Systematik geschaffen, wonach die erste Gottesrede im Jahr 609 erging, als Jeremia im Zuge seines Tempelprozesses knapp dem Tod entrann (26,1–19.24). Die dem Propheten aufgetragene Deuterede promulgiert Nebukadnezzars Weltherrschaft (Vv. 5–7) und warnt vor antibabylonischer Rebellion (Vv. 8–11). Wie diese Themen durchblicken lassen, würden sich die Botschafter in Jerusalem zu einer antibabylonischen Konferenz versammeln, um die Chancen eines Aufstands gegen das Fremdregiment zu prüfen. Da die Hananja-Erzählung in 28 wahrscheinlich eine Aktion Jeremias widerspiegelt, die mit jener hinter 27,2–11 eng zusammengehört, lässt sich die ursprüngliche Verankerung des Hananja-Stoffes im vierten Jahr Zidkijas (28,1 AlT) auf die diplomatischen Konsultationen übertragen, die die Kulisse für 27 abgeben. Das Treffen hätte dann 594 stattgefunden, ein Datum, das insofern historische Glaubwürdigkeit besitzt, als im Jahr zuvor der Pharao Psammetich II. (595–589) an die Macht gelangt war, der bei den Kleinstaaten der Region Hoffnungen auf Emanzipation von der babylonischen Herrschaft schürte. Der syropalästinische Raum unterstand seit 605 babylonischer Vasallität, als Nebukadnezzar mit seinem Sieg über den Pharao Necho II. in der Schlacht bei Karkemisch am Oberlauf des Eufrats die nach dem Zusammenbruch des Assyrerreiches ephemer erneuerte Hegemonie der Ägypter beendet und die Levante unterworfen hatte (s. zu 46,2). Nun läutete Psammetich II. eine neue Phase ägyptischer Interventionen in Vorderasien ein, um die Babylonier wieder von der Ostküste des Mittelmeers zu verdrängen und dort eigene alte Hoheitsansprüche durchzusetzen. Außerdem sah sich Nebukadnezzar im selben Jahr 595/4 mit einer 135

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Meuterei in seinen Streitkräften konfrontiert (HTAT S. 417), die ihn zwang, seine imperialen Ambitionen kurzzeitig zurückzustellen. Laut 27,1 ordnete Jhwh die für jenes Diplomatentreffen bestimmte Symbolhandlung allerdings schon rund fünfzehn Jahre vor ihrer Realisierung an, noch bevor die babylonische Expansion überhaupt die Levante erreichte, und noch länger bevor Zidkija den Thron bestieg. Doch wie dargelegt, wollte der Ergänzer die Stoffe der beiden Kapitel im Akzessionsjahr Zidkijas verankern, weil damals, wie er aus 49,34 bzw. AlT 26,1 entnahm, die meisten Fremdvölkersprüche über die Opfer Babylons offenbart worden seien. Da er aber sein Vorbild 26,1 versehentlich nahezu unverändert übernahm, erhebt 27,1 nun nach dem Prinzip post hoc propter hoc die Proklamation von Nebukadnezzars zeitweiliger Weltherrschaft (Vv. 6–7) zur umgehenden göttlichen Antwort auf die in 26 erzählten Ereignisse, nämlich Jeremias Tempelprozess (26,1–19.24), in dem sich die Judäer per konkludenter Handlung Jhwhs ultimativem Umkehrruf Vv. 4–6 verweigerten; dazu der Justizmord an Jeremias Gesinnungsgenossen Urija ben Schemaja, ein undatiertes, aber unmittelbar vor Kap. 27 berichtetes Verbrechen an einem Jhwh-Propheten (26,20–23). In dieser kontextuellen Logik haben die Judäer mit ihrem intendierten und ihrem vollendeten Mord an wahren Gottesboten die Unterjochung aller Völker durch die Babylonier verschuldet – wobei, wie sich zeigen wird, die babylonische Knechtschaft auch heilvolle Aspekte einschließt. Der Endtext weist den Judäern somit eine weltgeschichtliche Rolle zu: Ihr Verhalten hat globale Konsequenzen. Dem entspricht die Geschichtssouveränität Jhwhs, der das Geschehen weltweit und lange im Voraus bestimmt. Eigene Akzente erhält ferner das Prophetenbild: Jhwh kann seine Boten frühzeitig in seine Pläne einweihen. Dazu zeichnen die Vv. 1–3 Jeremia als einen Propheten, dem nicht erklärt zu werden braucht, dass es später einen König namens Zidkija geben wird und dass die anschließenden Befehle erst in dessen Amtsperiode auszuführen sind (vgl. V. 3). Ferner kann ihm Nebukadnezzar als König von Babel (6a.8c) vorgestellt werden, obwohl dieser erst 605 seinen Vater im Amt beerbte. 2–3 Vormasoretisch hob der Auftrag Jhwhs an Jeremia allein mit der prophetischen Botenformel an (2a), die hier in typisch deuterojeremianischer Weise zur Einleitung einer Gottesrede an den Propheten abgewandelt ist (s. zu 25,15a; Textgenese). Jeremia soll Jochstangen und ‑stricke, also Bestandteile von Jochgeschirren anfertigen (2b) und dann sein Werk auf den eigenen Nacken laden (2c). Der Befehl steht in unklarem Verhältnis zu dem Geheiß in V. 3, die Jochgeschirre durch die in Jerusalem weilenden Botschafter an die Könige von fünf Nachbarstaaten zu senden. Die Unausgeglichenheit ist darauf rückführbar, dass 2bc gleichzeitig die ähnlichen, aber dennoch unterschiedenen Zeichenhandlungen in 27 und 28 vorbereitet, die nach ihrer sekundären Verkettung als ein einziger mehrstufiger Akt gelten. Die Kombination der beiden Varianten ist offenbar so gedacht, dass Jeremia sechs Jochgeschirre herstellen soll, um eines, wie in 28 vorausgesetzt, öffentlich auf dem Rücken umherzutragen, während die übrigen für die besuchenden Diplomaten bestimmt sind. Jeremia wird somit aufgefordert, Zeichen‑ bzw. Symbolhandlungen auszuführen, d. h. öffentliche Auftritte, die mit nonverbalen, szenischen Kommunikationstechniken Botschaften übermitteln bzw. Wirklichkeiten repräsentieren. „Eine Zeichenhandlung ist eine Aktion, die einen Bedeutungsgehalt darstellt, der nicht mit dem Ziel der Hand136

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lung selbst identisch ist“ (Krispenz, Art. Zeichenhandlung). Jeremia soll die Jochgeschirre nicht deshalb den Nachbarkönigen zuleiten, weil sie solche Geräte bräuchten, und er soll nicht deswegen ein Jochgeschirr umherschleppen, weil es an einen anderen Ort zu transportieren wäre, sondern weil diese Akte bestimmte Botschaften zeichenhaft verkörpern. Um verständlich und als Symbol lesbar zu sein, müssen Zeichenhandlungen Ähnlichkeit zur bezeichneten Sache aufweisen, d. h. eine ikonische Qualität besitzen, oder konventionalisiert sein. Symbolische Akte werden reichlich von atl. Propheten, darunter auch von Jeremia, überliefert und bildeten ein viel genutztes Instrument aus ihrem Repertoire an Verkündigungsmethoden. Derlei Praktiken waren und sind allerdings nicht auf Propheten beschränkt1 und spielten namentlich im Rechtswesen eine wichtige Rolle, wo sie in konventionalisierter bzw. ritualisierter Form auftraten.2 Normalerweise waren sie, wie auch hier (V. 4 ff.), von Deuteworten begleitet, die den Sinn der Zeichenhandlung explizierten. Symbolische Akte waren geeignet, die Aufmerksamkeit zu binden und die Wirkung des gesprochenen Wortes durch dramaturgische Reize zu steigern. Deshalb griffen die Propheten gern zu visuell eindrücklichen, provokanten Inszenierungen, die heutigem Straßentheater oder moderner Performance-Kunst nahekamen. Allerdings beschränkten sich im damaligen, magienahen Verständnis die Effekte nicht auf die psychische Einflussnahme auf das Publikum, sondern den Symbolhandlungen wurde – wie auch im Rechtsleben – das Vermögen zugeschrieben, Wirklichkeit herzustellen, indem sie etwa ein vorhergesagtes Ereignis nicht bloß ankündigten, sondern untergründig bereits in Gang setzten. Die zeichenhaften Akte Jeremias mit den Jochgeschirren in 27–28 liefern Musterbeispiele für diese prophetische Praxis: Sie waren aufgrund ihrer alltäglichen Requisiten leicht durchführbar, dazu ihrer Eigenart nach spektakulär und in geeigneten Situationen mit geringem Erklärungsaufwand verständlich zu machen. Das Joch ist ein unmittelbar einleuchtendes Symbol der Unterwerfung,3 weswegen es in dieser bildhaften Funktion in altorientalischen Quellen häufig belegt ist. Zudem war es zur Zeit Jeremias wohl besonders lebhaft im Bewusstsein der relevanten judäischen Öffentlichkeit präsent, weil die assyrischen Könige diese Metapher namentlich im 7. Jahrhundert ausgiebig in ihrer Propaganda genutzt hatten, um ihre imperialen Ansprüche zu verlautbaren. Entsprechend charakterisieren jüngere Fortschreibungen des Jesajabuchs das Ende der assyrischen Tyrannei als „Zerschmettern“ (ttx‑H Jes 9,3) oder „Verschwinden“ (rws Jes 10,27; 14,25) des assyrischen Jochs (l[o).4 Aus diesen Gründen sind die in Jer 27–28 gespiegelten Symbolhandlungen – im Unterschied zu anderen Beispielen wie etwa 13,1–11 oder 51,59–64d – historisch uneingeschränkt glaubhaft. Typisch für das zeitgenössische Verständnis solcher Aufführungen ist die Reaktion Hananjas in 28: Er fühlt sich zum Einschreiten provoziert, weil er Jeremias  Vgl. Jer 36,23; 1 Sam 11,7 || Ri 19,29; 2 Sam 10,4–5.  Vgl. z. B. die Königssalbung, den in Jer 34,18–19 vorausgesetzten Bundesschlussritus (s. z. St.) und etwa Ex 21,6; Dtn 25,7–10; Rut 4,7–8. 3  Zum Joch als gängigem Herrschaftssymbol vgl. z. B. 2,20; 5,5; 30,8; Gen 27,40; Lev 26,13; 1 Kön 12,4–14; Jes 47,6; sowie die i. F. genannten Stellen aus Jes. Als Sinnbild für Sklaverei dient das Joch in Sir 28,19; 33,27; 1 Tim 6,1. 4  Vgl. Ruwe/Weise 297–304; Silver 202–208. Angesichts der andersartigen Terminologie in Jer ist eine direkte Abhängigkeit von Jes wenig wahrscheinlich. Vgl. ferner Nah 1,13. 1 2

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symbolischen Akt für wirksam und gefährlich hält. Will er ihn unschädlich machen, muss er ein gleichwertiges Geschütz auffahren, indem er ein Gegenzeichen inszeniert (28,10–11, s. z. St.; vgl. ferner 36,23.29). In der international ausgerichteten Variante des Stoffes soll Jeremia die Jochgeschirre an die anwesenden Repräsentanten von fünf Kleinkönigtümern der Region überstellen. Aufgezählt werden die ostjordanischen Nachbarn Edom, Moab und Ammon sowie die phönizischen Stadtstaaten Tyrus und Sidon an der Mittelmeerküste (in derselben Reihenfolge aufgeführt in 25,21–22). Unter historischer Rücksicht kann man die Vorstellungen hinter V. 3 nicht als unglaubwürdig abtun, denn Jeremia war ein Prominenter, der in Juda in den führenden Kreisen verkehrte und Gehör fand (vgl. v. a. Jer 21,1–10; 36–42). Der Bericht war für ein Publikum bestimmt, das keine Erläuterung benötigte, warum sich die Diplomaten bei Zidkija versammelt hatten, ein starkes Indiz für den zeitnahen Ursprung der Grundschicht von 27. Wie betont (s. zu V. 1), sollte das Treffen Wege zur Abschüttelung des babylonischen Jochs ausloten. Sein Stattfinden setzt voraus, dass die Teilnehmer einem Aufstand Erfolgschancen zubilligten, was 594 durchaus begründet war, da Nebukadnezzar sich heimischen Problemen widmen musste. Außerdem hatte möglicherweise Ägypten seine Bereitschaft zur Waffenhilfe signalisiert. Hoffnungen auf ägyptischen Beistand waren jedenfalls bei den judäischen Rebellionen gegen die assyrische und babylonische Tyrannei regelmäßig im Spiel.5 Wenn die Konferenz ferner in Jerusalem tagte, muss sich Zidkija an die Spitze der Erhebung gestellt haben, obwohl er nur wenige Jahre zuvor von Nebukadnezzar auf den Thron gehievt worden war und ihm den Vasalleneid geleistet hatte (s. zu 52,1). Diese Vorgeschichte wird maßgeblich dazu beigetragen haben, den drakonischen Gegenschlag der Babylonier 589/7 zu provozieren. Von baldigen Konsequenzen der Unterredungen verraten unsere Quellen allerdings nichts. Bemerkenswerterweise sandte Zidkija laut 51,59 ebenfalls in seinem vierten Regierungsjahr eine Delegation nach Babylon, und zwar AlT zufolge unter Leitung Serajas, einem Bruder von Jeremias Vertrautem Baruch und damit Spross einer Familie, in der wohl die Bereitschaft zum Arrangement mit der Weltmacht, wie von Jeremia verfochten, verbreitet war; nach MT begab sich Zidkija selbst zum Großkönig (s. z. St.). Man fragt sich daher, ob die Mission nach einem raschen Zusammenbruch des Komplotts dem Zweck diente, bei Nebukadnezzar Abbitte zu leisten, doch verweigert der Passus darüber die Auskunft. Die Babylonische Chronik notiert in ihrer letzten erhaltenen Zeile für das 11. Jahr Nebukadnezzars (594/93) einen Feldzug des Königs in die Levante, schweigt aber zu Anlass, Ziel und Ergebnis (HTAT S. 417). Deshalb muss es bei der Auskunft bleiben, dass unbekannte Faktoren die Vorbereitungen zu einem Befreiungskampf frühzeitig im Keim erstickt haben dürften. 4 Nach der Beschreibung des Zeichens leitet die Gottesrede über zu den Deuteworten, die Jeremia den Diplomaten übermitteln soll (4a) und die ab V. 5 ihrerseits als Gottesrede im Ich Jhwhs ergehen. Deshalb steht formgerecht eine prophetische 5  Vgl. 2 Kön 18,21.24 || Jes 36,6.9; Jes 30,1–7; 31,1–3; Jer 2,18.36; 37,5–8; Ez 17,1–21; 29,6–7.16; 30,20–26 sowie generell die umfangreichen Ägyptenorakel Kap. 29–32 in den Fremdvölkersprüchen Ezechiels; Klgl 4,17; 5,6.

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Botenformel voran (4b), die durch ihre Position schon den Auftrag an die Botschafter zur Weitergabe der anschließenden Gottesrede an ihre Dienstherren (4c) zur Willenskundgabe Jhwhs erhebt. Bevor ab V. 6 das prophetische Zeichen auf die göttlich verliehene Weltherrschaft 5 für Nebukadnezzar hin ausgedeutet wird, hat ein Bearbeiter dieser weitgespannten Aussage ein schöpfungstheologisches Fundament eingezogen. Es veranschaulicht den theologischen Erklärungsbedarf, den der babylonische Triumph über Juda hervorrief, weil er im Rahmen altorientalischer Kriegstheologie in aller Schärfe die Frage aufwarf, ob er nicht in Wahrheit das Scheitern Jhwhs offenbarte. Die Fortsetzung stellt dem ein Bekenntnis zur Geschichtslenkung Jhwhs entgegen, die sich auch in Fremdherrschaft über Juda manifestieren kann. Doch dem Autor von V. 5 genügte selbst das nicht mehr, sondern er suchte dafür einen nochmals tieferen theologischen Grund, den er in der Weltschöpfung durch Jhwh entdeckte: Der Gott, der die Welt gemacht hatte, konnte auch uneingeschränkt über sein Werk bestimmen in dem doppelten Sinne, dass er dazu sowohl befähigt als auch berechtigt war (vgl. Ps 24,1–2). Typisch für die Zeit nach der Katastrophe, wurde die Geschichtstheologie durch die Schöpfungstheologie hintergangen und neu fundiert. In einer Anleihe bei 32,17 beschrieb der Ergänzer – der vielleicht mit dem dtr Autor von Jer 32 (JerDtr III) identisch gewesen ist – die Weltschöpfung mit der sog. Mächtigkeitsformel in der Variante mit großer Kraft und ausgerecktem Arm.6 Diese dtr Wendung wird sonst zumeist auf die Wundertaten Jhwhs im Rahmen des Exodus bezogen7 und nur an diesen beiden Stellen auf die Schöpfung angewandt. Sie exemplifiziert damit auf ihre Art die rückwärtige Verlängerung der Geschichts‑ hin zur Schöpfungstheologie: Machterweise in den Dimensionen des Exodus hat Jhwh in Wahrheit schon am Anfang bei der Schöpfung gewirkt, und sie bürgen dafür, dass er in der Geschichte alle Fäden in der Hand hält; oder in den Worten von 32,17: Dir ist nichts unmöglich. 5cd folgert aus der Schöpfermacht speziell die Verfügungshoheit des Eigentümers, der seinen Besitz geben kann, wem immer er will. Eine prämasoretische Hand hat diese Aussage ausdrücklich auf die belebte Welt ausgedehnt, also Mensch und Tier (Pflanzen galten, da ohne Blut, in atl. Zeit nicht als Lebewesen; vgl. Lev 17,11.14). In diesem Licht hat Nebukadnezzar sein Großreich nicht aus eigener Kraft erobert, sondern von Jhwh zu Lehen erhalten. Die Schöpfungstheologie wird hier zur konzeptionellen Basis der fundamentalen Einsicht, dass Israel auch in den entsetzlichsten Niederlagen einzig seinem Gott Jhwh begegnet. Sie ist ein Beispiel der enormen theologischen Leistung Israels, im Angesicht des Tiefpunkts der eigenen Geschichte seinen Glauben nicht aufgegeben, sondern im Gegenteil weiter universalisiert zu haben. V. 5 eröffnet nun eine Reihe von Aussagen, die alle dem Ziel dienen, Jhwh – und nicht die Babylonier – als eigentlichen Akteur der Geschichte zu proklamieren. 6 markiert den ursprünglichen Beginn der an die Nachbarkönige auszurichtenden 6 Gottesrede, deren Inhalt jetzt als aktuelle Konsequenz der schöpfungstheologischen 6 Zu den Spielarten der Formel vgl. Kreuzer; Kon 44–46. Der Himmel wird hier im Gegensatz zu 32,17 nicht erwähnt, da natürlich von der Herrschaft Nebukadnezzars nicht betroffen. 7 Vgl. z. B. Ex 32,11; Dtn 4,34; 5,15; 7,19; 9,29; 11,2; 26,8; 2 Kön 17,36; Jer 32,20–21 u. ö.

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Prämissen aus V. 5 erscheint, was die prämasoretische Zugabe von ykinOa' hT'[;w> nun aber, ich … zusätzlich unterstreicht: Wie Jhwh mit qataltī-Formation für performativen Sachverhalt bzw. Koinzidenz erklärt (yTit;n" 6a), liefert er durch diese seine Willensproklamation die Erde (AlT), in MT reduziert auf alle diese Länder, Nebukadnezzar zum Sklavendienst (db[ 6b) aus; ein Aufstand gegen den babylonischen Großkönig kommt damit einer Rebellion gegen Jhwh selbst gleich. Die Übergabe erfolgt an Nebukadnezzar persönlich (6a), entsprechend altorientalischer Königsideologie, für die der Herrscher den Staat in persona verkörpert. Die Unterstellung unter das fremdländische Kommando soll nach Art geschlagener Kriegsgegner geschehen; so die Konnotation der im Kriegswesen beheimateten Übereignungsformel, laut der ein göttliches Subjekt eine Person oder Gruppe einer anderen „in die Hand gibt“ (vgl. 6a MT).8 Wie schon die symbolische Repräsentation der babylonischen Gewalt durch das Joch, so beschönigt auch ihre sprachliche Beschreibung nichts. Auf dieser Stufe der Textentwicklung kennt die Gabe der Weltherrschaft an Nebukadnezzar auch noch keine Befristung, ein Anzeichen, dass sich dem Autor die Aufgabe stellte, das Erlebnis einer unumstößlich erscheinenden babylonischen Überlegenheit theologisch zu bewältigen. Für MT ist der Gegenstand der Übereignung allerdings nicht mehr die Erde wie in AlT, sondern alle diese Länder, wobei das Demonstrativpronomen wider die Regeln der Textsyntax aus der aufgetragenen Rede heraus auf die Liste der Adressaten in dem für Jeremia bestimmten Vorspann verweist (V. 3). Dieser Situationsbruch könnte dem Wunsch entsprungen sein, eine literarische Brücke zur Becherperikope 25,15–19 zu schlagen, um sie als Entfaltung und Konkretisierung von V. 6 zu markieren (vgl. die ähnlichen prämasoretischen Zugaben von Demonstrativpronomina an ~yIAGh; die Nationen in 25,9c.11b). Laut 6b ist Nebukadnezzar sogar das Getier des Feldes unterworfen. Die Formulierung spielt auf das mythologische Motiv des „Herrn der Tiere“ an, eine vor allem in der neuassyrischen und achämenidischen Bildkunst reichlich belegte Figurenkonstellation, die in der Regel eine numinose, menschenähnliche Gestalt mit Wildgetier konfrontiert, das sie mit Herrschaftsgestik unter Kontrolle hält. Ein zeitnahes Beispiel ist das folgende neuassyrisch-neubabylonische Siegel:

Abb. 1: Darstellung des „Herrn der Tiere“ auf einem neuassyrisch-neubabylonischen Siegel.  Vgl. z. B. Ex 23,31; Lev 26,25; Num 21,2; Dtn 1,27; 2,24.30; 3,3; Ri 4,7.14; 6,1; 7,2.7.9.14.15 u. v. a.

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Die als Endlosbild zu lesende Siegelabrollung zeigt einen in assyrisch-babylonischer Tracht gekleideten, geflügelten Mann, dessen Schwingen ihn als der göttlichen Sphäre zugehörig ausweisen. Der Heros hält zwei aufgerichtete Capriden (lat. Caprinae, d. h. Ziegenartige wie Ziegen, Steinböcke u. ä.) an den Vorderläufen fest, um sie daran zu hindern, an einem baumartigen Gewächs zu fressen, das als hochgradig stilisierte Darstellung des Lebens‑ bzw. Weltenbaums zu verstehen ist, einer gängigen altorientalischen mythischen Repräsentation der belebten Welt schlechthin (Gen 2,9; 3,22; Ez 31; vgl. Dan 4,7 ff.). Dass den Tieren verwehrt werden muss, sich an dem Baum zu vergreifen, macht sie als Exponenten numinoser lebensfeindlicher Kräfte kenntlich, während die Gottheit ihrer Aufgabe nachkommt, das Leben gegen solche Gefahrenquellen zu schützen. Dies geschieht hier in einer Spielart der traditionellen Konfiguration des „Herrn der Tiere“, die ihrerseits eine Konkretion des weitgespannten Themas der Eindämmung lebensfeindlicher Potenzen bzw. der Chaosbändigung bildet, die in altvorderorientalischer Theologie eine Hauptaufgabe lebensfreundlicher Götter und ihrer irdischen Sachwalter, der Könige, gewesen ist. Wenn nun Jhwh dem babylonischen Großkönig das Getier des Feldes – also das Wildgetier – unterwirft, das in damaliger Sicht zu den empirischen Manifestationen lebensbedrohender Chaosmächte zählte, überträgt er ihm im Denkrahmen altorientalischer Königsideologie eine göttliche Kompetenz, die für den Erhalt der Lebensmöglichkeiten unabdingbar erschien. Für den Autor konkretisierte sich also die göttliche Bestellung Nebukadnezzars zum Weltenkönig in der Aufgabe der Chaoskontrolle, die für die dienstpflichtigen Völker durchaus heilvolle Implikationen besaß. Eine prämasoretische Hand hat diesen außerordentlichen Rang in den religiösen Ehrentitel mein Knecht (auch 25,9; 43,10) gegossen, der Nebukadnezzar in eine Reihe stellt mit Gestalten wie Abraham, Mose, Jakob/Israel, David, dem anonymen „Gottesknecht“ des Deuterojesaja-Komplexes, den Propheten u. a. (s. zu 25,9). Der Titel mein Knecht ist bei Nebukadnezzar speziell mit der Konnotation der Weltherrschaft in Jhwhs Diensten aufgeladen (Schenker). Das Prädikat versetzt so den Großkönig gegenüber Jhwh in dieselbe Position wie Mensch und Tier gegenüber Nebukadnezzar: Er ist Jhwhs Knecht (6a MT), wie alle Lebewesen ihm dienen müssen (6b). Sein Regiment macht Jhwh keine Konkurrenz, sondern ist ihm untertan und vollstreckt Jhwhs Willen. Nebukadnezzar zu dienen heißt folglich, Jhwh zu dienen. So sehr also die Macht des babylonischen Potentaten gesteigert wird, bleibt sie doch der je größeren Souveränität Jhwhs unterworfen, der ohnehin immer als der wahre Lenker der Geschichte ausgewiesen wird. Der prämasoretische Zusatz begrenzt die Weltherrschaft des babylonischen Reiches 7 auf drei Generationen von Nebukadnezzars Dynastie (7a), ein Konzept, das auch im Nachtrag der dritten Generation in 29,6e Ausdruck gefunden hat und – veranlasst durch 2,9?  – gegenüber den siebzig Jahren, auf die das vormasoretische Buch die babylonische Regentschaft beschränkt (25,11–12; vgl. 29,10), eine Generationenzählung bevorzugt. Der Ergänzer besaß keine zuverlässigen Informationen mehr über den tatsächlichen Geschichtsverlauf, denn Nebukadnezzar hatte bis zum Ende des neubabylonischen Staates noch vier Nachfolger, deren zweiter, Neriglissar (Nergalšarra-uṣur; s. zu 39,3), auch nicht sein Enkel, sondern sein Schwiegersohn gewesen 141

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ist. Noch weiter vom faktischen Hergang entfernt ist die Vorstellung, das Imperium werde erlöschen, indem ihn (Nebukadnezzar!) viele Nationen und große Könige knechten würden (7b), sodass sich das Verhältnis Nebukadnezzars und der Völkerwelt umkehrte. Dies passt in keiner Weise auf die Ablösung des babylonischen Reiches durch das persische; obendrein ist hier der Zerstörer Jerusalems derart zur Personifikation des babylonischen Staates aufgestiegen, dass der Zusammenbruch des Imperiums rhetorisch mit Nebukadnezzars eigener Versklavung gleichgesetzt wird. Der Bearbeiter rundete jedenfalls das theologische Porträt der babylonischen Weltmacht ab, indem ihr Ende, wie bereits andernorts im Buch prophetisch geweissagt (25,12–13.26ab; 29,10; 50 f.; vgl. MT 25,14.26c), auch hier angekündigt und somit der steuernden Hand Jhwhs unterworfen wird. 8 8b setzt das Deutewort der Grundschicht fort, um aufgrund der in V. 6 genannten (und um V. 5 erweiterten) Prämisse die Adressaten mit einer Alternative zu konfrontieren, von der V. 8 die negative Seite vorträgt, ehe in V. 11 die positive folgen wird. Indem Jhwh jenen seine Strafe ankündigt, die sich nicht unter das babylonische Joch beugen, legt er nun den Sinn der Zeichenhandlung offen: Die Jochgeschirre symbolisieren die göttlich verfügte babylonische Weltherrschaft. Das für den Fall des Aufruhrs angedrohte Grauen ist zwar klischiert, doch die formelhafte Plagentrias (Kon 49 f.) mit ihrer Serie aus blutigen Gefechten, Hungersnöten und Epidemien zieht insgesamt eine realistische Summe der Schrecken des Krieges, von denen die eigentlichen Kämpfe nur den Anfang darstellen. Im gegebenen Fall sollen die Katastrophen schließlich in der Vernichtung von der Hand des babylonischen Königs gipfeln, der allerdings klar als bloßes Vollzugsorgan Jhwhs ausgewiesen wird: Ich werde heimsuchen (8b). Ein prämasoretischer Revisor hat die Regie Jhwhs hinter dem Geschehen nochmals unterstrichen, indem er den Untergang der Rebellen ausdrücklich als göttliche Tat hinstellte: AlT Ady"B. ~M'Tu‑d[; bis sie aufgerieben sind durch seine Hand formte er um zu Ady"B. ~t'ao yMiTu-d[; bis ich sie aufgerieben habe durch seine Hand (8b, mit irregulärem transitivem Grundstamm von ~mt). Ferner wurde die geforderte Untertänigkeit gegenüber Nebukadnezzar, der wie in V. 7 die babylonische Macht personifiziert, weiter eingeschärft (8c). 9–10 Der zweite Falschprophetenredaktor fügt in 9–10a seine Warnung ein, den fehlgeleiteten Wahrsagern in den Heimatländern der Adressaten kein Gehör zu schenken. Wie Dtn 18,10–11.14 rechnet er im Ausland mit diversen Arten von Mantikern, die er mit einem Satz zitiert, der aus der Grundschicht das Verständnis der babylonischen Herrschaft als Dienst an deren Oberhaupt entlehnt: Dient nicht dem König von Babel! (9c; vgl. 6b.11c). Eine positive Botschaft wird den Sprechern nicht zugeschrieben, etwa in dem Sinne, welche Erwartungen sie an den Erfolg ihres Appells knüpfen; mithin charakterisiert sie der Bearbeiter lediglich als antibabylonische Propagandisten, nicht als Heilspropheten (ebenso 14b). Anschließend lässt er Jeremia die zitierte Parole als rq,v, Lüge (wörtlich: Trug) abtun. Das Substantiv bezeichnet näherhin über die bloße Lüge (Wz. bzk) im Sinne einer unwahren Aussage hinaus „die aggressive, auf die Schädigung des Nächsten zielende Täuschung, Untreue, Perfidie“.9 Die Einpeitscher  M. A.  Klopfenstein, Art. rq,v,, THAT II (41993) 1010–1019, 1011.

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27,11

verfolgten also nichts anderes als die heimtückische Absicht, die Adressaten den babylonischen Massendeportationen auszuliefern (10a). Während der nominell ebenfalls an die Nachbarkönige gerichtete Kontext Vv. 5–8.11 auf Anreden verzichtet, benutzt der Redaktor unbefangen die 2. Person Plural, womit er die fiktionale Maske ein Stück weit lüftet und deutlicher erkennen lässt, dass es ihm um judäische Adressaten geht. In 10bc hat die prämasoretische Revision wieder an den Lenker des Geschehens erinnert, indem sie mit Sprachmaterial aus 15bc festhielt, dass die Zerstreuung nur Jhwhs Tat sein könne. Der Nachtrag hat auch ein Wortspiel yTix.D:hiw> w˙=hiddaḥtī ich werde versprengen 10b // yTix.N:hiw> w˙=hinnaḥtī ich werde (wohnen) lassen 11a hervorgebracht, das den Kontrast zwischen der negativen und der anschließenden positiven Alternative weiter pointiert. V. 11 trägt in ähnlicher syntaktischer Struktur und teilweise wiederkehrender Wort- 11 wahl die positive Alternative zu V. 8 vor: Unterwerfung unter den König von Babel (11c), abermals durch die Metapher des Jochs mit der Zeichenhandlung verknüpft (11b || 8d), werde Jhwh (!) veranlassen, von der Deportation abzusehen (11a), mit der Folge, dass die betroffene Nation ihren eigenen Grund und Boden bewirtschaften und bewohnen könne (11de). Die göttlich verfügte Herrschaft Nebukadnezzars (V. 6) zieht dem Ertrag der erwünschten Wahlmöglichkeit notwendig Grenzen, ohne dass er deshalb nichtig wäre: Dienst (db[ 11c) für den König von Babel bedeutet Bestellung (db[ 11d) des eigenen Ackers, in einer agrarisch geprägten Gesellschaft immerhin ein hohes Heilsgut. Damit endet der erhaltene Bestand der Grundschicht von Jer 27, aber es ist zu bezweifeln, dass sie jemals weiter reichte, da Berichte von Prophetenbeauftragungen die Ausführung häufig übergehen.10 Als Wort an ausländische Mächte stilisiert, doch für judäische Ohren bestimmt, verdeutlichte das Schriftstück, dass die weltgeschichtlichen Vorgänge uneingeschränkt Jhwhs Steuerung unterstanden; er war nicht den Göttern Babyloniens unterlegen, sondern er hatte aus eigener Machtvollkommenheit die Weltherrschaft an Nebukadnezzar übertragen. Ferner hatte Jhwh rechtzeitig durch Jeremia den Weg gewiesen, die Verbannung zu vermeiden. Es kennzeichnet diese Quelle, dass der verheißene Heilsgewinn für den Gehorsam gegenüber Jhwhs Gebot zur Untertänigkeit nicht über die ungestörte Existenz auf und von der eigenen Scholle hinausreicht. Man wird aus dem Nachdruck auf dem Thema Verbleib in der Heimat schließen dürfen, dass die Exilierung von 587 mittlerweile stattgefunden hatte. Ferner legt das Dokument Zeugnis ab für das Trauma, das die Deportationen bei den Judäern hinterließen, wie umfangreich auch immer sie tatsächlich gewesen sein mögen.11 Zudem fällt auf, dass die Grundschicht das Ausbleiben der Verschleppung ausschließlich von einer politischen Forderung abhängig macht; sie ist damit trotz gewisser deuterojeremianischer Züge (s. Textgenese) theologisch weit entfernt von deuteronomistischen Stimmen, die die Katastrophe auf religiöses und soziales Versagen zurückführen. Dagegen kommt 27* jenem Umgang mit der babylonischen Bedrohung nahe, der die frühen 10 Vgl.

z. B. 16,1–9; 19,1–13; 43,8–13; 51,59–64d; Jes 7,3–9 u. ö.  Vgl. die Überblicke über neuere Schätzungen bei Keel, Geschichte I 614–619, § 793–802; ­Frevel, Geschichte Israels 272–274. S. ferner unten zu 52,28–30. 11

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Quellen in 37–39 charakterisiert (s. z. St.). Wie dieser Zugriff auf die Schuldfrage und die vorausgesetzte Unabänderlichkeit babylonischer Herrschaft belegen, stoßen wir hier auf eine sehr frühe Phase der Reflexion über die tiefste kollektive Wunde, die Israel in seiner im AT gespiegelten Geschichte erlitten hat. Anscheinend bald nach der Einnahme Jerusalems 587 hat ein Jeremia nahestehender Autor (Baruch?) diesen Auftrag zu einer prophetischen Zeichenhandlung für die Nachwelt festgehalten, um den Nachweis zu führen, dass die von Jhwh verfügte babylonische Weltherrschaft, die bei aller Verknechtung durchaus heilvolle Aspekte einschließt, den Judäern eine würdige Existenz ermöglicht. Überdies wären ihnen die Deportationen erspart geblieben, hätten sie sich bloß der gottgewollten Ordnung gebeugt. Hierin melden sich die für die älteren Jeremia-Erzählungen so typischen apologetischen Interessen (vgl. 28*; 36*; *37–39). Sonst sind diese Texte mehrfach bemüht zu zeigen, dass Jeremia mit seiner Botschaft, wie sehr sie auch als Ausverkauf des traditionellen, zionstheologisch geprägten Glaubens diffamiert wurde, immer das Wohlergehen seiner Landsleute im Auge hatte. Das gilt auch für die Grundschicht von 27, doch steht hier der Rettungswille Jhwhs stärker im Vordergrund. Deshalb ist das Schriftstück ein frühes Beispiel der Theodizee im Angesicht der Exilskatastrophe. Als Subtext dürfte der unausgesprochene Rat mitschwingen, ein kooperatives Verhältnis zu den Babyloniern zu suchen. 12 V. 12 eröffnet den zweiten und kürzesten Abschnitt des Kapitels: Jeremias Worte an Zidkija (bis V. 15). Die Redeeinleitung unterstreicht durch die betonte Position der Adressatenangabe vor dem Verb den Einschnitt. Nach Sprachgebrauch und Thema erhebt in 12ab.14–15 wieder der aus 9–10a bekannte zweite Falschprophetenredaktor seine Stimme, um die Grundschicht in den Bahnen seiner theologischen Schwerpunkte weiter zu aktualisieren, und zwar jetzt auch explizit für Juda (sein impliziertes Publikum bestand ohnehin aus Judäern, obgleich wahrscheinlich im Exil). Wenn die Einleitung das Folgende als prophetische Botschaft für Zidkija deklariert (12a), so aus Gründen der literarischen Parität, da der Vortext, in den der Redaktor seinen ersten Zusatz eingefügt hatte, ebenfalls an Könige gerichtet war (V. 3–4). Die Rede selbst spricht konstant wie schon V. 9–10 ein pluralisches Auditorium an, also die Judäer insgesamt. Der Redaktor wendet sich damit direkt seinen eigentlichen Adressaten zu, zumal Zidkija zur Zeit der Niederschrift bereits von der Bühne abgetreten war. Wie schon der frühere Autor von V. *16–22 (ich redete 16a), liest die Redeeinleitung den Kontext als Ich-Bericht (ich redete 12a), während dieses Merkmal in den Vortext erst durch den prämasoretischen Zusatz zu mir (2a) eindrang. Eine Berufung auf einen Auftrag fehlt, doch wenn es heißt: ich redete gemäß allen diesen Worten …, werden die beiden Reden derart verknüpft, dass die Worte für Zidkija bzw. Juda als situationsgerechte Anwendung des Orakels für die Nachbarkönige auf judäische Adressaten erscheinen. Bevor die hochgradig formelhafte Applikation einsetzt, resümiert 12b in nur einem Satz die Kernbotschaft Jeremias, den Appell zur Unterwerfung unter den König von Babel, wieder in das Bild des Jochtragens gefasst (vgl. 11b.8d). 14–15 Der größte Teil der Rede in ihrer vormasoretischen Gestalt ist dagegen der Warnung vor den Falschpropheten gewidmet, bei zahlreichen Übereinstimmungen mit dem Gegenstück in 9–10a. Der Redaktor rechnet allerdings, darin dem dtn Prophetengesetz ähnlich (Dtn 18,9–18), in Juda im Unterschied zu den Nachbarländern nur mit 144

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27,12c–13

einer einzigen Zunft von Mantikern, den Propheten. Die Parallelen zu 9–10a beginnen mit dem Aufruf, den Falschpropheten die Gefolgschaft zu verweigern (14a || 9a), wenn sie ihre zu 12b(c) exakt gegenteilige Kernaussage deklamieren, die gleichlautend mit der ihrer ausländischen Kollegen zitiert wird: Dient nicht dem König von Babel! (14b = 9c), fortgeführt durch den Vorwurf, Lüge zu weissagen (14c || 10a). Anschließend geht die Rede mehrfach über ihre Parallele hinaus, um Anklagen vorzutragen, die bei nichtjudäischen Wahrsagern nicht einschlägig wären: fehlende Sendung durch Jhwh (15a) und Lügenprophetie in seinem Namen (15b). Wieder mit den auswärtigen Gesinnungsgenossen teilen müssen die judäischen Falschpropheten die Rüge, böswillig die Zerstreuung ihrer Opfer im Schilde zu führen (um euch zu versprengen 15b AlT || um euch von eurem Ackerboden zu vertreiben 10a), wobei ein prämasoretischer Rezensor erneut darauf bedacht war, die Vollstreckung der Folgen Jhwh vorzubehalten (damit ich euch versprenge 15b MT; vgl. 10bc MT). Das konsequente Endergebnis wäre der gemeinsame Untergang der Judäer mit ihren Falschpropheten (15c), was deren Gebaren als selbstzerstörerisch hinstellt und sie für das Exil haftbar macht. Wie in 9–10a erscheinen sie als antibabylonische Agitatoren in prophetischem Habitus; von einer positiven Botschaft, die etwa einen konkreten Vorteil des Widerstands gegen die Babylonier in Aussicht stellte, lesen wir nichts. Es fehlt daher abermals eine explizite Stilisierung als Heilspropheten, obwohl es sich nach allen externen Indizien um solche gehandelt haben muss. Die Parallelisierung mit ihren ausländischen Kollegen stellt sie ferner als Betrüger hin, die die heidnischen Mantiker noch übertreffen, weil sie sich obendrein fälschlich auf Jhwh berufen. Die Leidenschaftlichkeit der Polemik weckt den Eindruck, hier werde nicht nur eine unheilvolle Geschichte aufgearbeitet, sondern ein nach wie vor virulentes Problem angegangen. Mit dieser Prämisse lässt sich erschließen, warum der Redaktor zu den Hoffnungen der Gegenpartei schweigt: Die Zukunftserwartungen mussten zur Abfassungszeit nach der Katastrophe notwendig anders lauten als in der erzählten Welt. Das Ausklammern dieses Themas erleichterte daher die Aufgabe, gegenwärtige Heilspropheten zu bekämpfen, indem man ihre vorexilischen Vorgänger stellvertretend aufs Korn nahm. Nachdem die von den Falschpropheten verschuldete Zerstreuung eingetreten war (15b), galt es für den Redaktor, den in 15c befürchteten endgültigen Ruin zu verhindern, indem den aktuellen Heilspropheten mit ihrem – aus der Warte des Autors gesprochen – antibabylonischen Abenteurertum das Handwerk gelegt wurde. Ein prämasoretischer Ergänzer hat dann an den Dienst des Königs von Babel 12c–13 einen Lohn geknüpft, der erheblich über V. 11 hinausgeht: Dient ihm und seinem Volk, damit ihr lebt! (12cd). Zusätzlich hat der Bearbeiter in 17bc MT den Appell teilidentisch in die Rede an die Priester und Propheten eingefügt. Er hat also den Aufruf durch Wiederholung eingeschärft, ließ ihn aber nur an die Judäer, nicht an die anderen Völker gerichtet sein. Wie die Reservation der Heilschance für Juda andeutet, stellen 12d und 17c nicht etwa nach Art von Gen 20,7 das bloße Entrinnen vor dem Tod in Aussicht. Vielmehr erhält der für die Unterwerfung versprochene Gewinn eine grundsätzliche Qualität, die der Neubewertung Nebukadnezzars in den masoretischen Überschüssen korrespondiert, wie sie gebündelt in seinem Knechtstitel 145

27,12c–13

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aufscheint (6a): Dienst für Jhwhs Werkzeug Nebukadnezzar gewährt jenes Leben im erstrebenswerten Vollsinn, das auch in Spr 4,4; 7,2; 9,6 verheißen wird. V. 13 präsentiert per rhetorischer Frage die Alternative für den Fall der Weigerung: Tod durch die Plagentrias Krieg, Hunger und Seuche, die Jhwh zuvor schon als Folge der Insubordination angedroht hatte (vgl. V. 8). 16–22 Die Redeeinleitung 16a eröffnet das dritte Gotteswort Vv. 16–22, das prämasoretisch am stärksten erweitert worden ist. Hier spricht der frühere Falschprophetenredaktor, der mit diesem Bindeglied die Grundschichten von 27 und 28 erstmals vereinte und sein Werk streckenweise als Ich-Bericht gestaltete. Weil die Verkündigung für Juda bestimmt war, entlehnte er die Adressaten die Priester und dieses ganze Volk aus 28* (vgl. 28,1.5.7.10AlT.11). Ihre Platzierung vor dem Verb betont wie in 12a die Zäsur. Wie später bei der zweiten Falschprophetenredaktion übermittelt Jeremia eine Warnung Jhwhs vor Falschpropheten, die indes anders als dort (9c.14b) mit einer konkreten Botschaft eindeutig als Heilspropheten identifiziert werden: Ähnlich wie Hananja in der folgenden Quelle verheißen sie die Rückkehr der 597 von den Babyloniern im Zuge der ersten Exilierung konfiszierten Tempelgeräte (16d); allerdings nennen sie keinen Zeitpunkt und schweigen zu König Jojachin und der Gola (vgl. dagegen 28,3–4.6). Selbst wenn in einem realweltlichen Szenario das eine kaum ohne das andere denkbar wäre (und die Falschpropheten damit auch den Zusammenbruch des babylonischen Reiches implizit voraussetzen), markiert die Auswahl der Gegenstände auf literarischer Ebene doch eine erklärungsbedürftige Akzentverschiebung (dazu sogleich). Jedenfalls wird damit erstmals ausgesprochen, dass die Akzeptanz der babylonischen Weltherrschaft für Juda eine spezielle, besonders schmerzliche Note besitzt: Es geht für Juda nicht wie bei den anderen Völkern einfach um den Verbleib im eigenen Land durch Vermeidung der drohenden Deportation (V. 11), sondern das Exil ist für Juda bereits Wirklichkeit geworden, insofern ein Teil der Tempelgeräte nach Mesopotamien verbracht wurde. V. 20 wird darüber hinaus die Verschleppung König Jojachins erwähnen (in MT um alle Vornehmen Judas und Jerusalems ergänzt; zur Namensvariante Jechonja s. die Einleitung zu 27–29). In formelhafter Sprache wird die Ankündigung der Heilspropheten als Lüge prophezeien verworfen (16e; Kon 86 f.). Ebenfalls dem vormasoretischen Wortlaut entstammt die Aussage, dass die Verfechter einer solchen Hoffnung, wären sie denn tatsächlich Propheten, das Weissagen unterließen, um stattdessen ihre Pflichten mit einer anderen Hauptaufgabe ihres Standes zu erfüllen: der Fürbitte (18a–c), hier besonders emphatisch umschrieben als „Jhwh bedrängen“ (18c; vgl. 7,16).12 Indem die Heilsverkünder versäumen, Fürbitte einzulegen, verraten sie, dass sie gar keine Propheten sind. Denn – so die Logik des Kontextes – allenfalls die Fürbitte könnte noch die bei Jhwh vorherbestimmte Zukunft verhüten, die Jeremia in den vormasoretischen Passagen von V. 19–22 offenbart: Auch von den bei der Verbannung Jojachins verschonten Tempelgeräten soll noch ein Anteil dem Abtransport nach Babylon verfallen (in MT auf den gesamten Rest gesteigert: s. u.). 12  Zur Fürbitte als klassischer prophetischer Aufgabe vgl. neben 7,16 z. B. 11,14; 14,11; 15,11; 18,20; 37,3; 42,2; Gen 20,7.17; 1 Sam 7,5.8–9; 12,19.23; 1 Kön 13,6; 2 Kön 6,17; 19,4 || Jes 37,4; Am 7,1–6; dazu die Rolle Moses als Fürbitter in Ex 17,10–12; 32,11–13; Num 11,2; 12,13; 14,13–19; 16,20–22; 21,7; Dtn 9,18–20.25–29.

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27,16–22

Durch ihre Pflichtvergessenheit führen die Heilsverkünder daher das Gegenteil ihrer Botschaft herbei, ähnlich wie Hananja in 28, wenn er das Joch auf Jeremias Schultern zerbricht (s. zu 28,13): Nicht nur bleibt die angekündigte Heimkehr der Kultrequisiten aus, sondern es werden sogar noch mehr davon entwendet werden. Im Einklang mit der Fokussierung auf die Tempelgeräte im Zitat der Heilspropheten 16d wird auch hier nur der Raub weiterer Kultutensilien, aber kein neuer Deportationsschub prophezeit. – Näheres zur Konfiskation von Kultgegenständen im Alten Orient und zu dem religiösen Trauma, das diese Praxis und die Verschleppung von Geiseln bei den Judäern hinterließen, s. u. bei der Auslegung von Kap. 28. Als der Redaktor mit diesem Stück seine Vorlagen verschweißte, baute er einen Aspekt aus, der in 28* angelegt war: In beiden Quellen ging es um die Frage des religiös gebotenen Umgangs mit der babylonischen Übermacht, doch 28* bürdete darüber hinaus rhetorisch einem einzelnen falschen Heilspropheten die Verantwortung für die Brutalisierung der babylonischen Herrschaft auf (s. z. St.). Der Bearbeiter kollektivierte die Kritik, indem er sie auf die als Mehrheit verstandenen Heilspropheten insgesamt ausdehnte, um schwerwiegende Anklagen zu erheben: Sie haben schmählich versagt, indem sie ihr Publikum über die wahren Pläne Jhwhs hinwegtäuschten, statt dem Gebot der Stunde zu folgen und ihrer Pflicht zur Fürbitte nachzukommen, die vielleicht noch eine Wende zum Besseren hätte bewirken können. Die falschen Heilspropheten werden vollends demaskiert, indem nicht nur der versprochene Umschwung ausbleibt, sondern die Lage sich umgekehrt sogar verschlimmert. Am Vorgehen des Ergänzers erstaunt, dass er gegenüber Jer 28* das Thema Exil auf die Tempelgeräte reduzierte und die Menschen ausklammerte, von Jojachin abgesehen, dessen Verschleppung in V. 20 allerdings auch nur als Datierungsmarke zur Sprache kommt, freilich in einer Weise, die wichtige Hinweise zu Zeit und Ort der Redaktion liefert: Der Bearbeiter hebt eigens hervor, dass die bereits konfiszierten Kultgegenstände anlässlich der Deportation Jojachins entwendet wurden. Die für Zeitgenossen überflüssige Präzisierung verrät indirekt den Bedarf an Unterscheidung von einem weiteren, ähnlich gearteten Vorgang. Folglich hat der angekündigte zusätzliche Raub mittlerweile stattgefunden und wird ex eventu prophezeit. Wenn ferner Jojachin in V. 20 vormasoretisch von Jerusalem, aber noch nicht nach Babel verbannt wird, erscheint folgende Hypothese zu Hintergrund und Absichten des ersten Falschprophetenredaktors plausibel: Er schrieb recht bald nach 587 unter den Exilanten, um sie gegen dort weiterhin aktive heilsprophetische Verführer zu feien, die er mit dem Thema Rückerstattung der liturgischen Gerätschaften charakterisierte, während er über die Heimkehr der Menschen schwieg, weil derlei Verheißungen seiner Kontrahenten bei seinen Adressaten wohl doch zu populär gewesen sind (es sei denn, das Thema wurde bereits in seinen Vorlagen angeschnitten: 28,3–6). Solchen Wunschträumen hielt er entgegen: Die Realitäten waren so beschaffen, dass Propheten, denen das Heil der Exilanten wirklich am Herzen lag, sich besser dem Dienst der Fürbitte widmen sollten. Die dritte Rede wurde in der prämasoretischen Phase massiv ausgebaut. V. 17 trug in enger Anlehnung an 12c–13a die späte Hochschätzung Nebukadnezzars ein, konkretisiert in dem Kausalkonnex „dem König von Babel dienen und leben“. Um147

27,16–22

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fangreiche Zusätze in 18d–21 erweiterten die angekündigte babylonische Beute auf buchstäblich alle verbliebenen Wertgegenstände in Tempel und Königspalast sowie der Stadt Jerusalem; mehrere Wiederholungen sollten jeder Relativierung einen Riegel vorschieben (18d.19.21). Zudem wurden einige besonders markante Ausstattungsgegenstände des Heiligtums explizit herausgegriffen (V. 19): die Säulen, das Meer und die Kesselwagen, eine an 52,17 || 2 Kön 25,13 und 1 Kön 7,15–38 orientierte Reihe.13 Mit den Säulen dürften die beiden Rundpfeiler namens Jachin und Boas gemeint sein, die den Eingang zum Tempelgebäude flankierten und durch ihre mit Lotos-, Blattkranz‑ und Granatapfelornamenten geschmückten Kapitelle (1 Kön 7,15–22) „die Regenerationskraft des Orts der Gegenwart JHWHs als solar konnotierter Gottheit“ vergegenwärtigten (Keel, Geschichte I 317). Dazu kam das eherne Meer, ein kreisrundes Wasserbecken von gewaltigem Format: Sein Durchmesser soll ca. 5 m und seine Höhe ca. 2,5 m erreicht haben (1 Kön 7,23–26). Es stellte das von Jhwh im Meereskampf gebändigte Urmeer als Quelle allen Lebens dar.14 Die Kesselwagen waren auf Fahrgestellen montierte Wasserschalen (1 Kön 7,27–39), denen neben praktischen Funktionen im Opferbetrieb vielleicht auch eine symbolische Rolle zukam als Repräsentationen der lebensspendenden Flüsse, die sich aus dem gezähmten Urmeer verzweigen.15 Neben diesen Gegenständen zogen mit allen Vornehmen Judas und Jerusalems nun auch Menschen in die Listen ein (V. 20). Im Gegenzug ging nach der pedantischen Aufschlüsselung des Geltungsbereichs (Vv. 19–20) das eigentliche Orakel, durch eine zweite, besonders feierliche prophetische Botenformel abgesetzt (V. 21), weit über die alte Ansage der Deportation (22a) hinaus, indem es auf die Rückerstattung ausgriff, stilisiert als Tat Jhwhs (22cd) und datiert auf einen von ihm zu bestimmenden Zeitpunkt (22b). Demnach sollten die Säulen, das Meer und die Kesselwagen nach Jerusalem zurückkehren, obwohl sie laut 52,17 || 2 Kön 25,13 vor ihrem Abtransport von den Babyloniern zerschlagen worden waren (was schon aufgrund ihrer Größe nicht zu vermeiden war). Die Revision verankerte ein Kontinuitätsmotiv im Text: Es galt festzustellen, dass die relevanten Wertgegenstände in Jerusalem und namentlich im Tempel mit jenen der Königszeit identisch waren, ein Element des kanonischen atl. Geschichtsbilds, das auch von Esr 1,7–11; 5,14–15; 6,5; Bar 1,8–9 bezeugt wird. So drangen die Botschaften von Jeremias heilsprophetischen Widersachern – die Restitutionsverheißung und damit implizit auch die Ansage des Endes der babylonischen Herrschaft – auf dem Weg der literarischen Anreicherung schließlich in die eigene Verkündigung Jeremias vor. Weil infolgedessen der Konflikt mit seinen Antipoden auf divergente Vorstellungen von der abzuwartenden Frist schrumpfte, wurde die gegnerische Version der Rückgabeverheißung um die Zeitangabe und zwar bald präzisiert (16d).

13 Vgl.

zum Ganzen ausführlich Zwickel, Tempel 113–142; Keel, Geschichte I 316–330, § 369–

14 Vgl.

z. B. Ps 29,3.10; 93; 89,9–13; 104,5–13; Ijob 26,5–13 u. a. Gen 2,10–14; Sach 14,8; Ps 46,5.

381.

15 Vgl.

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Jeremia und Hananja 1  a  Es geschah [im selben Jahr, am Anfang der Königsherrschaft Zidkijas, des Königs von Juda,] im vierten Jahr im fünften b1  da sagte zu mir der Prophet Hananja, der Sohn Asurs, ​ c  der aus GiMonat, ​ beon (stammt), ​ b2  im Haus Jhwhs vor den Augen der Priester und des ganzen 2  a  So spricht Jhwh [der Heerscharen, der Gott Israels]: ​ b  (Hiermit)a Volkes: ​ 3  a  Binnen zwei Jahrena schaffe zerbreche ich das Joch des Königs von Babel. ​ b  [die Nebukadnezzar, ich [alle] Geräte des Hauses Jhwhs an diesen Ort zurück, ​ c  [und nach Babel geder König von Babel, von diesem Ort weggenommen] ​ bracht hat], ​ 4  a  und auch Jechonja, [den Sohn Jojakims, den König von Juda,] und die [ganze] Exilantenschaft Judas, [die nach Babel gekommen sind, lasse ich zurückkehren an diesen Ort  – Spruch Jhwhs  –], ​ b  denn ich werde das Joch des Königs von Babel zerbrechen. ​ 5  Da sagte [der Prophet] Jeremia zu [dem Propheten] Hananja vor den Augen der Priester und vor den Augen des ganzen Volkes, die im Haus Jhwhs standen; ​ 6  a  [der Prophet] Jeremia sagte (also): ​ b  Gewiss, so soll Jhwh tun! ​ c1  [Jhwh] erfülle deine Worte, ​ d  die du prophezeit hasta, ​ c2  indem er die Geräte des Hauses Jhwhs und alle Verschleppten aus 7  a  Bloß höre doch dieses Worta, ​ b  das Babel an diesen Ort zurückschafft. ​ 8  aP ​ Die Proich vor deinen Ohren und vor den Ohren des ganzen Volkes rede: ​ pheten,  ​b  die es vor mir und vor dir seit jeher gegeben hat, ​ a  sie prophezeiten über viele Länder und große Königreiche Kriega, [Unheila und Seuchea]. ​ 9  aP ​ Der Prophet jedoch, ​ b  der Heila prophezeit  – ​ a  (für den gilt:) am Eintreffen c  den Jhwh wirklich des Wortes [des Propheten] erkennt man den Propheten, ​ 10  a  Da nahm [der Prophet] Hananja die Jochstange vom Nacken [des Propheten] Jeremia  ​b  und brach 11  a  Hananja sagte vor den Augen des [ganzen] Volkes: ​ b  So sie entzwei. ​ c  Ebenso werde ich das Joch [Nebukadnezzars,] des Königs von spricht Jhwh: ​ d  Und [der Babel, [binnen zwei Jahrena] vom Nacken aller Nationen brechen. ​ Prophet] Jeremia ging seines Weges. 12  Da erging das Wort Jhwhs an Jeremia, nachdem [der Prophet] Hananja die Jochstange vom Nackena [des Propheten Jeremia] entzweigebrochen hatte: ​ 13  a  Geh ​ b  und sag zu Hananja: ​ c  So spricht Jhwh: ​ d  Jochstangen aus e  an ihrer Stelle wirst dua Jochstangen aus Eisen maHolz hast du zerbrochen; ​ chen. ​ 14  a  Denn so spricht Jhwh [der Heerscharen, der Gott Israels]: ​ b  Ein Joch aus Eisen lege ich (hiermit)a auf den Nacken aller [dieser] Nationen, sodass c  [Sie werden ihm sie [Nebukadnezzar,] dem König von Babel, dienen müssen. ​ d  [und sogar das Getier des Feldes gebe ich ihm (hiermit)a.] dienen,] ​ 149

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15  a  Und [der Prophet] Jeremia sagte zu [dem Propheten] Hananja: ​ b  [Hör c  Jhwh hat dich nicht gesandt, ​ d  doch du hast dieses Volk doch, Hananja!] ​ 16  a  Darum – so spricht Jhwh: ​ b  Siehe, ich verleitet, auf Lüge zu vertrauen. ​ c  (Noch dieses) Jahr stirbst du! ​ d  [Denn schicke dich vom Erdboden hinweg. ​ Auflehnung hast du gegen Jhwh gepredigt.] ​ 17  Und [der Prophet Hananja] verstarb [im selben Jahr] im siebten Monat. 2 a qatal-Formation für Koinzidenz (performativer Sprechakt). 3 a Wörtl. in noch zwei Jahren an Tagen. 6 a AlT die du prophezeist. 7 a Die AlT-Variante das Wort Jhwhs ist sekundär (TK). 8 a Nach Jenni, Lamed 148, dient die Präposition l als Lamed illocutionis zur Angabe des Themas nach Verba dicendi (Rubrik 6935). 9 a S. 8 a. 11 a S. 3 a. 12 a AlT von seinem Nacken. 13 a AlT werde ich. 14 a S. 2 a.

Literatur: S. Lit. zu Jer 27–29. – A. Berlejung, Innovation als Restauration in Uruk und Jehud. Überlegungen zu Transformationsprozessen in vorderorientalischen Gesellschaften, in: E.J. Waschke (Hg.), Reformen im Alten Orient und der Antike. Programme, Darstellungen und Deutungen (Orientalische Religionen in der Antike 2), Tübingen 2009, 71–111. R. Brand­ scheidt, Der prophetische Konflikt zwischen Jeremia und Hananja, TThZ 98 (1989) 61–74. M. de Jong, The Fallacy of ‚True and False‘ in Prophecy Illustrated by Jer 28:8–9, Journal of Hebrew Scriptures 12 (2012), Art. 10. E. Di Pede, La manière de raconter et l’enjeu du récit. Jérémie présente Ananias en Jer 28,1 TM et 35,1 LXX, BI 16 (2008) 294–301. P. Gallagher, Discerning True and False Prophecy in the Book of Jeremiah, Asia Journal of Theology 28 (2014) 3–15. H.-J. Hermisson, Kriterien „wahrer“ und „falscher“ Prophetie im Alten Testament. Zur Auslegung von Jeremia 23,16–22 und Jeremia 28,8–9 (1995), in: ders., Studien zu Prophetie und Weisheit, hg. v. J. Barthel u. a. (FAT 23), Tübingen 1998, 59–76. S. Herrmann, Jeremia vor Chananja. Die angebliche Krise des Propheten, in: D. Vieweger, E. J. Waschke (Hg.), Von Gott reden (FS S. Wagner), Neukirchen-Vluyn 1995, 117–122. J. T.  Hibbard, True and False Prophecy. Jeremiah’s Revision of Deuteronomy, JSOT 35 (2011) 339–358. Y. Hoffman, Prophecy and Soothsaying, in: M. Cogan (u. a., Hg.), Tehillah le-Moshe (FS M. Greenberg), Winona Lake 1997, 221–243. Keel, Geschichte I 653–661, § 850–865. M. Kőszeghy, Der Streit um Babel in den Büchern Jesaja und Jeremia (BWANT 173), Stuttgart 2007. A. Lange, Vom prophetischen Wort zur prophetischen Tradition. Studien zur Traditions‑ und Redaktionsgeschichte innerprophetischer Konflikte in der hebräischen Bibel (FAT 34), Tübingen 2002. A. Osuji, Jer. 28 (MT) and the Question of Prophetic Authencity (From the Ideological to the Narratological), EstB 63 (2005) 175–193. J. Renkema, A Note on Jeremiah XXVIII 5, VT 47 (1997) 253–255. K. A. D.  Smelik, A Prophet Contest: Jeremiah 28 Reconsidered, in: M. C. A. Korpel, L. L. Grabbe (Hg.), Open-Mindedness in the Bible and Beyond (FS B. Becking; LHB.OTS 616), London 2015, 247–259. H.-J. Stipp, Zwei alte Jeremia-Erzählungen: Jer 28* und 36*. Fallstudien zum Ursprung der Jeremia-Erzähltradition, Bib. 96 (2015) 321–350. R. Wells, Dislocations in Time and Ideology in the Reconception of Jeremiah’s Words. The Encounter with Hananiah in the Septuagint Vorlage and the Masoretic Text, in: J. Goldingay (Hg.), Uprooting and Planting (FS L. Allen; LHB.OTS 459), New York 2007, 322–350. W. J.  Wessels, Winds of Change: An Old Testament Theological Perspective, OTE 7 (1994) 205–230. – S. auch die Lit. zu Jer 27.

Obwohl 28 auf eine andere Quelle zurückgeht als 27, setzt das Kapitel in der gegebenen Falschprophetenkomposition die dort angebahnte Ereigniskette fort und ist nach Verlust des eigenen Erzählanfangs auf diesen Vorspann angewiesen. In ihrem 150

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28,1

Kontext wirkt die Hananja-Episode als Beispielerzählung für die in 27,16–22 vorgetragene Kritik an den Heilspropheten, die die baldige Rückkehr der konfiszierten Tempelgeräte verheißen. Dazu nimmt das Kapitel einen führenden Vertreter aufs Korn (vgl. Vv. 3.6). Die ehemalige Selbstständigkeit klingt darin nach, dass die Hananja-Erzählung im Unterschied zu 27 von Anfang an datiert war (V. 1 AlT). Ferner entwirft V. 1 erstmals eine Szenerie, und die Vv. 8–9 widersprechen dem Kap. 27, indem sie die Existenz weiterer Heilspropheten neben Jeremias Gegenspieler ignorieren (s. z. St.). Außerdem tritt an die Stelle der unverorteten Monologe aus 27 der Wechsel von Dialog und Handlung, lokalisiert am religiösen Zentrum des judäischen Gemeinwesens: Der nur hier erwähnte Heilsprophet Hananja ben Asur prallt am Tempel (1b) mit Jeremia in einer dramatischen Kraftprobe zusammen. Dabei führt die kompositionelle Einheit nun das redaktionell vorverlagerte große Publikum aus Priesterschaft und gesamtem Volk (27,16a) weiter (vgl. 1b.5.7b.10aAlT.11a). Das Kapitel ist durch klare Textsignale in zwei Abschnitte gegliedert: V. 1 setzt durch yhiy>w: es war/geschah, eine absolute Datierung und die Vorstellung des neuen Protagonisten Hananja eine Zäsur gegenüber dem Vortext. V. 12 bewirkt dasselbe durch eine Wortereignisformel mit dem Prädikat yhiy>w: und eine relative Datierung. Damit ergeben sich die Segmente V. 1–11 und 12–17, von denen das erste den direkten Zusammenstoß schildert, während der zweite Abschnitt ein zeitlich abgesetztes Nachspiel zum Thema hat.

Erklärung Literatur: H.-J. Stipp, Die Akzessionsjahre Jojakims und Zidkijas. Drei merkwürdige Datierun- 1 gen im Jeremiabuch (Jer 27,1; 28,1; 49,34/26,1) (im Druck).

Der masoretische Text von 1a bietet eine in sich widersprüchliche Doppeldatierung. Nach AlT hat der Konflikt Jeremias mit Hananja im fünften Monat (Ab; Juli/August) des vierten Regierungsjahrs Zidkijas (594/3) stattgefunden. MT behält diese Angabe bei, setzt jedoch Zidkijas Akzessionsjahr (597; zum Begriff s. zu 26,1) unvermittelt daneben. Die Worte im selben Jahr erweitern die Gültigkeit der beiden einander ausschließenden Datierungen überdies rückwirkend auf die Reden Jeremias in 27,12–22, wobei die nicht erzählte Ausführung der in 27,2–11 erteilten Aufträge Jhwhs an seinen Propheten hinzuzudenken ist. Die zusätzliche Verankerung des Geschehens im Jahr der Thronbesteigung Zidkijas laut 28,1 MT erinnert an 27,1 MT, wo der eröffnende Redeauftrag ähnlich überraschend ins Antrittsjahr Jojakims verlegt wird. Da die beiden späten Zusätze dasselbe idiolektale Merkmal teilen (s. Textgenese), hat hier mit Sicherheit derselbe Ergänzer eingegriffen. Wie der Rückverweis im selben Jahr anzeigt, wollte er die Gottesrede 27,2–11 ebenfalls im Akzessionsjahr Zidkijas verorten, vertat sich aber, indem er sich in 27,1 formal an 26,1 anlehnte und darüber vergaß, den Namen Jojakim gegen Zidkija auszutauschen. Obendrein ließ er in 28,1 die ältere Datierung stehen und rief so auf Buchebene eine doppelte Synchronisierung des Hananja-Stoffes hervor. Sein Versuch, die in 27 f. überlieferten Geschehnisse an den Beginn der Ära Zidkijas zu verlagern, resultierte aus seinem Wunsch, das Er151

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gehen des Redeauftrags 27,2–11 mit Blick auf 27,3 an die Offenbarung der (meisten) Fremdvölkerorakel heranzurücken, die sich in seinen Augen, wie er dem Datum des Elam-Spruchs (49,34 MT ≙ AlT 26,1; s. zu 27,1) entnahm, im Antrittsjahr Zidkijas zugetragen hatte. Im Ergebnis entwirft MT das folgende geschichtstheologische System: Jhwh weihte den Propheten Jeremia zeitnah zur Amtsübernahme Jojakims in die Vergabe der befristeten Weltherrschaft an Nebukadnezzar ein (27,1.5–7). Die Offenbarung erfolgte somit noch vor der babylonischen Expansion in die Levante und erscheint im Leseablauf als Jhwhs Antwort auf vorweg geschilderte Vergehen der Judäer: der im gleichen Jahr angesiedelte, intendierte Justizmord an Jeremia (26,1–19.24) sowie der undatierte, aber vollendete Mord an seinem Gesinnungsgenossen Urija ben Schemaja (26,20–23; s. zu 27,1). Doch obwohl der Dienst für den König von Babel mit dem Bild des Jochtragens zu beschreiben war (27,8.11–12), sollte er für Juda auch unbehelligte Existenz auf eigenem Boden (27,11), ja Leben schlechthin bedeuten (27,12cd.17bc). Das Jahr der Thronbesteigung Zidkijas (28,1) hingegen bezeichnet den Moment, als an die Stelle des hölzernen Jochs ein eisernes trat (28,13–14). Grund war eine weitere Freveltat an Jeremia: In jenem Jahr übermittelte der Prophet den Judäern den Befehl Jhwhs, das Joch Nebukadnezzars zu schultern, also die babylonische Herrschaft als gottgewollt anzunehmen. Weil Jhwh obendrein durch Jeremia verkündete, dass die übrigen Wertgegenstände aus Tempel, Palast und Stadt nach Babylon geraubt, aber schließlich zurückerstattet würden, deutete er zugleich das Ende der gegenwärtigen Not an, selbst wenn er den Zeitpunkt noch offenließ (27,12–22 in der ersten Datierung von 28,1). Doch damit erntete Jhwh bloß die Versuche des Falschpropheten Hananja, den wahren Gottesboten als Betrüger zu diffamieren und über Jhwhs tatsächliche Wünsche hinwegzutäuschen, ein Vorgang, dem der prämasoretische Revisor offenbar exemplarischen Charakter zuschrieb für den Umgang der Judäer mit Jeremia und dem durch ihn ausgerichteten Gotteswillen überhaupt. So nahm für diesen Bearbeiter die Weltherrschaft Nebukadnezzars in zwei Stufen ihre endgültige Gestalt an, abhängig von der Reaktion der Judäer auf Jhwhs Mahnungen: Im Jahr des Amtsantritts Jojakims enthüllte Jhwh seinen Beschluss vor Jeremia als Antwort auf die Verbrechen des Volkes an den amtlichen Warnern. Im Jahr der Thronbesteigung Zidkijas reichte der Prophet die Botschaft an die Judäer weiter. Dabei ließ Jhwh bereits das Ende der Not anklingen, verhängte aber auch einen weitaus schmerzhafteren Verlauf der babylonischen Krise als Antwort auf die Renitenz gegenüber seiner Übertragung der Macht an Nebukadnezzar. Die ältere Datierung ins 4. Jahr Zidkijas (594/3) führt auf der Buchebene in das Jahr, in dem laut 51,59–64 Jeremia die Babylonorakel 50,2–51,58 besonders wirkmächtig  – nämlich durch eine prophetische Symbolhandlung unterstützt  – deklamieren ließ. Demnach hat Jeremia gleichzeitig mit seiner Ansage der Zementierung und Brutalisierung der babylonischen Herrschaft (28,13–14) auch den Kollaps des mesopotamischen Großreichs angekündigt. Wie sich also im Leseablauf schließlich herausstellt, stand der Zenit der babylonischen Macht von vornherein unter der Proklamation ihres Untergangs. Historisch folgte das vierte Jahr Zidkijas der Thronbesteigung des Pharaos Psammetich II. (595–589), der nach einer Phase ägyptischer 152

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Schwäche infolge der Schlacht bei Karkemisch (605) erneut bemüht war, die Babylonier aus der Levante zu vertreiben, um eigene alte Ansprüche auf die Kontrolle des syropalästinischen Raums durchzusetzen, während Nebukadnezzar sich einer Meuterei seiner Truppen erwehren musste (s. zu 27,1). Dieser Zeitpunkt liefert daher eine plausible Kulisse für den heilstheologischen Enthusiasmus, den Hananja verkörpert, wie auch für die antibabylonische Konferenz in Jerusalem, die den Hintergrund zu 27,1–11 abgibt (s. z. St.). Damit haben Jeremias prophetische Zeichenhandlungen mit den Jochgeschirren hier ebenfalls einen natürlichen Anlass. Die ältere Jahreszahl muss schon der Grundschicht entstammen. Denn wie am Ende dieser Auslegung zu begründen ist, war die originale Fassung von Kap. 28 für ein vorexilisches Publikum bestimmt, das nur mit der Datierung in 1a AlT die Korrektheit von Hananjas Ankündigung überprüfen konnte, die Tempelgeräte würden vor Ablauf des nächsten Jahres nach Juda zurückkehren (3a; MT 11c). Zur Angabe im fünften Monat s. unten zu V. 15–17. Hananja ben Asur wird mit Filiation, Berufsbezeichnung der Prophet (in G als ψευδοπροφήτης Falschprophet vereindeutigt) und Herkunftsangabe (1bc) im Rahmen einer Redeeinleitung ausführlich als neue Figur vorgestellt. Er ist einzig aus Jer 28 bekannt. Sein Name Jhwh ist gnädig spiegelt sein theologisches Programm. Sein Heimatort Gibeon ist wahrscheinlich mit el-Ğīb 9 km nordwestlich von Jerusalem gleichzusetzen (s. zu 41,12). Die Arena des Tempels bildet, wie alsbald deutlich wird (V. 3), die passende Bühne für den Streit zwischen den beiden Propheten, der sich ja vorrangig an den nach Babylonien verschleppten Kultgeräten entzündet. Obwohl allein schon der Schauplatz eine optimale Öffentlichkeitswirkung gewährleistet, wird mit den Worten vor den Augen der Priester und des ganzen Volkes ein ideales Auditorium beschworen, das realweltlich nicht aufzubieten ist, aber den Lesern signalisiert, dass nun ein Vorfall ansteht, der über das Schicksal von – unter anderem (vgl. Vv. 11.14) – ganz Juda entscheiden wird und den seinerzeit auch alle Judäer miterlebt haben. Folgerichtig wird der Erzähler fürderhin beständig an den umfassenden Charakter des Publikums erinnern (5.7b.11a). Bei dem zeitnahen Ursprung der Grundschicht (s. u.) wird damit zudem beansprucht, lediglich in Erinnerung zu rufen, was ohnehin allen aufgrund eigener Zeugenschaft bekannt ist. So wichtig indes dem Autor die Totalität der Öffentlichkeit gewesen ist, weitere Propheten erwähnt er etwa im Gegensatz zu 26,7.8.11.16; 27,14–18 nicht, wozu sich fügt, dass auch Jeremia nur von (Unheils‑)Propheten wissen wird, die es vor mir und vor dir seit jeher gegeben hat (8b). Der Verfasser nimmt also in der erzählten Welt aus der prophetischen Zunft einzig Jeremia und Hananja wahr. Dies sind bedeutsame Fingerzeige für das Verständnis des Folgenden: Die Erzählung konfrontiert zwei prophetische Individuen mit ihren einander ausschließenden Wahrheitsansprüchen. Nochmals verstärkt wurde dieser Zug vom ersten Falschprophetenredaktor (s. Einleitung zu 27–29), der die eingearbeiteten Stücke der Hananja-Erzählung anfänglich in einen Ich-Bericht verwandelte: Danach verkündete der Falschprophet aus Gibeon sein Orakel, obwohl es alle Judäer anging, nicht der Menschenmenge, sondern primär seinem Kontrahenten (zu mir 1b). Natürlich hatten die beiden, wie schon die redaktionellen Schichten der Falschprophetenkomposition, der Rest des Buches und andere atl. Quellen voraussetzen, in der histo153

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rischen Wirklichkeit eine Vielzahl an Kollegen. Warum der Autor der Grundschicht darüber hinwegsah, muss die weitere Auslegung klären. 2–4 Der Erzähler zögert nicht, den Offenbarungsanspruch Hananjas durch die prophetische Botenformel zu repräsentieren (2a; ebenso 11b; in MT wurde noch die Gottesspruchformel in 4a ergänzt). Auf prämasoretischer Ebene reichte der Respekt vor dem Jhwh-Namen so weit, dass man ihm sogar hier nach üblicher Manier eine Serie von Hoheitstiteln beifügte (Kon 152 f.), obwohl ein Falschprophet das Wort ergreift (in der Terminologie der Grundschicht: einer, der nicht von Jhwh gesandt ist; vgl. 9c), ja nach prämasoretischem Verständnis sogar ein Verführer zum Götzendienst (16d z. St.). Auch im Orakel selbst lässt der Autor Hananja im Ich Jhwhs reden (2b–4; ebenso 11c). Der maßgebliche Punkt steht in metaphorischer Sprache am Anfang und wird am Ende rahmend wiederholt: Ich zerbreche das Joch des Königs von Babel. Das geschieht in 2b als qataltī-Formation für den performativen Sachverhalt (hiermit zerbreche ich), was nichts weniger behauptet, als dass Jhwh bereits durch das von Hananja promulgierte Wort das Ende des babylonischen Imperiums in Gang setzt. 4b verdoppelt den Satz, indem lediglich die Konjunktion yKi denn vorgeschaltet und der Akt des Zerbrechens durch eine yiqtul-Form in die Zukunft verlagert wird, was widerspruchsfrei mit 2b vereinbar ist, wenn man 4b auf die innerweltliche Manifestation des Angekündigten bezieht. Was Hananja damit in den Mund gelegt wird, ist durchaus gute Prophetentheologie, wo die hintergründige Realisierung durch das Prophetenwort und die spätere empirische Epiphanie sukzessive Stadien desselben Geschehens ausmachen. Hier umklammern die beiden Phasen die Konkretisierung des Bildworts in 3–4a: Die Wahrheit bei Gott geht voraus, die erfahrbare Wirklichkeit folgt als Begründung der eingerahmten Konkretisierung. Wenn Hananja dabei wie Jeremia in den redaktionell vorgeschalteten Passagen (27,8.11; vgl. V. 12) vom Joch des Königs von Babel redet (2b), ist vorausgesetzt, dass Jeremia bereits seine prophetische Zeichenhandlung aufführt, wie sich in V. 10 bestätigt und wie es für die redaktionelle Komposition ohnehin gilt (27,2c). Hananja verkündet somit schon in der Grundschicht nicht bloß ein falsches Prophetenwort, sondern er widerspricht Jeremia direkt. Damit schält sich die Polarität dieser beiden Figuren als der Fokus der Erzählung heraus. Die Konkretisierung der metaphorischen Ansage in 3–4a ist in der Tat sehr handfest: Hananja, im Kontext als Wortführer der in 27,14–22 attackierten Heilspropheten auftretend, nennt mit zwei Jahren eine knappe Frist, binnen derer Jhwh mit der Heimkehr aller verschleppten Menschen und Kultgeräte dem Exil ein vollständiges Ende bereiten werde. Nach der in der Antike üblichen inklusiven Zählung (vor der Entdeckung der Null) meinte die Zahl das laufende und das folgende Jahr, sodass sich nach heutiger Zählweise nur ein Jahr ergibt1 (streng genommen handelt es sich, wie der Text dasteht – vom 5. Monat [1a] bis zum Ablauf des folgenden Jahres –, um etwa anderthalb Jahre). Wenn Jhwh in diesem Zeitrahmen das Joch des Königs von Babel zerbrechen und das Exil beenden würde, war die Implikation klar: Vor Ablauf des 1  Vgl. v. a. 1 Kön 15,25 mit V. 33; 16,8 mit V. 10; 22,52 mit 2 Kön 3,1; ferner z. B. 1 Kön 15,1–2 mit V. 9; Mk 15,42 und 16,1–2 mit 1 Kor 15,4.

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kommenden Jahres werde Jhwh wunderhaft den Zusammenbruch des babylonischen Großreichs herbeiführen. Dass die Tempelschätze den Anfang der dreigliedrigen Liste einnehmen und damit noch vor König Jojachin rücken (zur Namensvariante Jechonja s. die Einleitung zu 27–29), vermittelt einen Begriff davon, wie sehr das Thema den Judäern auf den Nägeln brannte. Im Alten Orient war es gängige Praxis von Siegern, materiale Repräsentationen der Gottheiten geschlagener Kriegsgegner zu rauben (vgl. 48,7; 49,3)2 und in eigenen Heiligtümern zu deponieren, ein Akt von hoher Signalwirkung: Die Götter der Verlierer hatten sich gegenüber den Göttern der Sieger als schwächer erwiesen, und wenn die unterlegenen Gottheiten, vertreten durch geeignete Symbole, in fremden Tempeln Quartier beziehen mussten, waren sie noch mehr der Kontrolle ihrer Bezwinger ausgesetzt. Ferner konnte man die Götter der Besiegten an untergeordneter Stelle dem eigenen Pantheon einverleiben und so die politische Subordination zum irdischen Spiegelbild einer unverrückbaren Hierarchie in der himmlischen Welt erklären. Ein burleskes Echo dieses Konzepts ist die legendarische Erzählung 1 Sam 5,1–5, der zufolge die Philister die erbeutete Lade im Heiligtum von Aschdod neben dem Bildnis Dagons aufstellten – was dann allerdings ganz unbeabsichtigte Folgen gezeitigt haben soll. Insbesondere die Assyrer haben diese Methode propagandistisch genutzt, wie ein Relief aus Ninive in Abb. 2 illustriert, das assyrische Soldaten beim Abtransport erbeuteter Götterstatuen zeigt:

Abb. 2: Assyrische Soldaten, die vier Götterplastiken – eine davon in einem Schrein – nach der Niederschlagung einer Rebellion im Jahr 720 aus Gaza davontragen (Relief aus der Zeit des Königs Tiglat-Pileser III., 745–727).

 Jes 46,1–2 droht dieses Schicksal den babylonischen Götterbildern an.

2

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In einem antiken Denkrahmen festigten solche religiösen Faustpfänder die Macht der Sieger erheblich, da sie über die Manipulation der für die Besiegten zuständigen Gottheiten weitere magische Wege der Kontrolle über die unterworfenen Feinde eröffneten. Zwar hatten die Babylonier im Jerusalemer Tempel kein Bildnis Jhwhs beschlagnahmen können, weil sie dort, wie gegen neuere Zweifel festzuhalten ist,3 wegen der Bildlosigkeit der Jhwh-Verehrung kein solches Objekt vorfanden. Aber wenn sie andere Ausstattungsgegenstände und kultbezogene Gerätschaften konfiszierten (vgl. Abb. 3), dann ebenso wenig als normale Kriegsbeute, bei der primär der Materialwert zählte und die man nach Belieben verwerten konnte, sondern in der eben beschriebenen Funktion als magische Geisel, die ihre Aufgabe nur erfüllte, solange man sie als solche intakt hielt. Wenn die biblischen Quellen einhellig beteuern, dass die nach Babylon verbrachte Tempelausstattung trotz ihrer zumindest teilweisen Zerstörung (2 Kön 24,13; 25,13) zurückerstattet werden könne und tatsächlich nach Jahrzehnten repatriiert worden sei,4 setzt dies die Überzeugung voraus, dass derartige Horte von den Eroberern als identifizierbare Bestände aufbewahrt wurden (Dan 1,2; vgl. 5,2–3).

Abb. 3: Assyrischer Soldat, der einen Lampen‑ oder Räucherständer aus der eroberten judäischen Stadt Lachisch wegträgt (Detail aus einem Relief im Palast Sanheribs in Ninive, ca. 700  v. Chr.).

3 S. Keel,

Geschichte I 305–307, § 360–364.  Neben Jer 28,3–4.6 noch Jer 27,18–22; Esr 1,7–11; 5,14–15; 6,5; vgl. Bar 1,8–9. Zur Frage der historischen Glaubwürdigkeit dieser Nachrichten s. Keel, Geschichte II 996, § 1329, der eine Teilrestitution für möglich erachtet. 4

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Die Vorstellung, dass die Jerusalemer liturgischen Gerätschaften die Gottheit Jhwh selbst vergegenwärtigten, scheint nun auch von theologisch traditionsverhafteten Kreisen in Juda geteilt worden zu sein, denn anders ist die hohe emotionale Besetzung des Themas kaum zu verstehen. Wer meinte, dass Jhwh über seine geraubten Kultrequisiten in die Gewalt babylonischer Gottheiten gefallen war, dem musste schon bei dem bloßen Gedanken schaudern. Im Rahmen herkömmlicher Zionstheologie mit ihrem Glauben an die Uneinnehmbarkeit Jerusalems (vgl. v. a. Ps 46, 48, 76) schien die folgerichtige Konsequenz zu lauten, dass Jhwh eine solche Ungeheuerlichkeit nicht lange dulden würde. Nicht viel anders war es mit den weggeführten Judäern, allen voran König Jojachin. Königsideologische Texte wie namentlich die Königspsalmen (v. a. Ps 2, 45, 72, 89, 110), aber auch Zeugnisse für die davidische Dynastieverheißung (Natansverheißung 2 Sam 75) illustrieren, mit welch hochfliegenden Konzepten – wie nach Raum und Zeit unbegrenzter Herrschaft – das Jerusalemer Königtum zumindest in höfischen Kreisen besetzt war; dem entsprach der Schrecken, der sich verbreiten musste, wenn unser Lebensatem, der Gesalbte Jhwhs, in ihren Verliesen gefangen war (Klgl 4,20; vgl. Ps 89,39–52). Zudem hatte eine heilsoptimistische Jesaja-Rezeption, wie repräsentiert durch die sog. Assur-Redaktion des Jesajabuches, der genannten Spielart der Zionstheologie im ausgehenden 7. Jahrhundert vor dem Hintergrund der raschen Erosion des assyrischen Imperiums frischen Auftrieb verliehen.6 Hananja wird als glühender Verfechter solcher theologischer Denkweisen stilisiert, wenn er ein Orakel verkündet, das der Sache nach auf die Verheißung hinauslief, dass Jhwh demnächst in einem spektakulären Machterweis die gotteslästerliche Weltmacht Babylon stürzen und den alten Glanz Judas wiederherstellen würde. Seine Worte mussten daher vielen Hörern als Ausdruck heroischen Gottvertrauens und Beweis der Treue zum angestammten Glauben erscheinen. (S. weiter zum Horror des Exils bei 29,5–7.) Ein prämasoretischer Ergänzer hat das Orakel Hananjas noch deutlich aufgefüllt. Er stattete Nebukadnezzar mit der für diese Schicht typischen Prominenz aus, indem er den ehemals anonymen König von Babel mit seinem Namen identifizierte (3b; auch 11c.14b). Weiterhin führte er den Raub der Tempelgeräte und ihre Verbringung nach Babylon in den Text ein: die Nebukadnezzar weggenommen … (3b) und nach Babel gebracht hat (awb‑H 3c); die nach Babel gekommen sind (awb‑G 4a). Dabei wurde auch die (falsche) göttliche Restitutionsverheißung ich schaffe an diesen Ort zurück aus 3a in 4a übertragen. Die nun jeweils doppelten Heilszusagen, das babylonische Joch zu zerbrechen (2b || 4b) und die exilierten Menschen und Kultgegenstände heimzuführen (3a || 4a), sowie die zwei Verweise auf den Marsch in die Verbannung (3c.4a) gestalten die Rede Hananjas in MT als dreigliedriges Palindrom des Musters A – B – C – C’ – B’ – A’.  Vgl. 1 Kön 9,5; 11,36.38; 15,4; 2 Kön 8,19.  Vgl. namentlich Jes 8,9–10; 8,23c–9,6; 14,24–27; 17,12–14; 30,27–33; 31,5.8–9 und dazu H. Barth, Die Jesaja-Worte in der Josiazeit. Israel und Assur als Thema einer produktiven Neuinterpretation der Jesajaüberlieferung (WMANT 48), Neukirchen-Vluyn 1977; J. Barthel, Prophetenwort und Geschichte. Die Jesajaüberlieferung in Jes 6–8 und 28–31 (FAT 19), Tübingen 1997. Ein weiteres Zeugnis für diese Art der Jesaja-Rezeption ist die „Erzählung von der assyrischen Bedrohung und der Befreiung Jerusalems“ (ABBJ-Erzählung) in 2 Kön *18–19; s. dazu den Rückblick auf die „Apologie Jeremias“ bei 39,14. 5

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28,5

Jeremia und Hananja

Wie wichtig dem Erzähler der Schauplatz und die Zeugenschaft aller Judäer gewesen sind, unterstreicht die Einleitung zur Replik Jeremias, wo beide Themen noch etwas breiter ausgeführt sind als in V. 1. Bemerkenswerterweise vergab der prämasoretische Ergänzer gleichwie der ältere Bestand (1b.8) den Prophetentitel an Hananja ebenso unbefangen wie an Jeremia (vgl. ferner 6a.10a.11d.12.15a). 6 Hatte Hananja durch die prophetische Botenformel und das Ich Jhwhs den Anspruch erhoben, als Offenbarer aufzutreten, antwortet Jeremia formal aus eigenem Recht, denn die genannten Merkmale fehlen in seiner Erwiderung 6b–9 und hätten beim gegebenen Wortlaut darin auch keinen Platz (anders 7a AlT; s. z. St.). Jeremia hebt an mit dem emphatischen Wunsch (!mea' gewiss! 6b), Jhwh möge Hananjas Verheißung erfüllen. Dazu wiederholt er sogar leicht gekürzt deren konkrete Ansagen in ihrer vormasoretischen Fassung (6c2 || 3a.4a AlT). Die Metapher vom Zerbrechen des Joches lässt der Erzähler im Mund Jeremias verständlicherweise beiseite, denn sie hätte im Blick auf die Reaktion seines Widersachers (V. 10) wie eine Einladung geklungen. Ebenso entfällt die Jahresfrist. Wo Jeremia bei den erhofften Rückkehrern Aussparungen vornimmt, übergeht er Jojachin. Das dürfte seiner tatsächlichen Haltung entsprechen, hatte er sich doch klar von dem verbannten Herrscher distanziert (22,24–30), während er die Inthronisation Zidkijas begrüßte (so die wahrscheinliche Originalfassung von 23,5–6). Ferner sind bestimmte zeitnahe Nachrichten nur begreiflich, wenn ihn mit Zidkija eine gewisse Sympathie verband (34,1–6; 37–38; s. jeweils z. St.), sodass er für die Heimkehr Jojachins nichts übrighaben konnte. Dagegen erwähnt auch Jeremia die Tempelgeräte und räumt ihnen wie Hananja rhetorisch den Vortritt ein. Seine Beteuerung, er verlange nach dem Eintreffen der Worte seines Gegenspielers, ist mitunter als Sarkasmus gelesen worden, der den Lesern signalisieren sollte, dass Jeremia den Schwindel durchschaute (z. B. *Holladay II 127 f.). Allerdings wird niemand Geringeres als Jhwh angerufen, Hananjas Prophetie in die Wirklichkeit zu überführen. Demnach verkörpert der Passus jenen starken Strang der Jeremiatradition, der den Abgrund zwischen den persönlichen Vorlieben des Propheten und seinem Kerygma betont: Wenn Jeremia sich mit seinen unbequemen Botschaften den Hass vieler Judäer zuzog, so nicht, weil er ihnen übel wollte, sondern weil ihm diese Orakel gegen seine eigenen Neigungen von Jhwh aufgenötigt wurden, sodass er sein Amt oft als unerträgliche Bürde erlebte.7 Der Vorwurf destruktiver Absichten bis hin zum Hochverrat8 war daher völlig unberechtigt. Wie dieses Beweisziel verdeutlicht, sind solche Überlieferungen häufig aus apologetischen Interessen erwachsen bzw. aufbewahrt worden. In diesem Sinne soll der Redebeginn 6b–d das Bild des Propheten bei der Leserschaft formen: Die Verheißungen Hananjas spiegeln auch Jeremias Wünsche wider; er ersehnt ebenso wie seine judäischen Zeitgenossen, Jhwh möge das Ende des Exils herbeiführen, zuvörderst die Heimkehr der Tempelgeräte, deren Verlust ihn nicht weniger schmerzt als seine Hörer. Wenn er selber anderes zu verkünden hat, dann keineswegs deshalb, weil er die gegenwärtige Not begrüßte, sondern weil er, von Jhwhs Hand gepackt (vgl. 15,17), unter Zwang handelt. Es geht also 5

7 Vgl. 8 Vgl.

158

z. B. 1,7.17–19; 8,18.21–23; 15,10–11.15–21; 17,14–18; 18,18–20; 20,7–10.14–18; 23,9. z. B. 18,18; 20,10; 26; 37,11–16; 38,4.15; 43,2–3.

Jeremia und Hananja

28,8–9

um den Nachweis, dass Jeremias „probabylonische“ Position in den innerjudäischen Richtungskämpfen jener Zeit nicht aus politischen Sympathien oder einem ruchlosen Hang zum Hochverrat erwuchs, sondern weil er in göttliche Ratschlüsse eingeweiht war, die auch seinen eigenen Wünschen zuwiderliefen. Dabei fällt auf, dass das Jeremiabuch zwar andernorts Erklärungen für diese Pläne Jhwhs anbietet, insofern es sie als Ergebnis seines Strafwillens deutet, nicht aber die Falschprophetenkomposition, die die Übertragung der Weltherrschaft an die imperialistische Feindmacht einfach unbegründet als göttlich verfügt hinstellt (vgl. v. a. 27,6). In V. 6 hat Jeremia versucht, mit Hananja – als dem Vertreter des implizierten Pu- 7 blikums – in einer Art captatio benevolentiae ein verbindendes Einverständnis herzustellen, um die Empfänglichkeit für seinen Einwand gegen die Heilsprophetie seines Widersachers zu steigern. Seinen Einspruch grenzt ein eigener Aufmerksamkeitsruf betonend ab, wobei die emphatische, häufig kontrastierende Partikel %a; aber, bloß den Gegensatz zwischen Wunsch und Wirklichkeit zusätzlich unterstreicht (7a; vgl. das ähnliche literarische Verfahren in 26,14–15). Jeremia redet weiterhin aus eigenem Recht, was allerdings einem Schreiber in der alexandrinischen Tradition missfiel, weswegen er die Reflexion zur Erkennbarkeit wahrer Prophetie V. 8–9, obwohl im Ich Jeremias formuliert (vor mir 8b), zum Gotteswort erhob, indem er dieses Wort 7a in das Wort Jhwhs verwandelte (TK). Obendrein hält der Neueinsatz fest, dass das Folgende neben Hananja auch das ganze Volk angeht (7b), dessen Präsenz und Betroffenheit der Erzähler somit abermals in Erinnerung ruft. Jeremia kommentiert die gegenteiligen Ankündigungen seiner selbst und Hananjas 8–9 durch eine Reflexion über die Kennzeichen wahrer Prophetie – in der Sprache von 9c: eines Propheten, den Jhwh wirklich gesandt hat. Dabei sieht er vom konkreten tagespolitischen Inhalt der kollidierenden Orakel ab und verallgemeinert das Problem auf der Basis der Dichotomie von Unheils‑ und Heilsweissagung. Beide Disziplinen werden durchaus als politische Mantik aufgefasst, denn was sie voneinander abhebt, ist das polare Themenpaar Krieg (hm'x'l.mi 8a) und Heil bzw. Frieden (~Alv' 9b). Diese Unterscheidung ist nur möglich, da sie unbefangen aus einer parteiischen, nämlich judäischen Warte getroffen wird, denn unter den Bedingungen allgegenwärtiger bewaffneter Konflikte ist das Heil des einen durchweg der Krieg (sprich: die Niederlage) des anderen. Nur in diesem Sinne ist Hananjas Botschaft vom Zerbrechen des babylonischen Jochs (4b.11c) Heilsprophetie – nämlich für die Judäer und ihre Leidensgenossen, während die Babylonier natürlich den Schaden haben (vgl. Münderlein 111 Anm. 3). Für den Jeremia des Textes hat es bisher – konkret: vor ihm selbst und Hananja (8b)  – überhaupt nur Unheilsprophetie gegeben. Damit streicht er die Heilsweissagung souverän aus der Weltgeschichte (einschließlich seiner eigenen an die Nordstämme; s. zu 30–31), während die Tradition der Unheilsprophetie über Fremdvölker (8a; s. zu 46–51) die Unheilsansagen über Juda rechtfertigen soll. Jeremia zufolge unterwarfen sich seine früheren Berufskollegen aufgrund ihres universalen Anspruchs zwar keinerlei Schranken hinsichtlich der Vielzahl und Macht jener Länder, über die sie prophezeiten, doch sie respektierten eine Grenze: Sie weissagten ausschließlich Krieg (MT fährt fort: und Unheil und Seuche). Während von diesen 159

28,8–9

Jeremia und Hananja

Vorgängern im Plural zu reden ist (V. 8), wählt Jeremia für die Heilsprophetie – bei ansonsten paralleler Pendensstellung mit attributivem Relativsatz  – den Singular: Der Prophet jedoch, der Heil prophezeit … (V. 9). Das entspricht genau der Implikation von V. 8, dass Hananja der erste Heilsprophet sei, der die Heilsweissagung somit höchstselbst erfunden haben müsste. Damit unterschlägt der Erzähler systematisch die Tatsache, dass Hananja sehr wohl den in V. 8 charakterisierten Unheilspropheten angehören musste, sofern man ihn aus babylonischer Warte betrachtete, setzte doch das Zerbrechen des babylonischen Jochs (2b.4b.11c) den Ruin des Großreiches voraus. Dieser Umstand wird nur konsequent verschleiert, indem Hananjas Botschaft strikt auf ihre Heilsfolgen für die von Babylon unterworfenen Völker reduziert wird (Vv. 3–4.11c). Wenn dann V. 9 das Erfüllungskriterium auf „den“ Heilspropheten anwendet, ist dies in der erzählten Welt eine persönliche Warnung für Hananja. Die Formulierung klingt allerdings zunächst zweideutig: Die Pendenskonstruktion 9aP erhebt „den“ Heilspropheten, durch den Relativsatz 9b als solcher definiert, zum Thema der Satzperiode, aber die Fortsetzung 9c etabliert das Erfüllungskriterium als Kennzeichen jenes Propheten, den Jhwh wirklich gesandt hat. Insoweit lässt der Wortlaut zwei gegensätzliche Interpretationen zu: Entweder soll das Erfüllungskriterium nur für Heilsverheißungen gelten, während die Unheilsprophetie einem Traditionskriterium unterliegt, das sie längst durch ihre reiche Geschichte unanfechtbar legitimiert hat. Oder das Erfüllungskriterium entscheidet über die Echtheit jeder Art von Prophetie, wird aber nur bei der Heilsansage in Erinnerung gerufen, weil sie als Novum mit besonders kritischen Augen zu betrachten ist, während die Unheilsprophetie ihre historische Bewährungsprobe längst bestanden hat. In diesem Falle wollte der Autor betonen, dass Heilspropheten sich nicht jenem Prüfstein entziehen können, der der Unheilsweissagung bereits ein glänzendes Zeugnis ausgestellt hat. Freilich spricht schon die bloße Unterscheidung zweier Sorten von Prophetie dafür, dass sie im Sinne des Textes verschiedenen Maßstäben unterliegen, denn sonst wäre die Differenzierung überflüssig. Deshalb ist Hananja dem Erfüllungstest zu unterziehen, an dem er nach Ablauf seiner selbst gesetzten Frist (3a; MT 11c) scheitern muss. Nun ist ja das Erfüllungskriterium, wie eng oder weit auch immer gefasst, für das Urteil über die Echtheit prophetischer Ansprüche bekanntermaßen von begrenztem Nutzen, da Orakel häufig Konsequenzen verlangen, bevor sich ihr Eintreffen kontrollieren lässt. Schon für die Prophetien der siebzig Jahre in 25,11–12 und 29,10 wäre die Richtschnur völlig ungeeignet. Wenn V. 9 allerdings so selbstsicher das Erfüllungskriterium für die Heilsprophetie urgiert, lässt der Text durchblicken, dass Hananjas Jahresfrist mittlerweile verstrichen ist und den Heilsverkünder aus Gibeon demaskiert hat. Dieser Verfasserstandort erklärt die in V. 8–9 gewählten Formulierungen: Die dort angedeuteten Maßstäbe sind nicht zu dem Zweck entworfen, ein allgemeingültiges Instrument zur Unterscheidung von Wahr‑ und Falschprophetie an die Hand zu geben, sondern sie sollen Hananja als Scharlatan entlarven. Sie sind eine Kriteriologie ad hominem et ex

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Jeremia und Hananja

28,10–11

post für eine Leserschaft, die auf die Falsifikation seiner Worte bereits zurückschaut.9 Wenn der Erzähler obendrein die Heilsweissagung überhaupt als Novität ausgibt, stellt er das Verhältnis von Tradition und Innovation listig auf den Kopf: Hananja, der doch in Wahrheit herkömmliche Konzepte der Jerusalemer Zionstheologie und Königsideologie verkörpert (s. zu V. 2–4), erscheint als gewissenloser Neuerer. Dagegen ist Jeremia mit seiner Botschaft der von Jhwh angeordneten Herrschaft eines fremden Großkönigs über Juda zwar nicht ganz ohne Vorgänger (vgl. Jes 5,25–30; 9,7–10,4); gleichwohl ist er derjenige, der radikal gegen eingefleischte Überzeugungen anrennt und trotzdem als Gralshüter des Althergebrachten präsentiert wird. Dies ist typisch für konservative Gesellschaften, in denen Innovation normalerweise unter der Tarnkappe der Wahrung des Überkommenen eingeschmuggelt werden muss (Berlejung), und veranschaulicht die apologetischen Intentionen, die bei der Abfassung der Grundschicht die Feder geführt haben: Entgegen vielfältiger Anwürfe sei es genau umgekehrt Jeremia, der allen Widrigkeiten zum Trotz dem angestammten Glauben die Treue gehalten habe. Wenn Hananja daraufhin die Jochstange von Jeremias Nacken zerrt, sie zerbricht 10–11 (V. 10) und seinen Gewaltakt mit einem Prophetenwort (11b) zum Gleichnis für eine künftige Tat Jhwhs erklärt (11c), schreibt der Erzähler dem Falschpropheten nach wie vor unbefangen gängige prophetische Ausdrucksmittel zu (s. zu V. 2). So kontert Hananja die vorausgesetzte Symbolhandlung Jeremias (s. zu 27,2–3) mit einem Gegenzeichen, und zwar noch stets vor aller Augen (11a), wie der Berichterstatter erneut nicht zu betonen vergisst. Schon Hananjas erste Verheißung in V. 2–4 hatte dem symbolischen Akt Jeremias direkt widersprochen. Nachdem dieser nicht eingelenkt und stattdessen die Authentizität seines Antipoden angefochten hatte, legt Hananja nach und forciert seine Heilsansage in seinem Deutewort (11c), indem er 4b steigernd wiederholt. Dabei tritt kontextgerecht an die Stelle der Konjunktion das Deiktikon hk'K' ebenso zum Verweis auf die bildstarke Begleithandlung, und die Reichweite des Wortes wird auf alle Nationen ausgedehnt. MT hat noch, wie so oft, den Namen Nebukadnezzar eingeschoben sowie aus 3a die Fristangabe binnen zwei Jahren ergänzt. Damit inszeniert Hananja eine Symbolhandlung, um eine andere durch Übertrumpfen zu neutralisieren. Erstaunlicherweise habe Jeremia dem keine neue Antwort entgegengesetzt, sondern er ging seines Weges (11d). In einer realweltlichen Situation konnte das vom Erzähler bisher ausdauernd in Erinnerung gerufene Publikum den stummen Rückzug nur als Kapitulation deuten: Der Unheilsprophet muss geschlagen und vor ganz Juda blamiert die Walstatt räumen. In einer fiktiven oder literarisch stark stilisierten 9 Dtn 18,21–22 propagiert ebenfalls das Erfüllungskriterium, allerdings ganz anders formuliert: Es fehlt die Differenzierung zwischen Heils‑ und Unheilsansagen; das Kriterium wird nicht auf die Identifikation des von Jhwh gesandten Propheten, sondern des von ihm gesprochenen Wortes bezogen; zudem liegt der Akzent nicht auf dem Wahrheitserweis durch Erfüllung, sondern umgekehrt auf der Falsifikation durch Nichteintreffen. Selbst wenn dies rhetorische und keine sachlichen Unterschiede sind, weicht die sprachliche Realisierung so deutlich ab, dass keine Handhabe besteht, zwischen Dtn 18,21–22 und Jer 28,7–9 literarische Abhängigkeit (gleich welcher Richtung) zu erkennen. Noch weniger wäre die Annahme einer Interpolation in Jer 28,7–9 zu rechtfertigen, zumal der Passus spannungslos in seinem Kontext sitzt.

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28,10–11

Jeremia und Hananja

Erzählung hätte der Übergriff gegen den wahren Propheten normalerweise sofort eine korrigierende Reaktion hervorrufen müssen;10 dass dies nicht geschieht, darf als Beleg der grundlegenden Historizität des Berichteten gelten. Wie ferner noch zu zeigen bleibt, war dies auch einer der Gründe, warum die Erzählung überhaupt aufgezeichnet wurde. 12 Der Stoff der Vv. 1–11 allein wäre in der Jeremiatradition nicht erzählenswert gewesen, da Jhwh die Demütigung seines wahrhaftigen Sprechers nicht ungesühnt auf sich beruhen lassen konnte; vielmehr musste sich der Triumph des Falschpropheten als Pyrrhussieg erweisen. Die erwartungsgemäße Gottesantwort folgt in einer separaten Episode (Vv. 12–17), abgesetzt durch eine datierte Wortereignisformel. Die relative Zeitangabe nachdem Hananja die Jochstange von seinem Nacken entzweigebrochen hatte (AlT) ist indes der Sache nach überflüssig, da sie bloß eine Selbstverständlichkeit ausspricht. Sie hat daher wie ihre Parallele in 36,27a zunächst einen gliedernden Effekt, doch ebenso wie dort (s. z. St.) dürfte es um mehr gegangen sein: Der wortlose Abgang Jeremias von der Bühne (11d) lief auf das Eingeständnis hinaus, dass der wahre Prophet aus dem Streit mit dem Blender als Verlierer hervorgegangen war, während der separate Wortempfang impliziert, dass er die Scharte erst nachträglich auswetzen konnte. Die relative Datierung hat den Vorteil, die neue Offenbarung rhetorisch nahe an Jeremias Niederlage heranzurücken und daher seine Schmach als von kurzer Dauer erscheinen zu lassen, ohne dass der Erzähler sich festlegte, wann die Antwort Jhwhs tatsächlich erging. Laut V. 17 müsste es binnen zwei Monaten geschehen sein. Allem Anschein nach war es dem Autor darum zu tun, eine unerquickliche Erinnerung in ein milderes Licht zu tauchen. 13 Die Gottesrede übermittelt eine Prophezeiung für Hananja, eingeleitet durch die deuterojeremianische Auftragsformel, gebildet aus dem Infinitivus absolutus %Alh' und einer zweiten Aufforderung in der Formation w˙=qatalta, hier T'r>m;a'w> %Alh' geh und sage (13ab);11 dazu die prophetische Botenformel (13c). Der auszurichtende Text beginnt mit einem Satzpaar (13de), das als relativ strenger Chiasmus gestaltet ist mit der Satzteilfolge: Objekt – verbales Prädikat der Formation qatalta // verbales Prädikat der Formation w˙=qatalta – Umstandsbestimmung aus Präposition mit Pronomen – Objekt, wobei die Objekte beide Male aus Konstruktusverbindungen mit dem identischen Nomen regens tjoAm Jochstangen bestehen. Möglicherweise liegt hier eine ältere, vielleicht sogar authentische Prägung vor; dafür sprechen der Plural von hj'Am anstelle des Singulars in 10a sowie der poetische, prägnante und daher leicht memorierbare Charakter des Passus. Für die stilistische Wirkung ist entscheidend, dass die Konstruktusverbindungen die Außenpositionen des Chiasmus einnehmen, was ihren wechselnden Nomina recta mit den Materialangaben (Holz / Eisen) einen ausgeprägten Kontrastfokus verleiht. Hananja hat mit seiner angemaßten Symbolhandlung genau das Gegenteil seiner Ankündigungen erreicht – ebenso wie es bei den Heilspropheten in 27,16–22 AlT geschehen wird (s. z. St.). Laut seinem Ausspruch 10 Vgl.

z. B. 1 Kön 13,4–5; 2 Kön 1,9–12; 2,23–24; 7,2.17–20; Jer 20,1–6; 29,24–32; Am 7,12–17.  Vgl. 2,2 MT; 3,12; 13,1; 17,19; 19,1; 22,1 AlT; 34,2; 35,2.13; 39,16; ferner 2 Sam 24,12; 2 Kön 5,10; Jes 38,5 (Kon 42 f.). 11

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Jeremia und Hananja

28,15–17

in 11c würde Jhwh das Joch […] des Königs von Babel … brechen. Nun hat er selbst ein hölzernes Joch zerbrochen, das aber im Tausch gegen ein selbstgefertigtes Joch aus Eisen. Er ersetzt also eigenhändig das zerbrechliche Joch durch ein unzerbrechliches. Da das Joch die babylonische Macht repräsentiert, vermittelt das Bildwort den Eindruck, dass erst Hananja mit seinem Frevel dem Regiment des mesopotamischen Großreiches Unabänderlichkeit und erbarmungslose Härte verliehen habe (vgl. zum Bild des eisernen Jochs Dtn 28,48; Sir 28,20). Beim Wort genommen, macht der Erzähler damit Hananja persönlich für die entscheidende Verschärfung der Lage verantwortlich: Dieser Falschprophet hat die Weltherrschaft Babylons zur Tyrannei verschlimmert. Damit unterscheidet sich Jer 28 tiefgreifend von der Art, wie Jer und das AT insgesamt sonst im Zusammenhang mit der babylonischen Krise Judas die Schuldfrage reflektieren. Während andernorts die Anklagen regelmäßig den führenden Schichten Judas oder sämtlichen Judäern gelten, wird hier ein einzelner Mann haftbar gemacht, der überdies nur hier erwähnt ist. Angelastet wird ihm zudem in 11c.14b nicht das Schicksal Judas – das hier gar nicht erwähnt wird –, sondern das Ergehen aller Nationen insgesamt. Dies kann nur ein sehr frühes Stadium der Reflexion der Schuldfrage bezeichnen, als der Untergang Judas noch nicht bekannt war. – Die alexandrinische Tradition hat in 13e die Herstellung des eisernen Jochs der Souveränität Jhwhs vorbehalten, wie es ähnlich auch 14b tut (vgl. Dtn 28,48). Durch eine neuerliche Botenformel hervorgehoben und vermittels yKi denn als 14 Begründung ausgewiesen (14a), schließt Jhwh dem vorangehenden Bildwort 13de eine Erläuterung an: Ein Joch aus Eisen lege ich (hiermit) auf den Nacken aller Nationen (qataltī-Formation für performative Rede), was seinerseits konkretisiert wird als Dienst für den König von Babel (14b). Was 13e MT als Akt Hananjas stilisierte, gilt jetzt als Tat Jhwhs. So stellt V. 14 klar, dass auch die von Hananja verschuldete, endgültige Despotie der Babylonier der Regie Jhwhs untersteht. – Eine prämasoretische Hand hat allen Nationen (14b) das Demonstrativpronomen diese beigefügt und damit eine in Jer idiolektale Verbindung geschaffen (TK; Kon 32). Hier dürfte der Zusatz die Völker mit den in 27,3 aufgezählten Staaten identifizieren. Außerdem hat der späte Bearbeiter wieder den Namen Nebukadnezzar nachgetragen (14b) und durch den Einschub von 14cd an die Aussage von 27,6b erinnert, dass die dem Großkönig von Jhwh verliehene Macht sogar das Wildgetier einschloss (zur Erklärung s. dort). Ein Ausführungsbericht zu dem Redeauftrag Vv. 12–14 fehlt. Stattdessen ver- 15–17 kündet Jeremia seinem Gegenspieler abschließend ein Gerichtswort ohne einen entsprechenden Befehl; außerdem erfolgt die Ausrichtung ortlos, also ohne die evokative Szenerie und die ideale Hörerschaft, die vorher so wichtig waren. Das Orakel ist sekundär als Bestandteil der individuellen Prosaorakel ergänzt worden (s. Textgenese). Es hebt nach dem prämasoretisch aus 7a interpolierten Aufmerksamkeitsruf 15b mit einer Begründung an, die zwar sachlich auf den Vortext zugeschnitten ist, doch sprachlich formelhaft ausfällt: Der Vorwurf, nicht von Jhwh gesandt zu sein (15c), überführt den Satz 9c in eine Verurteilung Hananjas, reproduziert aber auch einen in Jer verbreiteten Topos.12 Zusammen mit der Anklage der Verführung zu falschem  Jer 14,14.15; 23,21.32; 27,15.16AlT; 29,9.25AlT.31; 43,2; ferner Ez 13,6.

12

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28,15–17

Jeremia und Hananja

Vertrauen (15d) hat das Scheltwort eine enge Parallele in 29,31de. Gattungstypisch mit !kel' darum und prophetischer Botenformel markiert (16a), verhängt das Drohwort eine Strafe, deren Verhältnismäßigkeit gegenüber dem Vergehen durch ein Wortspiel unterstrichen wird: Hananja konnte gar nichts anderes tun, als verderbliche Illusionen zu schüren, da Jhwh ihn nicht geschickt hat (hw"hy> ^x]l'v.‑al{ 15c); deshalb wird Jhwh ihn alsbald vom Ackerboden wegschicken (^x]Lev;m. ynIn>hi 16b: hNEhi siehe mit enklitischem Personalpronomen und Partizip für Futurum instans). Die Strafansage betont, dass die eigentliche Frontlinie nicht zwischen Hananja und Jeremia, sondern zwischen Hananja und Jhwh verläuft. 16c entschlüsselt die bildhafte Drohung durch die Ansage, der Falschprophet werde noch im selben Jahr versterben. Damit verbleibt ihm eine deutlich kürzere Frist, als er selbst für den Sturz des babylonischen Reiches eingeräumt hatte (vgl. 3a). Dem hat ein prämasoretischer Editor in 16d zur weiteren Rechtfertigung der Todesstrafe ein kontextadaptiertes Zitat aus Dtn 13,6 angehängt, das den dortigen Terminus für die Verführung zum Götzendienst durch Wahrsager Auflehnung predigen (hr"s' rbd‑D; Ges18) auf Hananja anwendet und ihn somit einer Verletzung des ersten Gebots bezichtigt, für die in Dtn 13,6; 18,20 die Hinrichtung gefordert wird. V. 17 notiert lapidar, die Ansage sei schon zwei Monate später (vgl. V. 1) eingetroffen. Ein Schreiber in der prämasoretischen Texttradition hat den Tod Hananjas explizit in das Thronbesteigungsjahr Zidkijas verlegt (vgl. 1a MT). Der Nachtrag des Gerichtsworts samt Erfüllungsnotiz Vv. 15–17 ergänzte die Erzählung um eine weitere Demaskierung Hananjas in Gestalt einer persönlichen Strafe: sein bald eingetretener Tod. Doch darüber hinaus lagen dem Redaktor offenbar keine Nachrichten vor, aus denen er weitere Bestätigung hätte ziehen können. Der Einschub war wohl motiviert durch die Tatsache, dass die (teilweise) Rückerstattung der Tempelgeräte schließlich erfolgte, wie von Hananja verheißen. Selbst wenn bis dahin Jahrzehnte verstrichen, taugte die neue Situation für den Autor der individuellen Prosaorakel nicht mehr recht zur Diskreditierung des Falschpropheten, und er stellte auf seine Weise Klarheit her. Es zählt zu den besonderen Reizen der Grundschicht von 28, dass sie aufschlussreiche Schlaglichter wirft auf Jeremias prophetische Existenz und die Gründe, warum man Erzählungen von diesem Propheten aufzuzeichnen begann. Denn die Art, wie der Zusammenstoß der beiden Kontrahenten stilisiert ist, spricht sowohl für die grundlegende Historizität der dargestellten Begebenheiten als auch für die zeitnahe Niederschrift. Am Auftreten Jeremias ist nichts Wunderhaftes, vom Anspruch des prophetischen Offenbarungsempfangs abgesehen, und für seinen Gegenspieler gilt dies natürlich erst recht. Die Ereignisse könnten sich so, wie berichtet, zugetragen haben. Außerdem gesteht der Text unumwunden ein, Jeremia habe die Demütigung durch seinen Widersacher hinnehmen müssen, sodass er vor der relevanten judäischen Öffentlichkeit als Verlierer dastand (11d). Gewiss habe Jhwh seinen Propheten mit einer Strafrede an Hananja beauftragt, doch von einer Ausrichtung verlautet nichts (Vv. 12–14), und das ist hier angesichts der Vorgeschichte mit der regelmäßig betonten Öffentlichkeit von Jeremias Streit mit Hananja ein bemerkenswerter Tatbestand. Der Autor schrieb sichtlich für Adressaten, die mit der Affäre vertraut waren, was seine Möglichkeiten beschnitt, den Hergang zu beschönigen. Zwar soll das nach164

Jeremia und Hananja

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getragene Gerichtswort Vv. 15–16 seinem Empfänger zugegangen sein, aber nicht einmal hier ist von Zeugen die Rede. Sogar der Zusatz bleibt dabei: Die Judäer haben nur von Jeremias Niederlage am Tempel Kenntnis erhalten (Vv. 15–17). Einen ereignisnahen Ursprung belegt ferner der Umgang mit dem Erfüllungskriterium in V. 9, das nur auf die von Hananja gesetzte Frist für den Kollaps des babylonischen Reiches anspielt, während ab der Einnahme Jerusalems kein Gegner Hananjas versäumt hätte, diese schallende Widerlegung seiner Heilsprophetie und die Bewahrheitung von Jeremias Unheilsbotschaft herauszustreichen. Die Unheilsprophetie vom Erfüllungskriterium auszunehmen, wäre nach 587 zudem nicht nur überflüssig, sondern sogar kontraproduktiv gewesen. Folglich wusste der Verfasser noch nichts von der finalen Katastrophe. Noch weitere Züge von Hananjas Profil sind bloß bei zeitnaher Abfassung verständlich. Der in 28* geschilderte innerprophetische Konflikt kennt im Unterschied zu anderen Gestaltungen des Themas nur einen einzigen Opponenten Jeremias. Denn Hananja tritt Jeremia zwar vor bedeutungsschwerer Kulisse und großem Publikum entgegen, wird jedoch nirgends als Wortführer einer heilsenthusiastischen Mehrheitspartei stilisiert, obwohl er genau das gewesen sein muss, wie schon aus Kap. 27 hervorgeht und wie sein unbehelligter Übergriff gegen Jeremia in aller Öffentlichkeit voraussetzt (Vv. 10–11).13 Wenn Jeremia ferner sein Gegenüber daran erinnert: Die Propheten, die es vor mir und vor dir seit jeher gegeben hat, sie prophezeiten über viele Länder und große Königreiche Krieg (V. 8), so weiß er nur von einer altehrwürdigen Tradition der Unheilsprophetie, aber nichts von einer grassierenden heilstheologischen Welle. Hananjas Heilsprophetie wird als singuläre Innovation hingestellt, als habe er diese Art von Mantik eigenhändig erfunden. In Wahrheit versuchte er als Exponent der jahwistischen Orthodoxie seiner Zeit, den Häretiker Jeremia in die Schranken zu weisen. Weiterhin macht die autoritative Gottesstimme Hananja sogar allein für die Zementierung und Brutalisierung des weltweiten babylonischen Regiments haftbar: Er habe hölzerne Jochstangen durch eiserne ersetzt (13de), sodass Jhwh allen Nationen das eiserne Joch des Königs von Babel auferlegte (14b). Hananja habe so im Alleingang die babylonische Weltherrschaft zur Tyrannei gesteigert. Die Grundschicht bietet folglich keine Erklärung der Katastrophe Judas von 587, sondern eine Ätiologie der internationalen Lageverschärfung. Als konkreter politischer Hintergrund kommen etwa babylonische Reaktionen auf die levantinischen Aufstandsbestrebungen von 594 in Betracht. Das Imperium konnte solche Umtriebe nicht folgenlos tolerieren, wenngleich die Quellen dazu schweigen, von der Notiz über die judäische Gesandtschaft nach Babylon im selben Jahr abgesehen (51,59; die Babylonische Chronik bricht ausgerechnet 594/3 ab). Die Schuld wird überdies weder dem Volk angelastet, wie es rasch Allgemeingut wurde, noch den Heilspropheten als Kollektiv, wie bei den Redaktoren der Falschprophetenkomposition. Vielmehr wird ein einzelnes Individuum angeklagt; der Verfasser zielte mithin speziell auf die Diskreditierung Hananjas. Diese Art der Geschichtsreflexion mit der Konzentration der historischen Verantwortung in einem einzigen Menschen, der sonst keine Spuren in der atl. Überlieferung hinterlassen hat, muss eine sehr frühe Phase des religiösen Um Vgl. ferner v. a. 6,14 || 8,11 MT; 14,13; 23,17; 29,15.21–23 (s. jeweils z. St.).

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gangs mit der babylonischen Übermacht repräsentieren. Nach alldem hat der Autor noch unter Zidkija gearbeitet. Den terminus post quem markiert die von Hananja für das Eintreffen seiner Verheißung gesetzte Frist, die im 5. Jahr Zidkijas (593/2) ablief; ferner kann sich der Beginn der babylonischen Belagerung Jerusalems (589/8) noch nicht abgezeichnet haben. In diesem Zeitfenster ist die Grundschicht von Kap. 28 entstanden. Die frühe Jeremia-Erzählung berichtete, wie ihr Held mit seiner Botschaft von der gottgewollten babylonischen Weltherrschaft in einer öffentlichen, wohl recht handgreiflich verlaufenen Kraftprobe mit einem führenden Heilspropheten eine blamable Niederlage erlitt, die seinem prophetischen Ansehen schweren Schaden eintrug. Um den von Hananja repräsentierten, populären prophetischen Heilsenthusiasmus zu delegitimieren, verurteilte das Dokument die Heilsprophetie als unverantwortliche Neuerung, während es Jeremias Unheilsansagen unter der falschen Flagge der Fremdvölkerorakel segeln ließ, die naturgemäß ungleich beliebter waren, und dafür die rechtfertigende Autorität der Tradition reklamierte. Außerdem unterwarf der Verfasser die Heilsprophetie dem Erfüllungskriterium und stellte Hananja als Betrüger bloß, indem er ihn mit der inzwischen falsifizierten Verheißung zitierte, die babylonische Supermacht werde binnen einer sensationell knappen Frist ihr Leben verhauchen. Weiterhin machte der Autor mit dem Gotteswort in den Vv. *12–14 aktenkundig, dass Jhwh die Herabwürdigung seines wahren Sprechers nicht tatenlos hingenommen hatte. Vielsagend ist die Asymmetrie der Situationen: Während Jeremia seine Schmach vor aller Augen einsteckt, erfolgt die Offenbarung von Jhwhs Antwort ohne Zeugen, und von einer Ausrichtung verlautete ursprünglich nichts. Die Grundschicht von 28 erweist sich damit als theologische Waffe im Ringen um die Glaubwürdigkeit des umstrittenen Gerichtspropheten. Derlei Apologetik kennzeichnet frühe Erzählstücke zu Jeremia wiederholt, wie namentlich die deshalb so benannte Apologie Jeremias (AJ) in *37–39 und die umrisshaft erkennbare Grundschicht von 36, die durch enge Gemeinsamkeiten mit 28* auffällt. Wie 28,1–11 berichtet 36,21–26 von einer öffentlichen Schmähung Jeremias durch eine Zeichenhandlung, die über einen Zerstörungsakt seine Prophetie zu annullieren trachtete: Dem Zerbrechen des Jochs entspricht dort die Verbrennung der „Urrolle“. Analog zum abschließenden Redeauftrag an Jeremia in *28,12–14 folgt in 36,27–30(31) der göttliche Befehl, das verbrannte Schriftstück zu ersetzen und über Jojakim ein Gerichtswort auszusprechen. Wie 28* schwieg 36* von der Weitergabe des Orakels an seinen Adressaten, und in beiden Fällen erwähnen sogar die sekundären Erfüllungsberichte kein Publikum (28,15–17; 36,32). Die Texte waren, nach ihrer Argumentationsstrategie zu schließen, für verunsicherte Jünger Jeremias bestimmt, um ihnen eine amtliche Lesart der verstörenden Vorfälle zu vermitteln, verbunden mit der Botschaft, dass Jhwh sich auf die Seite ihres Meisters gestellt hatte, selbst wenn der öffentliche Erweis von dessen Authentizität noch ausstand. Hier ist ein Motiv zu greifen, warum man Erzählungen von Jeremia abzufassen begann. Wie diese und viele weitere Überlieferungen dokumentieren, musste der kanonische „große“ Prophet Jeremia seine Sendung zu Lebzeiten mit dem Häresievorwurf und sozialer Isolation bis hin zur physischen Gewalt bezahlen. Nimmt man indes Nachträge und Bearbeitungen in Augenschein, 166

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wie sie etwa in 25,11–14; 27,7.19–22; 29,10–14; 30,8 und 50 f. beobachtbar sind (s. jeweils z. St.), offenbart sich eine der Ironien der Glaubensgeschichte Israels: Auch die Theologie von Jeremias Gegnern wie Hananja ist schließlich in das Buch ihres Widersachers eingegangen und hat dort unter neuen Vorzeichen kanonischen Status errungen. Da die göttlichen Redeaufträge in 28,12 und 36,27a durch teilweise gleichlautende Wortereignisformeln eines singulären Musters eingeleitet werden (hw"hy>-rb;d> yhiy>w: yrEx]a; hy"m.r>yI la, Das Wort Jhwhs erging an Jeremia, nachdem …, gefolgt von Infinitivus constructus), kann man sich fragen, ob in beiden Fällen derselbe Autor am Werk gewesen ist – womöglich derjenige, den das Buch als Jeremias Schreiber identifiziert und in Kap. 36 mit einer zentralen Rolle bedenkt: Baruch.

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Jeremias Brief an die Exilanten 1  a  Dies sind die Worte des Briefes, ​ b  den [der Prophet] Jeremia von Jerusalem an [den Rest] der Ältesten der Verbannten und die Priester, die Propheten und c  [die Nebukadnezzar von Jerusalem nach Babel verdas ganze Volk sandte, ​ bannt hatte,] ​ 2  nachdem der König Jechonja, die Herrin, die Hofbeamten, [die Patrizier von Juda und Jerusalem,] die Schmiede und die Schlosser von Jerusalem fortgezogen waren, ​ 3  a  durch Elasa, den Sohn Schafans, und Gemarja, den Sohn Hilkijas, ​ b  die Zidkija, der König von Juda, zu [Nebukadnezzar,] dem König von Babel, nach Babel gesandt hatte: 4  a  So spricht Jhwh [der Heerscharen], der Gott Israels, zu [allen] Verbannten, ​ b  die ich von Jerusalem [nach Babel] verbannt habe: ​ 5  a  Baut Häuser ​ b  und wohnt (darin); ​ c  pflanzt Gärten ​ d  und esst ihre Früchte! ​ 6  a  Nehmt Frauen ​ b  und zeugt Söhne und Töchter; ​ c  nehmt für eure Söhne Frauen, ​ d  und eure Töchter gebt Männern, ​ e  [damit sie Söhne und Töchter gebären]! ​ f  Vermehrt g  und werdet nicht weniger! ​ 7  a  Bemüht euch um das Heil der euch [dort] ​ b  wohin ich euch verbannt habe, ​ c  und betet für siea zu Stadt / des Landes, ​ a d  denn in ihrem Heil wird für euch Heil liegen! Jhwh, ​ b1  Nicht täu8  a  Denn so spricht Jhwh [der Heerscharen, der Gott Israels]: ​ schen sollen euch eure Propheten, ​ c  die in eurer Mitte (sind), ​ b2  und eure d  Hört nicht auf eure Träume, ​ e  die Wahrsager . ​ ihr ‚träumt‘a. ​ 9  a  Denn lügnerisch prophezeien sie euch in meinem Namen. ​ b  Ich habe sie nicht gesandt [– Spruch Jhwhs]. ​ 10  a  Denn so spricht Jhwh: ​ b  Jawohl, wenna für Babel siebzig Jahre vorüberb sind, werde ich euch heimsuchen ​ c  und mein [gutes] Wort an euch erfüllen, indem ich euch (AlT: euer Volk) an diesen Ort zurückführe. 11  a1  [Denn ich kenne doch die Pläne,] ​ b  [die] ich über euch plane [– Spruch Jhwhs –], ​ a2  Pläne des Heils und nicht zum Unheil, um euch Nachkommenschaft und Hoffnunga zu geben. ​ 12  a  [Ihr werdet mich rufen] ​ b  [und kommen;] ​ c  ihr werdet zu mir beten (AlT: Betet zu mir), ​ d  und ich werde euch erhören. ​ 13  a  Ihr werdet mich suchen (AlT: Sucht mich), ​ b  und ihr werdet (mich) finden. ​ c  Wenn ihr von eurem ganzen Herzen nach mir fragt, ​ 14  a  werde ich mich b  [Ich werde euer Gevon euch finden (AlT: sehen) lassen [– Spruch Jhwhs]. ​ schick wenden] ​ c  [und euch aus allen Nationen und von allen Orten sammeln,] ​ d  [wohin ich euch versprengt habe – Spruch Jhwhs.] ​ e  [Ich werde euch zurückführen an den Ort,] ​ f  [von dem ich euch verbannt habe.] b  Jhwh hat für uns Propheten in Babel erweckt. ​ 15  a  Ihr habt zwar gesagt: ​ 16  a  [Jawohl, so spricht Jhwh über den König, der auf dem Thron Davids sitzt, 168

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und über das ganze Volk, das in dieser Stadt wohnt, eure Brüder,] ​ b  [die nicht 17  a  [So spricht Jhwh der Heermit euch in die Verbannung gezogen sind:] ​ scharen:] ​ b  [Siehe, ich schicke unter sie das Schwert, den Hunger und die Seuche.] ​ c  [Ich werde sie den verdorbenen Feigen gleichmachen,] ​ d  [die man nicht essen kann vor Schlechtigkeit.] ​ 18  a  [Ich werde sie mit dem Schwert, dem Hunger und der Seuche verfolgen] ​ b  [und sie zum Schrecknis für alle Königreiche der Erde machen, zur Verwünschung, zum Bild des Entsetzens, zum (Ort c  [wohin des abwehrenden) Pfeifens und zur Schmähung bei allen Nationen,] ​ ich sie versprengt haben werdea,] ​ 19  a  [weil sie nicht auf meine Worte hörten – Spruch Jhwhs –,] ​ b  [wo ich doch meine Diener, die Propheten, unermüdlich zu c  [aber ihr habt nicht gehört – Spruch Jhwhs.] ihnen sandte,] ​ b  [die ich von Jerusa20  a  [Ihr aber, hört das Wort Jhwhs, alle Verbannten,] ​ lem nach Babel weggeschickt habe!] ​ 21  a  So spricht Jhwh [der Heerscharen, der Gott Israels,] über Ahab, [den Sohn Kolajas,] und über Zidkija, [den Sohn Maasejas, die euch in meinem Namen Lüge prophezeien]: ​ b  Siehe, ich liefere sie c  und er wird sie vor (bald schon) [Nebukadrezzar,] dem Königs von Babel, aus, ​ euren Augen erschlagen. ​ 22  a1  Dann wird man von ihnen einen Fluch herleiten bei der ganzen Exilantenschaft Judas, ​ b  [die] in Babel [(ist)], ​ a2  wie folgt: ​ c  Jhwh mache dich Zidkija und Ahab gleich, ​ d  die der König von Babel im 23  a  weil sie Schändliches in Israel getrieben ​ b  und mit Feuer geröstet hat, ​ c  Sie redeten [lügneden Frauen ihrer Mitbürger Ehebruch begangen haben. ​ risch] ein Wort in meinem Namen, ​ d  das ich ihnen nicht aufgetragen habe, ​ e  und ich bin [der Mitwisser und] Zeuge – Spruch Jhwhs. 25  a  [So spricht Jhwh 24  Zu Schemaja aus Nehelam aber sollst du sagen: ​ b1  Weil du eigenmächtig Briefe an das ganze der Heerscharen, der Gott Israels:] ​ c  das in Jerusalem ist, (AlT für ab1c wohl ursprünglich: Du Volk geschickt hast, ​ b2  [und] an den Priester Zefanja, den Sohn Maahast eigenmächtig gesandt) ​ sejas, [und an alle Priester]: ​ 26  a  Jhwh hat dich anstelle des Priesters Jojada zum Priester bestellt, damit es Aufseher gibt (AlT: um Aufseher zu sein) im Haus Jhwhs für jeden Verrückten, der sich als Prophet aufführta (AlT: für jeden, der sich b  Du sollst ihn in den Block als Prophet aufführt, und für jeden Verrückten). ​ und ins Halseisen stecken. ​ 27  Warum bist du also jetzt nicht gegen Jeremia aus Anatot eingeschrittena, der sich bei euch als Prophet aufführt? ​ 28  a  Deshalb hat er (auch) an uns (die Botschaft) nach Babel gesandt: ​ b  Es (dauert noch) lange. ​ c  Baut Häuser ​ d  und wohnt (darin); ​ e  pflanzt Gärten ​ f  und esst ihre Früchte! 29  a  [Der Priester] Zefanja las d[ies]en Brief [dem Propheten] Jeremia vor. ​ 30  Da erging das Wort Jhwhs an Jeremia: ​ 31  a  Sende (eine Botschaft) an [alle] Verbannten: ​ b  So spricht Jhwh über Schemaja aus Nehelam: ​ c  Weil Schemaja euch prophezeit hat, ​ d  obwohl ich ihn nicht gesandt habe, ​ e  und er euch verleitet hat, auf Lüge zu vertrauen –, ​ 32  a  darum: So spricht Jhwh: ​ b  Siehe, ich c  Er züchtige (bald schon) Schemaja [aus Nehelam] und seine Nachkommena. ​ wird niemanden haben, [der] inmitten dieses Volkes (AlT: in eurer Mitte) [wohnen d  Er wird sich nicht an dem Guten erfreuen,b  e  das ich meinem bleiben wird]. ​ 169

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Volk / euch bereite [– Spruch Jhwhs –], ​ f  [denn Auflehnung hat er gegen Jhwh gepredigt]. 7 a In MT Sg fem. mit Bezug auf die Stadt 7a; in AlT Pl. 8 a So mit AlT; MT aufgrund von Dittographie: die ihr träumen lasst. 10 a Vgl. Jenni, Beth 279, Rubrik 9196; Ges18 1041a, s. v. hP, 7bγ. b Wörtl. voll. 11 a AlT liest als Objekt nur dies. 18 a x-qatal-Formation für Vorzeitigkeit in der durch den Kontext vorgegebenen Zukunft. 26 a Wörtl. für jeden verrückten und sich als Prophet aufführenden Mann. 27 a Wörtl. hast du nicht … (scharf) zurechtgewiesen. 32 a Wörtl. seinen Samen. b AlT: um sich an dem Guten zu erfreuen.

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Jer 29 beansprucht, einen Brief Jeremias an die babylonischen Exilanten wiederzugeben. Das Kapitel geht in seinem Kern mit hoher Sicherheit auf ein solches Schreiben zurück, doch wie in den Ausführungen zur Textgenese dargelegt, ist der vorfindliche Wortlaut ein kompliziert gewachsenes Gebilde, wie beispielhaft das Endstück Vv. 24– 32 verdeutlicht, das inhaltlich von Folgewirkungen der vorweg mitgeteilten schriftlichen Botschaft berichtet, aber formal als Teil des Briefes eingeführt wird. Außerdem partizipiert Jer 29 an dem hohen Ausmaß prämasoretischer Expansion, das 27–29 insgesamt auszeichnet. Als der zweite Falschprophetenredaktor das Kapitel mit den bereits verkoppelten Einheiten 27* + 28* zur zweiten Falschprophetenkomposition verband, gaben thematische Berührungspunkte den Ausschlag, die schon den Bausteinen des Komplexes gemein waren: die Fragen, wie das babylonische Reich im Lichte jahwistischer Traditionen theologisch zu bewerten sei, welche Dauer ihm daher zugesprochen werden müsse und was daraus folge für den Umgang mit der Fremdherrschaft sowie speziell für die Zukunftsaussichten der Gola. Dazu gesellte sich das Problem, das dann von den Falschprophetenredaktoren zum dominierenden Generalthema erhoben wurde: was von gänzlich anderslautenden religiösen Deutungen der Lage zu halten sei, wie sie von antibabylonischen Heilspropheten publikumswirksam vertreten wurden. Nachdem sich die vorausgehenden Stücke der Komposition mit den Falschpropheten im Ausland (*27,1–11) und in Juda (*27,14–28,17) befasst hatten, wendet sich 29 jenen in der Gola zu.

Gliederung Das Kapitel wird eröffnet durch den umfangreichen Vorspann Vv. 1–3 mit detaillierten Angaben zu Absender und Adressaten des Schreibens sowie zu den Umständen seiner Zustellung an die Gola. Der Vorspann bildet kein eigenes Gliederungssegment, denn er leitet direkt über zu dem Brieftext, der dann durchgehend vermittels prophetischer Botenformeln strukturiert ist, die unter diachroner Rücksicht Schichtengrenzen anzeigen und zugleich dem Endtext sein Gerüst einziehen. Die erste Botenformel V. 4 fungiert als Generalschlüssel für den Brief, da sie, aufgrund einer weiteren Adressatenangabe besonders umfangreich, in feierlicher Form dem Schreiben den Anspruch voranschickt, Gottesworte mitzuteilen. Im engeren Sinne leitet sie die Vv. 5–7 ein, die der Gola Anweisungen erteilen, wie sie ihren Beitrag leisten soll, um über eine lange Verweildauer in der Fremde hinaus ihren Bestand zu sichern. Die Botenformel 8a eröffnet den zweiten Abschnitt (Vv. 8–9) mit einer Warnung vor falschen Wahrsagern. Auch die Botenformel 10a setzt mit einem Themenwechsel eine Zäsur: Der dritte Abschnitt erteilt den Exilanten eine Serie von Heilsweissagungen (Vv. 10–14). Die nächste Botenformel folgt in 16a am Beginn des langen masoreti171

29,1–4

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schen Überschusses Vv. 16–20, innerhalb dessen sie nach einer besonders ausführlichen Adressatenangabe in 17a gedoppelt wird. Im masoretischen Endtext zeigt das Formelpaar den Beginn eines Redeabschnitts an, der als Antwort auf einen in V. 15 zitierten Einwand der Adressaten präsentiert wird, sodass dort der Beginn eines weiteren Segments festzumachen ist. Der masoretische Überhang leitet in V. 20 mit adversativem ~T,a;w> ihr aber und Aufmerksamkeitsruf über zu den Vv. 21–23, die als Replik auf das Zitat V. 15 dienten, bevor die Vv. 16–20 eingeschoben wurden. Ihr Beginn ist in 21a abermals durch eine Botenformel markiert. Im Endtext bilden somit die Vv. 15–19 den vierten und die Vv. 20–23 den fünften Abschnitt. Die letzte Botenformel, die die Makrostruktur des masoretischen Textes prägt, findet sich in 25a MT als Bestandteil des Redebefehls, der mit V. 24 eröffnet wird, wo somit erneut eine Zäsur zu verzeichnen ist. Der Auftrag schlägt jedoch mit V. 29 in eine Erzählung um, die ihrerseits in V. 31–32 in einem durch zwei Botenformeln (31b.32a) gegliederten Gerichtswort gipfelt. Diese Botenformeln prägen indes nur die innere Struktur des Gerichtsworts, sodass sich V. 24–32 als sechster und letzter Abschnitt ergibt.

Erklärung 1–4 In dem überlieferten Jeremiabrief wurde das übliche Präskript mit Elementen wie

Absender, Adressat, Gruß und Segenswunsch ersetzt durch eine sehr ausführliche redaktionelle Einführung, die in 1a  – nach Abzug der Syndese  – mit einem zur selbstständigen Existenz befähigenden absoluten Textanfang beginnt. Es lässt sich daher nicht entscheiden, ob der Vorspann von dem zweiten Falschprophetenredaktor stammt, der die Quelle seinem Werk einverleibte, oder ob man den Text bereits zuvor entsprechend edierte, um einen Auszug des Schreibens für eine Nachwelt zu erhalten, die den ursprünglichen Adressatenkreis sprengte. Jedenfalls bezeugt der Bearbeitungsvorgang, dass man das Dokument als wegweisend über seine unmittelbaren Entstehungsumstände hinaus empfand. Wollte man seine Wirkkraft erhalten, entstand mit fortschreitender Zeit Bedarf an einer Vorrede, die spätere Leser, denen die Kenntnisse zu Anlass und Charakter des Briefes zu entfallen drohten, mit den Begleitinformationen versah, die die Autorität des Textes zu sichern vermochten. Die Einleitung markiert so den für die atl. Schriftprophetie typischen hermeneutischen Schritt von der aktuellen Gegenwartsbedeutung der Offenbarung zu ihrem überzeitlichen Sinn, der erst ihre schriftliche Konservierung rechtfertigte (Jeremias). 1 Wie es scheint, ist schon der vormasoretische Wortlaut der Einleitung ein gewachsenes Produkt. Die erste Fassung ist in Mesopotamien entstanden, wie die Hervorhebung der Selbstverständlichkeit bestätigt, dass Jeremia den Brief von Jerusalem aus sandte (1b). Als erstes Element der viergliedrigen Adressatenliste werden die Ältesten der Verbannten (hl'AGh; ynEq.zI 1b) aufgezählt (MT schickt voran: den Rest), ein singulärer Titel, der im AT nicht den Status einer festen Prägung erlangt hat. Das Ezechielbuch erwähnt zwar wiederholt die Ältesten als die internen Führungskreise der Exilanten, nennt sie aber die Ältesten von Juda (Ez 8,1), die Ältesten von Israel (Ez 14,1; 20,1.3) oder die Ältesten des Hauses Israel (Ez 8,11.12). Diese Männer gaben 172

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29,3

somit die natürliche Anlaufstelle für Jeremia ab. Dies und ihre nicht-klischierte Bezeichnung sprechen dafür, in den Ältesten der Verbannten die ursprünglichen Empfänger des Briefes zu suchen. Die anderen drei Gruppen die Priester, die Propheten und das ganze Volk erweitern hingegen die Empfänger auf die gesamte Gola, identifizieren also die Adressaten des Briefes mit den Adressaten der Botschaft, und zwar in einer Auffächerung nach Ständen, wie sie auch den redaktionell geschaffenen Kontext kennzeichnet.1 Ein prämasoretischer Ergänzer hat durch 1c in vertrauter Manier an die Mitwirkung Nebukadnezzars am Geschehen erinnert. Der Satz gibt sich auch durch seine spannungsvolle Kontexteinbettung als Nachtrag zu erkennen, denn die Abfolge 1c–2 erweckt den Anschein, die in 1c genannte Deportation sei nach der in V. 2 beschriebenen Exilierung erfolgt, als handle es sich um separate, sukzessive Vorgänge. – Der Briefwechsel als solcher, die Erwähnung judäischer Führungsfiguren in der Adresse und bei Ezechiel (s. o.) wie auch die Appelle Jeremias, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, werfen ein Schlaglicht auf die Lebensumstände der Exilanten, weil diese Details ein Maß an Autonomie voraussetzen, das den Verbannten erlaubte, sich in gewissem Rahmen selbst zu organisieren und eigene Angelegenheiten zu regeln. Näheres s. im Exkurs „Die Lebensverhältnisse der judäischen Exilanten“ unten S. 197. Nach den Adressaten wendet sich die Einleitung dem Datum des Schreibens zu, 2 allerdings in einer Weise, die geringen Informationswert besitzt und auf eine entsprechend unkundige Leserschaft zielt. Denn der Sache nach situiert V. 2 den Brief Jeremias lediglich allgemein in der Dekade Zidkijas, was aus V. 3 ohnehin hervorgeht. Nach seinem Sprachgebrauch ist der Passus eine aus 2 Kön 24,12–16 geschöpfte jüngere Erläuterung, die einem Publikum mit schwindenden Geschichtskenntnissen helfen sollte, Jeremias briefliche Prophetie für die Gola historisch einzuordnen (Näheres s. Textgenese zu 27–29; dort auch zur Namensvariante Jechonja für Jojachin). Laut V. 3 ließ Jeremia sein Schreiben durch eine diplomatische Gesandtschaft Zid- 3 kijas nach Mesopotamien befördern. Die Nachricht ist durchaus glaubwürdig angesichts der Prominenz, die der Prophet genoss, verkehrte er doch regelmäßig in hohen Führungskreisen, wo er auch erheblichen Rückhalt erfuhr (s. zu 27,3). Der Redaktor teilt mit Bedacht die Namen jener Männer mit, die Jeremia als Boten dienten. Denn damit bescheinigt er ihnen, dem hoch kontroversen und vielerlei Anfeindungen ausgesetzten Propheten schon in den Jahren seiner Umstrittenheit – also noch vor seiner endgültigen Bestätigung durch den Gang der Ereignisse  – beigestanden zu haben. Es überrascht nicht, wenn an erster Stelle mit Elasa ben Schafan (nur hier erwähnt) ein Sohn jenes Staatsschreibers genannt wird, dem der Bericht von der Auffindung des Gesetzbuches unter Joschija in 2 Kön 22,3–20 indirekt eine Hauptrolle bei der joschijanischen Reform zuweist. Die Schafaniden gelten in Jer als treue Parteigänger des Propheten (s. zu 26,24). Solidarität mit Jeremia bedeutete insbesondere, seine „probabylonische“ Haltung zu teilen, d. h. die Bereitschaft, sich mit der erdrückenden mesopotamischen Großmacht zu arrangieren. Dass die Schafaniden in dieser Hinsicht mit Jeremia übereinstimmten, demonstriert in aller Deutlichkeit die spätere  Vgl. 27,9.14.15.16.18; 28,1.5.7.8.11; 29,8.15.

1

173

29,3

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Bestellung des Schafan-Enkels Gedalja zum höchsten einheimischen Amtsträger in der babylonischen Administration Judas (39–41). In die gleiche Richtung weist der Umstand, dass Zidkija die Mission nach Babylon dem Schafan-Sohn Elasa anvertraute (vgl. an weiteren Belegen für die Beweglichkeit, mit der die Kreise um Jeremia der babylonischen Bedrohung entgegentraten: 36,25; 43,3; 51,59). Demselben Milieu rechnet V. 3 den sonst unbekannten Gemarja ben Hilkija zu, der als Gesandter Zidkijas eine hochrangige Stellung am Jerusalemer Hof bekleidet haben muss. Vielleicht war er ein Sohn jenes Hilkija, der zur Zeit Joschijas als Oberpriester am Jerusalemer Tempel amtierte und in 2 Kön 22–23 als eine weitere Schlüsselfigur der joschijanischen Reform auftritt. Wegen der Häufigkeit des Namens ist darüber allerdings keine Sicherheit zu gewinnen (so hieß beispielsweise der Vater Jeremias ebenfalls Hilkija 1,1). Wenn der Vorspann die Mitwirkung Elasas und Gemarjas notiert, muss er einer Zeit entstammen, als es noch lohnend erschien, die Erinnerung an die Verdienste der beiden Männer um den wahren Propheten wach zu halten, sei es, weil sie selbst noch lebten, oder sei es, weil ihre Familien in der Welt, auf die das Schriftstück zielte, weiterhin auf der politischen Bühne standen und von der Pflege der Reputation ihrer Vorfahren zu profitieren hofften. – Auch in 3b hat die prämasoretische Revision wieder ihrem Interesse an der Figur Nebukadnezzars Ausdruck verliehen, indem sie seinen Namen nachtrug. 4 Der zitierte Brieftext beginnt mit einer prophetischen Botenformel, die als Adressat nunmehr folgerichtig die Gola angibt (4a), denn die Weisungen des Briefes gelten nicht nur den postalischen Empfängern, sondern allen Exilanten. Die Botenformel geht in typisch deuterojeremianischer Weise noch innerhalb derselben Satzperiode in das Ich Jhwhs über (vgl. 21a MT; 11,21a; 12,14a; 14,15a), was darauf hindeutet, dass sie jedenfalls im vorliegenden Wortlaut noch zum redaktionellen Vorspann gehört. Sie stellt vorweg klar: Der physische Absender des Briefes ist Jeremia, doch der Absender seines Inhalts ist Jhwh. Dies ist Prophetie in Briefform, also eine Art der Prophetie, die nicht nachträglich verschriftet wurde, um sie künftigen Generationen zu erhalten, sondern die von vornherein schriftlich entstand, aber wiederum nicht als Fortschreibung eines Prophetenbuchs durch Tradentenpropheten, sondern mit dem Ziel, Zeitgenossen des Propheten zu erreichen, die sich an einem entfernten Ort befanden. Die Schriftform überwindet die lokale Distanz, wie sie später auch die zeitliche Kluft überbrücken wird. Der durch 4a reklamierte göttliche Ursprung des Textes entspricht dem Wortlaut des Folgenden, das sich in Ich-Form auf Jhwh bezieht (zu 7c s. dort). Dabei ist der Relativsatz 4b eine abgewandelte Anleihe aus 7b und unterstreicht, dass die Deportation weg von Jerusalem eine Tat Jhwhs gewesen sei (vgl. auch MT 18.20b; anders 1c). So wird Jhwh ein überaus hartes Handeln an seinem eigenen Volk zugeschrieben, zugleich aber eine Ressource der Hoffnung erschlossen: Weil Jhwh das Exil selbst inszeniert hatte, war ihm auch zuzutrauen, das Schicksal der Verschleppten weiterhin in der Hand zu halten und also auch zu wenden. 5–6 Der wahrscheinlich älteste Kern des Kapitels (Vv. 5–7.15.21–23*) dürfte auf einen originalen Brief Jeremias zurückgehen. Dafür sprechen seine Themen: die Dauer des Exils und welche Konsequenzen sich daraus für die Verbannten ergaben – Fragen, die spätestens mit der Möglichkeit zur Heimkehr ab 539 entfielen. Die Authentizität wird 174

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29,5–6

gestützt durch die Abfolge aus dem Verb hbr sich vermehren und dem negierten Verb j[m weniger werden, die in 30,19 binnen eines wahrscheinlich authentischen Rahmens wiederkehrt (sonst Ex 30,15; Ps 107,38; s. ferner unten zum Ehebruchsvorwurf an die Falschpropheten 23ab). Im Endtext machen die Vv. 5–7 die erste Gottesrede aus. Sie trägt eine lange Serie von Aufforderungen vor, die zunächst sehr regelmäßig gebaut sind, um dann stärkere Variation zuzulassen. Die strenge Form steigert durch poetische Züge wie Parallelismen und Chiasmen die Eindringlichkeit. Die ersten sechs Sätze 5a–6b verbinden nahezu konstant einen Imperativ an erster mit einem Objekt an zweiter Position; lediglich in 5b ist das nominale Glied, da mit jenem aus 5a identisch, kontextgetilgt. Die Imperative stehen immer im Plural, die Objekte sind mit Ausnahme von 5d pluralisch und indeterminiert. Die Sätze bilden drei Zweiergruppen, bei denen jeweils die erste Handlung die zweite ermöglicht: Baut Häuser und wohnt (darin) … Die Paare von Appellen betreffen Grunderfordernisse dauerhaften menschlichen Lebens: Obdach (5ab), Nahrung (5cd) und Reproduktion (6ab; vgl. für eine ähnliche Reihung Dtn 20,5–7). Anschließend werden die syntaktischen Muster vielfältiger: 6cd erweitert das Thema Fortpflanzung auf die nächste Generation und gießt die Aussage in einen Halbchiasmus, der den Imperativ im Nachsatz ins Satzinnere rückt (AlT bietet einen strengen dreigliedrigen Chiasmus: Prädikat als Imperativ Plural, indirektes Objekt, direktes Objekt und dann die gegenläufige Abfolge). Der masoretische Überschuss 6e schert aus den Schemata des Kontextes aus, indem er das Paar 6cd um ein drittes Glied vermehrt und mit einer yiqtul-Formation einen Appell an die 3. Person richtet, um auch die folgende Generation eigens zur Fortpflanzung aufzurufen, entsprechend dem prämasoretischen Konzept, dass das Exil bzw. die babylonische Weltherrschaft drei Generationen währte (ebenso 27,7). 6fg wandelt die paarige Struktur ab, indem jetzt dieselbe Aufforderung doppelt ausgesprochen wird: einmal als Gebot und einmal als Verbot des Gegenteils, wobei im zweiten Fall notwendig ein Vetitiv den Imperativ ersetzt. Das Geheiß an die Exilsgemeinde, zu wachsen statt zu schrumpfen, zieht zugleich eine Summe der vorherigen Appelle.2 Welche Assoziationen die hier mehrfach genutzte Stilfigur weckte, vermögen die sog. Nichtigkeitsflüche zu beleuchten. Diese altorientalische Fluchform stellt das negative Spiegelbild zu 29,5–6 dar, insofern sie häufig mit ähnlichen Sequenzen von Handlung und Wirkung operiert, aber den Fluchopfern zuwünscht, dass ihre Taten Folgen zeitigen, die ihren Absichten geradewegs zuwiderlaufen. Die Betroffenen sollen also die Fluchbehaftung ihrer Existenz durch die totale Vergeblichkeit ihres Tuns und die permanente Widrigkeit ihres Schicksals erfahren. Im AT sind solche Nichtigkeitsflüche reichlich belegt.3 Die Fluchliste des deuteronomischen Gesetzes bietet in Dtn 28,30 ein direktes Kontrastbeispiel zu 5ab: Ein Haus wirst du bauen, aber nicht 2  Dass V. 6 auch zu Mischehen mit der babylonischen Bevölkerung ermutige (Weippert), ist nicht nachweisbar und wenig wahrscheinlich. 3  Lev 26,16.20.26; Dtn 28,30–33.38–41; Hos 4,10; 5,6; Am 4,8; 5,11; 8,12; Mi 3,4; 6,14–15; Zef 1,13; Ijob 31,8.10; vgl. Hag 1,6.9. In positiv gewendeter Form Jes 62,8–9; 65,21–23; Jer 31,5; Ez 28,26; Am 9,14; ferner Dtn 6,10–11; 8,12–13; 20,5–6. Zur formalen Beschreibung der Fluchform, zu außerbiblischen Parallelen und traditionsgeschichtlichen Wurzeln s. Podella. Recht spekulative Hypothesen zum militär‑ und sozialhistorischen Hintergrund bietet Smoak.

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darin wohnen (ähnlich Am 5,11; Zef 1,13). Der Vergleich erhellt, mit welcher Verwegenheit der Jeremiabrief frontal gegen die Erfahrungen der Exilanten anredete. Denn die Verbannten konnten ja ihr eigenes Ergehen in solchen Fluchlisten wiedererkennen; so schien etwa die zitierte Verwünschung an ihrer heimatlichen Bleibe wahr geworden zu sein. Trotzdem sollten sie als Gotteswort annehmen, dass es sich mit ihrem Heilsstatus genau umgekehrt verhielt: An die Stelle der Häuser in der Heimat sollten die Häuser in der Fremde treten. Was wie ein elendes Dasein unter Nichtigkeitsflüchen aussah, sollte im Gegenteil zum Ort des Segens werden. Die Wirklichkeit von Jhwh her, so der Anspruch Jeremias, widersprach diametral dem Anschein, wie er sich der Optik traditioneller Theologie darbot. Wenn das Schreiben ferner dazu aufrief, Gärten anzulegen und ihren Ertrag zu verzehren (5cd), ist dies vor dem Zeugnis von Ez 4,13 und Hos 9,3–5 zu lesen, wonach Speisen im Ausland – das in Am 7,17 generell als unrein gilt – zwangsläufig zur kultischen Verunreinigung führten (vgl. Dan 1,8). Nun verlangte deshalb niemand von den Exilanten, sie sollten den selbstgewählten Hungertod sterben. Entscheidend ist indes, dass der Brief zum Ausdruck des Heilswillens Jhwhs erhob, was herkömmlich als Folge seines Zorns erschien. Der Klang solcher Worte lässt sich auch daran abschätzen, dass sie die Exilanten aufforderten, dasjenige, was die Verheißungen Jes 62,8–9 und 65,21–23 als Rücknahme alter Nichtigkeitsflüche erst für eine künftige Heilszeit in Israel erhofften,4 ausgerechnet in der Fremde zu realisieren. Besonders geeignet, helle Wut zu provozieren, waren die Appelle zur Familiengründung und Vermehrung (V. 6), weil sie noch deutlicher als 5cd eine Voraussetzung verrieten, die, wie im Fortgang der Brief Schemajas illustriert (V. 26–28), vielen Judäern als ungeheuerlich galt: Die Dauer des Exils würde die Größenordnung von Generationen erreichen, statt sich auf ein kurzes Intermezzo zu beschränken, wie laut dem vorigen Kapitel der Falschprophet Hananja – stellvertretend für zahlreiche in traditionellen Konzepten verwurzelte Jhwh-Verehrer – erwartet haben soll (vgl. 28,3.11MT). Für die unmittelbaren Adressaten des Schreibens waren die Implikationen extrem ambivalent: Gewiss ergab die von Jeremia geforderte langfristige Existenzsicherung nur Sinn, wenn ihre Nachfahren irgendwann einmal den Heimweg anträten – doch für sie selbst stand fest, dass sie Juda, Jerusalem und den Tempel niemals wiedersähen. 7 Der Brief treibt seine Zumutungen noch weiter: Mit der Autorität der Gottesstimme wird erklärt, die Verschleppten sollten (wörtlich) das Heil der Stadt (AlT verallgemeinert aus späterer Warte: des Landes) ihrer Gefangenschaft suchen (7a; vgl. 38,4; Dtn 23,7; Esr 9,12), d. h. sich aktiv um ihr Wohlergehen bemühen (Bons), bis dahin, dass sie im Gebet bei Jhwh für die Stätten ihrer Verbannung eintraten (7c; Verweise Jhwhs auf sich selber in 3. Person sind in atl. Gottesreden üblich). Die Vorstellung, dass man für die Wohnorte von Fremdgötterverehrern beten könne und sogar solle, ist im AT einzigartig. Um das Maß voll zu machen, koppelt Jeremia das Heil der Exilanten an das Wohlergehen jener, die sie normalerweise als ihre verhassten Kerkermeister betrachten müssten (7d). Statt wie etwa der Falschprophet Hananja im heimischen Juda (s. zu 28,2–4.11) und wohl auch wie dessen exilische Kollegen Ahab  Vgl. ferner Jer 31,5; Ez 28,25–26; Am 9,14.

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und Zidkija (s. u. zu V. 21–23) den baldigen, wunderhaft von Jhwh herbeigeführten Sturz der babylonischen Großmacht zu erwarten, sollten die Verschleppten sich im Gegenteil für das Heil ihrer fremden Umgebung einsetzen, weil ihr eigenes Heil nicht an der Nähe zu den traditionellen Garanten Land, Tempel und Königtum hing, sondern am Wohl ihrer mesopotamischen Nachbarn, unter denen sie so furchtbar gelitten hatten und litten! Im Endtext des Buches wird den Exilanten überdies nichts weniger zugesagt, als dass ihnen jenes Heil (~Alv'), das Jhwh laut 16,5 den Judäern entzogen hatte, ausgerechnet in der Verbannung erreichbar sein sollte. Man wüsste gerne, was die Adressaten mit solchen Sätzen anfingen. Gewiss ist es ein grundlegendes Bekenntnis des AT, dass Jhwh weltweit agiert. Dies ist allein schon eine Konsequenz der Schöpfungstheologie, und für den Raum der Geschichte stehen die Sammlungen von Fremdvölkersprüchen exemplarisch dafür ein (s. zu 46–51). Ebenso gilt zumeist als unbefragte Tatsache, dass Jhwh seinen Dienern auch im feindseligen Ausland rettend nahe ist; die Erzählstoffe von den Zügen der Erzeltern, vom Ägyptenaufenthalt, von Exodus und Wüstenwanderung leben davon. Um nur einige Beispiele zu nennen, ohne literar‑ und religionsgeschichtliche Differenzierung: In diesen Geschichten wird mit Selbstverständlichkeit im Ausland zu Jhwh gerufen.5 Es werden für Ausländer Fürbittgebete an Jhwh gerichtet, der die Erhörung nicht schuldig bleibt.6 Jhwh redet im Ausland zu den Patriarchen,7 Mose, Aaron und Josua8 und sogar zu einem fremden König.9 Jhwh nimmt die Not seines Volkes wahr10 und handelt souverän unter Zeichen und Wundern.11 Das Tempelweihegebet reklamiert dasselbe für die Menschen seiner Entstehungszeit, wenn es explizit die Möglichkeit vorsieht, dass Jhwh die Gebete israelitischer Krieger erhört, die fernab der Heimat Gefangenschaft erleiden (1 Kön 8,46–51). Natürlich bildeten sich solche universalistischen Konzepte erst allmählich heraus, aber dieser Prozess war in der Ära Jeremias schon sehr weit fortgeschritten. Für seinen Zeitgenossen Ezechiel stand außer Frage, dass Jhwh sich ihm im Exil offenbarte, und die Adressaten des Jeremiabriefs waren überzeugt, die authentische Stimme Jhwhs durch Propheten in ihren eigenen Reihen zu vernehmen (V. 15). Jeremias prophetischer Gegenspieler Hananja hegte keinen Zweifel, dass Jhwh demnächst das babylonische Großreich zum Einsturz bringen würde (28,2–4.11). Jeremia ging freilich noch sehr viel weiter mit seinem Anspruch, dass die Fremde für die Verbannten auf unabsehbare Dauer zur Heimat und zu einem Ort des Heilsgewinns werden sollte. Damit löste er weithin Empörung aus, da er Jhwh in gotteslästerlicher Weise als Schwächling zu schmähen schien. Außerdem lebten neben den universalistischen Ideen traditionelle Anschauungen fort, für die das weltweite Wirken Jhwhs nicht notwendig seine unbegrenzte Zugänglichkeit einschloss. Wie betont  Ex 5,22–23; 14,10; vgl. 14,15.  Gen 20,7.17; Ex 8,4–9.24–27; 9,27–29.33; 10,16–19; 12,32. 7  Gen 12,1–3; 26,2–5. 8 Passim in Ex 3 – Jos 3. 9 Gen 20,3–7. 10 Ex 2,23–25; 3,7.9.16; 4,31; 6,5. 11  Gen 12,17; 20,18; Ex 1,20; 3,8.17.20; 4,9.30; 6,6–7 sowie in Ex 7 – Dtn passim; vgl. Gen 50,20; Ex 5,21. 5 6

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(s. zu 5cd), verbanden ältere theologische Konzepte das Leben im Ausland mit Kultunfähigkeit, bedingt durch unvermeidliche Unreinheit. Mit dem Kult kam indes auch die Möglichkeit zur Wahrung des existenzsichernden Gottesbezugs abhanden. Deshalb vollzog der Schritt über die Grenze den Abschied von Jhwh. Als Kain den Weg ins Land Nod einschlug, war dies für Gen 4,16 gleichbedeutend damit, von Jhwh weg zu wandern. Laut 1 Sam 26,19 brachte der Fortzug ins Ausland nichts weniger als den Zwang zur Verehrung fremder Götter mit sich, weil man in deren Machtsphäre eintrat und wohlberaten war, sich mit ihnen zu arrangieren. Einer ähnlichen Logik folgte der aramäische Jhwh-Konvertit Naaman, als er die prophetische Erlaubnis erbat, aus Israel zwei Maultierladungen Erde mitnehmen zu dürfen (2 Kön 5,17). Dabei war der Erzähler von dem Glauben geleitet, dass Opfer für Jhwh im Ausland auf eine physische Exklave des Landes Israel angewiesen waren. Die Bundesflüche des Deuteronomiums setzten das Exil mit unvermeidlichem Götzendienst gleich (Dtn 28,36.64). Derlei Sichtweisen wirkten sogar noch in den dtr Redaktionen des Jeremiabuches fort. Der Schöpfer des judäischen Jeremiabuches (JerDtr I in Kap. 1–25; s. Einleitung zum Kommentar) gab sich ebenfalls überzeugt, dass die Verbannten notwendig der Fremdgötterei verfielen (16,13), und das Exil galt ihm als Ort der Gottesferne und Hoffnungslosigkeit, wo die Verschleppten dem Tod entgegengingen (8,3; 9,15; 13,1– 11; 15,2–3). Ferner tradierte er ältere Jeremiaworte, in denen der Prophet die Deportation androhte und dieses Schicksal düster ausmalte (13,19.24; 22,26–28). Der Autor des babylonischen Jeremiabuches (JerDtr II in Kap. 26–44) wiederholte solche Aussagen zwar nicht mehr; vielmehr nahm er nun den Jeremiabrief in sein Werk auf, und für ihn empfing der Prophet auch in Ägypten Offenbarungen (43,8–44,28)  – freilich zu dem Zweck, jetzt die Ägyptenemigranten mit dem Stigma des Daseins im Ausland zu behaften, denn Jeremia hatte ihnen Jhwh-Ferne, Götzendienst und den sicheren Tod anzusagen (44,7–14.26–27). Ferner überlieferte der Redaktor die „Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums“ (34,7 + *37,3–43,7b) mit ihrer umfangreichen Gottesrede, in der Jhwh den Ägyptenflüchtlingen den Untergang ankündigt (42,9–22). So illustrieren die Schichten des Buches, die jünger sind als der Jeremiabrief, wie schwer es die revolutionäre Theologie des Propheten sogar bei seinen eigenen Schülern hatte. Auf welche Verständnisvoraussetzungen das Schreiben Jeremias damals stieß, beleuchtet weiterhin die Tatsache, dass seit dem 3. Jahrtausend eine Tradition von Flüchen in internationalen Verträgen belegt ist, die die Deportation der Bevölkerung vertragsbrüchiger Staaten als Ausdruck des göttlichen Zorns und Modus der Vernichtung androhten (Halvorson-Taylor 22–25). Zu alldem besaß das Thema Exil für die Judäer zur Zeit Zidkijas eine nochmals gesteigerte Brisanz, weil die Deuteronomisten wenige Jahre zuvor in der Originalausgabe ihres Geschichtswerks (DtrG*)12 eine theologische Bilanz des untergegangenen Nordreichs Israel gezogen hatten (2 Kön 17,7–23), in der sie die genannte Tradition auf den Bruderstaat anwandten mit dem 12  Zur Begründung s. H.-J. Stipp, Ende bei Joschija. Zur Frage nach dem ursprünglichen Ende der Königsbücher bzw. des Deuteronomistischen Geschichtswerks, in: ders., Alttestamentliche Studien. Arbeiten zu Priesterschrift, Deuteronomistischem Geschichtswerk und Prophetie (BZAW 442), Berlin 2013, 391–439.

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Anspruch, Jhwh habe mit der Verschleppung der Nordstämme ihre endgültige Verwerfung vollzogen. Unablässig provoziert durch ihre permanenten Verstöße gegen deuteronomische Maßstäbe ordnungsgemäßen Kults, habe Jhwh schließlich radikale Remedur geschaffen: Vermittels der Deportationen verstieß er sie von seinem Angesicht (V. 18; ähnlich V. 23); er verwarf das ganze Geschlecht Israels …, bis er sie von seinem Angesicht fortschleuderte (V. 20).13 Dann stellte sich freilich mit aller Schärfe die Frage, was es von Jhwh her bedeutete, wenn nun auch die Judäer Opfer von Deportationen geworden waren. Jhwh konnte doch Juda nicht ebenso behandeln, kurz nachdem Joschija dort ideale kultische Verhältnisse hergestellt hatte (2 Kön *22,3–23,25)! Umso mehr musste Jeremias Sicht des Exils, wie in seinem Brief zusammengefasst, zum Himmel schreien. Mit der Vorstellung von Jhwhs Unerreichbarkeit auf fremder Erde konnten zudem jene Nichtdeportierten wuchern, die den Exilanten übel gesinnt waren, etwa weil sie ein begehrliches Auge auf deren Besitztümer geworfen hatten. Nach dem Zeugnis Ezechiels schrieben heimische Judäer die Gola rundweg als fern von Jhwh ab, was ihn nötigte, seinen Mitgefangenen mit der göttlichen Zusage den Rücken zu stärken, dass Jhwh ihnen ein wenig zum Heiligtum geworden war, sodass sich die lokale Nähe zum Tempel erübrigte (Ez 11,15–16). An derlei Zuspruch bestand dringender Bedarf, denn wie weitere Quellen untermauern, waren die Deportierten gegenüber der Behauptung, sie seien vom Heil endgültig abgeschnitten, kaum immun. Jes 40,27 zitiert die Verschleppten mit der Klage mein Weg ist vor Jhwh verborgen, und um die Qualen des Exils drastisch auszumalen, stellt Ps 137,4 Gottesdienste im Ausland zumindest rhetorisch als undenkbar hin. Jeremia dagegen rief in 7c die Exilanten zu Gebeten auf, setzte also deren Wirksamkeit einfach als selbstverständlich voraus, und das in Bezug auf Anliegen, die in der damaligen theologischen Landschaft vielen Judäern als skandalöse, dreist verlogen-fromm kaschierte Blasphemie in den Ohren gellen mussten, wie es der Kontext mit der Prophetie Hananjas (Kap. 28) und der empörten Reaktion Schemajas illustriert (29,26–28). Dass viele Exilanten sich mit jenen Wortführern einig fühlten, zeigt die bloße Existenz des Jeremiabriefes – andernfalls hätte es seiner nicht bedurft. Nachdem der Redaktor der zweiten Falschprophetenkomposition in 27,9–10a.12– 8–9 15* vor heuchlerischen Wahrsagern in den Nachbarländern und Juda gewarnt hatte, schaltet er sich hier erneut ein, um sein Publikum zum Abschluss seiner kleinen Kampfschrift gegen jene falschen Mantiker zu immunisieren, auf die es ihm am meisten ankam, weil sie seiner eigenen Lebenssphäre am nächsten standen: die offenbar immer noch aktiven antibabylonischen Heilspropheten in der Gola. Der Zusatz ging wahrscheinlich ehemals der ursprünglichen Fortsetzung des Jeremiabriefes in den Vv. 15.21–23 direkt voraus und sollte das heute durch mehrere Einschübe weit abgerückte Strafwort über Ahab und Zidkija enger in das Gesamtkonzept der Komposition einbinden, indem der neue Vorspann die beiden hingerichteten Propheten deut13  Weiterhin malt Dtn 28,15–68 mit den Strafandrohungen für den Fall des Ungehorsams gegenüber dem mosaischen Gesetz das Exil in den erschreckendsten Farben aus (vgl. Vv. 36–37.41.63–68). Freilich ist hier auch mit exilszeitlicher Nacharbeit zu rechnen.

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licher als bisher (vgl. V. 15) als exemplarische Vertreter einer Vielzahl von Kollegen ähnlichen Zuschnitts charakterisierte. Der Einsatz mit der prophetischen Botenformel (8a) markiert den Nachtrag als zweite Gottesrede des Briefes. Der Passus ist ähnlich formelhaft wie seine Gegenstücke, indem er mahnt, den Verführern die Gefolgschaft zu verweigern (8d; vgl. 27,9a.14a), gefolgt von den Anklagen der Lügenprophetie (9a; vgl. 27,10a.14c.15b) und des mangelnden göttlichen Auftrags (9b; vgl. 27,15a). Hier setzt der Redaktor indes auch besondere Akzente. Neu ist seine beschwörende Warnung vor der Verführung (avn II‑H täuschen, betören) durch seine Antipoden (8b1, ergänzt von AlT in 8b2). Was ihm ferner bei seinen Mitgefangenen Sorge bereitet, sind nicht nur falsche Propheten (8b1c) wie in Juda (27,14a.15c; vgl. Kap. 28), sondern auch eure Wahrsager (~k,ymes.qo 8b2) und eure Träume, die ihr träumt (8de), ähnlich wie in den Nachbarstaaten (27,9a). Nach dem deuteronomischen Prophetengesetz ist die mit der Basis ~sq bezeichnete Wahrsagetechnik eine typisch ausländische, in Israel verbotene Form der Mantik (Dtn 18,10; vgl. Jer 14,14). Wenn der Bearbeiter hier zusätzliche divinatorische Sparten aufzählt, scheint er die Überzeugung von ihrer Illegitimität geteilt zu haben. Ist das richtig, sah er die betrügerischen Orakelspender unter den Deportierten zum Teil schon durch ihre unerlaubten Methoden überführt; obendrein könnte der Vorwurf der religiösen Assimilation mitschwingen. Außerdem hatte die bekämpfte Art der Wahrsagerei in seinen Augen bereits die Grenzen des Spezialistentums überschritten und war zur Epidemie ausgeufert, denn er spricht von euren Träumen, die ihr träumt (8de), obwohl die Adressierung der Gottesreden an die ganze Gola (4a) weiterhin gilt. Die wichtigste Auffälligkeit seines Einschubs in Kap. 29 ist jedoch der Umstand, dass er zur Verkündigung der falschen Mantiker im Exil schweigt, während er die gleichlautende Kernbotschaft ihrer Kollegen im Ausland und in Juda beide Male zitierte: Dient nicht dem König von Babel! (27,9c.14b). Die Leerstelle ist ein weiteres Indiz, dass der zweite Falschprophetenredaktor in der Gola arbeitete, denn dort brauchte er die Worte seiner Opponenten nicht zu wiederholen (und hielt es wohl auch für klüger, dies nicht zu tun). Ohnehin lässt die Position hinter V. 5–7 keinen Zweifel, dass jene Widersacher das Gegenprogramm zur brieflichen Prophetie Jeremias verkörperten und somit in dasselbe Horn stießen wie die anderen betrügerischen Wahrsager, wie die Kampfschrift sie zeichnet. Wenn dem Nachtrag zudem ehemals der Passus zu Ahab und Zidkija folgte (Vv. 15.21–23), verriet deren Exekution durch die Babylonier genug über ihr prophetisches Kerygma. Der zweite Falschprophetenredaktor fürchtete, dass der anhaltende antibabylonische Heilsenthusiasmus jene Überlebenschancen der Gola vernichten würde, die Jeremia aufgezeigt hatte, freilich auf theologischen Denkwegen, die weiterhin vielen Exilanten ein Gräuel waren. Deshalb war der Redaktor bemüht, durch sein Werk seinem prophetischen Leitstern neues Gehör zu verschaffen, indem er daran erinnerte, dass die antibabylonischen Heilspropheten kläglich versagt hatten, während Jeremias Worte glänzend bestätigt worden waren, was seinen Weisungen für die Gola Glaubwürdigkeit verlieh. Literatur: M. Albani, Die 70-Jahr-Dauer des babylonischen Exils (Jer 25,11 f., 29,10) und die Babylon-Inschrift Asarhaddons, in: Mitteilungen und Beiträge der Forschungsstelle Judentum an der Theologischen Fakultät Leipzig 17 (1999) 4–20. J. Applegate, Jeremiah and the Seven-

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ty Years in the Hebrew Bible. Inner-Biblical Reflections on the Prophet and his Prophecy, in: A. H. W. Curtis, Th. Römer (Hg.), The Book of Jeremiah and its Reception, 91–110. P.-M. Bogaert, La fin des jours, catastrophe, retour dexil ou nouveauté dans les éditions conservées du livre de Jéremie, in: J. Vermeylen (Hg.), Les prophètes de la Bible et la fin des temps (LD 240), Paris 2010, 73–98. S. M. Bryan, The End of Exile. The Reception of Jeremiah’s Prediction of a Seventy-Year Exile, JBL 137 (2018) 107–126. M. Leuchter, Jeremiah’s 70-Year Prophecy and the $XX/ymq bl Atbash Codes, Bib. 85 (2004) 503–522. J. Nogalski, These Seventy Years. Intertextual Observations and Postulations on Jeremiah and the Twelve, in: I. D. Wilson, D. Gersoni-Edelman (Hg.), History, Memory, Hebrew Scriptures (FS E. Ben Zvi), Winona Lake 2015, 247–258. B. Ziemer, Das 23. Jahr Nebukadnezars (Jer 52,30) und die „70 Jahre für Babel“, in: J. Kotjatko-Reeb (u. a., Hg.), Nichts Neues unter der Sonne? Zeitvorstellungen im Alten Testament (FS E.-J. Waschke; BZAW 450), Berlin 2014, 187–212.

Die prophetische Botenformel 10a eröffnet die dritte Gottesrede Vv. 10–14, die markant von den Vorstellungen des Kontextes abweicht, indem sie den zerstreuten Judäern das Ende der babylonischen Macht und die Heimführung verheißt. Hier melden sich jüngere Aktualisierungen zu Wort, die auf fortgeschrittene historische Rahmensituationen zielten und die heilsprophetische Note des Jeremiabriefs (7d) zu einer entfalteten Heilsansage erweiterten. Die alexandrinische Fassung wendet sich an die Exilanten (Vv. *10–14a), während der prämasoretische Zusatz 14b–f auf die Diaspora ausgreift. Der erste der beiden Bearbeiter (Vv. 10–14a AlT) knüpfte seine Zusagen wie 25,11–12 an die Wartezeit von siebzig Jahren (10b). Allerdings kündigte er für deren Ablauf über die Parallele hinaus den Exilanten explizit die Heimkehr an (10c), und die siebzigjährige Frist steckt hier nicht wie in Kap. 25 die Dauer der Deportation ab, sondern die Lebensspanne des babylonischen Reiches. Im Leseablauf ergänzt so die dritte Gottesrede die erste (Vv. 4–7) um die Ansage der Rückführung und präzisiert die Begrenzung der babylonischen Herrschaft, wie sie schon in 25,11–13 und 27,7.22 MT ausgesprochen worden war. Dabei vertrat namentlich der Erstautor (AlT) ein Konzept, das jener Art von Heilsweissagung ähnelt, die in der Falschprophetenkomposition sonst so scharf verurteilt wird. Freilich hob er sich mit der Zahl von siebzig Jahren klar von der älteren diskreditierten Heilsprophetie ab, die eine alsbaldige Wende versprach; Hananja soll sie ja binnen eines Jahres erwartet haben (28,3.11). Gleichwohl hat sich der konzeptionelle Graben zwischen Jeremia und seinen Kontrahenten – jeweils wie das Buch sie zeichnet – hiermit verengt: In Jeremias Augen übersteigt die Dauer des Exils noch immer bei weitem die von seinen Gegnern verkündete Frist, hat aber immerhin eine bezifferbare Größe angenommen, sodass die Heilspropheten eben doch ein klein wenig Recht bekommen haben. Die Siebzig-Jahre-Prophetie in V. 10 ist mit der expliziten Ansage der Heimkehr und den weiteren Verheißungen in V. 11–14a AlT erheblich optimistischer als 25,11– 12 AlT. Obendrein hat sie das Babelschweigen hinter sich gelassen. Folglich ist sie die jüngere Variante, die die Jahreszahl aus der Parallele bezogen hat. Die enge Übereinstimmung von 10b mit 25,12b AlT bestätigt die literarische Abhängigkeit. Zwar hat der Autor den Bezug der Fristangabe vom Exil auf die Lebensdauer des babylonischen Reiches verlagert, aber damit stellt sich erneut die Frage, mit welchen Ereignissen er Anfang und Ende des Zeitraums verband, zumal der zuversichtliche Ton und die Position in der Stratigraphie des Kapitels den Schluss nahelegen, dass der Passus die 181

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Heimkehrverheißung bereits ex eventu verkündet. Zudem soll die Rückführung an diesen Ort erfolgen (10c), ein Hinweis, dass der Verfasser im Gegensatz zu den Schöpfern der älteren Schichten des Kapitels an einem judäischen Standort schrieb. Wann mochte er den Beginn des babylonischen Reiches angesetzt haben? Die Neubabylonier errangen die Herrschaft über den Vorderen Orient nicht auf einen Schlag, sondern lösten das assyrische Imperium schrittweise ab, bis dieses in der Sicht moderner Historiker mit der Einnahme Ninives 612 endgültig erlosch. Von da an verstrichen nach der für die Antike typischen inklusiven Zählweise – also vor der Entdeckung der Null – 74 Jahre, bis das neubabylonische Reich mit dem Einmarsch des Kyrus in Babylon 539 den Persern erlag. Berücksichtigt man bloß die babylonische Kontrolle über die Levante, die mit Nebukadnezzars Sieg bei Karkemisch 605 anbrach, kommt man auf 67 Jahre. Man wird daher nur bilanzieren können: Der Autor der Vv. 10–14a respektierte seine prophetische Vorlage 25,11–12, indem er daraus die Frist von 70 Jahren entnahm. Angesichts des faktischen Geschichtsverlaufs wollte er die Zahl aber nicht mehr auf die Dauer des Exils beziehen, sondern verschob sie auf die Lebensspanne des babylonischen Reichs, die dem autoritativ vorgegebenen Wert für seine Bedürfnisse mit hinreichender Genauigkeit entsprach. So begründete er eine Tradition des kreativen Umgangs mit der präzisen Jahresangabe, die die Prämisse applizierte, dass die Bedeutung des Gotteswortes nicht am exakten numerischen Einklang von Ansage und Erfüllung hing (s. zu 25,11–12). Hatte 25,12b für den Ablauf der Siebzigjahresfrist angekündigt, Jhwh werde jene Nation (AlT) bzw. den König von Babel … und das Land der Chaldäer (MT) heimsuchen, münzt 29,10b diese Prophezeiung auf die Exilanten um, ermöglicht durch das Verb dqp, das auf der Basis seines semantischen Kerns, der im Bereich von Aufmerksamkeit zuwenden zu suchen ist, ein breites Spektrum von konkreten Bedeutungen annehmen kann, die sowohl positive als auch negative Konnotationen tragen. In 25,12 meint das Verb die kommende Bestrafung der Babylonier. Hier dagegen verheißt es die rettende Zuwendung, die sich manifestieren wird in der Aufrichtung (~wq‑H), d. h. der Erfüllung der Zusage (yrIb'D> mein Wort; Kon 117) der als Tat Jhwhs stilisierten Heimführung (bwv‑H 10c). Während also die Siebzigjahresfrist in 25,11–12 den Moment bezeichnet, wo die Verwüstung der Besiegten durch die Verwüstung des Siegers abgelöst wird, tritt hier nach siebzig Jahren an die Stelle der Drohung der Trost (*Wanke). Die Rückführung gilt laut MT trotz der langen Wartezeit euch (10c), also den Empfängern des Jeremiabriefes, was ein kollektives Verständnis von Heil und Unheil voraussetzt: Ein Geschick betrifft den Einzelnen als Mitglied einer Gruppe auch über Generationenschranken hinweg. Deshalb wirkt die Befreiung der Nachkommen auf die Vorfahren zurück. Umgekehrt hat Jhwh laut der Dekalogpräambel Ex 20,2  || Dtn 5,6 mit den Vorvätern auch die je neuen Adressaten der Zehn Gebote aus dem Sklavenhaus Ägypten befreit (vgl. ferner z. B. Dtn 29,13–14). In AlT hat man der historischen Genauigkeit den Vorzug gegeben und euch in euer Volk verwandelt. Wenn Jhwh in 10c ankündigt, er werde sein Wort (AlT) erfüllen, führt er die Heimführung der Exilanten auf eine Zusage zurück, die als bereits ergangen gilt und hiermit nur noch ein Datum erhält. Der vormasoretische Bestand der dritten Gottesrede 182

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rechnet demnach mit Adressaten, die die Überzeugung verinnerlicht haben, dass die Heimkehr aus dem Exil schon frühzeitig prophetisch verheißen worden sei. Darauf aufbauend, konnte der Bearbeiter ergänzen, Jeremia habe in seinem Brief an die Gola sogar den Zeitpunkt vorhergesagt. In MT wurde das Wort Jhwhs als sein gutes Wort präzisiert. Das Exilsende wird nun als Ergebnis eines grundlegenden Sinneswandels auf Sei- 11 ten Jhwhs gedeutet: Zu jenem Moment in der Zukunft werde er seine (Pläne) zum Unheil durch Pläne des Heils ersetzen. Hier wird das Verständnis der Exilskatastrophe als kontrollierte Inszenierung Jhwhs konsequent fortgeschrieben: Da er das Unheil willentlich herbeigeführt hat, besitzt er auch die Macht, das Schicksal der Verschleppten wieder in völlig neue Bahnen zu lenken. Die universale Geschichtssouveränität Gottes bedingt, dass selbst sein Unheilswirken den Keim der Heilshoffnung in sich trägt, denn der, der das Heil entziehen kann, vermag es auch wieder zu gewähren. Die prämasoretisch beigefügte Versicherung Jhwhs, dass er seine eigenen Pläne kenne (11a1), soll wohl betonen, wie lebhaft ihm seine Absichten vor Augen stehen, sodass ihre Realisierung nicht ausbleiben kann. Außerdem hat man die Gaben Jhwhs für die Exilanten als Nachkommenschaft und Hoffnung konkretisiert, womöglich mit Rücksicht auf die Tatsache, dass viele Judäer den Verbleib in der Fremde der Heimkehr vorzogen. Was immer das Fernziel der Diaspora sein mochte (s. zu 14b–f), ihr Überleben hing von Fortpflanzung (V. 6!) und Selbstbehauptungswillen ab, die hier als Gottesgeschenk gedeutet werden. Letztlich war der Fortbestand kein kalkulierbarer Effekt geschickter Anpassungsstrategien, sondern eine Gabe Jhwhs.

Literatur: G. Vanoni, Anspielungen und Zitate innerhalb der hebräischen Bibel. Am Beispiel 12–14 von Dtn 4,29; Dtn 30,3 und Jer 29,13–14, in: W. Groß (Hg.), Jeremia und die „deuteronomistische Bewegung“, 383–395. Willi-Plein, ŠWB ŠBWT.

Der vormasoretische Text fährt fort mit einem doppelten Satzpaar, jeweils gebildet aus einem Imperativ, der einen Aufruf an die Exilierten richtet, gefolgt von einer w˙=qatal-Formation, die ankündigt, wie Jhwh die Befolgung seines Gebots honorieren wird: Betet zu mir, und ich werde euch erhören; sucht mich, und ihr werdet (mich) finden (12cd.13ab AlT). Das Suchen (vqb‑D) Jhwhs bezeichnet buchstäblich das Aufsuchen eines Heiligtums (z. B. Ex 33,7; Hos 5,6; Sach 8,21–22), ist hier aber wie zumeist spiritualisiert und meint die Befolgung seines Willens (vgl. Jes 51,1; Zef 2,3), häufig speziell im Sinne der Bekehrung (Jer 50,4; Hos 3,5; 5,15; 7,10 u. ö.), die Jhwh, wenn aufrichtig, mit seiner Huld honorieren wird, gefasst in das Bild, dass er sich finden lasse (Dtn 4,29). Daran schließt sich in beiden Textformen eine Konditionalphrase an, die das Bedingungsgefüge von menschlichem Handeln und göttlicher Antwort erläutert: Wenn ihr mit eurem ganzen Herzen nach mir fragt, werde ich mich von euch finden lassen (AlT: sehen lassen, d. h. euch erscheinen; 13c.14a). Damit werden die abschließenden Appelle aus Jeremias Brief (V. 7) variierend weitergesponnen und neu akzentuiert: Der Aspekt der Fürbitte für die babylonischen Herren entfällt, da nicht mehr aktuell, und die gewisse Zusage der Erhörung tritt hinzu. So wird Jhwhs Erreichbarkeit in der Fremde, wie schon in V. 7 vorausgesetzt, ausdrücklich unterstrichen. Damit nimmt Jhwh ältere Erklärungen seiner willentlichen Taubheit gegenüber Gebeten Jeremias (7,16) und Flehrufen des Volkes (11,14; 14,12) für die 183

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Exilanten explizit zurück. Motiviert durch die umfassende Kehrtwende Jhwhs zu Plänen des Heils (V. 11), wird also die Zusage der Heimführung (10c) noch überboten durch das Versprechen der Reparatur des Gottesverhältnisses, sichtbar im garantierten Erfolg der aufrichtigen (13c) Suchbewegungen der Verschleppten auf Jhwh hin. So erweist sich die Heimkehr als Krönung eines viel tiefer reichenden Prozesses, nämlich der Heilung des Gottesbezugs. Prämasoretisch hat man diese Zusicherungen weiter ausgebaut: Die Erhörungszusage für das Rufen (arq 12a) des Volkes setzt die gegenteilige Feststellung aus 11,14c nunmehr nicht nur der Sache nach, sondern auch explizit per terminologischem Rückverweis außer Kraft. Im selben Arbeitsgang wurden die Imperative in 12c und 13a – wohl auch unter dem Einfluss von Dtn 4,2914 – in w˙=qatal-Formationen verwandelt, die zwar als Aufforderungen lesbar sind, deren Hauptfunktion jedoch die Ankündigung ist, sodass sich im Ergebnis selbst die Forderungen in Verheißungen gewandelt haben: Allein schon der Versuch, mit Jhwh in Kontakt zu treten, ist eine Heilsgabe, die hiermit den Exilanten fest versprochen wird. Ferner hat der detaillierte Einschub 14b–f die in 10c vorausgesetzte Zusage der Heimkehr aus der Gola verallgemeinert zur Verheißung der Sammlung der Diaspora, indem die Gottesstimme nun sämtliche Juden in allen Nationen und an allen Orten, wohin ich euch versprengt habe, anspricht (14cd). Der Nachtrag setzt vor dem Hintergrund einer nochmals fortgeschrittenen historischen Situation eine ebenfalls von Jhwh bewirkte (14df) weltweite Zerstreuung voraus. Das Ziel des in V. 11 MT versprochenen Überlebens in der Fremde bleibt also die Heimkehr nach Juda, die durch die Verbindung tWbv. bwv das Geschick wenden (14b) als eine umfassende restitutio in integrum, d. h. als Wiederherstellung des gottgewollten Ursprungs gewertet wird (vgl. Willi-Plein). Als der späte Ergänzer diese Zusage in den Jeremiabrief integrierte, ging er von demselben kollektiven Heilsverständnis aus, das auch 10c zugrunde liegt (s. z. St.). – 14b–f kollidiert mit dem großen masoretischen Überschuss Vv. 16–20, der wie Kap. 24 die (nicht-babylonische) Diaspora auf jene Judäer zurückführt, die 597 der Deportation der Jojachin-Gola entgingen und laut diesen Texten für den Untergang in der Zerstreuung bestimmt sind (s. z. St.). Dieses zwiespältige Urteil über die Diaspora wohnt Jer 29 unaufhebbar inne. Die dritte Gottesrede des Jeremiabriefes prophezeit den Verbannten den Zeitpunkt ihrer Rückführung in einer Weise, die wahrscheinlich schon auf die Bewahrheitung in Form der Möglichkeit zur Übersiedlung zurückschaut. Wenn zudem Juda als dieser Ort (10c) firmiert, lässt der Verfasser durchblicken, dass er im Unterschied zu den Falschprophetenredaktoren mittlerweile in der Heimat tätig war. Von einem postexilischen judäischen Standort aus porträtierte er die Exilanten als Träger einer frühen Rückkehrverheißung, die noch Jeremia präzisiert und um die Zusage einer überaus verlässlichen Gottesnähe bereichert habe. Damit verankerte der Autor die Ankunft der Zuwanderer in einer alten Willenserklärung Jhwhs und bescheinigte 14  Die enge Übereinstimmung mit Dtn 4,29 kam also erst auf prämasoretischer Ebene zustande. Daher besteht auch keine Notwendigkeit, die Vv. 12–14a später als die Dtn-Parallele zu datieren, wie besonders gründlich, aber auf der Basis von MT vertreten von Vanoni 388 f.

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ihnen außerordentliche Heilsprivilegien. Folglich ging es ihm zwar um die Zukunft der Exilanten, aber nicht in Mesopotamien, sondern bereits in der Heimat, wo sie allem Anschein nach eine unterscheidbare Gruppe bildeten (vgl. Sach 6,10), die indes noch in wichtigen Belangen um den Status ringen musste, der ihr in den Augen des Bearbeiters zustand. Offenbar nutzte der Autor die Anrede an die Gola im Jeremiabrief dazu, um mit Berufung auf spezielle Garantien Jhwhs für die Übersiedler einen Platz im gesellschaftlichen Gefüge des frühnachexilischen Juda einzufordern, der ihren Wünschen entsprach. Eine prämasoretische Hand hat diese Aussagen auf die Diaspora umgelenkt und dadurch in die ferne Zukunft verlagert. Auf Buchebene fungiert die dritte Gottesrede als Vorbotin der erweiterten Trostschrift 30–33, indem sie deren Verheißungen der Sammlung und Heimführung der Gola und der Diaspora in knapper Form vorwegnimmt. Der Konnex ist in MT besonders stark ausgeprägt durch die Parallele 10c MT || 33,14b MT (s. z. St.). 15b zitiert die Adressaten mit einem Hinweis auf prophetische Jhwh-Offenbarung 15 in ihren eigenen Reihen. In dem originalen Jeremiabrief fungierte der Satz als Einwand gegen die Vv. 5–7. Wie AlT bezeugt (s. Textgenese), bestand die originale Gottesantwort aus den Vv. 21–23*, der Strafansage gegen die exilischen Propheten Ahab und Zidkija, die das Kontrastprogramm zu den Vv. 5–7 verkörperten (s. z. St.). Ursprünglich ließ also der Jeremiabrief in V. 15 seine Adressaten mit einer vorweggenommenen Reaktion auf V. 5–7 zu Wort kommen, in der sie die dort ausgesprochenen theologischen Zumutungen mit Verweis auf prophetische Gegenstimmen abwehrten. Der Passus begnügt sich damit, die Verschleppten mit der bloßen Behauptung der Existenz alternativer, echter Offenbarung zu zitieren, ohne deren Inhalt preiszugeben – ebenso wenig wie die ehemalige Fortsetzung in V. 21–23*. Wie in V. 8–9 ist die Leerstelle der Entstehungssituation geschuldet: Der Zusammenhang war für ein Publikum abgefasst, das bei diesem Telegrammstil sofort im Bilde war. Das Zitat beschränkt sich auf jenen Punkt, auf den es Jeremia im gegebenen Kontext ankam: Die Empfänger des Briefes gaben sich von der Echtheit der Propheten in ihrer Mitte zutiefst überzeugt. Auf der Ebene des vollendeten Alten Testaments bekennen sie mit 15b sogar ihren Glauben, die in Dtn 18,15.18 verheißene Sukzession mosaischer Propheten habe sich durch Ahab und Zidkija in ihren Kreisen fortgesetzt. Der masoretische Überhang Vv. 16–20 ist eine abgewandelte Fassung des Droh- 16–18 worts 24,8–10, das im Rahmen der Vision von den beiden Feigenkörben allen Judäern, die nicht schon im Zuge der babylonischen Geiselnahmen von 597 zusammen mit König Jojachin ins Exil gezogen waren, eine radikale Zerstreuung ankündigt, die in ihren Untergang münden wird. Diese Unheilsansage zielt allem Anschein nach auf die Diaspora – verstanden als eine von der mesopotamischen Gola unterschiedene Gruppe – und läuft zugleich auf die implizite Leugnung der zweiten, mit König Zidkija verbundenen Deportation hinaus. Die Anleihen des Überschusses bei seinem Vorbild beschränken sich auf die Vv. 16–18, während die verbleibenden Vv. 19–20 eigene Wege beschreiten. Einige Differenzen resultieren aus den unterschiedlichen Sprechrichtungen: Die Gottesreden in 24 ergehen lediglich an Jeremia ohne Auftrag zur Verkündigung, die vielmehr allein von der Perikope im Buch vollzogen wird, wäh185

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rend die abgeleitete Version in 29 sich wie ihr Kontext an die Jojachin-Gola wendet, die in 24 die Rolle der Heilsgruppe einnimmt. 16 V. 16 setzt ein mit der Botenformel, die zusammen mit V. 15 den Beginn der vierten Gottesrede markiert und eine so umfangreiche Adressatenangabe trägt, dass 17a mit einer weiteren Botenformel die fiktive Kommunikationssituation nochmals in Erinnerung ruft. Die Adressierung zählt im Unterschied zu 24,8 nur noch den Herrscher und die Nichtdeportierten auf, letztere allerdings besonders ausführlich umschrieben, während die königliche Beamtenschaft und die Ägyptendiaspora entfallen. Übergangen wird auch der Name des Königs Zidkija, während seine Davidsnachfolge herausgestrichen wird, sodass sich der Akzent vom Amtsinhaber auf das Amt verlagert. Ferner wird im Falle des Volkes deutlicher die entscheidende Differenz gegenüber den innertextlichen Adressaten benannt: die unterbliebene Deportation (16b). Der prämasoretische Ergänzer war offenbar bestrebt, die Unheilsgruppe einfacher und übersichtlicher zu charakterisieren, als seine Vorlage dies tat. Wenn er die anschließend der Ausrottung überantworteten heimischen Judäer gegenüber den Exilanten ausdrücklich als eure Brüder (16a) bezeichnet und somit nicht die Kluft, sondern das Band zwischen den beiden Gruppen hervorhebt, lässt er erstmals seine wahrscheinliche Absicht durchblicken: Jhwh hält den Verbannten den kommenden Untergang ihrer in Juda verbliebenen Brüder als warnendes Beispiel vor Augen. Mit welchem Ziel, zeigen die folgenden Verse. 17 Die vierte Gottesrede hebt an mit einer formelhaften Anleihe bei 24,10a, in der Jhwh den Nichtexilierten prophezeit, er werde die für desaströse kriegerische Niederlagen typische Plagentrias von Schwert, Hunger und Seuche über sie entfesseln (17b; vgl. Kon 49 f.), um dann mit der Ankündigung aus 24,8 fortzufahren, er werde seine Opfer den verdorbenen Feigen gleichmachen, die man nicht essen kann vor Schlechtigkeit (17cd). Dass die verdorbenen Feigen ohne Erklärung determiniert eingeführt werden, erweist die Passage als Zitat, das mit Rezipienten rechnet, denen Kap. 24 vertraut ist. Dabei greift der Bearbeiter aus der Vorlage ein Bild auf, dem die Konnotation irreversibler Zerstörung anhaftet – eine zerfallene Hütte kann man wiederaufbauen (vgl. Am 9,11), aber verdorbene Früchte lassen sich nicht mehr genießbar machen. Folglich übernimmt der Ergänzer das Urteil seiner Quelle über die Daheimgebliebenen in voller Härte: Wer nicht schon zuvor ins Exil gezogen ist, geht der endgültigen Auslöschung entgegen. 18 V. 18 bekräftigt diese Aussage nochmals mit der Plagentrias (18a), hier in einer singulären Spielart mit dem Verb verfolgen (@dr). Aus 24,9 variierend entlehnt ist die sog. Katastrophenformel (18b; s. zu 25,9; Kon 158 f.), die Unheil beschreibt als die Verwandlung des Opfers in ein Musterbeispiel der Verheerung (Ödnis, Ruine), das alle, die davon erfahren, in numinosen Schrecken versetzt. Im gegebenen Fall soll das Schicksal der Judäer bei allen Königreichen der Erde bzw. bei allen Nationen, wohin ich sie versprengt haben werde (vgl. Kon 88 f.) helles Entsetzen auslösen. Infolgedessen werden sie weltweit zur Verwünschung und zur Schmähung dienen; d. h. die Menschen werden dieses Beispiel in Fluchformeln anführen, um die dämonische Macht des gigantischen Verderbens auf die Fluchopfer zu lenken (s. zu V. 22). Umgekehrt wird man, sobald man davon vernimmt, in apotropäisches Zischen oder Pfeifen 186

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ausbrechen, magische Abwehrgesten, mit denen man sich gegen das mythische Gewaltpotenzial zu feien suchte, das man von Katastrophen als Machterweisen lebensfeindlicher Kräfte ausgehen sah. Wie der Passus ferner klarstellt, wird das Unheil die Judäer in der von Jhwh selbst bewirkten Zerstreuung einholen, die somit wie in 24 als gottgewollter Weg in den Untergang vorgestellt wird. Nun geht der prämasoretische Revisor über seine Vorlage hinaus, um ein Element 19 zu ergänzen, das er dort vermisste, nämlich eine Motivation für das schreckliche Ende der 597 in der Heimat belassenen Judäer, da Kap. 24 den Heilsstatus einfach unerklärt an den Aufenthaltsort bindet, indem es Rettung für die Verbannten in Babylonien verheißt, während die Nichtexilierten in Juda dem Untergang durch Zerstreuung verfallen sind. Die fehlende Rechtfertigung reicht der Bearbeiter nach mit der klischierten Anklage der mangelnden Hörbereitschaft (19a; Kon 137 f.) gegenüber dem Gotteswillen, der jederzeit gegenwärtig ist durch die dauernde Prophetensendung,15 wie immer mittels der Unermüdlichkeitsformel beschrieben (s. zu 25,3). 19c dehnt zwar die Rüge des Ungehorsams auf die Exilanten aus, doch wohl aufgrund einer späten mechanischen Retusche. Die meisten griechischen Handschriften – hier: des hexaplarischen und des lukianischen Typs – sowie die Peschitta bleiben wie erwartet bei der 3. Person Plural (TK). Damit endet die vierte Gottesrede des masoretischen Textaufbaus. Anschließend lenkt V. 20 am Ende des masoretischen Überhangs zur Strafansage an die exilischen Falschpropheten Ahab und Zidkija in V. 21–23 zurück. Aus sogleich zu erläuternden Gründen schweigen die Vv. 21–23 über die Botschaft der prophetischen Gegenspieler Jeremias, auf die sich die Verschleppten laut V. 15 beriefen. Die Vorschaltung von V. 19 schloss diese Lücke in gewissem Maße, indem sie den Eindruck förderte, Ahab und Zidkija hätten durch ihre Orakel vor allem dem Verlangen Jhwhs nach Gefolgschaft entgegengewirkt, wie es laut V. 19 durch die wahren Propheten vermittelt wurde. Folglich erzeugt der prämasoretische Zusatz Vv. 16–20 eine neue Logik, wo den Exilanten das abschreckende Beispiel ihrer Brüder (16a) vorgehalten wird, die trotzig ihre eigene Ausrottung provozierten. Dabei wandelt sich das Beispiel Ahabs und Zidkijas zum Beleg, dass die Verbannten ähnlichen Versuchungen des Ungehorsams ausgesetzt waren wie die Daheimgebliebenen, einer Anfechtung, der Jhwh durch den Brief Jeremias entgegentrat. Der Einschub dürfte demnach einen Versuch zur Aktualisierung repräsentieren: Der prämasoretische Bearbeiter stilisierte Ahab und Zidkija um zu Widersachern von Jhwhs Gehorsamsforderung, die in seiner eigenen Welt natürlich weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit besaß. So erreichte er, dass die beiden Falschpropheten nicht nur dem inner-, sondern auch dem außertextlichen Publikum zur überzeitlichen Warnung dienten. Mit der Anleihe bei 24 übernahm der Ergänzer auch das Konzept seiner Quelle, dass jene Judäer, die bei der Deportation Jojachins im Lande verblieben waren, restlos der Katastrophe von 587 durch Tod und Zerstreuung zum Opfer fielen, sodass es weder weitere Umsiedlungsschübe nach Mesopotamien noch eine heilvolle Zukunft für die Diaspora geben konnte. Er radikalisierte so das Porträt des Exils als Ort möglichen Heilsgewinns in V. 5–7, indem er die Verbannung der Jojachin-Gola nach  7,25; 25,4; 26,5; 35,15 MT; 44,4.

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dem Vorbild von 24 zur einzigen Rettung vor dem Untergang erklärte und folglich die Nachkommen dieser Gruppe zur einzigen Heilslinie Judas erhob. Damit widersprechen die Vv. 16–20 der prämasoretischen Verheißung der Sammlung der weltweit versprengten Juden in 14b–f und sind deshalb kaum im selben Zug entstanden. Das Geschichtsbild von 24 und 29,16–19 impliziert weiterhin, dass alle später in ihrer Heimat lebenden Judäer zwangsläufig zur Nachkommenschaft der Jojachin-Gola zählen mussten. Es reiht sich damit ein in ein Spektrum geschichtstheologischer Entwürfe, die die Deportationen von 587 abweichend von dem Bericht in 2 Kön 25 (|| Jer 52,4–34 MT) charakterisierten: Laut 2 Chr 36,20–21 wurde Juda durch die Verschleppungen nach dem Fall Jerusalems total entvölkert (vgl. Lev 26,33–35.43), und das Buch Esra nennt die legitimen Bewohner der persischen Provinz Jehud hl'AGh; ynEB. Söhne der Gola (4,1; 6,19–20; 8,35; 10,7.16) bzw. hl'AGh; lh;q. Versammlung der Gola(heimkehrer 10,8). Darin tritt ein unter Judäern in der Spätzeit des AT verbreitetes Selbstverständnis zutage, ausnahmslos von Exilsremigranten abzustammen. Diese Sicht, zugespitzt auf die Jojachin-Gola, hat der prämasoretische Schöpfer von V. 16– 20 ebenfalls mit 24 geteilt, und sie kehrt in der Logik der masoretischen Überschüsse in 40,12ab und 43,5b1c wieder (s. z. St.). Damit zu vergleichen ist die alexandrinische Fassung des historischen Anhangs 52, die sich überzeugt gibt, 587 sei einzig Zidkija nach Babylon verbracht worden (s. dort). Diese Vielstimmigkeit ist dem Kap. 29, dem Jeremiabuch, dem AT und erst recht der gesamten Bibel nicht zu nehmen. So schwierig die hermeneutischen Probleme auch sind, die der interne Pluralismus der Heiligen Schrift aufgibt, ist er doch zugleich einer der Gründe, warum das Buch seine Aktualität bewahrt hat und bewahrt, weil er ein differenziertes Spektrum von Sinnangeboten ohne Absolutheitsanspruch darbietet, das die Möglichkeit eröffnet, jeweils flexibel Anregungen zu situationsgerechten Problemlösungen in der Vielfalt des konkreten Lebens zu finden. 20 Die lange prämasoretische Fortschreibung Vv. 16–20 erweiterte die alte Gottesantwort Vv. 21–23 auf die Einrede der Exilanten V. 15 nach oben hin. Am Ende des Einschubs stellt nun ein Aufmerksamkeitsruf (20a) samt neuerlicher Betonung der göttlichen Urheberschaft des Exils (20b) den Anschluss an die frühere Fortsetzung wieder her. Die Deportation wird in 29 wiederholt als Akt Jhwhs beschrieben, dann allerdings mit dem gängigen Verb hlg‑H in die Gefangenschaft verschleppen, deportieren, verbannen (4b.7b; MT 14f). 20b hingegen entlehnt dafür aus 24,5 das sehr viel mildere Verb xlv‑D fortschicken, um auch hierdurch den Charakter der Wegführung als Heilstat zu unterstreichen. – Die aufwendige Überleitung bedingt, dass der Vers im Endtext den fünften Abschnitt Vv. 20–23 mit einer weiteren Gottesrede eröffnet, obwohl der masoretische Überhang wahrscheinlich als Präzisierung des älteren Bestandes gedacht war. 21–23 Der Hinweis der Verbannten auf einen eigenen prophetischen Zugang zum Gotteswillen (V. 15) wird nun mit dem Gerichtswort über die exilischen Falschpropheten Ahab und Zidkija unterlaufen: Die beiden sollten exemplarisch illustrieren, wie es um die Vertrauenswürdigkeit von derlei Offenbarungsansprüchen tatsächlich stand. Mehrere Merkmale deuten darauf hin, dass das Orakel zwar früh, aber gleichwohl ex eventu formuliert wurde. Die beiden Wahrsager sind die einzigen Figuren im Je188

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remiabuch, deren Filiationen nur von der masoretischen Ausgabe bezeugt werden (21a). Das ist bei der Häufigkeit solcher Herkunftsangaben im Buch eine erklärungsbedürftige Ausnahme, denn sonst hat die prämasoretische Revision bloß Vatersnamen vermehrt, die sie bereits in ihrer Vorlage antraf. Der Passus entstand offenbar nahe an den Ereignissen, als der Bekanntheitsgrad der beiden Männer noch Filiationen erübrigte. Selbst ihre Identifikation als Propheten ist in AlT nur schwach ausgeprägt, denn dort ergibt sie sich zunächst allein aus der Kombination mit dem Vorspann V. 15, bevor nach erheblichem Verzug die Rüge des angemaßten mantischen Anspruchs in 23cd uneingeschränkte Klarheit schafft – und dieser Vorwurf ist sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit redaktionell nachgetragen (s. Textgenese). Solche Knappheit setzt informierte Leser voraus, während erwartungsgemäß ein prämasoretischer Bearbeiter aus späterer Warte Bedarf an näheren Details erkannte, zumal die beiden auch noch den Namen eines israelitischen Königs (1 Kön 16–22) sowie jenen des regierenden Davididen trugen. Offenbleiben muss, woher der Ergänzer noch Jahrhunderte später die Filiationen kennen wollte. So wurde vorgeschlagen, der Name Kolaja (hy"l'Aq Stimme = huldvolle Verlautbarung Jhwhs) sei einfach über Klangähnlichkeit aus dem folgenden Unheilswort herausgesponnen, nämlich aus hl'l'q. Fluch (22a) bzw. hlq rösten (22d). Das ist jedoch kaum plausibel, da bei dem Vater Zidkijas mit dem gängigen Namen Maaseja ([W]hy"fe[]m; Werk Jhwhs16) keine analoge Herleitung erkennbar ist. Das Gerichtswort enthält die gattungstypischen Bausteine, allerdings in irregulärer 21–22 Reihenfolge. Die prophetische Botenformel steht am Anfang (21a), wo sie wie üblich die Strafansage (21b–22d) einleitet, die hier jedoch in Verkehrung der normalen Struktur dem Schuldaufweis (V. 23) vorangeht. Ferner spricht das Gerichtswort nicht seine eigentlichen Adressaten an, sondern es redet zu den Empfängern des Schreibens über sie (21bc.22a.23a–d), ist also dem Briefrahmen angepasst. Es flexibilisiert somit in Aufbau und Sprechrichtung die Gattungsregeln und hat demnach zumindest einen Prozess der Literarisierung durchlaufen, wenn es nicht von vornherein eine literarische Bildung darstellt. Wenn zudem kontingente Details der Züchtigung der beiden Delinquenten durch die babylonischen Behörden mit solcher Selbstgewissheit vorhergesagt werden (öffentliche Hinrichtung 21c, Verbrennung 22d), regt sich die Frage, ob die Exekution nicht vielmehr bei Abfassung bereits vollstreckt war. Ist das richtig, hatten die Babylonier die beiden Propheten öffentlich einer besonders brutalen Terrorstrafe unterzogen, indem sie die beiden im Feuer rösteten (22d), also auf kleiner Flamme langsam und qualvoll zu Tode schmoren ließen. Die Folter war sichtlich darauf kalkuliert, ein abschreckendes Exempel zu statuieren, was in den Augen der Babylonier entsprechend schwerwiegende Gründe gehabt haben muss; dazu sogleich mehr. Der Vorfall demonstriert auf seine Weise die Macht Jhwhs im Ausland und über das Schicksal der Exilanten, denn er selbst ist es, der die beiden Falschpropheten dem König von Babel ausgeliefert hat (21b). V. 22 bietet eine plastische Illustration, was man sich darunter vorzustellen hat, wenn Menschen zu einem Fluch (hl'l'q.) bzw. einer Verwünschung (hl'a') werden, wie vorausgesetzt in einschlägigen Fällen der  Vgl. V. 25; 21,1; 35,4; 37,3; 42,1 AlTu. ö.

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Katastrophenformel (wie 18b; s. z. St.): Danach sollen Ahab und Zidkija unter den Exilanten notorischen Status erlangen als Paradebeispiele eines grauenhaften Endes, das man in Fluchsprüchen zitiert, um auf die Zielscheiben der Verwünschungen ein gleichartiges Schicksal herabzurufen (vgl. Num 5,21; analog für den Segen Gen 48,20). Wie weiter unten zu begründen ist, wird hier im Unterschied zur Hinrichtung damit zu rechnen sein, dass der Vers keine bereits eingetretenen Verhältnisse spiegelt, sondern sie erst herstellen soll. 23 Wenn die Babylonier an den beiden Propheten ein Exempel statuierten, dann gewiss nicht aus den Gründen, mit denen der Schuldaufweis V. 23 seine Serie an Vorwürfen eröffnet. An erster Stelle steht Schändliches in Israel (laer"f.yIB. hl'b'n> 23a), eine Formel, die gravierende Vergehen vornehmlich sexueller Natur als Anschlag auf die Identität Israels verurteilt: Was ohnehin schon schweres Unrecht darstellt, ist angesichts der für Israel gültigen Maßstäbe umso entschiedener zu verdammen. Drei der vier übrigen Belege betreffen sexuelles Fehlverhalten: Vergewaltigung (Gen 34,7; Ri 20,6) und vorehelicher Verkehr einer Frau (Dtn 22,21); ein weiteres Beispiel brandmarkt Verstöße gegen Bannvorschriften (Jos 7,15). Der Gebrauch in 23a bestätigt die primär sexuelle Tönung des Ausdrucks, wenn er dem Vorwurf des Ehebruchs vorausgeht (23b), der somit die konkreten Tatbestände hinter dem prinzipiellen Urteil offenlegt. Obendrein wird den Beschuldigten besonders sozialschädliches Verhalten bescheinigt, insofern sie ihre Vergehen mit den Frauen ihrer Mitbürger (~h,y[erE yven>-ta,) verübt hätten. Diese Präzisierung muss spezielle Gründe haben, da sie dem Wortsinn nach eine Selbstverständlichkeit ausspricht. Alttestamentlichen Rechtsvorstellungen zufolge waren nur Frauen ihren Männern zur sexuellen Treue verpflichtet, nicht aber umgekehrt; deswegen konnten Männer nur fremde Ehen brechen, indem sie mit Gattinnen anderer Männer verkehrten. Um den Tatbestand des Ehebruchs zu erfüllen, war ein Mann also auf fremde Ehefrauen angewiesen, die ein Exilant nach Lage der Dinge primär, wenn nicht ausschließlich innerhalb der judäischen Gola finden konnte. Wer waren dort die Mitbürger Ahabs und Zidkijas? Weil die beiden keinem spezifischen Stand zugerechnet werden, aber Prominente gewesen sein müssen, sind in ihren Mitbürgern vor allem die führenden Figuren der Gola zu erkennen – also jene Kreise, an die das Schreiben gerichtet war. Demzufolge gab die redundante Notiz den Adressaten einen verklausulierten Wink, dass sie selber den sexuellen Grenzverletzungen der beiden Delinquenten zum Opfer gefallen waren. So gab Jeremia den Exilanten zu verstehen, dass sie längst seitens der Falschpropheten schweren Schaden erlitten hatten. So sublim der Hinweis – wenn er Glauben fand, war er doch geeignet, bei den Empfängern des Briefes heftige Emotionen gegen Ahab und Zidkija zu entfachen. Doch wie groß auch immer der Hass, den ihnen solche Taten in ihrem Umfeld eintragen mussten, es bleibt schwer vorstellbar, dass sich die Babylonier derart mit ostentativen Strafen in private Händel ihrer Geiseln eingemischt hätten. Plausiblere Motive für massives Durchgreifen der Behörden lassen sich dagegen hinter der Falschprophetie erschließen, die Ahab und Zidkija in 23cd angelastet wird. Zwar wird deren Inhalt ebenso wenig offengelegt wie in V. 8–9 und 15b, doch werden die Babylonier nur dann Bedarf an Abschreckungsmaßnahmen gesehen haben, wenn es sich um politische Heilsprophetie aus judäischer Warte nach dem Muster Hananjas in 28,2–4.11 190

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29,23

handelte, die den baldigen Untergang des mesopotamischen Großreiches implizierte oder gar unverblümt ankündigte, sodass die Babylonier darin eine Gefahr für ihre imperialen Interessen erkennen mussten. Auffällig ist freilich die doppelte Begründung der Todesstrafe mit Vergehen, die untereinander keinen Zusammenhang aufweisen (23ab ↔ cd), samt der abschließenden Betonung der Zeugenschaft Jhwhs (23e), die zwar ausgezeichnet zur Anklage des Ehebruchs passt angesichts der Heimlichkeit, die diesem Delikt normalerweise anhaftet, nicht aber zum Vorwurf der Falschprophetie, die als Prophetie notwendig auf Kommunikation hin angelegt ist. Um den klandestinen Ehebruch zwecks Ahndung an die Öffentlichkeit zu bringen, bedarf es Jhwhs als Zeugen, der auch das Verborgene sieht; nicht dagegen für die Falschprophetie, von der die Verbannten selbst erklären, dass sie mit ihr vertraut seien (15b). Außerdem bildet der Vorwurf 23cd, die beiden Straftäter hätten in meinem Namen ein Wort geredet, das ich ihnen nicht befohlen habe, eine enge Parallele zum deuteronomischen Prophetengesetz, das damit ein todeswürdiges Verbrechen bezeichnet (Dtn 18,20).17 Demnach redet in 23cd wohl wieder der zweite Falschprophetenredaktor, der sein Anliegen deutlicher zur Sprache bringen wollte, wo seine Vorlage angesichts der Umstände ein taktisches Ausweichmanöver vollzog. Die Passagen, die sich dem originalen Jeremiabrief zuordnen lassen, beschränken sich auf die Vv. 5–7.15.21–23abe. Jeremia bekämpfte darin einen prophetisch flankierten Heilsenthusiasmus im Exil, der den baldigen Zusammenbruch des babylonischen Reiches und die Heimkehr der Verschleppten erwartete. Dabei gab sich der Prophet durchaus der theologischen Zumutungen bewusst, die er mit seinen Aufrufen zur langfristigen Existenzsicherung (Vv. 5–7) den Adressaten aufbürdete. Deshalb zitierte er in verknappter Form eine erwartete Antwort der Verbannten, in der sie seine Forderungen mit Verweis auf mantische Gegenstimmen aus ihren eigenen Reihen abzuwehren trachteten (V. 15), um dann seinerseits den Einwand zu unterlaufen, indem er an das grauenvolle Ende zweier prominenter exilischer Propheten erinnerte. Er formulierte seine Replik (Vv. 21–23abe) als göttliche Ankündigung der Exekution, um die – wahrscheinlich bereits vollstreckte – Todesstrafe als von Jhwh verhängtes Gottesurteil zu erweisen. Dabei hüllte er sich zwar hinsichtlich der Botschaft der gegnerischen Wahrsager in Schweigen, doch unterliegt keinem Zweifel, dass es sich um antibabylonische Heilspropheten handelte. Wenn der Passus vermeidet, Ahab und Zidkija zu zitieren, bestätigt dies zunächst seine Bestimmung für ein ereignisnahes Publikum. In einem schriftlichen Dokument könnte die inhaltliche Charakterisierung der antibabylonischen Heilsprophetie obendrein sogar riskant gewesen sein. Aber wichtiger noch: Ahab und Zidkija dürften von vielen Verbannten wegen ihres Feuertodes für ihr politisch-theologisches Kerygma als Märtyrer verehrt worden sein. Deshalb münzte Jeremia ihre politisch motivierte Exekution in eine Strafe für Vergehen aus der privaten Sphäre um, indem er die beiden ersatzweise mit der Anklage des Ehebruchs diskreditierte, deren Substanz nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Denn wenn derselbe Vorwurf in 23,14 nochmals im Rahmen eines wahr17  Vgl. weiterhin zur Vebindung hwc‑D al{ nicht befehlen Lev 10,1; Dtn 17,3; Jer 7,22.31; 14,14; 19,5; 23,32; 32,35; ferner Jos 1,9 (Kon 116).

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29,23

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scheinlich authentischen Gedichts gegen Falschpropheten erhoben wird, ist man versucht, eher an eine klischierte Allzweckwaffe zu denken. Im gegebenen Fall kann die Bezichtigung zusätzlich durch den Umstand animiert sein, dass man in atl. Zeit die Verbrennung als Strafe für sexuelle Untreue von Frauen (! Gen 38,24; Lev 21,9) und für Inzucht (Lev 20,14) kannte. Zudem plädiert Jeremias Berufung auf den Einblick Jhwhs in das Verborgene (23e) kaum dafür, dass ein solcher Verdacht unter den Exilanten umlief. Offenbar rechnete sich Jeremia wenig Chancen aus, gegen die populären Verheißungen Ahabs und Zidkijas anzukommen. Daher suggerierte er, die beiden Delinquenten seien in die Ehen der Adressaten eingedrungen, um so über einen Ersatztatbestand einen Keil zwischen die Exilanten und ihre hingerichteten Heilspropheten zu treiben. Weil er deren Fanatismus für selbstmörderisch hielt, ging er mit Methoden dagegen vor, die nicht mehr unbedingt modernem Empfinden von Fairness und herrschaftsfreiem Diskurs entsprechen. Aber schließlich wollte er das Überleben der Gola sichern, und dafür galt es aus seiner Warte zu allererst, die Deportierten vor sich selbst zu schützen. Bedenkenswert bleibt indes weiterhin seine Überzeugung, dass ein wahrhaftiger Gottesbote sich durch einen untadeligen Lebenswandel auszuweisen habe. – Wenn später ein Redaktor die Sätze 23cd ergänzte, war er weiterhin wie Jeremia von der Sorge umgetrieben, dass eine vom Heilsenthusiasmus geblendete Naherwartung auf ein spektakuläres Ende des babylonischen Reiches und des Exils die von Jhwh offen gehaltene Rettungsmöglichkeit zunichtemachen würde. 24–32 Der sechste und letzte Abschnitt des Kapitels, der Redaktionsschicht der individuellen Prosaorakel angehörig, ist anderer Art als die vorhergehenden. Die komplexen Probleme des Anschlusses an den Vortext und der internen Organisation des Passus sind in den Ausführungen zur Textgenese beschrieben, dazu auch das Schillern des Wortlauts zwischen Bericht und reinem Redeauftrag. 24 Mit V. 24–32 hat der Autor der individuellen Prosaorakel sowohl dem Kap. 29 als auch der Falschprophetenkomposition den Schlusspunkt gesetzt. Sein hier verwerteter Stoff behandelt zwar Folgewirkungen des Jeremiabriefs, die weiteren Postverkehr zwischen der Gola und Jerusalem einschlossen, aber aus nicht leicht zu ergründenden Motiven hat der Verfasser diese Vorgänge dem ersten Schreiben Jeremias formal inkorporiert. Zu diesem Zweck eröffnete der Redaktor seinen Nachtrag mit einem Verkündigungsbefehl an Jeremia, in dem Jhwh seine Rede aus dem älteren Vortext weiterführt, wie immer der Autor sich das konkret vorgestellt haben mochte. Als Adressat der aufgetragenen Botschaft wird ein gewisser, nur in dieser Einheit erwähnter Schemaja angegeben, dem das Attribut (wörtlich) der Nehelamiter die Herkunft aus einer Ortschaft namens Nehelam von bislang ungeklärter Lage zuschreibt. Wie sich anschließend zeigt, sah sich Schemaja befugt, aus dem Exil die Amtsführung eines hochrangigen priesterlichen Funktionärs am Jerusalemer Tempel zu beanstanden, was darauf hindeutet, dass er selbst eine mächtige Position in der priesterlichen Hierarchie Judas innehatte. 25 Die für Schemaja bestimmten Worte werfen ihm vor, auf den vorweg zitierten Jeremiabrief mit schriftlichen Beschwerden an die Jerusalemer Tempelaufsicht reagiert zu haben. Die Gottesrede begann laut der wahrscheinlichen alexandrinischen Urfassung mit der Tatbestandsfeststellung: Du hast eigenmächtig (wörtlich: in deinem 192

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29,26–27

Namen) gesandt … Was sollte die Präzisierung in deinem Namen bezwecken? Im Licht der Fortsetzung gelesen, steht der Präpositionalausdruck in impliziter Opposition zu beispielsweise „im Namen der Gola“ o. ä., um dem Briefschreiber vorzuhalten, er habe ohne Autorisierung durch die exilische Gemeinde und gegen ihre Einstellung gehandelt (*Rudolph: „auf eigene Faust“). Denn laut 31a soll Jeremia das Gerichtswort über Schemaja nicht dem Schuldigen selbst, sondern den Verbannten zuleiten, als könne er dort auf offene Ohren zählen. Ferner läuft die Strafansage V. 32 auf Schemajas Ausschluss von dem Heil hinaus, das die Gola erwartet (s. z. St.). Anders als in älteren Schichten des Kapitels (v. a. Vv. 8–9.15) erscheint hier die Exilantenschaft als mit Jeremia einig und daher für eine gesicherte Heilszukunft bestimmt, von der sich bloß Schemaja selbst disqualifiziert hat, eine in sublimen Indizien greifbare Verschiebung im Porträt der Gola, die den fortgeschrittenen Entstehungszeitpunkt dieser Textebene spiegelt. Als Empfänger von Schemajas Schreiben benennt V. 25 AlT den Priester Zefanja ben Maaseja, laut V. 26 der Chef des Tempelordnungsdienstes. Wie 21,1 und 37,3 berichten, gehörte der Mann jener Delegation an, die Zidkija während der babylonischen Belagerung Jerusalems zu Jeremia sandte, um seine Fürbitte zu erwirken (s. z. St.; vgl. auch 2 Kön 25,18 || Jer 52,24 MT). Nach 21,1 tat er das neben Paschhur ben Malkija, der in 38,1 MT als Erzfeind Jeremias porträtiert wird (in AlT durch Parablepsis entfallen? S. z. St.). Diese Adressierung ist prämasoretisch nach Vorbildern wie 1b; 27,16a; 28,1b.5 auf das ganze Volk, das in Jerusalem ist – als Element des prämasoretischen Idiolekts (TK) fraglos ein junger Zusatz – und alle Priester ausgedehnt worden. Darin meldet sich eine spätnachexilische Sichtweise zu Wort, die die relevante Bevölkerung des judäischen Gemeinwesens mehr oder weniger mit den Jerusalemern gleichsetzte und somit praktisch das gesamte Volk zu den Empfängern rechnete, um Schemaja noch stärker als Exempel der schuldhaften Verkennung des wahren Propheten zu profilieren: Er führte nichts weniger im Schilde, als alle Daheimgebliebenen gegen Jeremia aufzuhetzen. Außerdem hat man in MT den Hauptsatz durch den Vorbau einer Konjunktion in eine Kausalphrase verwandelt: Weil du eigenmächtig gesandt hast … Dieser Auftakt einer prophetisch vermittelten Gottesrede weckt die Erwartung eines Scheltworts, das der syntaktischen und sachlichen Abrundung durch eine Strafansage bedürfte, um ein Gerichtswort zu ergeben. Diese Funktion dürfte der Bearbeiter den Vv. 30–32 zugedacht haben, womit er dem regelkonformen Gerichtswort Vv. 31–32 die Rolle der Strafansage innerhalb eines übergeordneten Gerichtsworts Vv. 25–32 zuwies. Im Ergebnis bewirkt der Einschub, dass die richtende Gottesstimme noch stärker zur Geltung kommt.

Literatur: K.-P. Adam, „And He Behaved like a Prophet among Them.“ (1Sam 10:11b). The 26–27 Depreciative Use of ‫ נבא‬Hitpael and the Comparative Evidence of Ecstatic Prophecy, WdO 39 (2009) 3–57. M. Mulzer, Der verrückte Prophet (2 Kön 9,11; Jer 29,26; Hos 9,7), in: C. Diller (u. a., Hg.), Studien zu Psalmen und Propheten (FS H. Irsigler; HBS 64), Freiburg 2010, 215–236.

Schemaja bezichtigt sein Gegenüber schwerwiegender Pflichtversäumnisse: Zefanja, ein Vorgänger oder Nachfolger des aus 20,1–6 bekannten Paschhur ben Immer (vgl. 20,1), habe die seinem Amt obliegende Aufgabe, prophetische Aktivitäten im Tempelbezirk notfalls durch Einsatz körperlicher Zwangsmaßnahmen zu verhindern, 193

29,26–27

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sträflich vernachlässigt. Der Briefschreiber gibt sich als prinzipieller Verächter alles Prophetischen zu erkennen, wenn er Zefanja beauftragt sieht, gegen jeden, der sich als Prophet aufführt, und jeden Verrückten einzuschreiten (26a AlT). Indem er die Mantiker pauschal mit Verrückten ([G"vum., vgl. „meschugge“) in einen Topf wirft, reiht er sich ein in eine alte Tradition der Geringschätzung religiöser Charismatiker (vgl. 2 Kön 9,11; Hos 9,7), die an deren ekstatischen Ausdrucksformen Anstoß nimmt und sich schon zu Beginn der Königszeit mit der mokanten Frage Ist auch Saul unter die Propheten geraten? bemerkbar macht (1 Sam 10,11.12; 19,24). Darauf wird im Zusammenhang mit 31c–e zurückzukommen sein. Um Zefanja an seine Pflichten zu erinnern, unterstreicht Schemaja zusätzlich, dass der Priester aufgrund einer aktiven Intervention Jhwhs einen Kollegen namens Jojada im Amt beerbt habe (26a). Da die Ablösung von Vorgängern zu den alltäglichen Routinen des Ämterwesens gehört, ist der Hinweis nur sinnvoll, wenn der betreffende Stabwechsel unter außergewöhnlichen Umständen abgelaufen war, von denen wir allerdings nichts erfahren. Zugleich hat jener Jojada im AT sonst keine Spur hinterlassen, sodass kein an seine Person geknüpftes Überlieferungsinteresse erkennbar ist. Welche Bedeutung die Begleitumstände von Zefanjas Amtsübernahme für den vorliegenden literarischen Zusammenhang haben sollen, wird nicht erklärt. Diese Leerstellen machen wahrscheinlich, dass der Redaktor hier Auszüge eines authentischen Briefes Schemajas wiedergibt. In einem Schreiben an den Betroffenen konnte sich Schemaja mit knappen Anspielungen begnügen. Offenbar glaubte er, mit dem Seitenhieb auf einen speziellen Punkt in der Karriere seines Adressaten Druck ausüben zu können. In 26b spricht der Absender aus, wie Zefanja gegen Prophetenauftritte im Tempelareal vorzugehen habe, nämlich in der Weise, wie Zefanjas Kollege Paschhur ben Immer laut 20,1–3 mit Jeremia umgesprungen sein soll. Danach verfügte der Tempelordnungsdienst über Foltergeräte zur Disziplinierung von Störern: den auch in 20,2–3 genannten Block (tk,P,h.m;) sowie das Halseisen (qnOyci), beides Instrumente zur Fixierung und beschämenden Zurschaustellung von Delinquenten nach Art eines Prangers. Der Ausdruck in den Block spannen (tk,P,h.M;h;‑l[; \ la, !tn) ist nur hier und in 20,2 belegt und bestätigt, dass derselbe Redaktor beiden Einheiten seinen Stempel aufgedrückt hat, sei es indem er die Wendung aus 26b entlehnte oder indem er sie auch hier eintrug. Immerhin scheint nach V. 27 die von Zefanja erwartete Maßregelung Jeremias milder auszufallen, wenn Schemaja dem Priester die vorwurfsvolle Frage stellt, warum er den Propheten nicht – so wörtlich – scharf zurechtgewiesen (r[g) habe, was an einen Maulkorb oder Platzverweis denken lässt. Schließlich sind im AT und namentlich in der Jeremia-Tradition Prophetenauftritte im Tempelvorhof eine Selbstverständlichkeit.18 Wie 28,1–11 dokumentiert, wahrsagten Jeremias Gegner ebenso vor den Augen der Priester (28,1.5) im Areal des Heiligtums, weil diese Bühne die Nähe Jhwhs und obendrein ein breites Publikum garantierte. Damit ist die in 26a vorausgesetzte Sicht vereinbar, die Tempelpolizei habe solche Aktivitäten beaufsichtigt und folglich zen18  7,2; 19,14–20,1; 26,1–19; 36,5–10; Am 7,13; vgl. Num 11,24–30, wo das Offenbarungszelt als Chiffre für den Jerusalemer Tempel als normaler Schauplatz charismatischer Ekstase gilt.

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29,29–32

siert. Von Hausverboten aufgrund missliebiger Prophetie im Tempelbezirk wissen Am 7,10–13 und anscheinend auch Jer 36,5 (s. z. St.). Ferner steuert 19,14–15 eigens einen Abriss von Jeremias Botschaft bei, um die brutalen Zwangsmaßnahmen Paschhurs zu motivieren. Doch die viel weiterreichende Vorstellung von 26b, der Ordnungsdienst habe prophetische Betriebsamkeiten in seinem Revier völlig unterbinden sollen, geht an der Wirklichkeit vorbei und ist daher Schemaja möglicherweise bloß im Interesse der polemischen Profilierung redaktionell unterschoben worden. In V. 28 rechtfertigt Schemaja seinen Protest gegen Zefanjas angebliche Pflicht- 28 vergessenheit mit einem Zitat aus Jeremias Brief. Schemaja verurteilt ohnehin schon jegliche Prophetenauftritte am Tempel (V. 26), doch was ihn bei dem Propheten aus Anatot vollends empört, ist die unerwünschte Tendenz der Botschaft. Der Auszug aus Jeremias Schreiben ist in 28c–f eine wörtliche Kopie von V. 5. Schemaja zitiert die Appelle einfach kommentarlos wie jemand, der sich sicher ist, dass andere sie ebenso unerhört finden wie er, was die obigen Hinweise zur Anstößigkeit solcher Aussagen im damaligen theologischen Klima bekräftigt. Schemaja schickt ihnen allerdings einen Satz voran, der in der Vorlage zwar eine Sachgrundlage besitzt, dort aber nicht steht: Es (dauert noch) lange (28b). Die Worte sollen offenbar zusammenfassen, was in seinen Augen den Gipfel der Dreistigkeiten Jeremias ausmacht. Kontextuell wird Schemaja durch den Umstand charakterisiert, dass für ihn auch die Heimkehrverheißungen Vv. 10–14 Jeremia nicht entlasten  – eine Wartefrist von siebzig Jahren bleibt für ihn pure Blasphemie. Mit der Dauer des Exils wird ein Aspekt in den Vordergrund gerückt, der zwar tatsächlich eine Implikation der Vv. 5–7 darstellt, doch Schemaja spricht etwas aus, worüber die Quelle zu schweigen vorzieht. Damit geht eine feine, aber substanzielle Akzentverschiebung einher: Vermieden die älteren Schichten von 29, das Thema einer künftigen Heimkehr offen anzuschneiden, scheint sich die Meinungsverschiedenheit zwischen den Briefschreibern nunmehr auf divergente Erwartungen hinsichtlich der konkreten Dauer des Exils zu verengen. In den Vv. 5–7 hatte Jeremia in seinen Aufrufen zum langfristigen Überleben die Hoffnung auf das Ende der Deportation zwar stillschweigend vorausgesetzt (s. zu V. 7), sie aber nicht ausgesprochen, da der Zeitpunkt völlig unabsehbar war. Nun jedoch besteht der Skandal seiner Prophetie für Schemaja darin, dass sie die Wende defätistisch viel zu weit in die Zukunft rückt. Die Wortwahl deutet an, dass der Redaktor aus einer nachexilischen Warte formuliert, wo er längst weiß, wann die Möglichkeit der Heimkehr tatsächlich eingetreten ist. Bei V. 29 steht es den Lesern frei zu entscheiden, ob sie den Rest der Einheit als Be- 29–32 richt oder als Weiterführung der Gottesrede auffassen (s. Textgenese). Zefanja trägt Jeremia das Protestschreiben Schemajas vor. Der Erzählschritt ist notwendig, weil der Brief dem Propheten zur Kenntnis gelangen musste, damit er reagieren konnte. Der Autor kommentiert das Verhalten Zefanjas nicht, doch wird es im Sinne des Textes als Warnung an Jeremia zu deuten sein, welche Konsequenzen er zu gewärtigen habe, sollte er seine Auftritte am Tempel fortsetzen. Schließlich dürfte Zefanja ja mit jenem Priester identisch sein, den die Babylonier laut 2 Kön 25,18.21 || Jer 52,24.27 zu ihren Widersachern zählten. Durch eine Wortereignisformel beschrieben (V. 30), erhält Jeremia daraufhin einen neuen Auftrag zu einem formgerechten Gerichtswort (31c–32), 195

29,29–32

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das nach Adressierung der Botenformel (31b) und Inhalt Schemaja das Urteil spricht, aber wie bei Ahab und Zidkija (Vv. 21–23) in 3. Person über den Schuldigen redet und laut dem Sendebefehl der Gola auszurichten ist (31a). Den Abstand zu den widergespiegelten Vorgängen markieren nun mehrere schichtentypische Züge der individuellen Prosaorakel. Es beginnt mit der Anklage 31c–e, die den klischierten Vorwurf der Falschprophetie erhebt (dazu sogleich), der mit den zuvor berichteten Handlungen Schemajas nichts gemein hat. Nicht nur dass dort nichts von Wahrsagerei Schemajas zu erfahren war; obendrein hat er sich in seinem Brief sogar als hochmütiger Verächter alles Prophetischen geriert (V. 26). Terminologisch bietet das Scheltwort mit den kombinierten Vorwürfen der mangelnden Sendung und der Förderung falschen Vertrauens (31de) eine so enge Parallele zu den anklagenden Worten über Hananja in 28,15cd, dass beide Passagen wohl aus derselben Hand hervorgegangen sind (s. z. St.). Das Drohwort beginnt mit einem Schlüsselindiz der individuellen Prosaorakel: der Ankündigung dqepo ynIn>hi siehe, ich züchtige (bald schon),19 die unlösbar in ihrem Kontext verankert ist und daher erneut die insgesamt redaktionelle Herkunft des Schlussabschnitts untermauert. Ferner erstreckt sich die Unheilsansage wie bei weiteren individuellen Prosaorakeln ausdrücklich auf Angehörige bzw. Gesinnungsgenossen (Freunde) der Opfer.20 Im Falle Schemajas ergeht das Urteil, dass niemand aus seiner Nachkommenschaft (32c) sich an dem Guten erfreuen werde (bAJb; har 32d), das Jhwh für die Gola (so AlT) bzw. für das judäische Volk insgesamt (so MT) zu bewirken verspricht (32ce). Konkret gesprochen, sollte entweder Schemaja ohne einen Sohn versterben oder keiner seiner Nachkommen in den Genuss einer Heilsgabe gelangen, für die nach Lage der Dinge nur die Heimkehr aus dem Exil (AlT) bzw. die nachexilische Erneuerung Judas (MT) in Betracht kommt (zu dem vorausgesetzten kollektiven Heilsverständnis s. o. zu 10c). Die Strafansage bringt am deutlichsten zum Ausdruck, dass der Autor des Anhangs von einem postexilischen Standort in Juda aus schrieb. Wie schon in 28,16d, hat ein prämasoretischer Ergänzer auch in 32f ein leicht modifiziertes Zitat aus Dtn 13,6 angefügt, um Schemaja wie Hananja als einen prophetischen Verführer zur Götzendienerei zu brandmarken, der laut dem deuteronomischen Gesetz dem Tod verfallen ist (s. zu 28,16). Der Autor der individuellen Prosaorakel hat von einer frühnachexilisch-judäischen Warte aus die Erinnerung an ein Protestschreiben eines Exilanten namens Schemaja aus Nehelam aufgegriffen, die grundsätzlich in die Reihe der Überlieferungen über Versuche gehört, den wahren Propheten Jeremia mit Gewalt zum Verstummen zu bringen. Der Redaktor war noch stets von einem tiefen Affekt gegen Falschprophetie erfüllt, die er mit enthusiastischer Heilsprophetie gleichsetzte, weswegen er diesen Vorwurf gegen Schemaja schleuderte, obwohl sein Stoff dazu keine Handhabe bot. Im fraglichen Zeitraum dürfte sich das Ressentiment gegen diese Sparte der Mantik aus einer heilsprophetischen Welle zur Stützung der dynastischen Ambitionen Serubbabels gespeist haben, wie biblisch repräsentiert durch Haggai und Proto-Sacharja. Dagegen ging der Autor der individuellen Prosaorakel an, indem er prominente Vor19 11,22; 20 Vgl.

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23,2; 46,25; 50,18; variiert 44,29. 11,22 aus 11,21–23; 20,4.6 aus 19,14–20,6; 22,26 aus 22,24–27; 46,25.

Die Lebensverhältnisse der judäischen Exilanten

Exkurs

läufer und Helden dieser Bewegung diskreditierte und ihr Schicksal bzw. dasjenige ihrer Sippen als Gottesurteil über sie und ihre aktuellen Anhänger interpretierte. Der literarische Werdegang von Jer 29 veranschaulicht besonders eindrucksvoll, was für die Falschprophetenkomposition generell gilt: Die von Jeremia seinerzeit bekämpfte Heilsprophetie drang schließlich – wenngleich in abgewandelter Form – in die kanonische Schriftprophetie ein, indem sie Jeremias autoritative Stimme okkupierte. So kehrt etwa Hananjas Botschaft aus 28,2b.4b.11c in 30,8b als durch Jeremia vermitteltes Gotteswort wieder. Auf breiter Front lässt sich der Vorgang an den Babylonorakeln in 50–51 beobachten. So erweist sich hier wie andernorts in der Bibel der Trug von gestern als die Wahrheit von heute – und umgekehrt. Damit verkündet die Bibel die überzeitliche, paradoxe Wahrheit, dass Wahrheit und Trug einem Verfallsdatum unterliegen können, weil Gott zu verschiedenen Zeiten, je nach den Umständen, geradezu konträre Dinge von den Menschen wollen kann.

Exkurs: Die Lebensverhältnisse der judäischen Exilanten Quellen: K. Abraham, West Semitic and Judean Brides in Cuneiform Sources from the Sixth Century BCE. New Evidence from a Marriage Contract from Āl-Yahudu, AfO 51 (2005/6) 198–219. K. Abraham, An Inheritance Division among Judeans in Babylonia from the Early Period (from the Moussaieff Tablet Collection), in: M. Lubetski (Hg.), New Seals and Inscriptions: Hebrew, Idumean, and Cuneiform (Hebrew Bible Monographs 8), Sheffield 2007, 148–182. M. Cogan, Bound for Exile. Israelites and Judeans under Imperial Yoke. Documents from Assyria and Babylonia (A Carta Handbook), Jerusalem 2013. H. V.  Hilprecht, A. T.  Clay, Business Documents of Murashû Sons of Nippur Dated in the Reign of Artaxerxes I. (464–424 B. C.) (The Babylonian Expedition of the University of Pennsylvania A.9), Philadelphia 1898. F. Joannès, A. Lemaire, Trois tablettes cunéiformes à onomastique ouest-sémitique (collection Sh. Moussaïeff) (Pls. I–II), Transeuphratène 17 (1999) 17–34. W. G.  Lambert, A Document from a Community of Exiles in Babylonia, in: M. Lubetski (Hg.), New Seals and Inscriptions (s. o.), 201–205. L. E.  Pearce, C. Wunsch, Documents of Judean Exiles and West Semites in Babylonia in the Collection of David Sofer (Cornell University Studies in Assyriology and Sumerology 28), Bethesda ML 2014. E. F.  Weidner, Jojachin, König von Juda, in babylonischen Keilschrifttexten, in: (Anon., Hg.), Mélanges Syriens offerts à Monsieur René Dussaud, Bd. 2 (Bibliothèque archéologique et historique 30.2), Paris 1939, 923–935. C. Wunsch, Judeans by the Waters of Babylon. New Historical Evidence in Cuneiform Sources from Rural Babylonia. Manuscripts in the Schøyen Collection (Babylonische Archive 6), Dresden (in Vorbereitung). HTAT 274–281, S. 457–470. Internet-Datenbank: Cuneiform Texts Mentioning Israelites, Judeans, and Related Population Groups (CTIJ); https://ancientworldonline.blogspot.de/2017/11/cuneiform-texts-mentioningisraelites.html Literatur: K. Abraham, Negotiating Marriage in Multicultural Babylonia. An Example from the Judean Community in Al-Yahūdu, in: J. Stökl, C. Waerzeggers (Hg.), Exile and Return. The Babylonian Context (BZAW 478), Berlin 2015, 33–57. T. Alstola, Judean Merchants in Babylonia and Their Participation in Long-Distance Trade, WdO 47 (2017) 25–51. T. Alstola, Judeans in Babylonia. A Study of Deportees in the Sixth and Fifth Centuries BCE, Diss. Helsinki 2017. J. J.  Ahn, Exile as Forced Migrations. A Sociological, Literary, and Theological Approach on the Displacement and Resettlement of the Southern Kingdom of Judah (BZAW 417), Berlin 2011. Albertz, Exilszeit 65–116. B. Becking, In Babylon: The Exile in Historical (Re)construction, in: ders. (Hg.), From Babylon to Eternity. The Exile Remembered and Constructed in Text and

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Exkurs

Die Lebensverhältnisse der judäischen Exilanten

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Die Zwangsumsiedlung größerer Kontingente von Menschen aus besiegten Völkern ist aus dem Alten Orient seit dem 3. Jt. belegt. In der Regel dienten die Deportationen sowohl der Unterdrückung von Aufstandsbestrebungen als auch der wirtschaftlichen Ausbeutung: Die führenden Schichten wurden verschleppt, um Rebellionen vorzubeugen; die Facharbeiter und die einfache Bevölkerung wurden zu Tätigkeiten bei Bauprojekten, in der Landwirtschaft und im Kriegsdienst gepresst. In der ersten Hälfte des 1. Jts. perfektionierten die Assyrer diese Herrschaftstechnik. Indem sie Populationen weiträumig austauschten und vermischten, suchten sie systematisch ethnische Identitäten zu zerstören und Potenziale der antiassyrischen Solidarisierung zu untergraben. Dieser Behandlung fiel 722 das Nordreich Israel zum Opfer (2 Kön 17,6.23–41). Davon unterschied sich das Vorgehen des kurzlebigen neubabylonischen Reiches in der ersten Hälfte des 6. Jhs. Die Babylonier verzichteten auf den Bevölkerungsaustausch und siedelten deportierte Gruppen in landsmannschaftlich homogenen 199

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Zentren in ihrem Kernterritorium an, wo die Verbannten mit Kronland an Wasserläufen (Ps 137,1–2!) zur Urbarmachung und Bewirtschaftung belehnt wurden und Abgaben leisten mussten, um das Aufkommen an Nahrungsmitteln zu steigern. Die bereitgestellten Agrarparzellen waren häufig – je nach Größe – sog. „Bogen‑“ bzw. „Köcherland“ (bīt qašti bzw. bīt azanni), „Pferdeland“ (bīt sīsê) oder „Wagenland“ (bīt narkabti); d. h. der Lehensnehmer war verpflichtet, in den babylonischen Streitkräften als Bogenschütze, Kavallerist oder Wagenkämpfer zu dienen oder solche Krieger zu finanzieren. Mitunter wurden die Verbannten auch zu Arbeiten auf Baustellen und an Kanälen herangezogen. Weil es keine Hinweise auf eine generelle Sonderbehandlung der judäischen Exilanten gibt, sind diese Verhältnisse auch für sie anzunehmen. Die Deportationen trafen das Südreich Juda nach atl. Darstellung in mehreren Wellen. Der erste Schub nach Jojakims Erhebung 597 habe außer König Jojachin und Teilen seines Hofstaats die Jerusalemer Oberschicht in Gestalt der Facharbeiter und Wehrfähigen erfasst (2 Kön 24,10–16), deren Anzahl einmal auf 10000 (V. 14) und einmal auf 7000 + 1000 (V. 16) beziffert wird. Ein zweiter Schub nach Zidkijas Aufstand und der Zerstörung Jerusalems 587 habe bloß noch einen Teil der Unterschicht im Land belassen (2 Kön 25,7.11.21c). Demgegenüber nennt die nur in JerMT 52,28–30 überlieferte Exilantenstatistik genaue, aber ziemlich niedrige Zahlen mit der Summe von 4600 Personen, zu der noch eine dritte Welle aus ungenanntem Anlass im Jahr 582 beigetragen haben soll. Daraus lässt sich der tatsächliche Umfang der Deportationen kaum abschätzen. Die in 2 Kön 24 für 597 angeführten Daten sind offenkundig idealisiert und obendrein widersprüchlich. Das Bild der Verschleppungen von 587 in 2 Kön 25 ist übertrieben (s. zu 43,4–7), und die Zahlen in Jer 52,28–30 stellen schwer überwindliche Interpretationsprobleme (s. z. St.). Man wird sich daher mit der Auskunft bescheiden müssen: Die mesopotamische Gola brachte auf Dauer die bedeutendste jüdische Diaspora in der Antike hervor, sodass ihre damals gepflanzte Wurzel nicht unerheblich gewesen sein kann. Zu den ältesten Quellen zum Ergehen der Exilanten gehören Listen von Rationen an Sesamöl und Brot, die im Palast Nebukadnezzars in Babylon gefunden wurden und als Bezieher zahlreiche Ausländer höheren Ranges aufführen, darunter König Jojachin (Ya’ukīnu, der König des Landes Juda) und fünf Söhne von ihm sowie andere Judäer (Weidner; HTAT 265–267, S. 425–430). Eine der betroffenen Listen trägt als Datum das 13. Jahr Nebukadnezzars (592/1) und entstammt somit der Phase zwischen der ersten und der zweiten Exilierung. Demnach wohnten die Exilanten aus den Führungskreisen ihrer Heimatländer damals im Umkreis des babylonischen Hofes, wo sie relativ großzügig versorgt wurden. Das lag im babylonischen Interesse, denn die Geiseln erfüllten ihre Funktion nur, solange sie am Leben waren. 1 Chr 3,17–18 zählt sogar sieben Söhne Jojachins auf, die zumindest mehrheitlich im Exil zur Welt gekommen sein müssen. Was die Lebensbedingungen der „gewöhnlichen“ Exilanten angeht, bildet das Buch Ez die wichtigste inneralttestamentliche Quelle. Danach konzentrierten sich die Judäer in einer kleinen Anzahl von Niederlassungen. Ez 3,15 nennt Tel Abib (akkadisch til abūbi Überschwemmungsruinenhügel) am Fluss Kebar (großer Kanal; auch in Ez 1,3; 3,23 u. ö. erwähnt), einem Seitenarm des Eufrat, der südöstlich von Babylon im 200

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Raum Nippur gesucht wird. Esr 2,59 (|| Neh 7,61) und 8,17 zählen fünf weitere Ortschaften auf, deren Lage ebenso unbekannt ist. Die Ansiedlung in Dörfern deutet auf vorwiegend landwirtschaftliche Tätigkeiten hin. Wie Ez weiterhin belegt, verfügten die Exilanten über einen gewissen Spielraum zur Selbstorganisation. So dauerte unter den Judäern eine Sozialstruktur in traditionellen Bahnen fort, insofern die Ältesten Judas bzw. Israels ihre führende Rolle behielten und die üblichen Ansprechpartner des Propheten bildeten (Ez 8,1.11.12; 14,1; 20,1.3). Jeremias Brief war wohl ursprünglich ebenfalls an die Ältesten der Verbannten gerichtet (Jer 29,1b; s. z. St.). Aber auch größere Auditorien konnten sich bei Ezechiel versammeln (33,31). Ferner weiß Ez 33,21 wie Jer 29 von Botenverkehr zwischen Juda und den Exilanten. Die Kontakte zwischen den Deportierten und der Heimat waren jedenfalls dicht genug, dass man Streitigkeiten über den Heilsstatus der Verschleppten ausfechten konnte (s. u.). Wo die Grenzen der Autonomie der Verbannten verliefen und wie drakonisch die Babylonier gegen Insurrektion einschritten, veranschaulicht das Schicksal der Propheten Ahab und Zidkija in Jer 29,21–23 (s. z. St.). Weiteres Licht auf die Existenz der Exilanten werfen neuere Textfunde. Seit kurz vor der Jahrtausendwende sind rund 200 Tontafeln aus Raubgrabungen im Irak aufgetaucht, bekannt als TAYN-Korpus (Texts from āl-Yāḫūdu and Našar), dessen Publikation im Gange ist.21 Die Tafeln bilden juristische Urkunden aus den Jahren 572 bis 477, die Einblicke in das Leben von Judäern in Babylonien für ein knappes Jahrhundert ab etwa anderthalb Dekaden nach der Zerstörung Jerusalems gewähren. Erkennbar ist der fragliche Personenkreis an Jhwh-haltigen Namen oder dokumentierten Verwandtschaftsbeziehungen, was die Grenzen der Aussagekraft der betreffenden Quellen markiert. Denn in Einzelfällen lässt sich die Benennungspraxis in Familien über mehrere Generationen verfolgen, wobei sich zeigt, dass die Judäer zu theophoren Namen mit babylonischen Göttern übergehen, aber auch wieder zu Jhwh-haltigen Namen zurückkehren konnten. Dauerhafter Übergang zu Bekenntnisnamen babylonischen Typs macht die Judäer für das Forscherauge unsichtbar, dürfte jedoch ohnehin mit dem Verlust der judäischen Identität gleichzusetzen sein. Weiterhin entstammt zwar nur ein kleiner Teil des TAYN-Korpus der babylonischen Ära, doch leistet es immerhin dem Eindruck Vorschub, dass der Wechsel zur Perserherrschaft den Verbannten einstweilen keinen fundamentalen Statuswandel eintrug, von der Möglichkeit zur Übersiedlung nach Juda bzw. Emigration abgesehen. Daher erscheint es im Allgemeinen berechtigt, von perserzeitlichen Verhältnissen auf die babylonische Epoche zurückzuschließen. Das TAYN-Korpus erwähnt als Wohnorte von judäischen Vertragspartnern mehrere Siedlungen, die wohl ebenfalls bei Nippur lagen. Die meistbezeugte Ortschaft trägt mit Āl-Yāḫūdu (URUYa-a-ḫu-du) Juda-Stadt zugleich den Namen, den die Babylonische Chronik auf Jerusalem anwendet, wenn sie die Belagerung der Hauptstadt Judas im 7. Jahr Nebukadnezzars (598/7) vermerkt (HTAT 258, S. 417). Ältere Dokumente aus dem Korpus bezeichnen den Ort auch als Āl-Yāḫūdāya (URUšá lúYa-a-ḫu-du-a-a) Judäer-Stadt. Der Name weist auf eine überwiegend judäische Bevölkerung und lässt  Abraham, Joannès/Lemaire, Lambert, Pearce/Wunsch, Wunsch.

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zudem an eine staatlich verfügte Neugründung denken, die eigens für ihre Bewohner angelegt wurde. In persischer Zeit wird die Ortschaft Āl-ša-Našar (URUšá Ina-šar) Stadt Našars bzw. Bīt-Našar Heimstatt Našars häufiger genannt; sodann begegnet mehrfach Bīt-Abī-râm Heimstatt Abrams, neben weiteren, nur vereinzelt erwähnten Dörfern. Diese Indizien bekräftigen das Bild des Buches Ez von den Wohnverhältnissen der Exilanten. Der Name Āl-Yāḫūdu entspricht überdies einem verbreiteten Muster, denn babylonische Quellen führen wiederholt Siedlungen auf, die nach den Heimatstädten von Deportierten benannt waren wie Aschkelon, Gaza, Tyrus u. a. Die Konzentration der Verbannten in ethnisch hochgradig homogenen Dörfern schuf günstige Bedingungen für Gemeinschaftsleben, Selbstorganisation sowie die Pflege von Religion, Traditionen, Kultur und Sprache. In diesen Maßnahmen der Babylonier ist eine Möglichkeitsbedingung für die Entstehung von biblischer Literatur im Exil zu sehen, darunter nicht zuletzt dem babylonischen Jeremiabuch und seinen Quellen. Die Tafeln des TAYN-Korpus bilden in akkadischer Sprache und Keilschrift ausgefertigte Rechtsakten nach zeitgenössischen babylonischen Standards und beurkunden Routinegeschäfte. Der Großteil entfällt auf Schuldscheine über Naturalien; dazu kommen Verträge über Käufe, Pachtverhältnisse, Eheschließungen und Erbschaften, ferner Steuerquittungen, Urkunden über Sklavenbesitz und anderes – typische Reflexe des altorientalischen Alltags auf dem Lande. Die Judäer treten neben Babyloniern und Angehörigen anderer Ethnien als Vertragspartner und Zeugen auf, während die Rolle der Schreiber keilschriftkundigen Babyloniern vorbehalten blieb. Die Dokumente belegen regelmäßige Interaktionen mit der einheimischen Bevölkerung und Ausländern anderer Herkunft; dazu bezeugen die Quellen einen hohen Grad der Akkulturation und der Integration in den babylonischen Staat, sein Rechtsleben und seine Wirtschaft, aber auch in seine Religion: In den Sicherungsklauseln (Flüchen) der Abmachungen wurden mesopotamische Gottheiten als Garantiemächte angerufen, und Judäer besaßen Siegel mit den Symbolen solcher Götter. Nach alldem waren die Judäer – wie alle übrigen Deportierten – keine Sklaven im Sinne nahezu rechtloser Leibeigener, sondern Abhängige bzw. Halbfreie, die ein beachtliches Maß an Rechtsfähigkeit besaßen: Sie schlossen Ehen und zahlten Steuern; sie reisten, trieben Handel und nahmen Kredite auf; sie erwarben, pachteten und verpachteten Eigentum an Immobilien und beweglicher Habe; sie verkauften und vermachten ihren Besitz. Lediglich ihr als Lehen überlassenes Agrarland konnten sie nicht veräußern, wohl aber vererben. Allmählich stiegen sie auch in niedere Positionen in der staatlichen Verwaltung auf. Damit einher ging ein wachsendes Maß an sozialer Differenzierung. Hinweise auf systematische Unterdrückung ihrer religiösen und kulturellen Eigenarten sind nicht erkennbar. Das schloss natürlich gravierende Einschränkungen nicht aus: Ihre Bewegungsfreiheit stieß spätestens bei der Unmöglichkeit der Heimkehr an Grenzen, antibabylonische Umtriebe wurden brutal verfolgt (s. o.), und Verbannte aus höheren gesellschaftlichen Schichten dürften empfindliche Statusverluste erlitten haben. Nach dem atl. Zeugnis machte den judäischen Deportierten überdies schwer zu schaffen, dass sie Diskriminierung ausgerechnet von Seiten ihrer heimischen Mitjudäer hinnehmen mussten, die sie – wohl aufgrund handfester materieller Interessen – als 202

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fern von Jhwh (Ez 11,15) schmähten und ihnen jede Möglichkeit einer heilvollen Zukunft absprachen (s. zu 29,7). Dabei funktionierten die Kommunikationskanäle zwischen der Gola und der Heimat offenbar so gut, dass man auf beiden Seiten ziemlich genau wusste, was man voneinander hielt. Es steht freilich zu vermuten, dass derlei Zänkereien primär eine Angelegenheit der jeweiligen Eliten gewesen sind. Insgesamt müssen viele Exilanten ihr Los recht erträglich gefunden und ein auskömmliches Verhältnis zu den Babyloniern entwickelt haben. Ezechiel etwa kritisierte leidenschaftlich die religiösen Zustände unter seinen Mitjudäern sowohl in der Fremde als auch in der Heimat, aber die Behandlung der Verbannten durch die Babylonier war für ihn kein Thema. Stattdessen kritisierte er Zidkija für dessen mangelnde Eidestreue gegenüber seinem Oberherrn Nebukadnezzar (Ez 17*). Der Verfasser der Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums, des Grundstocks von Jer 37–43, zeichnete ein bemerkenswert freundliches Bild von den Babyloniern und erblickte in einer kooperativen Haltung zu ihnen den einzigen Weg, um für Juda eine Heilschance zu wahren (s. dort). Nur aufgrund einer längeren, kollisionsfreien Vorgeschichte ist ferner zu erklären, dass Nebukadnezzars Nachfolger Ewil-Merodach (562–560) anscheinend aus Anlass seiner offiziellen Thronbesteigung 561 den judäischen König Jojachin rehabilitiert und ihm eine besondere Ehrenstellung bei Hofe mit lebenslanger Apanage verliehen haben soll (2 Kön 25,27–30 || Jer 52,31–34; s. z. St.). Selbst wenn der biblische Bericht die Tatsachen wohl etwas aufgehübscht hat, bleibt er doch ein Beleg für Beziehungen zwischen Babyloniern und judäischen Exilanten, die – an den Umständen gemessen – relativ konfliktarm verlaufen waren. Gleichwohl ging auch Ewil-Merodachs Gunsterweis für Jojachin keineswegs so weit, dass er ihn in die Heimat entlassen oder sogar wieder in sein Amt eingesetzt hätte. Sollten Teile der Babelsprüche in Jer 50 f. in Mesopotamien entstanden sein, ist festzustellen: Die Gedichte triefen zwar von Rachsucht gegen die Babylonier, doch an deren Umgang mit den Verschleppten brandmarken sie lediglich, dass sie ihre Geiseln nicht ziehen ließen (50,33; vgl. auch 51,34f). Wenn im Deuterojesaja-Komplex hingegen mehrfach die Gefangenschaft Israels beklagt wird,22 lässt sich dies auf den Wunsch zurückführen, zum Aufbruch nach Zion zu ermuntern, und Ps 137 perhorresziert das Exil aus der Retrospektive eines Übersiedlers, der damit indirekt seine Einwanderung nach Juda motiviert, wohl auch mit der Absicht, andere zur Nachahmung anzuspornen. Wie die judäischen Exilanten ihr Dasein empfanden, beleuchtet insbesondere das geringe Ausmaß, in dem sie ab dem Beginn der Perserherrschaft 539 die Möglichkeit zur Übersiedlung nach Palästina nutzten. Für sie tat sich damals nach einer Frist von etwa 42 bis 58 Jahren das Tor zur Heimkehr auf, je nachdem, auf welchen Deportationsschub sie sich zurückführten. Zu diesem Zeitpunkt bestand die judäischstämmige Gruppe schon weit überwiegend aus Menschen, die in Mesopotamien geboren und sozialisiert worden waren, also den Ort ihrer ethnischen Wurzeln nur vom Hörensagen kannten und zu einem kaum abzuschätzenden Anteil bereits das Akkadische als ihre Muttersprache angenommen hatten; so trugen beispielsweise Scheschbazzar, Serubbabel und die Fragesteller in Sach 7,2 schon akkadische Namen.  Jes 42,7.22; 49,9.25–26; 51,13–14; 52,2–5.

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Vom Land ihrer Abkunft wussten sie jedenfalls, dass es territorial stark geschrumpft war (s. zu 41,17; 49,7–22), sodass für viele Exilanten die Stammsitze ihrer Familien mittlerweile an Angehörige fremder Völker in anderen persischen Provinzen verloren gegangen waren. Und was als Konkursmasse Judas in die persische Provinz Jehud eingegangen war, bot nach archäologischen Befunden (s. zu 43,4–7) und biblischen Quellen aus den Jahren um das Ende des babylonischen Reiches ein deprimierendes Bild von Armut und Entvölkerung.23 Diese Exilanten mussten sich entscheiden, ob sie ihr in Babylonien erworbenes Vermögen für einen Neuanfang unter den prekären Bedingungen in Juda verflüssigen und dazu obendrein einen monatelangen Fußmarsch von bis zu anderthalbtausend Kilometern in Kauf nehmen sollten. Den wenigen älteren Mitgliedern der Gemeinde, die noch Erinnerungen an ihre Heimat mit sich trugen, stellte sich die letztere Frage umso mehr. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass die Archäologie bisher keine Anzeichen einer nennenswerten Rückwanderung aufspüren konnte. Vielmehr ist die Besiedlungsdichte der persischen Provinz Jehud nur äußerst langsam angestiegen, um erst nach Jahrhunderten wieder das Vorkriegsniveau zu erreichen. Wenn somit Kyrus II. nach seiner Eroberung Babyloniens den Verschleppten und ihren Nachkommen die Heimkehr freistellte, obwohl deren Arbeitskraft und Greifbarkeit im Zweistromland für die Perser von ähnlichem Nutzen gewesen sein müsste wie für die Babylonier, so wohl auch deshalb, weil er sich ausrechnen konnte, dass ihm der Gnadenakt ein Zeichen guten Willens zu geringen Kosten ermöglichte, da die meisten Exilanten mit den Füßen zugunsten ihrer neuen Heimat in Mesopotamien abstimmen würden. Nicht von ungefähr musste die deuterojeremianische Literatur mit auffälligem Nachdruck zur Heimkehr aufrufen (Jes 48,20; 52,11). Welche Möglichkeiten hingegen den Judäern im perserzeitlichen Mesopotamien offen standen, sich in die Gesellschaft einzupassen und Wohlstand zu erwerben, wird durch mittlerweile rund 880 Tontafeln veranschaulicht, die aus dem Archiv des in judäischstämmigem Besitz befindlichen Handelshauses Murašu aus Nippur herrühren. Danach betrieb die Firma zur Zeit der Herrscher Artaxerxes I. (464– 424) und Darius II. (424–404) mit einem Stab von mehreren Dutzend Agenten auf verschiedenen Geschäftsfeldern wie Kreditvergabe und Vermakelung von Pachtland wirtschaftliche Aktivitäten von beachtlichen Dimensionen, auch was die geographische Reichweite betrifft. Darüber hinaus erwähnt das Quellenkorpus rund hundert Personen mit Jhwh-haltigen Namen und schreibt ihnen normale Berufe wie Steuereintreiber, Kanalaufseher und Agrarpächter zu, was zeigt, dass die Nachkommen der Exilanten, obwohl voll in ihre Umwelt integriert, mehr als ein Jahrhundert nach der Deportation ihrer Vorfahren weiterhin deren Gott anhingen. Trotzdem waren sie längst so tief in ihrer mesopotamischen Heimat verwurzelt, dass sie verständlicherweise wenig Neigung zeigten, in das Land ihrer Ahnen aufzubrechen.

 S. zu 31,24–25.27–28; ferner etwa Jes 44,26–27; 49,8.19; 51,3; 54,1–3; Hag 1,6.

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Textgenese Das Jeremiabuch steht weit überwiegend im Zeichen der Unheilsprophetie, in unregelmäßigem Rhythmus aufgehellt durch kurze Heils-, Beistands‑ und Verschonungszusagen, die nach Adressaten und Inhalt recht breit gestreut sind.1 Doch das düstere Gesamtbild wird in Kap. 30–33 aufgebrochen durch einen Block von Heilsprophetie für Juda und Israel, der nicht wie üblich die Schlussposition im Prophetenbuch einnimmt,2 noch weniger nach Art von Ez und Zef, wo zumeist eine standardisierte dreiteilige Makrostruktur von Prophetenbüchern wahrgenommen wird, die als eschatologisches Schema bekannt ist.3 Vielmehr ist der heilsprophetische Block inmitten der den zweiten Buchteil Kap. 26–45 prägenden, unheilstheologisch dominierten Erzählstoffe eingefügt. Die vier Kapitel weisen Züge auf, denen zu entnehmen ist, dass sie ihren Ort im Verlauf von redaktionellen Prozessen fanden, die sich an bestimmten Kontextmerkmalen orientierten. Mit Kap. 29 gipfelt die Falschprophetenkomposition in jener Einheit, die mit dem Exil befasst ist und den Verbannten Heil und Heimkehr zuspricht (Vv. 10–14). In 30–31 folgt die sog. Trostschrift, eine undatierte poetische Komposition mit prosaischem Vorspann und überwiegend prosaischen Anhängen. Der Komplex verheißt den versprengten Israeliten die Rückführung und erteilt ihnen weitere Heilszusagen für ihre Existenz in der Heimat. Das verbindende Thema des Heils für die Verbannten hat offenkundig die Platzierung der Trostschrift hinter Kap. 29 geleitet. Dagegen sind 32 und 33 datiert, insofern sie die Offenbarungswiderfahrnisse Jeremias in seine Haftzeit im Wachhof einbetten (32,2; 33,1), wie sie später geschildert wird (37,21; 38,13–28; 39,14). Ihr Thema war ursprünglich die heilvolle Neuordnung der Verhältnisse im Land, wozu in 32,37–43 eine Verheißung der Sammlung der Diaspora getreten ist. Infolgedessen schaut die Prophetie Jeremias in 30–33 weit über die noch bevorstehende Unheilsgeschichte Judas (Kap. 34.*37–44.52) hinaus in einem Panorama, das über die Heimkehr der Versprengten bis zur Neukonsolidierung in der Heimat reicht. Das heilstheologische Gepräge deutet darauf hin, dass die Kap. 30–33 noch nicht Teil des von JerDtr II geschaffenen babylonischen Jeremiabuchs gewesen sind. Bei 30–31 bestätigt dies die fehlende Datierung. Jer 32* ist zwar voll von dtr Wendungen und Theologumena und wie 33 historisch situiert, doch diese Offenbarungen werden nicht im Rahmen der Berichte von Jeremias Gefangenschaft mitgeteilt, sondern ihnen 1  V. a. 3,12.14–18.22; 4,1–2.27c; 5,10c.18; 12,15–16; 16,14–15; 21,9b–d; 23,3–8; 24,5–7; 27,22cd; 29,10–14; 34,4–5; 35,18–19; 38,20; 39,15–18; 42,10–12; 45,5de; 46,26b.27–28; 48,47a; 49,6.39; 50,4– 5.19–20.33–34; 51,5a.36; vgl. 18,8–9. Als positive Seite von Alternativen: 17,24–26; 22,4; 38,2c–e.17; an Jeremia selbst gerichtet: 1,8.19; 15,19–21. 2 Jes 40–66; Hos 14,2–9; Joël 3–4; Am 9,11–15; Ob 17–21; Mi 7,8–20. 3  Ez 40–48; Zef 3,9–20. Zum Theorem des eschatologischen Schemas und seiner Problematik s. o. S. 13.

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um den Preis einer umständlichen historischen Einordnung (32,1–5) vorangeschickt. Die dyschronologische Platzierung kollidiert dabei auch mit Kap. 34, das JerDtr II entstammt, was erhärtet, dass 32* zur Zeit der Entstehung von JerDtr II ebenfalls noch nicht vorgesehen war und eine separate dtr Schicht bildet (JerDtr III). Die Vorschaltung von 32 (statt einer Rückblende wie 45) erklärt sich besonders leicht, wenn vor 34 bereits größere Heilsverheißungen standen, denen das Kapitel beigesellt werden sollte. Folglich begann das Wachstum der heilstheologischen Komposition mit dem Einbau der Kap. *30–31 und schritt dann fort mit den sukzessiven Nachträgen von Kap. 32 und 33,1–13, um bis in die jüngsten Phasen der Buchgenese anzudauern, als mit 33,14–26 der größte Überhang der masoretischen Ausgabe gegenüber JerAlT hinzutrat (zu 31,31–40 s. die separate Einleitung). Die optimistische Gestimmtheit der Fortschreibungen wirkte in dieser Spätphase auch auf die vorangehenden Einheiten zurück, indem dort Verheißungen ergänzt wurden, die das Ende der babylonischen Herrschaft (27,7), die Rückgabe der Jerusalemer Wertgegenstände samt den Tempelgeräten (27,22) und die Sammlung der Diaspora (29,14b–f) prophezeiten und so die Zusagen der Neukonsolidierung im Land um weitere Details anreicherten. Thematische Berührungspunkte mit 29 (Exil und Heimkehr) sowie der gemeinsame heilstheologische Nenner trugen mithin dazu bei, dass die zentrale Sammlung von Heilsworten im Buch über lange Zeit mitten in einem unheilstheologisch dominierten Kontext heranwuchs. Das Arrangement präjudiziert die Endtextlektüre der anschließenden Nachrichten von der Katastrophe Judas: Zum Vorwissen der nachexilischen Leser, dass Juda die Verwüstungen und Deportationen überlebte, tritt nun die Botschaft, dass dies dem expliziten Willen Jhwhs entspricht, den er schon vorweg dem Propheten Jeremia enthüllte und schriftlich aufzeichnen ließ. Außerdem darf Israel über die defizitäre Gegenwart hinaus, die namentlich in den prosaischen Anteilen der Trostschrift aufscheint, Besserung und dauerhaften Bestand erwarten. Das Ergehen der in der Trostschrift dokumentierten Gottesworte soll man sich dann laut dem Buchaufbau irgendwann zwischen dem ersten bzw. vierten Jahr Zidkijas (28,1) und der zweiten babylonischen Belagerung Jerusalems (32,1) vorstellen. Auch die Trostschrift hat ein literarisches Wachstum durchlaufen. Einzelne Passagen (v. a. 30,10–11.15.22; 31,17a) fehlen in AlT und bilden besonders späte Zutaten, wie im Einzelnen weitere Indizien wie prämasoretischer Idiolekt und Spannungen zum Kontext bestätigen (s. jeweils z. St.). Zudem bietet AlT in 31/38 die Vv. 35– 36 und 37 in umgekehrter Reihenfolge. Anfang und Ende der Trostschrift (30,1–4 und 31,23–40) sind überwiegend prosaisch und von deuterojeremianischer Diktion durchsetzt, während der eingebettete poetische Komplex 30,5–31,22 (abzüglich prosaischer Einsprengsel in 30,8–9 und 31,1) zahlreiche Merkmale des Idiolekts Jeremias aufweist (s. jeweils z. St.). Weiterhin wird die Auslegung zeigen, dass die beiden Textgruppen unterschiedliche Lebensverhältnisse ihrer Adressaten widerspiegeln: Die Heilszusagen des poetischen Kerns sind von unverbrauchter Zuversicht auf Heimkehr und Wiederaufbau getragen, während die überwiegend prosaischen Anhänge auf die Ängste von Judäern antworten, die zwar auf heimischer Scholle wohnen und nicht mehr unter Exil und Repression stöhnen, aber ihre Existenz angesichts der trägen Entwicklung ihres Gemeinwesens gefährdet sehen und um ihren Fortbestand ban207

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gen. Demnach sind die Prosastücke jünger als die Poesie, und die literarischen Stratigraphien der beiden Textgruppen sind getrennt zu klären. Es hat Vorteile, dabei mit den prosaischen Anteilen zu beginnen. Dort fällt zuerst auf, dass der entfalteten Vorrede 30,1–3 nochmals die knappe Überschrift V. 4 folgt. Demnach wurde der Vorspann sekundär einem älteren, mit Überschrift eröffneten poetischen Komplex vorangestellt. Die Prosa setzt wieder ein in 31,23–25 mit einem Gotteswort, das im Unterschied zum Rest der Trostschrift allein Juda gilt4 und in V. 25 im Ich Jhwhs endet. V. 26 fährt fort mit dem Ich eines nicht identifizierten Schläfers, der beim Erwachen seinen Schlaf als angenehm bewertet (26c), weil ihm die vorangehenden Verheißungen im Traum zuteilwurden (darüber erwachte ich 26a). Der Sprecher kann jetzt nach dem Kontext bloß Jeremia sein, der die Gottesworte im Schlaf empfangen hat und nun sein zusammenfassendes Urteil darüber fällt. Der spannungsvolle, da nur durch die Unvereinbarkeit der Rederollen markierte Wechsel zwischen den Stimmen Jhwhs und Jeremias deutet darauf hin, dass 31,23–25 sekundär vor V. 26 eingeschoben wurde, der zwar nicht glatt, aber immerhin besser an V. 22 als an V. 25 anschließt. Freilich ist auch der Konnex von V. 22 und 25 sekundärer Natur, ablesbar daran, dass der Kontext von einer Traumoffenbarung nichts weiß. In V. 27–40 setzt die Gottesstimme ihre Verheißungen fort, die also nicht mehr dem Traum entstammen, ohne dass der Abschied von diesem Offenbarungsmodus motiviert wird. Demnach bildet 31,26 ein älteres Schlusswort zum poetischen Kern, während die Vv. 23–25 und 27–40 Erweiterungen bilden. Die Vv. 27–40 sind durch Formeln vom Kommen der Tage (31,27a.31a.38a) und eine prophetische Botenformel (35a) in vier Einheiten gegliedert (Vv. 27–30, 31–34, 35–37, 38–40), die untereinander sowie mit den Vv. 23–25 und dem Vorspann 30,1–3 durch gemeinsame Sprachmerkmale zusammengehalten werden: die Formel vom Kommen der Tage (s. o. und 30,3a); die Formel vom Wenden des Geschicks (30,3b; 31,23b); dazu die Wortgruppe sie werden wieder / nicht (mehr) + Verb (31,23b.29a.34a; vgl. 40bc), die bei negativem Vordersatz (31,29a.34a) durch einen adversativen Nachsatz komplettiert wird (31,30a.34c). Zugleich weisen die Orakel auch Differenzen auf, so ihre schwankende Reichweite: 30,1–3 und 31,27–37 haben einen gesamtisraelitischen Gesichtskreis, während 31,23–25 auf Juda fokussiert ist und 31,38–40 einzig Jerusalem betrifft. Vor allem lassen die Gottesworte unterschiedliche Problemhintergründe erkennen: In 30,1–3 geht es um die Heimführung der Exilanten beider Staaten, während 31,23–25 den Fokus auf die Situation in Juda nach der Heimkehr verschiebt, indem der Passus die erneuerte Heiligkeit des Zion, die Neubesiedlung Judas und die Wiederaufnahme der Landwirtschaft verheißt. In 31,27–37 wird in mehreren Anläufen die dauerhafte Sicherung des Gottesverhältnisses Israels als Vorbedingung seines Überlebens bedacht, bevor schließlich 31,38–40 den angemessenen Wiederaufbau und die künftige Heiligkeit Jerusalems prophezeit. Wenn nicht alles trügt, spiegelt diese fortschreitende Themenverlagerung die sukzessiven Probleme, 4  Vgl. 31,23b.24a v. a. mit 30,3b.4b.7d.10abe.18b; 31,1.2c.4b.7bg.9ef.10d.11a.15bc.18a.20a.21e.27b.​ 31b.​32b.​33b.36b.37d. Das Orakel V. 38–40 ist hier auszuklammern, da auf den Wiederaufbau Jerusalems bezogen.

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die die Judäer von der Hoffnung auf Heimkehr aus dem Exil bis zur erneuten Befestigung Jerusalems unter Nehemia bewältigen mussten. Demnach dürften die prosaischen Rahmenteile der Trostschrift in der Reihenfolge ergänzt worden sein, in der sie heute im Text stehen, und zwar in mehreren Schüben, zumindest: 30,1–3; 31,23–25; 31,27–37; 31,38–40 (zur Begründung s. jeweils z. St.). 31,23–25 wurde der originalen Trostschrift nicht angehängt, sondern eingefügt, weil der Zusatz wie diese die Wiederbesiedlung Judas noch erwartet. Bei dem poetischen Kern der Trostschrift wird diskutiert, ob er eine einheitliche Dichtung bildet, sei sie authentisch (Lohfink, Der junge Jeremia; *Holladay) oder von jüngerer Hand (Schmid), oder ob der Kern auf eine Kombination heterogener, aber in der Mehrzahl authentischer Bausteine zurückgeht (so viele Exegeten). Das Werk auf einen reinen, mehrstufigen Fortschreibungsprozess zurückzuführen (Levin), schließt eine selbstständige Existenzphase aus, was mit dem Nebeneinander von Vorrede und Überschrift schwer zu vereinbaren ist. Die Merkmale des jeremianischen Idiolekts setzen jedenfalls einen hohen Anteil Jeremias an der Verfasserschaft voraus. Der Text ist durch Signale strukturiert, die ihm eine klare Gliederung einstiften (Näheres in der Erklärung), aber auch textgenetische Aussagekraft besitzen. Regelmäßig zeigen prophetische Botenformeln5 den Beginn neuer Abschnitte bzw. Strophen unterschiedlicher Länge an. Dabei markieren die Botenformeln mehrfach entweder keinen Sprecherwechsel (30,12a) oder leiten gar keine Gottesreden ein (30,5a; 31,2a.15a). So erheben sie zwar den gesamten Endtext ungeachtet der jeweils redenden Figuren zum geoffenbarten Gotteswort, aber wenn sie derart unabhängig von den tatsächlichen Sprechern auftreten und zugleich hochgradig mit den Grenzen von Einheiten korrelieren, wurden sie anscheinend großenteils als redaktioneller Kitt geschaffen, um vorgefundene Gedichte zu verknüpfen, die vormals nicht zusammengehörten. Diesen Verdacht erhärten weitere Indizien. In einem Kompositionsprinzip, das ähnlich in Kap. 50 f. wiederkehrt, fügen sich die Teiltexte zu drei Spruchsequenzen zusammen – hier von abnehmender Länge –, die derselben abstrakten Dramaturgie folgen, indem sie von einer schrecklichen Notlage Israels zu seiner Rettung voranschreiten. Das Metanarrativ wird jeweils nach Art eines losen Bilderbogens durch ausgewählte Stationen illustriert. Beim ersten Durchgang *30,5–21 ist diese Struktur allerdings stark verwässert durch mehrere Zusätze,6 deren sekundärer Charakter deshalb hier vorwegnehmend kurz zu begründen ist (Näheres s. jeweils z. St.). Die messianische Heilszusage 30,8–9 kommt vor der Notschilderung Vv. 12–14 zu früh. Die Vv. 10–11 und 22 bilden masoretische Überschüsse, die von den Regeln zur Bezeichnung Israels abweichen, wie sie im älteren Kontext gelten, wo Israel jeweils strophenweise durch verschiedene Namen bzw. symbolische Repräsentanten verkörpert wird. Der alexandrinische Bestand unterscheidet dabei konsequent: Wo über das Volk gesprochen wird, treten männliche Personifikationen auf: Jakob (30,5–7.18–21; 31,10–14), Jakob/Efraim (31,7–9) und Efraim (31,18–20). Dagegen wird bei Anreden zu weiblichen Figuren ge5 30,5a.12a.18a;

31,2a.7a.15a.16a.

6 Vv. 8–9.10–11.15.22.23–24.

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griffen: eine anonyme Gestalt (30,12–14.15.16–17), die Jungfrau Israel (31,2–6.21–22) und Rahel (31,15–17). 30,10–11 hingegen ist an Jakob gerichtete Rede; überdies enthält der Passus ein Merkmal des prämasoretischen Idiolekts (s. z. St.) und kommt vor den Vv. 12–14 ebenso zu früh wie die Vv. 8–9. 30,22 wendet sich an pluralische Adressaten. V. 15 fehlt ebenfalls in AlT und bietet vor allem Dubletten zu den vorausgehenden Versen. Die Vv. 23–24 geben sich durch ihre Ansage einer Generalabrechnung mit den Frevlern als späte eschatologische Zutat zu erkennen (s. z. St.). Nach Abzug der Einschübe ergibt sich für den ersten Durchgang *30,5–21: Einen militärischen Angriff von Dimensionen des Tages Jhwhs (Vv. 5–7) deklariert Jhwh als seine Antwort auf Israels Sündigkeit (Vv. 12–14), um dann den Umschwung zum Heil zu vollziehen, indem er talionische Vergeltung für die Feinde und Heilung für Israel ankündigt (Vv. 16–17; vgl. auch 20c), gipfelnd in einer umfassenden Restitutionsverheißung (Vv. 18–21). Danach zieht die redaktionelle Bundesformel 31,1 ein theologisches Fazit. In dieser Abfolge ist der Blick allein auf das Land, seine Verwüstung und Verluste an Bewohnern gerichtet; vom Exil ist keine Rede; den Zerstörern wird Strafe angedroht (s. o.); Israel wird repräsentiert durch Jakob (30,5–7.18–21) und eine anonyme Frauengestalt (30,12–14.16–17). Der zweite Durchgang 31,2–14 lenkt den Blick auf die Verbannten. Jhwh sagt dem auf dem Heimweg durch die Wüste befindlichen Israel die Wiederherstellung zu (Vv. 2–6) und ermuntert dazu, die Sammlung Israels zu bejubeln (Vv. 7–9) und weltweit zu verkünden (Vv. 10–14). Hier wird Israel durch die Jungfrau Israel (Vv. 2–6), Jakob und Efraim (Vv. 7–9) sowie Jakob verkörpert (Vv. 10–14); Strafen für die Unterdrücker sind kein Thema. Der dritte Durchlauf Vv. 15–22 hebt an mit dem Bild der trauernden Rahel, die ihre verschleppten Kinder beweint (V 15). Jhwh kündigt deren Rückkehr an (Vv. 16–17), schenkt der Reue Efraims Gehör (Vv. 18–19) und gesteht seine Unfähigkeit, ihm sein Erbarmen zu verweigern (V. 20), um abschließend zur Heimkehr aufzurufen (Vv. 21–22). Hier stehen für Israel die Namen Rahel (Vv. 15–17), Efraim (Vv. 18–20) und Jungfrau Israel (Vv. 21–22). Daran fällt zumindest auf, dass die Texte in Jer 30 den Namen Efraim nicht benutzen, das weiblich imaginierte Israel mit keiner Bezeichnung belegen, nicht auf das Exil anspielen und zudem mit einem redaktionellen Fazit schließen (31,1), während umgekehrt die Bestandteile in Kap. 31 kein Wort über die Peiniger Israels verlieren. Eine weitere Spannung ist zu beachten: 30,16a leitet mit !kel' darum eine Strafansage gegen feindliche Unterdrücker ein, der kein geeigneter Schuldaufweis vorausgeht. Diese Indizienlage deutet insgesamt darauf hin, dass am Ursprung der Trostschrift eine redaktionelle Komposition aus älteren Gedichten stand, die ehemals nicht zusammengehörten, aber nach sprachlichen Indizien überwiegend, vielleicht sogar vollständig von Jeremia stammen. Näheres ist im Zuge der Auslegung zu erörtern. Anzeichen jeremianischer Verfasserschaft begegnen namentlich in 30,5b–7.12–14.16–17.18–21; 31,2–6.7–9.10–14.15–22. Dabei ist der Blick nach geographischem Horizont und Metaphorik konsequent auf die Nordisraeliten gerichtet, während der Bezug auf die Katastrophe des Südstaats erst von redaktioneller Hand hergestellt wurde, ein starker Hinweis auf vorexilischen Ursprung. Eine stilistische Gemeinsamkeit springt ins Auge: Auffallend häufig klingen die betreffenden 210

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Stücke in mit durch yKi denn eröffneten Begründungen aus.7 Die genannten Bestandteile samt der redaktionellen Rahmung durch Überschrift (30,4), Zwischenbilanz (31,1) und Schlusswort (31,26), also *30,4–31,22.26, sollen im Folgenden die originale Trostschrift heißen. Wenn der erste Durchgang mit dem redaktionellen Resümee 31,1 abgerundet wird, obwohl gleich darauf der im Kern identische dramatische Bogen bzw. das Metanarrativ von neuem beginnt, ist möglicherweise schon dieses Werk in Schüben herangewachsen. Die Annahme authentischer Materialien in der Trostschrift setzt voraus, dass nur hier jeremianische Heilsorakel erheblichen Umfangs überliefert sind, die überdies an die Nordstämme gerichtet waren (s. u. und die Einzelerklärung). Authentische Worte an Nordisraeliten sind auch in *2,4–4,2 erhalten, doch als Unheilsprophetie, allenfalls mit Ausnahme des Heilsausblicks 3,22–4,2. Man fragt sich indes, was dagegen spricht, dass ein antiker Prophet im Zuge vieljähriger Aktivitäten vor turbulenter politischer Kulisse derselben Gruppe gegenläufige religiöse Botschaften übermitteln konnte. Bestreiter der Echtheit der originalen Trostschrift berufen sich allerdings gern auf ihre stilistische Nähe zum Deuterojesaja-Komplex,8 die ihre Abhängigkeit von Deuterojesaja erweise. Träfe dies zu, wäre jeremianische Autorschaft ausgeschlossen. Die unverkennbaren Anklänge zwischen den beiden Korpora ändern freilich nichts daran, dass signifikante lexikalische Gemeinsamkeiten die originale Trostschrift mit der Poesie des Jeremiabuchs in Kap. 2–23 und 46–49,33 verklammern. Hinzu kommt das Babelschweigen, d. h. das Schweigen zur Identität des fremden Bedrückers, das Jer 30 f. sowohl von seiner Umgebung als auch von Deuterojesaja abhebt,9 aber mit 1–19 und den älteren Bestandteilen von 20–25 wie auch mit 46–49,33 verbindet. Wieso hätte die Trostschrift in Abhängigkeit von Deuterojesaja zum Babelschweigen zurückkehren sollen, und das zu einer Zeit, als das Jeremiabuch bereits freimütig die mesopotamischen Eroberer beim Namen nannte? Wenn es also Einflüsse gegeben hat, dürften sie umgekehrt geströmt sein (mit Ausnahme von 30,10–11 || 46,27–28; s. z. St.). Gesichert ist aber selbst das nicht. Die Trostschrift und Deuterojesaja sind unsere einzigen größeren Literaturkorpora, die die Heimführung der Exilanten hymnisch feiern; nur die Trostschrift bezieht dabei auch die Nordstämme ein. Wir können daher nicht wissen, wann diese Praxis aufkam und sich das literarische Repertoire zu ihrer Ausgestaltung entwickelte. Deshalb bleiben auch die Fragen unbeantwortbar, welche Redeweisen, Bilder und Motive von jeremianischer Heilsprophetie zu erwarten wären – und welche nicht, zumal wenn sie ähnliche Themen wie Deuterojesaja artikulierte. Schon gar nicht zu rechtfertigen wäre die Prämisse, dass der deuterojesajanische Kreis die Poetik seiner Heimkehrerwartungen im Alleingang geschaffen habe; selbst Jeremia dürfte kaum die Zuversicht auf die Repatriierung der Nordisraeliten erfunden haben. Wieso sollte ferner das Aufkeimen solcher Hoffnungen zur (judäischen) Exilszeit wahrscheinlicher gewesen sein als zuvor? Warum sollte 7  Vgl. yKi 30,7b.14c.17ac.21e; 31,6a.9e.20c.22b. Anders geartete Belege finden sich in 31,7a.​11a.​15e.​ 16c.​18g.19ae sowie in MT 30,5a.10c.11ab.12a 8 Vgl. das Verzeichnis der Gemeinsamkeiten bei *Lundbom II 371–373, der jedoch schon bei sehr schwachen Übereinstimmungen Parallelen diagnostiziert. 9 Vgl. Jes 43,14; 47,1.5; 48,14.20.

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Die Trostschrift

jemand nach 587 Heimkehrverheißungen geschaffen haben, die derart spezifisch auf die Nordstämme zugeschnitten – und somit begrenzt – waren, wie es hier bei mehreren Gedichten der Fall ist (s. u.)? So ergibt sich folgendes Wachstumsmodell: Zu Beginn komponierte ein Redaktor aus ganz oder überwiegend jeremianischen Gedichten die originale Trostschrift, umschlossen von der Überschrift 30,4 (ohne die Syndese mit w> 4a) und dem Schlusswort 31,26. Da das Werk den Mantiker, der sich dort zu Wort meldet, nicht namentlich identifiziert, muss es für Kreise bestimmt gewesen sein, denen die Herkunft von Jeremia bekannt war. Später fügte ein Redaktor das Werk, ergänzt um die Vorrede 30,1–3, in das Jeremiabuch ein. Zu späteren Zeitpunkten traten in einem gestaffelten Prozess der Einschub 31,23–25 und die Anhänge Vv. 27–40 hinzu (s. o.). Ergebnis war der Komplex, der hier die Trostschrift oder genauer die gerahmte Trostschrift heißt. Durch den Zusatz der Kap. 32 und 33 wuchs daraus die erweiterte Trostschrift heran. Das diachrone Verhältnis von 31,27–40 und 32–33,13 lässt sich kaum näher klären. Die Terminologie gehorcht also folgender Konvention: *30,4–31,22.26: Originale Trostschrift 30–31: (Gerahmte) Trostschrift darin: 30,1–3 Vorspann, Einschub 31,23–25 und 31,27–40 Anhänge zur originalen Trostschrift 30–33: Erweiterte Trostschrift

An wen war die originale Trostschrift gerichtet? Die prosaischen Zusätze sehen die Gottesworte an Israel (31,1.33.36.37), Israel und Juda (30,3.4; 31,27.31) und Juda allein (31,23–25) gerichtet, während der poetische Kern bloß von Israel redet. Juda kommt nur indirekt zur Sprache durch die Nennung des Zion als Wallfahrtsziel der Befreiten (31,6.12); dazu wurde in 30,17d MT die namenlose gepeinigte Frau per Verschreibung mit Zion identifiziert (TK). Während Judäer die Termini Israel und Jakob oder die anonyme Frauenfigur ohne Weiteres auch auf sich beziehen konnten, war dieser Weg versperrt bei Efraim (31,9.18.20), Rahel und ihren Kindern (d. h. Efraim, Manasse und Benjamin als Vertreter der Nordstämme 31,15–17) sowie jenen topographischen Angaben, die das Geschehen in den Territorien des Nordstaats verorten: die Berge von Samaria (31,5) und das Gebirge Efraim (31,6). Somit beherrschen die eindeutigen Ausdrücke für die Nordstämme gerade die Bilder von der Rückkehr aus der Verbannung. Demnach verhieß der ursprüngliche Zyklus einzig die Heimholung der Nordisraeliten; man fragt sich daher, ob die Überschrift in 30,4b ehemals nur Israel nannte. Der Beginn des Dokuments spricht jedoch dagegen. 30,5–7 proklamiert einen Tag (30,7b), der laut 7d für Jakob eine Zeit der Bedrängnis heraufführt und gegenwärtig ist oder unmittelbar bevorsteht, wie die in V. 5–6 beschriebenen Reaktionen bezeugen. Mit einem solchen, aus der Vorstellung vom Tag Jhwhs abgeleiteten Szenario (s. z. St.) charakterisiert man keine ausgedehnte Epoche des Elends, sondern den Hereinbruch eines militärischen Desasters. Nun war die Strophe auch auf den Untergang des Nordstaats (722) beziehbar, was den Anfang des geschichtlichen Panoramas der Trostschrift weit in die Vergangenheit verschöbe. Nach 587 gelesen, war der Passus jedoch viel stärker auf die rezente Katastrophe Judas 212

Die Trostschrift

30–31

hin transparent, zumal er an den Zyklus vom Feind aus dem Norden anklingt (vgl. 6,14.24). Obendrein vergegenwärtigt gerade das ehemals nächste Gedicht 30,12–17 das Kriegsopfer durch die namenlose Frau, in der sich die Judäer mühelos wiedererkennen konnten, insbesondere da Jeremia auch andernorts Juda und Jerusalem mit ähnlichem Vokabular in einer leidenden weiblichen Figur personifizierte (z. B. 10,19; 14,17; 22,20.22). Laut diesen Indizien reihte der Schöpfer der originalen Trostschrift vorgefundene, ursprünglich auf die Nordstämme bezogene Texte derart aneinander, dass sie auf die Exilskatastrophe Judas und die erhoffte Heimkehr aller versprengten Mitglieder des Jhwh-Volks hin durchsichtig wurden. Er erweiterte also die Stoßrichtung von einst nur den Nordisraeliten gewidmeten Prophetenworten auf Juda, ähnlich wie dies auch bei *2,4–4,2 geschah, dort freilich vor allem durch Zusätze wie den prämasoretischen Auftakt 2,1–2b* und die Einschübe 2,28 und 3,6–18. Der Wunsch nach Expansion der Gültigkeit erklärt die Eigenart des Dokuments, die historische Konkretion auf ein Mindestmaß zu beschränken; so erfährt man namentlich gar nichts über die Identität der Sieger, und die Verbannung wird bloß vage im Nord[land] lokalisiert (31,8). Um die Mehrdeutigkeit seiner Komposition zu sichern, musste der Redaktor wohl kaum mehr tun als das für Jeremia typische Schweigen zur Identität der Eroberer beizubehalten oder, sollte dies tatsächlich einmal erfordert gewesen sein, es selber herzustellen. Weil der Redaktor infolgedessen Verheißungen der Sammlung von Nordisraeliten per Rekontextualisierung auf Judäer ausdehnte, hat er mit mehrheitlich jeremianischen Dichtungen Heilsprophetie für Juda geschaffen. Sein Verfahren der Reapplikation steht im Buch freilich nicht einzigartig da: Wie die Parallelen 6,22b–24 || 50,41–43 und 49,19–21 || 50,44–46 belegen, konnte man dieselben Textbausteine, kaum mehr als nötig abgewandelt, auf verschiedene Referenzgrößen (Jerusalem, Edom, Babylon) anwenden. Folglich spiegeln die Adressatenangaben Israel und Juda in der Überschrift 30,4 die Ausrichtung der originalen Trostschrift korrekt wider und geben keinen Anlass zu literarkritischen Rekonstruktionen. Die ehemals an die Nordstämme gerichteten Stücke dürften aus dem Intervall zwischen dem Ende der assyrischen Präsenz (623?) und der neuen Vasallenherrschaft der Ägypter stammen, die Psammetich I. (664–610) mit leichtem Zeitverzug in der Levante vorantrieb und die zwischen 615 und 610 den westjordanischen Bergrücken erreicht haben dürfte (Schipper; vgl. auch zu Kap. 46). Die Rückkehrverheißung 31,7b–9 verrät darüber hinaus in 8d (hN"he hierher) einen judäischen Verfasserstandort. Diese Texte bestätigen somit das vom Buch gezeichnete Bild, dass Jeremia bereits unter Joschija als Prophet auftrat (1,2; 3,6; 25,3; 36,2; vgl. 26,1–2), und sie stützen die Hypothese, dass er damals theologische Konzepte verfocht, die typischen religiös-politischen Ambitionen dieses Königs nahestanden. Dabei machte er sich auch Hoffnungen zu eigen, die im Gefolge des rapiden Verfalls der assyrischen Macht erwarteten, dass die Nachkommen der von den Assyrern im späten 8. Jh. verschleppten Exilanten (vgl. 2 Kön 17,6) nach Israel heimkehren und sich kultisch an das Zentralheiligtum in Jerusalem binden würden. Die thematische Eigenart der authentischen Bausteine der originalen Trostschrift erklärt, warum weder JerDtr I noch JerDtr II 213

30–31

Die Trostschrift

diese jeremianischen Dichtungen in ihr Werk aufnahmen: Heilsprophetie für die Nordstämme war nicht ihr Anliegen. Was die Entstehungsumstände der Komposition angeht, so ist die originale Trostschrift, bedingt durch ihr Material, weiterhin von optimistischen Rückkehr‑ und Wiederaufbauhoffnungen beflügelt, die sich mittlerweile auf Juda ausgedehnt haben, aber noch ihrer Erfüllung harren. Dies weist auf einen Zeitpunkt um den Anbruch der Perserherrschaft (539), als sich die Möglichkeit zur Heimkehr abzeichnete, die hier aus einer judäischen Warte begrüßt wird. Ferner reflektiert der messianische Nachtrag 30,8–9 wahrscheinlich den davidischen Enthusiasmus um Serubbabel (s. z. St.). Dagegen haben die Anhänge 31,27–40 das Thema Rückkehr hinter sich gelassen, um stattdessen heimischen Adressaten recht bescheidene Restitutionszusagen zu verkünden, die auf prekäre Lebensumstände zugeschnitten sind. Israels Fortbestand erscheint nach wie vor gefährdet, weswegen Jhwh ihn eigens garantieren muss (31,36–37): Bevölkerungsdichte und Wirtschaft dümpeln kümmerlich dahin (31,24–25.27–28); die Hauptstadt wartet auf ihre Befestigung (31,38–40); und die trostlosen Verhältnisse halten die Frage nach der Haftung für die Schuld der Väter aktuell (31,29), sodass die Möglichkeitsbedingungen des Überlebens Israels von Gott her zu klären sind (31,30–34). Daher dürften die Anhänge (vielleicht von 31,38–40 abgesehen) nicht viel jünger sein. Allerdings sind sie wohl später als 32* hinzugetreten, denn 32,1–36.44 prophezeit die Wiederherstellung im Land, während 31,37–40 mit Problemen der Existenz im Land befasst ist. Jer 30–31 stellt die Exegese vor besondere Herausforderungen, denn die originale Trostschrift enthält den wohl geheimnisvollsten Passus des Buches: Jhwh hat Neues geschaffen [auf der Erde] – Weibliches umschirmt den Mann (31,22bc). In den Prosarahmen ist überdies die meistkommentierte Perikope des Buches eingegangen: die Verheißung des Neuen Bundes (31,31–34).

214

30,1–31,26

Die originale Trostschrift mit Vorrede Erklärung 30,1–3 1  a  Das Wort, ​ b  das an Jeremia von Jhwh erging: ​ 2  a  So spricht Jhwh, der b1  Schreib [dir] alle Worte, ​ c  die ich zu dir geredet habe, ​ b2  in Gott Israels: ​ 3  a  Denn siehe: Tage sind am Kommen  – Spruch Jhwhs  –, ​ b  da ein Buch! ​ c  spricht Jhwh. ​ werde ich das Geschick meines Volkes Israel und Juda wenden, ​ d  Ich werde sie zurückführen in das Land, ​ e  das ich ihren Vätern gegeben habe, ​ a f  damit sie es in Besitz nehmen. 3 a Formation w˙=yiqtul für Finalsatz.

Literatur: W. McKane, Jeremiah 30,1–3, Especially ‚Israel‘, in: F. García Martínez (Hg.), The Scriptures and the Scrolls (FS A. S. van der Woude; VT.S 49), Leiden 1992, 65–73. K. Schmid, Schrift und Schriftmetaphorik in der Prophetie des Jeremiabuchs, in: F.-E. Focken, M. R. Ott (Hg.), Metatexte. Erzählungen von schrifttragenden Artefakten in der alttestamentlichen und mittelalterlichen Literatur (Materiale Textkulturen 15), Berlin 2016, 123–144. I. Willi-Plein, ŠWB ŠBWT.

Die der originalen Trostschrift bei ihrem Einbau in das Buch vorgeschaltete prosaische Einleitung hebt an mit der Relativsatz-Variante der Wortereignisformel (V. 1), die einen Neuanfang setzt. In seiner Rede befiehlt Jhwh dem Propheten, alle Worte, die ich zu dir geredet habe, niederzuschreiben (2b1c). Dieselbe Wendung kehrt wieder in 36,2bc1, wobei Jhwh dort allerdings mit Rücksicht auf die spätere Ausweitung der „Urrolle“ (36,32) die – streng genommen überflüssige – Präzisierung anbringt, Jeremia solle alles festhalten, was Jhwh bis heute (36,2c2) zu ihm geredet habe. In 30,2 fehlt eine solche Einschränkung. Deshalb gilt hier umso mehr: Der Prophet soll das Gesamt der ihm erteilten Offenbarungen in einem Buch dokumentieren, das natürlich kein anderes ist als das vorliegende Werk. Mithin kommt der göttliche Auftrag dem Anspruch gleich, dass das Jeremiabuch eben diese Totalität enthält. Der Auftrag wird begründet mit einer baldigen umfassenden Heilswende, prophezeit unter der Formel Siehe, Tage sind am Kommen (3a),1 die kein einzelnes Ereignis ankündigt, 1  31,27a.31a.38a; 7,32; 9,24; 16,14; 19,6; 23,5.7; 33,14 MT; 48,12; 49,2; 51,47MT.52; 1 Sam 2,31; 2 Kön 20,17 (|| Jes 39,6); Am 4,2; 8,11; 9,13; vgl. Sach 14,1 (Kon 60).

215

30,1–3

Die originale Trostschrift mit Vorrede

sondern eine Epoche ganz neuer Qualität, deren Besonderheit anschließend durch kennzeichnende Geschehnisse charakterisiert wird (Levin, Verheißung 22–31). Was die neue Ära auszeichnen soll, ist eine neue Landnahme für Israel und Juda, wie der Sprachgebrauch durch einen Finalsatz (3f) mit der Verbindung von vry in Besitz nehmen, erobern und #r du aber, wohl inspiriert von Jes 41,8 (s. u.), in 46,27a nach den Ägyptengedichten 46,2–25 kontextgerecht, weil dort die Rettung Jakobs mit dem Unheil Ägyptens kontrastiert, aber nicht hier.19 Ferner  Vgl. z. B. auch Mi 4,8; 5,1; ferner Jer 7,16a || 11,14a; 15,19h; 32,25a; 45,5 u. a.

19

223

30,10–11

Die originale Trostschrift mit Vorrede

korreliert das Drohwort 11bc zwar mit dem Kontext in den Fremdvölkerorakeln, steht in der Trostschrift hingegen isoliert. Dazu treten lexikalische Brücken zu den Fremdvölkersprüchen (s. u.). Überdies enthält V. 11 mit der Wendung von der Zerstreuung unter alle Nationen (~yIAGh;-lk'B.) ein Merkmal des prämasoretischen Idiolekts, das in 46/26,28 AlT fehlt (dort: yAG-lk'B. in jeder Nation; TK). Zu alldem scheren die Vv. 10–11 aus dem üblichen Muster der originalen Trostschrift aus, für Anreden Israels weibliche Personifikationen zu wählen (s. Textgenese). Folglich wurde das Gedicht zunächst in die Fremdvölkersprüche eingeschrieben und später wegen seiner Affinität zur Trostschrift in 30,10–11 MT unter geringfügiger Modifikation verdoppelt; v. a. hat man in 10a.11a die Gottesspruchformel Spruch Jhwhs sowie in 11a auch noch die Präzisierung um dich zu retten hinzugesetzt (vgl. 15,20a; 42,11d), während 46,28a als Wiederholung von 27a || 30,10a entfiel. 30,10–11.23–24 sind damit buchinterne Beispiele für die Sekundärverwendung, die die Glieder des Zyklus generell auszeichnet. Nach der textdramaturgisch verfrühten messianischen Verheißung Vv. 8–9 sollten die Vv. 10–11 sogleich klarstellen, dass der Herrschaftsantritt des neuen Davids mit der Sammlung der Diaspora einherginge. 30,10–11  || 46,27–28 ragt durch ausgeprägte Gemeinsamkeiten mit dem Deuterojesaja-Komplex (Jes 40–55) hervor, denn den Passus verbinden enge strukturelle und lexikalische Parallelen mit den fünf Heilsprophezeiungen Jes 41,8–13.14–16; 43,1–4.5–7; 44,1–5, die in wechselnder Terminologie mal als separate Gattung namens „Heilszusage“ oder „Heilsorakel“ klassifiziert werden, mal als Untergattung einer breiteren Textsorte „Heilsorakel“ gelten (abgeleitet von „priesterliches Heilsorakel“, einem Terminus von J. Begrich, der als Sitz im Leben eine Institution der priesterlichen Orakelerteilung postulierte, was sich jedoch nicht bestätigen ließ). Die Heilsworte verbindet ein hoch distinktes Bündel von Merkmalen: (1.) Jhwh wendet sich in direkter Anrede einer Figur zu, die (2.) durchweg die parallelisierten Namen Jakob und Israel trägt (Ausnahme: Jes 43,5–7, sofern der Passus eine von 43,1–4 getrennte Einheit bildet), wiederholt begleitet von (3.) dem Ehrentitel yDIb.[; mein Knecht (10a; 46,27a.28a; Jes 41,8.9; 44,1.2). Niemals fehlt (4.) die Beruhigungsformel fürchte dich nicht. Weiterhin (5.) erinnert Jhwh an vergangene Heilstaten und/oder bekräftigt seinen gegenwärtigen Beistand. Damit untermauert er die Glaubwürdigkeit (6.) seiner Zusagen für die Zukunft und (7.) der Beschreibung der Folgen für Jakob. Ähnlich strukturierte Sprüche treten auch in neuassyrischen Prophetien aus dem 7. Jahrhundert auf (einschließlich der Beruhigungsformel auf Akkadisch), die an die Könige Asarhaddon (681–669) und Assurbanipal (669 bis ca. 630) gerichtet waren, ohne dass ein literarischer Zusammenhang bestehen kann, da die betreffenden Tontafeln zur Zeit des deuterojesajanischen Kreises am Ende der babylonischen Epoche schon seit mehreren Jahrzehnten unter den Trümmern Ninives, das 612 zerstört worden war, verschüttet lagen. Es muss sich folglich um eine Gattung handeln, die im Mesopotamien des 7./6. Jahrhundert geläufig war, allerdings  – sofern die Bezeugungslage nicht trügt – normalerweise Heilsorakeln für Könige vorbehalten blieb. Sie wurde dann im AT per kühner Kontrafaktur auf das exilierte, gedemütigte Jakob/ Israel übertragen (Weippert), um es mit einem eindrucksvollen Ausweis seiner Würde zu versehen. 224

Die originale Trostschrift mit Vorrede

30,10

Im AT überliefern die Dubletten in Jer das einzige Exemplar der Gattung außerhalb des Häufungszentrums Jes 41–44. Die Übereinstimmungen beschränken sich nicht auf strukturelle Merkmale, sondern schließen mit dem Namensduo Jakob/Israel und der Beruhigungsformel spezifische lexikalische Gemeinsamkeiten ein. Der Beginn mit bqo[]y: yDIb.[; ar"yTi-la; hT'a;w> du aber, fürchte dich nicht, mein Knecht Jakob 10a erscheint inspiriert von Jes 41,8 ^yTir>x;B. rv,a] bqo[]y: yDIb.[; laerf.yI hTa;w> du aber, Israel, mein Knecht, Jakob, den ich erwählt habe. Die Beistandsformel ynIa] ^T.ai ich bin mit dir 11a hat Parallelen in Jes 41,10; 43,2.5. Daher ist fest damit zu rechnen, dass 46,27–28 von den Stücken bei Deuterojesaja literarisch abhängt; von dort wurde das Gedicht in die masoretische Ausgabe der Trostschrift kopiert. Doch obwohl wahrscheinlich von deuterojesajanischen Vorbildern beeinflusst, trägt das Heilswort für Jakob einen für das Jeremiabuch typischen Stempel. Bestimmte Merkmale verknüpfen das Gedicht mit den Fremdvölkersprüchen, eines der Indizien, dass dort seine ursprüngliche Heimat zu suchen ist. Das Verbenpaar jqv Ruhe haben und !nav sorglos sein 30,10fg ist sonst nur in 48,11 belegt; die Anlehnung an dieses Vorbild könnte auch den Wechsel der Referenz auf Jakob zur 3. Person in 10e–g veranlasst haben. Der Ausdruck ganz ungestraft lassen 11f mit hqn-D kehrt wieder in den alexandrinischen Fassungen von 25,29 und 49,12 (dort mit hqn-N; für den D-Stamm vgl. ferner Nah 1,3 und die sog. Gnadenformel Ex 34,7 || Num 14,18; Kon 92). Bei den Übereinstimmungen mit dem Rest des Buches sind die Abhängigkeitsverhältnisse schwieriger zu beurteilen. Die Ankündigung 11d ich werde kein Ende machen hat Parallelen in 4,27; 5,10.18 (Kon 68), die sämtlich sekundären Einsprengseln angehören, und die Fortsetzung 11e ich werde dich in rechtem Maß züchtigen antwortet heute auf die entsprechende Bitte 10,24 (vgl. Jes 28,26; weitere Einzelheiten bei Huwyler, Jeremia und die Völker 130 Anm. 245). Der adversative Auftakt mit hT'a;w> du aber 10a erklärt sich aus dem ursprünglichen 10 Ort des Orakels nach 46,2–25 (s. o.). Das Heilswort stellt die prägnantesten gattungstypischen Züge an den Beginn: die Beruhigungsformel, hier gesteigert zu ihrer zweigliedrigen Form: fürchte dich nicht  – verzage nicht 10ab (1,17 AlT; Dtn 1,21; 31,8 u. ö.; Kon 62; vgl. Jer 23,4), wobei die Anreden als Jakob und Israel auf die beiden Hälften und somit auf die beiden Kola der ersten Verszeile aufgeteilt sind. Wie sich in 11bc herausstellt, ist der Blick hier über das Exil hinaus auf die Diaspora geweitet. Der Name Jakob spricht die Versprengten primär auf ihre soziale und religiöse Verfasstheit an, nämlich als Nachkommen eines gemeinsamen Stammvaters, die in einer exklusiven Beziehung zu Jhwh stehen, während Israel den Ton auf ihre politische Identität legt; alle diese Grundlagen ihrer Existenz, so die Botschaft, haben auch in der Schmach der Niederlage und der Verbannung ihre Gültigkeit bewahrt. Jakob ist zusätzlich mit dem Titel mein Knecht versehen (s. zu 27,6), der, bezogen auf Jhwh, im AT für einen engen Kreis von Figuren reserviert ist (Kon 100), in Jer sonst nur für die Propheten (7,25; 25,4 u. ö.) sowie – in der masoretischen Ausgabe – Nebukadnezzar (MT 25,9; 27,6; 43,10) und David (MT 33,21.22.26). Das Prädikat lebt davon, dass db,[, Knecht Untergebene auf jeder Hierarchiestufe bezeichnen kann bis hinauf zur obersten Ebene unterhalb des Königs, also bis zu solch ehrenvollen Ämtern wie dem eines Ministers (2 Kön 22,12) oder Oberkommandierenden der Streitkräfte (2 Sam 18,29). Wie der Kreis der Träger zeigt, hat die Bezeichnung als Knecht Jhwhs kei225

30,10

Die originale Trostschrift mit Vorrede

nen sehr spezifischen Inhalt, bringt aber jedenfalls eine herausragende Würde und Wertschätzung in den Augen Jhwhs zum Ausdruck, hier noch gestützt durch die einbettende Gattung (s. o.). In diesen erlesenen Zirkel darf sich auch das geschlagene, verachtete und entwurzelte Israel insgesamt aufgenommen wissen; die Abkunft von Jakob verleiht seinem Gottesbezug ein unverbrüchliches Fundament, das auch durch die schrecklichsten Krisen nicht zu zerstören ist. Die Beruhigungsformel fürchte dich nicht ist auch als Ermutigungsformel bekannt, doch soll sie ihre Empfänger häufig nicht zu eigenen Taten bestärken, sondern – wie hier – von ihrer Angst befreien, indem der Kontext auf kommendes Wirken Jhwhs verweist, das die Ursachen der Furcht beseitigen wird. Die Wendung entstammt der alltäglichen Kommunikation20 und ist von dort in verschiedene Formen des religiösen Heilszuspruchs vorgedrungen, wie im AT bezeugt: Gottesrede, direkt vollzogen (Gen 15,1; 26,24 u. ö.) bzw. vermittelt durch den Jhwh-Boten (z. B. Gen 21,17; 2 Kön 1,15) oder Propheten (z. B. 2 Kön 19,6; Jes 7,4); ferner gehört sie zur Ermutigungsansprache in der sakralen Kriegsführung (Ex 14,13; Dtn 20,3). In 10ab spiegelt sie indirekt das Leben der Verbannten als einen Abgrund von Furcht und Schrecken. Doch damit wird es nun ein Ende haben, denn Jhwh kündigt mit der verbalen Kategorie für die nahe Zukunft (Futurum instans; s. zu 3a) die baldige Wende an. Die Zusage 7e bekräftigend, beteuert er, er werde Jakob aus der Ferne erretten und seine Nachkommenschaft aus dem Land ihrer Gefangenschaft (10cd). Die Ortsangaben lokalisieren die Verschleppten lediglich in einem unbestimmten, weitab gelegenen Irgendwo. Die mangelnde historisch-geographische Konkretion bestreitet den Siegermächten implizit ihre Bedeutung und stellt zugleich sicher, dass die Trostschrift auch hinsichtlich der Deportierten auf Israeliten wie Judäer anwendbar bleibt, wie es für das Werk durchgehend zutrifft. Nachdem das Heilswort so das rettende Eingreifen Jhwhs prophezeit hat, fährt die Rückkehrverheißung 10e–h fort mit der Beschreibung der Folgen. Sie verweist – veranlasst durch die Vorbilder 48,11ab und 7,33b? – auf Jakob in 3. Person und betont das ruhige, unbedrohte Leben in der Heimat, was auch den Wünschen der Nichtexilierten und bereits Repatriierten entsprochen haben dürfte. Weil die Versicherung dyrIx]m; !yaew> und niemand stört (ihn) auf 10h ein von der Wurzel ḥrd abgeleitetes Verb benutzt, ist sie im Hebräischen lesbar als Zusage, dass das in 5b erwähnte Angstgeschrei (hd"r"x] lAq) sein definitives Ende finden wird, denn hd"r"x] Angst ist ein Derivat derselben Wurzel. – Die Sätze 10d–g sind durch Alliterationen besonders sorgfältig gestaltet: In 10de folgen ~y"b.vi šiby=am und bv'w> w˙=šāb aufeinander; die Sätze 10e–g beginnen einheitlich mit der Anapher ‑v'w> bzw. ‑v;w> w˙=ša‑. 11 Durch yKi denn markiert, steuert der Kausalsatz 11a ein weiteres gattungstypisches Element bei, indem er die Gültigkeit der vorangegangenen Ansagen glaubhaft zu machen sucht. Den Sachgrund für die Zuverlässigkeit der Verheißungen bündelt er in der Beistandsformel ich bin mit dir (11a), die gegenüber dem Original 46,28b um den finalen Infinitiv um dich zu retten aus 15,20d (vgl. 42,11d) erweitert ist, der Jhwhs heilvolle Absicht nochmals ausdrücklich hervorhebt. Dazu bestand Anlass, denn wenn das Orakel anschließend den konkreten Vollzug seiner Hilfe für Jakob/Israel  Z. B. Gen 35,17; 43,23; 1 Sam 22,23.

20

226

Die originale Trostschrift mit Vorrede

30,11

entfaltet, schlägt es einen für Heilsprophetie erstaunlichen Weg ein. Im Rahmen des Erwartbaren bleibt noch, dass Jhwh laut 11bc allen Völkern, unter die die Israeliten versprengt sind, ein Ende machen, d. h. dem Wortsinn nach: ein Ausrottungsgericht an ihnen vollstrecken wird, obwohl seine Formulierung unterstreicht, dass er selbst die Zerstreuung ins Werk gesetzt, also durch diese Völker gehandelt hat. Doch den Heilsgewinn für Jakob/Israel umschreibt 11d rein negativ: Bloß dir mache ich kein Ende, mit adversativem Auftakt ^t.ao %a; bloß dir, der einen deutlichen Kontrastfokus zu 11b stiftet, und mit einer Wendung, die 4,27 und 5,10.18 aufnimmt. Jhwh werde Jakob also bei der blutigen Abrechnung mit den Kerkermeistern ein verlustreiches, aber insgesamt glimpfliches Entkommen bescheren. Den Grund für diese bescheidenen Aussichten nennen die Schlusssätze 11ef: Ich werde dich in rechtem Maß züchtigen, doch ganz ungestraft lasse ich dich nicht. Das Finale bringt eine höchst ungewöhnliche Heilsprophetie hervor, die eine Strafansage für ihre Empfänger einschließt. Der Heilsaspekt besteht dann in einer Mäßigung der auferlegten Sühne, wobei die Strafe in der erzählten Zeit für das in der Welt zerstreute Jakob/Israel noch anhält, während die Milderung angekündigt wird (10c–h). Zur heilvollen Dimension trägt ferner bei, dass die Ankündigung auf Buchebene die Bitte 10,24 um eine gerechte, nicht vom Zorn verblendete, also maßvolle Ahndung erhört. Der Strafgrund wird nicht ausgesprochen, gilt somit als nicht mehr erörterungsbedürftig, da bekannt. Theologisch bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Züchtigung Israels als Ausschnitt eines umfassenden Gerichts beschrieben wird, das sowohl das Opfer als auch die Vollstrecker heimsucht. Indem die Völker als Werkzeuge Jhwhs an Israel das Gericht vollziehen, laden sie selbst Schuld auf sich und verfallen ihrerseits jenem Gericht, an dem sie mitwirken und das als mehrstufiges, aber einheitliches Geschehen begriffen wird. Dabei steht die den Vollstreckern drohende Komponente samt Verschonung Israels bei der Offenbarung des Heilsorakels noch aus. Das Konzept impliziert eine beachtliche Neubewertung des notvollen Schicksals des Gottesvolkes: Jhwhs Unheilswirken gilt gar nicht Israel, sondern dessen Feinden (11bc); was Israel betrifft, hat Jhwh vielmehr seine Rettung im Sinn (11a), greifbar in der Heimführung zu einem unbedrohten Leben auf eigenem Grund und Boden (10e–h). Wenn auch Israel in Mitleidenschaft gezogen wird, so lediglich deshalb, weil sein Verschulden Jhwh keine andere Wahl lässt (11ef). Die Strafe ist eine Maßnahme göttlicher Pädagogik im Dienste von Israels Besserung. Damit werden die Sünden Israels nicht geleugnet, doch verblassen sie im Vergleich mit den Untaten seiner Bedrücker. Diese Geschichtstheologie nimmt Israel einen Großteil der Bürde seiner Vergangenheit und lässt es mit neuer Zuversicht nach vorne schauen. Dafür wird eine ungewöhnliche und sichtlich literarisierte Form der Heilszusage ausgebildet, die abweichend von den Regeln der Gattung mit Zügen des Verschonungsorakels verschmolzen ist, das seinem Adressaten das Davonkommen in einer Katastrophe verheißt,21 aber hier mit der Besonderheit, dass der Empfänger selbst für das Unheil verantwortlich gemacht wird. – Eine ähnliche Deutung der Katastrophe Judas als Bestandteil eines übergreifenden Gerichts findet sich, ebenfalls markiert durch den Ausdruck nicht ungestraft lassen (dort im Passiv), in einem Einschub zur Becherperikope 25,27–29 (s. z. St.). 21 34,2–5;

39,16–18; 45,4–5; s. z. St.

227

30,12–17

Die originale Trostschrift mit Vorrede

30,12–17 12  a  13 14

[Denn] so spricht Jhwh: b Heillos ist [es mit] deinem / der Schaden, c unheilbar ist deine Wunde. a Niemand tritt für dein Recht ein – bei einem (solchen) Geschwür!a b Heilung durch Vernarbung gibt es nicht für dich. a Alle deine Liebhaber haben dich vergessen; b [um dich] kümmern sie sich nicht. c Denn mit einer Wunde von Feinden (verabreicht) habe ich dich geschlagen als grausame Züchtigung wegen deiner vielfachen Schuld. d Aufgetürmt haben sich deine Sünden. 15 a [Was schreist du über deinen Schaden?] b [Heillos ist dein Schmerz?!] c1 [Wegen deiner vielfachen Schuld] d [– haben sich doch aufgetürmt deine Sünden –] c2 [habe ich dir dies angetan.] 16 a Darum werden alle, die dich fraßen, gefressen, b und alle deine Widersacher  – sie alle werden in die Gefangenschaft gehen. c Die dich ausplünderten, werden der Plünderung verfallen; d und alle, die dich beraubten, gebe ich dem Raub preis. 17 a Denn ich bringe dir Genesung herbei, b und von deinen Wunden werde ich dich heilen – Spruch Jhwhs –; c weil sie dich „die Verstoßene“ nannten: d „Zion ist das – (AlT: Unsere Jagdbeute ist sie), e niemand schert sich darum.“ 13 a Die Übersetzung ist ein Versuch, die tiberische Interpretation des schwierigen masoretischen Textes wiederzugeben.

Literatur: H. Jacobson, Jeremiah XXX 17: ayh !wyc, VT 54 (2004) 398–399. A. Kalmanofsky, Israel’s Open Sore in the Book of Jeremiah, JBL 135 (2016) 247–263. C. J.  Sharp, Mapping Jeremiah as/in a Feminist Landscape. Negotiating Ancient and Contemporary Terrains, in: C. Maier, C. J. Sharp (Hg.), Prophecy and Power, 38–56. W. van Heerden, Preliminary Thoughts on Creativity and Biblical Interpretation with Reference to Jeremiah 30:12–17, OTE 6 (1993) 339–350.

Die Passage bildet auf der Ebene der Endkomposition einen geschlossenen Abschnitt, denn sie beginnt erneut mit einer prophetischen Botenformel (12a). Ferner wird Israel/Juda erstmals in der vormasoretischen Trostschrift angeredet und daher durch eine Frau verkörpert. Die ursprünglich namenlose Gestalt wurde erst im masoreti228

Die originale Trostschrift mit Vorrede

30,12–17

schen Strang der Texttradition mit Zion identifiziert (17d; TK). In V. 18–21 kehrt die symbolische Repräsentanz mit dem Wechsel der Sprechrichtung wieder zu Jakob zurück. Dem Stück eignen Strukturmerkmale des prophetischen Gerichtsworts: Nach der prophetischen Botenformel dient die Not der Frau als Begründung für ein Strafurteil über die (menschlichen) Verursacher, das in V. 16 nach dem gattungstypischen !kel' darum ausgesprochen wird. Gleichwohl ist das Segment auch nach Abzug der Botenformel kaum einheitlich. In 12b–14 wird das Leid der anonymen weiblichen Figur von einem Sprecher beschrieben, den die Botenformel als Jhwh kenntlich macht, was 14c bestätigt, wenn der Redner dort das Unheil der Frau auf sein eigenes Strafhandeln wegen ihrer Sündenschuld zurückführt. Nach sprachlichen Indizien entstammt das Bruchstück der Feder Jeremias: Die Kollokation von rb,v, Zusammenbruch, Schaden und hl'x.n: hK'm; unheilbare Wunde 12bc findet sich auch in 10,19ab und 14,17b (dazu nochmals hl'x.n: hK'm; in 30,17b AlT, wohl aufgrund von Konflation mit 12c). Zu !yDI !yd eine Rechtssache führen, für jmds. Recht eintreten 13a vgl. 5,28; 22,16. Die Ausdrücke ha'Wpr> Heilung und %l' !yae hl'['T. Vernarbung gibt es nicht für dich 13b kehren – ebenfalls in Kontaktstellung – in 46,11cd wieder (ha'Wpr> sonst nur Ez 30,21; hl'['T. II Vernarbung, wörtlich Wundüberzug, Schorf sonst nur 48,2a AlT). Die medizinische Terminologie verstärkt das jeremianische Kolorit, und die Repräsentation von Israel und Juda/Jerusalem/Zion durch eine namenlose Frauenfigur gehörte zu den bevorzugten Stilmitteln des Propheten.22 14cd ist mit der ähnlichen Formulierung in 5,6ef zu vergleichen. In V. 15 führt Jhwh die Notschilderung fort und betont erneut seine Motive für die Züchtigung, aber der Vers fehlt in AlT und geht aufgrund mehrerer Wiederholungen von Wortgruppen und Lexemen aus V. 12–14 wenig über eine Variation dieses Vortextes hinaus (TK). Hier ist wohl eine späte, verstärkende Glosse eingedrungen. Die Vv. 12–14(15) schauen auf das eingetretene Unheil zurück und waren daher ehemals auf Nordisrael gemünzt. Die Strafansage über die Feinde der Frau V. 16 ist durch darum 16a als Vergeltung für die zugefügten Schmerzen ausgewiesen, obwohl Jhwh zuvor den  – wörtlich  – Feindesschlag (14c) auf seine eigene und vollauf berechtigte Veranlassung zurückgeführt hatte. Die Gottesrede schließt in V. 17 mit einem Trostwort an die Frau. Folglich sollen Israels Bedrücker nach ähnlicher Logik wie in V. 11 dafür büßen, dass sie als Jhwhs Vollstrecker gedient haben. Allerdings kehrt V. 14 viel deutlicher als V. 11 die Sündenschuld Israels und das göttliche Strafhandeln hervor. Deshalb kommt das Drohwort an die Adresse von Israels Gegnern doch überraschend. Zudem redet 16b im Unterschied zu V. 12–14(15) auch von Deportation. Demnach ist V. 16–17 wohl redaktionell mit V. 12–14 kombiniert worden.23 Der Sprachgebrauch, darunter wieder das medizinische Vokabular, legt authentischen Ursprung nahe; zu 16a vgl. 2,3 (10,25); zu 16d vgl. 15,13 || 17,3 MT; zu 17a vgl. 8,22 (33,6); zu 17b s. o. sowie 15,18. Weil die sekundär verkoppelte Spruchfolge authentische Züge aufweist und die langfristigen Folgen der in V. 5–7 angekündigten Niederlage ausmalt (V. 12–14), um anschließend 22 Z. B.

2,16–25.33–37; 3,1–5.19; 4,14.18.30–31; 5,7–10; 10,17–20; 11,15–16; 13,20–22.  In ähnlicher Weise zeigt untypisches !kel' redaktionelle Nähte an in 16,14a || 23,7a; Jes 30,18; vgl. Jer 15,19a. 23

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30,12–17

Die originale Trostschrift mit Vorrede

mit einer Heilsansage zur positiven Wende überzuleiten (V. 16–17), besteht kein Anlass zu zweifeln, dass das Stück bereits der originalen Trostschrift angehörte. 12–14 Nach dem üblichen Muster hat der Schöpfer der originalen Trostschrift den nächsten Baustein mit der prophetischen Botenformel 12a explizit als Gotteswort gekennzeichnet, was dieses Gedicht indes schon immer war. Die Gottesstimme redet zur anonymen Frau und beschreibt ihre furchtbaren Leiden: Sie trägt schwerste, ja unheilbare Wunden an sich, gewaltsam zugefügt (rb,v, wörtlich Bruch 12b; hK'm; wörtlich Schlag 12c); zusätzlich weiß V. 13 an einer textlich nicht zweifelsfrei reparablen Stelle (TK) von einem Geschwür. Die Blessuren reichen so tief, dass keine Vernarbung sie schließen will (13b). Zur körperlichen Läsion tritt die soziale, denn die Frau ist vereinsamt und schutzlos: Niemand tritt für dein Recht ein (13a), d. h. ihr fehlt der mächtige männliche Sachwalter, der im patriarchalen Rechtswesen ihre Belange durchsetzen könnte (vgl. Rut 3–4). Dazu spielt 14ab auf eine Vorgeschichte an: Alle deine Liebhaber haben dich vergessen; [um dich] kümmern sie sich nicht. Es gab sie also, die starken männlichen Beschützer, und das sogar in üppiger Zahl, freilich in Gestalt illegitimer Liebhaber, sodass sie selbst zum Problem gerieten. Der Bildgebrauch deutet auf eine insbesondere von Propheten verfochtene Spielart politischer Theologie, die eine auf Allianzen mit Fremdmächten gegründete Sicherheitspolitik als konkludentes Misstrauensvotum gegenüber Jhwhs Fähigkeit zu Israels Schutz verstand und daher als praktische Blasphemie bekämpfte. Verstöße gegen den geforderten außenpolitischem Isolationismus werden vielfach angeprangert,24 wobei man häufig wie hier zu einer sexualisierten Metaphorik griff, die in den ausländischen Bündnispartnern Nebenbuhler Jhwhs erkannte und daher die Suche nach ihrem Beistand als Selbstprostitution verwarf.25 Wie 14ab feststellt, haben die fremden Unterstützer getan, was in diesem Denkrahmen von ihnen zu erwarten war: Sobald das in der Frau personifizierte Israel/Juda ihrer Hilfe bedurfte, ließen sie es im Stich, sodass es seinen Feinden ausgeliefert war und dem angedeuteten Schicksal verfiel. Das erklärt Jhwh in 14cd, wenn er den Zustand der weiblichen Figur aus einem byEAa tK;m; Feindesschlag herleitet, zugleich aber betont, dass er diesen Schlag selbst geführt hat als grausame Züchtigung für ihre aufgetürmte Schuld. Hinter alldem stand also in Wahrheit seine Hand und eine nachvollziehbare Logik: Durch ihre illegitimen Beziehungen hat die Frau alias Israel/Juda ihre Feinde zu ihren Liebhabern und Jhwh zu ihrem Feind gemacht, der durch ihre wahren Feinde entsprechend reagierte. Die Vv. 12–14 finden demnach den Grund des beklagenswerten Zustands von Israel bzw. Juda ebenso wie die ähnlich ausgerichteten Passagen in Jer *2,4–3,21 in einer bündnisorientierten Sicherheitspolitik, die in den Augen Jeremias wie des Redaktors manifesten Unglauben praktizierte und daher notwendig das Einschreiten Jhwhs herausforderte. Dabei enthält sich der Text weiterhin jedes historischen Details, um sowohl auf Israel als auch auf Juda hin durchsichtig zu bleiben. Für den Schöpfer der originalen Trostschrift haben somit beide Staaten auf dieselbe Weise Jhwhs Würde geschändet. Zugleich rechnet er mit einem Publikum, das die erotische 24 Z. B. Jer 2,14–19.36–37; Jes 30,1–7; 31,1–3; Hos 5,13; 7,11; 10,3–4; vgl. Dtn 17,16; 2 Kön 18,21.24; Ez 17,15. 25  Vgl. Jer 2,24–25; 3,1–3; Hos 8,9; mit demselben Stichwort bhea;m. Liebhaber (14a) Jer 22,20–23 (V. 20.22); Ez 16 (V. 33.36.37); 23 (V. 5.9.22); Hos 2,4–15 (V. 7.9.12.14.15); Klgl 1,19; mit bhea{ Klgl 1,2.

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Die originale Trostschrift mit Vorrede

30,16–17

Metaphorik auch ohne Verweis auf konkrete geschichtliche Vorgänge auf ihren politischen Sachgehalt hin entschlüsseln konnte. In dem masoretischen Überschuss dramatisiert Jhwh das vorweg entfaltete Bild 15 zusätzlich, indem er die Schmerzensschreie der Frau mittels einer rhetorischen Frage als unberechtigt zurückweist (15a), da sie ja ein wohlverdientes Los erleidet. Deshalb kehrt er anschließend nochmals, jetzt ohne ein Wort von den menschlichen Vollstreckern, seine Urheberschaft heraus, die vollauf gerechtfertigt ist, hat er doch bei dem Ausmaß von Vergehen durchaus nicht überzogen reagiert. Mit V. 16–17 leitet die Dramaturgie der Trostschrift zur Heilszusage über. Der 16–17 Umschwung hat zwei Seiten. Die eine betrifft die – nach wie vor anonymen – Peiniger der in der verletzten Frau symbolisierten Gruppe: Sie sollen büßen, wie Jhwh in einer nach dem Vortext unerwarteten Logik verkündet, indem sie talionische Spiegelstrafen erleiden, d. h. im Ausmaß des zugefügten Schadens geschädigt werden,26 wie es damaligem Rechtsempfinden entsprach: Sie sollen gefressen werden, wie sie selbst Israel/Juda fraßen (16a), ein drastisches, aber in Jer verbreitetes Bild;27 sie sollen wie ihre Opfer der Verbannung (16b) und Ausplünderung (16cd) verfallen. Die andere Seite betrifft die Frau: Ihr wird Jhwh Genesung bringen, wie er in einer Verheißung erklärt, die einstweilen ganz vage in der Bildebene verbleibt (17ab), aber damit im Rahmen des Buches anzeigt, dass die Klage Jhwhs über sein Volk 8,22 gegenstandslos werden wird. Konkreter ist das Zitat der höhnischen Reden der Unterdrücker, das in 17c–d zur Begründung angeführt wird: Weil sie dich „die Verstoßene“ nannten; „unsere Jagdbeute ist sie, niemand schert sich um sie“ (so AlT; in MT verwandelt zu: „Das ist Zion; niemand schert sich darum“, was den Bezug des Kontexts auf Juda vereindeutigt.) Diese Schmach macht das Maß voll – Grund genug, das Geschick der Geplagten endlich zu wenden.

30,18–22 18  a 

So spricht Jhwh: b Siehe, ich wende (bald schon) das Geschick [der Zelte] Jakobs, c und seiner Wohnstätten werde ich mich erbarmen. d Dann wirddie Stadt auf ihrem Schutthügel (AlT: auf ihrer Anhöhe) (neu) errichtet werden, e und der Palast wird an seinem rechten Ort thronen. 19 a Dann wird von ihnen ausgehen Dank und die Stimme von Fröhlichen. c  und sie werden nicht weniger werden; b Ich werde sie vermehren, ​ d [ich werdeihnen Ehre verschaffen,] e  [und sie werden nicht gering (geachtet) sein.] 20 a Seine Söhne werden sein wie ehedem, b und seine Gemeinschaft wird vor mir bestehen bleiben. 26 Vgl. 27 2,3;

Ex 21,23–25; Lev 24,19–20; Dtn 19,21. 5,17; 8,16; 10,25; 50,7.17; 51,34.

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30,18–22

Die originale Trostschrift mit Vorrede

c Ich werde [alle] seine Bedränger zur Rechenschaft ziehen. 21 a Sein Machthaber wird aus ihm (selbst entstammen) b und sein Herrscher aus seiner Mitte hervorgehen. c Ich werde ihm Zutritt gewähren (AlT: Ich werde sie sammeln), d und er wird mir nahen (AlT: und sie werden zu mir umkehren). f  der (jemals) sein Leben gewagt hat, e Denn wer ist derjenige, ​ um mir zu nahen? – Spruch Jhwhs. b  [ich aber werde euch zum 22 a [Dann werdet ihr mir zum Volk werden,] ​ Gott werden.] Literatur: P.-M. Bogaert, Qui exerce la royauté (s. zu 30,8–9). W. Wessels, Zion, Beautiful City of God – Zion Theology in the Book of Jeremiah, Verbum et Ecclesia 27 (2006) 729–748.

Der Abschnitt setzt die in V. 17 eröffnete Heilszusage fort und gestaltet sie mit konkreten Verheißungen aus. Da Rede über Israel/Juda, kehrt das Stück zur maskulinen Personifikation durch Jakob zurück, wie sie schon in V. 5–7 begegnet war. Außerdem signalisiert zu Beginn erneut eine prophetische Botenformel (18a) synchron eine strukturelle Zäsur und diachron den Übergang zu einem weiteren vorgefundenen Baustein, dessen Herkunft allerdings nicht leicht zu bestimmen ist. Nach der gemeinsamen Jakob-Figur zu schließen, könnte die Passage die ursprüngliche Fortsetzung von V. 5–7 darstellen, sofern 7e schon immer affirmativ gemeint war (s. z. St.); sie hätte dann bereits von Beginn an 7e mit einer detaillierten Heilszusage entfaltet, wie sie es jetzt aus größerem Abstand tut. Passend zu jenem Pendant, schweigt der Abschnitt von der Verbannung und spricht nur von einem kriegsverwüsteten Land, gezeichnet von zerstörten Siedlungen (18c–e) und dezimierter Einwohnerschaft (19bc). Dazu trägt er ebenso Züge jeremianischer Sprache: Das substantivierte Partizip ~yqix]f;m. Fröhliche 19a ist in dieser syntaktischen Realisierung sonst nur in 15,17; 31,4 bezeugt, was kaum auf Imitation zurückgeht. Ferner findet sich die Abfolge von hbr sich vermehren, einer Negation und j[m weniger werden 19bc in Kontaktstellung sonst einzig in 29,6fg innerhalb Jeremias Brief an die Exilanten; dazu tritt ein stärker variierter Beleg außerhalb des Corpus propheticum (Ps 107,38). Diese prägnante Formulierung lud allerdings schon eher zur Nachahmung ein, zumal das polare Verbenpaar – ohne Negation – häufiger vorkommt.28 Im Gegenzug wirft die in jüngeren Schichten beliebte Wendung tWbv. bwv das Geschick wenden 18b (s. zu 3b) abermals die Frage auf, was von jeremianischer Heilsprophetie erwartet werden kann und in welcher Weise sie für jüngere heilstheologische Schichten stilprägend war (s. Textgenese). Weiterhin ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass 20b die wieder erstarkte Nachkommenschaft Jakobs als hd"[e bezeichnet, ein Substantiv mit der Grundbedeutung Versammlung (1 Kön 12,20; Ps 82,1), die sich in der Alltagssprache  Ex 16,17.18; Lev 25,16; Num 26,54; 33,54; 35,8; Spr 13,11; vgl. Ex 30,15.

28

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Die originale Trostschrift mit Vorrede

30,19–20

zu Schwarm (Ri 14,8; Hos 7,12), Gruppe, (Freundes‑)Kreis (Ijob 16,7), aber auch abwertend Rotte, Bande (Ps 22,17; 68,31; 86,14; Ijob 15,34) auffächerte. Das atl. Profil des Lexems wird allerdings dominiert von Dutzenden Belegen in der weit überwiegend nachexilischen priesterlichen Literatur in Ex–Num sowie Teilen von Jos und Ri, wo es die religiös definierte Versammlung, also die Gemeinde bezeichnet. Selbst wenn die Alltagsbedeutungen des Substantivs bis in die jüngsten Schriften des AT fortlebten, konnten Leser von 20b je später desto weniger vermeiden, die spezifisch religiösen Konnotationen mitzuempfinden. Das spricht freilich nicht dagegen, das Substantiv in einem Sinn wie Gemeinschaft dem Propheten Jeremia zuzutrauen, selbst wenn der einzige weitere Beleg des Buches 6,18 in einem fraglos redaktionellen Passus steht und überdies textlich ungesichert ist (TK). Wie im Folgenden zu zeigen ist, plädiert neben den sprachlichen Indizien auch der Umgang mit dem Thema künftiger Herrschaft insgesamt eher für authentischen Ursprung. – Die Bundesformel V. 22 fehlt in AlT und ist eine junge Verdoppelung von 31,1, die die bisher verheißenen Wohltaten Jhwhs als eine fundamentale Heilung des Gottesverhältnisses deuten sollte. Die Gottesrede hebt an mit der Formel vom Wenden des Geschicks (18b), die 18 für Jakob eine umfassende Heilswende in Gestalt der Wiederherstellung des ungetrübten Ursprungs ankündigt (s. zu 3b). Die restitutio in integrum wird sich, wie 18c–e präzisiert, zunächst im repräsentativen Wiederaufbau der kriegsverwüsteten Städte manifestieren, indem Prachtbauten (!Amr>a; Palast, wörtlich: Wohnturm 18e) wieder an ihren angemessenen Orten (AjP'v.mi-l[;) Imposanz entfalten werden (bveyE). Dabei stellen die Chiffre Jakob und der Mangel an historisch-geographischen Details weiterhin die Anwendbarkeit auf Israel und Juda sicher. Auf der Ebene des masoretischen Endtextes verspricht Jhwh in 18bc die Wiederherstellung der Zelte und Wohnstätten, deren Verlust in 10,20 und 9,18 beklagt worden war. Ferner verheißt er in 18d MT, dass die Stadt (ry[i) auf ihrem Schutthügel (HL'Ti) errichtet werden wird (hnb‑N). Wie G* erkennen lässt, stand anstelle von ihrem Schutthügel ursprünglich ihre Anhöhe (Hm'Arm.; TK). MT wurde an Dtn 13,17 angeglichen, wo Jhwh durch Mose anordnet, dass eine wegen ihrer Götzendienerei zerstörte Stadt (ry[i) ein Schutthügel für immer (~l'A[ lTe) bleiben soll; sie darf nie wieder errichtet werden (hnb‑N). Infolgedessen abrogiert Jhwh in MT gnadenhaft für die verwüsteten Ortschaften Israels und Judas sein eigenes Gesetz, sodass sie wiedererstehen können, obwohl ihre Bewohner – wie der Wortlaut insinuiert – durch ihre Verstöße gegen das erste Gebot des Dekalogs von Rechts wegen auf Dauer die Möglichkeit zur Fortexistenz ihrer Wohnstätten verwirkt hatten (Fischer, Trostbüchlein 191). Von den wiederrichteten Siedlungen werden Dank‑ und Freudenrufe ausgehen, 19–20 die dem Kontext zufolge – ohne dass dies expliziert wird – nur Jhwh gelten können (19a). Daraufhin wird er seinerseits die Restauration der Lebensmöglichkeiten mit dem Wiederaufbau des Volkes vollenden: Er wird es physisch erneuern, d. h. in einem Maß vermehren (19bc), das ihm die Möglichkeit zur Gegenwehr wiedergibt und somit Sicherheit verleiht. Laut den archäologischen Zeugnissen ist die judäische Bevölkerung im Gefolge der babylonischen Strafaktion 589/7 für erstaunlich lange Zeit radikal geschrumpft (s. zu 43,7). Daher überrascht es nicht, dass das Thema der 233

30,19–20

Die originale Trostschrift mit Vorrede

Demographie seinerzeit die judäische Heilsprophetie beschäftigte,29 und nicht von ungefähr spielen in den Patriarchenerzählungen die Mehrungsverheißungen eine solch eminente Rolle.30 Deswegen dürfte auch 19bc bei den Judäern der exilischen und frühnachexilischen Epoche auf offene Ohren gestoßen sein. Mit der physischen Erneuerung soll die soziale einhergehen, indem Jhwh dem Volk wieder Ehre in der Welt, ja buchstäblich „Gewicht“ verschaffen will (19de; 19d dbk-H wörtlich schwer machen). Der die Sätze 19b–e umfassende Stichus verweist, abweichend vom Kontext, im Plural auf die von Jakob verkörperte Bevölkerung; dies kann Nacharbeit verraten, dürfte aber eher durch das pluralische Partizip ~yqix]f;m. Fröhliche 19a veranlasst sein. Bei alldem geht es um die Restitution dessen, was vor der Niederlage seit Langem gegolten hatte (20a): Die Gemeinschaft der Jakobsnachfahren wird vor Jhwh fest stehen (20b), d. h. in Treue zu ihm halten und daher unter seinem Schutz auch politisch unverwundbar bleiben. Und wie schon in 11bc und V. 16 betont, wird bei der Heilswende die Vergeltung an ihren Bedrängern nicht ausbleiben (20c), deren Namen weiterhin im Dunkeln bleiben. 21 Das wiederverwendete Stück gipfelt in der merkwürdigen Herrscherverheißung V. 21, die zunächst die heimische Herkunft des Regenten unterstreicht und dabei mit den Termini ryDIa; Machthaber und lvemo Herrscher den Königstitel vermeidet (21ab). Zugleich stellt sie im Unterschied zu der jüngeren Zutat V. 9 keine Verbindung zu David und seiner Dynastie her. Dies sind Züge, die in atl. Herrscherverheißungen nicht ohne (Teil‑)Parallelen dastehen; so wird etwa in Ez 34,24; 37,25 ein neuer David angekündigt, ihm aber bloß der Titel ayfin" Fürst zugestanden, und in Ez 44–48 passim sieht der sog. Verfassungsentwurf Ezechiels für die Neuordnung des nachexilischen Juda als politisches Oberhaupt einen ayfin" vor, ohne seine gentilizische Herkunft einzugrenzen. V. 21 erhält seine Besonderheit durch Jhwhs Zusage, er werde dem künftigen Regenten Zutritt gewähren (brq-H 21c). Damit kann nur gemeint sein: zu Jhwh, wie es die einzigen geeigneten Parallelen in Num 16,5.9–10 auch explizit erklären, um damit ein priesterliches Privileg zu bezeichnen. Nun fungierten die israelitischen Könige – gleich ihren zeitgenössischen Kollegen – immer auch als Oberpriester in ihrem offiziellen Staatskult, wie es ihre in der gängigen Königsideologie umschriebene Rolle als Mittler zwischen der irdischen und der göttlichen Welt verlangte. Dies gilt, selbst wenn das AT nur wenige Zeugnisse davon bewahrt hat,31 weil die aaronidischen bzw. zadokidischen Priester später das Recht der Opferdarbringung für sich monopolisierten, weswegen dem „Fürsten“ in Ez 44–48 die Befugnis zu solchen Kulthandlungen vorenthalten wird. 21cd repräsentiert demgegenüber herkömmliche Herrschaftskonzepte, indem dem künftigen Machthaber ein Grad der Gottesnähe verheißen wird, wie er dem Priesterstand eigen war. Traditioneller Königsideologie entspricht auch die rhetorische Frage 21ef, die an die Notwendigkeit göttlicher Ermächtigung für das Amt erinnert: Denn wer ist derjenige, der (jemals) sein Leben gewagt hat, um mir zu nahen? Hintergrund ist die Vorstellung, dass Nichtpriester mit 29 Vgl.

z. B. 31,27–28; Jes 48,19; 49,19–20; 54,1–3; 60,22; Ez 36,10–11.37–38; Sach 2,8; 8,4–5. 12,2; 13,16; 15,5; 17,4–6.16; 18,18 usw. 31 V. a. Ps 110,4; ferner 2 Sam 6,12–18; 24,25; 1 Kön 3,3–4.15; 8,14.55.62. 30 Gen

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Die originale Trostschrift mit Vorrede

30,21

der Darbringung von Opfern ein ungeheures Risiko eingingen oder die Anmaßung gar mit dem Leben bezahlten (Num 16–17). Wenn das Stück indessen abschließend derart scharf vor dem eigenmächtigen Griff nach der Regentschaft warnt, indem es ihn als lebensgefährlich hinstellt, muss es dafür einen Anlass gegeben haben; d. h. der Text nahm Partei in einem aktuellen Streit um die Regierungsgewalt, indem er unerwünschte Ambitionen abwies und im Gegenzug für einen eigenen Kandidaten eintrat, der aber zumindest im vorliegenden Wortlaut namenlos bleiben musste, weil der Kompilator der originalen Trostschrift im Interesse der Polyvalenz bestrebt war, historische Konkretion zu vermeiden. Man wüsste gern, ob sich – bei frühnachexilischer Datierung des Passus – hinter dem bekämpften oder dem protegierten Thronprätendenten Serubbabel verbirgt. Gegen erstere Interpretation spricht, dass der bloße Vorwurf der Usurpation bei einem Davididen schwerlich verfangen hätte. Bei der letzteren Alternative würde der Anspruch auf priesterliche Funktionen überraschen, wo doch die Zeugnisse von Serubbabels Auftreten regelmäßig einen erheblichen Statusgewinn des Hohenpriesters dokumentieren,32 was nur verständlich ist, wenn die Bestrebungen zur Emanzipation des Kultbetriebs vom weltlichen Arm, wie sie von gegensätzlichen Standpunkten aus der Verfassungsentwurf Ezechiels und die patrizische Redaktion (s. zu 26,10–16) reflektieren, bei Serubbabel auf eine gewisse Bereitwilligkeit trafen. Daher vermag der Bezug auf Serubbabel nicht recht zu überzeugen. Ein späterer historischer Haftpunkt ist nicht zu erkennen und wird wegen der dem Herrscher zugestandenen kultischen Funktionen mit fortschreitender Zeit immer unwahrscheinlicher. Deshalb erscheint erwägenswert, ausgehend von den Indizien für Authentizität hinter dem Machthaber Joschija zu suchen. Dabei warb der Nachdruck auf seiner Herkunft aus ihm bzw. aus seiner Mitte (21ab), d. h. aus dem in Jakob personifizierten Gesamtisrael (18b), für die judäischen Vorstellungen von der Einheit des Volkes. Die göttliche Legitimation des Regenten und seine priesterliche Rolle konnten dann unter den Auspizien der Natansverheißung (2 Sam 7) und der Opferzentralisation (Dtn 12,4–7) zwangsläufig nur einem Jerusalemer König zukommen. V. 21 erwiese sich dann als Versuch, mit der Autorität des Gotteswortes die Ambitionen Joschijas auf die Führung Gesamtisraels zu unterstützen, während zugleich Herrschaftsansprüche innerhalb Nordisraels diskreditiert wurden, die es gegeben haben muss, weil das Erlöschen der assyrischen Präsenz bei den Nordstämmen natürlich kein obrigkeitsfreies Vakuum hinterlassen hatte. Der Verzicht auf den Königstitel könnte taktischen Erwägungen entsprungen sein: Eine bescheidenere Verpackung sollte den Nordstämmen das Jerusalemer Dominanzstreben schmackhaft machen. Nicht zuletzt zeichnen die Vv. 18–20 ein ähnliches Bild von der Verödung des Landes wie auch der eindeutig auf die ehemaligen Nordreichterritorien bezogene Passus 31,2–5, und in 21ef schließt die Einheit mit einer ebensolchen Kausalphrase, wie sie für die authentischen Bausteine der Komposition typisch ist.33

32 Hag 33 S.

1,1.12–15; 2,1–9; Sach 3–4; 6,9–15; vgl. Esr 2,2; 3,2.8; 4,3; Neh 7,7; 12,1. o. S. 210 Anm. 7.

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30,22 22

Die originale Trostschrift mit Vorrede

Die Bundesformel V. 22 (Kon 18 f.) hat eine mit 11,4ef identische und ansonsten singuläre Gestalt. Sie wurde von später Hand in der masoretischen Ausgabe ergänzt, wie die Besonderheit bestätigt, dass sie Israel im Unterschied zum Kontext in der 2. Person Plural anredet. Nach V. 21 positioniert, erhebt der Einschub die Vereinigung der Nord‑ und Südstämme unter einer gemeinsamen, autochthonen Obrigkeit zum entscheidenden Schritt, der dem Gottesverhältnis Gesamtisraels seine gottgewollte Vollgestalt verleiht.

30,23–24 23 a Siehe, der Sturmwind Jhwhs aus Grimm ist losgebrochen b ein Sturm braust dahina; c über [das Haupt] der Frevler braust er dahin. 24 a Der glühende Zorn Jhwhs wird sich nicht wenden, bis er ausgeführt und vollbracht hat das Sinnen (und Trachten) seines Herzens. 
b Am Ende der Tage werdet ihr es begreifen! 23 a So mit AlT; MT ist fehlerhaft.

Literatur: P.-M. Bogaert, La fin des jours, catastrophe, retour d’exil ou nouveauté dans les éditions conservées du livre de Jéremie, in: J. Vermeylen (Hg.), Les prophètes de la Bible et la fin des temps (LD 240), Paris 2010, 73–98. B. Gosse, Le rôle de Jérémie 30,24 dans la rédaction du livre de Jérémie, BZ 39 (1995) 92–96. Y. Hoffman, Eschatology in the Book of Jeremiah, in: H. Graf Reventlow (Hg.), Eschatology in the Bible and in Jewish and Christian Tradition (JSOT.S 243), Sheffield 1997, 75–97.

Nach der feierlichen Ansage der Erneuerung Israels durch den Wiederaufbau der Städte und die Wiederkehr der Selbstbestimmung per einheimischer Oberhoheit wenden sich die beiden folgenden Verse der Frage zu, was den Umbruch näherhin ermöglichen soll. Die Antwort liefert abermals ein wiederverwerteter Spruch. Der Beginn einer neuen literarischen Einheit wird zwar nicht wie sonst durch eine prophetische Botenformel angezeigt, doch steht der separate Ursprung aus soliden Gründen fest: Das Stück besitzt ein Duplikat in 23,19–20, wo es sekundär in einen Kontext eingefügt ist, der gegen Falschprophetie polemisiert. Es schweigt von Israel und kündigt ein Zorngericht Jhwhs über die Frevler (23c) an, also dem Wortsinn nach: über alle Menschen mit gottwidrigem und gemeinschaftsschädlichem Lebenswandel, die sich hier allenfalls kontextuell mit den Gegnern Israels identifizieren lassen, denen vorweg unter diversen Bezeichnungen für äußere Feinde (8d.11b.16.20c) Vergeltung angedroht worden war. Dieses Orakel verlegt die Strafe indes ans Ende der Tage (~ymiY"h; tyrIx]a;B. 24b) mit einer Formel, die in Jer sonst nur in jungen Anhängen zu einzelnen Fremdvölkersprüchen vorkommt (48,47 MT; 49,39) und mehrfach,34 aber  Z. B. Jes 2,2 || Mi 4,1; Ez 38,16; Dan 10,14.

34

236

Die originale Trostschrift mit Vorrede

31,1

keineswegs immer35 eschatologische Konnotationen trägt, doch jedenfalls auf eine ferne Zukunft verweist. So wird das Publikum kaum angeleitet, die Frevler mit politischen Größen zu verbinden, statt sie in herkömmlichem Sinn zu verstehen. Mit der Strafansage gegen die Frevler und dem weiten Zeithorizont überschreitet das Stück das Blickfeld des Kontextes, wo die Trostschrift sonst auf die nähere Zukunft und das Schicksal Israels und seiner Widersacher schaut. Zudem weicht die redaktionelle Einbettung mit der fehlenden Botenformel vom gängigen Verfahren ab. Folglich ist hier ein jüngerer und jedenfalls nichtjeremianischer Nachtrag anzunehmen. Das Gedicht ist zwar bloß durch seinen Kontext als Gotteswort markiert, aber auch unabhängig davon – trotz des Tetragramms in 23a – als solches lesbar, denn die Rede Jhwhs von sich selbst in 3. Person ist im AT verbreitet, sogar unter Einschluss seines Namens. Danach soll der vorweg verheißene Wandel eintreten im Gefolge eines göttlichen Zorngerichts an den Frevlern (23c), dem keine lokalen Grenzen gezogen werden, sodass es als universales Geschehen erscheint. Dazu passt, dass die endgültige Wende zum Besseren in eine ferne Zukunft verschoben wird (24b). Die Vergeltung soll mittels eines Sturmwinds hereinbrechen (23a), den seine Geschwindigkeit und Zerstörungskraft zur Waffe für das weltweite, blitzschnelle, überwältigende Eingreifen Gottes prädestinieren. Die Vorstellung begegnet ähnlich in 25,30–33, wo dasselbe Strafwerkzeug die Frevler (25,31d) unter den Völkern einholt (für das globale Gericht an den Frevlern vgl. ferner Jes 13,11). Der unbegrenzte Horizont, die weite Zeitperspektive und der erwartete fundamentale Wandel erlauben, das Gedicht als eines der wenigen eschatologischen Orakel des Buches einzuordnen. Der späte Nachtrag dürfte auf Gefühle der Enttäuschung über den Erfüllungsverzug der vorausgehenden Heilsprophezeiungen reagieren, indem er mit der Zusage antwortet, dass Israel die Fülle seiner gottgewollten Daseinsform erst im Gefolge einer endzeitlichen Generalabrechnung mit den Sündern erreichen wird.

31,1 1  a  In jener Zeit – Spruch Jhwhs – werde ich für [alle] Sippen Israels zum Gott b  und sie werden mir zum Volk werden. werden, ​ Wie schon die Bundesformel V. 22 zieht die ebenfalls redaktionelle, aber ältere Variante in 31,1 eine theologische Zwischenbilanz, indem sie das Eintreffen der vorausgehenden Verheißungen mit der Vollendung des Gottesbezugs der Sippe Israels gleichsetzt – so der wahrscheinlich ältere Singular in AlT, der in MT zu allen Sippen gesteigert ist (TK). Die Verwandtschaftsterminologie bringt die gesamtisraelitische Perspektive des Dokuments zur Geltung, indem sie innere Vielfalt mit naturgegebener und daher unaufhebbarer Einheit verbindet. Zusammen mit 30,23–24 erreicht die Trostschrift damit einen ersten Höhepunkt: Nach dem universalen Gericht über die Frevler wird sich das Schicksal des heimgekehrten und wiedervereinigten Israel durch die endgültige Heilung seines Gottesbezugs vollenden.  Z. B. Gen 49,1; Dtn 4,30; 31,29.

35

237

31,2–6

Die originale Trostschrift mit Vorrede

31,2–6 2 a So spricht Jhwh: b Erbarmen in der Wüste fand ein Volk von dem Schwert Entronnenen. c Auf der Wanderung zu seinem Ruheplatz – Israel! 3 a Von fern ist Jhwh mir / ihm erschienen: b Mit ewiger Liebe liebe ich dich, c deshalb habe ich dir langmütig die Treue bewahrt. 4 a Wieder will ich dich auferbauen, b und du wirst auferbaut werden, Jungfrau Israel; c wieder wirst du dich schmücken mit deinen Tamburinen, d und du wirst ausziehen im Reigen der Fröhlichen. 5 a Wieder wirst du Weinberge pflanzen auf den Bergen von Samaria. b Haben [die Pflanzer] gepflanzt, c werden sie (die Weinberge auch) in Gebrauch nehmen! 6 a Denn es kommt der Tag, b da haben die Wächter auf dem Gebirge Efraim ausgerufen: d  lasst uns zum Zion hinaufziehen, c „Auf, ​ zu Jhwh, unserem Gott!“ Literatur: C. Maier, Daughter Zion, Mother Zion. Gender, Space, and the Sacred in Ancient Israel, Minneapolis 2008. J. J.  Schmitt, The Virgin of Israel: Referent and Use of the Phrase in Amos und Jeremiah, CBQ 53 (1991) 365–387. J. D.  Smoak, Building Houses and Planting Vineyards. The Early Inner-Biblical Discourse on an Ancient Israelite Wartime Curse, JBL 127 (2008) 19–35.

Der Abschnitt basiert erneut auf einem vorgefundenen Gedicht, das durch die übliche prophetische Botenformel mit dem Vortext verkoppelt wurde (2a) und nach unten durch ein weiteres Exemplar abgegrenzt ist (7a). Die Künstlichkeit des Verknüpfungsverfahrens ist hier offenkundig, weil die einleitende Formel keine Gottesrede eröffnet; vielmehr folgt der erzählende Passus 2b–3a, der seinerseits den szenischen Hintergrund abgibt für eine Gottesrede, die in der älteren alexandrinischen Fassung mit 3b beginnt, während ihr Ende nicht eindeutig zu bestimmen ist: Entweder schließt sie mit V. 5 oder, sofern man den Ruf der Wächter 6cd als Zitat im Mund Jhwhs auffasst, mit V. 6. Das Orakel entstammt nach sprachlichen Indizien mit hoher Sicherheit der Feder Jeremias: Das Verursachung-Folge-Satzpaar tynEb.nIw> %nEb.a, ich will dich auferbauen, und du wirst auferbaut werden 4ab verrät den typischen Stil des Propheten (vgl. noch 18bc.ef; 11,18; 17,14ab.cd; 20,7; sonst nur Ps 102,27 sowie mit größerem Abstand Klgl 5,21); ebenso die metaphorische Repräsentanz Israels als laer"f.yI tl;WtB. Jungfrau Israel (4b; sonst 21e; 18,13; Am 5,2). Dasselbe gilt für das substantivierte Partizip ~yqix]f;m. Fröhliche 4d (noch 15,17; 30,19) und die Sequenz hl,[]n:w> WmWq auf, lasst uns hinaufziehen 6cd (vgl. 6,4.5; sonst nur Ri 18,9). Das Heilswort war ursprünglich allein 238

Die originale Trostschrift mit Vorrede

31,2–3

an die Nordstämme gerichtet, wie die Ortsangaben Berge von Samaria 5a und Gebirge Efraim 6b erweisen. Mit diesem Stück schwenkt der Blick weg von den Zuständen im nach wie vor schwer kriegsgeschädigten Israel hin zu den heimkehrenden Exilanten. Nach der redaktionellen Botenformel 2a setzt das Gedicht mitten in einer Szene ein, 2–3 die ein Volk von dem Schwert Entronnenen auf seinem Weg in der Wüste zeigt, wo es Erbarmen gefunden hat (2b). Dieses Bild, spannungssteigernd mit mehreren Rätseln behaftet, wird anschließend schrittweise, aber nicht vollständig entschlüsselt. Das Volk wird sogleich als wanderndes Israel identifiziert (2c). Ungenannt bleibt der Ausgangspunkt seiner Reise, aber wenn das Ziel als sein ‚Ruheplatz‘ charakterisiert wird – wie die plausibelste Rekonstruktion des schwierigen Textes lautet –, wird Israel auf dem Weg durch die Wüste in seine Heimat kenntlich. Wenn ferner die Sätze 2b und 3a in die Vergangenheit schauen, könnte es sich um eine Momentaufnahme von der Wüstenwanderung nach dem Exodus handeln. Aber die Vv. 4–6 werden die Deutung in eine andere Richtung lenken: Es geht um die Heimkehr der Exilanten, stilisiert in Exodus-Motivik. Das Woher der Marschkolonne wird verschwiegen, um die Parallele nicht zu beeinträchtigen. Das Präteritum der Exodus-Memoria nimmt die Zukunft vorweg, sodass die Prophezeiung bei Jhwh bereits als erfüllt gilt, weswegen sie mit Gewissheit eintreten wird. Das Bild von der Durchquerung der Wüste hat später im Deuterojesaja-Kreis Schule gemacht, wo man ebenfalls den Heimweg aus Babel bevorzugt fiktional durch öde Gefilde lenkte – das naheliegende literarische Instrument, um die Heimkehr theologisch als neuen Exodus samt Wüstenwanderung zu qualifizieren.36 Die unwirtlichen Gefilde erweisen sich, so das heilsgeschichtliche Konzept, für das wandernde Israel abermals als Stätte des Erbarmens. Was es damit auf sich hat, beginnt V. 3 zu erklären: Von fern (bzw.: in der Ferne) ist Jhwh ihm erschienen (3a AlT). qAxr"me ist auf zwei verschiedene Weisen lesbar, die beide Unbestimmtheitsstellen konstituieren. Lokalisiert man die Theophanie in der Ferne, bleibt der Ort so vage wie jener, von dem das wandernde Volk aufgebrochen ist; erscheint Jhwh von fern, erfährt die Angabe innertextlich am ehesten eine Füllung durch den Zion, wo der Zug der Befreiten laut dem Finale in 6d sein endgültiges, eigentliches Ziel erreichen soll, indem er – nach der Neukonsolidierung in der efraimitischen Heimat – in der Wallfahrt nach Jerusalem gipfelt. Die Klimax in 6d spricht zugunsten der zweiten Leseweise: Vom Zion her hat Jhwh dem wandernden Israel in der Wüste eine Theophanie mit trostreichen Worten gewährt, die 3bc zunächst mit einem knappen Rückblick in die Vergangenheit zitiert: Mit ewiger Liebe liebe ich dich, deshalb habe ich dir langmütig die Treue bewahrt. Da Israel angeredet wird, wechselt seine Personifikation wieder zu einer weiblichen Figur, die das Hebräische durch feminine Pronomina eindeutig als solche markiert. Das passt zu der hoch emotionalen Idee, dass man Jhwhs Verhältnis zu Israel mit dem Vokabular der Liebe charakterisieren (bha lieben, hb'h]a; Liebe) und mit der erotischen Anziehung zwischen den Geschlechtern vergleichen könne. Das Konzept war bei Hosea vorgeprägt,37 findet sich aber bei Jeremia nur hier, obwohl ihn 36 Jes 40,3; 42,11–16; 43,19–20; 48,21; vgl. 35,1–10; 41,17–20; in Ps 107,4–9 wird sogar das gesamte Exil als Umherirren in der Wüste beschrieben: V. 4. 37 Hos 3,1; 9,15; 11,1.4; 14,5.

239

31,2–3

Die originale Trostschrift mit Vorrede

mit diesem Nordreichpropheten Gemeinsamkeiten verbinden, die auf direkten Einfluss deuten. Dafür gewinnt die erotische Metaphorik hier besondere Intensität, insofern Jhwh das Volk im femininen Singular und in 4b als laer"f.yI tl;WtB. Jungfrau bzw. junge Frau Israel anspricht, also in einer Personifikation, die Reife zur Brautschaft,38 aber auch Verletzlichkeit und Schutzbedürfnis39 symbolisiert. Dabei lassen einzig die Zeitangaben ahnen, welch bittere Vorgeschichte dem Wüstenmarsch vorausging: Da war etwas, woran Jhwhs Liebe für Israel, wäre sie nicht von unbegrenzter Dauer, hätte zerbrechen müssen und was ihm äußerste Geduld abverlangte. Dies wird jedoch nicht mehr ausgesprochen, denn nun ist der Moment der Gnade gekommen, wo er allenfalls noch in behutsamen Andeutungen an das Vorgefallene erinnert. Weil seine Liebe und Treue zu Israel unzerstörbar sind, kann er anschließend den Blick auf die Zukunft richten. 4–6 Es folgen drei Verheißungen in drei Stichen, in eindringlichem Stakkato eröffnet durch dreifaches dA[ wieder (4ac.5a). Alle charakterisieren das künftige Leben im Land nach der Heimkehr und betonen, dass das Heil in der Wiederherstellung der ursprünglichen Lebensverhältnisse besteht, die als ideal erinnert werden (vgl. 32,15b; 33,10–12). Die erste Zusage ist grundsätzlicher Art: Die Jungfrau Israel wird auferbaut werden, weil Jhwh an ihr handelt, indem er selbst sie wieder auferbauen wird (4ab). Dies meint zunächst wie in 30,18–20 den Wiederaufbau der Siedlungen und das Wachstum der Bevölkerung,40 erhält jedoch seine besondere Note durch die beiden anderen Verheißungen, die die fühlbaren Konsequenzen schildern: Israel wird wieder ein geradezu paradiesisches Dasein führen, geprägt von Festfreude mit Musik und Reigentanz (4cd). Zum Neubeginn gehört naturgemäß die Wiederaufnahme der Landwirtschaft, aus der 5a ausgerechnet die Anlage von Weinbergen auf den Bergen von Samaria herausgreift, also jene Sparte, die dem Vergnügen und der Lebenslust gewidmet ist. Jeremia griff damit ein geprägtes Bild für den Anbruch der Heilszeit auf (2 Kön 19,29 par; Ez 28,26). Der Satzbund 5bc Haben [die Pflanzer] gepflanzt, werden sie (die Weinberge auch) in Gebrauch nehmen ist eine positive Umkehrung sogenannter Nichtigkeitsflüche, die alles Streben der Vergeblichkeit überantworten und dabei bevorzugt den Weinbau herausstellen.41 Die Verbreitung der Gattung und regelrechte Fluchlisten wie Dtn 28,30–33.38–41; Lev 26,16.20; Mi 6,14–15 (weitere Beispiele bei 29,5–6) bedingten, dass insbesondere die epochalen Katastrophen in der Geschichte des biblischen Israel als Bewahrheitung solcher Nichtigkeitsflüche begriffen wurden. Dem hält 5bc entgegen: Gerade an den emblematischen Quellen menschlicher Lebensfreude wird augenfällig werden, dass es mit dieser Vergeblichkeit ein Ende hat.42 In Jeremias Orakel galt dies für die Nordstämme, in der Trostschrift gilt es für Israel insgesamt. Mit yKi denn wie eine Begründung angeschlossen, lässt 38 Z. B.

Gen 24,16; Ex 22,15.16; Lev 21,3.14; Jes 62,5 u. ö. Ex 22,15; Dtn 22,19.28–29; Ri 19,24; 21,12; Jes 23,12 u. ö. 40  Zu dieser übertragenen Bedeutung von hnb vgl. Jer 12,16; 24,6; 33,7; 42,10; Gen 16,2; 30,3; Dtn 25,9; Mal 3,15; Ps 28,5; Rut 4,11. 41 So in ganz ähnlichen Worten Dtn 28,30 sowie ferner Dtn 28,39; Am 5,11; Mi 6,15; Zef 1,13. 42  Vgl. Jes 62,8–9; 65,21; Ez 28,26; Am 9,14; für die Wiederaufnahme des Weinbaus als Signal für den Anbruch der Heilszeit ferner 2 Kön 19,29; Hos 2,17; umgekehrt Jes 24,7–11. 39 Z. B.

240

Die originale Trostschrift mit Vorrede

31,7–9

V. 6 die Weissagung folgen, dass eines Tages die Wächter auf dem Gebirge Efraim wie Herolde zur Wallfahrt auf den Zion einladen würden. Danach ist es letztlich die religiöse Einheit mit Juda, also die kultische Orthopraxie nach deuteronomischen Standards, wie von Joschija und seinen Gefolgsleuten propagiert, die den Nordisraeliten ihre paradiesisch ausgemalte Zukunft eröffnen wird. Darin wird sich Gesamtisrael vollenden. Auf der Ebene des kanonischen AT widersprechen die Vv. 2–6 vorweg der unheilsprophetischen Komposition Am 5, die eingangs als Totenklage über die Jungfrau Israel überschrieben wird (Vv. 1–2). Vergleichbare Passagen sind jedoch zu unterschiedlich gestaltet,43 als dass eine gezielte Anspielung beabsichtigt gewesen sein könnte.

31,7–9 7  a  Denn so spricht Jhwh: b [Jubelt] über Jakob mit Freude (AlT: Freut euch über Jakob) c und frohlockt über das Haupt der Nationen! e  rühmt ​ f  und sagt: d Verkündet, ​ g Rette, Jhwh, dein Volk, (AlT: Gerettet hat Jhwh, sein Volk,) den Rest Israels! 8 a Siehe, ich bringe sie (herbei) aus dem Nord[land] b und werde sie sammeln von den Enden der Erde; c unter ihnen sind Blinde und Lahme, [Schwangere] und Gebärende [gemeinsam]. d Eine große Schar wirda hierher zurückkehren. 9 a Weinend werden sie kommen (AlT: zogen sie aus), b und unter Flehen / Tröstungen will ich sie geleiten. c Ich will sie führen / sich lagern lassen an Wasserbäche, d  auf dema sie nicht straucheln. auf ebenem Weg, ​ e Denn ich bin für Israel zum Vater geworden, f und Efraim ist mein Erstgeborener. 8 a lh'q' (nur singularisch belegt) wird in der Subjektsrolle regelhaft mit pluralischen verbalen Prädikaten verbunden; vgl. Lev 4,14; Num 22,4; 1 Sam 17,47; Ez 23,47; Esr 10,1.12; Neh 5,13; 8,17; 1 Chr 13,4; 29,20. 9 a %rm, (4,16; 6,20; 8,19; vgl. Jes 46,11), während Jes 49,1 die gängige adjektivische Variante qAxr"me wählt wie Jes 43,6; 49,12; 57,9; 59,14; 60,4.9.57 So zeigen sich Berührungen in Wortschatz und Motivik mit Deuterojesaja, die aber nur die gemeinsame Teilhabe an einer übergreifenden heilsprophetischen Tradition belegen, denn die prägnanteren Parallelen verbinden das Gedicht mit der Poesie des Jeremiabuchs. Die Einheitlichkeit des Abschnitts wird in Frage gestellt durch den Wechsel der Rederollen. 10a–c beginnt mit einem prophetischen Verkündigungsauftrag an die Nationen, der im einleitenden Hörappell als Wort Jhwhs deklariert wird, also ein göttliches Geheiß zu übermitteln beansprucht. Ab 10d wird die aufgetragene Botschaft zitiert, und der Text spricht bis 12c über Jhwh, während er mit 13b zum göttlichen Ich übergeht. Es ist daher nicht auszuschließen, dass das Gedicht einen Wachstumsprozess durchlaufen hat, etwa indem 13b–14 nachträglich darangeschrieben wurde. Allerdings ist die Rede von Jhwh von sich selbst wie von einem Dritten im AT gängig,

55  Vgl. sonst nur Jes 48,20, wo allerdings die ersten beiden Glieder in umgekehrter Reihenfolge auftreten und überdies das Verb [mv im H-Stamm gebildet ist. 56 Vgl. v. a. 10ab mit Jes 49,1; 10de mit Jes 40,11; V. 11 mit Jes 44,23; 48,20; 11–12b mit Jes 51,11; 12b mit Jes 52,8–9; 13bc mit Jes 61,2–3. 57 Vgl. Jer 23,23; 30,10 MT || 46,27; 31,3; 51,50.

247

31,10–14

Die originale Trostschrift mit Vorrede

und 14b knüpft mit dem Stichwort das Gute von mir an das Gute von Jhwh 12c an. Man wird sich eines Urteils daher besser enthalten. 10 Der einleitende Aufmerksamkeitsruf, das Wort Jhwhs zu hören, ergeht uneingeschränkt an die Nationen (10a) und somit an die ganze Welt. Das bestätigt der folgende Verkündigungsauftrag, der an den fernen Gestaden ausgeführt werden soll (10b). Der Plural des Substantivs yai I Küste, Insel bezeichnet im AT häufig die (meist westlichen) Ränder der mentalen israelitischen Weltkarte, und zwar namentlich im deutero‑ und tritojesajanischen Schrifttum.58 Die Völker der Erde sollen einmütig die gute Nachricht von der Sammlung und Befreiung Jakobs (10d–11) verbreiten. Dabei sollen sie jene Rolle einnehmen, die in Jes 44,23; 49,13 Himmel und Erde zugesprochen wird, sodass sich eine zwar kaum realistischere, aber realitätsnäher stilisierte Variante der zitierten deuterojesajanischen Stilfigur ergibt, die hier zudem mit einem Verkündigungsbefehl nach Art einer Heroldsinstruktion kombiniert ist. Der Anfang der aufgetragenen Gottesbotschaft der Israel zerstreut hat, sammelt es 10d bestätigt im Kontext Jhwhs Verheißung aus 8b und macht sowohl für den Beginn als auch für das Ende der Verbannung nur einen Urheber verantwortlich, dessen Name die Sprecher noch für einen Moment zurückhalten sollen, um ihn in 11a als Jhwh zu offenbaren. Wer immer als menschlicher Vollstrecker agieren mag, Jhwh hat die alleinige Regie über das gesamte Geschehen in seinen schmerzlichen wie freudigen Aspekten. Zugleich wahrt der Text so jene Verschwiegenheit hinsichtlich der näheren historischen Umstände, die seine Anwendbarkeit auf Nord‑ und Südstämme sichert. Auf der positiven Seite wird Jhwhs Handeln an Israel mit dem Schutz gleichgesetzt, den ein Hirte seiner Herde gewährt (10e). Der Vergleich greift eine verbreitete altorientalische Metapher auf. Der Titel Hirte und hirtentypische Tätigkeiten wurden häufig herangezogen, um das behütende und herrscherliche Wirken von Göttern zu beschreiben; ferner zählte der Komplex zu den gängigen Topoi altorientalischer Königsideologie: „Der Hirte steht für die Legitimität der Herrschaft eines Einzelnen (des Königs) über die Vielen (die Menschen, das Volk), was seine Verpflichtung für Versorgung, Schutz und Ordnung seiner (Untertanen‑)Gesellschaft einschließt“ (Koenen, Mell 266). Daran hat auch die Bibel Anteil: Sie exponiert den Hirten wiederholt als Musterbeispiel für aufopfernde Fürsorge59 und nutzt das Hirtentum als Schlüsselprädikat idealer Herrschaft, sei es für menschliche Machthaber60 oder bezogen auf Gott bzw. Jesus,61 wie es auch hier geschieht mit der Prophezeiung, Jhwh werde im Zuge einer fundamentalen Heilswende sicherstellen, dass Israel künftig keinerlei Schaden mehr droht. 11 V. 11 trägt begründend die bereits erfüllte theologische Voraussetzung nach: Denn Jhwh hat Jakob freigekauft und ihn erlöst; d. h. er hat zugunsten Israels die mit den (se58 Z. B.

Jes 41,1.5; 42,4.10.12; 49,1; 51,5; 66,19 u. ö.; ferner Ez 27,3 u. ö.; Ps 72,10; 97,1.  Z. B. 1 Sam 17,34–35; Lk 15,4–6 par; Joh 10,2–4; vgl. Am 3,12. Die desaströsen Folgen der Pflichtvergessenheit von Hirten zeichnet Ez 34,1–10; die Konsequenzen ihres Fehlens spiegeln Num 27,17; 1 Kön 22,17 || 2 Chr 18,16; Sach 13,7; Mk 6,34 par; 14,27 par. 60 Z. B. Jer 3,15; 23,4; Ez 34,23–24; 37,24; Mi 5,3. 61  Z. B. Gen 48,15; 49,24; Jes 40,11; 49,9–10; Jer 23,3; Ez 34,11–22; Hos 13,5 [korr.]; Mi 7,14; Ps 23,1–4; 78,52; 80,2; 95,7; Mk 14,27 par; Joh 10,11–18.27–28; Hebr 13,20; 1 Petr 2,25; Offb 7,17. 59

248

Die originale Trostschrift mit Vorrede

31,12–13

mantisch sehr eng beieinanderliegenden und wiederholt parallelisierten) Verben hdp und lag I auslösen, loskaufen, befreien bezeichnete Rolle des „Lösers“ (laeGO) auf sich genommen. Die familienrechtliche Institution des „Lösers“, die traditionsgeschichtliche Wurzel der christlichen Erlöser-Vorstellung, sollte existenzbedrohende Nöte abwehren, die Sippenangehörige heimsuchten, indem sie jenen nächsten männlichen Verwandten, der dank seiner finanziellen und/oder körperlichen Leistungsfähigkeit dazu imstande war, zur Hilfe verpflichtete. Zu den Solidaritätspflichten des Lösers zählen im AT der Rückkauf von in fremde Hände gelangtem Immobilienbesitz,62 der Freikauf aus Schuldsklaverei63 und die Schwager‑ bzw. Leviratsehe (d. h. die Stellvertreterehe mit einer verwitweten Frau unter der Rechtsfiktion, dass der erste Sohn als Nachkomme des verstorbenen Gatten galt);64 dazu die Blutrache (der Bluträcher hieß ~D"h; laeGO Blutlöser).65 Jhwh hat folglich in einer für Israel ansonsten aussichtslosen Lage jene elementaren Retteraufgaben übernommen, die im damaligen Rechtswesen für äußerste Notlagen bestimmt waren und an den naturgegebenen, irreversiblen Banden der Blutsverwandtschaft hafteten. Damit hat er sich seinem Volk in einer ebenso unwiderruflichen Treue zugetan erwiesen, wie sie die Metaphern der Vater‑ und Sohnschaft umschreiben (vgl. 9ef; in direkter Kombination schreibt Jes 63,16 Jhwh die Rollen des Vaters und des Lösers zu). Der konkrete Effekt lautet, dass er Israel, wie für die Institution des Lösers typisch, aus der Hand eines Stärkeren (11b) befreit. Dieser Stärkere muss den Prinzipien der originalen Trostschrift gemäß anonym bleiben, um die Mehrdeutigkeit des Dokuments zu wahren, aber auch weil er nicht wirklich zählt, da er den Gang der Dinge niemals eigenmächtig bestimmen konnte. Die Fortsetzung entfaltet die Konsequenzen der Befreiung. V. 12 wechselt in den 12–13 Plural und konkretisiert so die Figur Jakobs (11a) auf das Volk hin. Wie in V. 6 ist das eigentliche Ziel des Marsches der Zion, wo sich die Heimkehrer in Jubelrufen ergehen (12b) und vor Freude strahlen werden über – wörtlich – das Gute von Jhwh, das unbefangen materiell durch geprägte Serien regionaltypischer landwirtschaftlicher Produkte66 beschrieben wird (in AlT abgewandelt zu ein Land von …; 12c). Wenn 12de ausführt, wie sich die Ankömmlinge an dem Überfluss an Leckereien ergötzen und ihr Darben ein Ende hat, greift der Verfasser ein Element aus der geprägten Motivik der Exodustraditionen auf, wonach die Landnahme erst vollendet ist, wenn die Israeliten die üppigen Gaben des Landes genießen.67 Dies entspricht dem alttestamentlichen Heilsverständnis: Deshalb wird das Verheißungsland beständig als Land, das von Milch und Honig überfließt verklärt (Ex 3,8 usw.); und paradiesische Fruchtbarkeit auf dem Acker und der Viehweide gehört zu den festen Topoi prophetischer Heilszusagen.68 In MT 12c hat man älteres yrIP. Früchte gegen rh'c.yI (frisch gepresstes) 62 Lev

25,23–34; Rut 2,20; 3,9–13; 4,1–9; Jer 32,7–8. 25,47–54. 64 Vgl. Gen 38,8 und Rut 4,5.10 in Verbindung mit Dtn 25,5–10. 65 Num 35,9–29; Dtn 19,6.12; Jos 20; 2 Sam 14,4–11. 66  Zu Korn, Most und Öl (so MT) vgl. Dtn 7,13; 11,14 u. a.; zu Schafe und Rinder (so MT) vgl. Jer 3,14; 5,17; Gen 12,16; 13,5; 20,14 u. v. a. 67 Z. B. Dtn 6,11; 32,13–14; Jer 2,7; Hos 2,17; Neh 9,25.35–36; vgl. Jes 1,19; Esr 9,12. 68  Z. B. Jes 30,23–25; Ez 47,9–12; Hos 2,23–24; 14,8; Joël 4,18; Am 9,13–14; Mi 4,4; Hag 2,18–19; Sach 8,12. 63 Lev

249

31,12–13

Die originale Trostschrift mit Vorrede

Öl vertauscht und die Abfolge leicht modifiziert, sodass die Reihe Korn, Most, Öl, Schafe, Rinder entstand. Die fünfgliedrige Kette kommt sonst nur in Dtn 12,17; 14,23 innerhalb von Vorschriften zur Leistung des Zehnten und der Erstgeburtsopfer vor und ist daher lesbar als Anspielung auf den Opfergottesdienst, was den Festlichkeiten im Vorblick auf V. 14 eine stärker kultische Note verleiht. Der Überfluss der Erträge soll auf die Menschen abfärben, insofern ihre vp,nr: y[in>mi In 16b ist ferner die Kollokation von !yI[' Auge und h['m.DI Träne charakteristisch, die noch in 8,23a; 9,17c; 13,17d; 14,17b vorkommt (sonst Ps 6,7–8; 116,8; Klgl 2,11). 18g yh'l{a/ hw"hy> hT'a; yK 3,22e Wnyhel{a/ hw"hy> hT'a; yKi Ansonsten kommt diesen Sätzen 2 Kön 19,19 am nächsten: ^DS;yI und 18ef ynIbeyvih] hb'Wva'w> vgl. zu 4ab). Die Anrede als hb'beAVh; tB;h; aufsässige Tochter 22a kehrt einzig in 49,4b wieder. Zu 15de ist 10,20cd zu vergleichen; zur metaphorischen Repräsentanz Israels als tl;WtB. laer"f.yI Jungfrau Israel 21e s. o. zu 31,2–6 (4b).

Nach der redaktionellen prophetischen Botenformel 15a beginnt der Spruch mit 15 einer Szene, die an die Emotionen des Publikums appelliert: Ein Sprecher – ehemals anonym – berichtet vom weithin vernehmbaren, bitteren, untröstlichen Weinen Rahels über ihre verschollenen Söhne. Indem der Sprecher in 15b mit dem Stichwort lAq Stimme einsetzt und sogleich auch [mv hören verwendet, vollzieht die Rede einen ähnlichen Neueinsatz wie 30,5b und schlägt damit einen Bogen zurück zum Anfang der originalen Trostschrift. Rahel, in der israelitischen Überlieferung als Lieblingsfrau Jakobs, Mutter Benjamins und Ahnin der mächtigen Stämme Efraim und Manasse erinnert,71 war ebenso eine natürliche Chiffre für die Nordstämme insgesamt wie ihr Enkel Efraim (vgl. die Trias der Rahelstämme als Repräsentanten des Nordstaats in Ps 80,3). Als Mutter Benjamins – des einzigen nordisraelitischen Stammes, der dem judäischen Königtum verbunden blieb – bildete sie sogar neben Jakob eine weitere symbolische Klammer zwischen den beiden Bruderstaaten, und Jeremia zählte sie zu seinen legendarischen Vorfahren (1,1). Wie G* (ἐν Ραμα) bestätigt, ließ der Prophet ihre Stimme im benjaminitischen Rama erschallen (Jos 18,25 u. ö.; Jer 40,1), der Heimatstadt Samuels (1 Sam 7,17 u. ö.) bei dem heutigen er-Rām etwa 9 km nördlich von Jerusalem, in dessen Nähe man ursprünglich das Grab Rahels verehrte (1 Sam 10,2). Laut dem alexandrinischen Text vergießt die Stammmutter der Nordisraeliten ihre Tränen über die Entvölkerung des Landes am Ort ihrer Beisetzung, wo sie nach wie vor hintergründig gegenwärtig ist. Allerdings verdoppelte später eine jüngere Tradition ihre Grabstätte in Juda bei Betlehem, um sich schließlich mit dieser Version durchzusetzen (Gen 35,19–20; 48,7; Mt 2,16–18), eine sekundäre Verlegung, wie sie bei solchen identitätsstiftenden Denkmälern nicht selten vorkam. Die tiberischen Vokalisatoren trugen dem Rechnung, indem sie dem Ortsnamen Rama den Artikel 70 Vgl.

71 Gen

auch den fraglichen Fall Sir (hebr.) 32,20. 29,9–30,24; 35,16–20; 41,50–52; 46,19–20.

253

31,15

Die originale Trostschrift mit Vorrede

und damit seine spezifische topographische Bedeutung entzogen. Denn das – auf verschiedene Ortslagen angewandte – sprechende Toponym hm'r" Rama trägt sonst (bei einer Ausnahme: Neh 11,33) immer den Artikel: die Anhöhe (auch Jer 40,1). Dagegen nutzten die Tiberer die Möglichkeit, in 15b nach der Präposition b den synkopierten (nur an der Vokalisation kenntlichen) Artikel auszulassen, sodass hm'r" hier allein in seiner Wortbedeutung funktioniert und Rahel lediglich auf einer Anhöhe trauert, deren Lage nicht präzisiert wird. Die Retusche versöhnt den Wortlaut mit der jüngeren Überlieferung vom Grab Rahels in Juda; zugleich trägt sie bei zur Expansion der Textaussagen auf den Südstaat, die mit dem Einbau des Gedichts in die Trostschrift einherging. – Mitunter wird ein Zusammenhang von V. 15 mit 40,1 behauptet: Rahel beweint ihre verschwundenen Kinder in jener Stadt, von der laut 40,1 judäische Deportationskolonnen den Marsch ins babylonische Exil antraten. Dieser Konnex ergab sich allerdings nur zufällig, als der patrizische Redaktor die Szene 40,1–6 eintrug (s. z. St.), und er wurde von den tiberischen Vokalisatoren wieder gelöst, als sie den Ort der Trauer Rahels vom benjaminitischen Rama wegverlegten. 16–17 Die Botenformel 16a eröffnet die originale Jhwh-Rede, die Rahel direkt anspricht, wie bei weiblichen Symbolfiguren in der Trostschrift typisch. Der Aufruf, Klage und Tränen einzustellen (16b), führt indirekt nochmals den Zustand der Frau vor Augen in einem starken Bild, das dem Publikum einen Maßstab liefert, wie qualvoll es sich die Not Israels ausmalen soll; zugleich zeigt der Satz, dass Jhwh sich von Rahels Verweigerung (15d) nicht beirren lässt. In 16c–17 benennt er den Grund für das Ende der Trauer: Rahels Söhne werden in ihre Heimat heimkehren (bWv 16d.17b). Damit ist das Thema des Gedichts lexikalisch markiert, denn die Wurzel bwv kommt darin so häufig vor, dass ihre Derivate den Rang von Leitworten annehmen (Verb bWv umkehren 16d.17b.18ef.19a.21ef; Adjektiv bbeAv aufsässig o. ä. [s. z. St.] 22a). 16d benennt als Ort der Herkunft mit der üblichen Diskretion das nicht identifizierte Feindesland. 16c weiß sogar von einem Bemühen Rahels, dem nun ein Lohn zuteilwerden soll. Worin ihr Bemühen besteht, bleibt offen. Sucht man im Kontext nach einer konkreten Füllung, bietet sich das Bekenntnis der Schuldeinsicht und Umkehrwilligkeit Efraims in V. 18 an, sofern man die Figuren Rahel und Efraim als komplementäre Chiffren begreift, die in Jeremias Optik tragende Aspekte im Dasein der Nordstämme zu seiner Zeit symbolisieren: Verzweiflung über die Entvölkerung der Heimat und Zerknirschung im Exil. Jhwh selbst will durch den Lohn sicherstellen, dass der Sinneswandel der Gezüchtigten nicht vergebens war (derselben Logik folgt die gleichlautende Zusage 2 Chr 15,7, ausgesprochen nach der Umkehr Israels, wie in V. 4 festgestellt). In 17a hat ein prämasoretischer Ergänzer den Verbannten bzw. – mit einem weit in die Zukunft reichenden Blick – ihren Nachkommen mit ähnlichen Worten Hoffnung zugesprochen, wie er es schon in 29,11a getan hatte. 18 In V. 18–19 führt Jhwh seine Rede fort, indem er ein flehentliches Gebet Efraims zitiert, das zu ihm gedrungen ist. Danach hört er nicht nur verzweifelte Klage, verkörpert durch Rahel (15b), sondern auch Worte zu einem Thema, das im heilsprophetischen Tenor der Trostschrift neu ist: das reuevolle Schuldbekenntnis der Verschleppten, personifiziert durch Efraim. Jhwh hat das Eingeständnis trotz der Distanz eindringlich vernommen (yTi[.m;v' [:Amv' 18a). Auf Buchebene nimmt er damit 254

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31,19

seine Drohung aus 11,11 zurück, die Hilferufe seines in Not geratenen Volkes zu ignorieren. Das Zitat Efraims stellt in zwei für Jeremia kennzeichnenden Ursache-FolgeSatzpaaren heraus, dass – wie Efraim selbst anerkennt – die vergangene Züchtigung so unentbehrlich war wie die Dressur eines ungezähmten Jungstiers (18b–d). Das Leid wird hier als göttliche Pädagogik begriffen, die nun Früchte tragen soll. Das Satzpaar 18ef spielt mit einem zweifachen Doppelsinn: Zum einen nutzt es das Bedeutungsspektrum von bwv umkehren, denn das Verb kann in Bezug auf die Exilanten sowohl die Heimkehr bezeichnen, wie es in 16d.17b der Fall ist, als auch die innere Umkehr im Sinne der Bekehrung, wie etwa in 3,7 und 4,1. Zum anderen erscheint die Umkehr in Efraims Mund als theologisches Paradox, insofern darin die Rollen der göttlichen und der menschlichen Seite unentwirrbar ineinandergreifen: Die Umkehr gilt sowohl als ein von Jhwh zu gewährendes Geschenk (ähnlich z. B. auch in 3,22; 24,7; s. z. St.), das Efraim erbitten muss (18e), und zugleich als Efraims unabdingbarer Eigenbeitrag, weswegen er seine Bereitschaft erklärt, ihn zu liefern (18f; den gleichartigen Zusammenhang setzt Klgl 5,21 voraus). So ergibt sich die doppelte Aussage: Wenn Jhwh, wie erfleht, die innere Umkehr und die äußere Heimkehr ermöglicht, werde Efraim seinerseits die doppelte Chance nutzen. Die Übersetzung Lass mich umkehren, damit ich heimkehren kann soll diesen zweifachen Doppelsinn andeuten, vermag dies aber nur begrenzt, denn bwv ist in beiden Hälften des Satzgefüges 18ef als umkehren wie auch als heimkehren verstehbar, und 18f lässt sich sowohl als Finalsatz (damit ich umkehren/heimkehren kann) als auch als Willenserklärung (dann will ich umkehren/ heimkehren) lesen. Seine Bereitwilligkeit führt Efraim darauf zurück, dass er über seine schlechthinnige Abhängigkeit von bzw. seine unentrinnbare Verwiesenheit auf Jhwh Klarheit gewonnen hat: Denn du bist Jhwh, mein Gott (18g nach der tiberischen Akzentsetzung; andere Übersetzungsmöglichkeit: Denn du, Jhwh, bist mein Gott). Efraim bekennt sich damit zur singulären Bindung Israels an Jhwh, die dieser vorweg feierlich in Erinnerung gerufen hatte über ihre bündige Kurzformel, die Bundesformel (30,22 MT; 31,1), und akzeptiert sie als seine Existenzgrundlage. Anschließend beteuert Efraim nochmals seine Bußfertigkeit, beginnend mit dem 19 reizvollen Parallelismus in 19ab, indem Präpositionalverbindungen aus yrEx]a; nach und Infinitivus constructus mit enklitischem Personalpronomen der 1. Person Singular einer qataltī-Formation vorausgehen. Zum Erweis der Aufrichtigkeit seiner Gesinnung versichert Efraim, er habe nach einem Akt, für den er nochmals das im Vorvers zweifach verwendete Verb bwv aufbietet, Reue empfunden (19a). Da er seine Umkehr soeben erst in 18ef erbeten bzw. sich dazu bereit erklärt hatte, aktiviert er hiermit offenbar noch eine dritte Bedeutung von bwv, indem das Wort nun seine frühere Abkehr von Jhwh bezeichnet, die schließlich seiner Reue wich. Ergebnis der Einsicht war tiefe Scham (19c–e), die sich laut MT in der dramatischen Trauergestik des Hüftenschlagens Ausdruck verschaffte (19b; vgl. Ez 21,17; AlT: ich stöhnte über den Tag der Schande). Im masoretischen Schlusssatz des Zitats bekennt Efraim, die Schmach meiner Jugend auf sich genommen zu haben, und erkennt so das gerechte Walten Gottes in seinem Schicksal an, während er AlT zufolge Schmach von meiner Jugend an erdulden musste, womit er das Maß der erlittenen Konsequenzen betont 255

31,19

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(19e). Wie immer in historischen Belangen, belässt es die originale Trostschrift auch im Hinblick auf die Schuld und Sühne Efraims bei Andeutungen, um weiterhin ihre Anwendbarkeit auf beide israelitische Staaten zu gewährleisten. 20 Im Rest der Einheit kehrt das Ich Jhwhs wieder. Efraims Reueerweis bewegt Jhwh zu nichts weniger, als einen tiefen Einblick in sein göttliches Innenleben zu eröffnen. In MT fragt Jhwh verwundert, ob ihm Efraim ein (so) teurer Sohn oder (m)ein Lieblingskind (wörtlich: Wonnekind) sei (20ab). Denn das Volk löst bei ihm Reaktionen aus, die ihn selbst erstaunen (20c–e): Er muss die Unzerstörbarkeit seiner Hinneigung zu Israel gewissermaßen zu seiner eigenen Überraschung immer neu an sich selbst entdecken. Der sprachlich schwierige Satz 20c dürfte in wörtlicher Übersetzung lauten: Denn sooft ich (abschätzig/entrüstet) über ihn rede (AB yrIB.d: yDEmi yKi), muss ich unweigerlich [wieder] seiner gedenken ([dA[] WNra, rkoz"), etwa im Sinne von: Sooft Jhwh in einer Weise auf Efraim zu sprechen kommt, die dessen Treulosigkeit angemessen ist, gewinnen seine Erinnerungen an ihn die Oberhand, d. h. er wird von seinen Empfindungen für ihn überwältigt und muss sich seiner annehmen. rkz gedenken mit menschlichem Objekt meint über den kognitiven Akt der Erinnerung hinaus die gnädige bzw. sorgende Zuwendung.72 Hier spricht eine Theologie, für die Gott an eine Barriere in sich selber stößt, die ihm die Möglichkeit nimmt, an Israel zu tun, was das Recht eigentlich geböte. Jhwh muss vor sich selbst einräumen, dass er gar nicht anders kann, als Efraim die Treue zu halten. Deshalb sind die Fragen in 20ab affirmativ zu beantworten. So proklamiert Jhwh erneut Efraims beispiellosen Rang in der Welt, indem er sich zu ihm als seinem Sohn bekennt – und so einschlussweise sich selbst als dessen Vater (s. zu 9e). Jetzt gebraucht Jhwh allerdings im Unterschied zu 9ef nicht die eher juristisch konnotierte Metapher des Erstgeborenen, sondern er greift zu den emotionsgeladenen, zärtlichen Prädikaten teurer Sohn und Lieblingskind, womit er preisgibt, wie tief seine Bindung an Efraim in seiner Personmitte wurzelt. Es geht noch massiver weiter: Deshalb sind meine Eingeweide aufgewühlt um seinetwegen, wie 20d wörtlich lautet, ein praller Anthropomorphismus, der sogar den sonst so sehr auf Quellentreue bedachten G*-Übersetzer an die rote Linie dessen führte, was er von Gott zu sagen wagte (TK).73 Die kühne Botschaft: Ausgerechnet Israel, das Jhwh so viele Enttäuschungen bereitet hat, versetzt dessen Personmitte in Aufruhr und nötigt ihn, sich den Grenzen seines Handlungsspielraums zu stellen, die in seinem Innern gezogen sind. Das Resultat der Aufwallung: Ich muss mich einfach seiner erbarmen (20e). Folglich handelt Jhwh an Israel nach einem Muster, das Hosea in das göttliche Eingeständnis gegossen hat: Umgestürzt ist gegen mich mein Herz, völlig in Aufruhr geraten ist mein Mitgefühl (Hos 11,8). Das ist es auch, was das Reuebekenntnis Efraims bei Jhwh auslöst: Der sprichwörtliche „Herzensumsturz“, die Rebellion der Personmitte Gottes gegen Gott selber, nimmt Jhwh die Möglichkeit, an Israel letztgültig anders als barmherzig zu handeln. 21 Anschließend zieht Jhwh die Konsequenzen aus seiner Unfähigkeit zur Hartherzigkeit: Er ruft die Verbannten zur Rückkehr auf und greift wie üblich für die 72 Vgl.

z. B. Gen 8,1; 19,29; 30,22; Ri 16,28; 1 Sam 1,11.19; Jer 15,15; Ps 8,5; 74,2. ἐπ᾽ αὐτῷ dürfte etwa als ich eilte zu ihm oder ich eiferte für ihn gemeint gewesen sein.

73 ἔσπευσα

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31,22

direkte Anrede zu einer weiblichen Symbolfigur, hier der Jungfrau Israel (21e). Die Einladung ist in eine Serie von drei merkwürdigen Appellen gekleidet: Das Volk soll sich Wegweiser und Merkzeichen errichten (21ab), und es wird aufgefordert: Achte genau auf die Strecke, den Weg, den du gegangen bist (21cd). Derlei Vorschriften ergäben nur Sinn, wenn verhindert werden sollte, dass die Wanderer in unbekanntem Terrain die Orientierung verlören und irrtümlich eine Kehrtwende machten. Die Befehle können kaum als praktische Anweisungen für die Heimreise gemeint gewesen sein, zumal das Gedicht ja nur rhetorisch die Deportierten anspricht. Hier ist die Vorstellung der Rückkehr aus dem Exil ebenso mit spirituellen Komponenten vertieft wie in 18ef: Die Verbannten sollen den Weg, also den Lebenswandel bedenken, der sie in die Fremde verschlagen hat, und sie sollen sich Merkzeichen setzen, die ihnen im Gedächtnis halten, welche Umstände sie vertrieben und wieder heimgeführt haben. Die Exilsrückkehrer sollen mithin ihren Beitrag leisten, um zu verhindern, dass die Geschichte sich wiederholt. Ist dies richtig, wird das Exilsende auch hier als ein mehrdimensionaler Prozess verstanden, bei dem innere Umkehr und äußere Heimkehr Hand in Hand gehen. In diesem doppelten Sinn ruft 21ef zu einer Umkehr auf, die sich dann in der Heimkehr in die – weiterhin als existent gedachten – Städte vollenden soll. Im Ergebnis werden der Vater Jhwh (9e.20ab), die Mutter Rahel (15cd) und ihre Kinder (15c–e.17), repräsentiert im Sohn bzw. Enkel Efraim (9 f.20ab), wiedervereinigt werden, sodass die Neukonstitution Israels in der Heimat geradezu einer „Familienzusammenführung“ (so Vanoni 79 zu V. 7–9) gleichkommt.

Literatur: A. Bauer, Gender in the Book of Jeremiah. A Feminist Literary Reading (Studies 22 in Biblical Literature 5), New York, Wien 1999, 137–145. A. O.  Bellis, Jeremiah 31:22b: An Intentionally Ambiguous, Multivalent Riddle-Text, in: J. Goldingay (Hg.), Uprooting and Planting (FS L. Allen; LHB.OTS 459), New York 2007, 5–13. G. Fischer, „Weibliches wird den Helden umgeben“. Bilder von Männern im Jeremiabuch, in: R. Knieling, A. Ruffing (Hg.), Männerspezifische Bibelauslegung. Impulse für Forschung und Praxis (Biblisch-theologische Schwerpunkte 36), Göttingen 2012, 96–118. W. L.  Holladay, Jer. xxxi 22b Reconsidered: „The Woman Encompasses the Man“, VT 16 (1966) 236–239. P. A.  Kruger, A Woman Will „Encompass“ a Man: On Gender Reversal in Jer 31,22b, Bib. 89 (2008) 380–388. J. P.  Lewis, The Lord Has Created a New Thing on the Earth, RestQ 52 (2010) 19–28. B. Ognibeni, La ronde des jeunes filles. A propos de Jr 31,22, in: D. Böhler u. a. (Hg.), L’Ecrit et l’Esprit (FS A. Schenker; OBO 214), Fribourg, Göttingen 2005, 266–272. D. F.  Sawyer, Gender-Play and Sacred Text. A Scene from Jeremiah, JSOT 83 (1999) 99–111.

Zum Finale des Gedichts und damit auch der originalen Trostschrift leitet eine Frage an das weiblich personifizierte Israel über (22a). Schon ihr Beginn mit Wie lange …? verleiht ihr einen vorwurfsvollen Ton. Die Bedeutung des Verbs qmx-Dt, sonst nur noch in Hld 5,6 im G-Stamm belegt, dürfte im Umkreis von sich hin‑ und herwenden, sich zieren zu suchen sein. Die Anrede tB;h; Tochter ist mit dem Attribut hb'beAVh; versehen, einem Adjektiv, das schon den antiken Übersetzern Schwierigkeiten bereitete; immerhin fanden sie zumeist einen tadelnden Sinn darin. Es ist von der Wurzel bwv umkehren abgeleitet, mit der Jhwh in den beiden vorausgehenden Sätzen 21ef zur Heimkehr bzw. Umkehr eingeladen hatte. Freilich wird dieselbe Anrede auch in 49,4 an Ammon gerichtet in einem Kontext, der dem ostjordanischen Volk illusorische Selbstsicherheit bescheinigt, was ebenfalls auf eine Form der Missbilligung 257

31,22

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deutet. Äquivalente, die auf beide Parallelen passen, sind etwa aufsässig, unbesonnen, widerspenstig.74 22a bildet somit eine rhetorische Frage, die die Verantwortung für das anhaltende Elend den Exilanten selbst anlastet: Es ist mittlerweile ihr Versäumnis, wenn sie die Chance zum Aufbruch nicht nutzen. Ironischerweise wählen sie statt der Heimkehr (bwv) den Trotz (bbeAv). Auf die verschleppten Angehörigen der Nordstämme hin gesprochen, setzt der Text eine historische Situation voraus, als die Macht der Assyrer bereits weitgehend zerfallen war, während die Babylonier noch nicht deren Erbe angetreten hatten, sodass die Ansicht Plausibilität besaß, die Nachkommen der Deportierten hätten ihre Bewegungsfreiheit wiedererlangt. Auch dieses Indiz untermauert die Herleitung der authentischen Anteile der Trostschrift aus der Ära Joschijas. 22b begründet die Erwartung, die Exilanten sollten in die Heimat aufbrechen, mit einer von Jhwh bewirkten Epochenwende: denn Jhwh hat Neues geschaffen [auf der Erde]. Für schaffen steht im Hebräischen das Verb arb, das nur mit göttlichem Subjekt belegt ist, daher die analogielose Schöpfertätigkeit Jhwhs bezeichnet und somit hier betont: Der eingetretene Wandel ist so grundlegend, dass nur eine göttliche Intervention ihn herbeiführen kann. Was das so entstandene Neue ist, expliziert  – kenntlich an der Asyndese  – der Schlusssatz 22c, der für moderne Leser wohl die geheimnisvollste Aussage des gesamten Buches trifft und etwa wie folgt wiederzugeben ist: Weibliches umschirmt den Mann. Der Passus ist ein Musterbeispiel für die Möglichkeiten und Grenzen der Textinterpretation. Denn die rätselhafte Sentenz geht allen Anzeichen nach auf einen Textschaden zurück (TK); d. h. ihr liegt eine auktoriale Intention allenfalls in eng begrenztem Maße zugrunde, insofern ein Schreiber versucht haben könnte, einer unverständlichen Vorform mit behutsamen Korrekturen eine lesbare Gestalt zu verleihen. Das lässt sich nicht klären, doch wie dem auch sei: Der masoretische Wortlaut ist wahrscheinlich ein hochgradiges Zufallsprodukt. Bei der Suche nach dem Originaltext helfen auch die antiken Versionen nicht weiter, denn nach deren Zeugnis lief der Satz in verschiedenen Fassungen um, die aber allesamt ebenfalls gestört waren, sodass sie von ihren Übersetzern bloß eingeschränkt verstanden wurden. Schon die daher nur verschwommen erkennbaren Vorlagen sind kaum mehr wiederherzustellen. Ohnehin gälte in allen Fällen: Da lediglich den Launen der Textüberlieferung entsprungen, machen sie die Frage nach einer auktorialen Aussageabsicht müßig. Auch Konjekturen haben bis heute keine überzeugende Rekonstruktion hervorgebracht. Infolgedessen bleiben die Exegeten auf MT verwiesen. Dort aber hat sich eine Variante ergeben, die Geschlechterbeziehungen thematisiert und deshalb in neuerer Zeit auf gesteigertes Interesse gestoßen ist. Zu dieser Lesart ist nun die Frage zu stellen: Welches Verständnis darf angesichts von Vokabular und Kontext als textangemessen gelten? 22c beschließt eine heilstheologische Dichtung, die angesichts der Bußfertigkeit der Nordstämme das unbedingte Erbarmen Jhwhs verkündet, der mit der Heimkehr der Verschleppten das Heil wiederherstellen wird. 22b benennt den Grund zur Zuver74  Die viel zitierte Wiedergabe *Rudolphs: der die Freiheit winkt fußt auf einer konjektural abgewandelten Vokalisation.

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31,22

sicht: einen bereits erfolgten grundstürzenden Eingriff Jhwhs, dessen nähere Natur 22c offenlegt. Was 22c beschreibt, ist also laut 22b schon Wirklichkeit geworden. Wenn daher 22c das Neue durch eine invertierte Präfixkonjugation (x-yiqtul) als imperfektiven (unabgeschlossenen) Sachverhalt kennzeichnet, blickt der Satz nicht (nur) in die Zukunft, sondern schildert die Gegenwart. Das in 22c hervorgehobene Geschehen soll demnach nie zuvor dagewesenes, aber aktuell bereits angebrochenes Heil charakterisieren. Ferner stellt der Verbalsatz in den Rollen des Subjekts und Objekts die beiden Geschlechter einander gegenüber, und zwar in spezieller Akzentuierung: Als Subjekt fungiert hb'qen> Weibliches bzw. das Weibliche, ein Adjektiv, das im AT sonst ausschließlich als Oppositionsbegriff zu rk'z" männlich belegt ist;75 es betont folglich das physische Geschlecht unabhängig von Alter und sozialem Rang. Wie als Subjekt nicht das gängige hV'ai Frau dient, so tritt als Objekt auch nicht das Pendant vyai Mann ein, sondern rb,G< von der Wurzel rbg überlegen sein, das gelegentlich den Mann im Gegensatz zur Frau bezeichnen kann (Dtn 22,5; Ijob 3,3), aber jedenfalls den Akzent auf seine Kraft, Dynamik und unter Umständen seine Wehrfähigkeit legt.76 Das Vokabular schlägt in der Trostschrift einen intertextuellen Bogen zu 30,6, dem Schreckensszenario vor einem Angreifer, wo die männlichen Verteidiger vor Panik „verweiben“, ein für den patriarchalen Alten Orient überaus beschämendes Verhalten (s. z. St.). Dort fallen die Termini rb,G< sowie mit rk'z" männlich das Gegenstück zu hb'qen> weiblich (30,6cd). Die beiden Geschlechter werden in 22c verbunden durch ein verbales Prädikat, das auf der Basis bbs mit der Grundbedeutung sich drehen fußt. Der hier betroffene, relativ seltene Dopplungsstamm bedeutet umgeben, seltener statisch (umstehen Ps 7,8), meist aber dynamisch (umkreisen). Wie das äußerst breite Spektrum belegter Konnotationen erweist, ist bbs-D neutral und bezieht seine jeweilige Tönung aus dem Kontext. Sie kann bedrohlich ausfallen (Jon 2,4.6; Ps 55,11), aber auch behütend (Dtn 32,10; Ps 32,7.10) oder kultisch (Ps 26,6). Ein Fall mit erotischem Beiklang liegt nicht vor. Da 22c Heil zusagt, kommt aus der bezeugten Skala von Nebensinnen nur das schützende Umgeben in Betracht: umschirmen (Ges18). Der Umsturz der Verhältnisse in der nun angebrochenen Heilszeit zeigt sich somit in einer Verkehrung der Geschlechterrollen, insofern Frauen gleich welchen Alters oder gesellschaftlichen Status jene Beschützerpflicht übernehmen, die bislang den waffenfähigen Männern oblag, während Letztere ihrerseits zu Beschützten werden. Wurde also das Unheil exemplarisch augenfällig am schmachvollen „Verweiben“ der Kämpfer, bedingt das von Jhwh gewirkte Neue, dass nun gerade Frauen mit den Kriegern die Rollen tauschen. Es ist zweifelhaft, ob jemals ein Tradent explizit diese Botschaft im Jeremiabuch verankern wollte, aber so klang nach unseren Kenntnissen für antike Ohren der Satz, der aus den Zufällen des Traditionsprozesses hervorgegangen ist. Woher ein damaliges Publikum die radikal neuartige Rollenverkehrung erwarten konnte, lässt sich nur spekulieren. Vielleicht lautet die richtige Antwort so: Das Leben Israels sollte derart ungefährdet verlaufen, dass Frauen mühelos die Wehrpflichten der Männer über75 Vgl. 76 Vgl.

Gen 1,27; 5,2; 6,19; 7,3.9.16; Lev 3,1.6 usw.; s. Ges18 843a s. v. Dtn 22,5; Ri 5,30; Ijob 38,3.

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nehmen könnten, weil die Kämpferrollen überflüssig geworden waren. Dazu musste freilich das bereits geschaffene Neue als hintergründige Realität gedeutet werden, die erst in der Zukunft greifbare Gestalt annehmen würde, wie etwa im Gefolge der Stiftung des Neuen Bundes (Vv. 31–34). (Zahlreiche – z. T. sehr fantasievolle – Vorschläge zur Korrektur und Interpretation des Satzes referiert Bauer 137–145. Weitere Blüten exegetischer Kreativität sind zu erwarten.)

31,23–26 23  a  So spricht Jhwh [der Heerscharen, der Gott Israels]: ​ b  Man wird wieder dieses Wort aussprechen im Land Juda und in seinena Städten, wenn ich ihr Geschick wende: ​ c  „Es segne dich Jhwh, du Aue der Gerechtigkeit, heiliger Berg!“ ​ 24  a  Und wohnen werden darin Juda und alle seine Städte gemeinsam als Bauern – ​ b  mit der Herde brechen sie auf. ​ 25  a  Denn ich habe die lechzende Kehle getränkt, ​ b1  und jede Kehle, ​ c  die darbte, ​ b2  habe ich gelabt. – 26  a  Darüber erwachte ich ​ b  und sah, ​ c  und mein Schlaf war mir ange­ nehm. 23 a Das maskuline Suffix in wyr"['b.W bezieht sich auf hd"Why>, nicht #r-~aun> ~yaiB' ~ymiy" hNEhi (!kel') (Darum) siehe, Tage sind am Kommen, Spruch Jhwhs, … (dA[) arEQ'yI \ rmea'yE \ Wrm.ayO al{(w>) (da) man wird nicht (mehr) sagen  / nennen … … ~ai yKi (+ Verb in der Präfixkonjugation) sondern (man wird) … Das Schema tritt auch in 7,32 || 19,6 sowie in 16,14–15 || 23,7–8 auf, und zwar dort jeweils direkt nach der Eröffnung darum siehe, Tage sind am Kommen (vgl. ähnlich 3,16–17). Die Beschränkung des Schemas auf ein einziges Buch spricht für ein literarisches Erzeugnis; dies und die vorausgesetzte postexilische Situation lassen keinen Zweifel daran, dass hier Tradentenpropheten (Schreibtischpropheten) zur Feder gegriffen haben. 27 Die Datierungsformel 27a kündigt für die baldige Zukunft eine Epoche neuer Qualität an (s. zu 30,3), und wie die Gottesspruchformel anzeigt, ergreift wieder Jhwh das Wort, um die kommenden Tage als eine Heilszeit zu bestimmen, in der er die Völker Israel und Juda mit Samen von Mensch und Tier besäen (27b), also Volk und Viehbestand vermehren werde. Die Zusage wirft ein Schlaglicht auf die Lebensumstände ihrer Adressaten, wie sie die Anhänge mehrfach bezeugen: Vom Exil ist keine Rede mehr. Doch wenngleich Israel und Juda zwar als wieder in der Heimat ansässig gelten, sind damit längst nicht alle Nöte ausgeräumt. Die Bevölkerung ist aufgrund der gewaltigen Verluste im Gefolge des babylonischen Sieges erschreckend dahingeschmolzen (s. zu 43,1–7); dasselbe gilt für ihr Territorium (s. zu 41,17; 49,7– 22). Mangel an Menschen hieß, den Übergriffen opportunistischer Aggressoren ausgeliefert zu sein. So nimmt es nicht wunder, dass die nachexilische Heilsprophetie wiederholt die demographische Situation zum Thema macht (s. zu 30,19). Von materiellem Wohlstand, der sich namentlich im Viehbesitz dokumentiert,1 sind die Judäer überdies weit entfernt. Drückende Armut verschärft die Gefahr, einer feindseligen Umwelt zu erliegen. 28 In V. 28 stellt Jhwh die Erfüllung seiner Heilszusage durch ein Mischzitat aus 1,10.12 als neue Phase seines konsequenten Handelns an Israel dar; folglich setzt die Einheit das komplette Kap. 1 voraus. Wie ich über sie wachte …, so werde ich über sie wachen … (28bc) greift 1,12 aus den Wortanklangsvisionen 1,11–14 auf, die in der Chronologie des Buches die Ankündigung der Strafe in Gestalt des Feindes aus dem Norden an den Beginn der prophetischen Laufbahn Jeremias stellen. Die Beschreibung von Jhwhs Handeln durch die deuterojeremianische Formel vom Niederreißen und Aufbauen2 zitiert den Auftrag, den Jhwh laut 1,10 dem Propheten im Zuge seiner Berufung erteilt hatte. Was allerdings dort in einer homogenen Serie von Infinitiven als ein Übergang vom Unheil zum Heil ohne signifikante Zäsur erscheint, wird hier im Einklang mit der Datierungsformel 27a auf zwei klar geschiedene Epochen gegensätzlicher Qualität verteilt: Das zerstörerische Walten Jhwhs ist vergangen (28b); die Zukunft gehört seinem Heilswirken (28c). Wenn dabei die Korrespondenz rv,a]K; wie – !Ke so die Fülle des zugesagten Heils mit dem Ausmaß des vergangenen 1 Vgl.

z. B. Gen 12,16; 13,5; 20,14; 21,27; 24,10.35; 26,14; 32,6.15–16 u. v. a.  Sämtliche weiteren Belege in Jer ohne Rücksicht auf ihre Stratigraphie: 1,10; 12,14–17; 18,7.9; 24,6; 31,40; 42,10; 45,4. Davon sind jedenfalls mehrere Fälle älter als 31,28. Vgl. Am 9,14–15; Ez 36,36; zu schwächer ausgeprägten Parallelen s. Kon 96 f. 2

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Unheils gleichsetzt, spricht der Text zu Menschen, die sich dieses Unheils besonders schmerzlich bewusst sind. Sie werden mit der Zusage bestärkt, dass die künftige Erneuerung selbst diese Wunden heilen wird. Die Infinitivkette wurde vormasoretisch um jene drei Glieder erweitert, die ihr gegenüber der Quelle 1,10 fehlten. So entstand das längste Exemplar der geprägten Wendung, das mit sieben Gliedern ihr komplettes Vokabular abdeckt; die fünf Glieder der negativen Seite in 28b unterstrichen zudem im Umkehrschluss auch den Reichtum der verheißenen Gaben. War der in der Verbenkette gebündelte weltweite Umsturz der Verhältnisse in 1,10 der vollmächtigen Mittlerschaft des Propheten als königsgleichem Sachwalter Jhwhs auf Erden aufgetragen worden (s. z. St.), schreibt V. 28 die Akte dem eigentlichen Urheber zu: Jhwh. Darüber hinaus wird nun offenbar, dass die schon bei Jeremias Berufung angekündigte konstruktive Seite der Umwälzungen mit der Heimkehr der Exilanten Wirklichkeit zu werden beginnt. In 29–30 fügt Jhwh für jene Tage (29a), also die in 27a angekündigte neue Epoche, 29–30 eine weitere Verheißung hinzu, deren Inhalt er zunächst über eine ihrer konkreten Folgen andeutet: dass nämlich eine bedrückende Lebensweisheit ihre Gültigkeit verlieren werde (29bc); erst anschließend wird mit dem theologischen Sachgrund die eigentliche Heilsgabe beim Namen genannt (30a). In der anbrechenden Heilszeit werde das Sprichwort Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber die Zähne der Söhne werden stumpf außer Gebrauch geraten, weil ihm die Erfahrungsgrundlage entschwinde. Die beiden Sätze bilden einen antithetischen Parallelismus mit zwei Kola zu je drei Hebungen (sog. Doppeldreier), sind also poetisch; dazu sind sie leicht abgewandelt nochmals in Ez 18,2 explizit als lv'm' Sprichwort zitiert. Es handelt sich um eine Redensart des Typs „Was die Väter eingebrockt haben, müssen die Kinder auslöffeln“, die die historische Erfahrung der intergenerationellen Haftung in ein Bild fasst: Jüngere Geschlechter haben den Schaden auszubaden, den ihre Vorfahren angerichtet haben. Die Schuldigen bleiben ungeschoren; stattdessen trifft es jene, die über das sachfremde, unverschuldete und irreversible Band der Nachkommenschaft an sie gekettet sind, denn seinen Vater kann man weder aussuchen noch nachträglich abwählen; für die Opfer ist der Schaden daher ein blindes Verhängnis. In dieser Regel waltet ein anonymes Schicksal, von Gott ist keine Rede. Dabei geht das hebräische Sprichwort über sein deutsches Pendant hinaus, insofern es die historische Gesetzmäßigkeit nicht nur konstatiert, sondern auch ihre Ungerechtigkeit beklagt, indem es eine Metapher wählt, die rhetorisch einen unmöglichen Kausalnexus behauptet, da die Kost des einen nun einmal den Zähnen eines anderen nichts anhaben kann, vom zeitlichen Verzug ganz zu schweigen. Will sagen: Die historische Gesetzmäßigkeit ist eine Erfahrungstatsache – die es aber gar nicht geben dürfte, ginge es in der Welt mit rechten Dingen zu. Dabei zeigt der Vergleich, dass das Sprichwort in 29b gegenüber seiner wahrscheinlichen Standardfassung im Ezechielbuch in einem maßgeblichen Punkt abgewandelt ist. In Ez 18,2 ist nicht nur der Nachsatz, sondern auch der Vordersatz imperfektiv (unvollendet) und mithin als jederzeit gültige Norm stilisiert: Wlk.ayO (Die Väter) essen … (vgl. aber GSV). In 29b hingegen findet sich der perfektive (vollendete) Aspekt: Wlk.a' (Die Väter) haben gegessen … D. h. in Jer wird das Sprichwort historisch konkre267

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tisiert und so direkt auf die Situation der Adressaten angewandt, um ein verbreitetes Lebensgefühl anzusprechen: Die frühnachexilischen Judäer sind schuldlos an ihrem Elend, aber aufgrund der ungerechten Weltordnung unentrinnbar in den Folgen der Sünden ihrer Väter gefangen (Klgl 5,7). Sie sind von Jhwh abgeschrieben, sie haben keine Zukunft mehr (zum weiteren Vergleich mit Ez 18 s. u.). Die Resignation rührt aus der im Alten Orient verbreiteten Überzeugung, dass katastrophische Ereignisse mit einer Vielzahl von Opfern, wie es auch auf die Niederlage von 587 zutrifft, göttliche Strafen darstellten, die besonders schwerwiegende, generationenübergreifende Schuld ahnden sollten. Während im profanen Strafrecht weithin konsequent der Grundsatz individueller Verantwortlichkeit respektiert wurde, griff man in solchen geschichtstheologischen Interpretationszusammenhängen zur Deutekategorie der kollektiven Vergeltung, um der Größenordnung der erklärungsbedürftigen Widerfahrnisse Rechnung zu tragen; obendrein sah man sich häufig vor der Aufgabe, den zeitlichen Verzug zwischen der mutmaßlichen Ursache und der Straffolge zu motivieren (Schmid).3 In Jer rekurrierten die jeremianischen Deuteronomisten auf das Prinzip intergenerationeller Kollektivstrafen, als sie im Dienste der Theodizee den Untergang Judas mit der seit dem Exodus angehäuften Schuld erklärten.4 Wenn sie dann Jhwh rigorose Verwerfungsurteile in den Mund legten5 und obendrein Juda mit dem erloschenen Nordstaat parallelisierten (7,12–15; 26,6.9), leisteten sie dem Eindruck Vorschub, dass Jhwh sich für immer von seinem Volk abgewandt habe. Damit schrieben sie Interpretationsmuster fort, die bereits von den Deuteronomisten um das DtrG entwickelt worden waren, namentlich mit ihrer These, dass die Sünden der Generation zur Zeit des Königs Manasse trotz der zwischenzeitlichen Reformen Joschijas unverrückbar das Schicksal Judas besiegelten.6 Noch die originale Trostschrift ging von der Rechtmäßigkeit intergenerationeller Haftung aus (31,19e). Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn damals, wie das AT bezeugt, die Frage nach der endgültigen Verwerfung Judas explizit aufgeworfen wurde (Ps 74,1; 89,47; Klgl 5,20.22). Nicht wenige Überlebende sollen das verzweifelte Fazit gezogen haben, dass ihre Sündenlast alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft endgültig zunichtegemacht habe (Ez 33,10). 3  Dtn 24,16, zitiert in 2 Kön 14,6, verbietet die Sippenhaftung; auch die Talionvorschriften Ex 21,23–25; Lev 24,19–20; Dtn 19,21 sollten die Bestrafung des Täters auf das Ausmaß des angerichteten Schadens beschränken, was normalerweise die Verschonung seiner Angehörigen einschloss. Im politischen Raum wurde indes gegen Gruppen vorgegangen, wenn man die Ausschaltung von Opposition als Strafe kaschierte; vgl. 1 Sam 22,18–19; 2 Sam 21,8–9; 2 Kön 9,26 in Verbindung mit 1 Kön 21. Dies erklärt auch die Häufigkeit kollektiver Strafdrohungen in altorientalischen Staatsverträgen, die ohnehin zumeist Pflichtenkataloge von Vasallen darstellen. Zur religiösen Sphäre vgl. ferner z. B. Gen 18,22–32; Lev 20,1–5; Num 16, bes. V. 31–35; 26,10–11; Dtn 7,9–10; 21,1–9; Jos 7, bes. V. 24–25, wo die Kollektivstrafe sekundär interpoliert wurde; 1 Kön 14,10–11; 16,3–4; 21,20–24; 2 Kön 9,8–9; Jes 14,21; Jer 18,21; Hos 4,5–6; Am 7,17; Ps 109,9–10.13; dazu die sog. Gnadenformel Ex 34,7; Num 14,18; Jer 32,18 samt ihrer hinsichtlich der Strafopfer deutlich abgeschwächten Variante Ex 20,5–6 || Dtn 5,9–10. – Anders zu bewerten ist der Bannvollzug, da nicht zum Bereich der Rechtspflege gehörig (s. zu 25,9). 4 Mit Erwähnung des Exodus: 7,22–26; 32,21–23; vgl. MT 11,7–8. Schuldkontinuum seit der Zeit der „Väter“ Israels: 11,10; 16,11–12; 32,30–35; 44,3–5.9–10; vgl. 3,25. 5 Z. B. 7,20.32–34; 8,1–3; 9,15; 13,14; 15,1–3(4); 16,3–4.6.9.13; 19,6–13; 25,9–10; 34,17–22. 6  Vgl. z. B. Dtn 28,15–68; 2 Kön 17,7–23; 21,10–16; 22,16–20; 23,26–27; 24,3–4.20; 25,21.

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Auf diesen Kleinmut zielt die Erklärung, warum die Redensart – und damit die be- 30 zeichnete historische Gesetzmäßigkeit – ihre Gültigkeit verlieren werde. Die Ursache für den Bedeutungsverlust ist theologischer Art: Künftig wird jeder für seine (eigene) Schuld sterben (30a); d. h. auch schwerste Vergehen werden nicht mehr mit Sippenhaftung, sondern nur noch individuell geahndet. Im Einklang mit den blutigen Erfahrungen, die das verhandelte theologische Problem aufgeworfen haben, wird das neuartige Prinzip der Individualhaftung am Todesrecht exemplifiziert. Um keinerlei Missverständnis zuzulassen, wiederholt 30b den Grundsatz in der Metaphorik des Sprichworts und sichert damit den Konnex zwischen Bild‑ und Sachebene. Die Erklärung setzt voraus, dass die zitierte Redensart durchaus korrekt beschrieb, wie Jhwh mit seinem Volk umging, sofern man das Gesetz, das in der knappen Sentenz als anonymes Verhängnis erscheint, als theonom garantierte Weltordnung begreift. Damit wird für die Vergangenheit die traditionelle, theodizeegeleitete Erklärung des Untergangs Israels und Judas als göttliche Quittung für die jahrhundertelang angehäufte Kollektivschuld aufrechterhalten, sodass die Gerechtigkeit Jhwhs in seinem drakonischen Vorgehen gegen sein Volk gewahrt bleibt. Zugleich wird jedoch für die Zukunft die generationenübergreifende Haftungsgemeinschaft gekappt und durch die Individualhaftung ersetzt. Damit ist ein Neubeginn möglich, denn die Israeliten sind endlich nicht mehr Geiseln ihrer Vergangenheit. Hier tritt eine Problematik zutage, die die Anhänge zur originalen Trostschrift insgesamt prägt: die Frage, wie die Existenz der heimgekehrten Israeliten auf Dauer gesichert werden kann. Solche Ängste wurden provoziert durch die bitteren Erfahrungen des eigenen Versagens in der Vergangenheit und die prekären Lebensumstände der Gegenwart. Die erste Einheit reflektiert dieses Thema teils materiell, teils theologisch: In 27b sagt Jhwh Abhilfe für die erbärmlichen Verhältnisse zu; in V. 28–30 erklärt er, wie die Israeliten einer Reprise jener Katastrophen entgehen können, die sie angesichts ihrer unaufhebbaren Sündigkeit zwangsläufig wieder einholen müssten. Um den verhängnisvollen Automatismus zu brechen, so die Logik von V. 27–30, bedarf es nicht weniger als der Bereitschaft Jhwhs, im Umgang mit seinem Volk einen grundlegenden Wandel zu vollziehen, nämlich zu einer anderen Art von Gerechtigkeit mit neuen Regeln überzugehen und damit eigens für Israel die Verfassung der Welt zu novellieren. Dieses theologische Denkmodell findet sich auch andernorts in der atl. Literatur der exilisch-frühnachexilischen Epoche. In der Pentateuch-Quellenschrift, die wir die Priesterschrift nennen, entkriminalisiert Gott in der sog. nachsintflutlichen Kompromissordnung Gen 9,1–7 die Tötung von Tieren zum Zweck des Verzehrs und erklärt damit für zulässig, was zuvor verboten war (Gen 1,29–30) und für Gott einen wesentlichen Grund dargestellt hatte, die Strafe der Flut zu verhängen (vgl. Gen 6,11–12). Für die dergestalt neu geordnete Welt proklamiert Gott anschließend seinen künftigen Verzicht auf solch umfassende, destruktive Sanktionen und zieht so seiner eigenen Machtausübung Grenzen (Gen 9,8–17). Mit seinem Konzept ging der priesterliche Autor erheblich weiter als der Verfasser der vorpriesterlichen Parallele, für den Jhwh ebenfalls nach der Flut freiwillig seine Machtmittel beschränkt hatte, allerdings ohne deshalb für die Lebewesen neue Regeln zu erlassen (Gen 8,21–22). Funktioniert die Verfassungsnovelle von Gen 9 innerhalb eines Literaturwerks, wo sie im Rahmen eines universalgeschichtlichen Entwurfs zur Epochengliederung beiträgt, so kommt der Bundesschluss mit Abra(ha)m in Gen

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17 auf theologiegeschichtlicher Ebene einem solchen Eingriff gleich. War der Bundesbruch in älteren deuteronomistischen Vorstellungen – wie auch in Jer 11,10; 31,32 MT – ein Akt Israels, sodass die Strafe dementsprechend auch das Kollektiv des Volkes treffen musste, so schraubte der priesterliche Autor nicht nur die Bundesforderungen extrem weit herunter, nämlich von einem ganzen Gesetzeskorpus auf die Beschneidung (Gen 17,9–13), sondern obendrein verlegte er das Vergehen in die Sphäre des Einzelnen und versah es mit einer individuellen Strafdrohung (V. 14), sodass Israel daran nur noch in einem kaum denkbaren Extremfall scheitern konnte – ein weiteres Beispiel für die Rückgewinnung des Prinzips der individuellen Ahndung für die religiöse Sphäre.

Die frohe Botschaft von Jer 31,27–30 lautet: Eine ebensolche Novellierung der Verfassung der Welt habe Jhwh durch Jeremia für die baldige Heilszeit verheißen, die laut dem Vortext mit der Heimkehr der Exilanten anbrechen werde. Der zweite Beleg des Sprichworts 29bc in Ez 18,2 fungiert als Aufhänger der Disputationsrede Ez 18, in der Jhwh den Zeitgenossen Ezechiels darlegt, wie er Lohn und Strafe nach einem verschärften Prinzip der individuellen Verantwortung zuerkennt: Es gibt keine intergenerationelle Übertragung von Schuld und Verdiensten; ein Mensch kann nicht einmal mit eigenen früheren Verdiensten späteres Verschulden aufwiegen, wie im Gegenzug aber auch die Umkehr zuverlässig vor den Straffolgen einer sündhaften Vergangenheit schützt. Schon deshalb muss das Zitat in Ez 18,2 anderen Zwecken dienen als in Jer. Weiterhin macht Jhwh den Judäern die Verwendung der Redensart zum Vorwurf (V. 2) und geht sogar so weit, ihren Gebrauch zu untersagen (V. 3). Das Verbot deutet an, dass die Adressaten die generationenübergreifende Haftung entschieden begrüßen, wie sich bestätigt, wenn sie gegen Jhwhs Grundsätze bei der Zumessung von Lohn und Strafe mit der Frage aufbegehren: Warum musste der Sohn nicht (schon immer) an der Schuld des Vaters mittragen? (V. 19) Ferner wird ihnen zweifach der Protest in den Mund gelegt: Der Weg des Herrn ist nicht richtig (Vv. 25.29), was Jhwh jeweils mit dem Gegenvorwurf kontert: Sind nicht (vielmehr) eure Wege nicht richtig? (Vv. 25.29), bevor er ihnen ankündigt, einen jeden nach seinen Wegen zu richten (V. 30), und mit einem eindringlichen Aufruf zur Umkehr schließt (Vv. 30–32). Jhwhs Antworten auf die Einwände implizieren mithin massive Anklagen an die Adresse der Judäer. Ez 18 geht mit Jer 31,27–30 einig, dass es Jhwh ist, der über die Möglichkeit der intergenerationellen Schuldübertragung entscheidet. Daneben sind jedoch zwei Unterschiede hervorzuheben: (1) Anders als in Jer kann in Ez die intergenerationelle Haftungsgemeinschaft gar kein Ende nehmen, weil es sie niemals gegeben hat, da Jhwh sie kategorisch verurteilt. (2) Während die Judäer in Jer das Verhängnis der generationenübergreifenden Haftung beklagen, begehren sie in Ez umgekehrt gegen Jhwhs Weigerung auf, einen solchen Transfer vorzunehmen, den sie geradezu als überzeitlich gültige Norm einfordern, die auch Jhwh verpflichtet. Folgerichtig zitieren sie das Sprichwort in seiner mutmaßlich originalen Gestalt mit imperfektiven Verbalformen in beiden Hälften (s. o.). Das Ansinnen der Judäer offenbart den unrealistischen, konstruierten Charakter der Szene, denn normalerweise verfiele niemand auf die Idee, die eigene Mitbestrafung für die Sünden anderer zu verlangen. Die unterschiedlichen Gebrauchsweisen der Sentenz in Jer 31 und Ez 18 spiegeln die andersartigen Aussageziele. Laut der Chronologie des Ezechielbuchs wurde das Dis270

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putationswort in den Jahren Zidkijas offenbart.7 Es verwirft die intergenerationelle Haftung und droht das individuelle Gericht über die Zeitgenossen Ezechiels an (V. 30). Trifft das Unheil ein, vollstreckt es folglich die Sühne für die Schuld der innertextlichen Adressaten. Wenn die Judäer ihrerseits für die Kollektivhaftung eintreten, die die Söhne für die Vergehen ihrer Väter zur Rechenschaft zieht (V. 19), soll ihnen dieses Prinzip eine beachtliche Entlastung eintragen, indem es den Rückschluss von ihrem Schicksal auf ihr Tun unterbindet und so die Möglichkeit ihrer Unschuld offenhält. Deshalb ergibt das Kapitel einen guten Sinn, wenn es in Kenntnis der Katastrophe von 587 entworfen wurde. Die überraschende Berufung der Judäer auf das Sprichwort in Ez 18,2 entlarvt ihre Selbstgerechtigkeit, denn sie dient dem Zweck, sich vorsorglich von der Schuld an jedwedem Unheil zu exkulpieren, das sie künftig ereilen könnte, und die Verantwortung auf die Vorfahren abzuwälzen. Dem hält Ez 18 entgegen, dass Jhwh keine intergenerationelle Haftung praktiziere. Vor 587 gelesen, unterstrich Ezechiel damit die jederzeitige Möglichkeit zur Umkehr, weil niemand durch die Vergangenheit gefesselt war, weder durch jene der Vorfahren noch durch die eigene. Nach 587 gelesen, galt: Die Niederlage konnte einzig durch die Betroffenen selbst verschuldet sein, deren Unschuldswahn ihre Sündenlast nur gesteigert hatte. Die Anhänge zur originalen Trostschrift wurden nach der impliziten Chronologie des Buches zwar ebenfalls unter Zidkija offenbart, aber die Prophezeiung V. 27–30 gilt laut 27a erst für die kommenden Tage, die durch Kontextindizien als die Zeit der (beginnenden) Heimkehr aus dem Exil kenntlich werden. Das Orakel zielt folglich auf die frühnachexilischen Judäer, die mit der zitierten Redensart über die Last der Schuld ihrer Väter klagen. Laut der Gottesstimme tun sie dies jedoch zu Recht. Ihnen wird zugesagt, dass das Sprichwort seine Gültigkeit verlieren wird – die es somit vorher besessen hat. Das Ende der intergenerationellen Haftung und der Kollektivstrafen kommt dem Beginn einer Heilszeit gleich, in der Israel nicht mehr Gefahr läuft, an seiner Sündigkeit zugrunde zu gehen.

31,31–34: Der Neue Bund 31  a  Siehe, Tage sind am Kommen  – Spruch Jhwhs  –, ​ b  da werde ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen; ​ 32  a  nicht b  den ich mit ihren Vätern geschlossen habe an dem Tag, als ich wie der Bund, ​ c  weila sie an der Hand fasste, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen, ​ d  wo ich doch ihr Herr sie meinen Bund gebrochen / nicht eingehalten haben, ​ bin!  – Spruch Jhwhs; ​ 33  a  sondern dies ist der Bund, ​ b  den ich mit dem Haus Israel schließen werde nach jenen Tagen – Spruch Jhwhs: ​ c  Ich gebe (hiermit)a meine Weisung in ihr Inneres, ​ d  und auf ihr Herz werde ich sie schreiben. ​ e  Dann werde ich ihnen zum Gott werden, ​ f  und sie werden mir zum Volk werden. ​ 34  a  Und sie werden einander nicht [mehr] belehren, ein jeder seinen Nächsten und ein jeder seinen Bruder: ​ b  „Erkennt Jhwh!“, ​ c  sondern sie alle werden mich erkennen vom Kleinsten bis zum Größten [– Spruch Jhwhs –], ​  Vgl. Ez 8,1; 20,1: 6. und 7. Jahr von Jojachins Exil = ca. 593–591.

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d  denn ich werde ihre Schuld vergeben, ​ e  und ihrer Sünde werde ich nicht mehr gedenken. 32 a Welche Funktion der Autor der Partikel rv,a] am Beginn von 32c zugedachte, ist nicht klar zu erkennen. Nimmt man einen relativen Bezug auf ~t'Aba] ihre Väter 32b oder tyrIB. Bund 32a an, ergibt sich entweder eine Unterordnung zu oder eine parallele Fortführung von 32b, aber jeweils auch eine Doppelung der Relativpartikel zu einem Element innerhalb von 32c (hM'he bzw. ytiyrIB.). Ein Leser, der das übrige Bedeutungsspektrum von rv,a] nach einer passenden Option absuchte, konnte am ehesten auf die kausale Funktion stoßen, wie es auch der JerG*-Übersetzer tat (ὅτι); vgl. HAL 95b s. v. rv,a] IIc; Ges18 112a s. v. rv,a] 8. 33 a yTit;n" ist textkritisch gegenüber jenen Zeugen zu bevorzugen, die eine Verbalform mit futurischer Zeitdeixis bieten (TK), bleibt aber syntaktisch schwer zu erklären. Zur Rechtfertigung der performativen Interpretation vgl. z. St.

Literatur: S. Lit. zu 31,27–40. – P.-M. Bogaert, Loi(s) et alliance nouvelle dans les deux formes conservées du livre de Jérémie (Jr 31,31–37 TM; 38,31–37 LXX), in: C. Focant (Hg.), La loi dans l’une et l’autre testament (LD 168), Paris 1997, 81–92. P. Bovati, La „nuova alleanza“ (Ger 31,31–34), in: ders., „Così parla il Signore“. Studi sul profetismo biblico (Collana biblica), Bologna 2008, 183–210. B. C.  Caero Bustillos, Grammatik und Bedeutung. Die Rolle des weqatál in Jer 31,31–34, KUSATU 6 (2006) 33–60. R. P.  Carroll, Inscribing the Covenant: Writing and the Written in Jeremiah, in: Graeme A. Auld (Hg.): Understanding Poets and Prophets (FS G. W. Anderson; JSOT.S 152), Sheffield 1993, 61–76. E. Ehrenreich, Neuer Bund in der Trostrolle, in: D. Markl (u. a., Hg.), Gottes Wort im Menschenwort (FS G. Fischer SJ; ÖBS 43), Frankfurt a. M. 2014, 141–152. K. Finsterbusch, „Ich habe meine Tora in ihre Mitte gegeben“. Bemerkungen zu Jer 31,33, BZ 49 (2005) 86–92. K. Finsterbusch, Auszugs-Bund, neuer Bund und weitere Bünde. ‚Berit‘ im älteren (hebr. Vorlage LXX-Jer) und im jüngeren Jeremiabuch (MT-Jer), in: N. McDonald, Matthew J. Lynch (Hg.), Covenant and Election in Exilic and Post-Exilic Judaism (FAT 2.79), Tübingen 2014, 87–121. E. Franco, L’antichità dell’alleanza nuova, RivBib 60 (2012) 293–328. Y. Goldman, Le Seigneur est fidèle à son alliance. Continuité et rupture dans l’histoire d’Israël d’après la forme longue du livre de Jérémie (TM Jr 31,31–34; 17,1–4; 11,7–8), in: A. Schenker, Ph. Hugo (Hg.), L’enfance de la Bible hébraïque. L’histoire du texte de l’Ancien Testament à la lumière des recherches récentes (Le Monde de la Bible 52), Genève 2005, 199–219. B. Gosse, La nouvelle alliance et les promesses d’avenir se référant à David dans les livres de Jérémie, Ezéchiel et Isaïe, VT 41 (1991) 419–428. B. Gosse, La nouvelle alliance de Jérémie 31,31–34: Du livre d’Ezéchiel au livre de Jérémie, ZAW 116 (2004) 568–580. P. J.  Gräbe, New Covenant and Creation, in: S. Fischer, M. Grohmann (Hg.), Weisheit und Schöpfung (FS J. A. Loader; Wiener alttestamentliche Studien 7), Frankfurt 2010, 107–120. W. Gro, Erneuerter oder neuer Bund? Wortlaut und Aussageintention in Jer 31,31–34, in: F. Avemarie (Hg.), Bund und Tora. Zur theologischen Begriffsgeschichte in alttestamentlicher, frühjüdischer und urchristlicher Tradition (WUNT 92), Tübingen 1996, 41–66. W. Gro, Zukunft für Israel. Alttestamentliche Bundeskonzepte und die aktuelle Debatte um den Neuen Bund (SBS 176), Stuttgart 1998. W. L.  Holladay, The Structure and Possible Setting of the New Covenant Passage, Jer 31,31–34, in: V. Collado Bertomeu (Hg.), Palabra, prodigio, poesía. In Memoriam P. Luis Alonso Schökel, S. J. (AnBib 151), Roma 2003, 185–189. F.-W. Horn, Die Verheißung des neuen Bundes (Jer 31,31–34), in: B. Kollmann (Hg.), Die Verheißung des Neuen Bundes. Wie alttestamentliche Texte im Neuen Testament fortwirken (BTSP 35), Göttingen 2010, 187–199. F.-L. Hossfeld, Bund und Verheißung in nachexilischen Bundestexten, in: F. Bruckmann, R. Dausner (Hg.), Im Angesicht der Anderen. Gespräche zwischen christlicher

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Die Anhänge zur originalen Trostschrift

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31,31–34

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Wie die Fülle der Literaturangaben illustriert, sind die vier Verse zum Neuen Bund derzeit der meistdiskutierte Passus des Jeremiabuches. Dies hat weniger innerexegetische Ursachen als vielmehr den Grund, dass anhand von 31,31–34 fundamentale Probleme des Verhältnisses von Judentum und Christentum reflektiert werden, die auf christlicher Seite tief an das eigene Selbstverständnis rühren und mit Fragen der Heilsbedeutung Jesu Christi verquickt sind. Der im AT singuläre Ausdruck hv'd"x] tyrIB. neuer Bund V. 31 ist in die paulinisch-lukanische Fassung des Kelchworts eingegangen: „Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut“ (1 Kor 11,25; Lk 22,20; vgl. Mt 26,28; Mk 14,24), ein Ausdruck der Überzeugung, dass die Verheißung Jer 31,31–34 in Jesus Christus und seinem Sühnetod in Erfüllung gegangen sei. Ferner deutet Hebr 4,14–10,18 Jesus Christus als den Hohenpriester des Neuen Bundes und gibt dazu Jer 31,31–34 in voller Länge in einer JerG* ähnlichen Fassung wieder, das umfangreichste alttestamentliche Zitat im NT überhaupt (Hebr 8,8–12; vgl. auch den Auszug aus Jer 31,33–34 in Hebr 10,16–17). Das Theologumenon des Neuen Bundes ist so zu einem zentralen Interpretament des Christusereignisses und des Geschehens in der Messfeier geworden. In 2 Kor 3,6 beschreibt sich Paulus in 274

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31,31–34

seiner missionarischen Aufgabe als „Diener des Neuen Bundes“, der dem „Alten Bund“ gegenübersteht, einer Größe, aus der „vorgelesen“ wird (ἀνάγνωσις V. 14), was gleichbedeutend damit ist, dass „Mose vorgelesen wird“ (ἀναγινώσκω V. 15). Folglich umfasst der „Alte Bund“ sowohl das Literaturkorpus der Tora als auch das darin entfaltete Gottesverhältnis: den Sinai‑ bzw. Horebbund. Die Übersetzung von hv'd"x] tyrIB. durch διαθήκη καινή in JerG* und der neutestamentlichen Belege durch novum testamentum in der Vulgata (Lk 22,20; 1 Kor 11,25; 2 Kor 3,6; Hebr 8,8),8 kombiniert mit Paulus’ Rede vom „Alten Bund“ in 2 Kor 3,14 (παλαιὰ διαθήκη, Vulgata vetus testamentum), hat schließlich die Namen der beiden Teile der christlichen Bibel hervorgebracht: Altes und Neues Testament, Bezeichnungen, die auch in Umrissen eine Verhältnisbestimmung andeuten. Weil somit bei der Interpretation von Jer 31,31–34 hohe theologische Einsätze auf dem Spiel stehen, wird die Debatte um die korrekte Auslegung außerordentlich engagiert geführt. Wie es scheint, werden im Dienste moderner theologischer Interessen nicht selten erhebliche Anstrengungen unternommen, um den Wortlaut der Perikope zu relativieren und namentlich den Sachgehalt des Adjektivs vd"x' neu 31b als Spezifikum des verheißenen Bundes möglichst restriktiv zu bestimmen. Infolgedessen betritt, wer sich dazu äußert, ein mit neuralgischen Punkten vermintes Feld. Deshalb sei vorweg daran erinnert, dass die Exegese zunächst die Textaussagen zu erheben hat; was die religiösen Gemeinschaften, die sich auf die Bibel als ihre Offenbarungsurkunde beziehen, mit diesen Aussagen anfangen, ist eine unausweichliche, aber separate Frage, die nicht allein auf der Basis der jeweils betroffenen Einzeltexte beantwortet werden kann. – Die nachstehende Erklärung folgt im Wesentlichen der Analyse von Gro, Zukunft für Israel 134–152. Eingangs ist eine Übersetzungskonvention zu rechtfertigen: Hier wird die geläufige Wiedergabe von tyrIB. berīt durch Bund beibehalten, die sich weiterhin als bester Kompromiss empfiehlt, wenn für den religiösen Gebrauch des Substantivs ein einheitliches deutsches Äquivalent gesucht wird (in anderen Sprachen z. B. covenant, alliance, alleanza, alianza, verbond usw.). Die Grundbedeutung von tyrIB. lautet am ehesten Verpflichtung; handelt es sich um eine Verpflichtung, die mehrere Partner untereinander eingehen, ergibt sich die Bedeutung Abmachung, Vertrag, in politischem Rahmen auch Bündnis. Wohl ab dem 7. Jh. haben Israeliten begonnen, sich das Verhältnis Jhwhs zu seinem Volk nach der Analogie von Staatsverträgen zurechtzulegen, wobei insbesondere Treueide Pate standen, die die Assyrer ihren Vasallen auferlegten, ein Modell, das namentlich in der deuteronomisch-deuteronomistischen Theologie Schule gemacht hat. Hier trifft die Übersetzung Bund den Sachverhalt recht genau: Gemeint ist ein Gottesverhältnis, in dem Jhwh bestimmte für Israel lebensnotwendige Gaben gewährt und dafür als Gegenleistung die Befolgung seines im Gesetz niedergelegten Willens verlangt. Aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen Israels erwies sich das Konzept bald als problematisch, weil die Vertragsförmigkeit des Gottesverhältnisses in der Theorie seine Widerruflichkeit einschloss, insbesondere wenn Israel den Forderungen Jhwhs nicht nachkam. In einem solchen Deuterahmen musste die Exilska In Jer 31,31 hingegen foedus novum.

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31,31–34

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tastrophe als Strafe für Israels Bundesbruch erscheinen, die ein Fragezeichen hinter den Fortbestand des Gottesbezugs überhaupt setzte. Deshalb revidierten priesterliche Theologen die tyrIB.-Vorstellung derart, dass diese nur noch einseitige Zusagen Jhwhs umfasste und tyrIB. folglich reine Verheißung bzw. einen Gnadenbund bezeichnete (s. zu 31,27–30). Die Begriffspaare Bund und Gnadenbund bzw. Gebot und Verheißung markieren die beiden grundlegenden alternativen Entwürfe, die die biblische Bundestheologie hervorgebracht hat. Welches Denkmodell jeweils vorliegt, muss die Exegese von Fall zu Fall klären; so auch hier.

Textgenese Vorweg hatte die originale Trostschrift samt ihrem Vorspann (30,3) die Heimführung verheißen. Der erste Anhang schritt fort zur Existenzsicherung Israels auf eigenem Boden: materiell durch die Mehrung von Menschen und Viehbestand (31,27–28), religiös per Ablösung der Kollektivhaftung durch individuelle Vergeltung (31,29–30). Die Vv. 31–34 stärken die religiöse Existenzsicherung weiter, allerdings auf anderem Wege, nämlich indem sie Strafen überflüssig machen und damit das Gottesverhältnis auf eine unverbrüchliche Basis stellen (s. u.). Nach heutiger Logik schließen die beiden Konzepte einander aus, weil das Ende der Strafen auch die individuelle Ahndung erübrigt. Es fragt sich indes, ob man in der Antike den konzeptionellen Widerspruch empfunden oder vielmehr die Alternativen als Aspekte einer komplexen Wirklichkeit betrachtet hat. Die beiden Abschnitte sind durch strukturelle Gemeinsamkeiten verbunden, die freilich auch auf Imitation beruhen können. Insgesamt wird besser offenbleiben, ob die Vv. 27–34 literarisch auf einer Ebene liegen. Mitunter hat man interne Wachstumsprozesse angenommen (Levin, Verheißung; Days), doch bleiben die Indizien mehrdeutig, von geringfügigen prämasoretischen Retuschen abgesehen (s. v. a. zu 32cd).

Abgrenzung und Struktur Der Abschnitt ist nach oben abgegrenzt durch die Datierungsformel Siehe, Tage sind am Kommen  – Spruch Jhwhs 31a, die gegenüber 27a wiederholt wird, obwohl die Gottesrede fortdauert. Danach vollzieht die prophetische Botenformel 35a einen Neueinsatz, abermals bei ununterbrochener Gottesrede. Auf die Datierung folgt wie in V. 27 die zentrale Verheißung (31b), hier des Neuen Bundes, der anschließend  – analog zu V. 29–30 – inhaltlich erläutert wird in kontrastiven Wendungen, die nach dem Muster nicht (mehr) – sondern zwei gegensätzlich geartete Epochen im Gottesbezug Israels unterscheiden, verteilt jeweils auf die Vergangenheit samt Gegenwart sowie die Zukunft. Das geschieht doppelt: zunächst im Hinblick auf die Besonderheit des Neuen Bundes gegenüber dem Exodusbund (32–33d), dann hinsichtlich einer hervorstechenden Konsequenz für die religiöse Unterweisung in Israel (34a–c). Im letzteren Fall lehnt sich das Muster sie werden nicht [mehr]  – sondern sie werden 276

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31,32

noch enger an die Struktur von V. 29–30 an. Dazwischen hebt die Bundesformel 33ef den Gewinn des Neuen Bundes für das Gottesverhältnis Israels hervor. Die beiden Kausalsätze 34de beschließen den Abschnitt, indem sie eine fundamentale Möglichkeitsbedingung des Wandels benennen: die Sündenvergebung. Im alexandrinischen Text gehört auch der dort unmittelbar folgende V. 37b–e zur Einheit (s. zu 31,35–37).

Erklärung Die Datierungsformel 31a verknüpft den Neuen Bund ebenso wie zuvor die Heim- 31 führung (30,3) und Mehrung (31,27) mit der als fundamental neue Epoche charakterisierten Heilszeit, die bald anbrechen soll (s. zu 30,3). Der Bund stiftet eine Beziehung unter extrem ungleichen Partnern, weswegen die Initiative nur allein bei Jhwh liegen kann: Er wird den Bund schließen bzw., wie es wörtlich heißt, eine berīt schneiden (tyrIB. trk 31b). Das Idiom fußt auf einem Ritus, der für den Fall der Vertragsverletzung eine bedingte Selbstverfluchung über den delinquenten Vertragspartner herabrief und in 34,18 knapp beschrieben ist (s. dort). Die Empfänger des Neuen Bundes sind das Haus Israel und das Haus Juda, d. h. Israel in getrennten politischen Einheiten. Das entsprach bei der (nachexilischen, s. u.) Abfassung des Passus weiterhin der Realität, ist aber auch der erste Effekt der Tatsache, dass 31,31–34 auf die Anklage des Bundesbruchs in 11,1–14 antwortet, die sich gegen dasselbe Paar richtet (V. 10). Als hervorstechende Eigenart des Bundes hebt Jhwh hervor, dass er vd"x' neu sei. Das Adjektiv gehört ebenso zum Vokabular der Alltagssprache wie sein deutsches Pendant. Und ebenso wie das deutsche Wort neu kennzeichnet es die charakterisierte Sache als bis unlängst nicht dagewesen bzw. – unbeschadet des konkreten Alters – als nicht oder wenig gebraucht und daher noch nicht abgenutzt.9 Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Sache andere Dinge gleicher Art ersetzt.10 Was unter neu als Spezifikum des verheißenen Bundes zu verstehen ist, wird der Rest des Abschnitts präzisieren. V. 32 eröffnet die erste Umschreibung der Eigenart des Neuen Bundes, und zwar 32 zunächst zur negativen Seite hin: Den Neuen Bund wird primär auszeichnen, dass er sich vom Exodusbund unterscheidet (32ab). Mit dem Exodusbund greift der Autor eine für die jeremianischen Deuteronomisten typische Redefigur auf, wonach Jhwh den für Israel grundlegenden Bund mit dessen Vätern am Tag (~AyB.) der Herausführung aus Ägypten geschlossen habe (11,3–4; 34,13), während im Gegensatz zum Buch Dtn der Berg Horeb unerwähnt bleibt. Allerdings wird auch die Gesetzesoffenbarung mit dem Tag der Herausführung verbunden (7,22; [11,7])11, und 34,14 zitiert als Inhalt des Exodusbundes deuteronomische Vorschriften (Dtn 15,1–18; s. z. St.). 9  Z. B. Dtn 20,5; 22,8; 24,5; Jos 9,13; Ri 15,13; 16,11.12; 1 Sam 6,7; 2 Sam 6,3; 21,16; 1 Kön 11,29.30; 2 Kön 2,20; Jes 41,15; 42,10; 43,19; 48,6; Jer 26,10 u. a. An Kontrastbegriffen begegnen !v'y" alt (Lev 26,10; Hld 7,14) oder – zum Abstraktum hv'd"x] Neues – hn"voarI Früheres (Jes 42,9). 10 Z. B. Ex 1,8; Lev 23,16; 26,10; 28,26; Jes 62,2; 65,17; 66,22 u. a. 11  Für ein erweitertes Verständnis des „Tages“ als Datum eines Geschehens vgl. z. B. Ez 34,12; 36,33; Ob 11–12.

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31,32

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Ferner kennen Dtn 29,24 und 1 Kön 8,9(korr.).21 ebenfalls die Rede vom Exodusbund, wenngleich ohne den „Tag“ (vgl. auch Dtn 4,45–46). Demnach handelt es sich kaum um ein abweichendes Konzept von Befreiung und göttlicher Willensoffenbarung, sondern um einen literarischen Kunstgriff, der auf den Umstand abhebt, dass in einer bestimmten Spielart pentateuchischer Tradition, wie sie heute durch priesterliche und deuteronomistische Texte in Ex 12,1–13,16 verkörpert wird, die Gesetzesoffenbarung in der Nacht des Auszugs aus Ägypten einsetzte, also nach damaliger Tageszählung, die am Vorabend begann: am Tag des Exodus (vgl. Finsterbusch, Auszugs-Bund 93 f.; Rom-Shiloni, Day). Ferner betont die extreme Raffung die untrennbare Einheit beider Komponenten: Mit der Rettung aus Ägypten hat Jhwh vorgängig sein Recht bewiesen, an Israel Forderungen zu stellen, die der Freiheit Dauer verleihen sollen. Der singuläre Zusatz als ich sie an der Hand fasste kennzeichnet den Exodus als einen Höhepunkt der Fürsorge Jhwhs für Israel, sodass die undankbare Antwort Israels umso eindringlicher hervortritt, die der Verfasser anschließend in einem antithetischen Satzpaar der Rolle Jhwhs im Geschehen gegenüberstellt. Die redundanten, d. h. syntaktisch überschüssigen und somit betonten selbstständigen Personalpronomina hM'he sie – ykinOa'w> ich aber (32cd) unterstreichen den Kontrast. 32c klagt die Israeliten an, wobei MT und AlT unterschiedliche Akzente setzen. Original ist wohl die alexandrinische Variante sie haben meinen Bund nicht eingehalten (ytiyrIB.-ta, Wmyqihe al{  || 34,18b AlT). In MT wurde die Lesart zwecks Angleichung an 11,10d verschärft zu sie haben meinen Bund gebrochen (Wrpehe), sodass 32bc nunmehr ein Mischzitat aus 11,4a.10d bildet, das hier die Wendung tyrIB. rrp‑H einen Bund brechen einträgt, den Fachausdruck für die einseitige Aufkündigung eines Bündnisses (vgl. v. a. 1 Kön 15,19; Ez 17,15–19). Mit dem Ende des Bundes als Verfassung des Gottesverhältnisses stünde die Existenz Israels überhaupt auf dem Spiel. Zwar nötigt der Bundesbruch des Volkes nach Überzeugung der atl. Autoren Jhwh nicht, seinerseits den Bund zu widerrufen und Israel dem Verderben auszuliefern, denn er bleibt Herr des Bundes (mein Bund 32c) und kann souverän über die Konsequenzen entscheiden; „freilich kann das Volk aus einer Berit, die es gebrochen hat, keine Ansprüche bzw. Erwartungen mehr herleiten“ (Gro 120–125, Zitat 120 f.). Daher hat sich Israel, selbst wenn sein Untergang keine ausgemachte Sache ist, an den Rand des Abgrunds manövriert. In 32d kommentiert Jhwh dies pointiert aus eigener Warte: Wo ich doch ihr Herr bin! Die Konnotationen des Satzes sind nicht eindeutig; denkbar ist auch: Ich meinerseits habe sie meine Macht spüren lassen, doch passt diese Deutung nicht zur (einzigen) Parallele 3,14b. Jedenfalls spielt yTil.[;B' ba‘altī ich bin/war Herr kaum auf den Gott Baal an, um Fremdgötterei als Kerntatbestand des Bundesbruchs zu brandmarken, denn Götzenkult ist in Kap. 30–31 kein Thema (ebenso wenig wie in 3,14–18). Worum es geht: Israel hat sträflich verkannt, wen es in Jhwh vor sich hat. Wohl auf einer Verschreibung beruht die alexandrinische Variante: (Ich meinerseits) verabscheute sie (~b' yTil.[;G"; vgl. 14,19b); danach hat der Bundesbruch Jhwh bis kurz vor die Verwerfung Israels getrieben. Wie der laut 34de bis in die Sprechergegenwart andauernde Bedarf an Sündenvergebung voraussetzt (s. z. St.), währten die angeprangerten Missstände bis in die Zeit Jeremias, in die der Kontext die Gottesrede einbettet (folglich ist der Vorwurf des 278

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31,33

Bundesbruchs 32c nicht nur auf die Väter, sondern auf sämtliche Israeliten bis zum fiktiven Redezeitpunkt zu beziehen). Somit soll den Neuen Bund vom Exodusbund unterscheiden, dass letzterer gebrochen bzw. nicht eingehalten wurde. Die Misere ist für Jhwh nur zu beheben, indem er einen neuen Bund schließt, dem die Verwundbarkeit des Exodusbundes abgeht. Charakteristisch für die Verhältnisbestimmung der beiden Bünde ist die Tatsache, dass der Exodusbund vor allem als Kontrastfolie angeführt wird, um daran zu verdeutlichen, wie der Neue Bund nicht beschaffen sein soll. Wie Jhwh sein Ziel erreichen will, erläutern die folgenden Verse. Beginnend mit adversativem yKi sondern und in antithetischer Formulierung zu 33 32a, leitet 33a zur ersten positiven Charakterisierung des Neuen Bundes über. Dabei nimmt der definierende Relativsatz 33b gegenüber der eröffnenden Ankündigung in V. 31 bemerkenswerte Modifikationen vor. Die Empfänger werden jetzt im Unterschied zu 31b unter dem Namen das Haus Israel zusammengefasst, und von nun an wird in Jer 31 nur noch die Bezeichnung Israel verwendet (36b.37d), anscheinend weil sich an die Gabe des Neuen Bundes die Erwartung heftet, dass die beiden Teilvölker vorweg zu ihrer gottgewollten Einheit zurückfänden (Schmid, Buchgestalten 298). Ferner dehnt der Satz den Zeithorizont des Orakels aus. V. 31 hatte die Schließung des Neuen Bundes formal mit den übrigen Verheißungen der gerahmten Trostschrift synchronisiert (31a || 27a; 30,3a; vgl. 31,38a) und damit in die Ära der im Kommen befindlichen Tage verlegt; er erschien so als Glied der Reihe einander ergänzender Heilsgüter, die die baldige Heilszeit auszeichnen sollen. Doch jetzt erhält der Neue Bund einen Sonderstatus, indem er in eine Periode nach jenen Tagen aufgeschoben wird, und zwar offenbar mit Rücksicht auf die Ansagen eines grundstürzenden Wandels in 33cd.34c–e, die ihm faktisch einen eschatologischen Charakter verleihen. Deswegen rückt 33b seine Stiftung behutsam in die Ferne. Die vage Zeitangabe ist ein Kompromiss zwischen der eschatologischen Natur des Orakels und dem Umstand, dass das Gotteswort, wie noch darzulegen ist, ein drängendes Problem bearbeitet, das wenig Aufschub duldet. Den Kern der positiven Umschreibung der Innovationen des Neuen Bundes benennen die beiden chiastischen Sätze 33cd, die nach Text und Deutung Probleme aufwerfen. Laut 33c gibt Jhwh meine Weisung/Tora in ihre Mitte. Fraglich ist die Zeitlage des Satzes. Er beginnt mit der qatal-Formation yTit;n", die sich vergangenheitlich (ich habe gegeben) oder performativ (ich gebe hiermit) deuten lässt, aber kaum zukünftig,12 obwohl Sache und Kontext eine futurische Aussage zu verlangen scheinen: Der Neue Bund ist Verheißungsgegenstand, und das chiastische Komplement 33d weist mit der x-yiqtul-Formation hN"b,T]k.a, ich werde sie schreiben in die Zukunft. Erwartungsgemäß übersetzen auch die antiken Versionen zukünftig. Allerdings tun Peschitta und Vulgata dies auf der Basis des masoretischen Textes; sie bieten also lediglich eine interpretierende Wiedergabe, weswegen das Futur in JerG* ebenso wenig den Schluss auf eine abweichende Vorlage erlaubt (TK). Eine Gruppe von hebräischen Handschriften 12  Vielfach ist die Meinung anzutreffen, (x‑)qatal-Formationen könnten auch einfache Zukunft ausdrücken. Daran sind jedoch Zweifel angebracht; vgl. M. Rogland, Alleged Non-Past Uses of qatal in Classical Hebrew (SSN 44), Assen 2003, 53–114.

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31,33

Die Anhänge zur originalen Trostschrift

enthält die Variante yTit;n"w> und ich werde geben, die jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach einen sekundären Notbehelf bildet, weil man wie die antiken Übersetzungen dem Drang zu einer zukünftigen Aussage nachgegeben hat: Schon die Textzeugen sind von zweifelhaftem Wert (Tita), und für eine wˑ=qatal-Formation an einem Neueinsatz, der nach dem Vorspann 33ab einem Redebeginn analog ist, fehlen geeignete Beispiele (Stipp 246 Anm. 27). Aber immerhin spiegelt die Lesart die Überzeugung, dass yTit;n" hier keinen zukünftigen Sachverhalt ausdrücken kann. Man hat deshalb versucht, einen präteritalen Sinn von 33c einsichtig zu machen, und zwar mit zwei einander bedingenden Zusatzannahmen. Herkömmlicherweise wird 33cd als synonymer Parallelismus gewertet und ~B'r>qiB. 33c anthropologisch aufgefasst: in ihr Inneres, im Sinne von: in ihre Personmitte, mithin als Synonym zu ~B'li-l[; auf ihr Herz 33d. Demnach liefert der Chiasmus zwei Beschreibungen, wie Jhwh seine Tora im Personkern der Israeliten verankert. Dagegen wird eingewandt, der Parallelismus sei antithetischer Art, weil ~B'r>qiB. hier eine soziologische Bedeutung trage: in ihre Mitte, im Sinne von: in die Mitte Israels als Sozialverband. Der Kontrast schließe die Zeitebenen ein, was die gegensätzlichen Verbformationen erkläre: Im Zuge des Exodusbundes habe Jhwh seine Tora in der sozialen Arena Israels veröffentlicht (33c), doch im Rahmen des Neuen Bundes werde er sie auf das Herz schreiben (33d).13 Aber auch dieser Vorschlag krankt an Schwierigkeiten: Nachdem V. 32 auf den Exodusbund zurückgeschaut und 33ab die Definition des Neuen Bundes angekündigt hat, käme es überraschend, wenn 33c zuerst noch ein weiteres Detail zum Exodusbund nachtrüge. Obendrein werden ble / bb'le Herz und brhi + Partizip das Futurum instans, verheißt also die Heimkehr der Versprengten für die baldige Zukunft. Der Vers rückt damit noch erheblich weiter ab von der im Rest des Kapitels vorausgesetzten Lage, der Belagerung Jerusalems, als es schon 24b und 25d taten (s. o.). Mit der Situation in der erzählten Welt kollidiert ferner V. 42, dem zufolge Jhwh all dieses große Unheil bereits über dieses Volk gebracht  S. zu 25,15a (Textgenese).

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Jeremias prophetische Symbolhandlung mit dem Ackerkauf

hat (42b). Dazu tritt eine zusätzliche Dublette in 43a und 44a, wo Jhwh zweifach die Wiederkehr des Handels mit Agrarland verheißt (wobei 43a in MT durch den determinierten Singular hdf.yI sie verbrennen) andeutet und die Königsbücher explizit berichten, lebten die empörenden Praktiken in Israel und Juda fort. Die theologische Bilanz des Nordreichs 2 Kön 17,7–22 beschuldigt die Nordstämme des Baalsdienstes (V. 16), um ihnen sogleich anschließend vorzuwerfen, dass sie ihre Söhne und Töchter im Feuer darreichten (V. 17). Was den Südstaat angeht, wird den Königen Ahas und Manasse, die nach dem deuteronomistischen Geschichtsbild die Tiefpunkte der judäischen Monarchie markierten, als Exempel ihrer Nachahmung der Gräuel der Nationen (2 Kön 16,3; 21,2.11) bescheinigt, dass sie jeweils ihren eigenen Sohn im Feuer darreichten (2 Kön 16,3; 21,6; von der Chronik zu Söhnen verschärft und ins Hinnomtal verlegt: 2 Chr 28,3; 33,6). Im Kontext von Dtn 12,31; 18,10 und JerDtr gelesen, heißt das: Wenn die Nordstämme, Ahas und Manasse ihre Kinder als Brandopfer für Fremdgötter darbrachten, begingen sie nicht nur brutale Morde zu ihrem eigenen Schaden, sondern sie verstießen auch gegen den expliziten Willen Jhwhs, wie geoffenbart im mosaischen Gesetz. Was steckt hinter der Kritik, die Israeliten hätten im Zuge götzendienerischer Akte ihre Kinder dem Tod in den Flammen ausgeliefert, und insbesondere, wie in Jer 32,35 behauptet, die Judäer hätten dies an einer Anlage namens Tofet im Hinnomtal getan? Die Suche nach einer Antwort ist komplex und verlangt, ein breites Spektrum von Gesichtspunkten zu berücksichtigen.

Exkurs: Kinderopfer, Moloch und Tofet Die mit diesen drei Stichwörtern abgesteckten Themenfelder sind schwierig zu analysieren, weil sie nicht nur untereinander zusammenhängen, sondern obendrein mit weiteren Problemkreisen verzahnt sind, die deutlich über das Jeremiabuch und sogar das AT hinausreichen. Übergreifender Natur sind die Fragen: Gab es in Israel oder den Völkern seines Kulturraums Menschenopfer und speziell Kinderopfer? Wenn ja, unter welchen Umständen wurden sie praktiziert, nach welchen Kriterien wurden die menschlichen Opfer ausgewählt, und welchen Göttern wurden sie dargebracht? Für das AT bedarf der Klärung, ob – oder eher: zu welchem Grad – die biblischen Nachrichten über Kinderopfer religionspolemischen Verzeichnungen unterliegen. Ferner ist die Frage zu beantworten, wie sich das deuteronomistische Porträt der – archäologisch bislang nicht nachgewiesenen – Anlage namens Tofet im Hinnomtal zu ihren tatsächlichen Funktionen verhält. Die Kinderopfer-Problematik gewinnt eine weitere gesamtalttestamentliche Dimension aus der Tatsache, dass Vorschriften über die Zueignung menschlicher Erstgeborener an Jhwh in gewissem Maß mit Geboten zur Opferung tierischer Erstgeburten formal parallel gehen. 324

Kinderopfer, Moloch und Tofet

Exkurs

Zu alldem werden die biblischen Nachrichten über das Darreichen bzw. Verbrennen von Kindern für Molech/Moloch gern mit bestimmten Freiluftheiligtümern verglichen, die an Metropolen der westphönizischen (punischen) Diaspora in einem relativ schmalen Gürtel um die zentralmediterrane Meerenge zwischen Nordafrika (Karthago), Südsardinien, Westsizilien und Malta34 etwa vom 8. Jh. v. bis zum 2. Jh. n. Chr. verbreitet waren und in der Wissenschaft mit Blick auf die genannten alttestamentlichen Zeugnisse ebenfalls als „Tofet“ etikettiert werden, weil dort Tausende von vergrabenen Urnen zutage traten, die eingeäscherte Gebeine von Föten und Säuglingen sowie von Lämmern und Ziegen im Alter von allenfalls wenigen Wochen enthalten, und zwar in der Regel separat, bisweilen aber auch vermischt. Den Aschengefäßen entsprechen oberirdisch teilweise Stelen mit Inschriften, in denen etwa 50 Mal der Terminus mlk belegt ist. Das Wort weist dieselbe Graphemfolge auf wie der Gottesname Molech/Moloch (neben der Pleneschreibung ml’k und der femininen Variante mlkt). Weiterhin kommemorieren die Stelen die Erfüllung von Gelübden (ndr); sie tragen also keine Grab-, sondern Votivinschriften. Deshalb sind die punischen „Tofets“ jedenfalls nicht einfach als Kinderfriedhöfe deutbar. Dieser Interpretation widerspricht zudem, dass das Begräbnis gegen die üblichen altorientalischen Standards der Bestattung von Kleinkindern ungemein aufwendig erfolgte, nämlich unter Einsatz von Stelen und Urnen, und mit höchst ungewöhnlichen Begleitumständen einherging, insbesondere mit Verbrennung, Gelübden und der Beigabe von Jungtierknochen. Stattdessen legen Indizien wie das Stichwort Gelübde, Widmungen an die Gottheiten Baal Ḥammon, Tnt (Tanit/Tinnit) und Saturn oder die Rede von Ersatzgaben nahe, dass die Gebeine aus Opferhandlungen hervorgegangen sind. Demnach waren diese „Tofets“ eher Orte spezieller Formen des Gottesdienstes. Und während griechisch-römische Autoren den Völkern an der Peripherie ihres Gesichtskreises gern barbarische Sitten zuschrieben, hielten sie Kinderopfer für eine Eigentümlichkeit der Punier (Garnand). Dieser knappe Überblick muss allerdings über zahlreiche strittige Fragen bei der Deutung der Befunde hinwegsehen, zu denen die umfängliche Spezialliteratur zu konsultieren ist. Neben dem Sonderfall der punischen „Tofets“ gibt es weitere Hinweise auf Kinderopfer aus dem antiken Vorderen Orient, die jedoch spärlich und schwierig auszuwerten sind (Bauks). Besondere Beachtung verdienen allerdings Vertragssicherungsklauseln in neuassyrischen Verträgen mit der Bestimmung, dass der säumige Partner seinen ältesten Sohn (und ggf. seine älteste Tochter oder alle seine Kinder) für einen Gott verbrennen (šarāpu) müsse, begleitet von weiteren Sachleistungen an einen Tempel des Gottes. Die „Verbrennung“ meint daher offenbar nur einen Dedikationsritus für ein Priesteramt vermittels eines Feuerrituals, das den geweihten Menschen keinen körperlichen Schaden zufügte. Eine vergleichbare Prozedur ist noch aus dem vorislamischen Arabien bezeugt (Weinfeld 144–146). Die betreffenden Vorgänge sind daher mit Hannas (freiwilliger) Dedikation ihres Sohnes Samuel für ein Priesteramt in Schilo zu vergleichen (1 Sam 1,11.22–28). Stehen solche Weihen hinter den biblischen 34  Vgl. die Karte unter Fig. 2 bei J. C.  Quinn, Tophets in the ‚Punic World‘, in: P. Xella (Hg.), Tophet, 23–48, 45.

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Nachrichten über die „Darreichung“ von Kindern in/durch Feuer? – Im Folgenden müssen Urteile zur Diachronie der Belege weitgehend ausgeklammert bleiben; detaillierte Überlegungen hierzu bietet Michel, Gott und Gewalt. 1. Menschenopfer in narrativen Zeugnissen Die alttestamentlichen Erzählungen enthalten mehrere Hinweise auf die Existenz von Kinderopfern in Israel und seinen Nachbarvölkern. Das erste innerisraelitische Beispiel Gen 22,1–19 bildet insofern einen Sonderfall, als dort die Opferung von Abrahams Sohn Isaak zwar verlangt, aber nicht ausgeführt wird, wie die implizierten Adressaten von Beginn an wussten, da sie sich als Nachkommen Isaaks begriffen, was nur möglich war, wenn ihr Stammvater seine Gefährdung überlebt hatte. Zudem erhält das Publikum gleich zu Anfang den Informationsvorsprung, dass der Befehl zur Opferung Isaaks der Gehorsamsprobe seines Vaters dienen sollte (V. 1). Deshalb stand von vornherein fest, dass Isaak der Bedrohung entkommen würde, und die Erzählspannung bezog sich allein auf die Frage, wie dies geschieht. Am Ende bestätigt sich, dass Jhwh das Kindesopfer in Wahrheit gar nicht will; stattdessen wird es analog zur Auslösung menschlicher Erstgeburten (s. u. 6.) durch ein Tieropfer ersetzt (V. 13). Doch wenn Abraham dem göttlichen Auftrag unverzüglich Folge leistet, bis der Bote Jhwhs ihm Einhalt gebietet (Vv. 3–12), und wenn er zwar seine Hoffnung auf eine rettende Wende andeutet (V. 8), aber ihm auch kein Anzeichen der Verwunderung über den Befehl zugeschrieben wird, setzt der Stoff immerhin die Denkbarkeit von Menschenopfern für Jhwh voraus. Von anderem Zuschnitt ist die Geschichte von der Opferung der Tochter Jiftachs in Ri 11,29–40. Obwohl bereits mit dem Geist Jhwhs begabt, um den bedrängten Gileaditern gegen die Ammoniter beizustehen (V. 29), legt der Richter Jiftach ein Gelübde ab (rnE nedär V. 30) des Inhalts: Sollte ihm Jhwh die siegreiche Heimkehr von seinem Feldzug gewähren, dann wird, wer immer mir aus den Türen meines Hauses entgegenkommt …,  – er wird Jhwh gehören, und ich werde ihn als Brandopfer darbringen (V. 31). Durch sein Selektionskriterium geht Jiftach ein ungeheures Risiko ein, da das Gelübde einer ihm nahestehenden Person das Leben kosten kann, und tatsächlich trifft es seine Tochter (V. 34). Daraufhin beklagt Jiftach seine Not und macht ausgerechnet das Opfer dafür mitverantwortlich: Ach, meine Tochter, du hast mich tief gebeugt und gehörst zu denen, die mich ins Unglück stürzen. Gleichwohl sieht er sich unwiderruflich an sein Gelübde gebunden: Ich aber habe meinen Mund Jhwh gegenüber weit aufgetan und kann nicht zurück (V. 35), eine Einschätzung, die seine Tochter nachdrücklich bestätigt (V. 36), weswegen er schließlich sein Gelübde, das er gelobt hatte, an ihr erfüllte (V. 39). Dieses vollzogene Menschenopfer erwächst aus einem bedingten Versprechen. Für die Interpretation des Erzählten fällt ins Gewicht, dass weder die Ablegung noch die Erfüllung des Gelübdes explizit bewertet wird, und dies gilt sowohl für die Erzähler‑ als auch für die Gottesstimme. Da Jiftach die dargebrachte Person Jhwh zueignen will (V. 31), fällt insbesondere auf, dass der göttliche Empfänger das Geschehen mit Schweigen quittiert. Ferner betrifft das bleibende Ergebnis von Jiftachs Tat nicht ihn selbst, sondern sein Todesopfer, indem die 326

Kinderopfer, Moloch und Tofet

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Geschichte die Ätiologie dafür liefert, dass die Töchter Israels Jahr für Jahr hingehen, um für die Tochter des Gileaditers Jiftach vier Tage lang jedes Jahr Preisgesänge anzustimmen (V. 40). Für das Verständnis des Erzählstücks ist weiterhin von Belang, dass die von Euripides dramatisierte Sage von der Opferung Iphigenies in Aulis ein ähnliches Grundgerüst aufweist; demnach adaptiert Ri 11,29–31.34–40 ein mediterranes Wandermotiv, dessen einzelne Ausgestaltungen zwangsläufig rein legendarischer Art sind. Der biblische Autor eröffnet einen Einblick in seine Absichten bei der Verwendung des Stoffes, wenn er Jiftach und seine Tochter übereinstimmend den Standpunkt bekräftigen lässt, dass ein Gelübde zu erfüllen sei, gleichgültig wie töricht sein Inhalt oder wie unerfreulich seine Folgen (Vv. 35–36), was im Umkehrschluss auf die Mahnung hinausläuft, bei Gelübden Vernunft und Augenmaß walten zu lassen (vgl. Num 30,3; Dtn 23,22–24; Koh 5,3–4). Dieses Prinzip einzuschärfen, erforderte ein extremes Beispiel, das gerade nicht zur Nachahmung einlud – im gegebenen Fall freilich um den Preis, dass Menschenopfer für Jhwh immerhin als vorstellbar erscheinen. Die beiden narrativen Zeugnisse israelitischer Menschenopfer rücken somit derlei Akte in den Bereich der Denkbarkeit, wiewohl sie diesen Effekt mit rein theoretischen, wirklichkeitsfernen Konstrukten erreichen. Demgegenüber stellt ein außerisraelitischer Fall eine Praxis vor, die ein gewisses Maß an realweltlicher Glaubwürdigkeit besitzt. 2 Kön 3,26–27 berichtet, wie ein Koalitionsheer unter israelitischer Führung die moabitische Hauptstadt Kir-Heres belagerte. Von einer baldigen Niederlage bedroht, habe der König von Moab seinen erstgeborenen Sohn und designierten Nachfolger auf der Stadtmauer als Brandopfer dargebracht mit der Folge, dass ein großer Zorn über Israel kam, sie von ihm abzogen und in (ihr) Land zurückkehrten (V. 27). Der Text verschweigt, welchem Gott das Opfer gewidmet war. In einem altorientalischen Vorstellungsrahmen erscheint der große Zorn ferner als eine mythische Schreckensmacht,35 deren überweltlicher Urheber ebenfalls ungenannt bleibt. Der vorliegende Wortlaut erklärt sich mit der Annahme, dass er die nach Maximen des orthodoxen Jahwismus zensierte Ausgabe einer älteren Fassung darstellt, die noch offen aussprach, dass das Sohnesopfer den moabitischen Nationalgott Kemosch zum Eingreifen bewegen sollte, woraufhin dieser die Belagerer mit seinen numinosen Waffen vertrieb. Der mehrdeutige Endtext ist dann zugänglich für säkularisierte Interpretationen wie jene, die Israeliten hätten aus Bestürzung über den schockierenden Anblick den Kampf abgebrochen. 2 Kön 3,27 ist somit durchsichtig auf eine nicht mehr im Detail wiederherstellbare Vorstufe, die ein Kindesopfer als Verzweiflungstat schilderte, in der der wichtigste Verehrer Kemoschs seinem Schutzgott sein kostbarstes Gut darbrachte, um in einer anscheinend hoffnungslosen Notlage dessen Beistand zu erwirken. Das Kindesopfer dient hier als ultimatives Bittgebet. Alle drei narrativen Zeugnisse von Menschenopfern betreffen Kinder, die von ihren Vätern im Zuge eines Brandopfers – verstanden als Kanal der Überführung in die göttliche Welt – getötet werden (sollen). Die zwei israelitischen Beispiele Gen 22 und 35  Vgl. an alttestamentlichen Belegen Dtn 29,27; Jer 21,5; 32,37; vgl. Num 1,53; 17,11, 18,5; Jos 9,20; 22,20; Jer 10,10; Ez 36,18–19 u. a. Zum Vorstellungshintergrund vgl. Gen 35,5; 1 Sam 14,15; Ps 48,6–7; 76,6–9 u. a.

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Ri 11 haben Opfer für Jhwh zum Gegenstand, während 2 Kön 3 auf eine Vorstufe zurückgeht, die als Empfänger der Gabe den moabitischen Gott Kemosch identifizierte. Alle drei Quellen betonen die exzeptionellen Anlässe der Menschenopfer: In Gen 22 ergeht der Befehl dazu im Rahmen einer singulären Gehorsamsprobe, in Ri 11 will ein Militärkommandeur mit einem Gelübde den Erfolg seines Feldzugs sichern, und in 2 Kön 3 greift ein König angesichts einer drohenden Niederlage als ultima ratio zu diesem extremen Schritt. Weiterhin heben die Erzählungen den einzigartigen Wert der betroffenen Kinder für ihre Väter hervor: Jhwh kennzeichnet Isaak in Gen 22 gegenüber Abraham in dreifacher Wiederholung als deinen einzigen Sohn (^d>yxiy Vv. 2.12.16), um beim ersten Mal noch hinzuzufügen: den du liebst (V. 2). So bekräftigt Jhwh den Vorrang Isaaks als Sohn Abrahams von dessen Frau Sara gegenüber dem älteren Sohn Ismael aus der Verbindung mit der Magd Hagar. Laut Ri 11,34 tötete Jiftach mit seiner Tochter sein einziges Kind (hd"yxiy>); er hatte außer ‚ihr‘ weder Sohn noch Tochter. 2 Kön 3,27 markiert den geopferten Sohn des Moabiterkönigs als seinen erstgeborenen Sohn (rAkB.h; AnB.), der nach ihm König werden sollte. Dem lässt sich im Vorblick auf ein weiter unten (6.) anzuschneidendes Teilthema entnehmen: Wenn die Texte die Opfer als einzige oder erstgeborene Söhne bzw. Kinder ihrer Väter charakterisieren, haben sie trotzdem mit der Frage menschlicher Erstgeburtsopfer in Israel nichts zu tun, sondern streichen nur die unüberbietbare Kostbarkeit der Opfermaterie für die Opferspender heraus (vgl. Sach 12,10; Jer 6,26; Am 8,10). Wo die Quellen zudem Rückschlüsse auf das Alter der betroffenen Kinder erlauben, reden sie von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen: Isaak wird von dem Jhwh-Boten als r[;n: junger Mann, Knabe bezeichnet (V. 12), er trägt auf der Schlussetappe der Reise zur Opferstätte das Holz für das Brandopfer (V. 6), und Abraham ist genötigt, eine aufmerksame Frage seines Sohnes durch eine wohlbedachte Antwort zu parieren (Vv. 7–8). Jiftachs Tochter hat die Geschlechtsreife erreicht und kann bei ihrem Vater ein gewisses Maß an Mitbestimmung über ihr Schicksal durchsetzen (Ri 11,36–39). Wie folglich die alttestamentlichen Erzählungen insinuieren, kamen in Israel und seinem religiös-kulturellen Umfeld Menschenopfer vor, doch beschränkten sie sich auf höchst spezielle Anlässe und müssten daher sehr selten geblieben sein. Dafür spricht auch schon die geringe Zahl einschlägiger Zeugnisse. Einen Einblick in die Motive solcher Taten dürften jene Fälle gewähren, in denen die Akteure nicht auf Geheiß hin (Gen 22), sondern aus eigenem Antrieb handeln: Dort fungieren die Kinderopfer bzw. ihr Gelöbnis als ultimative Formen des Bittgebets (Ri 11; 2 Kön 3). Mithin dürften derlei Praktiken in Extremsituationen jedenfalls nicht unbekannt gewesen sein. Wenn schließlich die Geschichte von Jiftachs Tochter (Ri 11) die implizite Warnung vor dem Exzess bei Gelübden an einem Kindesopfer veranschaulicht, stellt sich die Frage, ob die Wahl des Exempels aus der Überzeugung erwuchs, es habe solche Vorfälle gegeben. Mit dem Porträt der Menschenopferpraxis in der deuteronomistischen Literatur teilen die narrativen Quellen die Vorstellung, dass derlei Akte per Brandopfer (hl'A[)36 von Kindern geschahen. Doch ansonsten überwiegen bei weitem die Unterschiede.  Gen 22,2.3.6.7.8; Ri 11,31; 2 Kön 3,27.

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Die Erzählungen spiegeln keine institutionalisierten Formen sakraler Kindstötungen und daher auch keine festen, für solche Zwecke eingerichteten Kultplätze wie den Tofet, es sei denn, man erkennt in Gen 22 einen Bezug zum Jerusalemer Tempel, wenn V. 2 das Land Morija als Ort der Darbringung bestimmt (vgl. 2 Chr 3,1),37 was aber in diesem Fall den Ruf des Heiligtums nicht gefährdet, da das Kindesopfer im Zentrum des Kapitels ja gerade nicht stattfinden soll. Während ferner die dtr Autoren die Kinderopfer als Götzendienerei für Baal bzw. Moloch verdammen, ordnen die narrativen Zeugnisse die heimischen Beispiele der Jhwh-Verehrung zu (Gen 22; Ri 11). Bei dem außerisraelitischen Beispiel (2 Kön 3) fällt im Kontrast zum Vorgehen der Deuteronomisten auf, dass der orthodoxe Redaktor, statt den Stoff zur interreligiösen Polemik zu nutzen, den paganen Hintergrund verschleierte, indem er den Namen Kemosch aus dem Text löschte. Aber er sah wohl keine andere Wahl, weil er um den israelitischen Abzug nicht herumkam, der bei Erwähnung Kemoschs unvermeidlich auf dessen Eingriff hätte zurückgeführt werden können. Was das Verständnis der deuteronomistischen Polemik gegen Kinderopfer angeht, bestätigen die narrativen Quellen somit lediglich die Erwartung, dass die dtr Theologen die Wirklichkeit über‑ und verzeichneten: Laut den Erzählungen hat es in Israel zwar mit einiger Wahrscheinlichkeit zumindest zeitweilig Kinderopfer gegeben, die allerdings auch und eher sogar überwiegend Jhwh gewidmet waren. Über Moloch und den Tofet ist hingegen nichts zu erfahren. Noch weniger vermögen die punischen „Tofets“ – was immer sich dahinter verborgen haben mag – und die alttestamentlichen Erzählstoffe einander zu erhellen, weil sie Kinder in weit divergierenden Altersstufen betreffen. Zusätzlich sei der Vermerk 1 Kön 16,34 über die Bauopfer angesprochen, die ein gewisser Hiël aus Bet-El erbracht habe, als er Jericho wiedererrichtete, entsprechend der Verwünschung, die Josua nach der Zerstörung der Stadt über ein solches Vorhaben herabgerufen habe (Jos 6,26). Die knappe Nachricht bildet eine separate Kategorie, denn sie ist in keinen narrativen Zusammenhang eingebunden und vermeidet kultische Terminologie. Wenn ferner die beiden Verse die getöteten Söhne mit Bet pretii (um den Preis von) markieren (Jenni, Beth 150–160), entzieht die Darstellungsweise dem Akt seine sakrale Natur, sodass er nicht mehr als Opfer, sondern als Fluchfolge erscheint. Wenn trotzdem unter dem literarischen Schleier eine Opferhandlung sichtbar wird, so lediglich aufgrund der Angaben über die Bauphasen, die mit dem Tod der Söhne erkauft wurden, und weil solche Bauopfer archäologisch nachgewiesen sind. Wie die Notiz bekräftigt, fanden Menschenopfer in Israel statt; sie erfassten bevorzugt Söhne an privilegierten Stellen in der Hierarchie des Nachwuchses, also vor allem Erstgeborene, hier aber auch den jüngsten Sohn; und es war der Vater, dem es freistand, seine Kinder dem kultischen Tod auszuliefern. 2. Menschenopfer in der prophetischen Literatur In der prophetischen Literatur ist das Bild vielfältiger. Ähnlich der deuteronomistischen Polemik in Jer prangert das Buch Ezechiel wiederholt Kinderopfer als Markenzeichen der Abgötterei an. In einem Kontext, der das weiblich imaginierte Jerusalem  Vgl. A. Michel, Art. Morija (erstellt: März 2015), WiBiLex (Internet).

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der Verehrung männlicher (Götzen‑)Figuren (Ez 16,17) bezichtigt, erhebt Jhwh in Ez 16,20–21 die Anklage: Du hast deine Söhne und Töchter, die du mir geboren hast, genommen und sie ihnen als Schlachtopfer zum Fraß dargebracht (lAka/l, ~h,l ~yxiBz>Tiw:). War dir deine Hurerei zu wenig, sodass du (auch noch) meine Söhne/Kinder (yn"B') schlachten (jxv) und sie ihnen geben musstest, indem du sie ihnen dargereicht hast? V. 21 setzt den Ritus der Darreichung (rb[‑H) von Kindern mit menschlichen Schlachtopfern für Götzen gleich. 16,36 spricht vom Blut deiner Söhne/Kinder (%yIn:b'), das du ihnen (den Götzen) gegeben hast. Ein prämasoretischer Zusatz in 20,31 schlägt in dieselbe Kerbe: Wenn ihr eure Gaben spendet, [wenn ihr eure Söhne/Kinder (~k,ynEB.) im/durch Feuer darreicht,] macht ihr euch bis heute unrein für/an alle(n) eure(n) Götzen. Der Nachtrag bekräftigt, dass die Darreichung von Kindern im/durch Feuer eine heidnische Opferart darstellte, und liest man den Einschub im Licht von 16,20–21, musste das Feuerritual für die betroffenen Kinder tödlich ausgehen. Abermals im Rahmen von Polemik gegen den Götzenkult werden Jhwh in 23,37 die Worte in den Mund gelegt: Sogar ihre Söhne/Kinder (!h,ynEB.), die sie mir geboren hatten, reichten sie ihnen zum Fraß (hl'k.a'l.) dar. Kurz darauf fährt die Gottesstimme in 23,39 fort: Als sie ihre Söhne/Kinder (~h,ynEB.) für ihre Götzen schlachteten (jxv), kamen sie zu meinem Heiligtum [an jenem Tag], um es zu entweihen. Siehe, so taten sie inmitten meines Hauses. Danach begingen die Israeliten ihre götzendienerischen Kindermorde sogar in Jhwhs eigenem Tempel. Verbirgt sich darin ein Fingerzeig, dass die fraglichen Liturgien im Sinne der Teilnehmer für Jhwh bestimmt waren? Einen weiteren Hinweis auf Kinderopfer für Jhwh enthält Ez 20,25–26, doch bevor er ausgewertet werden kann, sind zusätzliche Quellen zu erschließen, weswegen der Passus weiter unten (6.) besprochen wird. Einstweilen ist zu resümieren: Ähnlich der deuteronomistischen Literatur kennt das Ezechielbuch Opfer von Kindern beiderlei Geschlechts; dazu stellt es die Praxis entschieden als Spezifikum der Fremdgötterei insgesamt und als Ausweis von deren Abscheulichkeit hin. Doch während laut den Deuteronomisten die Götzendiener ihre Kinder verbrannten (@rf Dtn 12,31; Jer 7,31; 19,5; vgl. 2 Kön 17,31), setzt das Ezechielbuch spezifisches Vokabular für Schlachtopfer ein: xbz (als Schlachtopfer) schlachten (16,20) und jxv schlachten (16,21; 23,39; erst der masoretische Überhang in 20,31 spricht explizit von Feuer). Dann ist es nur folgerichtig, wenn die Kinder den Götzen zum Fraß dienen sollen (lAka/l, 16,20; hl'k.a'l. 23,37); auch ihr Blut kommt den Abgöttern zu (~D" 16,36). Auf die Frage, was die „Darreichung“ (rb[‑H 16,21; 23,37) von Kindern bedeutete, zumal wenn im/durch Feuer (20,31 MT) vollzogen, hält das Ezechielbuch somit eine klare Antwort bereit: Sie war ein heidnisches Schlachtopfer. Zugleich klingt jedoch 23,39 nach dem Versuch, die Tatsache zu kaschieren, dass auch für Jhwh Kinder dargebracht wurden, ein Verdacht, den weiter unten ein deutlicheres Indiz erhärten wird. Der zum Tritojesaja-Komplex gehörige Vers Jes 57,5 kritisiert Anhänger heterodoxer Kultpraktiken und wirft ihnen vor, dass sie die Söhne/Kinder (~ydIl'y>h;) in Bachtälern schlachten (jxv), unter den Felsvorsprüngen. Ein Adressat der Kinderopfer wird nicht genannt, aber die Ortsangaben dürften konkret Schluchten, Höhlungen und Felsspalten meinen, also Vertiefungen in der Erdoberfläche, die sich als natürliche Kultstätten für Unterweltsgottheiten anboten. Dem entspricht, dass wenig später 330

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in V. 9 – ohne einen näheren Zusammenhang herzustellen – das als Frau stilisierte Kollektiv der Götzenanbeter beschuldigt wird: Du bist zum König hinabgezogen mit Öl, hast deine Salben aufgehäuft, hast deine Boten bis in die Ferne geschickt und stiegst hinab bis in die Unterwelt (lAav.). Wie weiter unten (4.) darzulegen ist, bildet der König den unverfälschten Titel bzw. Namen jenes Gottes, der im AT sonst als Molech bzw. Moloch auftritt und dessen Residenz hier in der Unterwelt verortet wird. Auch wenn der literarische Konnex lose ist, gibt Jes 57,5.9 immerhin zu erkennen, dass jahwistische Kreise in nachexilischer Zeit Moloch als regelmäßigen Empfänger von Kinderopfern betrachteten. Von einem Kindesopfer für Jhwh redet eindeutig das Gedicht Mi 6,6–8 (das lange nach der Zeit des Propheten Micha entstanden ist). Es gibt in den Vv. 6–7 das fiktive Zitat eines Israeliten wieder, der sich fragt, mit welcher Gabe er Jhwh zur Nachsicht gegenüber seiner Schuld bewegen könne. Die Rede reiht in klimaktischer Folge drei Beispiele aneinander: zuerst Brandopfer mit einjährigen Kälbern (V. 6), schon im zweiten Schritt immens gesteigert zu Tausenden von Widdern, Myriaden von Bächen von Öl, bevor der abschließende Höhepunkt sogar dies noch einmal weit in den Schatten stellt: Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für mein Vergehen, die Frucht meines Leibes für die Sünde meiner Seele? (V. 7). Analog der Verzweiflungstat des moabitischen Königs in 2 Kön 3,27 besteht das Allerkostbarste, das der Sprecher als Sündopfer aufbieten könnte, in seinem ältesten Sohn. Hier firmiert das Kindesopfer erneut als ultimatives Bittgebet. Die kultische Tötung des Erstgeborenen wird indes nur als gewollt absurdes Gedankenexperiment angeführt im Rahmen einer rein theoretischen Spekulation, die kein Extrem scheut, um die Botschaft einzuschärfen, dass Jhwh das Rechttun der Menschen ungleich höher schätzt als selbst die teuersten Opfergaben. Doch der bloße Umstand, dass die Option des Erstgeburtsopfers eigens verworfen wird, regt wie bei Ri 11 und 2 Kön 3 zur Frage an, ob nach Meinung des Autors derlei Akte mitunter vorgekommen waren. Auch sonst ähnelt das von Mi 6,6–8 skizzierte Bild den Befunden in den narrativen Quellen: Danach kamen Kinder in akuten Krisen als Brandopfer (hl'A[ V. 6) in Betracht, die als ultima ratio bzw. als ultimatives Bittgebet fungierten, und zwar auch gegenüber Jhwh. Die bevorzugte Materie solcher Opfer stellten erstgeborene Söhne dar, weil sie mit ihrem Spitzenrang in der Hierarchie der Nachkommenschaft als Gaben von unübertrefflichem Wert galten, die maximalen Druck auf die Empfänger versprachen. Die Erwägung des fiktiven Sprechers, ob er zu einem solchen Schritt greifen solle, setzt voraus, dass er ihn als eine freiwillige, nicht gesetzlich vorgeschriebene Tat betrachtete. Die Vollmacht zu derart radikalen Maßnahmen schrieb er den Vätern zu. Erwähnung verdient schließlich, dass die Gefolgschaft des Gottesknechts imstande war, seinem Schicksal nach dem Modell eines Menschenopfers für Jhwh zwecks Tilgung von Schuld einen Sinn abzugewinnen (Jes 53,5.10). Auch deswegen kann die Vorstellung in jahwistischem Milieu nicht gänzlich fremd gewesen sein. Die prophetischen Quellen bieten somit einen gespaltenen Befund: Wie Ez 23,39, Mi 6,7 und Jes 53,5.10 (sowie Ez 20,25–26; s. u.) im Einklang mit den narrativen Zeugnissen andeuten, waren den Israeliten Menschenopfer für Jhwh nicht völlig unbekannt. Demzufolge sind ihm vereinzelt namentlich Kinder und insbesondere 331

Exkurs

Kinderopfer, Moloch und Tofet

Erstgeborene dargebracht worden. Dagegen unterstützen andere Stellen im Buch Ezechiel und wohl auch Jes 57,5.9 das Bestreben der Deuteronomisten, Kinderopfer als typische grassierende Ungeheuerlichkeit von Fremdgötterkulten zu brandmarken. Dabei verbindet Ez Kinderopfer generell mit dem Götzendienst, während Jes 57,5.9 ein differenzierteres Porträt entwirft, insofern dort solche Bräuche die Verehrung einer Unterweltsgottheit charakterisieren, wozu Punkt 4 weitere Gesichtspunkte beisteuern wird. 3. Menschenopfer in der Weisheitsliteratur Zwei Beispiele aus der Weisheitsliteratur illustrieren, wie die Assoziation von Kinderopfern mit Götzenkulten fortschreitend immer extremere Züge annahm. Das Ge­ schichts­panorama des spätnachexilischen Psalms 106 beschuldigt in den Vv. 37–38 die Israeliten: Sie brachten ihre Söhne und Töchter den Dämonen (~ydIVel;) als Schlachtopfer dar (WxB.z>YIw:); sie vergossen unschuldiges Blut – das Blut ihrer Söhne und Töchter, das sie den (Götzen‑)Figuren Kanaans opferten (WxB.zI) –, und das Land wurde durch Blutschuld entweiht. Wieder gelten Schlachtopfer von Kindern als symptomatische Perversion des Heidentums, die obendrein Blutschuld erzeugt, wobei V. 37 die Empfänger der Gaben vorsichtshalber zu Dämonen entmächtigt. Und während V. 38 den Ausbruch blutiger Gewaltkriminalität schon durch die Nachbarschaft zum Vorwurf der Kinderopfer mit dem Ruch behaftet, aus religiösen Abirrungen entsprossen zu sein, wird die parenthetische Erläuterung in V. 38 vollends deutlich: Der aus metrischen Gründen offenkundige Einschub erweitert die historische Rückschau um Kritik am Bilderkult, indem er die Gewaltakte gleichsetzt mit den Kinderopfern für die Götzenstatuen Kanaans. Die Tirade gegen die vorisraelitischen Bewohner des Landes in Weish 12,3–6 geht noch darüber hinaus, indem sie den Kanaanäern ankreidet, mit ihren eigenhändig ermordeten Kindern bei Kultmählern Kannibalismus getrieben zu haben. 4. Moloch Will man Näheres über den alttestamentlichen Molech bzw. Moloch erfahren, ist die Frage unumgänglich, wie sich der Name zu dem Terminus ml(’)k(t) in den Steleninschriften der punischen „Tofets“ verhält. Eifeldt konnte bereits 1935 plausibel machen, dass dieses Lexem keinen von der Wurzel mlk König sein abgeleiteten Gottestitel bzw. ‑namen repräsentiert, sondern einen Opfertypus, der ausgehend von lateinischen Transkriptionen wie molch, morch und morc als Molk-Opfer bezeichnet wird. Mit von Soden und Müller war das Substantiv wahrscheinlich als kausatives Nomen actionis von der Wurzel (w)lk gehen (vgl. hebräisch $lh) nach dem Muster *mawlik ⇒ môlek o. ä. gebildet und trug die Bedeutung Darbringung o. ä. Vor diesem Hintergrund wurde wiederholt angenommen, dass die 6 Belege von %l,Mol; in Lev 18,21; 20,2–4; 2 Kön 23,10; Jer 32,35 ebenfalls keine Gottheit meinten, sondern das Molk-Opfer. Dementsprechend wäre Jer 32,35a2 zu übersetzen: um ihre Söhne und Töchter als Darbringung darzureichen. Ein solcher Schluss verlangt bestimmte Zusatzannahmen. Zunächst wird von dem %l,mo-Beleg in %l,Moh; yrEx]a; tAnz>li hinter dem Molech herhuren Lev 20,5 abgesehen, der 332

Kinderopfer, Moloch und Tofet

Exkurs

eindeutig einen Gottesnamen bezeichnet, da die Verbindung yrEx]a; hnz herhuren hinter stets Termini für „personale Größen oder deren Repräsentation“ regiert (Keel 500).38 Sofern MT den originalen Wortlaut bewahrt hat (vgl. Dewrell), bildet die Wortgruppe allerdings mit hoher Sicherheit eine Glosse, wie weiter unten zu begründen ist. Ferner stehen auch sämtliche Fälle von %l,Mol; auf der Ebene des tiberischen Textes für einen Gottesnamen, wie die Artikelsetzung anzeigt. Die einkonsonantische Präposition l zwang die Vokalisatoren zu entscheiden, ob sie vor %l,mo einen synkopierten (nur per Vokalisation realisierten) Artikel erkennen sollten oder nicht. Tatsächlich verzeichneten sie in allen Fällen einen Artikel und folgten damit dem Sprachgebrauch der Glosse in Lev 20,5, die dieses Element auch konsonantenschriftlich bezeugt. Hingegen vermieden sie den Artikel bei %l,mol. in 1 Kön 11,7, wo das Nomen ausweislich der Parallelen in V. 5 und 2 Kön 23,13 eine Variante oder Verschreibung des Gottesnamens Milkom (~Kol.mi; s. zu 49,1–6) darstellt, sodass das grammatische Verbot der Mehrfachdetermination den Artikelgebrauch unterband. Wenn freilich %l,Mol; für eine Opferart eintreten sollte, müsste der Artikel dort ebenfalls fehlen, denn in Wendungen des Typs als X-Opfer (darbringen o. ä.) bleibt der Opferterminus indeterminiert, gleichgültig ob er als effiziertes Objekt mit der Präposition l in der Funktion des Lamed revaluationis versehen ist39 oder keine Präposition trägt.40 Der Artikel an %l,mo zeigt daher an, dass das Wort nicht die Art des Opfers, sondern seinen Empfänger markiert und die Präposition l als Lamed dativum fungiert.41 Folglich muss das Nomen eine Gottesbezeichnung in Gestalt eines Titels (König) vertreten, analog zu Baal und den „Baalen“, bei denen sich ebenfalls ein Titel (Herr, Besitzer) zum Eigennamen verfestigt hat, der immer (mit Ausnahme von Num 22,41) determiniert ist, zumeist durch Artikel, ansonsten durch Nomen rectum (s. Ges18). Wenn der Titel König hier nicht in seiner herkömmlichen tiberischen Lautung %l,m, (mäläk aus *malk), sondern als %l,mo moläk erscheint, liegt eine Verballhornung nach bewährtem Muster vor, indem der Vokalismus des Substantivs tv,Bo bošät Schande dem ursprünglichen %l,m, übergestülpt wurde, um den Empfänger der Kinderopfer als Schandkönig zu ächten (Irsigler 116).42 Der originale Titel %l,m, dieses Gottes dürfte in Jes 57,9 (s. o. 2.) und in der Glosse Jes 30,33b (s. u. 5.) bewahrt geblieben sein. Ferner bietet 2 Kön 38  Götzen, Dämonen u. ä. Ex 34,15.16; Lev 17,7; Dtn 31,16; Ri 2,17; 8,33; Ez 6,9; 20,30; 1 Chr 5,25; Repräsentation eines Götzen Ri 8,27; Beschwörungsinstrumente bzw. ‑techniken, Geister Lev 20,6; übertragen Num 15,39. 39  Jenni, Lamed 26–46; Belege ebd. 43 f., Rubrik 154: Revaluation als Opfergabe. Vgl. ferner Ez 23,37 rb[‑H + hl'k.a'l. zum Fraß darreichen. Die Tiberer nahmen nur einen Artikel an, wenn sie ihn im Konsonantenschriftbild vorfanden; so bei ~ymil'V.h; xb;zx') verwandelt, wie die Adressaten es mittlerweile erfahren (brEx' öde 10d.12b). Obendrein werden die Jubelrufe mit liturgischen Gesängen verschmelzen. Dazu wird exemplarisch ein Appell zum dankenden Lobpreis Jhwhs angeführt (11b–d), der in der Spätzeit des AT zur mustergültigen Kurzformel der Hymnik schlechthin aufstieg, wie seine mehrfache Wiederkehr in jungen Psalmen bezeugt.5 Die Sätze 11cd denn gut ist Jhwh, denn ewig währt seine Gnade werden – leicht variiert – in den Chronikbüchern regelmäßig als Quintessenz des liturgischen Gesangs überhaupt zitiert.6 Der Hymnus wird von Pilgern vorgetragen werden, die ihre Dankopfer zum Jerusalemer Tempel bringen (11e). So wird es aussehen, wenn Jhwh das Geschick des Landes wendet wie ehedem (11f), also die ursprünglichen idealen Lebensverhältnisse wiederherstellt (s. z. 30,3): Die ausgelassene Lebensfreude gipfelt im erneuerten Tempelgottesdienst, verstanden als Dankfeier für Jhwhs überreiche Wohltaten. Angemessener Ausdruck der Dankbarkeit ist die Einladung an andere, in den Lobgesang einzustimmen (11b). 12–13 Die prophetische Botenformel 12a eröffnet den dritten Abschnitt, der ebenfalls als Wieder-Spruch gestaltet ist (dA[ 12b.13a) und in einer an 32,44d angelehnten Reihe nun das Territorium des gesamten vorexilischen Staates Juda überschaut. Nach dem inneren Wandel (V. 11; vgl. V. 8) werden auch die wirtschaftlichen Bedürfnisse nicht vergessen, selbst wenn, wie für die erweiterte Trostschrift typisch, die konkreten Hoffnungen bescheiden bleiben: Das stark geschrumpfte und von Mensch und Tier entblößte nachexilische Juda (Jehud; s. zu 41,17; 49,7–22) wird in seinen vorexilischen Grenzen wiedererstehen, und die Kleinviehzucht, ein prägender Zweig der Ökonomie des kargen und trockenen judäischen Berglands, wird sich erholen, sodass die Hirten ihre Tiere wieder regelmäßig abzählen (13a) – weil sie wieder so viele davon haben, dass sie nicht mehr mit einem Blick überschauen können, ob die Herde komplett ist. Diese Heilsverheißung zeigt Einflüsse deuterojeremianischer Sprache, ist aber theologisch nicht mehr deuteronomistisch geprägt. Sie spiegelt indes noch stets die Ödnis, 5 Ps

106,1; 107,1; 118,1.29; 136,1; 1 Chr 16,34. 3,11; 1 Chr 16,41; 2 Chr 5,13; 7,3.6; 2 Chr 20,21.

6 Esr

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Neues Heil für Jerusalem, Juda und Israel

33,12–13

Armut und Demütigung des von der Katastrophe gezeichneten Juda wider, und selbst der Nachtrag Vv. 7–8 müht sich mit der Frage ab, wie angesichts der deprimierenden Erfahrungen mit der Sündigkeit der Israeliten ihr Gottesbezug und damit ihr Überleben auf Dauer gesichert werden kann. Die Wiederaufnahme des Tempelgottesdienstes ist nach wie vor Verheißungsgegenstand (V. 11). Deshalb wird man den Ursprung auch dieser Einheit in den frühnachexilischen Jahren suchen müssen. Eine dem Endtext von 33,6–13 ähnliche Verheißung der Erneuerung Israels mit Reinigung von Sünden, Wiederaufbau und Neubesiedlung der verwüsteten Städte, Aufschwung der Landwirtschaft und Bewunderung durch die Nachbarvölker verkündet Ez 36,33–38.

361

33,14–26

Verheißungen für die Davididen, die Leviten und Israel 14  a  [Siehe, Tage sind am Kommen – Spruch Jhwhs –,] ​ b  [da werde ich das gute Wort erfüllen,] ​ c  [das ich über das Haus Israel und das Haus Juda gesprochen habe:] ​ 15  a  [In jenen Tagen und zu jener Zeit werde ich für David b  [Er wird Recht und Geeinen Spross der Gerechtigkeit aufsprießen lassen.] ​ rechtigkeit wirken im Land.] ​ 16  a  [In jenen Tagen wird Juda gerettet werden,] ​ b  [und Jerusalem wird in Sicherheit wohnen.] ​ c  [Dies ist,] ​ d  [wie man es nennen wird:] ​ e  [Jhwh ist unsere Gerechtigkeit.] ​ 17  a  [Denn so hat Jhwh b  [Nie wird es David an einem Mann fehlen,a der auf dem Thron gesprochen:] ​ 18  [Auch den levitischen Priestern wird es nie an einem des Hauses Israel sitzt.] ​ Mann vor mir fehlen,a der alle Tage Brandopfer darbringt, Speiseopfer verbrennt und Schlachtopfer zurichtet.] 19  [Das Wort Jhwhs erging an Jeremia:] ​ 20  a  [So spricht Jhwh:] ​ b  [Wenn ihr meinen Bund mit dem Taga und meinen Bund mit der Nachta brechen könntet, 21  [dann könnte sodassb es nicht (mehr) Tag und Nacht würde zu ihrer Zeit,] ​ auch mein Bund mit meinem Knecht David gebrochen werden, sodass er keinen Sohn hätte, der auf seinem Thron König wäre; und (und ebenso mein Bund) mit 22  a  [Wiea man das Heer den Priester-Leviten, die in meinem Dienst stehen.] ​ b  [und den Sand des Meeres nicht ermessen kann,] ​ des Himmels nicht zählen] ​ c  [so zahlreich mache ich die Nachkommenb meines Knechtes David und die Leviten, die in meinem Dienst stehenc.] 23  [Das Wort Jhwhs erging an Jeremia:] ​ 24  a  [Hast du nicht bemerkt,] ​ b  [was dieses Volk geredet hat:] ​ cP ​ [Die beiden Geschlechter,] ​ d  [die Jhwh erwählt hatte, –] ​ c  [die hat er verworfen!] ​ e  [Und mein Volk verachten sie, weil es in ihren Augena keine Nation mehr ist.] ​ 25  a  [So spricht Jhwh:] ​ b  [Wenn (es) meinen Bunda mit Tag und Nachtb nicht (gäbe),] ​ c  [(wenn) ich (also) die Ordnungen des Himmels und der Erde nicht festgesetzt hätte,] ​ 26  a  [könnte ich auch die Nachkommena Jakobs und meines Knechtes Davids verwerfen, sodass ich von seinenb Nachkommena keine Herrscher (mehr) nähme über die Nachkommena Abrahams, Isaaks und Jakobs.] ​ b  [Denn ich werde ihr Geschick wenden] ​ c  [und mich ihrer erbarmen.] 17 a Wörtl. dem David wird nicht ausgetilgt werden ein Mann … 18 a Wörtl. … wird nicht aus‑ getilgt werden ein Mann von mir. 20 a Zur Wortgruppensyntax vgl. z. B. Lev 26,42; 2 Sam 22,33; Ez 16,27 (Kö § 277e). b Kö § 360d, 406 f. 22 a Zur Syntax von V. 22 vgl. Jes 54,9cd. b Wörtl. Samen. c JM § 129m; 121k Anm. 2. 24 a Wörtl. vor ihnen. 25 a Wahrscheinlich ist ytiyrIb. mein Bund verschrieben aus ytiar"b' ich erschuf (TK). b S. Anm. 20 a. 26 a Wörtl. Samen. b D. h. Davids.

362

Verheißungen für die Davididen, die Leviten und Israel

33,14–26

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363

33,14–26

Verheißungen für die Davididen, die Leviten und Israel

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Textgenese und Gliederung Die erweiterte Trostschrift endet mit dem Heilswort 33,14–26, das vollständig in der alexandrinischen Textform fehlt. Seine Zugehörigkeit zu den jüngsten Bestandteilen des Buches wird durch mehrere Merkmale des prämasoretischen Idiolekts untermauert (TK), darunter ein besonders solides Anzeichen später Entstehung: Die Bildung ~m'Ay, ursprünglich ein Adverb (tagsüber, bei Tage), ist in 20b.25b nominalisiert, d. h. sie hat die Bedeutung ihrer Grundform ~Ay Tag angenommen, wie in Neh 9,19 sowie wiederholt in den Qumranhandschriften und anderen frühjüdischen Quellen bezeugt (Hornkohl; vgl. ferner den fraglichen Beleg Ez 30,16). Allerdings stellt die Einheit innerhalb des masoretischen Sonderguts eine markante Ausnahme dar, beginnend beim Umfang: Mit einer Länge von 13 Versen bildet sie den größten masoretischen Textüberschuss. Beim Vergleich mit der Handvoll masoretischer Überhänge, die ebenfalls mehrere Verse umfassen, treten weitere Besonderheiten hervor: Sonst handelt es sich dabei ganz oder überwiegend um Duplikate von vorgegebenem Material, sei es aus dem Jeremiabuch selbst (8,10b–12; 29,16–20; 30,10–11; 39,4–13) oder anderer biblischer Literatur (48,45–46); die beiden übrigen Fälle (der Hymnus 10,6–8.10 und die Exilantenstatistik 52,28–30) unterscheiden sich nach Vokabular, Gattung und Inhalt so auffällig vom Rest des Buches, dass sie wahrscheinlich aus unbekannten Quellen entlehnt sind. 33,14–26 ragt ebenfalls durch Themen heraus, die auf der prämasoretischen Wachstumsebene singulär sind: Am israelitischen Königtum ist dort sonst kein Interesse erkennbar, geschweige denn an der Hoffnung auf seine Wiederkehr; dasselbe gilt für die Priester bzw. Leviten. Trotzdem ist das Stück durch gemeinsamen Formelbestand, Zitate, Anspielungen und stilistische Nähe eng mit dem Kontext verzahnt. Zu nennen sind v. a. die Formeln vom Kommen der Tage 364

Verheißungen für die Davididen, die Leviten und Israel

33,14–26

(14a) und von der Wendung des Geschicks (26b); dazu bieten die Vv. 15–16 ein Zitat von 23,5–6, und sowohl 20b–21 als auch 25b–26a imitieren die Rhetorik von 31,36–37. 33,14–26 ist folglich durch den prämasoretischen Idiolekt fest im masoretischen Sondergut verankert und wurde ausweislich seiner Kontextbezüge als Fortschreibung für seine Position im Jeremiabuch geschaffen, wie es für nahezu den kompletten Rest des Korpus gilt. Gleichwohl steht das Stück im masoretischen Sondergut nach Umfang und Thematik einzigartig da; beim literarischen Verfahren weist allein 51,44d–49a eine gewisse Nähe auf (s. z. St.). Für die Verhältnisbestimmung ist zudem folgender Tatbestand bedeutsam: Die Einheit enthält zwar drei prophetische Botenformeln (17a.20a.25a), doch den Gottesnamen folgen keine Hoheitstitel, obwohl solche Zugaben zu den Schwerpunkten der prämasoretischen Revisoren gehörten. Es wäre indes erstaunlich, hätte man zwar vorgefundene Botenformeln häufig um Gottesepitheta vermehrt, bei den eigenen Neubildungen aber darauf verzichtet. Deshalb dürfte 33,14–26 im Rahmen des Sonderguts, das auf einige (wenige) Hände zurückgeht, einer späten Stufe angehören, die der systematischen Expansion der Gottesepitheta entging. Mithin zählt das Heilswort zu den jüngsten Bestandteilen des Buches überhaupt. Zur Frage, inwieweit sein Autor auch andernorts eingegriffen hat, ist die Auffälligkeit hervorzuheben, dass der Name David hier zwar in drei von fünf Fällen1 mit dem Ehrentitel yDIb.[; mein Knecht versehen ist, sonst aber nie, obwohl das Buch reichlich Gelegenheit geboten hätte, den Titel nachzutragen.2 Die auf die levitischen Priester bezogenen Passagen (18.21*.22c*) werden bisweilen als noch spätere Nachträge beurteilt, doch die Indizien sind schwach: Zwar treten die Leviten nur an ausgewählten Stellen auf, nämlich beim Zitat der Prophezeiung der ewigen Herrschaft für die Davididen bzw. des ewigen Priesterdienstes für die Leviten (V. 17–18) sowie bei der Zusage der Unverbrüchlichkeit der Bünde Jhwhs mit David und den levitischen Priestern (V. 19–22), die sich in Herrschaft bzw. Priesterdienst und Mehrung konkretisiert. Dagegen fehlen die Leviten in den rahmenden Orakeln, die das Kommen eines Davidssprosses (V. 15–16) und die Wiederkehr der davidischen Herrschaft über Gesamtisrael (V. 23–26) ansagen. Dort ergeben sich allerdings auch keine Parallelen zu den Leviten, denn deren Kontinuität war im Unterschied zur Davidsdynastie ungebrochen, und nordisraelitische Konkurrenz zum levitischen, also Jerusalemer Opferpriestertum ist kein Thema. Damit sind zugleich die drei Verheißungen benannt, die das Stück, durch gliedernde Signale auf ebenso viele Abschnitte verteilt, promulgiert. Der erste Abschnitt V. 14–18 stellt eingangs die folgenden Zusagen durch die Formel vom Kommen der Tage 14a für die baldige Zukunft in Aussicht, und 14bc erhebt sie zur Explikation und zum Höhepunkt der Heilsverheißungen der erweiterten Trostschrift (s. Erklärung). Die Vv. 15–16 identifizieren die Erfüllung von 23,5–6 als die emblematische Signatur der kommenden Heilszeit. Nach dem begründenden Rückblick V. 17–18 ist der Beginn des zweiten Abschnitts Vv. 19–22 per Wortereignis‑ und Botenformel 19–20a 1 33,21.22c.26a; 2 Vgl.

vgl. 15a.17b. 13,13; 17,25; 21,12; 22,2.4.30; 23,5 (|| 33,15); 29,16 MT; 30,9; 33,17 MT; 36,30.

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Verheißungen für die Davididen, die Leviten und Israel

besonders aufwendig markiert, um die Mehrungszusage für die Davididen und die Leviten zu eröffnen. Auch der dritte Abschnitt V. 23–26 hebt mit einer Wortereignisformel an (V. 23), um eine populäre Schmährede über Israel und die Davididen (V. 24) zurückzuweisen, indem nach einer neuerlichen Botenformel (25a) die schon in V. 21 ausgesprochene Verheißung dauerhafter Herrschaft bekräftigt wird.

Erklärung 14 V. 14 eröffnet die Einheit Vv. 14–26 mit der Formel vom Kommen der Tage (14a),

die das Jeremiabuch generell kennzeichnet (Kon 60), aber sich im Prosarahmen der Kap. 30 f. häuft (s. zu 30,3; ferner 31,27.31.38) und die Erfüllung ihrer Zusagen für die nahe Zukunft prophezeit. Dazu wird die panisraelitische Perspektive der Trostschrift fortgeführt, indem das Wortpaar Haus Israel und Haus Juda 14c ebenfalls einen buchtypischen Ausdruck für Gesamtisrael aufgreift, der innerhalb der erweiterten Trostschrift in 31,31 wiederkehrt und in 31,27 prämasoretisch hergestellt wurde.3 Zum Einstieg markieren so formale Signale die enge sprachliche und sachliche Anknüpfung des Nachtrags an die vorangehenden Orakel. Die Ankündigung 14bc da werde ich das gute Wort erfüllen, das ich über das Haus Israel und das Haus Juda gesprochen habe deklariert das Folgende als Ansage der baldigen Bewahrheitung einer älteren Heilsverheißung, die in den Vv. 15–16 als die dynastisch reinterpretierte Prophetie eines Davidssprosses 23,5–6 kenntlich wird.

Aus der Gestalt von V. 14 hat man sehr weitreichende Schlüsse gezogen, weil 14b ich werde das gute Wort erfüllen (bAJh; rb'D"h;-ta, ytimoqih]w:) an den Satz 29,10c in seiner masoretischen Fassung ich werde an euch mein [gutes] Wort erfüllen ([bAJh;] yrIb'D>-ta, ~k,yle[] ytimoqih]w:) anklingt, der zum Auftakt der Rückkehrverheißung an die babylonischen Exilanten in 29,10–14a gehört, die in MT durch 14b–f zur Ansage der Sammlung der Diaspora gesteigert worden ist. Ferner benennt das Wortpaar Haus Israel und Haus Juda die Adressaten der Orakel, die das Ende der Kollektivstrafen (31,27–30; dort 27b MT) und den Neuen Bund ankündigen (31,31–34; dort 31b). Deshalb knüpfe 33,14 die Verheißung des Davidssprosses an die Bewahrheitung jener Zusagen: Erst wenn die über die Erde verstreuten Israeliten in die Heimat zurückgefunden hätten und der Neue Bund gestiftet sei, werde auch die davidische Dynastie wiedererstehen (vgl. z. B. Lust, Goldman, Schmid, Karrer-Grube, Maier). Ein Autor, der das Sprossorakel an derart spezifische Konditionen gekoppelt wissen wollte, hätte jedoch schwerlich allein auf solch sublime intertextuelle Signale vertraut, während er etwa für die Heimführung nach Juda nicht einmal eine Infinitivkonstruktion aufbot, wie sie in 29,10c die zitierte Passage fortsetzt. Wenn ihm diese Voraussetzung so wichtig war, warum sprach er sie dann nicht im Klartext aus? Ohnehin findet sich die Wendung vom „guten Wort“ wiederholt im AT,4 und man wird gut beraten sein, ihre Wurzeln in der Alltagssprache zu suchen. Ferner fragt man sich, warum der Verfasser, wenn die Parallele zu 29,10c eine zentrale Komponente seines geschichtstheologischen 3  Ferner 5,11; 11,10.17; 13,11; sonst Ez 4,5–6; Hos 1,6–7; Sach 8,3; Bar (hebr.) 2,26; vgl. 1 Kön 12,21 MT. 4  Jos 21,45; 23,14.15; 1 Kön 8,56; indeterminiert 1 Kön 12,7; 14,13; Sach 1,13; Ps 45,2; Spr 12,25; dazu die prädikativen Verbindungen Ex 18,17; Dtn 1,14; 1 Sam 9,10; 26,16; 2 Sam 15,3; 1 Kön 2,38; 18,24; Spr 15,23; Neh 5,9; vgl. 2 Kön 20,19. Den alltagssprachlichen Hintergrund bestätigt ferner die Verbindung bAj rbd‑D Gutes reden Gen 24,50; 31,24.29; Num 10,29; 1 Sam 19,4; 25,30; 2 Sam 7,28; 13,22; 1 Kön 22,13; 2 Kön 25,28; Jer 12,6; 18,20; Est 7,9.

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Verheißungen für die Davididen, die Leviten und Israel

33,15

Konzepts transportieren sollte, das Possessivpronomen überging. Obendrein hätte er zwar die Bünde mit David und den levitischen Priestern explizit erwähnt, aber auf den Neuen Bund nur mit einer recht häufigen Wortverbindung5 aus dessen Adressatenangabe angespielt – keine besonders zuverlässige Methode der Leserlenkung. Auch hier stellt sich die Frage: Wenn der Neue Bund zuerst in Kraft gesetzt werden musste, warum nannte er ihn nicht beim Namen? Zu alldem stünden Vorbedingungen auch noch in merkwürdigem Kontrast zu dem angestrengten Versuch, die Heilszusagen gerade als radikal unkonditioniert zu erweisen (s. i. F.). Das gute Wort im Sinne von V. 14 ist folglich das anschließend modifiziert zitierte Sprossorakel im Verbund mit den weiteren Verheißungen, die daran anknüpfen. Was das Verhältnis zu den vorangehenden Teilen der erweiterten Trostschrift angeht, so wird keine obligatorische Abfolge urgiert; vielmehr deutet die Endposition bei enger literarischer Vernetzung auf eine Hierarchie der Heilstaten Jhwhs, die sich nicht zeitlich, sondern am soteriologischen Gewicht bemisst: Die Verheißungen in 33,14–26 bilden die Kulmination aller Zusagen, die Jhwh den Israeliten für die bevorstehende Heilszeit gegeben hat.

Die erste Verheißung identifiziert das gute Wort aus 14b per Zitat mit dem Orakel 15 über den qyDIc; xm;c, gerechten Spross für David 23,5–6, wohl zu verstehen als rechtmäßiger (legitimer) Spross (HAL 940b; vgl. KAI 43, 11). Die Prophezeiung geht wahrscheinlich auf eine authentische Herrschaftszusage für Zidkija zurück, hat aber durch ihre literarische Einbettung und endgültig durch den Austausch von Zidkijas Namen gegen das hymnische Prädikat Jhwh ist unsere Gerechtigkeit in MT messianische Züge angenommen (vgl. 23,6e AlT und z. St.). Mit Blick auf die in 33,17.21–22.26 folgenden Aktualisierungen der Verheißung der ewigen Dynastie, wie ausgesprochen in der Natansverheißung,6 wandelt die Anleihe ihre Vorlage indes dergestalt ab, dass die Ankündigung eines einzelnen Heilskönigs zur Ansage des Wiederauflebens der davidischen Herrschaft erweitert wird. Die erneuerte Dynastie wird das vom Spross vermittelte messianische Heil (V. 16) auf Dauer stellen. Mithin ist die erweiterte Trostschrift der einzige messianische Text des AT, der – wenngleich indirekt – klärt, wie es nach dem Tod des verheißenen Heilskönigs weitergehen soll. Da auf eine unbegrenzte Zukunft bezogen, ersetzt das Zitat die Formel vom Kommen der Tage 23,5a, hier der gesamten Einheit vorangestellt (14a), durch die Wendung in jenen Tagen und in jener Zeit (15a). Um Wiederholungen zu vermeiden, weicht die Ansage ytimoqih]w: ich werde erfüllen 23,5b, die ebenfalls bereits in der Einleitung steht (14a), dem Prädikat x:ymic.a; ich werde sprossen lassen, eine Wortwahl, die zusätzlich durch die deutero‑ und tritojesajanische Literatur angeregt sein kann.7 Weil das Derivat im Unterschied zu seiner Quelle nicht die Frage reflektiert, welchem Davididen der Thron gebührt (s. z. St.), sondern die Restauration der Dynastie überhaupt prophezeit, tritt an die Stelle des rechtmäßigen Sprosses der hq'd"c. xm;c, Spross der Gerechtigkeit. Obwohl das Adjektiv qyDIc; gerecht in der Vorlage auch die persönliche Lauterkeit des Davidssprosses impliziert und sein rechtschaffendes Tun angekündigt wird (23,5e = 33,15b), rückt dieser Akzent hier deutlicher in den Vordergrund, weg von der Legitimität der Thronanwartschaft, die 23,5b betont. Wenn ferner Jhwh den Spross für David hervor5 Ferner Jer 3,18; 5,11; 11,10.17; 13,11; Ez 4,5–6; Hos 1,6–7; Sach 8,13; Bar (hebr.) 2,26; vgl. 2 Sam 12,8; 1 Kön 12,21 MT; Ez 9,9. 6 2 Sam 7,11–16; Ps 89,4–5.29–38; 132,11–12; vgl. ferner 1 Kön 2,4; 8,25; 9,5. 7 Vgl. Jes 61,11; 45,8; ferner 42,9; 43,19.

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sprießen lässt, wird dieser Umstand genauer beschrieben, indem das Orakel den Heilsbringer als Spross der Gerechtigkeit qualifiziert, der also aus der Gerechtigkeit selbst entspringt und daher ganz von ihr durchdrungen ist. Entsprechend wiederholt 15b die Zusage 23,5e, dass der Spross Recht und Gerechtigkeit üben wird im Land – so ist das mehrdeutige #r %l,m, %l;m'W er wird als König herrschen und klug handeln, obwohl 17b den Davididen den israelitischen Thron zuspricht und V. 21 ihnen explizit den Wiedergewinn das Königsamts ankündigt (vgl auch 26a). Das Motiv war gewiss nicht, wie bisweilen angenommen, die dynastische Entgrenzung der Vorlage, die den Verzicht auf solche Prädikate geboten habe, weil sie auch für die Nachkommen des Sprosses gelten mussten. Denn wäre dies der Grund gewesen, hätte 15b = 23,5e ebenfalls entfallen müssen. Eher hängt die Auslassung mit weiteren Modifikationen zusammen, die V. 16 von 23,6 abheben: Die dynastische Reinterpretation der Verheißung des Davidssprosses bedingt, dass die Rettung nicht in seinen Tagen (23,6a), sondern in jenen Tagen (16a || 15a) eintreten soll. Weiterhin geht die Verheißung des Ehrennamens Jhwh ist unsere Gerechtigkeit vom Spross (23,6c–e MT) auf Jerusalem über (16c–e), denn „nur einzelne Herrscher, nicht eine Dynastie tragen Thronnamen“ (Gro 108). Zudem ist die Übertragung zu vergleichen mit dem Heilswort 3,16–17, das der Stadt eine künftige Würde zuspricht, die sich in dem Titel Thron Jhwhs (3,17a) manifestiert und sogar die Wiederherstellung der Lade des Bundes entbehrlich macht (3,16), da Jerusalem deren Rolle als Gottesthron erbt. Hier melden sich Erwartungen, die Stadt selbst werde mit königlichen und sakralen Qualitäten ausgerüstet, ja sie werde sogar Eigenschaften des Tempels annehmen. Demnach werden die herrscherlichen Aspekte der Tätigkeiten des Sprosses  – und seiner Nachfolger  – in V. 15–16 gegenüber der Vorlage zurückgeschraubt, weil sie ihren Aufgaben in Zuordnung zur Stadt Jerusalem nachkommen werden, wo man eine exemplarische Gerechtigkeit praktiziert, die ihr diesen Ehrennamen verdientermaßen eintragen wird. Folglich spielen bei diesen Abweichungen des Zitats von seiner Quelle zwei Motive ineinander: Einerseits tritt die Dynastie an die Stelle eines singulären Heilskönigs, andererseits wird sie ihre mythologische Ausstattung mit der Residenzstadt teilen. Eine weitere Divergenz in 16ab verengt die an die Herrschaft des Sprosses geknüpften Zusagen der Rettung und des unbedrohten Daseins an Juda und Israel in 23,6ab trotz des gesamtisraelitischen Horizonts in 14c, 17b und 26a auf Juda und Jerusalem. Anscheinend betrachtete man die eigene Lage im Gegensatz zu jener der Brüder im Norden weiterhin als prekär; oder umgekehrt spiegelt sich darin die wieder wachsende Bedeutung Jerusalems als politisches und religiöses Zentrum in fortgeschrittener nachexilischer Zeit, besonders seit Nehemia (445–425; Pietsch 82). So verbindet V. 16 die Rettung Judas und Jerusalems mit der Gewissheit, dass die Jerusalemer endlich die Gerechtigkeit Jhwhs zum effektiven Maßstab ihres Handelns erheben werden. Der Ehrenname Jhwh ist unsere Gerechtigkeit formuliert ein Programm, das in Jerusalem auf eine uralte Tradition zurückgeht. Denn wie wichtige Indizien belegen, hat man im vorisraelitischen Jerusalem die personifizierte Gerechtigkeit in Gestalt einer Gottheit namens Zedek (qd,c,) Rechttun verehrt, von der Jhwh 368

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33,17

nach der Inkorporation Jerusalems in das israelitische Herrschaftsgebiet unter David die Zuständigkeit für die Gerechtigkeit erbte. Dieser Charakterzug hat namentlich bei den Propheten unter Einschluss Jeremias die Idee gefördert, dass Israel zu beispielhafter Gerechtigkeit verpflichtet sei (s. zu 31,23). Jenes hohe Ziel soll nach 16c–e in der kommenden Heilszeit endlich Realität werden. Der Nachdruck auf dem für Jerusalem ausgerufenen Ideal hat wohl zusätzlich dazu beigetragen, dass die Stadt in 16b den Namen Israel gegenüber der Vorlage 23,6 verdrängt hat, obwohl die erneuerte Davidsdynastie wieder Israel insgesamt regieren soll (17b.26a). Der Einleitung im Gewand der prophetischen Botenformel (17a) folgen in 17b–18 17 weitere göttliche Heilsworte, die der Herrschaft der Davidsdynastie und dem Priesterdienst der levitischen Priester gleichermaßen ewige Dauer zusagen, wobei die Zeitangabe alle Tage V. 18 auf 17b zurückwirkt. Den Bezug zum Vortext stiftet der Anschluss mit yKi, einer deiktischen Partikel mit weitem Bedeutungsspektrum, die zumeist als Konjunktion dient und als solche überwiegend kausale Funktion ausübt (denn), aber auch bloße Emphase ausdrücken kann (wahrhaftig!, jawohl!). Die Logik der Abfolge unterliegt daher einem breiten Interpretationsspielraum, aber immerhin wird eine Leseweise nahegelegt, die V. 17 als Begründung des Sprossorakels auffasst. Nun gebraucht der Autor in 17b wie in V. 18 die dtr Unaufhörlichkeitsformel, die ihren Empfängern per immerwährender Nachkommenschaft kollektive Unsterblichkeit verspricht.8 Die Wendung gehört in die Rezeptionsgeschichte der Natansverheißung, die der Davidsdynastie ewige Herrschaft zusichert (s. zu V. 15). Folglich verankert 17b das Sprossorakel in der Natansverheißung und erhebt es zu deren situationsgerechter Aktualisierung: Weil die damaligen Gottesworte trotz der zwischenzeitlichen Unterbrechung des Königtums unvermindert in Kraft sind, wird der vorweg angekündigte Davidsspross die zugesagte ewige Herrschaft nun endgültig verwirklichen, indem er die Dynastie wiederaufrichtet. Die dynastische Öffnung des Sprossorakels, wie bereits in den Abweichungen der Vv. 15–16 von ihrer Vorlage angebahnt, tritt hier explizit zutage. Dabei erscheint schwer vorstellbar, der Verfasser habe die in 15b verheißene ideale Wahrung von Recht und Gerechtigkeit allein auf den gerechten Spross aus 15a bezogen, während seine Nachfolger die alten Missstände wieder einreißen lassen konnten, die sich als so verderblich erwiesen hatten. Deshalb ist die Zusage 15b auf die gesamte erneuerte Dynastie zu beziehen, die laut den Vv. 17, 21–22 und 26a für immer andauern wird. Damit werden die in 17,19–27 und 22,1–5 ausgesprochenen Drohungen des Thronverlusts gegenstandslos. Der Thron des Sprosses – das Schlüsselsymbol seiner Herrschaft – wird Thron des Hauses Israel heißen, d. h. die Davididen werden Gesamtisrael wieder unter dem gottgewollten Jerusalemer Zepter vereinen. Demnach ist 17a präterital zu deuten, weil der Satz als Zitatformel fungiert, die ein älteres Jhwh-Wort anführt, hier zu dem Zweck, seine baldige Bewahrheitung kundzutun. Zugleich wirkt die Aktualisierung der Natansverheißung auf Israel zurück, denn „sollen Nachkommen Davids allezeit auf dem Thron Israels sitzen, so müssen sie auch etwas zu regieren haben, also verbürgt die Ewigkeit der Dynastie die ewige Dauer des Volkes“ (*Rudolph 201).  Engste Übereinstimmung: 1 Kön 8,25; ferner 1 Kön 2,4; 9,5; vgl. Jer 35,19; 1 Sam 2,33.

8

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33,17

Verheißungen für die Davididen, die Leviten und Israel

Die Bestandsgarantie für die Davididen ist so stark, dass das – einstweilen inaktive – Königsgeschlecht sogar die Fortdauer Israels gewährleisten kann. 18 In 18 tritt eine weitere Gruppe neben die Davididen, indem die Unaufhörlichkeitsformel auf ~YIwIl.h; ~ynIh]Koh; die levitischen Priester ausgedehnt wird, die anschließend mehrfach zur Sprache kommen, bei eigentümlich wechselnder Terminologie. In V. 21 wird die Wortverbindung in sonst nicht bezeugter Weise umgedreht: ~ynIh]Koh; ~YIwIl.h; die Priester-Leviten, und 22c spricht einfach von ~YIwIl.h; die Leviten. Wer war damit gemeint? Wenn der erste Beleg in V. 18 den Berufsstand ~YIwIl.h; ~ynIh]Koh; (wörtlich) die Priester, (d. h.) die Leviten nennt, greift er einen Titel auf, der, als Identitätsformel bekannt, für die dtr Literatur typisch ist.9 Der Ausdruck reiht zwei Substantive appositionell aneinander, die im AT sonst zwei Gruppen von Kultfunktionären bezeichnen. Das Verhältnis der beiden Stände wird unterschiedlich bestimmt, je nachdem, welche Befugnisse man den Leviten zugesteht. Die Identitätsformel geht von einem egalitären Klerus aus, in dem sich die Priester aus den (ethnisch und/oder soziologisch definierten) Leviten rekrutieren, sodass alle Priester Leviten sind und den Leviten sämtliche priesterlichen Funktionen offenstehen. Dieses Verständnis verficht dem Sprachgebrauch zufolge auch das dynastisch-messianische Orakel, indem es erst die Identitätsformel aufgreift (V. 18), um dann die Gleichrangigkeit durch die singuläre Umkehrung der Formel zu betonen (V. 21) und schließlich den so bezeichneten Kreis mit den Leviten schlechthin gleichzusetzen (22c). Im AT stellen die Priester jedoch überwiegend innerhalb eines Zwei-Klassen-Levitentums den privilegierten Sektor, oder die beiden Gruppen sind strikt getrennt. In den letzteren Fällen bilden die Leviten einen niederen Klerus, der im Kult nur Hilfsdienste übernehmen darf. Wenn dort Priester und Leviten gemeinsam genannt werden, erhalten die Priester stets den Vortritt. Wie auch immer Ursprung und Eigenart der Leviten in ihrem historischen Wandel zu beschreiben sind, haben ihre Zusammensetzung und ihre Tätigkeitsfelder in nachexilischer Zeit jedenfalls etwas damit zu tun, was mit den Verwaltern der nichtjerusalemer Heiligtümer (der „Kulthöhen“) im Zuge der joschijanischen Reform geschah. Das deuteronomische Gesetz fasste sämtliche Priester unter der Identitätsformel zusammen10 und sah vor, dass die Kultdiener der aufgelösten Landheiligtümer ihren Kollegen am Jerusalemer Tempel rechtlich gleichgestellt werden sollten (Dtn 18,1–8). Nach dem von anderen Quellen angedeuteten Bild sind jedoch die nichtjerusalemer Priester in den Leviten aufgegangen, wenn nicht gar mit ihnen identisch, und die Jerusalemer Priester wussten deren Gleichstellung erfolgreich zu verhindern. Die priesterliche Literatur im AT ordnet die Leviten den (aaronidischen bzw. zadokidischen) Priestern strikt unter;11 und wo sie die Zuständigkeiten der beiden Stände gegeneinander abgrenzt, betreffen die Vorrechte der Priester primär jenen Bereich, 9  Dtn 17,9.18; 18,1; 24,8; 27,9; 31,9; Jos 3,3; 8,33; ferner Ez 43,19; 44,15. Davon zu trennen sind die Aufzählungen, die Priester und Leviten ohne Kopula (und) aneinanderreihen: Jes 66,21; Esr 10,5; Neh 10,29.35; 11,20; 1 Chr 9,2; 2 Chr 5,5; 23,18; 30,27. 10 S. Anm. 15. 11 Z. B. Num 3,6.9; 8,19.22; 18,2–6; vgl. Ex 38,21; Num 3,32; 4,28.33.

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Verheißungen für die Davididen, die Leviten und Israel

33,18

der laut V. 18 den levitischen Priestern zukommen soll: die Darbringung von Opfern.12 Wenn Ez 44,10–16 den Ausschluss der Leviten von der vornehmsten priesterlichen Befugnis mit polemischem Nachdruck verficht, zeichnet sich ab, dass den Leviten ihr minderer Rang unter Zwang aufgenötigt werden musste. Von anhaltender levitischer Auflehnung gegen den Statusverlust zeugt eine Bearbeitungsschicht in Num 16–17, die eine ältere Murrgeschichte aus den Traditionen um die Wüstenwanderung zu einer gescheiterten levitischen Rebellion gegen das priesterliche Privileg der Opferdarbringung umgestaltet hat.13 Laut der Chronik scheinen die Emanzipationsbestrebungen der Leviten auf die Dauer gewisse Erfolge errungen zu haben.14 Vor dem Hintergrund solcher Kompetenzkämpfe erhält V. 18 einen besonderen Klang. Denn wenn das Orakel das Recht der Leviten auf den Vollzug des Opferkults durch ein Gotteswort legitimiert, scheinen die Streitigkeiten um ihre Befugnisse im Hintergrund weiter fortzuschwelen. Was hingegen das Verhältnis von Priesterschaft und Königtum angeht, konnte das Gotteswort die Zuständigkeiten sauber trennen, da den Davididen die Herrschaft ja nur verheißen wurde, während sie noch keine eigenen Ansprüche erheben konnten: Laut V. 17–18 sollte der König die Regierung wahrnehmen, und die Priester besorgten den Opfergottesdienst. Das war nicht immer so. In den konzeptionellen Bahnen des sakralen Königtums, wie für den Alten Orient prägend, walteten auch in Israel die Könige ursprünglich als Oberpriester des staatlichen Kults. Deshalb zitiert Ps 110,4 Jhwh mit dem feierlichen Schwur an den König: Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks (vgl. Gen 14,18–19). Von David und Salomo wird berichtet, dass sie Opfer darbrachten und in liturgischem Rahmen der Gemeinde den Segen spendeten;15 und kurz vor der Wende zum 1. Jh. v. Chr. fusionierten die Hasmonäer wieder das Amt des Hohenpriesters mit dem Königtum (s. u.). Demgegenüber teilte das deuteronomische Gesetz die administrativen und kultischen Aufgaben klar zwischen dem König und den Priestern auf (Dtn 17,14–18,8), und der sog. Verfassungsentwurf Ezechiels laisierte den für die postexilische Zeit als weltliches Oberhaupt vorgesehenen Fürsten (ayfin") völlig, indem ihm wie allen anderen Laien sogar der Zutritt zum inneren Tempelvorhof verweigert wurde (Ez 46,2.8.12), während sich die Opferdarbringung zum alleinigen Vorrecht der Priester wandeln sollte. In den Jahren Serubbabels verfocht die Vision von den beiden „Ölsöhnen“ in Sach 4,1–6b.10d–14 das Programm einer Emanzipation des Hohenpriesteramtes vom Königtum bis hin zur Gleichrangigkeit (vgl. auch Sach 3,7). Dieses maßgeblich während des Exils entwickelte Postulat einer Gewaltenteilung in einen weltlichen und einen sakralen Arm der Herrschaft in Israel sollte laut den Vv. 17–18 bei der verheißenen Erneuerung des davidischen Königtums in die Verfassungswirklichkeit eingehen.

12 Num

3,5–10; 18,3–7; vgl. 1 Chr 23,24–32; 2 Chr 35,10–14.  Vgl. v. a. Num 16,8–11 sowie im weiteren Sinne 16,1–11.16–19.23–27.31–34; 17,1–5 (mit Bestandteilen von anderen Schichten). 14 Vgl. insbesondere 2 Chr 23,18; 30,17; 35,6.14; dazu Labahn, Herrschaftsanspruch 122–191; Jonker. 15  2 Sam 6,12–18; 1 Kön 8,14.55.62–64. 13

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33,18 19–21

Verheißungen für die Davididen, die Leviten und Israel

Der zweite Abschnitt, markiert durch die Einleitung per Wortereignis‑ (V. 19) und prophetischer Botenformel (20a), präzisiert die Orakel für die Davidsdynastie und die Leviten aus dem ersten Abschnitt, versieht sie mit einer kosmologischen Garantie (Vv. 20b–21) und stellt die Vermehrungszusagen terminologisch auf eine Stufe mit den Verheißungen an die Patriarchen (V. 22). Dabei schlägt das irreale Bedingungsgefüge … ~G: … ~ai wenn …, (dann) auch … 20b–21 (ebenso wie V. 25–26, s. u.) insofern eine weitere Brücke zum Vortext der erweiterten Trostschrift, als es die formal gleichartige und ebenfalls kosmologisch konditionierte Abfolge nachahmt und überbietet, die zweimal in 31,36.37b–e auftritt. V. 21 macht die erneuerte Davididenherrschaft explizit als Königtum kenntlich (%lemo) und verankert sie im Konzept des Davidsbundes, wie bezeugt in 2 Sam 23,5; Ps 89,4–5.29.35.40; 2 Chr 12,15; 21,7; Sir 45,25 (vgl. Jes 55,3). Die von Jhwh gegenüber den Davididen souverän eingegangene Selbstverpflichtung (ytiyrIB. mein Bund) wird ihrerseits im Sinne von 17b und somit der Natansverheißung als Zusage ewiger Herrschaft interpretiert (vgl. 1 Makk 2,57); der Fortbestand dieses Bundes impliziert daher zwingend die Rückkehr der Davididen auf den Thron. Jhwhs außerordentliche Wertschätzung für den Dynastiegründer unterstreicht der Ehrentitel yDIb.[; mein Knecht, den Jhwh im AT nur einem erlesenen Kreis von Figuren beilegt (Kon 100; s. zu 30,10) und der in Jer einzig hier (21.22c.26a) den Namen Davids begleitet. Die Fortsetzung fundiert ferner die Verheißungen für die Leviten in einem Bund Jhwhs mit den Priester-Leviten, wozu sich allenfalls ähnliche Vorstellungen in Mal 2,4–8 und Neh 13,29 finden. Namentlich fehlt jeder sprachliche Konnex mit den Belegen des Pinhas-Bundes (Num 25,10–13; 1 Makk 2,54; Sir 45,23–25), der den Nachkommen des Aaron-Enkels Pinhas ein ewiges Priestertum (~l'A[ tN:huK., ἱερωσύνη αἰωνία) verheißt, was bestätigt, dass die Leviten im Sinne von 33,14–26 mit allen Nachkommen Levis gleichzusetzen sind, nicht nur mit jener privilegierten Linie, die von Aaron über Pinhas und Zadok zur Jerusalemer Tempelpriesterschaft verläuft (1 Chr 5,27–41; 6,35–38; Esr 7,2–5). Die Apposition yt'r>v'm. die in meinem Dienst stehen (vgl. 22c) gebraucht das Verb trv-D, das speziell ehrenvolle Dienste bezeichnet. Es erinnert daran, dass Jhwhs Verheißungen an die Leviten ihre kultischen Kompetenzen einschließen. Die als mein Bund qualifizierten Heilsworte werden in 20b mit einer Bedingung verknüpft, die jedoch das herkömmliche konditionierte Bundesverständnis regelrecht auf den Kopf stellt. Denn die Bedingung bindet nicht wie üblich die Gültigkeit der Zusagen, sondern umgekehrt deren Scheitern an Voraussetzungen; außerdem hat sie mit Forderungen Jhwhs nichts zu tun und ist in unerreichbare Höhen geschraubt: Die Verheißungen an David und die Leviten könnten nur dahinfallen, wenn die Israeliten (!) in der Lage wären, den schöpfungsgemäßen Tag-Nacht-Rhythmus (Gen 1,5; 8,22) außer Kraft zu setzen. Damit geht 20b noch weit über das Vorbild 31,36a hinaus, wo das (eigentätige) Wanken der ~yQixu (Natur‑)Gesetze zur Voraussetzung erhoben wird. Denn hier sind es Menschen, die nichts weniger erreichen müssten, als meinen Bund mit dem Tag und meinen Bund mit der Nacht zu brechen, also die göttliche Herrschaft über die Natur auszuhebeln. Weil der Bundesbruch die Möglichkeiten sämtlicher Partner unter Einschluss Jhwhs übersteigt, bringt ihn V. 21 im akteursblinden Passiv 372

Verheißungen für die Davididen, die Leviten und Israel

33,23–24

zur Sprache. So wird die traditionelle konditionale Rhetorik der Bundestheologie16 und der Natansverheißung17 aufgegriffen, um sie subversiv zu unterlaufen: Indem Jhwh die Bedingung vom Gelingen auf das Scheitern verschiebt und demonstrativ ins Groteske treibt, streicht er im Gewand einer klassischen konditionalen Redefigur den rein gnadenhaften, unverrückbaren Charakter der Verheißungen heraus. V. 22 bekräftigt die Orakel der kollektiven Unsterblichkeit für die Davididen und 22 die (jetzt auch nur noch so genannten) Leviten, indem der Vers die Verheißung in die Sprache von Mehrungszusagen an die Patriarchen kleidet (Gen 22,17; 32,13; vgl. Gen 15,5; Hos 2,1). Ein Wachstum der Davidsfamilie und der Leviten auf Volksgröße erscheint jedoch kaum als plausibler Verheißungsgegenstand. Was also war gemeint? Gewiss keine Kollektivierung, die alle Israeliten rhetorisch mit den Nachfahren Davids und den Leviten identifiziert (vgl. Jes 55,3–5; 61,6; ferner Ex 19,6), denn dies wäre schlecht mit der ausdrücklichen Rede von der Nachkommenschaft Davids (22c.26a) und den Herrschaftszusagen (17b.21.26a) zu vereinbaren; auch wird man schwerlich den Leviten das Vorrecht des Opferkultes zugesprochen haben (V. 18), um es sogleich auf ganz Israel auszudehnen. Eher wird die Rhetorik der unermesslichen Vermehrung diachron reinterpretiert und so rationalisiert: Weil die Geschlechter Davids und der Leviten – wie Israel selbst (V. 26) – auf immer fortleben sollen, wird ihre Zahl schließlich mit den Sternen am Himmel und dem Sand des Meeres gleichziehen. Im dritten Abschnitt, wiederum durch eine Wortereignisformel eröffnet (V. 23), 23–24 sichert Jhwh die vorausgegangenen Verheißungen ab, indem er sie gegen abschätzige Kommentare in Schutz nimmt, die dieses Volk (24b) im Munde führt: Die beiden Geschlechter, die Jhwh erwählt hatte – die hat er verworfen! (24cd). Dazu leitet Jhwh das Zitat mit einer rhetorischen Frage an Jeremia ein, ob ihm die verleumderischen Tiraden nicht bekannt seien (24a), um deren Popularität und Verbreitung herauszustreichen. Was für Jhwh den Kern der Anwürfe ausmacht, fasst er in die Worte: Und mein Volk schmähen sie, weil es in ihren Augen keine Nation (yAG) mehr ist (24e). Wer ist das zitierte Volk, und wer sind die beiden Geschlechter (tAxP'v.Mih; yTev.)? Weil dieses Volk (24b) mit seinen verächtlichen Reden mein Volk (24e) herabwürdigt, bezieht man die beiden Substantive gern auf unterschiedliche Größen und setzt dieses Volk mit Nachbarvölkern gleich. Dann wäre freilich der Singular zu erklären; deshalb verweist hZ; in der Übersetzung: Freilassung), die im Alten Orient normalerweise einen bestimmten Typ königlicher Erlasse darstellte (Näheres jeweils z. St.). Dieses Nebeneinander durchzieht die ganze Einheit: Von einer tyrIB. gehen aus 10b.15c.18ab sowie im Zuge der Beurteilung im Lichte des Väterbunds auch 13b; von rArD> arq reden 15b.17bc. – Des weiteren stehen in V. 9 die beiden Adjektive hY"rIb.[ih'w> yrIb.[ih' der hebräische (Sklave) und die hebräische (Sklavin) gemeinsam von ihren Bezugsworten getrennt, was den Verdacht einer nachgetragenen Adaption an Dtn 15,12 weckt. Das Gerichtswort spricht in V. 13–17 direkt zu den Judäern, in V. 18–21 hingegen über sie (V. 22 hat keine spezifische Sprechrichtung). Aus diesen Gründen finden neuere diachrone Hypothesen durchweg im Gefolge von *Duhm eine literarische Vorlage in den Vv. *8–11, die ein dtr Redaktor leicht retuschiert als Aufhänger für seine weitgehend selbst geschaffene interpretierende Gottesrede Vv. *12–22 genutzt habe. Indes erscheint der Beweiswert der genannten Beobachtungen bei genauer methodischer Kontrolle viel geringer, als ihnen häufig zugetraut wird. So findet die sprunghafte Zunahme geprägter Sprache ab V. 12 ihre einfache Erklärung im Wechsel von der Erzählerrede zum Orakel, da sich die deuterojeremianische Terminologie aufgrund ihres paränetischen Schwerpunkts naturgemäß in thematisch geeigneten Abschnitten von Gottes‑ und Prophetenreden konzentriert. Ferner passt die von der dtr Redaktion angelegte Elle Dtn 15,12–18 zwar in der Tat nur bedingt auf die in V. 8–11 beschriebenen Akte. Das liegt jedoch an der unvermeidlichen Spannung zwischen der Eigenart der berichteten Sklavenbefreiung und ihrer dtr Interpretation, ein Widerspruch, dem der Redaktor unter keinen Umständen entgehen konnte, gleichgültig ob er ein älteres Dokument oder bloß eine vorgefundene Erinnerung verwertete. Folglich rechtfertigt der Befund keinen Schluss auf eine schriftliche Quelle, sondern nur die weniger weitreichende Hypothese einer Überlieferung, die der Redaktor in seiner Umwelt bereits antraf. Außerdem verlangt die Annahme einer schriftlichen Vorlage selbst in der knappen vormasoretischen Fassung von V. 8–11 noch zusätzliche Schnitte, nämlich die Ausscheidung von aroq.l rArD> […]i 8b2 als Dublette zu tyrIB. trk 8b1 (Otto, Restitution 156; C. Maier 262). Für den dtr Redaktor hatte freilich das Rechtsinstitut des rArD> gegenüber der altorientalischen Tradition bereits seine Bedeutung gewandelt, sodass es erstens mit einem Bundesschluss verbindbar wurde, wie eindeutig in 15bc geschehen, und zweitens in die Zuständigkeit des Volkes rückte, wie in 15b.17b vorausgesetzt. Wie immer also der rechtshistorische Hintergrund der rArD>-Restitution aussah, war sie für den dtr Redaktor kein königlicher Erlass mehr, ebenso wenig wie im AT überhaupt (vgl. Lev 25,10; Jes 61,1; Ez 46,17). Laut den unstrittig dtr Passagen in Jer 34 gilt vielmehr: Der fragliche Rechtsakt verpflichtete durch einen vor Jhwh geschlossenen Vertrag (tyrIB. 15c; vgl. V. 18) das Volk zu einer Restitution (rArD> 15b.17b) in Gestalt der 386

Der Widerruf der Sklavenfreilassung

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Freilassung von Schuldsklaven. Vertrag und Restitution bezeichnen hier also keine konkurrierenden Rechtsakte mehr, sondern Form und Inhalt desselben Rechtsakts. Genau davon geht auch 8b aus. Eine Dublette lässt sich dort nur unter der Prämisse eines vor-dtr Ursprungs der Vv. *8–11 diagnostizieren, was der Hypothese eine zirkuläre Natur verleiht. Die Art der Kombination von tyrIB. und rArD> in V. 8 entspricht exakt der Erwartung, wenn schon der Vorspann Vv. *8–11 aus derselben dtr Feder floss, der wir auch das anschließende Gerichtswort verdanken. Selbst die Negation yTil.bil. wie in V. 9 (sowie 10b MT) konzentriert sich in Jer auffällig in deuterojeremianischen Stücken (Kon 26 f.). Hingewiesen sei ferner auf den Umstand, dass Zidkija den Vertrag laut der alexandrinischen Ausgabe von 8b einfach mit dem Volk schloss, obwohl, wie erst ein prämasoretischer Bearbeiter präzisierend nachtrug, nur die Einwohner der eingekesselten Residenzstadt beteiligt gewesen sein können, zumal die Belagerung und deren zeitweilige Unterbrechung die einzigen ersichtlichen Motive erst für die Sklavenfreilassung und dann ihren Widerruf abgeben. Der Autor konnte in diesem Punkt jedoch auf das Vorwissen seines Publikums vertrauen, sofern er die Vv. *8–11 in einem Zug mit dem Vortext verfasste, also hier wie dort derselbe Deuteronomist am Werk war. Gestützt auf den Wechsel der Referenz auf die Judäer von der 2. zur 3. Person Plural zwischen V. 13–17 und V. 18–22, nehmen neuere Spielarten der Theorie einer literarischen Vorlage an, dass die Quelle bereits einen prophetischen Urteilsspruch enthalten habe, auf den vor allem V. 18 zurückgehe (z. B. Thiel, *Wanke; C. Maier rechnet das Gros der Vv. 20–22 dazu). Allerdings wechseln an ein pluralisches Publikum gerichtete Prosareden in Jer regelmäßig zur 3. Person, wenn sie wie in V. 18–21 ihre Aussagen nach Untergruppen differenzieren.2 Die Deixisverschiebung in V. 18– 21 spiegelt also bloß eine gattungstypische literarische Konvention, die der stilistischen Vereinfachung diente und jedenfalls kein literarkritisches Indiz ergibt. Ferner erfordern solche Thesen weitere, nicht durch zureichende Anhaltspunkte gedeckte Schnitte. Mit der Frage eines vor-dtr Kerns in dem Gerichtswort hängt ferner die Doppelung der Wortereignisformeln in V. 8 und 12 zusammen. Wenn ein älterer Zusammenhang zwischen V. *8–11 und einem Grundbestand der Prophetenrede postuliert wird, erscheint ein direkter Übergang zu V. 18* (C. Maier) schwer glaubhaft. Eine andere Variante akzeptiert V. 12.13a als Bindeglied, bewertet dafür die erste Wortereignisformel in V. 8 als redaktionell und muss deshalb bei der Rekonstruktion des Textbeginns zu Konjekturen greifen (Thiel, *Wanke). Will man jedoch die eigenartige sprachliche Realisierung des Vorspanns als Anakoluth aus einem Sub­stan­ tiv mit ausuferndem Relativsatz erklären, ist der Gewinn der Annahme nachträglicher Komplizierung durch einen Redaktor schwer zu erkennen. Stellt man die dtr Vorliebe für komplexe Satzperioden und die übrigen Probleme bei der Identifikation einer schriftlichen Vorlage in Rechnung, überzeugt es mehr, mit dem originären Produkt eines Deuteronomisten zu rechnen, der zunächst meinte, den geschichtlichen Anlass des prophetischen Gerichtsworts in einer längeren Zeitangabe zur einleitenden Wortereignisformel zusammenfassen zu können. Die erforderlichen Informationen  Vgl. z. B. 17,25–26; 21,6–7.9; 22,4; 23,34; 35,16; 42,17; jeweils mit den betroffenen Kontexten.

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erwiesen sich indes als zu umfangreich, sodass er auf halbem Wege die Kontrolle über seine barocke Konstruktion verlor und mit V. 12 einfach neu ansetzte, zumal ihm als antikem Menschen das Bedürfnis nach schulbuchmäßiger Abrundung seiner Sätze abging. Deshalb wird man resümieren müssen: Der dtr Redaktor des babylonischen Jeremiabuches (JerDtr II) hat für 34,8–22 die Erinnerung an eine Schuldsklavenbefreiung unter Zidkija verwertet. Sollte diese ihm in Schriftform vorgelegen haben, lassen sich Zitate aus der Quelle jedenfalls nicht mehr mit befriedigender Sicherheit aus seinem Werk erheben. Möglicherweise hat jedoch ein früher Glossator den V. 9 durch den Einschub von hY"rIb.[ih'w> yrIb.[ih' der in V. 14 paraphrasierten Norm Dtn 15,12 angenähert. Jer 34 schwoll in der prämasoretischen Phase um zahlreiche floskelhafte und verdeutlichende Glossen an, die bei Bedarf z. St. erläutert werden. An gewichtigeren Fällen sind zu nennen: Der aus 32,4c abgeleitete Einschub 3e näherte das Orakel für Zidkija in V. 2e–5 zusätzlich seiner Parallele in 32,3–5 an, und 4c sollte die kognitive Dissonanz zum Wissen über das spätere Schicksal des Königs mindern. In V. 9 wurde das Ziel der Sklavenfreilassung so umformuliert, dass sie das vom Heiligkeitsgesetz propagierte Verbot der Versklavung von israelitischen Brüdern (Lev 25,39–46) in die Tat umsetzte. Beträchtlich modifiziert und erweitert wurde MT in den Vv. 10–11c. Während der alexandrinische Text die Sklavenfreilassung nur knapp per Feststellung des Gehorsams (10ab*) sowie im Spiegel ihres Widerrufs schildert (11d.15–16), stellt MT sie explizit fest, um so einerseits den Kontrast zum Ungehorsam der Väter (vgl. 10ac MT mit 14ef), andererseits aber auch den Skandal ihrer Rücknahme (Vv. 15–16) zu unterstreichen. Auch AlT wurde spät bearbeitet: In den Vv. 18–19 hat ein Schreiber den Bundesschlussritus (s. z. St.) in einen Stierkult nach dem Muster des Goldenen Kalbes und der Kälber Jerobeams verwandelt (Ex 32; Dtn 9,11–21; 1 Kön 12,26–33), um zur theologischen Rationalisierung der Exilskatastrophe beizutragen, indem er Zidkija und seinen Zeitgenossen Götzendienst vorwarf. Das Ergebnis widerspricht der milderen Behandlung des Königs durch das Heilswort in V. 2–5 und die separate Strafansage V. 21. Diese Textfassung ist mit den antizidkijanischen Revisionen in AlT 37,18–21; 38,9; 52,11 zu vergleichen (TK; für alexandrinische Priorität votieren hingegen Schenker, Was übersetzen wir? 253–256; Wijesinghe, Shorter Version 303 f.; Jeremiah 34, 149–156; C. Maier 259 f.; Weis). Jer 34 ist somit ein einheitliches Werk von JerDtr II, abgesehen von wenigen, hauptsächlich prämasoretischen Retuschen. Der Autor hat in geringem Umfang literarische Vorlagen eingeschmolzen: Der ursprünglich asyndetische V. 7 bildete ehemals den Anfang von zuerst der Apologie Jeremias und dann der Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums. 5a–e geht zumindest dem Sinn nach auf ein authentisches Jeremiawort zurück; ob es dem Redaktor in Schriftform vorlag, wird besser offenbleiben. Das Kapitel ist in zwei Teile gegliedert, konstituiert durch zwei Gottesreden an Jeremia, die jeweils durch Wortereignisformeln mit Datierungen eingeleitet werden. Zu Beginn von Teil 1 (Vv. 1–7) situiert die Wortereignisformel V. 1 die Offenbarung durch den Umstandssatz 1c. Die Rede Vv. 2–5 hebt nach der prophetischen Boten388

Der Widerruf der Sklavenfreilassung

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formel 2a an mit einem Geh‑ und Redebefehl (2b–d). Eine weitere Botenformel (2e) eröffnet Unheilsansagen, die erst Jerusalem (2fg) und dann den Adressaten Zidkija (V. 3) betreffen. Abgesetzt durch Aufmerksamkeitsruf (4a) und neuerliche Botenformel (4b), folgt eine Heilsprophezeiung für den König (4c–5e) mit abschließender Beteuerung ihrer Authentizität (5f). Die Kombination ergibt ein Verschonungsorakel, das ein weitreichendes Drohwort mit einer Heilszusage verbindet, die einem Betroffenen eine Sonderbehandlung in Gestalt eines glimpflicheren Ergehens verheißt. Eine Notiz über die Ausführung des Redeauftrags und deren Schauplatz (V. 6) sowie eine abermalige Lageskizze (V. 7) runden den ersten Teil ab. Bei Teil 2 (Vv. 8–22) reicht die einleitende Wortereignisformel bis V. 11, weil die Datierung, beginnend in V. 8b1, zu einem ausgedehnten Bericht entfaltet ist. Deshalb eröffnet eine weitere Wortereignisformel (V. 12) samt Botenformel (13a) die Gottesrede (Vv. 13b–22), die hier als prophetisches Gerichtswort geformt ist. Das Scheltwort Vv. 13b–16 schaut zunächst in die ferne Vergangenheit, um an die Gesetzesoffenbarung beim Exodus zu erinnern (13b–14d) und den Ungehorsam der Väter zu beklagen (14ef). Dann stellt der Blick in die rezente Vergangenheit die Sklavenfreilassung (V. 15) und ihren Widerruf heraus (V. 16). Das Drohwort Vv. 17–22, gattungstypisch durch !kel' darum und Botenformel eingeführt (17a), rekapituliert nochmals kurz die Vorwürfe (17b), bevor es getrennte Strafansagen erst für die Judäer (17c–20) und dann für Zidkija samt seinem Führungspersonal (V. 21) vorträgt. Die abschließende Ankündigung der Rückkehr der Belagerer (V. 22) leitete ehemals zur Fortsetzung durch die UPJ-Erzählung 37,3 ff. über. Zu den Besonderheiten von Teil 2 gehört eine außergewöhnlich große Zahl von Lexemen und Wendungen, die per ausgiebigen Gebrauch als Leitwörter fungieren, eine Eigenart, die die prämasoretischen Zusätze noch gesteigert haben (die folgenden Angaben nach MT): 1. das Substantiv tyrIB. Vertrag, Bund (8b1.10b.13b.15c.18a1.b), häufig verbunden mit dem Verb trk schneiden, (einen Bund) schließen (8b1.13b.15c.18c; im buchstäblichen Sinn: 18d). 2. die Wendung rArD> arq eine Restitution ausrufen (8b2.15b.17bc), wozu noch ein weiterer Beleg von arq rufen aus andersartigem Kontext tritt (15d). 3. die Wurzel db[, sei es als Verb dienen (14c; nebst Präpositionalobjekt mit b versklaven: 9.10b) oder als Substantiv db,[, Sklave, das regelmäßig mit seinem weiblichen Pendant hx'p.vi Sklavin gekoppelt ist (9.10b.11bd.16ce), aber auch separat in der Verbindung Sklavenhaus als Epitheton Ägyptens vorkommt (13b). 4. Den Kontrastbegriff zu db[ bildet xlv‑D entlassen, entweder mit dem prädikativen Adjektiv yvip.x' frei beim Objekt (9.10b.11c.14d.16d) oder ohne (10d.14a). 5. das Verb bwv umkehren, das im Grundstamm die gesinnungsmäßige Umkehr der Judäer bezeichnet, und zwar im guten (15a), aber auch im schlechten Sinn (11a.16a). Im H-Stamm beschreibt das Verb, wie die Judäer die Sklavenfreilassung rückgängig machen (11b.16c) und wie Jhwh die Babylonier nach ihrem zeitweiligen Abzug wieder nach Jerusalem zurückführt (22b). 6. Das Verb [mv hören konstatiert den Gehorsam der Judäer (10ac) bzw. mit Negation dessen Gegenteil (14e.17b). 389

34,1

Jeremias Verschonungsorakel für Zidkija

Erklärung 1 Die Einleitung zum folgenden Gotteswort setzt durch die Wortereignisformel (1ab)

samt ausgedehnter historischer Lageschilderung (1c) eine markante Zäsur. Sie dürfte darin ihren literarischen Grund haben, dass V. 1 im chronologischen Aufbau des babylonischen Jeremiabuchs ursprünglich den Schritt zu jener dramatischen Phase der Geschichte Judas vollzog, die mit der Belagerung Jerusalems ihren Anfang nahm. Das Porträt der Situation schweigt von Jeremias Haft im Wachhof, die die beiden vorausgehenden Kapitel schon vorausgesetzt hatten (32,2.8.12; 33,1), weil diese Stücke dem Autor von Jer 34 noch nicht bekannt waren. Deswegen sah er keinen Anlass zu betonen, dass sich der Prophet auf der erreichten Zeithöhe noch frei bewegen konnte, bevor er im (ehemals direkt anschließenden) Komplex 37,3 ff. in Gefangenschaft geriet. Die Lageskizze deutet das Ausmaß der Katastrophe an, die sich für Juda in Bewahrheitung von Jeremias Prophetie anbahnte: Die alexandrinische Fassung von 1c lässt das gesamte babylonische Großreich aufmarschieren, in MT nochmals zur ganzen Welt gesteigert (sowie alle Völker). Der Redaktor verrät seinen Abstand zum historischen Geschehen, wenn er sich König Nebukadnezzar vor den Mauern Jerusalems gegenwärtig vorstellt, was laut vertrauenswürdigen Zeugnissen wie V. 7 nicht zutraf (s. dort). – Zur Namensvariante Nebukadrezzar im Hebräischen s. Textgenese zu 27–29. 2–3 Die Einleitung fährt fort, die Bedeutsamkeit des Folgenden durch rhetorische Breite zu betonen. So setzt die Gottesrede mit einer überladenen Prophetenbeauftragung ein. Von den beiden Botenformeln (2ae) geht die erste schon der allein für Jeremia bestimmten deuterojeremianischen Auftragsformel (2b–d, in MT zusätzlich erweitert)3 voraus und hat somit den für diese Textebene typischen Funktionswandel zur bloßen Zitatformel zur Einführung von Gottesreden an den Propheten durchlaufen (s. zu 25,15a, Textgenese). Die zweite Botenformel 2e markiert den Beginn des an Zidkija auszurichtenden Orakels, das in zwei klar geschiedene Abschnitte zerfällt: Der erste enthält Unheilsansagen (2f–3), nochmals gegliedert in solche für Jerusalem (2fg) und solche für Zidkija (V. 3), bevor der zweite Teil dem König Heil prophezeit (4c–5e), hervorgehoben durch einen ausgeprägten Neueinsatz (4ab) und eine bekräftigende Schlussbemerkung (5f). Der erste Teil definiert folglich den unabänderlichen Unheilsrahmen, in den der zweite Abschnitt gleichwohl für Zidkija eine Nische des Heils einbetten und so das Gotteswort zu einem Verschonungsorakel formen wird. Die unausweichliche Katastrophe bedeutet für Jerusalem Einnahme und Einäscherung, für Zidkija Gefangennahme, Begegnung mit seinem Überwinder und Exil. Für diese Ankündigungen lehnte sich der Redaktor eng an Vorbilder in der UPJ-Erzählung an, die er selbst seinem Buch einverleibte (vgl. 2f–3b mit 38,17–18.23). Insofern konnte er für die Unheilsaspekte aus Quellen schöpfen, die Jeremias Orakel in Fassungen boten, die bereits in Kenntnis des tatsächlichen Verlaufs ausformuliert waren, sodass ihre Bewahrheitung keinem Zweifel unterlag. Bloß verkürzte der Redaktor mit Rücksicht auf seinen fortgeschrittenen historischen Standort zu einer unbedingten Proklamation, 3  2,2 MT; 3,12; 13,1; 17,19; 19,1; 22,1 AlT; 28,13; 35,2.13; 39,16; 2 Sam 24,12; 2 Kön 5,10; Jes 38,5 (Kon 42 f.).

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34,4–5

was seine Vorlage als negative Seite einer Alternative hingestellt hatte, die Zidkija um den Preis der Kapitulation noch einen glimpflicheren Ausweg offenhielt. Keine ältere Parallele hat dagegen die Prophezeiung, Zidkija werde den König von Babel mit eigenen Augen erblicken (3d). Sie berührt seltsam, denn wie auch das Jeremiabuch – in später nachgetragenen Passagen (52,9–11 || 39,5–7 MT) – weiß, trug dieses Treffen Zidkija einige der grauenvollsten Erfahrungen seines Lebens ein, darunter den Verlust eben jenes Augenlichts. Sollte der Satz von der furchtbaren Wahrheit ablenken und dem Autor ersparen, sie aussprechen zu müssen? – Interessanterweise wird die Deportation nur dem König allein prophezeit (3f). Dies entspricht der Praxis des babylonischen Jeremiabuchs, die Verschleppung als kollektives Unheil aus dem Arsenal an Drohungen zu streichen, weil für den Redaktor, nun selbst ein Exilant, die Gola zum einzigen Ort möglicher Erneuerung Judas aufgestiegen war (vgl. dagegen im judäischen Jeremiabuch 8,3; 9,15; 13,1–11; 16,13). Bei Zidkija hingegen war die Ansage der Deportation unumgänglich als Voraussetzung der anschließenden Heilsworte (s. zu V. 4–5). – Das lose Zitat von 2e–3 in 32,3c–5a hat sowohl in MT (3e || 32,4c) als auch in AlT (Zusatz aus 32,3e nach 2f) zu später Zeit konflationär auf seine Quelle zurückgewirkt. Das Heilswort für Zidkija wird von den Unheilsansagen nachdrücklich abgesetzt 4–5 durch einen Aufmerksamkeitsruf samt feierlicher Anrede mit Namen und Titel (4a), gefolgt von einer neuerlichen Botenformel (4b). Die Verheißung schließt mit der Beteuerung ihrer Zuverlässigkeit (5f). Der Ton in der Rede an Zidkija liegt somit auf ihrem zweiten Abschnitt. Wenn dieser Teil zudem mit der Adversativpartikel %a; bloß, doch anhebt, wird er als Gegensatz bzw. Einschränkung zum Vorangehenden ausgewiesen (vgl. für ähnliche Redegesten in Jer 3,13; 26,15; 28,7). Was der zweite Abschnitt des Orakels ankündigt, soll mithin laut dem Redaktor tatsächlich als Heilsversprechen verstanden werden, das die unverrückbaren elenden Momente im Leben Zidkijas relativiert und so in ein neues Licht rückt. Wie in der Rekonstruktion der Textgenese dargelegt, fallen nun Formulierungen, die sich wohl aus der authentischen Prophetie Jeremias während der Belagerung Jerusalems speisen. Der vormasoretische Text begann mit der Verheißung eines Todes, der unter nach alttestamentlichen Maßstäben optimalen Bedingungen eintrat, also solchen, die dem Unvermeidlichen den Unheilscharakter nahmen: tWmT' ~Alv'B. in Frieden bzw. Heil wirst du sterben (5a), mit betonter Frontstellung der Umstandsangabe. Im Mund Jeremias konnte damit nur ein friedvolles Hinscheiden in gesegnetem Alter mit standesgemäßer Beisetzung in der Jerusalemer Grablege der Davidsfamilie und bei dynastischer Kontinuität gemeint gewesen sein. Die eminente Bedeutung des würdigen Begräbnisses beleuchten die Königsbücher, wenn sie diesen Akt bei den Davididen wann immer möglich penibel vermerken.4 Welche Gründe bewogen den Redaktor, das alte Jeremiawort auf das Ableben des erniedrigten, an Leib und Seele geschundenen Herrschers in der Fremde anzuwenden? Die Frage scheint schon die antiken Tradenten beschäftigt zu haben, denn nicht von ungefähr hielt es ein präma4  1 Kön 2,10; 11,43; 14,31; 15,8.24; 22,51; 2 Kön 8,24; 15,7.38; 16,20; 21,18; vgl. 2 Kön 20,21; 24,6 (Text?).

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soretischer Ergänzer für klug, vorsichtshalber voranzuschicken: Du wirst nicht durch das Schwert sterben (4c), offenbar in der Absicht, der Zusage des heilvollen Todes die denkbar allgemeinste Bedeutung beizulegen, sodass sie schon erfüllt war, wenn Zidkija bloß ohne Gewalteinwirkung verstarb. So sollte der Einschub die Prophezeiung 5a mit den bedrückenden Erinnerungen an das Schicksal des Königs notdürftig versöhnen. Die Fortsetzung verheißt Zidkija ehrenvolle Beisetzungsriten und zählt dabei Kernbestandteile auf, die anscheinend als unabdingbar galten, um die Würde der Feiern zu gewährleisten: Totenfeuer (5b), die bei Königsbegräbnissen üblich waren (vgl. 2 Chr 16,14; 21,19) und wohl apotropäischen Zwecken dienten (Zwickel); dazu formelle Totenklagen (5de).5 An diesen Zusagen war vor allem die Versicherung wichtig, dass die Traditionen der Herrscherfamilie gewahrt blieben (wie die Totenfeuer deiner Väter … 5b). Von Jeremia vor Zidkija verkündet, kam das Gotteswort der exemplarischen Verheißung gleich, dass der König ein Mindestmaß an Status und dynastischer Kontinuität über die Niederlage würde hinwegretten können. Doch in der wirklichen Welt war das Heilsversprechen nur vollständig, wenn es auch die ordentliche Beisetzung in der Grabstätte der Königsfamilie umfasste, wie es das Orakel Huldas für Joschija in 2 Kön 22,20 tut (vgl. Gen 15,15), während umgekehrt die Strafankündigung für Jojakim in Jer 22,18–19 dem Delinquenten das Begräbnis ausdrücklich verweigert. Die vorliegende Fassung des Heilsworts für Zidkija geht indes über das Thema stumm hinweg, fraglos mit Blick auf die Deportation des Davididen. Darin dürfte der Schlüssel zur Antwort auf die Frage nach den Gründen für die Überlieferung des Orakels liegen: Das Schweigen zur Bestattung Zidkijas belegt, dass der Redaktor auf realweltliche Grenzen der Bewahrheitung Rücksicht nahm. Das hinderte ihn freilich nicht, die Zusage angemessener Totenfeiern zu zitieren und mit einer Bekräftigungsformel abzurunden, die die Verlässlichkeit der Verheißung unterstrich, indem sie hervorhob, dass Jhwh, wie die Frontstellung betont, ein Wort geredet, also durch öffentliche Proklamation den Gang der Dinge festgeschrieben hatte (5f). Wenn der Redaktor somit die Realhistorie respektierte und sich trotzdem auf die Vertrauenswürdigkeit Jhwhs berief, zielte er auf ein Publikum, dem bekannt war, dass solche Totenliturgien für Zidkija stattgefunden hatten. Das vorausgesetzte Vorwissen passt zur exilischen Herleitung des Buchteils Jer *26–44. Der differenzierte Umgang mit den Tatsachen bestätigt ferner, dass für JerDtr II die Heilsverheißung unkonditioniert gemeint war, denn enthielte sie eine Bedingung, die in seinen Augen mittlerweile verspielt war, hätte er das Thema der Bestattung nicht auszuklammern brauchen. 6 Dem Orakel folgt, obgleich nicht obligatorisch, eine summarische Notiz über die Ausführung, wohl um die neuerliche Situationsbeschreibung (V. 7) in einer Weise anzukoppeln, die das Stilempfinden des dtr Verfassers befriedigte. Wenn er die Selbstverständlichkeit hervorhob, dass Jeremia die aufgetragene Botschaft dem König in Jerusalem ausrichtete  – wie während der Belagerung schlechterdings nicht zu vermeiden –, so am ehesten deshalb, weil er selbst mit seinem Publikum fern von der  Vgl. z. B. 1 Kön 13,30; Am 5,16; umgekehrt Jer 22,18.

5

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Der Widerruf der Sklavenfreilassung

34,7

Stadt weilte. Die Redundanz erklärt sich also zwanglos aus der spontanen Rücksicht auf seinen mesopotamischen Standort. Teil 1 der deuteronomistischen Komposition Kap. 34 überliefert ein Prophetenwort Jeremias in einer gefilterten Fassung, die sich nach dem Wissen der angezielten Adressaten bewahrheitet hatte und daher Jeremias prophetische Glaubwürdigkeit stärkte. Der dtr Redaktor des babylonischen Jeremiabuchs arbeitete hiermit an einem Thema weiter, das in seinen Beiträgen eine Schlüsselrolle spielt: das Ringen um die Anerkennung seines Helden als authentischer Sprecher Jhwhs. Deshalb eröffnete er sein Werk mit der Erzählung von jenem Tempelprozess, in dem die Judäer sträflich die Legitimität der Unheilsprophetie Jeremias bestritten (26*), während Jhwh sie mittlerweile glänzend bestätigt hatte, und als Finale wählte er das Protokoll von Jeremias Streit mit den götzendienerischen Auswanderern in Ägypten (44,1–28), den der Prophet nicht von ungefähr mit der programmatischen Frage beendete, wessen Wort Bestand haben wird (28c). Dieser thematische Schwerpunkt von JerDtr II illustriert ähnlich wie die inkorporierten Werke, die Falschprophetenkomposition *27–29 und die Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums 34,7 + *37–43,7b, dass der Kampf um Jeremias Glaubwürdigkeit in der babylonischen Gola eine Weile fortdauerte. Das wiederholte Porträt der Kriegslage ergab sich aus der Kompositionstechnik des 7 Autors: Er verband die Sklavenbefreiung und ihre spätere Rücknahme mit dem am Beginn der UPJ-Erzählung in Kap. 37 gespiegelten wechselhaften Verlauf der babylonischen Belagerung Jerusalems, weshalb er die Möglichkeit nutzte, die einleitende Lageskizze der Apologie Jeremias bzw. der UPJ-Erzählung für seinen Eigenbeitrag dienstbar zu machen. Historisch dürfte er damit im Recht sein. Tatsächlich bietet der babylonische Auf‑ und Abmarsch den plausibelsten situativen Hintergrund für die anschließend verurteilten Vorgänge. Daher platzierte er seine Neuschöpfung direkt hinter den Beginn des eingewobenen Dokuments, um am Ende seines Beitrags wieder zu dieser Quelle zurückzulenken (s. zu V. 21–22). Weil er allerdings mit V. 8 einen besonders markanten Auftakt setzte, ist V. 7 in der Struktur des Endtextes stärker nach oben verbunden und dient nicht mehr als Exposition zum Folgenden, sondern fungiert im Gewand eines Umstandssatzes als vertieftes Hintergrundpanorama zum Vorausgehenden. Wenn die Apologie Jeremias in ihrer einleitenden Momentaufnahme der Kriegslage die letzten judäischen Festungen namentlich identifizierte, die noch der Übermacht widerstanden, so ist darin keine spezielle Stilisierungsabsicht erkennbar. Daher handelt es sich wahrscheinlich um eine Erinnerung, die exemplarisch beleuchtet, wie nahe Juda bereits dem Abgrund gerückt war, als sich Zidkija zu seinem Fürbittgesuch bei Jeremia entschloss. Die Detailkenntnisse des Verfassers passen zu den übrigen Merkmalen, die seinen ereignisnahen Standort dokumentieren. Den Realitätsgehalt seiner Lageskizze beleuchtet das Lachisch-Ostrakon 4, in dem ein Offizier seinem Kommandeur in Lachisch mitteilt, „dass wir die Signale von Lachisch beobachten (können) gemäß all den Zeichen, die mein Herr gibt, aber Aseka nicht sehen (können).“ (Z. 10–13; HTAT 263, S. 423). Lachisch ist identisch mit Tell ed-Duwêr, „42 km südwestlich von Jerusalem bzw. 25 km westnordwestlich von Hebron“ gelegen, wäh393

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rend Aseka wohl mit Tell Zakarīye gleichzusetzen ist, „30 km westsüdwestlich von Jerusalem“ (*Wanke). – Wird im Endtext die Fortsetzung in Kenntnis von V. 7 gelesen, trägt die nüchterne Notiz zum Schuldkonto der Judäer in den Jahren vor dem Exil bei: Sie konnten sich allenfalls in aussichtsloser Bedrängnis zur Observanz des dtn Gesetzes durchringen – und selbst das bloß in einem einzigen, noch dazu kurzlebigen Fall. 8 Der mit dem Widerruf der Sklavenfreilassung befasste Teil von Kap. 34 zerfällt seinerseits in den narrativen Vorspann V. 8–11 und das göttliche Gerichtswort V. 12– 22, beide eingeleitet durch Wortereignisformeln. Weil schon der narrative Vorspann so anhebt, wird dieser hier nur in einem weiteren Sinn so genannt. Denn namentlich nach der kürzeren alexandrinischen Fassung zu schließen, hatte der Autor gar nicht die Absicht, einen Erzählteil voranzuschicken, sondern er wollte nur ein knappes Resümee des inkriminierten Geschehens in die Datierung der Wortereignisformel einschließen. Doch als die Mitteilungen zu umfangreich gerieten, brach er die begonnene Konstruktion einfach als Anakoluth ab, setzte neu an und eröffnete das Gotteswort mit einer zweiten, nun syndetisch angereihten Wortereignisformel. Die Infinitivkonstruktion troK. yrEx]a; 8b wird in V. 10–11 mit finiten Verben, in den Hauptsätzen dazu mit Narrativen fortgeführt. Was daher als Hintergrundinformation begann, nimmt rasch erzählerische Züge an, was mehr noch für die masoretische Ausgabe gilt, die in 10b–11c stark erweitert ist. Deshalb benutzt die Übersetzung für die Vv. 10–11 das Präteritum, obwohl sich das Geschehen zum Eintreffen der Offenbarung (8b) vorzeitig verhält. Die gewählte Konstruktion bedingt, dass die historische Reminiszenz als Rückblende präsentiert wird: Die zu Beginn der Einheit in V. 8 erreichte Zeithöhe ist jene des ergehenden Gerichtsworts, von der aus auf seinen Anlass zurückgeschaut wird. Die Retrospektive setzt ein bei dem Rechtsakt, der die Schuldsklavenbefreiung vollzog. Der Grund dafür wird sich bald klären. Denn selbst wenn über den ethischen Wert der Maßnahme primär das Ob entscheiden mag, zählt für den dtr Redaktor auch die juristische Prozedur, da sich an der rechtlichen Seite des Vorgangs wenig später seine theologische Interpretation entzünden wird. Hier liefert 8b gleich zu Beginn die beiden entscheidenden Stichwörter: Erstens wurde die Sklavenfreilassung in Kraft gesetzt durch einen Vertrag (tyrIB. berīt), den Zidkija mit dem Volk (so AlT) geschlossen bzw. wörtlich: geschnitten hatte (trk krt; s. zu V. 18). tyrIB. heißt in der Grundbedeutung Verpflichtung. Wenn das Lexem eine mehrseitige Verpflichtung bezeichnet, meint es ein Abkommen bzw. einen Vertrag, wie es auch hier der Fall ist; bei geeigneten Partnern und Inhalten kann der Kontrakt die Form eines Bündnisses oder Bundes annehmen. Für die biblisch so wichtigen, von Jhwh gewährten tyrIB.-Verhältnisse hat sich in der theologischen Tradition der Fachausdruck „Bund“ eingebürgert (s. zu 31,31). Weil die Gottesrede die Treue zu der in 8b berichteten Abmachung an den Maximen des Bundes Jhwhs mit den Vätern messen wird, steht hier für tyrIB. das Äquivalent Bund, um das im Hebräischen wirksame lexikalische Verweisgeflecht anzudeuten, obwohl es sich in heutiger Sprache um ein Abkommen handelte. Wenn der Autor die Vertragspartner des Königs ursprünglich einfach als das Volk umschrieb, so deshalb, weil er die Kenntnis des Vortexts voraussetzte, demzufolge nur die belagerten Jerusalemer den Rechtsakt mitvollziehen konnten. Erst ein 394

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34,9

prämasoretischer Ergänzer fand es nötig, sicherheitshalber daran zu erinnern (8c). Das zweite für die theologische Interpretation wichtige Stichwort betrifft den Inhalt der Übereinkunft, nämlich die Verpflichtung der Partner, eine Restitution (rArD> derōr; in der Übersetzung: Freilassung) auszurufen (arq qr’). Das Substantiv rArD> ist das hebräische Äquivalent zu akkadisch (an)durāru(m), einem juristischen Terminus, der Restitutionsakte bezeichnet, die Rechtsverluste im Interesse der Verminderung von Konfliktpotenzial rückgängig machten. Konkret geschah dies meist in Form des Schuldenerlasses, und zwar verfügt durch königliche Edikte, die dann ebenfalls den Namen (an)durāru(m) trugen. Solche Erlassedikte wurden im Alten Orient von Zeit zu Zeit proklamiert, namentlich bei der Thronbesteigung eines Königs, und sie fungierten vor allem als soziales Ventil, um dem Überhandnehmen sozialer Spannungen im Gefolge der Verelendung breiterer Bevölkerungsschichten entgegenzuwirken. Die übrigen alttestamentlichen Belege von rArD> beziehen sich auf die Rückerstattung von veräußertem Grundbesitz und die Freilassung von Gefangenen: Auf der Basis des Konzepts, dass Grund und Boden prinzipiell unverkäuflich seien (Lev 25,23), fordert Lev 25,10, in jedem fünfzigsten Jahr, dem „Jubeljahr“, eine Restitution auszurufen mit der Folge, dass jeglicher Besitzerwechsel von Grundeigentum rückgängig gemacht wird, und der Verfassungsentwurf Ezechiels sieht in Ez 46,17 ein turnusmäßiges Restitutionsjahr (rArD>h; tn:v.) vor, in dem Landschenkungen des „Fürsten“ automatisch an ihn zurückfallen sollen. Jes 61,1 bezeichnet mit rArD> die Befreiung von Gefangenen unabhängig von kalendarischen Anlässen. Im Unterschied zur außerbiblischen Praxis fallen diese rArD>-Akte allerdings nicht (mehr) in die Kompetenz des Königs. Das gilt auch für Jer 34, wo die Restitution von den Vollbürgern durchzuführen ist (8b.15b.17b); Zidkija trägt lediglich dazu bei, die Maßnahme durch einen unter Mitwirkung des Königs zustande gekommenen Bund zu einer verbindlichen Pflicht zu erheben. Deshalb bilden tyrIB. und rArD> im Verständnis des dtr Autors keine einander ausschließenden Rechtsakte mehr, sondern zwei Aspekte desselben juristischen Vollzugs: Der von Zidkija und den Jerusalemern gestiftete Rechtsakt hat die Form eines zwischen König und Volk (8b; vgl. 10b) vor Jhwh (15c.18c) geschlossenen Vertrags bzw. Bundes (tyrIB.), und sein Inhalt, nämlich die durch das Abkommen auferlegte Pflicht, ist die Restitution (rArD>). Dabei könnte Letzteres schon Frucht der retrospektiven dtr Interpretation sein, weil zweifelhaft ist, ob das Wort rArD> bereits in der Königszeit auf Handlungen des Volkes anwendbar war (Otto). Da Restitutionsakte in verschiedenen Bereichen vorkamen, ist der Terminus mehr- 9 deutig, sodass seine konkrete Bedeutung im Einzelfall spezifiziert werden musste, wie es nun geschieht. Danach handelt es sich hier um eine Freilassung von Schuldsklaven, wie der Text indirekt, aber für zeitgenössische Leser unmissverständlich feststellt mit der Notiz, die Maßnahme habe judäische Sklaven betroffen. Laut dem alexandrinischen Wortlaut sollte die Freilassung bewirken, dass niemand mehr aus Juda als Sklave diente, also sämtliche versklavten Judäer der Knechtschaft entkämen. Wohl erst ein früher Glossator präzisierte, es sei um hebräische Sklaven und Sklavinnen gegangen, im Einklang mit 14a–d, der Paraphrase von Dtn 15,12, also von jenem Vers, der das deuteronomische Gesetz über „hebräische“ Sklaven Dtn 15,12–18 eröffnet, an dem das Scheltwort anschließend das Gebaren der Sklavenhalter messen wird. Die Spezi395

34,9

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fikation deutet jedenfalls schon frühzeitig an, welchem Maßstab die Restitution hätte genügen müssen. Die prämasoretische Reformulierung damit sie – also einen Judäer, seinen Bruder, – niemand mehr versklavte ging noch weiter: Sie lenkte den Blick von den Opfern auf die Täter und griff Terminologie und Gedankengut aus Lev 25,39–46 auf, jenem Paragrafen des Heiligkeitsgesetzes, der die betreffende deuteronomische Vorschrift novellierte. Wie diese idealistische oder eher sogar utopische Neufassung verficht MT das Programm, dass ein Israelit prinzipiell keinen israelitischen Bruder (Lev 25,39.46) versklaven dürfe (B. db[ Lev 25,39; vgl. V. 42), und appliziert sie situationsgerecht auf Juda. Damit ist die Latte für die Judäer hoch gelegt. 10–11 In Israel konnten Sklaven hauptsächlich auf zwei Wegen in ihre bedauernswerte Lage geraten: Entweder handelte es sich um Kriegsgefangene; dann waren sie Ausländer, die sich mit einem nahezu rechtlosen Dasein abfinden mussten. Gerieten hingegen Israeliten in die Sklaverei ihrer Landsleute, dann über die Schuldknechtschaft, d. h. durch Selbstverkauf oder den Verkauf von Familienangehörigen infolge von Überschuldung, um durch Arbeitsleistungen Kredite abzutragen, die die Zahlungsfähigkeit des Schuldners überstiegen.6 Wie prophetische Proteste7 und eine Fülle anderer antiker Quellen belegen, bedeutete die Schuldsklaverei in Israel wie im Alten Orient überhaupt eine beträchtliche Gefahr für das Sozialgefüge, weil die prekäre Landwirtschaft mit ihrer Verwundbarkeit durch Dürren, Schädlingsbefall und bewaffnete Konflikte häufig zur Aufnahme von Darlehen zwang, die bei Zinssätzen von 20–33 % die Kreditnehmer leicht in eine unentrinnbare Schuldenfalle verstricken konnten. Das Risiko des sozialen Absturzes verschärfte sich, wenn Schübe des Bevölkerungswachstums die landwirtschaftlich nutzbare Fläche pro Esser spürbar beschnitten. Ein weiterer Indikator für die Größenordnung des Problems sind die atl. Gesetze, die das Kreditwesen regelten8 und dabei bestrebt waren, judäischen Schuldsklaven ein Mindestmaß an Rechten zu sichern. Das Bundesbuch und dessen Novellierung, das deuteronomische Gesetz, bestimmten, dass die Schuldknechtschaft bei Judäern nach sechs Jahren enden sollte, sofern der Sklave nicht selbst ihre Fortdauer wünschte (Ex 21,2–11; Dtn 15,12–18). Das Heiligkeitsgesetz versuchte sogar, wie betont, sie für Israeliten gänzlich abzuschaffen und durch ein immerhin der Lohnarbeit angenähertes, bis zum nächsten Jobeljahr befristetes Verhältnis der Zwangslohnarbeit zu ersetzen (s. o.). Wenn nun die belagerten Jerusalemer feierlich gelobten, allen judäischen Schuldsklaven auf einen Schlag die Freiheit zu gewähren, kann ihre Absicht indes nicht gelautet haben, Rechtsvorstellungen nach Art von Ex 21,2–11 und Dtn 15,12–18 zu genügen. Denn diese Gesetze verwenden nicht den Terminus rArD> Restitution, und sie sahen jeweils individuelle Ablaufdaten der Dienstleistungspflichten vor, abhängig vom Beginn der Schuldknechtschaft. Antike Parallelen belegen vielmehr, dass solche Gunsterweise in belagerten Städten häufiger vorkamen, wo sie allerdings keine sozialen Wohltaten austeilen sollten, sondern die Mobilisierung von Reserven bezweckten, 6 R. Kessler,

Sozialgeschichte des Alten Israel. Eine Einführung, Darmstadt 2006, 114–126. Jes 10,1–2; Am 2,6–8; 5,11; 8,4–6; Mi 2,9–10. 8 Ex 22,24–26; Lev 25,35–37; Dtn 15,1–18; 23,20–21. 7 Z. B.

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34,12–14

weil man sich von freien Mitbürgern höhere Einsatzfreude im Abwehrkampf versprach als von Entrechteten (Beispiele bei Anbar und Smelik 245). Wenn ferner die Befreiten künftig selbst ihren Unterhalt bestreiten mussten, waren die Sklavenhalter einer Aufgabe enthoben, die unter den Bedingungen der Belagerung besonders kostspielig ausfiel (weswegen die Aktion auch die Sklavinnen erfasste). Zum opportunistischen Charakter der Maßnahme passt der weitere Gang der Ereignisse. Der alexandrinische Text von V. 10–11 berichtet lapidar, wie die Sklavenhalter die Freilassung umgehend unter Zwang wieder rückgängig machten (11d). Ein prämasoretischer Ergänzer hob eigens hervor, dass die Dienstherren vor ihrem Widerruf zunächst gehorchten (10ac MT) und ihrer Pflicht nachkamen (10d MT), womit er den Gegensatz zu den Vätern (13b; 14e MT) unterstrich, denen die Scheltrede vorwirft, dass sie seit der Offenbarung des Gotteswillens im Exodus-Bund (13b) nicht gehorchten (14e). Obwohl also die Restitution laut V. 8 auf einem Bund, d. h. hier: einem Abkommen zwischen König und Volk beruhte, deutete der Bearbeiter die Vertragstreue zum Gehorsam um, weil für ihn die Vorgänge in Wahrheit die Treue der vorexilischen Judäer zum Exodusbund, manifest in der Observanz des deuteronomischen Gesetzes, auf den Prüfstand stellten. Was in Jer 34 dagegen nirgends beim Namen genannt wird, sind die aktuellen Anlässe für den Schuldenerlass und seine Rücknahme, die sich nur aus den Angaben im Kontext zu den historischen Begleitumständen und aus der Kenntnis situationstypischer antiker Praktiken erschließen lassen. Danach war die Sklavenbefreiung ein Notbehelf, geboren aus der verzweifelten Lage der Eingeschlossenen (V. 7), und sie wurde umgehend kassiert, als mit dem vermeintlich dauerhaften Abzug der Babylonier ihr Grund entfallen war (V. 21–22). Das Schweigen des dtr Autors zu den realpolitischen Hintergründen erklärt sich aus seinen Aussageabsichten: Er wollte die tyrIB. als einen radikalen Ausnahmefall der Umkehr zum Väterbund darstellen und bewerten, mithin als einen Akt, der nicht aus militärischem Kalkül, sondern aus religiösen Motiven erwachsen war, nämlich dem unversehens erwachten Wunsch nach Bundestreue. Deshalb wählte er den Kompromiss, einerseits durch die Platzierung des Stoffes im chronologischen Gerüst seines Werkes auf die Erinnerung Rücksicht zu nehmen, dass die Maßnahmen durch den Kriegsverlauf bedingt waren, und andererseits das Verhalten der Judäer so weit wie möglich zu dekontextualisieren. Zu diesem Zweck zog V. 8 gegenüber dem Bild der Lage in V. 7 eine ausgeprägte literarische Zäsur, und der Abzug der Babylonier kam bloß rückblickend im Zuge der Prophezeiung ihrer Wiederkehr zur Sprache (Vv. 21–22). Mit diesen Kunstgriffen stützte der Verfasser die Fiktion einer rein religiösen Motivation der Freilassung, und deren Widerruf erschien noch willkürlicher, als er ohnehin schon war. Nach der Rückblende erreicht V. 12 mit der zweiten Wortereignisformel wieder 12–14 die Zeithöhe von V. 8 und leitet nunmehr das schon dort angekündigte Gotteswort ein. Mitgeteilt wird nur sein Ergehen an Jeremia und die Botenformel (13a), während eine Prophetenbeauftragung fehlt, obwohl die Rede laut ihrer anfänglichen Sprechrichtung an die Judäer (13b–17) zur Ausrichtung bestimmt ist, ein typischer Zug der Literarisierung des Gerichtsworts. Das Scheltwort (13b–16) widmet sich in zwei Schritten der fernen (13b–14) und der nahen (15–16) Vergangenheit. Der Rückblick 397

34,12–14

Der Widerruf der Sklavenfreilassung

in die ferne Vergangenheit greift sogleich das Stichwort tyrIB. trk einen Bund schneiden aus dem narrativen Vorspann auf und stellt dem Bundesschluss Zidkijas mit dem Volk (8b) kontrastiv den Exodus-Bund Jhwhs mit den Vätern gegenüber (13b; vgl. den betonten Auftakt mit tyrIb. yTir:K' ykinOa' ich selbst habe einen Bund geschnitten; zum Exodus-Bund s. zu 31,32). Eine Vorahnung vom Tenor der Rede gibt das typisch dtr Epitheton Sklavenhaus, das dem Namen Ägypten in der Erinnerung an die fundamentale Befreiungstat Jhwhs beigegeben ist.9 In einer für diese theologische Denkwelt kennzeichnenden Weise werden so die Erfahrungen Israels mit der Ausbeutung in Ägypten als Grund angeführt, warum die Israeliten ein erlerntes Mitgefühl für die Leiden von Unterdrückten und somit einen untrüglichen Instinkt für deren Rechte mitbringen sollten.10 14a–d umreißt den Inhalt des Exodus-Bundes mit einem variierten Zitat von Dtn 15,12, wo die Freilassung israelitischer Schuldsklaven nach sechs Dienstjahren verlangt wird. Indem dieses Gebot rhetorisch mit der Exodus-tyrIB. insgesamt gleichgesetzt wird, erhält es exemplarischen Rang für deren Charakter überhaupt: Die Achtung der Rechte der Schwächsten im sozialen Gefüge ist der Kern der Forderungen Jhwhs an Israel. Laut dem alexandrinischen Text von 14a soll die Schuldknechtschaft im numerischen Einklang mit 14c, Dtn 15,12.18 und Ex 21,2 am Ende von sechs Jahren erlöschen, während sie für MT am Ende von sieben Jahren ausläuft, in wörtlicher Übereinstimmung mit Dtn 15,1, dem Beginn der Vorschrift, die den alten Brauch der Ackerbrache in jedem siebten Jahr zum Gebot des Verzichts auf Gläubigerforderungen ummünzt (Dtn 15,1–6). Wie der Vergleich von Dtn 15,1 mit seinem Vorbild Ex 23,10–11 und seiner Fortsetzung Dtn 15,7–11 (V. 9!) zeigt, verlegt der Ausdruck am Ende von sieben Jahren den Schuldenerlass jedoch in das siebte Jahr (und nicht an die Wende zum achten), wie immer der konkrete Wortlaut der Fristangabe zu erklären ist. Analog begrenzt auch 14a MT die Dienstzeit auf sechs und nicht auf sieben Jahre, widerspricht also seinen Parallelen keineswegs. Die alexandrinische Variante ist daher als Glättung zu werten, die dem geschwundenen Verständnis für die Logik hinter der masoretischen Lesart entsprang. Dagegen ist letztere als Kombinationszitat aus Dtn 15,1 + 12 lesbar, das beide damit eröffnete Paragrafen als beispielhafte Repräsentanten des Exodus-Bundes verklammert, dessen Wesen sich in der göttlichen Forderung nach unbedingtem Respekt vor dem Recht der Armen auf ein würdiges Dasein verdichtet. Möglicherweise vertritt 14a MT auch eine Auslegung, die die Sklavenbefreiung nach Dtn 15,12–18 unter die verbindlichen Erlasse aufnahm, die während der in siebenjährigen Zyklen wiederkehrenden Brach‑ bzw. Erlassjahre nach Dtn 15,1–11 fällig wurden (Otto, Soziale Restitution 155 f.), ähnlich wie die priesterliche Weiterentwicklung von Dtn 15 das zur Schuldentilgung bestimmte Lohnarbeitsverhältnis bis zum nächsten Jubeljahr befristete (Lev 25,40). – Der Rückblick in die ferne Vergangenheit schließt mit dem Fazit, dass die Väter dem Exodus-Bund beharrlich den Gehorsam verweigert hatten (14ef), formelhaft zu-

9 Ex

13,3.14; 20,2; Dtn 5,6; 6,12; 7,8; 8,14; 13,6.11; Ri 6,8 u. ö. (Kon 26). Dtn 5,15; 6,21; 15,15; 16,12; 24,18.22.

10 Vgl.

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34,17

sammengefasst mit der typisch deuterojeremianischen Kombination der Wendungen nicht hören (/gehorchen) und nicht das Ohr neigen.11 Der Rückblick in die nahe Vergangenheit wendet sich den Zeitgenossen Jeremias 15–16 zu, um ihren Umgang mit jenem Gebot anzuprangern, das die Einheit zur Zentralforderung des Exodus-Bundes steigert. Der Passus zerfällt in eine positive und eine negative Hälfte, jeweils identisch eingeleitet durch das Wort WbvuT'w: ihr seid umgekehrt 15a.16a, wobei das Leitwort bwv (s. Textgenese) zuerst wie in vergleichbaren Kontexten die Umkehr zum Guten meint, um dann zu deren Karikatur auszuschlagen, die nochmalige Umkehr, und zwar jetzt zum Ausgangspunkt, also zum Bösen. Die positive Seite begrüßt die Sklavenfreilassung in deuteronomistischem Vokabular als das Rechte in den Augen Jhwhs tun (15b).12 Sie selbst wird wie in V. 8–9 beschrieben als Ausrufung einer Restitution (rArD> arq), die in die Kompetenz des Volkes fällt (Wh[erEl. vyai jeder für seinen Nächsten bzw. Mitbürger 15b). Da die Restitution hier inhaltlich nicht mehr präzisiert wird, hat sie offenbar für den gegebenen Kontext die Spezialbedeutung der Sklavenfreilassung angenommen. Das dtn/dtr Gesellschaftsideal bricht sich Bahn, indem die Sklavenfreilassung als Akt unter Gleichen beschrieben wird (ebenso 17b, wo MT noch seinem Bruder hinzusetzt, um die prinzipielle Unvereinbarkeit von Brüderlichkeit und Sklaverei zu unterstreichen). Die Restitution ist also kein dem Gutdünken anheimgestellter Erweis von Großzügigkeit, sondern die juristische Umsetzung per Geburt erworbener Ansprüche und damit Wiederherstellung von Normalität. Der rechtliche Vollzug durch eine tyrIB. erfolgte, wie nun über V. 8 hinaus präzisiert wird, vor mir im Tempel (15cd); d. h. es handelte sich, wie im Alten Orient üblich, um ein Ritual, das vor der Gottheit am heiligen Ort ihrer verdichteten Gegenwart begangen wurde und sie zum Zeugen und Garanten des Pakts berief in der Erwartung, dass sie mangelnde Vertragstreue an den Schuldigen ahnden würde. Das Heiligtum ist in typisch dtr Manier umschrieben als das Haus, über dem mein Name ausgerufen ist. Die geprägte Wendung appliziert auf den Tempel Jhwhs ein Idiom, das mit der Ausrufung des Namens über einem Objekt auf einen rechtssymbolischen Akt der Inbesitznahme rekurriert (s. zu 32,34). Wenn der Bundesschluss vor Jhwh unmittelbar nach V. 14 in Erinnerung gerufen wird, muss er als Einschaltung in den Exodus-Bund erscheinen; d. h. die Kontexteinbettung insinuiert, die Beteiligten hätten die Neubelebung eben jenes Bundes beabsichtigt. – Die negative Seite erhält eine besonders absurde Note, indem sie als Umkehr von der Umkehr charakterisiert wird (16a). Die Identifikation Jhwhs mit den Entrechteten seines Volkes ist so eng, dass die Annullierung der bereits erbrachten Solidarpflicht einer Gotteslästerung gleichkommt, da sie meinen Namen entweiht (16b). Der Vorwurf 16c setzt wie V. 9.10b voraus, dass das in 14a–d zitierte Gebot für beide Geschlechter gilt, wie die Quelle Dtn 15,12 in einem dort übergangenen Passus explizit verlangt. Das Drohwort V. 17–22, gattungstypisch durch !kel' darum mit Botenformel ab- 17 gesetzt (17a), arbeitet zunächst mit den vorweg betonten juristischen Aspekten des Geschehens: erst der Restitution (V. 17), hier wie in 15b mit der Sklavenfreilassung 11,8 MT; 17,23; 25,4; 35,15; 44,5; ferner Spr 5,13 (Kon 139). Ex 15,26; Dtn 6,18; 12,25.28; 13,19; 21,9; 1 Kön 11,33.38; 14,8; 15,5 (Kon 109).

11 7,24.26; 12 Vgl.

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34,17

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gleichbedeutend geworden, dann dem Vertrag bzw. Bund (V. 18). Anschließend wird die Strafansage entfaltet mit gängigen Bausteinen aus dem dtr Arsenal: die Erstreckung des Unheils auf alle gesellschaftlichen Stände und seine standardisierte Ausmalung (Vv. 19–21), bevor am Schluss eine konkrete Ankündigung folgt, die am ursprünglich nachfolgenden Kontext orientiert ist und deshalb ehemals zu ihm überleitete (Vv. 21–22). V. 17 macht die – erstmals von Deuteronomisten vollzogene? – Interpretation der Sklavenfreilassung als rArD> arq eine Restitution ausrufen für die Strafansage fruchtbar. Weil diese Wendung vorweg in gewissem Abstand gefallen ist und überdies die kurzlebigen positiven Leistungen der Judäer beschrieb (15b), wiederholt der Autor sie hier in negierter Form, um die Freilassung, da rückgängig gemacht, wie niemals geschehen hinzustellen. Deswegen geht ein Element der Scheltrede in das Drohwort ein (17b). Das Stichwort dient anschließend als Lieferant einer Metapher, die das Strafhandeln Jhwhs charakterisiert, um so den Zusammenhang zwischen Vergehen und Ahndung und folglich die Angemessenheit der Vergeltung nach den Maßstäben des Talions zu unterstreichen: Was die Judäer ihren Brüdern im Ungehorsam zu tun verweigert haben, wird Jhwh an ihnen vollstrecken, aber in sarkastischer Verzerrung so, dass die Wirkung gegenteilig ausschlägt. Die korrespondierenden Aussagen werden durch vorangestellte Personalpronomina und teilweise parallele Formulierungen einem Kontrastfokus mit den Polen ihr und ich unterstellt: Gerade ihr (~T,a;) habt mir nicht gehorcht, eine Freilassung auszurufen … siehe, so rufe ich (ynIn>hi) euch eine Freilassung aus … für Schwert, Seuche und Hunger (17bc). Restitution bedeutet hier für die Judäer, dass Jhwh sie in eine Art Urzustand vor dem Bundesschluss zurückversetzt, als sie seinen Beistand noch nicht genossen, sodass sie schutzlos der Plagentrias (Kon 49 f.) ausgeliefert sind. 17d setzt eine formelhafte Unheilsansage hinzu,13 die die künftige Not der Judäer indirekt über die Bloßstellung in der Fremdperspektive aller Königreiche der Erde in den Blick nimmt, was Menschen, die primär in Kategorien von Scham und Schande denken, besonders empfindlich zu treffen geeignet ist. Das klischierte dtr Repertoire dient also dazu, die metaphorische Drohung in die erfahrbare Wirklichkeit zu übersetzen. 18–20 Nutzte V. 17 den Vertragsgegenstand aus V. 8, um daraus eine figürliche Unheilsansage zu schmieden, greift V. 18 die Vertragsschließung auf, aber nicht, um eine Metapher daraus zu gewinnen; vielmehr wird jetzt einfach in den Bahnen der Symbolik des Vertragsritus die ihm innewohnende Drohung expliziert und deren Bewahrheitung angekündigt. 18c zitiert Jhwh mit der Feststellung, dass die Judäer die vertragliche Verpflichtung zur Freilassung ihrer Schuldsklaven vor mir geschnitten haben. Der Satz variiert 15c und erinnert an die Weise, wie Jhwh durch den feierlichen Vertragsschluss im Tempel zum Garanten des Abkommens berufen worden war. Aufgrund dieser Tatsache kann Jhwh den Pakt nun ytirIB. meinen Bund nennen (18a; 18b AlT) im Sinne eines Verpflichtungsverhältnisses, das er nicht notwendigerweise gestiftet hat, aber gewährleistet (vgl. Ez 17,19). Ferner klärt sich im gegebenen Kontext der Hintergrund des geläufigen Idioms einen Vertrag  / Bund schneiden (tyrIB. trk; hier: 8b.13b.15c.18bc). Es dürfte von einem Ritual abgeleitet  Vgl. 15,4; 24,9; 29,18 MT; Dtn 28,25; Bar (hebr.) 2,4 (Kon 44).

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sein, mit dem laut V. 18 auch die Judäer den fraglichen Kontrakt besiegelten und bei dem die Vertragspartner zwischen den Hälften von entzweigeschnittenen Tieren hindurchschritten. Die Symbolhandlung, der sich in Gen 15,9–10.17 sogar Jhwh selbst bei seinen als Bund deklarierten Verheißungen für Abraham unterwirft, vollzieht in zeichenhafter Form eine bedingte Selbstverfluchung des Inhalts: Wer die eingegangene Pflicht versäumt, soll ein Los erleiden, das jenem der zerschnittenen Tiere vergleichbar ist. Die Vertragspartner erbrachten damit eine Sicherheitsleistung in Gestalt eines Garantieritus, der für eine magisch getönte Weltsicht den Wortbruch an ein gewaltiges Risiko knüpfte, was der Vertragstreue entsprechend zugutekam. Derlei symbolische Akte waren bei altorientalischen Staatsverträgen üblich, und die Vertragsurkunden spielen reichlich darauf an, insbesondere wenn es sich nicht um Abmachungen gleichrangiger Partner, sondern um Pflichtenkataloge für Vasallen handelte.14 Welchen Sinn man dem hier vorausgesetzten Brauch beilegte, veranschaulicht besonders plastisch ein aramäischer Vasallenvertrag, den im 8. Jh. der König Bar-Ga’ja von Ktk seinem Kollegen Mati‘-’El von Arpad auferlegte, dokumentiert auf den sog. Stelen von Sefire (bei Aleppo): [Und wie] dieses Kalb zerstückelt wird, so werde zerstückelt Mati‘-’El und werden zerstückelt seine Großen.15

Jhwh prophezeit nun in V. 18, die Judäer beim Wort zu nehmen und die ihm übertragene Rolle als Garant der Abmachung auszufüllen, indem er den von den Judäern eigenhändig etablierten Mechanismus entfesseln und die Übertreter seines Bundes (18a) dem Schicksal anheimgeben werde, dem sie sich durch ihr Ritual selbst ausgesetzt hatten: Ich mache die Männer … zu dem Kalb, das sie […] zerschnitten haben (18ad). Wenn Jhwh dem Wortsinn nach ankündigt, er werde die bundesbrüchigen Judäer nicht nur nach Art des zerschnittenen Kalbes behandeln, sondern regelrecht in diesen Kadaver verwandeln, entspricht dies vollauf der Logik der vollzogenen Zeremonie, wie ein Vertrag des assyrischen Königs Assurnirari V. (755–745) mit demselben Mati‘-’El (akkadisch Mati’ilu) von Arpad bezeugt: Dieser Kopf ist nicht der Kopf des Frühjahrslamms, sondern der Kopf Mati’ilus sowie der Kopf seiner Söhne, seiner Großen und der Leute seines Landes. Wenn Mati’ilu gegen diesen Vertrag [sündigt], so soll, so wie dieser Frühjahrslammkopf abgerissen und ein Bein des Frühjahrslamms in seinen Mund gelegt ist, auch der Kopf Mati’ilus abgerissen sein.16

Die säumigen Vertragsnehmer sollen dem zerstückelten Tier nicht bloß gleichen, sondern mit ihm identisch sein. Indem der dtr Autor die Strafe für die Judäer als Aktivierung einer bedingten Selbstverfluchung hinstellt, unternimmt er einen weiteren Versuch, die Gerechtigkeit der Sanktion aufzuweisen, denn die Vergeltung vollstreckt in diesem Verständnis ja lediglich, was die Täter aus freien Stücken auf sich herabgerufen haben. Das in V. 17–18 erkennbare Bemühen, den folgerichtigen Konnex zwischen 14 Keel,

Geschichte I 504–506, § 613; 560, § 709. I A, Z. 39 f., in: O. Rössler, Aramäische Staatsverträge, TUAT I.2, 178–189, 181 f. 16  Vertrag Assurniraris mit Mati’ilu von Arpad I 21´–27´, in: R. Borger, Assyrische Staatsverträge, TUAT I.2, 155–177, 155–158, 155. 15 Sefire

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34,18–20

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Schuld und Sühne offenzulegen, spricht für eine Abfassungszeit, als in diesem Punkt noch Argumentationsbedarf bestand, was eine Datierung in die Exilsperiode stützt. Im Interesse der syntaktischen Vereinfachung wechselt die Deixis für die Judäer mit V. 18 zur 3. Person. Zusätzlich wird darin die Erinnerung nachwirken, dass wohl nur relativ wenige Bürger den Ritus mitvollzogen hatten, nämlich jene, deren Vermögensverhältnisse erlaubten, in den Besitz von Schuldsklaven zu gelangen. Um jedoch den Vorgang zum Exempel der Sündenverfallenheit aller vorexilischen Judäer zu erheben, generalisiert V. 19 den Fall durch eine Aufzählung der gesellschaftlichen Stände, wie sie in deuterojeremianischer Literatur verbreitet ist.17 V. 20 schließt eine formelhafte Unheilsansage an, die ähnlich wie 17d das vorausgehende, bildhaft formulierte Orakel konkretisiert, hier nach der Übereignungsformel (20a) durch die typisch dtr Drohung, dass die Gefallenen dem Wildgetier zum Fraß anheimfielen (20b),18 was ihnen mangels Begräbnis sogar ihre Totenruhe raubte und so ihre Leiden über die Todesgrenze hinaus verlängerte. 21–22 Für Zidkija und seine Patrizier, d. h. seine Führungsstäbe werden Ausnahmen gemacht, indem V. 21 sie im Kontrast zu V. 20 nur der Übereignungsformel, nicht aber der Verweigerung des Grabes unterwirft. Dem Autor war der Unterschied wichtig, denn er betonte ihn, indem er die Betroffenen, obwohl in Objektsrolle, vor dem verbalen Prädikat aufzählte. Im Falle des Königs entspricht die Sonderbehandlung angesichts von V. 4–5 der Erwartung, und immerhin hat dieser Redaktor mit der UPJ-Erzählung eine Quelle in sein Werk aufgenommen, das ein ziemlich mildes Porträt von Zidkija entwirft (s. zu Kap. 37–38). Dagegen sind die Gründe für den Einschluss seiner Patrizier schwerer zu durchschauen. Wenn hohe Beamte Zidkijas die Massenexekutionen unter den judäischen Führungskräften nach der Niederlage19 überlebten und deportiert wurden, dann am ehesten deshalb, weil sie in den politischen Richtungskämpfen zuvor eine „probabylonische“ Haltung eingenommen, also für ein Arrangement mit der Supermacht plädiert hatten.20 Verbirgt sich hinter diesen Männern etwa der Trägerkreis von JerDtr II, im Gegensatz zu den bzw. allen Patriziern21? Ferner wird nun erstmals am Rande erwähnt, dass die in V. 7 geschilderte hoffnungslose Kriegslage gar nicht mehr zutrifft, sondern die babylonischen Belagerer abgezogen sind, ein Umstand, der freilich bloß dazu genutzt wird, ihre künftige Rückkehr zum Bestandteil der Strafansage zu machen (V. 22). Moderne Leser können dem entnehmen – wie es vermutlich auch antike taten –, dass der Umgang der Jerusalemer mit ihren Schuldsklaven durch den wechselvollen Kriegsverlauf bedingt war. Aber dem Autor lag offensichtlich daran, den Kausalzusammenhang, obwohl auch ihm bekannt, herunterzuspielen und das Verhalten der Judäer als Frucht einer grundsätzlichen Bosheit hinzustellen, die gar keiner speziellen Anlässe mehr bedurfte, um sich auszuleben. Die Wiederaufnahme der Belagerung wird charakteristischerweise daran  Z. B. 1,18; 8,1; 13,13; 17,25; 21,7; 22,2.4; 24,1.8 u. a. (Kon 160 f.). 19,7; 16,4 MT; Dtn 28,26 (Kon 102). 19 2 Kön 25,18–21 || Jer 52,24–27; vgl. Jer 52,10b || 39,6b MT. 20 Vgl. die Nachrichten zur Deportation der sog. Überläufer 2 Kön 25,11 || JerMT 39,9; 52,15. 21  Vgl. 10a.19; 1,18; 8,1; 26,21; 32,32; 44,9.17.21. 17

18 7,33;

402

Der Widerruf der Sklavenfreilassung

34,21–22

gebunden, dass Jhwh dies ausdrücklich befiehlt (22a) und die Babylonier in souveräner Missachtung aller traditionellen zionstheologischen Überzeugungen eigenhändig nach Jerusalem zurückholt (22b). Die Belagerungspause erweist ihn so nur noch abermals als unumschränkten Herrn der Lage, und die Babylonier sind nicht mehr als seine Befehlsempfänger. Obendrein holt Jhwh die Feinde ebenso zurück, wie die Jerusalemer dies mit ihren vormaligen Schuldsklaven getan hatten (bWv‑H 11bMT.16c), sodass diese Strafmaßnahme denselben talionischen Charakter trägt, wie er auch die in 17c angekündigte, sarkastisch so genannte Freilassung auszeichnet. Bei der Ausformulierung der furchtbaren Konsequenzen hat der Redaktor aus der UPJ-Erzählung geschöpft (vgl. 22b–e mit 37,8) und geläufige Verwüstungsszenarien aufgegriffen.22 Zugleich stellt der Schluss der Einheit einen bruchlosen Übergang zur ursprünglichen Fortsetzung mit 37,3 ff. her, wo die UPJ-Erzählung nach 34,7 weiterläuft. Mit seiner Predigt maß der dtr Redaktor eine kurzlebige Sklavenbefreiung an der Elle des deuteronomischen Gesetzes, mit dem sie ursprünglich gewiss nichts zu tun hatte. Doch mit seiner Art, die Erinnerung an den Vorfall theologisch zu verarbeiten, vermittelt er bis heute eine Vorstellung vom ungeheuren Ernst sozialer Verpflichtungen für jene, die sich den Beistand dieses Gottes erhoffen. Seine Botschaft wird auch für künftige Generationen ihre Aktualität bewahren.

 Vgl. 22f mit 4,7; 26,9 u. ö. (Kon 15 f., 148 f.).

22

403

35

Die Erprobung der Rechabiter 1  a  Das Wort, ​ b  das an Jeremia von Jhwh her erging in den Tagen Jojakims, [des Sohnes Joschijas,] des Königs von Juda: ​ 2  a  Geh zum Klana der Rechabiter, ​ b  [rede mit ihnen,] ​ c  bringe sie ins Haus Jhwhs zu einer der Hallen ​ d  und gib ihnen Wein zu trinken! ​ 3  Da holte ich Jaasanja, den Sohn Jirmejas, des Sohnes Habazzinjas, samt seinen Brüdern, [allen] seinen Söhnen und dem ganzen Klan der Rechabiter ​ 4  a  und brachte sie zum Haus Jhwhs zur Halle der Jüngera Hanans, des Sohnes Jigdaljas, des Gottesmannes, ​ b  die neben der Halle der Patrizier gelegen ist, ​ c  die sich oberhalb der Halle des Schwellenwächters Maaseja, des Sohnes Schallums, befindet. ​ 5  a  Dann setzte ich den Leutena vom Klan der Rechabiter Krüge, [gefüllt mit] Wein, und Becher vor (AlT: Dann setzte b  und sagte [zu ihnen]: ​ c  „Trinkt ich ihnen einen Krug Wein und Becher vor) ​ 6  a  Sie sagten: ​ b  „Wir trinken keinen Wein, ​ c  denn unser Ahnherra Wein!“ ​ d  Ihr sollt niemals Wein trinken, Jonadab, der Sohn Rechabs, hat uns geboten: ​ 7  a  Auch sollt ihr kein Haus bauen, ​ b  keinen weder ihr noch eure Söhne! ​ Samen aussäen, ​ c  keinen Weinberg [pflanzen] ​ d  [oder] besitzen, ​ e  sondern in Zelten sollt ihr wohnen euer Leben lang, ​ f  damit ihr lange auf dem [Antlitz g  wo ihr euch aufhaltet! ​ 8  a  Wir hörten auf die Stimdes] Ackerbodens lebt, ​ me Jonadabs, [des Sohnes Rechabs,] unseres Ahnherrna, [in allem,] ​ b  [was er uns geboten hatb,] (nämlich) unser Leben lang keinen Wein zu trinken, weder wir 9  a  und keine Häuser noch unsere Frauen, unsere Söhne und unsere Töchter, ​ zu bauen, um zu wohnen; ​ b  und Weinbergea, Feldera und Samen sollten wir nicht besitzen (AlT: besaßen wir nicht). ​ 10  a  Wir wohnten in Zelten. ​ b  Wir hörten ​ c  und handelten gemäß allem, ​ d  was unser Ahnherra Jonadab uns geboten hatb. ​ 11  a  Erst als Nebukadrezzar, [der König von Babel,] gegen das b  sagten wir: ​ c  Kommt,a  d  wir wollen vor der Streitmacht Land heranzog, ​ e  So ließen der Chaldäer und vor der Streitmacht Arams nach Jerusalem ziehen. ​ wir uns in Jerusalem / dort nieder.“ 13  a  So spricht Jhwh [der 12  Da erging das Wort Jhwhs an Jeremia / mich: ​ Heerscharen, der Gott Israels]: ​ b  Geh ​ c  und sag zu den Leuten Judas und den Einwohnern Jerusalems: ​ d  Wollt ihr denn keine Zurechtweisung annehmen, indem ihr auf meine Worte hört? [– Spruch Jhwhs.] ​ 14  a  Erfüllt wurden die Worte Jonadabs, des Sohnes Rechabs, ​ b  der seinen Söhnen geboten hata, keinen Wein zu trinken; ​ c  sie tranken keinen (Wein) [bis zum heutigen Tag,] ​ d  [weil sie dem Gebot ihres Ahnherrnb gehorchten]. ​ e  Ich aber habe unermüdlich zu euch geredet, ​ f  doch ihr habt nicht [auf mich] gehört. ​ 15  a  Ich sandte [unermüdlich] zu euch [alle] meine Knechte, die Propheten, mit der ­Mahnunga: ​ b  Kehrt doch 404

Die Erprobung der Rechabiter

35

um, jeder von seinem bösen Weg, ​ c  und bessert eure Taten! ​ d  Lauft nicht anb deren Göttern nach, um ihnen zu dienen, ​ e  damit ihr auf dem Ackerboden wohnen (bleiben) dürft, ​ f  den ich euch und euren Vätern gegeben habe! ​ g  Aber ihr habt euer Ohr nicht geneigt ​ h  und nicht [auf mich] gehört. ​ 16  a  [Ja,] die Söhne Jonadabs, des Sohnes Rechabs, haben das Gebot ihres Ahnherrna erfüllt, ​ b  [das er ihnen geboten hatb;] ​ c  dieses Volk aber hat nicht auf mich gehört. ​ 17  a  Darum – so spricht Jhwh [der Gott der Heerscharen, der Gott Israels]: ​ b  Siehe, ich bringe (bald schon) über Juda und [alle] Einwohner Jerusalems das c  das ich ihnen angedroht habe; ​ d  [weil ich zu ihnen redete,] ​ ganze Unheil, ​ e  [doch sie hörten nicht,] ​ f  [und ich sie rief,] ​ g  [doch sie antworteten nicht.] b  So spricht Jhwh [der 18  a  [Zum Klan der Rechabiter aber sagte Jeremia:] ​ Heerscharen, der Gott Israels]: ​ c  Weil ihr dem Gebot eures Ahnherrna [Jonadab] gehorcht, ​ d  [alle seine Gebote bewahrt] ​ e  und gemäß [allem] gehandelt habt, ​ f  was er euch geboten hatb, ​ 19  a  [darum: So spricht Jhwh der Heerscharen, der Gott Israels:] ​ b  Niemals wird es Jonadab, dem Sohn Rechabs, an einem Mann fehlen,a der alle Tage in meinem Dienstb steht. V. 14 lautet in AlT: 14  Ein Wort erfüllten die Söhne Jonadabs, des Sohnes Rechabs, das er seinen Söhnen geboten hata, (nämlich) keinen Wein zu trinken; sie tranken keinen (Wein). Ich aber habe unermüdlich zu euch geredet, doch ihr habt nicht gehört. Die Vv. 18–19 lauten in AlT: 18  So spricht Jhwh […]: Weil die Söhne Jonadabs, des Sohnes Rechabs,ʼ dem Gebot […] ihres Ahnherrna gehorcht habenʼ, indem sie handelten, 19  wird es den Söhnen Jonadabs, des wie ihnen ihr Ahnherra geboten hatb, ​ Sohnes Rechabs, nie an einem Mann fehlen,a der alle Tage in meinem Dienstb steht. 2 a Wörtl. Haus; wie V. 3, 5a und 18a zeigen, hier im übertragenen Sinne für einen Sozialverband (vgl. Ges18 144a s. v. tyIB' 6). 4 a Wörtl. Söhne. 5 a Wörtl. den Söhnen. 6 a Wörtl. Vater. 8 a S. 6 a. b Die Übersetzung folgt gängigem deutschem Sprachgebrauch. Dabei ist die Vorzeitigkeit in der Vergangenheit (wörtl. hatte) mitverstanden. 9 a Im Hebr. Singular. 10 a S. 6 a. b S. 8 b. 14 a S. 8 b. b S. 6 a. 15 a Im Hebr. rmoale, etwa: indem sie folgendermaßen sagten. b Imperativ nach Aufforderung als Äquivalent eines Finalsatzes: JM § 116 f. 16 a S. 6 a. b S. 8 b. 18 a S. 6 a. b S. 8 b. 19 a Wörtl. Jonadab, dem Sohn Rechabs, wird kein Mann abgeschnitten wer‑ den. b Wörtl. vor mir. Näheres s. Erklärung.

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405

35

Die Erprobung der Rechabiter

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Jeremias Erprobung der Rechabiter eröffnet den von der patrizischen Redaktion (PR) eingefügten Block 35 + 36, der den ursprünglich direkten Anschluss von 37,3 an 34,22 mit narrativen Stoffen aus der Zeit Jojakims unterbricht, um anschließend durch die neue Überleitung 37,1–2 zur ehemaligen Fortsetzung von 34 zurückzulenken. Dabei konzentriert sich allerdings nur 36 in den Bahnen der patrizischen Fortschreibungen in 26 auf das Kernanliegen der PR, die Apologetik der judäischen Aristokratie, während 35 dieses Thema zurückstellt und seinen Blick auf Gruppierungen richtet, deren Konnex zum Trägerkreis der PR nicht auf Anhieb ersichtlich ist: die Rechabiter und eine Gilde von Charismatikern, die als Jünger eines Gottesmannes namens Hanan ben Jigdalja firmieren (4a). Gleichwohl trägt auch 35 die Schlüsselmerkmale der PR an sich: zum einen die präzise Lokalisierung im inneren Tempelareal (V. 4), die hier zwar im Unterscheid zu den Parallelen (26,10; 36,10) keine denkwürdige Tat von Patriziern fixiert, aber einen beziehungsreichen Hinweis auf patrizische Präsenz am Ort einschließt (4b); zum anderen die direkte Nachbarschaft der Wendungen (nicht) hören, bezogen auf die Judäer, und Unheil reden, gesagt von Jhwh (16c.17bc), die nur bei PR belegt ist (vgl. noch 26,13; 36,31; 40,2–3). Dies und die Teilhabe an der sekundären Rückblende in die Zeit Jojakims bezeugen, dass 35 der gleichen literarischen Ebene wie 36 angehört. Welche Gründe PR gehabt haben mochte, den Rechabitern und der Gefolgschaft Hanans solches Augenmerk zu schenken, muss die Auslegung klären. 406

Die Erprobung der Rechabiter

35

Die Platzierung der beiden Einheiten im Buchkontext war durch den Umstand bestimmt, dass die UPJ-Erzählung *37–43 in ihren vorderen Teilen (37 f.) scharf gegen die judäische Aristokratie polemisiert. Das so gezeichnete abträgliche Bild ließ sich ohne Streichungen am ehesten mildern, wenn es durch einen geeigneten Vorspann aufgewogen wurde. Für die interne Abfolge der beiden Einheiten gaben zwei Beweggründe den Ausschlag: Nur 36 arbeitet direkt an der Besserung des Rufes der Patrizier, weswegen es sich empfahl, das Kapitel unmittelbar den neuralgischen Passagen in 37 f. vorzuschalten. Weiterhin geht Jeremia am Ende von Kap. 36 in den Untergrund (V. 26), und das Buch berichtet nichts davon, dass er ihn wieder verlässt, noch überliefert es einen Auftritt des Propheten unter Jojakim nach dessen fünftem Jahr (36,9 MT).

Textgenese und Gliederung In 35 liefert ein Erzählteil (V. 1–11) die Stichworte für eine ausgedehnte predigtartige Gottesrede, die Jeremia zur Übermittlung aufgetragen wird (V. 12–19 AlT; in MT ist V. 18–19 als separate Rede abgesetzt, die Jeremia den Rechabitern ausrichtet). Dabei besteht auch der narrative Vorspann weit überwiegend aus Reden: Am Anfang steht der göttliche Auftrag an den Propheten, den Rechabitern im Tempel Wein zu kredenzen (V. 2); dann fordert Jeremia seine Gäste zum Trinken auf (5c), was diese mit einer ausholenden Begründung ablehnen (6b–11). Weil der abschließende Redeauftrag in hohem Maße mit deuterojeremianischer Topik gestaltet ist (Näheres s. u.), hat man ihn häufig zum größten Teil als redaktionelle (meist deuteronomistische) Erweiterung eines authentischen Selbstberichts bewertet, dem der größte Teil des narrativen Vorspanns entstammen soll (z. B. Thiel). Allerdings ist die Gottesrede harmonisch auf ihr narratives Vorspiel abgestimmt, und die Konzentration des formelhaften Vokabulars in dem Orakel ist dem paränetischen Charakter der deuterojeremianischen Diktion geschuldet, der sie zum Gebrauch in predigtartigen Passagen von Gottes‑ bzw. Prophetenreden prädestiniert. Als Indiz für Wachstumsprozesse hat man ferner den Wechsel der Sprechrichtung in V. 16–17 gewertet, wo das Gerichtswort über die Judäer (13d–17) von der Anrede in 2. Person zur Rede über sie in 3. Person wechselt. Die Deixisverschiebung rührt indes aus dem Umstand her, dass V. 16 das positive Beispiel der Rechabiter direkt mit den Verfehlungen der Judäer konfrontiert, und wenn deuterojeremianische Reden ihre Aussagen nach verschiedenen Gruppen differenzieren, geben sie regelmäßig die Anrede zugunsten der 3. Person auf.1 Dementsprechend bezog sich auch das Heilswort für die Rechabiter in V. 18–19 ursprünglich in 3. Person auf seine Adressaten (AlT). Zudem gelingt es nicht, einen glaubwürdigen vorredaktionellen Kern aus den Vv. 13–19 herauszuoperieren. Weil obendrein in 35 der narrative Aufhänger besonders umfangreiche Redeanteile mit geeigneten Themen aufweist, finden sich dort ebenfalls ungewöhnlich viele Belege geprägter Phraseologie, die spannungsfrei in ihre Kontexte eingebettet sind und sich überdies nicht sinnvoll  Vgl. z. B. 17,25–26; 21,6–7.9; 22,4; 23,34; 34,18–22; 42,17; jeweils mit den betroffenen Kontexten.

1

407

35

Die Erprobung der Rechabiter

aus ihnen herauslösen lassen (s. u. zu 2.8a.10). Da somit Indizien für die Verarbeitung einer schriftlichen Vorlage fehlen, ist 35 als einheitliches Werk der PR zu beurteilen. Davon sind nur einige Modifikationen auszunehmen, die in der prämasoretischen Textentwicklungsphase vorgenommen wurden. Mehrere Eingriffe sind von substanziellem Rang: Der Verweis auf Jeremia in der Wortereignisformel 12a wurde von der 1. auf die 3. Person umgestellt. Änderungen in 14a und 18de betreffen den Umfang der für die Rechabiter verbindlichen Abstinenzgebote (s. Erklärung z. St. und TK). Diese Retuschen überschneiden sich teilweise mit einem Bündel von Zusätzen in 18ad.19a, das einherging mit der Verwandlung des abschließenden Heilswortes über die Rechabiter in eine direkte Rede an sie. Dazu tritt ein größerer Einschub in 17d–g. – Zur hebräischen Namensvariante Nebukadrezzar statt Nebukadnezzar s. zur Textgenese von 27–29. Seiner Gattung nach imitiert 35 die Struktur von Berichten über prophetische Zeichenhandlungen mit Auftrag (Vv. 1–2) und Deuterede (Vv. 12–19); der Gattungstypik folgt ebenfalls die ursprüngliche Stilisierung als Selbstbericht (3.4a.5ab; AlT 12.18; s. zu 13,1–11), abgesehen vom Erzählauftakt V. 1, der in 3. Person auf Jeremia verweist, wie dies auch die Anfänge anderer Ich-Berichte tun.2 Allerdings kam diese Eigenart in der masoretischen Texttradition teilweise abhanden, weil man dort die genannte Konvention nicht mehr voll akzeptierte, weswegen man den Bezug auf den Propheten in der Wortereignisformel V. 12 nach dem Vorbild von V. 1 auf die 3. Person verschob und die neu geschaffene Redeeinleitung 18a von vornherein in 3. Person formulierte. Die Weisen, wie 35 gestalterisch an Berichte von prophetischen Symbolhandlungen angelehnt ist, aber auch davon abweicht, sind Merkmale der Literarisierung, die das Kapitel durchgehend prägen. Das inszenierte Ereignis besitzt keinen Symbolwert, sondern präsentiert ein positives Kontrastbeispiel zur mangelnden Gesetzestreue der Judäer, das dann als Aufhänger einer predigtartigen Rede mit einer Unheilsansage an das Volk (13d–17) und einem Heilswort für die Rechabiter (V. 18–19) dient. Weiterhin fällt das Fehlen eines innertextlichen Publikums auf (vgl. insbesondere 13b). Daher erscheint es angemessen, die Einheit als konstruierten Bericht von einer prophetischen Demonstration zu beschreiben. Dieser Titel bezeichnet allerdings keine Gattung, sondern eine individuelle Abwandlung der Berichte von prophetischen Symbolhandlungen. Die Frage nach einem historischen Kern entzieht sich der Entscheidbarkeit. Wie alt auch immer die Überlieferung sein mag, ist der Stoff im vorliegenden Text jedenfalls in einem Ausmaß stilisiert, das auf einen beträchtlichen Verzug zwischen Ursprung und Niederschrift deutet, wie bei der Herkunft von PR nicht anders zu erwarten.

Erklärung Der thematische Fokus von Jer 35 auf dem Gebotsgehorsam wird im Sprachgebrauch fassbar an der Häufung von Gesetzesterminologie von der Wurzel ṢWY: das Verb  11,1–17; 18,1–12; 27 MT; 32,6–44 AlT.

2

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Die Erprobung der Rechabiter

35,1–2

hwc-D befehlen, gebieten mit 3 Belegen (14b.18f; dazu MT 16b) und das Substantiv hw"c.mi Gebot mit 4 Fällen (16a.18c; dazu MT 14d.18d), und zwar immer bezogen auf

die Lebensregeln, die die Rechabiter auf ihren Ahnherrn Jonadab ben Rechab zurückführten (s. zu V. 6–7). Dem entspricht auf der Seite der Gebotsempfänger das Verb [mv hören, das mit 9 Belegen vertreten ist (8a1.10b.13d.14 f.15h.16c.18c; dazu MT 14d.17e). Die Massierung dieser Lexeme verleiht ihnen in 35 den Status von Leitwörtern. Die nur in Jer belegte Relativsatz-Variante der Wortereignisformel (Kon 37) setzt 1–2 hier einen absoluten Neuanfang, indem sie die ohne explizierten Anlass ergehende Rede Jhwhs an Jeremia einleitet und den Vorgang allgemein in die Regierungsjahre des Königs Jojakim (609–598) verlegt (V. 1). V. 11 wird später ergeben, dass das berichtete Ereignis sich frühestens 605 abgespielt haben kann, aber dem misst der Autor hier keine Bedeutung bei. Die so eröffnete Gottesrede (V. 2) ist nach dem Muster der deuterojeremianischen Auftragsformel %Alh' w˙=qatalta geh und …3 geprägt und hebt an mit dem Befehl an den Propheten, einen Klan namens Rechabiter aufzusuchen (2a; wörtlich das Haus der Rechabiter, womit hier nach V. 3.5a.18a ein Sippenverband gemeint ist). Der patrizische Autor stellt die Gruppierung nicht vor, schreibt also für ein Publikum, das sie kannte, ein Fingerzeig, dass die Rechabiter in der Welt der Adressaten präsent waren. Entsprechend kann sich der Verfasser erlauben, seinem Bericht auch erst an fortgeschrittener Stelle Verweise einzuflechten, die für moderne Leser unentbehrlich sind, um die Rechabiter näher einzuordnen: Sie leiten sich von einem Ahnherrn namens Jonadab ben Rechab her (6c.8a.10d.14a.16a.18c.19b), von dem das AT im Zusammenhang des Jehu-Putsches erzählt (2 Kön 9–10), also jenem von exklusiv-jahwistischen Triebkräften geförderten Staatsstreich, in dem ca. 841 der Militärkommandeur Jehu im Nordstaat Israel die Dynastie der Omriden beiseite fegte und die Herrschaft an sich riss. Dabei stellen die biblischen Nachrichten Jonadab ben Rechab dem Usurpator gerade dann zur Seite, als dieser im Gefolge des Umsturzes zur gewaltsamen Austilgung von Funktionären und Installationen der Baalsverehrung schreitet (2 Kön 10,15–16.23). Danach wurde Jonadab ben Rechab erinnert als prominenter Vorkämpfer einer strikten, am Ersten Gebot orientierten Jhwh-Frömmigkeit, der um die Mitte des 9. Jhs. im Nordstaat lebte und in Jehu einen politischen Verbündeten und Vollstrecker seiner religiösen Überzeugungen erkannte. Wie nun Kap. 35 Jonadabs Nachkommen Ende des 7. Jhs. in Juda charakterisiert, fühlten sich diese einem nomadischen, nicht-agrarischen und anti-urbanen Ideal verbunden, das den Verzicht auf Zivilisationsgüter wie Haus‑ und Ackerbau verlangte. Mit einem Tabu belegt war auch der Wein, also jenes landwirtschaftliche Erzeugnis, das wie kaum ein anderes die verfeinerte sesshafte Kultur verkörperte, weil es mit hohem Verarbeitungsaufwand in einem langwierigen Prozess unter Einsatz von Technik herzustellen war4 und dabei kein unabdingbares Bedürfnis stillte, sondern vor allem 3  Ferner V. 13; 2,2 MT; 3,12; 13,1; 17,19; 19,1; 22,1 AlT; 28,13; 34,2; 39,16; 2 Sam 24,12; 2 Kön 5,10; Jes 38,5 (Kon 42 f.). 4  K. Galling, Art. Wein und Weinbereitung, BRL² 362 f.; Th. Staubli, M. Klinghardt, Art. Wein, in: F. Crüsemann u. a. (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 636–641.

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35,1–2

Die Erprobung der Rechabiter

dem Genuss diente (6d–10). Zwar werden die Lebensregeln der Rechabiter hier nicht als Ausdruck der Jhwh-Verehrung bezeichnet, sondern immer als Vorschriften des Ahnherrn Jonadab deklariert (6c.8a.10d.14a.16a.18c), und zwar deshalb, weil der Text später die Abkehr der Sippe von ihren wichtigsten Grundsätzen spiegeln wird. Aber da die große Gottesrede die Befolgung der Maximen Jonadabs als Exempel der Gebotsobservanz dem permanenten Ungehorsam der Judäer gegenüberstellt (13d–17), sie mit einer Heilszusage belohnt (V. 18–19) und zudem Jonadab beim Jehu-Aufstand mit einem rigorosen Jahwismus assoziiert wird, ist die Annahme plausibel, dass die Rechabiter ihr Beharren auf dem Nomadismus religiös rationalisierten. Diese Leute nun soll Jeremia im Tempelareal zu einer der Hallen bringen (2c) und sie dort zum Weintrinken veranlassen (2d). Beide Aufforderungen bleiben unbegründet. Wenn aber die Rechabiter, wie 2a voraussetzt, dem intendierten Publikum vertraut waren, muss den Adressaten sogleich klar gewesen sein, dass die Einladung zum Weingenuss mit den Pflichten der Gäste kollidierte. 3–5 Nunmehr tritt die Stilisierung des Textes als Ich-Bericht zutage. Jeremia schildert, wie er seinen Aufträgen nachkam: Er führte das namentlich identifizierte Sippenoberhaupt mit der gesamten, verwandtschaftlich definierten Rechabiter-Gemeinde (V. 3) in den Tempel, aber nicht in eine beliebige Halle (vgl. 2c), sondern in eine bestimmte, akribisch lokalisierte Räumlichkeit, nämlich die Halle der Jünger Hanans, des Sohnes Jigdaljas, des Gottesmannes, die neben der Halle der Patrizier (liegt), die oberhalb der Halle des Schwellenwächters Maasejas, des Sohnes Schallums, (liegt) (V. 4). Wie die Fortsetzung erweist, wird der Prophet dort mit seinen Gästen eine Demonstration inszenieren, die dann die abschließende Gottesrede den Judäern als positives Kontrastbeispiel zu ihren eigenen Verfehlungen vorhalten wird. Deshalb erscheint ein Schauplatz im Tempelareal zweckmäßig, weil er ein Publikum maximaler Größe gewährleistet, ähnlich wie Baruch in 36,10 die Urrolle in einer solchen Halle vor den Ohren des [ganzen] Volkes verliest. Innertextlich interessieren allerdings bloß die Inhaber und die präzise Lage des Gemachs, nicht aber die Öffentlichkeit, die es bietet. Obwohl nämlich Jeremia für seine Aktion eine reichlich frequentierte Bühne genutzt haben müsste, verliert die Einheit über die Anwesenheit von Augenzeugen kein Wort. Überdies wird der Auftrag zur Deuterede von einem Gehbefehl (13b) begleitet, als ob Jeremia sein Auditorium keineswegs am Ort des Geschehens anträfe, sondern eigens aufsuchen müsse. Dies bedeutet: In der Textwelt hat der Schauplatz der Aufführung gar keine praktischen Gründe, sondern ist aus anderen Motiven gewählt. Warum waren dem Autor die Inhaber und die Lage der betroffenen Räumlichkeit so wichtig? Mit den Hallen (hK'v.li) im Tempelbezirk tritt ein Stichwort auf, das in Jer nur in den patrizischen Einheiten 35 und 36 vorkommt, mit erstaunlicher Aufmerksamkeit bedacht wird und mithin ein Thema markiert, das diesen Redaktor beschäftigt haben muss. Das Substantiv bezeichnet Seitenräume in Tempelanlagen des antiken Mittelmeerraums, die verschiedenen Zwecken wie Lagerung, Vorratshaltung, Versammlungen oder Mählern dienten.5 PR setzt nun voraus, dass solche Gemächer der Verfügungsmacht von Personen unterstehen konnten, die nicht der Priesterschaft  Neh 10,38–40; vgl. 1 Kön 6,5–6; Kellermann; Burkert.

5

410

Die Erprobung der Rechabiter

35,7

angehörten (vgl. auch Neh 13,4–9). V. 4 ordnet die betroffene Halle den Jüngern eines Gottesmannes namens Hanan ben Jigdalja zu. Bei dieser Gruppe dürfte es sich um die gildenartige bzw. ordensähnliche Anhängerschaft eines religiösen Charismatikers mit prophetischen Zügen gehandelt haben, denn Gottesmännern schreibt die atl. Überlieferung häufig numinose Gaben wie Weissagung und Wundertätigkeit6 sowie mitunter auch Jüngerkreise zu (2 Kön 6,1–7), deren Mitglieder wörtlich als Söhne bezeichnet werden.7 Wenn der Autor notierte, dass Jeremia seine Gäste in eine Halle geleitete, die den Jüngern Hanan ben Jigdaljas unterstand, könnte er zu dokumentieren gewünscht haben, wer den umstrittenen Propheten unterstützte. Damit kann man indes nicht erklären, warum er auch den Ort derart penibel fixierte. Eigenartig ist ferner das vom Verfasser vorausgesetzte Weltwissen: Er schrieb für ein Publikum, das zwar über die Rechabiter im Bilde war (V. 2), nicht aber über die Halle der Jünger Hanan ben Jigdaljas. Diese Kenntnislücke zu schließen lag ihm am Herzen, und er steuerte die nötigen Informationen bei, ohne den Hinweis zu vergessen, dass auch die Patrizier direkt benachbart über eine solche Halle verfügten (V. 4). Welche Intentionen diese Gestaltung steuerten, lässt sich erst in der zusammenfassenden Rückschau klären. Jeremia vollendet die Erfüllung seines Auftrags, indem er den Rechabitern Wein vorsetzt und sie zum Trinken ermuntert (V. 5). Mit Bedacht schreibt der Erzähler ihm keine prophetischen Redeformen wie die Botenformel zu und lässt ihn schweigend übergehen, dass es Jhwh war, der ihn zu seiner merkwürdigen Aufforderung veranlasst hat, denn die Rechabiter sollen ja gerade durch ihre Weigerung ihre gottgefällige Prinzipienfestigkeit unter Beweis stellen. Jeremia erhält eine ablehnende Antwort, und zwar nicht von dem in V. 3 vor- 6 gestellten Klanchef Jaasanja, sondern in chorischer Rede von den Rechabitern insgesamt (6a), d. h. den volljährigen männlichen Sippenangehörigen (vgl. 8b), die sich somit einmütig zu dem Grund bekennen, der ihre Weigerung rechtfertigt. Dazu zitieren sie in wörtlicher Rede das Verbot des Weingenusses, das ihnen ihr Stammvater Jonadab ben Rechab auferlegt habe (6d), und zwar vorgetragen im Prohibitiv, der negierten Aufforderung durch al{ + Präfixkonjugation Langform (wo von der Kurzform unterscheidbar), die gegenüber der Alternative des Vetitivs (la; + Präfixkonjugation Kurzform, wo unterscheidbar) das schärfere Verbot ausspricht, wie etwa die Prohibitive im Dekalog veranschaulichen (Ex 20,13–17 || Dtn 5,17–21). Weiterhin unterstreicht das Zitat die unbegrenzte Dauer des Abstinenzgebots mit seiner Gültigkeit für sämtliche Nachkommen (~l'A[‑d[; für immer bzw. negiert niemals 6d). Damit ist Jeremias Angebot mit einem unanfechtbaren Argument ausgeschlagen. Zugleich stellt sich jetzt der göttliche Auftrag an den Propheten eindeutig als Test der Treue der Rechabiter zu ihren Lebensregeln heraus, den die Prüflinge auf Anhieb mit Bravour bestehen, ein Resultat, das der predigtartige Teil der Einheit als Aufhänger nutzen wird. So besehen, könnte der Bericht nun augenblicklich zur Gottesrede fortschreiten. 7 Das geschieht aber nicht. Stattdessen wendet sich der Text einem benachbarten Thema 6 Vgl.

z. B. 1 Sam 9,6–10; 1 Kön 13; 17,17–24; 2 Kön 1,9–16; 4,1–7.8–37; 8,1–6.7–15; 13,14–19 u. ö.  Vgl. den Ausdruck „Prophetensöhne“ für die Gefolgsleute von charismatischen Führungsfiguren wie z. B. 1 Kön 20,35; 2 Kön 2,3.5.7.15; 4,1.38; 5,22; 6,1; 9,1. 7

411

35,7

Die Erprobung der Rechabiter

zu, dessen Funktion im Kontext so wenig unmittelbar zutage liegt wie der Sinn der exakten Ortsangaben in V. 4. Die Sprecher fahren nämlich mit dem Zitat ihres Ahnherrn fort, um noch weitere Normen Jonadabs für seine Nachkommen aufzuzählen. Sie beginnen mit drei Verboten (7a–d, das dritte davon in MT doppelt eingeschärft), denen ebenfalls der Prohibitiv einen besonders strikten Klang verleiht. Ihnen steht, durch adversatives yKi sondern, vielmehr abgesetzt, ein Gebot im Jussiv gegenüber (7e). Dabei gehen die untersagten (Häuser, Samen, Weinberge) und befohlenen Güter (Zelte) jeweils den Verben betont voran, sodass die beiden Gruppen per Satzgliedfolge durch einen ausgeprägten Kontrastfokus voneinander abgehoben werden. Das Ergebnis ist ein unter den gegebenen Umständen scheinbar entbehrlicher Exkurs, da er nichts mehr dazu beiträgt, ihr Nein zu Jeremias Einladung verständlich zu machen. Wie nämlich die Rechabiter darlegen, sehen sie sich im Rahmen eines nomadischen Lebensideals zum Wohnen in Zelten unter Verzicht auf Ackerbau verpflichtet (s. zu V. 2), was ihnen eine dauerhafte Existenz im Land garantieren soll (7f), in dem sie bloß den Status rechtlich geschützter Fremdlinge genießen (7g mit dem Verb rwg sich als Schutzbürger niederlassen / aufhalten). 7fg verheißt dieses Privileg in einem losen Anklang an bestimmte Fälle der sog. deuteronomistischen Landformel8, allerdings im Unterschied zu diesen Vorbildern ohne Berufung auf Jhwh etwa dergestalt, dass er das Privileg gewährt habe und sichere (Gamberoni 21 f.). Der Text schweigt hier ebenso von Jhwh wie bei den Lebensregeln der Rechabiter. Darin kündigt sich an, dass der Klan mit dem Abschied vom Nomadismus auch den Bedarf an jener Befugnis verlor, die seine Existenzweise ermöglichte. Deshalb war es müßig, dem Anspruch auf Verbleib im Land göttlichen Ursprung und Schutz zuzuschreiben; stattdessen war ein neues Vorrecht erfordert, das den gewandelten Umständen Rechnung trug. Das wird sich indes erst im Fortgang des Kapitels herausstellen. Einstweilen sind die Details zu den übrigen Lebensregeln der Rechabiter doppelt erklärungsbedürftig. Erstens fragt sich, welche Aufgabe sie innertextlich ausüben, da sie für die Zurückweisung des angebotenen Weins nicht benötigt werden. Zweitens wüsste man gern, welche Rolle diese Zusatzinformationen für das Publikum und sein Weltwissen spielen, denn einerseits soll das implizierte Auditorium die Rechabiter kennen (V. 2), andererseits bekommt es die Maximen ihrer Existenz eingehend erläutert, obwohl diese für den Erzählstoff zunächst keine erkennbare Funktion besitzen. So mehren sich die Probleme, die der Lösung aus der zusammenfassenden Rückschau harren. 8–10 Die Rechabiter belassen es nicht bei der zunächst scheinbar überflüssigen Einführung in ihre Lebensordnungen, sondern sie setzen ihre Retrospektive fort mit der Versicherung, dass sie diese Vorschriften in der Vergangenheit auch allesamt beachteten. Die Reihenfolge der angesprochenen Regeln repetiert die Liste der Maximen in 6d–7e: erst die Verbote des Weingenusses (8b || 6d), des Hausbaus (9a || 7a) und der Feldbestellung (9b || 7b–d), dann die Pflicht zum Wohnen in Zelten (10a || 7e). In der älteren alexandrinischen Fassung bilden die Vv. 8–10 einen durchgehenden Rechenschaftsbericht, insofern die Sätze 8b–10a den konkreten Gehalt der Aussage Wir hörten auf die Stimme Jonadabs … (8a) explizieren: unser Leben lang keinen Wein  Dtn 4,40; 5,33; 11,9.21; 25,15; vgl. Dtn 30,18; Ex 20,12 || Dtn 5,16.

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412

Die Erprobung der Rechabiter

35,11

zu trinken …. In MT hingegen bedingt der Nachtrag [in allem, was er uns geboten hat] 8ab, dass die Fortsetzung in 8b–9 nochmals in Form der indirekten Rede die Abstinenzgebote Jonadabs entfaltet (Migsch, Studien 29–34), bevor der Wortlaut mit 10a auch hier zum Rückblick übergeht. – Weil die Gesetzesobservanz zum gängigen Themenspektrum deuterojeremianischer Phraseologie gehört, kommt das einschlägige geprägte Sprachgut hier mehrfach zum Einsatz: Zu Beginn des Rückblicks unterstreichen die Rechabiter, dass sie auf die Stimme ihres Ahnherrn hörten (8a; Kon 137 f.), und zwar ausnahmslos, d. h. die Sprecher samt ihren Frauen, Söhnen und Töchtern (8b; vgl. 14,16; Kon 22). Sie runden ihre Rückblende ab, indem sie erneut ihren Gehorsam beteuern (10b) und den Anspruch erheben, sämtliche Vorschriften Jonadabs lückenlos erfüllt zu haben (10cd), wobei die Wendung alles, was jemand befiehlt/gebietet (Kon 115) einen weiteren deuterojeremianischen Zug darstellt. Was die Rechabiter mit der Rezitation ihrer Lebensregeln und mit der emphati- 11 schen Beschwörung ihrer Prinzipienfestigkeit bezweckten, klärt sich teilweise, wenn ihre Antwort überraschend in das Eingeständnis mündet, dass ihre vormals unerschütterliche Treue zu den traditionellen Normen nicht mehr dem aktuellen Stand der Dinge in der erzählten Welt entspricht. Wie sie nun feststellen, sahen sie sich durch militärische Bedrohungen im Zuge der babylonischen Expansion genötigt, in Jerusalem Schutz zu suchen, was den Abschied von ihrer nomadischen Existenzweise mit sich brachte. Ihr Schlusssatz (11e) mit dem Bestandteil bv,NEw: wir ließen uns nieder bzw. wir wohnten, bezogen auf Jerusalem, kontrastiert mit dem Ende der Liste der erfüllten Forderungen 8–10a, ~ylih'a\B' bv,NEw: wir wohnten in Zelten, ein Textarrangement, das die Ansiedlung in Jerusalem in unvereinbaren Gegensatz zum Wohnen in Zelten stellt. Daher wäre es dem Wortlaut fremd, wollte man ihm entnehmen, für den Autor hätten die Jünger Jonadabs Platz für ihre Zelte in den Mauern der Hauptstadt gefunden (was die Enge altorientalischer Städte ohnehin kaum zugelassen hätte). Vielmehr gilt: In der Textwelt haben die Rechabiter den Nomadismus und damit das Markenzeichen ihrer Lebensweise aufgegeben. Die vorausgehenden Passagen ihrer Rede sollten also klarstellen, dass ihre gegenwärtigen Verstöße gegen die Vorschriften ihres Stammvaters keine mangelnde Treue zur Tradition verrieten, sondern durch höhere Gewalt erzwungen wurden. Damit ist freilich eine seltsame Situation entstanden: In göttlichem Auftrag hat Jeremia die Rechabiter einem Test ihrer Gebotsobservanz unterzogen, den sie glänzend bestanden. Sie nutzen allerdings die Gelegenheit, um eingehend zu rechtfertigen, warum sie zentrale Normen ihrer Lebensordnung derzeit nicht befolgen. Dafür nennen sie einen Grund, der Zeitgenossen wie Jeremia bestens bekannt gewesen sein müsste: der babylonische Vormarsch. Die Ausführlichkeit in diesem Punkt belegt, dass der Autor für ein deutlich späteres Publikum schreibt, und Jeremias Aufgabe ist es, die Erklärung der Rechabiter als innertextlicher Vertreter der implizierten Adressaten entgegenzunehmen. Das literarische Verfahren bezeugt zudem, wie sehr es dem Verfasser am Herzen lag, die Niederlassung seiner Helden in Jerusalem zu verteidigen, denn er referiert ihre Entscheidung nicht in der Erzählerstimme, sondern lässt sie von den Betroffenen selbst in einer ausgedehnten Rede vor dem Propheten motivieren. Daraus erwächst für die Exegese die Frage, warum es dem 413

35,12–19

Die Erprobung der Rechabiter

patrizischen Redaktor so wichtig war, vor seinen Zeitgenossen die teilweise Abkehr der Rechabiter von ihren Abstinenzvorschriften zu entschuldigen. 12–19 Der zweite Teil in der Makrostruktur von 35 entfällt auf die predigtartige, durch Jeremia vermittelte Gottesrede, die den narrativen Vorspann als ihren Aufhänger nutzt, um vor der Kontrastfolie der rechabitischen Gebotsobservanz die Untreue der Judäer umso wirkungsvoller zu verurteilen. „Dies gelingt, indem der konsequenten Beachtung eines menschlichen Gebots durch die Rechabiter die ebenso konsequente Mißachtung des göttlichen Wortes durch Judäer und Jerusalemer gegenübergestellt wird.“ (*Wanke) Ihrem Zweck entsprechend, folgt die Ansprache dem Aufbau einer prophetischen Gerichtsrede mit Schelt‑ (13d–16) und Drohwort (V. 17), doch bleibt es nicht dabei: Am Ende steht das positive Gegenstück zu einer Gerichtsrede, nämlich ein begründetes Heilsorakel an die Rechabiter, das analog in eine Motivation (18c–f) und eine Heilszusage (19b) gegliedert ist. 12–13 Die Deuterede wird im Modus des Redeauftrags an den Propheten mitgeteilt. Die ursprüngliche Ich-Form der einführenden Wortereignisformel (V. 12 AlT) hat ein prämasoretischer Revisor mit Rücksicht auf V. 1 und die Er-Berichte im Kontext aufgegeben, weil er ihre gattungstypische Natur nicht mehr durchschaute. Noch vor den Aufträgen an Jeremia folgt eine prophetische Botenformel (13a), die somit, wie in deuterojeremianischen Texten üblich, zu einer bloßen Einleitung von Gottesreden refunktionalisiert ist und erzählenden Charakter angenommen hat (s. zu 26,2a). Auch Geh‑ und Redebefehl (13bc) in Gestalt der deuterojeremianischen Auftragsformel (s. zu V. 2) und die klischierte Adressatenangabe (Kon 56) repräsentieren die redaktionelle Handschrift, während die Idee, Jeremia habe seine Demonstration trotz ihres Schauplatzes nicht öffentlich veranstaltet und müsse sich eigens zu seinen Adressaten hinbegeben, den konstruierten, literarisierten Charakter des Berichts verrät. Das Scheltwort zerfällt dann in den Aufweis des positiven Exempels der Rechabiter (13d–14d), die Anklage der Judäer (14e–15) sowie ein knappes Fazit (V. 16), das die beiden vorangehenden Elemente resümierend verbindet. Der Rekurs auf das Beispiel der Rechabiter nimmt eingangs das entscheidende Ergebnis für die Judäer vorweg, gekleidet in die Frage, ob sie bereit seien, eine Lehre zu ziehen (rs'Wm xql Zurechtweisung annehmen) im Hinblick auf den Gehorsam gegenüber meinen Worten (13d). Die konstruierte Natur der Darstellung tritt erneut zutage, wenn der Satz zu präzisieren unterlässt, woraus die Lektion bezogen werden soll, als rede Jeremia zu Augenzeugen, die den Test der Rechabiter im Widerspruch zu 13b soeben mitverfolgt hatten. Die Formulierung fingiert einen Sprecherstandort vor der Katastrophe, als das Schicksal Judas noch offen war. 14a–d Das Lob der Gebotsobservanz der Jünger Jonadabs beginnt in 14a asyndetisch wie ein Redeanfang, und zwar mit der Besonderheit, dass das Verb die erste Satzposition noch vor dem Subjekt einnimmt, sodass seine Aussage – die Befolgung des Willens Jonadabs – einen starken Akzent erhält. Der Passus ist prämasoretisch eingehender bearbeitet worden. Ursprünglich nannte 14ab wohl anstatt der laut MT von den Rechabitern erfüllten Worte Jonadabs nur ein Wort …, das er seinen Söhnen geboten hat, (nämlich) keinen Wein zu trinken (vgl. AlT; weitere Details der Originalfassung sind unklar: TK). Die singularische Formulierung, die zudem das vom Stammvater ge414

Die Erprobung der Rechabiter

35,14e–15

botene Wort einzig durch die Weinabstinenz explizierte, nahm auf die oben hervorgehobene Merkwürdigkeit Rücksicht, dass die Rechabiter zwar soeben den Test ihrer Treue zum Weintabu glänzend bestanden (V. 6), aber auch erklärt hatten, warum sie die übrigen Forderungen ihres Ahnherrn derzeit missachteten (V. 11). Der Text bahnte damit eine Interpretation der rechabitischen Lebensregeln an, wonach daraus nur dem Weinverzicht dauerhafte Geltung zukam (s. zu V. 18–19). In der masoretischen Texttradition ging das Verständnis für dieses ehemals zentrale Aussageziel verloren, weswegen man in 14a ein Wort gegen die Worte austauschte, doch klingt die originale Intention weiterhin nach, da der Relativsatz 14b unangetastet blieb, sodass sich die Gebote Jonadabs nach wie vor auf die Weinabstinenz zu beschränken scheinen. Selbst der prämasoretische Zusatz 14d, der das Lob der rechabitischen Treue zur Tradition ausweitet, weiß wie sein Vorbild 18c nur von einem singularisch repräsentierten Gebot ihres Ahnherrn. Wie die Anklage nun festhält, sticht von dem unerschütterlichen Respekt der Re- 14e–15 chabiter für das Verbot des Weingenusses der ebenso permanente Ungehorsam der Judäer ab. Der Kontrast ist in MT besonders ausgeprägt: Während Jhwh den Jüngern Jonadabs bescheinigen kann, dass sie bis zum heutigen Tag … dem Gebot ihres Ahnherrn gehorchten (14cd MT), muss er den Judäern ein Zeugnis ausstellen, das ein selbstständiges Personalpronomen mit verbalem Prädikat in qatal-Formation auch formal als adversativ markiert: … yTir>B;DI ykinOa'w> Ich aber habe unermüdlich zu euch geredet, doch ihr habt nicht [auf mich] gehört (14ef). Die anschließenden Vorwürfe (V. 15) bilden ein Konglomerat deuterojeremianischer Klischees, das mit geringer Variation aus der deuteronomistischen Vorlage 25,3c–7 entlehnt ist. Es beginnt mit der Erinnerung an die beständigen Mahnungen Jhwhs, beschrieben mit der Unermüdlichkeitsformel (14e || 25,3c; siehe dort; Kon 131 f.); dann der allgegenwärtige Vorwurf des Nichthörens (14f || 25,3d MT, ein Beispiel der späten Rückwirkung auf die Vorlage); die dauernde Prophetensendung (15a || 25,4a; Kon 87), in MT nochmals um die Unermüdlichkeitsformel erweitert; die Aufrufe zur Umkehr vom bösen Weg (15b || 25,5b; Kon 128 f.) und zur Besserung der Taten (15c; Kon 40); die Warnung, fremden Göttern nachzulaufen (15d || 25,6a; Kon 16 f.). Bei der Verheißung des Wohnens auf dem von Jhwh gewährten Ackerboden (15ef || 25,5cd; Kon 10) hebt der aus der Vorlage übernommene Stabreim von WbWv šūbū kehrt um! 15b und Wbv.W w˙=šebū wohnt 15e das Bedingungsverhältnis von Appell und verheißener Konsequenz auch klanglich hervor. Den Abschluss macht der gesteigerte Vorwurf des Ungehorsams durch das Idiomenpaar nicht hören und nicht das Ohr neigen (15gh || 25,4bc; vgl. 25,7). Die Abhängigkeitsrichtung zwischen den beiden Parallelen ist ablesbar an der Tatsache, dass dem Material in 35,14e–15 eine folgerichtigere Ordnung und grammatisch plausiblere Form eignet. 25,3c–7 hebt wie sein Gegenstück an mit dem Verweis auf das unermüdliche Reden Jhwhs und seine dauernde Prophetensendung (25,3c–4a || 35,14–15a). Dabei wird das letztere Element in 25,4a durch eine grammatisch problematische w˙=qatal-Formation ausgedrückt, der in 35,15a eine wa=yiqtul-Formation entspricht, wie sie die bekannten Regeln des Hebräischen erwarten lassen. Ferner fügt 35,14f den Vorwurf des Ungehorsams direkt an die Feststellung der unentwegten Mahnungen Jhwhs an, während das Korrelat in 25,4bc zunächst in einer umständlichen Parenthese zwischen die Erinnerung an die dauernde Prophetensendung 25,4a und das zugehörige Zitat der prophetischen Botschaft in 25,5–6 gezwängt wurde, bevor präma-

415

35,14e–15

Die Erprobung der Rechabiter

soretisch per Anleihe bei 35,14f eine nach Position und Wortlaut äquivalente Beschuldigung in 25,3d hinzutrat. Sodann reiht das Zitat der Propheten in 35,15b–f seine Bestandteile in einer logischen Abfolge aneinander: Umkehrruf (15bc), Warnung vor dem Götzendienst (15d), Verheißung des dauernden Wohnens im Land für den Fall des Gehorsams (15ef). Dagegen beginnt 25,5–6 mit dem Umkehrruf (5b) und der Verheißung des Landbesitzes (5cd), um dann die Warnung vor dem Götzendienst nachzutragen (V. 6). Während überdies 25,4bc die klischierte Anklage des Nichthörens in der gängigen Reihung nicht hören – nicht das Ohr neigen bietet,9 kehrt 35,15gh die Abfolge in für das Jeremiabuch singulärer Weise um, was auf einen Reflexionsschritt schließen lässt, da das Neigen des Ohrs normalerweise dem aufmerksamen Hören vorausgeht. Es ist daher problemlos vorstellbar, dass 35,14e–15 aus 25,3c–7 abgeleitet ist. Wenn hingegen bisweilen die umgekehrte Abhängigkeit behauptet wird, rätselt man, warum der Autor von *25,1–13a2 verkompliziert haben sollte, was er in seiner angeblichen Vorlage wohlgeordnet vorfand. Der Vergleich der Parallelen liefert also einen Anwendungsfall der Präferenz für die lectio difficilior, der nur bestätigt, was ohnehin auch aus anderen Gründen feststeht: die Priorität von *25,1–13 a2, einem Werk von JerDtr I (s. z. St.).

V. 16 bündelt das Scheltwort, indem er die beiden Pole des diametralen Gegensatzes zusammenfassend herausstreicht: Auf der einen Seite stehen die Rechabiter, die das Gebot ihres Ahnherrn erfüllt haben (16a, s. zu 14a), wobei das Gebot (hw"c.mi) mit Bedacht im Singular steht, weil der Text nach V. 11 und mit 14b–d nur noch von einer einzigen Obliegenheit der Jünger Jonadabs ausgeht: dem Weintabu (ebenso 18c). Ihnen gegenüber steht dieses Volk mit seiner kardinalen Verfehlung, dem Ungehorsam (16c), den das Scheltwort mehrfach angeprangert hatte (14 f.15gh), allerdings nur durch den Vorwurf des Fremdgötterdienstes konkretisiert (15d). 17 Das Drohwort wird gattungstypisch durch !kel' darum und eigener prophetischer Botenformel vom Scheltwort abgesetzt (17a). Es ist rein formelhaft und abstrakt, und wie der alexandrinische Text bezeugt, beschränkte es sich ehemals auf die klischierte Ansage, alles bislang angekündigte Unheil nun herbeizuführen (17bc; Kon 23 f., 34), die PR auch in 36,31 verwendet (vgl. ferner aus den konzeptionell verwandten individuellen Prosaorakeln 19,15). Außerdem entsteht so in Verbindung mit 16c die für PR kennzeichnende Kombination (nicht) hören (Volk) und Unheil reden (Jhwh) (s. o.). Ein prämasoretischer Ergänzer fand offenbar diese Knappheit unbefriedigend und hat aus 7,13 eine weitere formelhafte Anklage hierher übertragen, die den Vorwurf des Ungehorsams, der die Scheltrede durchzieht (13d.14 f.15gh.16c), nochmals besonders eindringlich wiederholt, indem sie ihn mit den beständigen Mahnungen Jhwhs kontrastiert. 18–19 Die durchgängige Formelhaftigkeit und hochgradige Abstraktheit des Gerichtsworts, dazu vor allem die ursprüngliche Kürze und Inhaltsarmut der Strafankündigung deuteten bereits an, dass es im Unterschied zur deuteronomistischen Ebene des Buches nicht mehr die Erklärung der Katastrophe (Gerichtsdoxologie) war, die den patrizischen Redaktor umtrieb. Worum es ihm bei der vorliegenden Einheit vorrangig ging, zeigt ihr Ausklang: die begründete Heilsverheißung für die Rechabiter. Die Kombination von Heils‑ und Unheilsansage in 35 zwang den Verfasser zu wählen, welchem Bestandteil er die wirkungsvolle Schlussposition vorbehielt, die die besten Aussichten bietet, im Gedächtnis der Leser bzw. Hörer haften zu bleiben. Der 16

 7,24.26; 11,8 MT: 17,23; 34,14; 44,5; andere Bücher: Kon 139.

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Die Erprobung der Rechabiter

35,18–19

privilegierte Ort des Orakels für die Rechabiter entspricht dem, was die Farblosigkeit des Gerichtsworts erwarten lässt. Die literarische Einheit gipfelt somit in einem Heilswort. Dessen Anreihung an ein Gerichtswort entfaltet eine prägnante Wirkung: Zwar stechen die Judäer hierdurch auch düster von den Rechabitern ab, doch stärker ist der umgekehrte Effekt, dass die Rechabiter umso heller vor der dunklen Folie der Judäer erstrahlen. Der Autor integrierte die Heilsprophezeiung in eine durchlaufende, an alle Judäer gerichtete (13c) Deuterede (AlT); ein prämasoretischer Bearbeiter hat sie zusätzlich aufgewertet, indem er sie durch eine neue Einleitung zu einer separaten Rede erhob (18a) und derart modifizierte, dass sie nunmehr die Rechabiter selbst anspricht. Mit Rücksicht auf den zuvor angedeuteten Weggang Jeremias von den Rechabitern (13b) ist die Redeeinleitung als frei invertierter Verbalsatz mit betonter Voranstellung der Adressaten geformt, was die Deutungen ermöglicht, dass der Prophet die folgende Botschaft den Rechabitern noch vor seinem Abschied ausgerichtet hatte (Rückblende in die Vorvergangenheit) oder bei anderer Gelegenheit übermittelte. Strukturell ist die Heilsansage mit Begründung (18c–f) und Orakel (19b) das positive Gegenstück zu einem prophetischen Gerichtswort, wobei man in MT die Korrespondenz noch verstärkte, indem man das Gelenk zwischen den beiden Gliedern nach dem Vorbild von Gerichtsworten durch !kel' darum nebst Botenformel akzentuierte (19a; vgl. z. B. 17a). Getreu der Generallinie der Einheit, hebt der originale Wortlaut der Begründung (18c–f AlT) den Gehorsam (Leitwort [mv hören 18c) gegenüber dem Gebot (hw"c.mi 18c) ihres Stammvaters hervor, das wie in 16a im Singular steht, um der Reduktion der rechabitischen Lebensordnung auf das Weintabu im Gefolge von V. 11 Rechnung zu tragen (s. zu V. 14). Betont 18c das Hören, unterstreicht 18ef zusätzlich das darauf gründende Tun und seinen Einklang mit Jonadabs Anordnungen (hwc‑D befehlen, gebieten 18f). Handelten die Rechabiter nach der alexandrinischen Version nur wie ihnen ihr Ahnherr geboten hat (18ef AlT), macht MT daraus gemäß allem …, und der Zusatz 18d spricht von allen seinen Geboten. Hier ist das Gespür für die Motive hinter dem Singular verloren gegangen, und der Gehorsam der Rechabiter wird zu ihrem Ruhm, aber gegen die Intentionen des patrizischen Verfassers auf sämtliche Maximen Jonadabs ausgedehnt. Die Heilszusage 19b belohnt den vorbildlichen Gehorsam mit der Verheißung (wörtlich): Jonadab, dem Sohn Rechabs, wird kein Mann abgeschnitten werden, der vor mir steht alle Tage (AlT ergänzt der Erde nach dem Muster von Gen 8,22). Das Orakel meint zunächst kollektive Unsterblichkeit, also eine unbegrenzte Bestandsgarantie für die Sippe, die hier ebenfalls in geprägter Sprache durch die Unaufhörlichkeitsformel ausgedrückt ist.10 Aber das (im Hebräischen partizipiale) Attribut der vor mir steht verleiht der Zusicherung wahrscheinlich einen sehr viel spezifischeren Sinn. Denn die häufig belegte Phrase ynEp.li dm[ stehen vor hat zwar überwiegend die buchstäbliche Bedeutung stehen vor jemandem oder etwas; zuweilen meint sie auch standhalten;11 sie ist aber überdies ein Terminus technicus für Dienstverhältnisse gegenüber Gott oder Menschen im Rahmen eines ehrenvollen Amtes. Die Heilszusage an die Rechabiter, sie würden vor Jhwh stehen, gebraucht eine VaMT; 1 Kön 2,4; 8,25; 9,5; vgl. 1 Sam 2,33 (Kon 70). z. B. Ex 9,11; Ri 2,14; 1 Sam 6,20; 2 Kön 10,4; Jer 49,19 || 50,44 u. ö.

10 33,17.18 11 Vgl.

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riante, die sonst den berufsmäßigen Status von Priestern,12 Leviten13 und Propheten14 beschreibt. Bei Dienstverhältnissen gegenüber Menschen wird der Ausdruck vorzugsweise angewandt auf Höflinge15 und speziell Josef als pharaonischer Kanzler (Gen 41,46) oder David als Musiktherapeut Sauls (1 Sam 16,22). Daneben charakterisiert die Verbindung etwa auch Josua als rechte Hand Moses (Dtn 1,38) oder Abischag als Beischläferin Davids (1 Kön 1,2) u. a. Tatsächlich hat der Bezug von 19b auf ein dauerhaftes, kultnahes Amt im Kontext der Einheit die größte Wahrscheinlichkeit für sich. Um nähere Schlüsse zu erlauben, ist aus der rückblickenden Gesamtschau zu versuchen, die oben unerklärt gelassenen Züge der Einheit einer zusammenfassenden Exegese zuzuführen. Das Kapitel ist von dem fundamentalen, nicht diachron auflösbaren Widerspruch durchzogen, dass es die Rechabiter als Paradebeispiel des Gebotsgehorsams heroisiert, zugleich aber erklärt, warum sie sich in der erzählten Welt gerade von jenem Ideal verabschiedet haben, das nach ihrem eigenen Bekunden traditionell den Kern ihrer Identität ausmacht: der Nomadismus. Deshalb erhalten die Jünger Jonadabs Gelegenheit, für ihren Übergang zur Sesshaftigkeit einen triftigen Grund anzuführen, und in der Deuterede formuliert die autoritative Gottesstimme, als habe der Stammvater ohnehin nie mehr als das Weintabu verlangt, das aber eisern für immer (6d sowie AlT 14.18; in MT ist dieses Detail verwischt), was auf die Annullierung der Pflicht zum Wanderhirtentum hinausläuft. Das Lob der Rechabiter geht also einher mit dem Wunsch, einen älteren Stand der Forderungen an ihre Lebensweise auf ein reduziertes Niveau herunterzuschrauben, das neuen Verhältnissen entspricht. Zu erklären ist dann, warum der Verfasser die beiden Intentionen verquickte, obwohl sie sich nur schwer vertragen. Wenn er den Rechabitern vorbildliche Gebotsobservanz bescheinigen wollte, wieso brachte er dann ihre Abkehr von ehemals gültigen Maximen überhaupt zur Sprache, anstatt das Thema auszuklammern und sich auf den Weinverzicht zu konzentrieren, dessen Einhaltung seine Helden ja so glänzend bewiesen haben sollen? Wie der Text bezeugt, sah sich der Autor zu einer umständlichen Rechtfertigung gezwungen, warum die Rechabiter andere, gegenwärtig obsolete Lebensregeln ignorierten. Was nötigte ihn zu dem Umweg, mit dem Ergebnis einer merkwürdigen Mixtur aus Heroisierung und Apologetik? Wenn ferner die Rechabiter offenbar bekanntermaßen derlei historischen Ballast mit sich herumtrugen, warum wollte er dann ausgerechnet sie zum Vorbild erheben? Wieso hat er als positiven Kontrast zu den Judäern eine Gruppe exponiert, deren Überlieferungstreue solche Glaubwürdigkeitsprobleme aufwarf, dass er diese eigens ausräumen musste? Vermochte er kein besseres Exempel aufzubieten, das eine weniger angreifbare Antithese zum Ungehorsam der Judäer hätte abgeben können? Die Schwierigkeiten mehren sich noch, wenn man den Text aus der Warte der wahrscheinlichen Entstehungszeit der PR in der frühnachexilischen Epoche liest. Vor diesem Hintergrund impliziert die Verheißung kollektiver Unsterblichkeit, dass die 12 Ri

20,28; Ez 44,15. 10,8; 18,7; 2 Chr 29,11. 14 1 Kön 17,1; 18,15; 2 Kön 3,14; 5,16; Jer 15,19. 15  1 Kön 10,8; 12,8; Dan 1,5.19; 2 Chr 9,7; 10,6.8. 13 Dtn

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Rechabiter die Nöte der Exilskatastrophe recht gut überstanden hatten. Somit müssten sie mittlerweile reichlich Gelegenheit gefunden haben, zu ihrem nomadischen Ideal zurückzukehren. Hätten sie ihre Zelte wieder aufgespannt, sollte das Auditorium, das sich mit den Rechabitern auskannte (V. 2), darüber im Bilde sein. Freilich konstituiert das vorausgesetzte Vorwissen der Adressaten ein zusätzliches Problem. Denn das implizierte Publikum ist zwar über die Rechabiter informiert, muss aber trotzdem ihren Abschied vom Nomadismus erläutert bekommen, wie es auch den Hinweis benötigt, dass für die Jünger Jonadabs ohnehin nur die Weinabstinenz bindend ist. Dass der Autor all dies Jahrzehnte nach den erzählten Begebnissen der Erklärung bedürftig erachtete, ist nur zu begreifen, sofern der Wechsel der Rechabiter zur Sesshaftigkeit andauerte, also endgültig war. Und tatsächlich überliefert die spätere und außerbiblische Literatur Indizien, wonach die Gruppe zwar noch lange als Familienverband bekannt war, sich aber voll der sesshaften Kultur Judas assimilierte (vgl. Neh 3,14; zu postbiblischen Belegen Nikolski). Folglich sind auch in 35, wie so oft im Jeremiabuch, apologetische Tendenzen am Werk, denn der Lobpreis der Rechabiter für ihre vorbildliche Gebotsobservanz verbindet sich mit der Verteidigung ihres Abschieds von der traditionellen Nomadismuspflicht. Wozu benötigten die Rechabiter diesen argumentativen Beistand? Einen Fingerzeig liefert die Klimax der Einheit, das Orakel für die Gefolgschaft Jonadabs, wo die Heilszusage einen Terminus für ein kultisch konnotiertes Amt verwendet. Vor dem Hintergrund der rechabitischen Abkehr vom Wanderhirtentum nimmt die Wortwahl einen spezifischen Sinn an. Der Übergang zur Sesshaftigkeit, verbunden mit der Ansiedlung in Jerusalem (11de), nötigte die Sippe, andere Quellen für ihren Lebensunterhalt zu erschließen. Mit Blick auf ihre aktuellen Bedürfnisse verheißt das Heilswort 19b daher einen dauerhaften Broterwerb in der Tempelwirtschaft. Eine solche Zusage passt zur Abfassungszeit der PR, die ja wahrscheinlich im Umfeld des postexilischen Tempelbaus entstand, also einer Phase, in der die Zuständigkeiten am Heiligtum neu auszuhandeln waren. Allem Anschein nach wollten die Rechabiter die Gunst der Stunde nutzen, und PR hat ihr Bestreben unterstützt. Was aber veranlasste den patrizischen Redaktor, sein Kernanliegen, die Apologetik der judäischen Aristokratie, zurückzustellen und sich stattdessen den Anliegen der Rechabiter zu widmen? Hierzu sind nur begründete Vermutungen möglich, die auch den zweiten Personenkreis betreffen, dem das Kapitel erklärungsbedürftiges Augenmerk schenkt: die Jünger Hanans. Diese Gruppe tritt in den Gesichtskreis des Berichts über ihre Halle im Tempelareal, den Schauplatz der Erprobung, dessen Lage überaus genau und auffälligerweise auch mit Bezug auf ein gleichartiges Gemach der Patrizier fixiert wird (V. 4), ohne dass sich der außerordentlichen Exaktheit eine innertextliche Aufgabe zuschreiben ließe. Die Ortsangabe gehört in eine Reihe mit den weiteren, für PR typischen „übercharakterisierten“ Lokalisierungen von Schauplätzen im inneren Bereich der Tempelanlage (vgl. zu 26,10); und wie in 36,10 betrifft sie Räumlichkeiten der Patrizier, dort die Halle des prominenten Patriziers Gemarja ben Schafan, hier auf dem Umweg über die eigens notierte Nachbarschaft zur Halle der Patrizier (4b). Die innertextliche Redundanz der Präzision gibt Anlass, nach außertextlichen Motiven zu fragen. Wie zu 26,10–16 dargelegt (s. dort), enthält das AT Hinweise, dass beim 419

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nachexilischen Neubau des Heiligtums priesterliche Kräfte versuchten, Nichtpriestern den Zutritt zum inneren Tempelvorhof zu entziehen, also zu jenem Bezirk, in dem die Hallen angesiedelt waren. Neben anderen Intentionen gehörte es zu den Zielen der patrizischen Redaktion, gegen diese Politik Einspruch zu erheben und durch geeignete Erzählstoffe auf angestammte Rechte laikaler Kreise im Areal des Heiligtums zu pochen. Wie nun Kap. 35 bezeugt, sind die Patrizier bei ihren Bestrebungen Allianzen mit anderen Gruppen eingegangen, deren traditionelle Rechte am Tempel ebenfalls gefährdet waren. Der Bericht dokumentiert, dass die Jünger Hanan ben Jigdaljas am vorexilischen Heiligtum eine Halle innehatten und in vorbildlicher Weise nutzten, indem sie den Raum für eine Demonstration des wahren und mittlerweile unumstrittenen Propheten Jeremia zur Verfügung stellten, eine denkwürdige Tat, die die Gültigkeit ihrer alten Ansprüche nachdrücklich untermauerte. Zudem fixiert das Kapitel sicherheitshalber exakt den Ort der Halle, sollte er den Adressaten des Autors nicht mehr geläufig sein. Die Lokalisierung gab Gelegenheit, nebenbei daran zu erinnern, dass auch die Patrizier im fraglichen Bereich einen Raum besessen hatten, und zwar sogar oberhalb der Halle des Schwellenwächters Maaseja ben Schallum (4c), also anscheinend an einer prestigeträchtigeren Stelle als die Kammer eines hochrangigen Priesters, der damals in der geistlichen Hierarchie die dritte Stufe nach dem Oberpriester und seinem Stellvertreter einnahm (vgl. 2 Kön 23,4; 25,18). Während den Jüngern Hanans ihre traditionellen Rechte gesichert werden sollten, ging es bei den Rechabitern darum, ihnen eine neue Position im Gefüge der das Heiligtum umgebenden Strukturen zu verschaffen. Dass sie unter veränderten Umständen ihren Lebensstil modernisiert hatten, entzog ihnen nicht das Wohlgefallen Jhwhs, selbst wenn der Anlass für den Wandel mittlerweile entfallen war. Deshalb verdienten sie auch Beistand bei ihren Versuchen, ihren neuen Platz im judäischen Gemeinwesen durch eine geeignete ökonomische Basis abzusichern. Die Parteinahme der Patrizier für die Rechabiter und die Jünger Hanan ben Jigdaljas war eine konkrete Konsequenz ihres Standpunkts, dass der Tempel als zentraler Kommunikationskanal der Judäer zu ihrem Gott nicht durch eine privilegierte Gruppe monopolisiert werden sollte. Im Übrigen konnten die Judäer nur dann auf eine bessere Zukunft hoffen, wenn sie an Beispielen wie den Rechabitern lernten, dem Gotteswillen endlich Gehör zu schenken, und zwar durchaus in jeweils situationsgerechter Weise.

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Die Entstehung, Zerstörung und Ersetzung der „Urrolle“ 1  a  [Es geschah] im vierten Jahr Jojakims, des Sohnes Joschijas, des Königs von Juda, ​ b  da erging dieses Wort von Jhwh an Jeremia (AlT: das Wort Jhwhs an mich): ​ 2  a  Nimm dir eine Buchrolle ​ b  und schreibe darauf alle Worte, ​ c1  die ich zu dir über Israel, Juda und alle Nationen geredet habe von dem Tag d  da ich zu dir redete, ​ c2  seit den Tagen Joschijas an, ​ 3  a  Vielleicht wird das Haus Juda all das Unheil hören, ​ bis zum heutigen Tag! ​ b  das ich ihnen anzutun plane, ​ c  damit sie umkehren, [jeder] von seinem bösen Weg, ​ d  und ich ihre Schuld und ihre Sünde vergeben kann. ​ 4  a  Jeremia rief Baruch, den Sohn Nerijas, ​ b1  und [Baruch] schrieb nach dem Diktat Jeremias alle Worte Jhwhs, ​ c  die er zu ihm geredet hatte, ​ b2  auf eine Buchrolle. ​ 5  a  Jeremia trug Baruch auf: ​ b  Ich bin (in meiner Bewegungsfreiheit) eingeschränkta; ​ c  ich kann das Haus Jhwhs nicht betreten. ​ 6  a  [Geh du hin,] ​ b1  dann lies c  [die du nach meinem Diktat geschrieben hast,] ​ b2  [die aus der Rolle, ​ Worte Jhwhs] vor den Ohren des Volkes im Haus Jhwhs an einem Fasttag vor. ​ d  Auch vor den Ohren aller Judäera, die aus ihren Städten herbeiströmen, sollst 7  a  Vielleicht dringt ihr Flehrufa zu Jhwh, ​ b  und sie kehren du sie vorlesen. ​ c  denn groß ist die Wut und der Grimm, ​ um, [jeder] von seinem bösen Weg, ​ d  den Jhwh über dieses Volk geredet hat. ​ 8  a1  Baruch, [der Sohn Nerijas,] tat b  was [der Prophet] Jeremia ihm aufgetragen hatte, ​ a2  indem gemäß allem, ​ er aus dem Buch die Worte Jhwhs im Haus Jhwhs vorlas. 9  a  Es geschah im fünften / achten Jahr des Jojakim, [des Sohnes b  da riefen das ganze Volk Joschijas, des Königs von Juda,] im neunten Monat, ​ in Jerusalem und das ganze Volk, das aus den Städten Judas kam, in Jerusalem ein 10  Da verlas Baruch aus dem Buch die Worte Jeremias im Fasten vor Jhwh aus. ​ Haus Jhwhs in der Halle des Schreibers Gemarja, des Sohnes Schafans, im oberen Hof am Eingang des Neuen Tores des Hauses Jhwhs vor den Ohren des [ganzen] 11  Micha, der Sohn Gemarjas, des Sohnes Schafans, hörte alle Worte Volkes. ​ 12  a  Er ging hinab in den Königspalast zur Halle des Jhwhs aus dem Buch. ​ b  und siehe, dort saßen alle Patrizier: der Schreiber Elischama, DelaSchreibers, ​ ja, der Sohn Schemajas, Elnatan / Jonatan, der Sohn Achbors, Gemarja, der Sohn 13  a  Micha teilte ihnen Schafans, Zidkija, der Sohn Hananjas, und alle Patrizier. ​ b  die er gehört hatte, als Baruch [aus dem Buch] vor den Ohren alle Worte mit, ​ 14  a  Da sandten die Patrizier Jehudi, den Sohn Netanjas, des des Volkes vorlas. ​ Sohnes Schelemjas, des Sohnes Kuschis, zu Baruch und ließen ihm sagen: ​ bP ​ Die Rolle, ​ c  aus der du vor den Ohren des Volkes vorgelesen hast – ​ b  nimm sie in deine Hand ​ d  und komm! ​ e  Baruch, [der Sohn Nerijas,] 421

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nahm die Rolle [in seine Hand] ​ f  und kam / ging hinab zu ihnen. ​ 15  a  Sie sagten zu ihm: ​ b  Bitte setz dich ​ c  [und] verlies [sie] vor unseren Ohren! ​ d  Da 16  a  Als sie all die Worte hörten, ​ b  schauten las Baruch [vor ihren Ohren]. ​ sie einander erschrocken ana (AlT: berieten sie untereinander) ​ c  und sagten [zu Baruch]: ​ d  Wir müssen dem König unbedingt alle diese Worte mitteilen! ​ 17  a  Baruch aber fragten sie: ​ b  [Berichte uns doch:] ​ c  Wie / Woher hast du 18  a  Baruch sagte [ihnen]: ​ alle diese Worte [nach seinem Diktat] geschrieben? ​ b  Durch sein Diktat pflegt er mir alle diese Worte vorzusprechen (AlT: Durch sein c  während ich [mit Tinte] in Diktat hat Jeremia mir alle diese Worte mitgeteilt), ​ 19  a  Da sagten [die Patrizier] zu Baruch: ​ b  Geh, ​ das Buch schreibe / schrieb. ​ c  verbirg dich, du und Jeremia! ​ d  Niemand darf wissen, ​ e  wo ihr seid! ​ 20  a  Dann begaben sie sich zum König in den Palasthof, ​ b  nachdem sie die c  und teilten [vor Rolle in der Halle [des Schreibers] Elischama verwahrt hatten, ​ 21  a  Der König sandte Jehudi, um die den Ohren] des Königs all die Worte mit. ​ b  und dieser holte sie aus der Halle des [Schreibers] Elischama. ​ Rolle zu holen, ​ c  Dann verlas Jehudi [sie] vor den Ohren des Königs und aller Patrizier, die den König umstanden. ​ 22  a  Der König saß nun im Winterhaus, [(es war ja) im neunten Monat,] ​ b  und das Kohlenbecken vor ihm war angezündet. ​ 23  a  Sooft Jehudi drei oder vier Spalten verlesen hatte, ​ b  zerschnitt er siea (regelmäßig) mit dem Schreibermesser ​ c1  und warf (das abgeschnittene Stück) ins Feuer, ​ d  das auf dem Kohlenbecken (brannte), ​ c2  bis die ganze Rolle im Feuer vernichtet war, ​ e  das auf dem Kohlenbecken (brannte). ​ 24  a  Sie aber erschraken / befragtena nicht ​ b  und rissen nicht ihre Kleider ein – weder der König noch [alle] 25  a  Dabei drängten Elnatan, seine Diener, die alle diese Worte gehört hatten. ​ b  [Aber er hörte Delaja und Gemarja den König, die Rolle nicht zu verbrennen. ​ 26  a  Der König befahl Jerachmeël, dem Sohn des Königs, Seraja, nicht auf sie.] ​ dem Sohn Asriëls, [und Schelemja, dem Sohn Abdeëls, den Schreiber] Baruch und b  Doch Jhwh verbarg sie. (AlT: Doch [den Propheten] Jeremia festzunehmen. ​ sie verbargen sich.) 27  a  Da erging das Wort Jhwhs an Jeremia, nachdem der König die Rolle b  die Baruch nach dem Diktat Jeremias und die Worte verbrannt hatte, ​ niedergeschrieben hatte: ​ 28  ab ​ Nimm [dir] nochmals eine andere Rolle ​ c  und schreib [darauf ] all die [früheren] Worte, ​ d  die auf der [ersten] Rolle gestanden hatten, ​ e  die Jojakim, [der König von Juda,] verbrannt hat. ​ 29  a  [Über Jojakim, den König von Juda, aber] sollst du sagen: ​ b  So spricht Jhwh: ​ c  Du selbst hast diese Rolle verbrannt, wobei du sagtest: ​ d  Warum hast du darauf geschrieben: ​ e  Ganz gewiss wird der König von Babel kommen; ​ f  er wird dieses Land verheeren ​ g  und aus ihm Mensch und Getier verschwinden lassen  –? ​ 30  a  Darum: So spricht Jhwh über Jojakim, den König von Juda: ​ b  Er wird keinen (Nachkommen) haben, der auf dem Thron Davids sitzt, ​ c  und sein Leichnam wird hingeworfen sein der Hitze am Tag und der Kälte in der Nacht. ​ 31  a  Ich werde ihn, seinen Samen und seine Diener züchtigen [für ihre Schuld]. ​ b  Ich werde über sie, über die Bewohner Jerusalems und die Leute von Juda all c  das ich über sie geredet habe, ​ d  doch sie haben nicht das Unheil bringen, ​ 422

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gehört. ​ 32  a  Jeremia aber nahm eine andere Rolle (AlT: Baruch nahm eine andere Rolle), ​ b  [gab sie dem Schreiber Baruch, dem Sohn Nerijas,] ​ c  und er d  das (/die ?)a schrieb darauf nach dem Diktat Jeremias alle Worte des Buches, ​ Jojakim, [der König von Juda, im Feuer] verbrannt hatte. ​ e  Und noch viele Worte wie jene wurden ihnen hinzugefügt. 5 a S. z. St. 6 a Wörtl. ganz Juda. 7 a Wörtl. fällt ihre Bitte vor Jhwh nieder. 16 a Wörtl. erschraken sie aufeinander zu; sog. Constructio praegnans, bei der ein Verb die Valenzen eines mitgedachten nachfolgenden Verbs übernimmt; vgl. Gen 42,28; Jes 13,8; Kö § 213a; GK § 119ee. 23 a Enklitisches Personalpronomen im Sg. f. mit Verweis auf die Schriftrolle. 24 a D. h. Jhwh. 32 a Im Hebr. ist nicht entscheidbar, ob sich die Relativpartikel auf die Worte oder das Buch bezieht.

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Mit der Erzählung von der Entstehung, öffentlichen Rezitation, Verbrennung und Ersetzung der Buchrolle mit Prophetenworten Jeremias setzt die patrizische Redaktion (PR) ihre in 35,1 eröffnete Rückblende in die Zeit König Jojakims fort, um anschließend durch 37,1–2 zum vorgefundenen Zusammenhang zurückzulenken. Wie 425

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die patrizische Bearbeitung von 26, so soll auch 36 das kritische Porträt von der judäischen Aristokratie aufhellen, das die deuteronomistische Redaktion und ihre Quellen entwarfen, als sie die Patrizier als Gegner des Propheten Jeremia zeichneten. Entsprechend ist der Block 35 + 36 zwischen 34,8–22 und 37–38 eingeschaltet, beides Passagen, die für die Kreise hinter PR hohen Rechtfertigungsbedarf erzeugten. Dass in 36 PR das Wort ergreift, ist an mehreren tragfähigen Indizien abzulesen: Die Verlesung der „Urrolle“ findet in der Räumlichkeit eines Schafaniden statt (V. 10); auffällig viele Namen demonstrieren das Interesse an den Patriziern, die auch ausdrücklich als ~yrIF'h; identifiziert werden (Vv. 10–12); es sind die Patrizier, die Jeremia und Baruch durch den Rat zur Flucht vor der Festnahme samt ihren bedrohlichen Folgen bewahren (V. 19); mit der Kombination von Unheil reden, gesagt von Jhwh, und (nicht) hören, bezogen auf die Judäer, trägt die Erzählung einen idiolektalen Fingerabdruck der PR (V. 31; vgl. 26,13; 35,16–17; 40,2–3). Die beiden patrizischen Einheiten 35 und 36 sind in der gegebenen Reihenfolge angeordnet, weil Jeremia und Baruch am Ende der letzteren Erzählung in den Untergrund gehen und das Buch weder ihre Rückkehr aus dem Versteck noch einen datierten Auftritt des Propheten unter Jojakim nach dessen fünftem Jahr (V. 9 MT) mitteilt. Ferner kam es den Intentionen des Redaktors zustatten, die Bewährung der Patrizier in 36 unmittelbar vor 37–38 zu rücken, um das dort gebotene, besonders abträgliche Bild der judäischen Aristokratie durch ein Gegenbeispiel aufzuwiegen.

Textgenese und Gliederung Ein Resümee des Beobachtungsstandes und der neueren Forschung zur Textgenese von 36 bis etwa 2007 bietet Knobloch 73–92. – Obwohl das Kapitel als Fremdbericht konzipiert ist, hebt die alexandrinische Fassung von V. 1 im Ich Jeremias an, und zwar wohl deshalb, weil 36 in einem Zug mit dem Ich-Bericht Kap. 35 entstanden ist (der masoretische Wortlaut von V. 1 wird von einem Merkmal des prämasoretischen Idiolekts als jüngere Glättung erwiesen: TK). Der alsbaldige Wechsel zum Bezug auf Jeremia in 3. Person (V. 4) dürfte sich dem Tatbestand verdanken, dass PR ihren Stoff hier – anders als bei 35 – nicht frei gestaltete, sondern wie in 26 einen vorliegenden Fremdbericht verwertete. Dafür sprechen Auffälligkeiten im Erzählfluss, die auf diachrone Prozesse deuten, und zwar wie bei dem in mehrfacher Hinsicht ähnlichen Kap. 26 namentlich dann, wenn die insgesamt ältere alexandrinische Ausgabe herangezogen wird. Zu den Indizien für Mehrschichtigkeit zählt auch das Nebeneinander von literarischen Eigenarten, die nur bei ereignisnahem Ursprung einleuchtend erklärbar sind, und solchen, die einen größeren zeitlichen Abstand zur den erzählten Begebenheiten voraussetzen. Doch im Unterschied zu 26 lassen sich hier nur teilweise saubere Schichtengrenzen angeben, da der Redaktor eine andere Arbeitstechnik anwandte, ähnlich jener, die der Autor der Chronik auf die Königsbücher applizierte: Er hat seine Vorlage nicht einfach erweitert, sondern eingeschmolzen; d. h. er hat bestimmte Passagen ersetzt und andere derart abgewandelt, dass zwar noch Anleihen beim älteren Bestand durchschimmern, dieser aber nicht mehr präzis wiederherstellbar ist. Die Vorstufenrekonstruktion kann 426

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daher nur noch versuchen, die Fragmente der Quelle herauszuoperieren und ggf. von dort aus auf Eigenarten der entfallenen Teile zurückzuschließen. Der Redaktor ging offenbar auch deshalb souveräner mit dem Original um, weil es, wie der ehemals direkte Übergang von 34,22 zu 37,3 zeigt, im Gegensatz zur Grundschicht von 26 noch nicht in der bearbeiteten Ausgabe des Jeremiabuches stand. Dazu passt auch der Umstand, dass die wahrscheinlich entlehnten Stücke keine deuteronomistischen Merkmale an sich tragen. Wenn trotz dieser beschränkten Klärungsmöglichkeiten im Folgenden hinter die über den Textformenvergleich erreichbare Entwicklungsstufe zurückgefragt wird, so deshalb, weil manche Besonderheiten des Kapitels allein mit diachronen Annahmen plausibel herleitbar sind, selbst wenn sich die näheren Abläufe bloß noch begrenzt aufhellen lassen. Ferner eröffnet die fragmentarisch erkennbare Vorlage derart interessante Einblicke in die Triebkräfte hinter der Entstehung der Erzählliteratur über Jeremia, dass sich der Aufwand der Nachfrage lohnt. Den Verdacht textgenetischer Prozesse schürt bereits jener Zug, der das zentrale redaktionelle Markenzeichen der Erzählung ausmacht: ihre Parteinahme für die Patrizier. Denn 36 unterliegt derselben Merkwürdigkeit wie 26, wonach der gegebene Wortlaut zwar der judäischen Aristokratie überwiegend Sympathie entgegenbringt, doch die Dominanz dieser Sichtweise ändert nichts daran, dass das Gesamtbild von Ambivalenzen getrübt wird. Wenn das Kapitel berichtet, wie Baruch die Prophetie Jeremias in der Halle eines Schafaniden am Tempel rezitieren durfte (V. 10) und die Patrizier ihm gemeinschaftlich den Rat zur Flucht erteilten (V. 19), der angesichts der Fortsetzung (V. 23–24.26) als lebensrettend erscheinen muss, ist die Absicht greifbar, den Ruhm des judäischen Adels zu mehren. Die so geweckten Erwartungen werden anschließend jedoch nur begrenzt gestillt, wenn lediglich eine Minderheit von drei Männern aus den bei Jojakim versammelten Patriziern (V. 21) versucht haben soll, den königlichen Frevel am Gotteswort zu verhüten (25a).1 Im Rückblick auf die ausgedehnte Liste von Namen in V. 10–12 fällt dann zusätzlich auf, dass dort aus dem reichlichen Figureninventar der Erzählung gerade jene Männer mit einer Vorstellung bedacht werden, die in V. 25 dem Patriziat Ehre antun (wobei man Micha ben Gemarja mit seinem Vater zusammennehmen darf), obwohl von einer Versammlung aller Patrizier (so zweimal in 12b) die Rede ist. Dagegen schweigt V. 10 zu den anderen Mitgliedern der Gruppe, die erheblich zum Geschehen beitragen, sich aber zu Jeremia gleichgültig oder gar feindselig verhalten (vgl. 14a.21a.23a.26a). Ferner werden die Führungskreise nach dem Vernehmen der vorgelesenen Prophetie nur laut MT vom Schrecken gepackt (Wdx]P' 16b), während sie in der alexandrinischen Fassung bloß beraten (Wc[]An), was keinerlei Einverständnis mit dem Gehörten voraussetzt. Ihre Rückfrage zu den Entstehungsumständen der Schriftrolle (V. 17–18) kommt nach ihrem Beschluss, dem König Meldung zu erstatten (16cd), verspätet; die umgekehrte Reihen1  Mehrere Handschriften und Tochterübersetzungen der prinzipiell G*-nahen B-Gruppe der LXX (B-S*-106´ Bo Aeth) übergehen in ihrer Wiedergabe von 25a die Negation yTil.bi(l.), sodass die dort genannten Höflinge den König im Gegenteil sogar zur Verbrennung der Schriftrolle drängen. Diese Variante wurde von *Holladay 252 und *McKane cxlivf.920 als originale Lesart gewertet, geht jedoch ohne Zweifel auf einen innergriechischen Textverlust zurück (TK) und wurde von Ziegler zu Recht in den Apparat verwiesen.

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folge wäre die natürliche. Dazu nennt AlT seltsamerweise einen der Parteigänger Jeremias bei seiner Vorstellung in 12b Jonatan (ben Achbor), in der für das Gesamtbild der Patrizier maßgeblichen Szene 25a hingegen Elnatan, und nur MT gebraucht einheitlich Elnatan wie in 26,22, wo der Mann überdies gar nicht auf Seiten Jeremias steht, sondern sich als Verfolger eines Propheten wie Jeremia (vgl. 26,20b) schuldig macht. Da eine nachträgliche Diversifikation nicht in Betracht kommt, richtet sich der Blick auf literargeschichtliche Vorgänge an der Wurzel der Namensvarianten. Diese Unebenheiten, jeweils für sich von begrenztem Gewicht, gewinnen Aussagekraft durch ihr signifikantes Zusammenspiel: Der patrizische Redaktor war wie in 26 bestrebt, eine ältere Quelle, die die Rolle seiner Helden im Geschehen noch deutlich nüchterner sah, durch Umgestaltung seinen Zielen dienstbar zu machen. Und wie dort dauerte die Aufhellung des Bildes der Sympathieträger bis in die jüngsten Phasen der Geschichte des hebräischen Textes an (vgl. die Lesartendifferenzen in 16b mit jenen in 26,21b). Zu den Rissen im Porträt der Patrizier tritt eine terminologische Auffälligkeit bei der Benennung der Buchrolle. Das Kapitel benutzt dafür die Substantive rp,se Schriftstück und hL'gIm. Rolle, allerdings nicht in regellosem Wechsel. Die Wortwahl hängt zunächst davon ab, ob der betroffene Schriftträger bereits Text enthält oder nicht. Für das leere Rohmaterial verwendet 36 immer hL'gIm., sei es allein (28b.32a) oder in der Konstruktusverbindung rp,se-tL;gIm. Buchrolle (2a). Dies entspricht der Erwartung, weil das von der Wurzel llg rollen abgeleitete Substantiv sich am äußeren Erscheinungsbild des Gegenstands orientiert; dagegen legt rp,se, ein Derivat der Wurzel rps (er)zählen, den Ton auf das Vorhandensein von Text. Während demnach beim leeren Rohmaterial das Wort hL'gIm. nicht fehlen darf, pendelt der Sprachgebrauch bei einer im Vorgang der Beschriftung befindlichen oder fertigen Buchrolle zwischen hL'gIm. (6b.14be.​20b.​21a.23c.​ 25a.27a.28d.29c), rp,se‑tL;gIm. (4b) und rp,se (8a.10.11.18c.32c; ferner 13b MT). Damit verschiebt sich die Wortwahl im Fortgang der Erzählung markant: In den vorderen Partien wird rp,se bevorzugt, bis ab V. 14 hL'gIm. die Oberhand gewinnt. Aussagekraft erhält der Befund jedoch erst durch seine Affinitäten zu den unterschiedlichen Facetten des Bildes der Patrizier. Das Bündel von rp,se-Belegen in V. 8–11 deckt sich mit einem Erzählschritt, der das Publikum für die judäische Aristokratie einzunehmen geeignet ist, nämlich Baruchs erste Verlesung der Schriftrolle in der Halle des Schafaniden Gemarja, gefolgt von der ausgedehnten Liste patrizischer Namen in V. 12. Dieselbe Tendenz verknüpft sich mit dem ersten der beiden rp,se-Fälle, die innerhalb des hL'gIm.-Blocks ab V. 14 auftreten: 18c gehört zum Dialog der Patrizier mit Baruch, der in ihren rettenden Rat zur Flucht mündet (V. 17–19; zu 32c s. u.). Wenn hingegen in 25a bloß ein kleiner Ausschnitt der Sprecher von V. 19 zu Jeremia hält, heißt die Rolle wie im Kontext üblich hL'gIm.. Folglich korreliert der Sprachgebrauch in auffälligem Maß mit den wechselnden Porträts der Aristokratie: Passagen, die die Patrizier als kollektive Unterstützer Jeremias zeichnen, nennen die beschriftete Buchrolle rp,se; wo die Führungskreise dem Propheten mehrheitlich gleichgültig bis feindlich gegenüberstehen, kommt hL'gIm. zum Einsatz. Die Analyse von 36 muss ferner erklären, warum das Kapitel Eigenarten mischt, die teilweise auf eine ereignisnahe Abfassung deuten, in anderen Fällen aber einen 428

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größeren Abstand voraussetzen. Aus geringer Distanz zum Geschehen müssen die absoluten Datierungen (1a.9a) erstmals Gestalt gewonnen zu haben, denn sie werden nicht erläutert, obwohl sie offenbar den Stoff in das Licht der zeitgenössischen Geschichte rücken sollen: 1a lässt die Schriftrolle im vierten Jahr Jojakims entstehen, laut 46,2 das Jahr von Nebukadnezzars Sieg über die Ägypter in der Schlacht bei Karkemisch (605), die den Babyloniern das Tor zur Levante aufstieß (s. z. St.). In 9a konkurriert das masoretische fünfte Jahr Jojakims (604/3) mit seinem achten in AlT (601/0); dazu nennen beide Textformen einmütig den neunten Monat (November/ Dezember), der von V. 22 grob bestätigt wird. Die Alternative hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis des Erzählten, denn sie entscheidet darüber, ob uns Baruchs Rezitation nebst der spektakulären Antwort des Königs vor einer Kulisse der Stärke oder der Schwäche Babylons präsentiert wird. Exakt im November/Dezember 604 (MT) ließ Nebukadnezzar die philistäische Stadt Aschkelon niederbrennen, nur wenige Tagesmärsche von Jerusalem entfernt (Näheres z. St.). Im Winter 601/0 (AlT) hingegen musste Nebukadnezzar einen Vorstoß nach Ägypten unter empfindlichen Verlusten abbrechen (HTAT 258, S. 416). Der babylonische Triumph vor der judäischen Haustür im fünften Jahr Jojakims im neunten Monat liefert ein natürliches Motiv für den von Baruch zum öffentlichen Vortrag genutzten Fasttag (6b2.9b) und enthebt der Notwendigkeit, einen Grund zu suchen für den mehrjährigen Verzug zwischen dem Auftrag zur Rezitation und seiner Durchführung, wie von AlT vorausgesetzt (für eine detailliertere Begründung s. TK). Die Präferenz für die masoretische Datierung in 9a hat jedoch Folgen für das Alter des Textes selbst: Ein Autor hat die berichteten Vorgänge ohne explizite Erklärung, sondern allein über Datumsangaben mit zeithistorischen Begleitumständen synchronisiert. Bei V. 1 kann man noch darauf verweisen, dass die Schlacht von Karkemisch dem atl. Zeugnis zufolge im kollektiven Gedächtnis der Judäer als epochaler Umbruch haften geblieben ist (46,2; vgl. 2 Kön 24,7). Von der babylonischen Verwüstung Aschkelons ist hingegen keine solche Spur auszumachen. V. 9 rechnet jedoch mit Adressaten, die den Verweis entschlüsseln konnten. Das Vertrauen dieses Erzählers auf die Vorkenntnisse seines Publikums ist nur begreiflich, wenn er nahe an den Ereignissen geschrieben hat. V. 5 zitiert Jeremia mit der Bemerkung, er sei daran gehindert, den Tempel zu betreten. Während das Buch mehrfach berichtet, der Prophet sei in der Endphase der Belagerung Jerusalems inhaftiert gewesen, und dazu Gründe sowie nähere Umstände benennt (Kap. 32–33.37–39), liegen aus den Jahren Jojakims sonst keine Nachrichten über Schranken seiner Bewegungsfreiheit vor. Folglich setzt V. 5 Adressaten voraus, die über die Art der betroffenen Restriktionen im Bilde waren. Dazu erwähnt der Text bestimmte Negativfiguren in einer Weise, die auf ein aktuelles Interesse an ihrer Diskreditierung deutet: Jehudi, der mit dreigliedriger Filiation eingeführt wird, der längsten im ganzen Buch (14a; vgl. V. 21.23); weiterhin der sonst nicht bekannte Prinz Jerachmeël sowie der ohne Titel genannte Oberpriester Seraja ben Asriël (26a; s. jeweils z. St.). Auch diese literarischen Eigenarten sind auf das Weltwissen eines zeitgenössischen Publikums zugeschnitten. Für einen ereignisnahen Ursprung spricht ferner die Strafansage für Jojakim in V. 30. Sie kündigt dem König in einer Wendung, die ähnlich in den Drohworten für 429

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Jojachin 22,24–30 wiederkehrt, das Ausbleiben eines leiblichen Thronerben an (vgl. 30b mit 22,30d); überdies werde man Jojakim sogar ein Begräbnis vorenthalten (30c), wie in poetischer Fassung auch 22,19 prophezeit. Die erste Drohung hat sich allenfalls im weiteren Sinne bewahrheitet, insofern Jojakims Sohn Jojachin zwar 598 die Nachfolge seines Vaters antrat, aber schon drei Monate später den Thron gegen das Exil eintauschen musste (2 Kön 24,8–17). Vollends unerfüllt blieb die Ansage der verweigerten Bestattung, wie die einschlägige Formel für einen friedvollen Tod „sich mit seinen Vätern zur Ruhe legen“ in 2 Kön 24,6 sowie Beisetzungsnotizen für Jojakim in der lukianischen Rezension der LXX zu 2 Kön 24,6 und in der griechischen Ausgabe von 2 Chr 36,8 bezeugen. Fehlende Nachrichten über ein ordnungsgemäßes Begräbnis in den anderen Quellen sind daher auf dogmatische Korrekturen mit Rücksicht auf Jer 22,19 und 36,30 zurückzuführen. Solche Ausgleichsmaßnahmen dokumentieren, dass das zweifelhafte Eintreffen dieser Drohworte die Texttradenten schon frühzeitig beunruhigte. Daraus ergibt sich für 36 die Frage, wann die Abfassung eines Orakels wie V. 30 denkbar ist. Da die Parallelen 22,19.30 mit solidem Sicherheitsgrad authentische Schöpfungen Jeremias darstellen (s. z. St.), nimmt man bei 36,30 die geringsten Probleme in Kauf, wenn man die Entstehung noch zu Lebzeiten Jojakims ansetzt, denn andernfalls müsste man glauben, dass eine Falschprophetie aus der Retrospektive formuliert oder bekräftigt worden sei. V. 30 deutet also wie die Datierungen auf einen ereignisnahen Ursprung. Auf der anderen Seite plädiert der deuterojeremianische Zungenschlag in den Vv. 3.6d–7.31 (s. z. St.) für ein jüngeres Datum, denn nach allem, was wir wissen, hat erst die dtr Redaktion diesen Sprachgebrauch im Jeremiabuch voll entfaltet. Sein Auftreten in 36 ist bei der patrizischen Signatur der Einheit zu erwarten, die in der Stratigraphie des Buches eine postdeuteronomistische Ebene repräsentiert, wie im gegebenen Fall die Tatsache anzeigt, dass der Komplex 35–37,2 den von der deuteronomistischen Redaktion geschaffenen Zusammenhang zwischen 34 und 37,3 ff. sekundär unterbricht. Bestandteile unterschiedlichen Alters in 36 liefern folglich weitere Indizien für Zusammengesetztheit. Zwar wird die Einheitlichkeit des Kapitels bis heute verteidigt und dafür die Entstehung mit Rücksicht auf die Reflexe postjeremianischer Epochen im 5. oder gar 4. Jh. gesucht (z. B. Knobloch, Bosshard-Nepustil).2 Doch neben der Unterschätzung der Kohärenzstörungen in 36 muss man dann vor allem mehrere höchst zweifelhafte Annahmen in Kauf nehmen: Der Autor habe sich in 30c ausgerechnet auf ein bekanntermaßen unerfülltes Orakel Jeremias berufen, und in 30b habe er sogar eine Falschprophetie ex eventu produziert, indem er 22,30d von Jojachin auf Jojakim übertrug. Schon das ist unglaublich. Wenn der Verfasser zudem die berichteten Vor2 Während Knobloch und Bosshard-Nepustil die Merkmale ereignisnahen Ursprungs unbeachtet lassen, gründen sie ihre Spätdatierung maßgeblich auf die Annahme, 36 sei von Ex 24 und 32–34 abhängig. Doch angesichts der analogen Handlungsgerippe (ein Schriftstück wird angefertigt, verlesen, zerstört und wiederhergestellt) springt umso mehr ins Auge, wie schwach die lexikalischen Gemeinsamkeiten ausfallen, die sich allein aus der relativ einförmigen hebräischen Idiomatik erklären. Die einzige prägnante Parallele kam erst durch prämasoretische Konflation zustande (V. 28 und Ex 34,1 || Dtn 10,1–2; s. z. St.).

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gänge einzig über Datumsangaben in ihren historischen Kontexten verankerte, müsste er bei seinen Adressaten Geschichtskenntnisse von ganz unwahrscheinlichem Ausmaß erwartet bzw. exklusiv für eine Handvoll von Gelehrten geschrieben haben. Wie im Zuge der Exegese zu zeigen ist, lässt sich der Verzicht auf die explizite Erwähnung der Zerstörung Aschkelons bei ereignisnahem Ursprung gut begründen, während dieses Vorgehen zeitliche Ansetzungen der Grundschicht umso implausibler macht, je weiter sie von den dargestellten Ereignissen abrücken. Prägende Eigenarten von 36 sind also nur erklärlich unter dem Postulat einer bereits unter Jojakim entstandenen Erstfassung, selbst wenn sich deren Gestalt nur teilweise wiederherstellen lässt. Wo die Forschung Textentwicklungsprozesse in 36 namhaft gemacht hat, wurden vor allem zwei Modelle vertreten. Das erste wies, gestützt auf die geprägte Diktion, die Vv. 3.7.31 der dtr Redaktion zu (Thiel, Graupner, *Schmidt). Der Vorschlag lässt das Gros der Indizien unbeachtet, während die ausgeschiedenen Passagen natürliche Einsatzfelder des deuterojeremianischen Vokabulars darstellen, nämlich thematisch geeignete Gottes‑ und Prophetenreden, die zudem spannungslos in ihren Kontexten ruhen. Problematisch ist auch das zweite Modell, das im Gefolge von *Duhm und zum Teil mit dem ersten Modell kombiniert einen älteren Kern in den Vv. *1–26 (Albertz, Becker) oder gar nur *9–26 (Hardmeier) ausmacht. Demgegenüber ist festzuhalten: (1) Bei Abbruch mit V. 26 bliebe das Vergehen des Königs ohne göttliche Antwort; dabei hatte Jojakim durch seinen blasphemischen Entmächtigungsversuch Jhwh aufs Äußerste herausgefordert, kam aber trotzdem ungeschoren davon, obwohl die Babylonier ihre gigantische Überlegenheit in nächster Nähe vorgeführt hatten. Daher erscheint unvorstellbar, ein antiker Denkhorizont habe sich mit dem bloßen Entkommen Jeremias und Baruchs (V. 26) zufriedengegeben. Ohne eine Ansage der Vergeltung für den ungeheuerlichen Frevel des Königs fehlte der Erzählung ein befriedigender Ausklang. (2) Der Schnitt nach V. 26 schreibt ausgerechnet die unerfüllten Strafansagen in V. 30 einer jüngeren Hand zu. (3) Erst 29d–g bietet nähere Informationen über den Inhalt der Schriftrolle, die Jojakim zu seinem skandalösen Handeln verleitete. (4) Zur Symbolhandlung Jojakims in V. 23 gehört eine Deuterede, und als Äquivalent einer solchen dienen seine Worte in 29c–g. Die Erzählung operiert nun mit dem Kunstgriff, den Passus per Zitat in den Schuldaufweis des prophetischen Gerichtsworts Vv. 29–30(31) zu verlagern (zu den Triebkräften s. zu V. 29). Deshalb widerspräche der Erzählschluss mit V. 26 obendrein den Gattungsregeln der Berichte von Symbolhandlungen. Lässt man die Grundschicht gar erst mit V. 9 beginnen, bleibt die Rezitation der Schriftrolle durch Baruch unbegründet, obwohl sie einer Motivation bedarf, da Jeremia, wie der Plot angelegt ist, auch dann dem Zugriff des Königs entkommen wäre, hätte er seine Worte selber vorgetragen. Demnach muss die Vorlage fragmentarisch auch in V. 1–8 vertreten sein, und sie reichte bis V. 30, wo der Sprachgebrauch für die beschriftete Rolle von hL'gIm. (29c) zu rp,se (32c) wechselt und in V. 31 deuterojeremianische Diktion wiederkehrt. Die folgende Auslegung geht daher von der Hypothese aus, dass die PR ihren Stoff nicht völlig frei gestaltete, sondern streckenweise eine ältere Fassung einschmolz, deren Reste namentlich an dem Ausdruck hL'gIm. für die beschriftete Buchrolle kenntlich sind. Ferner ist die Quelle charakterisiert durch ein Bild vom Verhältnis der 431

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judäischen Führungsschicht zu Jeremia, das dank seiner Differenziertheit höhere historische Glaubwürdigkeit besitzt: Der Prophet genoss in jenen Kreisen durchaus Unterstützung, die jedoch nach Umfang und Durchsetzungsvermögen begrenzt blieb. Nach diesen Kriterien sind der Grundschicht vor allem die Vv. 14–16 und 20–30 zuzuweisen, die der Redaktor anscheinend in kaum veränderter Form übernommen hat. Bei der Abwandlung seiner Vorlage war er maßgeblich bestrebt, den Beistand einzelner Aristokraten für Jeremia zum kollektiven Rückhalt durch den gesamten judäischen Adel zu überhöhen, weswegen er die Vv. 17–19 einschob, wo die Patrizier gemeinschaftlich Baruch drängen, mit Jeremia in den Untergrund auszuweichen. Ferner hat er den Vorderteil der Erzählung in V. 1–13 neu gestaltet, wobei er Formulierungen seiner Quelle aufgriff, die aber kaum mehr zu identifizieren sind; Bruchstücke könnten etwa in V. 5–6c und 8a1b bewahrt geblieben sein, da diesen Passagen jeweils formelhafte oder ausführlichere Dubletten folgen (s. z. St.). Der Adaption der Vorlage mit ihrem alleinigen Gebrauch von hL'gIm. für die Schriftrolle dürften auch die beiden Belege von rp,se‑tL;gIm. in 2a und 4b geschuldet sein. Weiterhin hat der Redaktor die nur aus zeitnaher Warte voll verständlichen Datierungen vorgefunden, und die in 25a aufgezählten Unterstützer Jeremias müssen schon vorweg eingeführt worden sein. Kennzeichnend für PR ist ferner die Teilhabe an der deuterojeremianischen Diktion, wie sie in V. 3.6d–7.31 auftritt. Prämasoretische Hände haben in 36 wie üblich durch Namen, Titel, Filiationen und Füllwörter die Explizität gesteigert; daneben haben sie jedoch auch einige Modifikationen von größerer Bedeutung vorgenommen. Jene Fälle, die über sich selbst hinaus die textgenetische Beurteilung des Kapitels beeinflussen, kamen bereits zur Sprache (12b.16b.24a; vgl. 9a). Weiterhin betreffen mehrere Beispiele die anteilige Mitwirkung Jeremias und Baruchs bei der Herstellung der Schriftrollen (6c.17c.18bc.32ab). V. 28 wurde konflationär an Ex 34,1 bzw. Dtn 10,1–2 angenähert. Das relevante Material wird jeweils z. St. erläutert. Der Endtext von 36 ist in drei Abschnitte gegliedert, die verschiedenen Existenzphasen der Buchrollen im Zentrum des Geschehens entsprechen: Die Vv. 1–8 schildern die Entstehung der „Urrolle“. V. 9 markiert durch yhiy>w: es geschah mit Datierung den Neueinsatz zum zweiten Abschnitt, der über die dreimalige Rezitation auf die Zerstörung der Buchrolle hinsteuert. Abermals eine deutliche Zäsur setzt die Wortereignisformel mit (relativer) Datierung V. 27, die den dritten und letzten Abschnitt eröffnet, der die Ersetzung der Urrolle durch eine erweiterte Ausgabe beschreibt.

Erklärung 1 Auch in 36 wird die erzählte Geschehensfolge durch eine Initiative Jhwhs angestoßen:

das spontan ergehende Gotteswort. Die einleitende Wortereignisformel datiert den Vorgang ins vierte Jahr des Königs Jojakim (605/4), eine Angabe, die offenkundig für ein informiertes Publikum bestimmt war, das keine Erklärung benötigte, um mit dem Datum eine Epochenwende in der Geschichte des Alten Orients zu verbinden: den Sieg des damaligen babylonischen Kronprinzen Nebukadnezzar über den Pharao 432

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36,2–3

Necho II. bei der Stadt Karkemisch am oberen Eufrat (605; s. zu 46,2). Die Schlacht markierte das Ende der kurzlebigen Restauration der ägyptischen Herrschaft über die Levante nach dem Zerfall der assyrischen Macht (spätestens 623) und den Beginn des babylonischen Zeitalters an der Ostküste des Mittelmeers. Jenen Rezipienten, die mit dem Jeremiabuch so vertraut sind, dass sie die gottgewollte babylonische Oberhoheit über Juda als eines seiner Grundthemen identifizieren können, übermittelt dieser Auftakt das Signal: Das Folgende spielt in dem Moment, wo es mit Jeremias Gerichtsansagen vom Feind aus dem Norden ernst wird. Die Gottesrede an Jeremia, bestehend aus einem Befehl (V. 2) und zugehöriger 2–3 Begründung (V. 3), bildet eine enge Parallele zum göttlichen Geheiß in 26,2–3, die Tempelrede vorzutragen. Verlangte Jhwh dort die mündliche Reprise der gesamten bisherigen Verkündigung Jeremias (26,2), fordert er hier deren umfassende Niederschrift von Jeremias Anfängen unter Joschija bis zum gegebenen Zeitpunkt (V. 2). Alle Worte (2b) soll die Dokumentation enthalten, und diese Verbindung wird nun beständig wiederkehren, wenn das Werk charakterisiert wird.3 Und ähnlich wie in 26,3 wird der Auftrag motiviert durch die Hoffnung, die Judäer würden das angedrohte Unheil endlich zur Kenntnis nehmen (3ab; Kon 14.52), sich zur Umkehr bewegen lassen (3c; Kon 128 f.) und so Jhwh zur Vergebung ihrer Schuld bewegen (3d; Kon 101 f.). Der Inhalt des anzufertigenden Dokuments wird damit nur vage nach den Adressaten der Worte, nämlich Israel, Juda und alle Nationen (2c), sowie nach ihrem Charakter als h['r" Unheil (3a) umrissen. Näheres wird erst gegen Ende der Erzählung zu erfahren sein (29e–g) aus Gründen, die z. St. zu erläutern sind. Jeremias Gerichtsbotschaft wird hier als bedingt aufgefasst, obwohl das Zitat in V. 29 davon nichts zu erkennen gibt. V. 3 stilisiert jedenfalls ebenso wie 26,3 in formelhafter Sprache den Propheten als Umkehrrufer. Doch dürfte sich der spätere Standort des patrizischen Redaktors darin verraten, dass Jhwh als Lohn der Umkehr nicht mehr wie in 26,3c in Aussicht stellt, er werde sich das Unheil bereuen, d. h. er werde von den berechtigten Strafen absehen (s. zu 26,3). Stattdessen kleidet er seine Verheißung jetzt in die Worte Schuld und Sünde vergeben, eine Wendung, die sonst nur in der spät-dtr Passage Ex 34,9 belegt ist (vgl. Jer 31,34; 50,20; für die Annahme eines literarischen Zusammenhangs reicht die Übereinstimmung nicht aus). Die Terminologie dürfte einen fortgeschrittenen theologischen Problemhorizont widerspiegeln, wo sich der Blick nach vorne richtet auf die Frage, wie nach dem Hereinbruch der Katastrophe ein Neubeginn möglich ist. V. 3 zufolge bedarf es dazu einer grundlegenden Heilung des Gottesverhältnisses, beginnend mit der Umkehr auf menschlicher Seite und vollendet durch die Sündenvergebung von Seiten Gottes. Laut der Fortsetzung hat dieser erneute Vorstoß Jhwhs ein sehr gespaltenes Echo gefunden. Wie der Vergleich zeigt, werden in 26,3 und 36,3 ganz ähnliche Hoffnungen angeführt, um unterschiedliche Aufträge zu motivieren: Zunächst rechtfertigt ein deuteronomistischer Theologe in 26 damit die Reprise der gesamten bisherigen Botschaft, dann begründet ein patrizischer Nachfolger in 36 so deren Niederschrift. Dabei ist der Vorgang in 36 im Unterschied zu 26 nicht frei von Merkwürdigkeiten: Liest man  4b1.13a.16ad.17c.18b.20c.24b.28c.32c; AlT 27a1.

3

433

36,2–3

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36 in Kenntnis von 26, liegt die Frage nahe, ob V. 2–3 sein Vorbild 26,2–3 überbieten sollte, etwa weil der Autor meinte, verschriftete Prophetie sei der bloßen oralen Verkündigung in irgendeiner Hinsicht überlegen. Davon steht indessen nichts da. An die niedergeschriebene Prophetie werden praktisch dieselben Erwartungen gerichtet wie in 26 an die mündlich vorgetragene, und dazu wird klargestellt, dass das Schriftstück ebenso auf die Rezeption durch Hören zielt wie jene (vielleicht hören sie 3a = 26,3a). Doch obwohl die Schriftform somit auf den mündlichen Vortrag hingeordnet bleibt, befiehlt Jhwh allein die Herstellung der Buchrolle, aber keineswegs ihre Verlesung. Obendrein bestimmt er, dass sie neben Worten über Israel und Juda auch solche über Fremdvölker enthalten solle, obgleich man sich fragt, inwiefern Unheilsansagen (3a) über Gegner Judas dazu angetan waren, die Empfänglichkeit der Judäer für Umkehrrufe zu steigern. Wenn daher die Begründung den Auftrag nur begrenzt plausibel macht, lässt der patrizische Redaktor durchblicken, dass er sich zwar einerseits zu dem mittlerweile breit anerkannten theologischen Urteil bekennt, wonach den Judäern die Katastrophe erspart geblieben wäre, hätten sie nur die Mahnungen Jeremias befolgt. Andererseits ist für ihn, wie bereits aus seinen Zusätzen zu Kap. 26 hervorging und sich nun im Fortgang bestätigen wird, mittlerweile ein anderes Beweisziel in den Vordergrund gerückt. Ihm geht es nicht mehr, wie noch den deuteronomistischen Theologen, vorrangig um Gerichtsdoxologie, also um den Aufweis der Gerechtigkeit der durch die Niederlage von 587 vollzogenen Strafe, sondern er beabsichtigt zu zeigen, dass es bei der Hörbereitschaft gegenüber dem Warner durchaus Unterschiede gegeben hat. Dies will er dartun an einem Stoff, der gegensätzliche Haltungen, nämlich Frevel und Bewährung, gegenüber dem in Schriftform materialisierten Gotteswort vorführt. Deshalb zählte für den patrizischen Redaktor vor allem, dass Jeremias Prophetie nach damaligem Stand in einem kompakten Format zur Gänze versammelt war, damit sie in der Erzählung eine eigene Geschichte durchlaufen konnte, in der sie, wie sich herausstellen wird, knapp der Vernichtung entgeht. Entscheidend war somit jene konzeptionelle Qualifikation des Dokuments, die ihrer zentralen Bedeutung wegen am Erzählauftakt ausgesprochen wird: Die Buchrolle war seinerzeit ein vollständiges Kompendium der Verkündigung Jeremias. War sie im Sinne des Autors darüber hinaus auch das einzige Verzeichnis? Obwohl dies nicht präzisiert wird, geht man mit Blick auf die Fortsetzung wohl nicht fehl, darin ein Implikat des göttlichen Auftrags zu erkennen. Die Singularität der Sammlung würde den Nachdruck auf ihrem enzyklopädischen Charakter erklären (2c), unbeschadet ihrer theoretischen Zweckbestimmung (V. 3); ferner wird beständig unterstrichen, dass Baruch die zu erfassenden Texte per mündliches Diktat Jeremias und nicht etwa aus schriftlichen Vorlagen bezog (18b.27b.32c; MT 6c.17c). Doch vor allem gewinnen die anschließend berichteten Vorgänge erheblich an Brisanz, sollte die von Jojakim zerstörte Buchrolle in der erzählten Welt tatsächlich das einzige Schriftzeugnis von Jeremias Prophetie gewesen sein. Deshalb erscheint es auf der Ebene des von PR gestalteten Textes durchaus angemessen, auf die eingangs geschaffene und später zerstörte Sammlung von Jeremiaworten den traditionellen Ausdruck „Urrolle“ anzuwenden, solange Klarheit darüber besteht, dass damit eine literarische Fiktion im Dienste bestimmter Aussageabsichten gemeint ist, die keine Spekulationen über 434

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36,5–6c

Inhalt und Umfang des Dokuments rechtfertigt. Dass die einleitende Gottesrede auf die konzeptionelle Qualifikation der Urrolle als vollständige und singuläre Aufzeichnung jeremianischer Orakel zugeschnitten war und nicht beispielsweise einen Effizienzvorsprung verschrifteter gegenüber mündlicher Prophetie begründen sollte, bekräftigt ferner die Fortsetzung: Wenn Baruch die Schriftrolle laut V. 8–10 vor dem Volk (V. 10) verliest, hält sich der Erzähler nicht mehr mit dessen Reaktion auf, sondern wendet sich umgehend anderen Figuren zu, denen sein eigentliches Augenmerk galt (V. 11 ff.). Seine Interessenschwerpunkte sind indes auf der gegebenen Zeithöhe noch nicht absehbar, sondern werden sich erst im Fortgang der Erzählung nach und nach herausstellen. Der Befehl Jhwhs zur Niederschrift erging an Jeremia (2b), entsprechend der 4 dem Kapitel selbstverständlichen Idee, dass der Prophet des Schreibens kundig war (28c.29d), wie es auch andere Stellen voraussetzen (30,2; 32,10; 51,60). Trotzdem macht er von den Diensten des Baruch ben Nerija Gebrauch, der mit Filiation vorgestellt wird, weil er bei der Einfügung des Kapitels in das Buch hier erstmals genannt wurde (zu 32,12 s. z. St.).4 Wörtlich wiedergegeben, schrieb Baruch die Worte Jhwhs vom Mund Jeremias (4b), d. h. nach dessen Diktat. Damit fällt erstmals ein Ausdruck, der sich bald als ein Leitwort der Erzählung erweisen wird (vgl. 18bc.27b.32c; MT 6c.17c). Den Beweggründen ist im Zusammenhang mit V. 18 und 32 nachzugehen.

Literatur: Th. Podella, Ṣôm-Fasten. Kollektive Trauer um den verborgenen Gott im Alten 5–6c Testament (AOAT 224), Kevelaer, Neukirchen-Vluyn 1989.

Es ist nicht Jhwh, sondern Jeremia selbst, der die vollendete Buchrolle dem Gebrauch zuführt, und zwar indem er Baruch auffordert, das Dokument in einer Weise zu verwenden, die eine Antwort auf die in V. 2–3 offen gebliebene Frage nach ihrem Daseinszweck zu geben scheint – ein Eindruck, der sich indes sogleich wieder zerstreut, da der zugedachte Nutzen wenig mit der Vollständigkeit und wahrscheinlich auch Einzigkeit der Sammlung zu tun hat, die vorher so wichtig waren. Der Text zitiert Jeremia mit der Aussage, er sei in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt (5b). Dafür steht das passive Partizip rWc[' von rc[ zurückhalten, festhalten, verhaften, das in 33,1 und 39,15 die Haft des Propheten im Wachhof in der königlichen Palastanlage beschreibt. Hier muss es indes eine schwächere Bedeutung tragen, denn Jeremia fügt sofort die im Hebräischen mit explikativer Asyndese angehängte Erläuterung hinzu Ich kann das Haus Jhwhs nicht betreten (5c), was sich demnach nicht aus 5b von selbst versteht. Überdies muss Jojakim laut V. 26 seine Büttel aussenden, um Baruch und Jeremia festzunehmen, was die beiden durch den Rückzug in ein Versteck verhindern können. Jeremia befindet sich demnach nicht in Gefangenschaft, sondern es ist wohl an ein Hausverbot im Tempel gedacht, den der Prophet laut 5c–6 als eine normale Bühne seiner Auftritte betrachtet, wie es das Buch andernorts mehrfach tut.5 Anders mithin als die Gottesrede V. 2–3 erwarten ließ, ist es eine sehr spezielle Sondersituation, in der nun die Buchrolle ihren Nutzwert erweist. Dieser liegt allerdings nicht in einer qualitativen Differenz zur mündlichen Prophetie, sondern ist 4 Zu

den Bullen (Siegelabdrücken), die den Namen Baruch ben Nerija tragen, s. zu 32,12. 7,1–2; 19,14–20,1; 26,1–16; 29,24–27.

5 Vgl.

435

36,5–6c

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pragmatischer Natur: Dank der Schriftform kann ein Stellvertreter für den Propheten einspringen. Im Horizont der Erzählung verbessert somit die Schriftlichkeit allenfalls deshalb die Erfolgsaussichten der Prophetie, weil die Botschaft selbst dann noch Gehör finden kann, nachdem der Prophet verstummt ist. Wenn indes für V. 5–6 plötzlich der praktische Vorteil zählt, dürfte sich darin die ältere Quelle zu Wort melden, die mit der Sammlung von Jeremiaworten noch erheblich bescheidenere Vorstellungen verknüpfte. Den Auftrag an Baruch, die Buchrolle im Tempel zu verlesen, terminiert Jeremia auf einen Fasttag (6b2). Wie die Verwendung der Schriftrolle, erscheint hier auch die Wahl des Datums von praktischen Gesichtspunkten geleitet: Das kollektive Fasten war ein Krisenritual, das durch Selbstminderung per Nahrungsentzug dem zuständigen Gott das Ausmaß der Sorgen seiner Schutzbefohlenen nahebringen und ihn so bewegen sollte, sein gegenwärtig als Untätigkeit erlebtes Verhalten aufzugeben und den in der Vergangenheit erfahrenen Beistand erneut zu gewähren.6 Die Liturgie trug daher dem Tempel einen starken Besucherverkehr ein, sodass das Heiligtum an einem Fasttag dem Auftritt Baruchs den idealen Ort zur idealen Zeit für ein ideales Auditorium bot. Dies ist das erzählerische Echo des Umstands, dass Baruch nach V. 9 die Buchrolle wahrscheinlich an einem Fasttag rezitierte, der von der Zerstörung Aschkelons veranlasst war und offenkundig prophylaktischen Zwecken diente. Damals sicherte die erschreckende babylonische Machtdemonstration vor den judäischen Haustüren den Drohworten Jeremias öffentliche Aufmerksamkeit und verlieh seiner Botschaft obendrein einen beachtlichen Schub an Glaubwürdigkeit – freilich nur, solange Nebukadnezzars Streitkräfte in Palästina operierten. Bemerkenswerterweise lässt der Autor den Propheten indeterminiert von einem Fasttag reden, als solle Baruch eine solche Gelegenheit unabhängig von ihrem Anlass abwarten, und auch V. 9 wird über die konkrete historische Kulisse stillschweigend hinweggehen. Wie in der zusammenfassenden Exegese zu erklären ist, resultiert die Diskretion aus der Verlegenheit, in die der Gang der Ereignisse den Autor der zeitnahen Grundschicht gestürzt hatte, weil der von Jeremia prophezeite babylonische Angriff auf Juda (29e–g) ausgeblieben war. 6d–8 Analog dem Befehl Jhwhs an Jeremia wird auch der Auftrag des Propheten an seinen Stellvertreter durch eine klischierte Begründung abgerundet, in der deutlich die Stimme des patrizischen Redaktors anklingt. Schon mit 6d scheint er die Hörerschaft, die Baruch erreichen soll, rhetorisch auf alle Judäer totalisiert zu haben, indem er in einer formelhaften Dublette zur Verlesung an das Volk in 6b noch ausdrücklich auf die Pilger aus den übrigen Städten des Landes hinwies. V. 7 äußert ähnlich wie V. 3 die Hoffnung (vielleicht 7a), das Hören der Drohungen (7cd) werde die Judäer zu Vergebungsbitten (7a) und tätiger Reue (umkehren 7b) bewegen. Bemerkenswerterweise geht in 7ab das Gebet zu Jhwh der Umkehr voran, nicht andersherum: „Nicht die Umkehr der Menschen bewirkt in sich schon, dass der göttliche Zorn ausbleibt bzw. weicht, sondern Gott selbst tut dies, indem er das Gebet der zu ihm Flehenden erhört und damit die Umkehr der Menschen überhaupt erst ermöglicht.“ (Jeremias, 6  Für narrative Illustrationen vgl. Jona 3,5–9; Jdt 4,9–15. Beispiele für bei solchen Gelegenheiten vorgetragene Klagen bieten Jer 14,2–9.19–22; Joël 1,2–20; 2,12–17.

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36,10

Zorn Gottes 110.) 7cd spielt mit den Worten die Wut und der Grimm, den Jhwh über dieses Volk geredet hat auf den Inhalt der Buchrolle an, lüftet den Schleier damit aber nur wenig mehr als die Andeutung in 3ab (s. dort). Und wie in V. 3 der vorausgehende Kontext (V. 2) die in klischierte Worte gefassten Erwartungen an die Effekte der Rezitation als Verneigung vor der Tradition erweist, die der Redaktor in seinem Sinne weiterführen will, so zeigt bei V. 7 die Fortsetzung, dass ihn mittlerweile andere Anliegen bewegen, da er der Reaktion des Volkes keine Aufmerksamkeit schenkt. V. 8 beschließt den ersten Abschnitt mit einem summarischen Ausführungsbericht, dem sogleich eine ausführlichere Erzählfassung folgen wird. Nachdem V. 8 bereits Baruchs Erfüllung des Auftrags knapp zusammengefasst 9 hatte, setzt der folgende Vers nochmals neu an und eröffnet durch yhiy>w: es geschah mit Datierung den zweiten Abschnitt der Erzählung, der die Zerstörung der Buchrolle zum Thema hat. In der Doppelung zu V. 8 dürfte ebenfalls der patrizische Redaktor seine Spur hinterlassen haben, der für Baruchs Rezitation seine eigene Szenerie entwerfen wollte, um ihren Schauplatz zu präzisieren, der ihm so viel bedeutete. In seine Version des Auftritts baute er auch die Datumsangabe im fünften Jahr des Königs Jojakim, im neunten Monat ein (so die aus MT und AlT erschließbare älteste Fassung), die er schon in seiner Quelle vorgefunden haben muss, da nur ein zeitnahes Publikum in der Lage war, allein an diesen Zahlen den Anlass des Fasttages abzulesen: die Zerstörung Aschkelons durch Nebukadnezzar, die sich nach der Babylonischen Chronik exakt im selben Monat zutrug, nämlich im „ersten Jahr Nebukadnezzars“ (II., = 604/3) „im Monat Kislew“ (= 9. Monat = November/Dezember; HTAT 258, S. 416). Darüber hinaus verwüsteten die Invasoren noch weitere philistäische Zentren, wie die Archäologie und Jer 47 bezeugen (s. z. St.). Der Fasttag verrät etwas über das Entsetzen, das der babylonische Triumph, nur ca. 70 km Luftlinie von Jerusalem entfernt, in Juda ausgelöst haben muss. Die Bedrohung hatte ein solches Ausmaß angenommen, dass man in einer gemeinsamen, dramatischen Anstrengung aus Selbstminderung im Fasten und Hilferuf im Gebet dringend an Jhwh appellierte, endlich im letzten Moment einzuschreiten und der anmaßenden Feindmacht Einhalt zu gebieten. In dieser politisch und religiös erhitzten Atmosphäre nun soll Baruch im Tempel, 10 also am Schauplatz der Bittliturgien, die Buchrolle mit den Worten Jeremias verlesen haben. Die Ausdrucksweise setzt die Worte des Propheten uneingeschränkt mit den Worten Jhwhs gleich (4b1.6b2MT.8a2.11). Dabei gibt der Erzähler weiterhin nichts Näheres über den Inhalt der Rolle preis, weswegen erst V. 29 Klarheit bringen wird, dass die Worte Jeremias im Namen Jhwhs den Babyloniern die Verheerung Judas zusprachen. In der realen Welt muss der Akt für jene Judäer, die fest in traditionellen zionstheologischen Denkmustern verwurzelt waren, eine ungeheure Provokation bedeutet haben: Hier schändete jemand den Tempel, indem er dem Heiligtum die vermeintlich daran geknüpften göttlichen Schutzgarantien bestritt, und er missbrauchte überdies die Bühne des Gottesdienstes, um eben dessen Ziele zu torpedieren – empörende Akte der Blasphemie. Welche Reaktionen unter solchen Umständen zu gewärtigen waren, veranschaulicht die Forderung nach dem Todesurteil für Jeremia in 26,8–11. Der patrizische Autor lässt diese denkbare Gestaltungsmöglichkeit seines Stoffes jedoch beiseite und notiert sogleich, dass der Prophet mächtige Protektion 437

36,10

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genoss, weil man sogar in den judäischen Hofkreisen mit seiner Sicht der Lage sympathisierte. Denn nur so ist zu erklären, dass Baruch für seinen Auftritt im Tempelbezirk die Halle (hK'v.li) eines gewissen Gemarja ben Schafan nutzen konnte, der als Staatsschreiber (Verwaltungschef bzw. Kanzler) eines der höchsten Ämter im königlichen Kabinett bekleidete. Die Historizität des Mannes und sein hoher gesellschaftlicher Rang werden durch eine Bulle7 bestätigt, die seinen Namen trägt und aus einem Hortfund stammt, der in Jerusalem im Zuge einer kontrollierten Grabung zutage trat und daher eine vertrauenswürdige Quelle darstellt, zumal die Begleitindizien für die Herkunft aus der unmittelbar vorexilischen Ära sprechen (s. auch zu V. 26).8 Die Position des Staatsschreibers hatte Gemarja von seinem Vater Schafan geerbt (2 Kön 22,3.8–12), ein weiterer Beleg, dass die Sippe der Schafaniden damals zu den bedeutendsten Familien in der judäischen Politik zählte; sie waren also führende Vertreter des judäischen Beamtentums bzw. Patriziats, dem Gemarja wenig später auch explizit zugerechnet wird (12b). Nach dem Zeugnis des Jeremiabuches sind die Schafaniden wiederholt als Parteigänger des Propheten hervorgetreten (s. zu 26,24). Unter der Halle, über die Gemarja im Tempelareal verfügte, ist ein überdachter, zur Hofseite hin offener Raum im Komplex der Tempelgebäude zu verstehen (vgl. auch zu 35,4).9 Tempel waren im Alten Orient nicht nur Gottesdienststätten, sondern auch Zentren von Handel und Gewerbe, weswegen Kammern der betreffenden Art neben ihrer Funktion als Magazine für liturgische Materialien und Geräte auch als Kontore dienten, in denen einflussreiche Persönlichkeiten ihre Interessenvertretungen unterhielten (vgl. Neh 13,4–9). Wie für PR typisch, wird die Stelle, wo Gemarja eine Niederlassung für seine Aktivitäten im Tempelareal besaß, mit einer Genauigkeit beschrieben, die die Erfordernisse des Erzählstoffs deutlich übersteigt: Die Halle habe sich im oberen Hof am Eingang des Neuen Tores des Hauses Jhwhs befunden. Der obere Hof meint den Vorhof des Tempels, der nördlich vom Palasthof etwas erhöht lag, weswegen man von dort zum Palastbereich hinabging (12a; 14f AlT).10 Das Neue Tor des Hauses Jhwhs lieferte auch die Kulisse für den Tempelprozess Jeremias in der patrizischen Darstellung (26,10c) und bezog seinen Namen wahrscheinlich aus der Tatsache, dass es im Zuge von Umbaumaßnahmen des Königs Jotam (ca. 739–734) eingerichtet worden war (2 Kön 15,35; s. zu 26,10). Wie die vergleichbaren Angaben, mit denen PR Taten und Einrichtungen von Patriziern auf dem Tempelgelände lokalisiert (26,10; 35,4), geht auch die Information in V. 10 auffällig über das hinaus, was zum Funktionieren 7 Bullen sind kleine Tonscheiben mit Siegelabdrücken, die zwecks Authentifizierung an Dokumenten oder Waren angebracht waren. Zu Herstellung und Gebrauch von Bullen s. Y. Goren, E. Arie, The Authenticity of the Bullae of Berekhyahu Son of Neriyahu the Scribe, BASOR 372 (2014) 147–158, 151–153; van der Veen, Final Phase 125–134. 8  Die Inschrift lautet: lgmryhw [b]n špn: dem Gemarja, dem [So]hn Schafans, (gehörig). Publikation: Avigad – Sass, Corpus 191, Nr. 470; Y. Shoham, Hebrew Bullae, in: D. T. Ariel (Hg.), Excavations at the City of David 1978–1985 Directed by Yigal Shiloh, Vol. VI: Inscriptions (Qedem 41), Jerusalem 2000, 29–57, 33; Keel, Corpus Bd. V 302 f., Nr. 54. Vgl. Mykytiuk 58. 9 Zur Illustration lässt sich die Visualisierung der Vorstellungen nutzen, die der Vision vom neuen Tempel in Ez 40–48 zugrunde liegen, wie beispielsweise versucht bei H. F.  Fuhs, Ezechiel II. 25–48 (NEB), Würzburg 1988, 267 f., reproduziert bei Albertz, Exilszeit 279. 10  Vgl. für die umgekehrte Bewegungsrichtung 26,10b; Illustration bei Keel, Geschichte I 249.

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36,10

des Plots bzw. zum Verständnis des Erzählten notwendig wäre. Wenn berichtet wird, dass Gemarja seine Räumlichkeit am Tempel für die Rezitation von Orakeln Jeremias bereitstellte, ist dies natürlich dem Ansehen seiner Sippe förderlich, weil es dokumentiert, wie die Schafaniden den später durch den Geschichtsverlauf beglaubigten Propheten schon zu seinen Lebzeiten unterstützten, als er noch höchst umstritten war. Für dieses Beweisziel hätte indes – wie bei den Parallelstellen – auch eine weniger detaillierte Ortsangabe genügt. Da PR jedoch wiederholt einen solch bemerkenswerten Aufwand treibt, muss es dafür einen Grund gegeben haben. Ein plausibles Motiv für diese Eigentümlichkeit der patrizischen Texte liefert der Umstand, dass im Vorlauf zum nachexilischen Neubau des Tempels priesterliche Kreise offensiv das Ziel verfochten, Nichtpriestern künftig den Zutritt zum Tempelvorhof zu verwehren (Ez 46,2.8.12), ein symptomatisches Beispiel aus breit angelegten Bestrebungen, laikale Befugnisse in Tempel und Kult zurückzudrängen.11 Es ist schwer vorstellbar, dass die laikale Seite solche Vorstöße zur Ausweitung priesterlicher Privilegien auf Kosten ihrer eigenen Rechte unwidersprochen hinnahm. Dieser Machtkampf wirft nun insofern ein vielsagendes Licht auf die patrizischen Texte in Jer, als Vorgänge wie die in 26,10–16; 35,1–11 und 36,10 beschriebenen unmöglich wurden, sobald sich der Ausschluss der Laien vom Vorhof des Heiligtums durchsetzte; erst recht war undenkbar, dass, wie in 26,10–16 geschildert, Patrizier und Volk gemeinsam in diesem Areal (vgl. 26,2b.10c) über eine Anklage der Priester (und Propheten) zu Gericht saßen (vgl. Ez 44,24). Die Beiträge der PR mit ihren erstaunlich präzisen Lokalisierungen im Tempelbezirk mussten sich daher in dem skizzierten theologisch-politischen Umfeld automatisch in schlagende Argumente gegen die genannten priesterlichen Forderungen verwandeln, indem sie darlegten, dass die Patrizier ihre großen historischen Verdienste um Jeremia gerade an Orten erworben hatten, zu denen sie nun im Nachfolgebau des vorexilischen Gotteshauses den Zugang verlieren sollten. Wenn somit die patrizischen Texte unter den beschriebenen Umständen solch wertvolles Beweismaterial lieferten, wird sich dies kaum zufällig ergeben haben; vielmehr dürften sie von vornherein gezielt auf jenen Konflikt zugeschnitten worden sein. Ist dies richtig, wird hier der aktuelle Anlass sichtbar, dessentwegen PR den Ruf der laikalen judäischen Führungskreise zu heben trachtete: Ging es im Allgemeinen um die Position der Patrizier im neu auszuhandelnden Machtgefüge des nachexilischen Juda, entzündete sich der Wettbewerb mit der Priesterschaft konkret an der Frage der Zugangs‑ und Mitspracherechte im Heiligtum, das sich im Entstehen befand. Wie in traditionellen Gesellschaften üblich, spielten dabei Gesichtspunkte von Überlieferung und Herkommen eine Schlüsselrolle, und im Kontext des Jeremiabuches waren alte Ansprüche besonders überzeugend als berechtigt zu erweisen, wenn sie genutzt worden waren, um für den nunmehr anerkannten Propheten einzutreten. Ob der Versuch, die Laien vom Tempelvorhof auszuschließen, von Erfolg gekrönt war, bleibt fraglich;12 insofern könnte sich der Einsatz der PR durchaus gelohnt haben. 11 Vgl.

z. B. Ez 40–48; Sach 3,7; zu Einzelheiten Stipp, Tempel.  Dazu: R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Bd. 2: Vom Exil bis zu den Makkabäern (GAT 8.2), Göttingen 1992, 489; Zwickel, Tempel 174–180. 12

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36,11–13

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Obwohl die Vv. 6–10 nachdrücklich betont hatten, dass Baruch die Schriftrolle an einem höchst prominenten Ort möglichst allen Judäern zu Gehör brachte (V. 10), verlautet von der Reaktion des Volkes nichts. Sie konnte nach Lage der Dinge nur negativ ausgefallen sein. Doch wie immer die Grundschicht mit dem Thema umgegangen sein mochte, ließen es die politischen Ambitionen der PR kaum geraten erscheinen, die Judäer durch allzu scharfe Kritik zu verprellen; 26,10–16 stellt die Bevölkerung bezeichnenderweise sogar als Bundesgenossen der Patrizier gegen die Priester (und Propheten) hin (s. z. St.). Es passt daher vollauf ins Konzept der PR, wenn der Endtext (weiterhin?) von der Antwort des Volkes schweigt. Nun gilt alle Aufmerksamkeit der Oberschicht. Der Schafanide Gemarja hatte Baruch seine Räumlichkeit im Tempel für den Vortrag überlassen. Zwar war er selbst laut 12b bei der Verlesung nicht anwesend, weil er sich an seinem Arbeitsplatz im Palast aufhielt, wo alle Patrizier tagten (V. 12). Demzufolge nahmen die Führungskreise nicht an den Fastenliturgien am Tempel teil, sondern waren an der Seite des Königs dringend damit beschäftigt, eine politische Antwort auf die aktuelle Krise zu suchen. Aber Gemarjas Sohn Micha war zugegen, vernahm als Ohrenzeuge alle Worte Jhwhs aus dem Buch (V. 11), erkannte ihre Bedeutung und begab sich an den Amtssitz seines Vaters, um seine Standesgenossen vom Gehörten zu unterrichten (V. 13). Diese Nachricht betont weiter den außerordentlichen Respekt der PR vor den Schafaniden, der jedoch, wie nun 12b bestätigt, nur ein herausragendes Beispiel der Sympathie des Redaktors für die judäische Aristokratie überhaupt darstellt, ablesbar an der doppelten Feststellung, dass die Patrizier sämtlich in der Halle des Staatsschreibers im Palast versammelt waren, sowie an der detaillierten Namensliste. Sie nennt an erster Stelle einen Staatsschreiber namens Elischama; danach hat Jojakim mehrere Träger dieses Titels beschäftigt. Anschließend werden die drei Männer aufgezählt, die sich laut 25a verdient machen, indem sie den König an der Zerstörung der Schriftrolle zu hindern trachten: Delaja ben Schemaja (AlT: Schelemja), Elnatan (AlT: Jonatan) ben Achbor sowie Gemarja selbst. Den Abschluss macht ein sonst unbekannter Zidkija ben Hananja. Die Erwähnung der drei Unterstützer Jeremias in vorredaktionellem Kontext in 25a setzt voraus, dass sie schon immer vorweg eingeführt worden sein müssen, doch die Handschrift der PR macht sich in V. 12 daran bemerkbar, dass Elnatan – so die älteren Schichten in 25a und 26,22 – nach dem Zeugnis von AlT hier ursprünglich die Namensvariante Jonatan trug; ferner bevorzugt die Liste jene Figuren, deren Angedenken der PR besonders am Herzen lag, weil es dem Patriziat zur Ehre gereichte, während diejenigen Männer aus der Vorlage fehlen, die sich als Gegner Jeremias diskreditiert hatten. Das fällt namentlich auf bei Jehudi (s. zu V. 14), gilt aber auch für Jerachmeël, Seraja und Schelemja (26a). 14–15 Von nun an dominiert in der Erzählung die Stimme der von PR verarbeiteten Quelle, die die Buchrolle als hL'gIm. bezeichnet und von der Aristokratie ein weniger freundliches Bild entwirft, als die Vv. 10–12 erwarten ließen; außerdem treten Figuren ins Rampenlicht, die dort unerwähnt geblieben waren, obwohl sie ebenfalls den Patriziern zuzurechnen sind. 14a führt eine neue Gestalt ein, die mit ihrer dreigliedrigen Filiation die längste Ahnenreihe in Jer überhaupt erhält  – Jehudi ben Netanja ben 11–13

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36,16

Schelemja ben Kuschi – und anschließend unter den Patriziern den größten Anteil am Geschehen übernimmt (21a.23a). Wenngleich von fragwürdigem Profil, muss der sonst unbekannte Mann das hervorgehobene Interesse des Autors der Grundschicht auf sich gezogen haben. Die Aristokraten senden ihn mit der Aufforderung zu Baruch, die verlesene Rolle herbeizubringen, was dieser tut (V. 14); ebenso willfährt er dem Verlangen nach einer erneuten Rezitation (V. 15). Von den Orakeln zutiefst verstört, teilen die Hörer Baruch mit, sie würden den 16 König in Kenntnis setzen; so jedenfalls die masoretische Ausgabe, während die Patrizier nach AlT ohne Anzeichen emotionaler Betroffenheit bloß untereinander eine Beratung mit diesem Ergebnis führen. Mit ihrem Beschluss kommen die Patrizier einer Aufgabe nach, die in altorientalischen Regierungssystemen zu den grundlegenden Pflichten der Untertanen zählte, nämlich den Herrscher umgehend über Vorgänge und Reden zu informieren, die seine Macht zu untergraben drohten. Wie zeitgenössische Verträge dokumentieren, waren die Potentaten von ständiger Sorge vor oppositionellen Aktivitäten umgetrieben. Sofern sie die Bedingungen diktieren konnten, schrieben sie deswegen ihren Vertragspartnern regelmäßig vor, solche Machenschaften unverzüglich anzuzeigen. Eine besonders ausführliche Fassung bieten die Loyalitätseide, mit denen der assyrische König Asarhaddon (681–669) im Jahr 672 seine Vasallen auf die Treue zu seinem Sohn und designierten Thronfolger Assurbanipal einschwor. Dort werden auch ausdrücklich Propheten und andere Mantiker als mögliche Gefahrenquellen aufgeführt: Wenn ihr eine ungute, unfreundliche oder unschöne Sache, [die] in Bezug auf Assurbanipal, den Kronprinzen vom „Nachfolgehaus“, Sohn Asarhaddons, eures Herrn, nicht korrekt und gut ist, aus dem Munde seines Feindes oder aus dem Munde seines Freundes oder aus dem Munde seiner Brüder, der Brüder seines Vaters, der Söhne der Brüder seines Vaters, seiner Familie, (von) Mitgliedern seines Vaterhauses, oder aus dem Munde eurer Brüder, eurer Söhne, eurer Töchter, oder aus dem Munde eines Propheten, eines Ekstatikers, eines Orakelpriesters, oder aus dem Munde „Schwarzköpfiger“ (d. h. Menschen) überhaupt, soviel da sind, hört und es verheimlicht, nicht aber zu Assurbanipal kommt … und es ihm nicht sagt – (dann werden die im Folgenden aufgeführten Flüche für Vertragsbrüchigkeit wirksam werden).13

Das Thema war schon damals uralt. So heißt es in einem Vertrag der Stadt Ebla (Tell Mardiḫ ca. 55 km südwestlich von Aleppo) mit der Stadt Abarsal (wohl in der Umgebung des oberen Eufrats zu suchen) aus dem 24./23. Jh. v. Chr.: 13 VTE § 10, Z. 108–122. Edition und Kommentar: S. Parpola, K. Watanabe, Neo-Assyrian Treaties and Loyalty Oaths (State Archives of Assyria 2), Helsinki 1988, 33; K. Watanabe, Die adê-Vereidigung anlässlich der Thronfolgeregelung Asarhaddons (Baghdader Mitteilungen, Beihefte 3), Berlin 1987, 148 f. Online: http://oracc.museum.upenn.edu/saao/corpus (Abruf: 27. 2. ​2017). Übersetzung: R. Borger, Assyrische Staatsverträge, TUAT I.2 (1985) 155–177, 163. Vgl. auch die Loyalitätspflichten gegenüber Assurbanipal, die Zakūtu, die Gattin Sanheribs und Mutter Asarhaddons, ihren Enkeln und den hohen Würdenträgern des assyrischen Reiches auferlegte; daraus die Zeilen Rs. 2–27: K. Hecker, Akkadische Texte, TUAT N. F. 2 (2005) 27–93, 91–93; Edition: Parpola – Watanabe, Neo-Assyrian Treaties (s. o.), 62–64. Online ebd.

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Die Entstehung, Zerstörung und Ersetzung der „Urrolle“

Betreffs schlechter Absichten, von denen du hörst, lass schleunigst Boten gehen (d. h. informiere umgehend). Während du auf einem langen Wege liegst (d. h. dich auf einer weiten Reise befindest), [brauchst du keine Boten gehen zu lassen]; (wenn) du (aber) anwesend bist (und) du hörst schlechte Absichten, lässt (aber) keine Boten gehen, wirst du den Eid gebrochen haben.14

Laut dem Vertrag zwischen einem hetitischen Großkönig namens Tutḫalija mit Šunaššura von Kizzuwatna (beim heutigen Adana in der Türkei) aus dem 15. Jh. hatten die beiden Partner sämtliche Kenntnisse von feindseligen Umtrieben auszutauschen: Wenn ein Mann des Landes Ḫatti aus dem Mund irgendeines Feindes irgendetwas hört, das den Šunaššura betrifft, wird er es dem Šunaššura berichten. Wenn ein Mann des Landes Kizzuwatna aus dem Mund irgendeines Feindes irgendetwas hört, das Meine Sonne (d. h. Tutḫalija) betrifft, wird er es Meiner Sonne berichten.15

Als der hetitische Großkönig Šuppiluliuma I. im 14. Jh. dem Fürsten Ḫukkana von Ḫajaša bzw. Azzi in Ostanatolien die Pflicht zur Mitteilung aller relevanten Informationen auferlegte, verbot er ihm obendrein ausdrücklich, inkriminierte Personen zu protegieren: Wenn du eine böse Sache über meine Majestät hörst und es vor mir verbirgst und es mir nicht mitteilst [oder] den Mann [vor mir] verbirgst und ihn mir nicht [mit]teilst und ihn sogar noch versteckst – wir [haben] Dinge wie diese dir unter Eid gelegt. Wenn du sie nicht achtest, sondern übertrittst, dann sollen dich diese Eidgötter vernichten.16

Der Autor der Grundschicht von Jer 36 berichtete in den Vv. 16 und 20, wie die judäischen Führungskreise sich zu Jojakim loyal verhielten. Der patrizische Redaktor wird dies in seinem Einschub Vv. 17–19 richtigstellen mit der Nachricht, dass die Aristokraten in Wahrheit ihre Treuepflichten gegenüber dem Herrscher im Rahmen ihrer Möglichkeiten massiv verletzten, um Jeremia und Baruch das Leben zu retten. 17–18 Obwohl mit der Entscheidung, den König zu benachrichtigen, die maßgeblichen handlungstreibenden Würfel bereits gefallen sind, wenden sich die Patrizier nun nochmals Baruch zu, um eine Information zu verlangen, die für sie das Bild offenbar wesentlich vervollständigt. Allerdings weichen die beiden Textformen hier gravierend voneinander ab. Kaum Verständnisprobleme bereitet die alexandrinische Version, wo die Patrizier Baruch nach der Quelle des vorgetragenen Textes fragen: Woher (!yIa;me) hast du alle diese Worte geschrieben? (17c AlT) Sie gehen davon aus, dass Baruch die Orakel nicht selbst verfasst, sondern nur niedergeschrieben hat, und erkundigen sich, wie er an seinen Text gelangt ist. Die Antwort lautet: Durch sein Diktat (wörtlich: von seinem Mund) hat Jeremia mir alle diese Worte mitgeteilt (dyGIhi), während ich in das Buch (rp,Seh;) schrieb (bteKo; 18bc AlT). Baruch rückt hier die Präpositionalver14  Vertrag zwischen Ebla und Abarsal § 20–21: H. Neumann, Texte des 3. Jt. v. Chr. in sumerischer, akkadischer und hurritischer Sprache, TUAT N. F. 2 (2005) 1–26, 2–9, 6. 15 D. Schwemer, Der Vertrag zwischen Tutḫalija von Ḫatti mit Šunaššura von Kizzuwatna, TUAT N. F. 2 (2005) 97–106, 103, § 43–44. Vgl. auch ebd. 101, § 19–20. 16  J. Klinger, Der Vertrag Šuppiluliumas I. mit Ḫukkana von Ḫajaša, TUAT N. F. 2 (2005) 107– 112, 110, § 18. Vgl. auch ebd. § 15–16 und 108 § 104.

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Die Entstehung, Zerstörung und Ersetzung der „Urrolle“

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bindung wyPimi durch sein Diktat an den Satzbeginn vor das verbale Prädikat, verleiht ihr so eine starke Emphase und betont folglich nicht die Autorschaft der Prophetie, sondern deren Übermittlung an ihn durch direktes Vorsprechen. Ausweislich dieser Satzteilfolge benötigen die Aristokraten in den Augen Baruchs keine Auskunft über den Verfasser der Drohworte, den sie vielmehr kennen, sondern sie wünschen Aufklärung über den Weg der Orakel von Jeremia zum Schreiber der Buchrolle, die in 18c wieder nach den Stilvorlieben der PR rp,se heißt. Der Fragepunkt fügt sich insofern gut zur Logik der Erzählung, als Baruch das Dokument zuvor auf dem Terrain eines prominenten Patriziers verlesen hat, was ein entsprechendes Vertrauensverhältnis und mithin eingehende Kenntnisse über den Hintergrund der Weissagungen voraussetzt. Warum jedoch beschäftigt die Führungskreise gerade der Kommunikationsprozess zwischen dem Propheten und seinem Sekretär? Das Thema ist in 36 nicht neu: Der über die Satzstellung als erfragte Information markierte Ausdruck wyPimi durch sein Diktat hatte schon in 4b dazu gedient, in Kombination mit dem Verb btk schreiben die Entstehung der Buchrolle zu charakterisieren; in 6c kehrte die Verbindung in einem masoretischen Überschuss wieder. Mit dem Interview Baruchs durch die Patrizier nimmt sie den Charakter eines Leitworts an; in 27b wird die Phrase dann auf den Ursprung des Schriftstücks zurückschauen und in 32c die Herstellung des Ersatzexemplars schildern. Das Leitwort bekräftigt somit ausdauernd, dass die Buchrollen zwar unter Mitarbeit Baruchs entstanden, aber gleichwohl nichts anderes als die ureigenen Worte Jeremias enthielten. Mit anderen Worten: Wie die Urrolle und ihre Nachfolgerin erweisen, lässt sich die Beteiligung eines Schreibers uneingeschränkt mit der Authentizität des Textes versöhnen, und zwar aufgrund des mündlichen Diktats. Die beharrlichen Wiederholungen verleihen diesem Konzept in der Erzählung einen zentralen Rang. Bevor versucht werden kann, seine Bedeutung und Konsequenzen auszuschöpfen, muss erst die Auslegung zu Ende geführt werden. In MT ist der Nachdruck auf der Identität zwischen den jeremianischen Worten und ihrer schriftlichen Dokumentation nachgerade auf die Spitze getrieben. Im Dienste dieser Intention hat der späte Rezensor den Patriziern zunächst noch breiteres Vorwissen zugeschrieben, insofern sie jetzt von vornherein davon ausgehen, dass Baruch nach mündlichem Diktat Jeremias gearbeitet hat. Deshalb erkundigen sie sich bloß noch nach dem präzisen Modus innerhalb dieser Prozedur: Wie (%yae) hast du alle diese Worte nach seinem Diktat (wyPimi) geschrieben? (17c) Die seltsame Frage gibt Rätsel auf: Welchen Gestaltungsspielraum sollte die Methode des Diktats in den Augen der Patrizier dem Schreiber Baruch belassen haben? Entsprechend erstaunlich fällt die Antwort aus: Durch sein Diktat pflegt er mir alle diese Worte vorzusprechen (ar"q.yI), während ich mit Tinte in das Buch schreibe (bteKo; 18bc). Im Einklang mit 17c fehlt in 18b der Name Jeremia, da die Patrizier ja die Quelle des Textes bereits kennen. Weiterhin hat der Revisor in deutlicher Spannung zum Charakter des verlesenen Dokuments, das wahrscheinlich als singuläres Stück gedacht war (s. zu V. 2), die Mitarbeit Baruchs zu einer längst etablierten, regelmäßigen Sekretärstätigkeit verstetigt, indem er dem verbalen Prädikat von 18b eine yiqtul-Form für imperfektive Sachverhalte ver443

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lieh, hier solche habitueller Art.17 Außerdem hat er in 18c die Umstandsangabe mit Tinte beigefügt, die eine pure Selbstverständlichkeit ausspricht, aber den Zwängen gehorcht, die aus der Erweiterung von 17c erwuchsen. Denn wenn schon die Fragesteller vom Verfahren des Diktats ausgingen, verblieb für die Antwort kaum eine Alternative zur banalen Auskunft mit Tinte. Die masoretischen Sonderlesarten repräsentieren die Weiterentwicklung der an Baruch, Jeremia und das Buch geknüpften Konzepte: In 18b wurde die Mitarbeit des Schreibers, die sich der vormasoretische Text allem Anschein nach als Neuerung im Zuge der erzählten Ereignisse vorstellt, zu einer längst eingespielten, routinemäßigen Praxis ausgeweitet. In 18c ist die Abhängigkeit des Sekretärs von seinem Meister auf ein Maß erhöht, das Baruchs Eigenbeitrag notwendig auf den Gebrauch von Schreibmaterial beschränkte. Wie weitere Retuschen in 32ab bestätigen, wollte der prämasoretische Ergänzer das gesamte Buch entgegen dem von V. 32 AlT geförderten Eindruck (s. z. St.) auf die alleinige Autorschaft Jeremias zurückführen. Deshalb war jeder Zweifel auszuschließen, Baruchs Mitwirkung habe die Authentizität des Textes auch nur im Geringsten beschnitten. Radikaler als hier konnte der Rezensor seine Botschaft kaum mehr formulieren. 19 Derart über Baruchs Kooperation bei der Niederschrift der Orakel ins Bild gesetzt, reagieren die Patrizier mit dem dringenden Aufruf, er solle zusammen mit Jeremia in den Untergrund abtauchen: Verbirg dich, du und Jeremia! Niemand darf wissen, wo ihr seid! (19c–e) – also auch der König nicht. Damit verstoßen die Aristokraten eklatant gegen ihre Loyalitätspflichten, die ihnen strikt untersagten, die Schöpfer des brisanten Materials dem Zugriff des Herrschers zu entziehen (s. zu V. 16). So geben sie dem Lauf der Dinge eine Wendung, die angesichts der Fortsetzung für den Propheten und seinen Gefährten kaum weniger als die Rettung ihres Lebens bedeuten kann, weil man nach dem Übergriff Jojakims gegen die Urrolle von seinem Versuch, die beiden zu verhaften (26a), das Schlimmste befürchten musste. Kennzeichnend für die Handschrift der PR, wird die Aufforderung, ein Versteck aufzusuchen, nicht als Akt einer Fraktion hingestellt, sondern der gesamten Aristokratie zugeschrieben. Erzählerisch unabdingbar ist der Appell nicht, denn nachdem die Führungskreise ihre Absicht erklärt hatten, die Sache vor den König zu bringen, verliert der Plot nichts an Plausibilität, wenn sich Jeremia und Baruch aus eigenem Antrieb in Sicherheit bringen, und die Vv. 17–19 können fehlen, ohne eine Lücke zu hinterlassen. Die prinzipielle Entbehrlichkeit der Passage bestätigt, was schon die Signatur der PR anzeigt, kenntlich an dem Wort rp,se für die Buchrolle und der kollektiven Parteilichkeit der Patrizier für den wahren Propheten: Die Vv. 17–19 entstammen einem Nachtrag, und es war der Schöpfer der (vormasoretischen) Endfassung, der seinen Helden das Verdienst für das Überleben Jeremias und Baruchs zugesprochen hat. Zudem war es ihm wichtig, die Mitarbeit Baruchs an den Buchrollen mit charakteristischen Akzenten zu versehen, die in der zusammenfassenden Schlussbetrachtung zu entfalten sind.

17  Der Artikel in rp,Seh; das Buch widerspricht dem nicht, da das Hebräische oft auch solche Objekte bzw. Instrumente einer Handlung mit Artikel versieht, die andere Artikelsprachen als indeterminiert behandeln: JM § 137m 1).

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Ab V. 20 heißt die Urrolle wieder hL'gIm. (20b.21a usw.). Die Erzählung schweigt 20–21 zur Reaktion Baruchs, was wenig verwundert, wenn der Ratschlag zur Flucht einer anderen Hand entstammt; aber sie geht auch darüber hinweg, wie die Patrizier das Schriftstück von Baruch erhalten haben, das sich nunmehr in ihren Händen befindet. Eine Notiz wert ist dem Autor hingegen der Umstand, dass sie die Buchrolle keineswegs zum König mitnehmen, sondern einstweilen in ihrer Amtsstube, der Halle [des Schreibers] Elischama, deponieren (20b). Laut der Fortsetzung kann dieser wenig beachtete Erzählzug nicht als Vorsichtsmaßnahme zum Schutz des Dokuments gemeint sein, denn dem König wird der Zugriff dadurch mitnichten erschwert. Sobald Jojakim es wünscht, ordert er das corpus delicti einfach nach und findet in dem vorweg (14a) so aufwendig vorgestellten Jehudi einen willfährigen Helfer (21ab). Eher steht der beiläufige Zug im Dienste der Figurencharakterisierung: Für diese ältere Schicht nehmen die Aristokraten wie schon in 16b–d AlT, wo sie ungerührt beraten, zu Jeremia eine recht gleichgültige Haltung ein. Sie erstatten ihrem Oberhaupt zwar pflichtschuldig detaillierten Bericht (20c), geben aber gleichzeitig durch ihr Handeln zu verstehen, dass sie der Sache nur begrenzte Bedeutung beimessen. Deshalb bringen sie den Stein des Anstoßes zwar für alle Fälle in ihre Kontrolle, nehmen ihn aber nicht wichtig genug, um sogleich den König damit zu behelligen. Erst als dieser das Manuskript sehen will, liefern sie es umgehend nach. Infolgedessen kommt es zur dritten Verlesung der Rolle, diesmal aus dem Mund Jehudis und vor Jojakim, aber auch, wie der Erzähler nicht zu unterstreichen vergisst, vor allen Patriziern, die den König umstanden (21c), wie es sich für einen Hofstaat geziemt (vgl. 1 Kön 22,19). Damit werden die Führungskreise nun zum wiederholten Mal den Orakeln Jeremias ausgesetzt, und erneut richtet sich die Erzählspannung auf die Frage, wie sie reagieren werden. Nachdem der Autor den König zuvor mit auffälliger Detailgenauigkeit im Palasthof 22–23 verortet hatte (20a), entwirft er jetzt, obwohl die Darstellung der dritten Rezitation bereits eröffnet ist (21c), nochmals eine neue und aufwendige Szenerie. Ein Partizipial‑ (22a) und ein Nominalsatz (22b) schalten in den Erzählhintergrund, um Jojakim in seiner beheizbaren Winterkammer thronend zu zeigen (22a), wo, der Jahreszeit entsprechend (22a MT; 9a), in einem Becken ein Feuer lodert (22b), das der König für eine Symbolhandlung nutzen wird: Sobald Jehudi eine gewisse Weile aus dem in Spalten gegliederten Dokument vorgetragen hat (23a), schneidet er den verlesenen Teil ab und nutzt dazu ein Schreibermesser, das Werkzeug, mit dem man Schriftrollen auf die gewünschte Größe zurechtstutzte (23b). Dann liefert er das abgetrennte Stück den Flammen aus (23c1), bis das ganze Werk vernichtet ist (23c2–e). Als Urheber des Zerstörungsakts (er) lässt die Textoberfläche sowohl Jojakim als auch Jehudi zu, da die verbalen Prädikate von 23bc auf beide beziehbar sind. Aber die Alternative ist unerheblich, weil im zweiten Falle Jehudi ohnehin als Vollzugsorgan des Davididen handeln würde, auf den so oder so die Schuld am Geschehen zurückfällt (28e.29c.32d). Wenn die Schriftrolle vor der Verbrennung noch obendrein zerschnitten wird, um Stück für Stück ins Feuer zu wandern, dann zu dem Zweck, die Radikalität der Auslöschung zu unterstreichen. Wenn der Erzähler eine solche Szene schildert, will er natürlich den König als rabiaten Verächter des Gotteswortes geißeln. Freilich würde man den vollen Sinn der 445

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Aktion verfehlen, sähe man darin nur eine auf Effekt und Öffentlichkeitswirkung kalkulierte Methode der Verhöhnung. Überträgt man die berichteten Vorgänge in die reale Welt Jerusalems in den Tagen der babylonischen Zerstörung Aschkelons, ergibt sich folgendes Bild: Jojakim und seine Gesinnungsgenossen verstanden sich natürlich nicht als zynische Gottesfeinde, sondern im Gegenteil als die wahren Getreuen Jhwhs. Fest verwurzelt in der höfischen Zionstheologie, wie sie es waren, erkannten sie in der aktuellen Bedrohung seitens der babylonischen Übermacht den Ernstfall des Vertrauens auf jene Sicherheitsgarantien, die in den Zionspsalmen 46, 48 und 76 so hymnisch besungen werden und, wie sie meinten, dem Königssitz Jhwhs unbedingten Schutz gewährten. Sie dachten damit in denselben Bahnen, die auch in der Figur des Heilspropheten Hananja in 28 aufscheinen (s. dort). Und wie im Konflikt mit Hananja verkörperte Jeremia für seine Gegner das konzeptuelle Kontrastprogramm, nämlich mutlosen Unglauben und den Ausverkauf der geheiligten Traditionen. Schlimmer noch: Jeremia maßte sich an, im Namen Jhwhs zu sprechen, ein Anspruch, den die Ankläger in seinem Tempelprozess in Kap. 26 explizit als erschwerenden Tatbestand anführen (26,9a), der für seine Unheilsworte gegen den Tempel und die Stadt (26,6; vgl. 9bc) kein anderes Urteil als den Tod zulasse (26,8d.11b). Ebenso sollte hier der Inhalt der Schriftrolle prophetisch vermittelte Rede Jhwhs sein, die unter eben diesem Postulat bereits zweimal verkündet worden war (vgl. die Worte Jhwhs 4b.8a.11; MT 6b). Für einen magienahen Denkhorizont waren die Worte damit in die Welt entlassen und würden zwangsläufig Wirkung entfalten. Nach demselben Prinzip beauftragt Jeremia in 51,61 Seraja, den Bruder Baruchs, die Gerichtsansagen über Babylon vor ihrer Versenkung im Eufrat laut zu verlesen, um sie so in Kraft zu setzen, wozu typischerweise nicht einmal eine Hörerschaft vonnöten war. In den Augen Jojakims und seiner Gefolgsleute war Jeremias Mantik indes höchst gefährlicher Stoff, da bare Blasphemie, die Jhwh, wenn ihm keine Genugtuung geschähe, zu scharfen Reaktionen provozieren würde, schlimmstenfalls zum Schaden ganz Judas. Deshalb unterwirft der Herrscher die Orakel einer Prozedur, die nach traditioneller Sicht ihre Potenz neutralisierte: Er vernichtet den Schriftträger, mit dem Jeremias Prophetie eins geworden war, sodass sie eine materielle Qualität angenommen hatte, die dem König eine verwundbare Flanke zu ihrer Bekämpfung bot, denn Papyrus und Leder kann man verbrennen, das gesprochene Wort nicht. Seiner Tat liegt die Vorstellung zugrunde, dass „die Manipulation mit aufgeschriebenen Worten deren Inhalt manipuliert“ (Willi-Plein 119 f.). Folglich entzog die Zerstörung eines Schriftstücks dem darin enthaltenen Text seine Gültigkeit. Deshalb wurden im Alten Orient Verträge annulliert, indem man die Schriftträger, also namentlich die Tontafeln vernichtete, auf denen sie beurkundet waren.18 Nach dieser Logik widerrief Moses Zerschmetterung der Dekalogtafeln (Ex 32,19) den Bund, den Jhwh auf ihrer Basis eingegangen war, sodass ein abermaliger Bundesschluss mitsamt der Herstellung neuer Tafeln erforderlich wurde (Ex 34,1–29). Daher enthielten wichtige Schriftstücke 18  CAD 6 Ḫ 171b–173a im Eintrag ḫepû 2; Beispiele bei K. Radner, Die neuassyrischen Privatrechtsurkunden als Quelle für Mensch und Umwelt (State Archives of Assyria Studies 6), Helsinki 1997, 74–78.

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in ihren Kolophonen (Schlussbemerkungen) häufig Sicherungsklauseln in Form von Flüchen, die die Strafe der Götter auf jene herabriefen, die die Dokumente unbefugt verschwinden ließen oder zerstörten, wie etwa in folgenden Beispielen: Wer Anu und Antu verehrt, möge sie (d. h. die Tontafel) bewahren und wertschätzen, durch Diebstahl nicht wegtragen, absichtlich nicht in Abgang geraten lassen; bis zum folgenden Tag möge er sie ins Haus ihres Eigentümers zurückbringen. Wer sie wegträgt, den mögen Adad und Šala hinwegraffen! Bei Nabû und Marduk, tilge die Inschrift nicht! Wer die Inschrift tilgt, den wird Marduk böse anschauen. Wer auch immer diese Tafel abreibt oder ins Wasser wirft oder sie liest, sie aber den, der sie nicht kennt, nicht hören lässt, den mögen Aššur, Sîn, Šamaš, Adad und Ištar, Bēl, Nabû, Nergal, Ištar von Ninive, Ištar von Arbela, Ištar von Bīt-Kidmurri, die Götter des Himmels, der Erde und die Götter des Landes Assur allesamt mit einem schlimmen, unlöslichen Fluch verfluchen und, solange er lebt, kein Mitleid mit ihm bekommen, seinen Namen, seinen Samen aus dem Land entfernen, sein Fleisch in das Maul eines Hundes werfen! Wer (die Tafel) wegträgt, den möge Nudimmud hinwegraffen! Wer (sie) durch Diebstahl stiehlt, gewaltsam wegnimmt, den möge Lugalgirra, der Starke der Götter, der Mächtige der Götter, die „wilde Schlange“ der Götter, mit seinen wütenden Waffen niedermetzeln!19

Ebenso verfuhr man bei Inschriften. So heißt es in der Behistun-Inschrift Darius’ I. (522–486) aus den Jahren 520–518: Wenn du diese Inschrift erblickst oder diese Bildwerke, sie zerstörst und nicht, solange du bei Kräften bist, sie erhältst, möge Ahuramazda dich schlagen. Und du mögest keine Nachkommenschaft haben. Und was du unternimmst, das möge Ahuramazda dir zunichte machen.20

Der assyrische König Asarhaddon ließ in solchen Flüchen auch die Verbrennung des Schriftträgers aufzählen, so in der folgenden Steleninschrift aus Sam’al (heute Zinçirli in der Südosttürkei): Wer dieses Denkmal von seinem Ort entfernt, meinen geschriebenen Namen auslöscht und seinen Namen hinschreibt, wer es mit Staub bedeckt, ins Wasser wirft oder mit Feuer verbrennt oder aber an einen finsteren Ort verbringt, dessen Männlichkeit möge Ištar, die Herrin des Kampfes und der Schlacht, weiblich machen und ihn gebunden zu den Füßen seines Feindes niedersitzen lassen.21

19  H. Hunger, Babylonische und assyrische Kolophone (AOAT 2), Kevelaer, Neukirchen-Vluyn 1968, Nr. 96, S. 41 f.; Nr. 235, S. 79; Nr. 291, S. 89 f.; Nr. 351, S. 110. Dort zahlreiche weitere Beispiele. 20  Behistun § 67: R. Borger, W. Hinz, Die Behistun-Inschrift Darius’ des Großen, TUAT I.4 (1984) 419–450, 446. Vgl. R. Schmitt, Die altpersischen Inschriften der Achaimeniden. Editio minor mit deutscher Übersetzung, Wiesbaden 2009, 36–91, 85. 21  Asarhaddon Monument A Rs. 53–56: R. Borger, Die Inschriften Asarhaddons, Königs von Assyrien (AfO.B 9), Graz 1956, 96–100, 99; vgl. E. Leichty, The Royal Inscriptions of Esarhaddon, King of Assyria (680–669 BC) (The Royal Inscriptions of the Neo-Assyrian Period 4), Winona Lake 2011, Nr. 98, 181–186, 186. Online: http://oracc.museum.upenn.edu/rinap/corpus/, Esarhaddon 098 (Abruf: 27. 2. ​2017).

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Dasselbe Motiv kehrt wieder in den bereits erwähnten Loyalitätseiden Asarhaddons (s. zu V. 16). Die Parallele besitzt deshalb gesteigerte Aussagekraft, weil ihr Wortlaut mit Sicherheit in Juda bekannt war (s. zu 26,2): Wer den Eid dieser Tafel verändert, missachtet, dagegen verstößt und ihn beseitigt, (diesen) Loyalitätseid missachtet und ihren Eid bricht, diese Tafel des Loyalitätseides fortschafft, den sollen Aššur, der König der Götter, und die großen Götter meines Herrn verfluchen. … Wenn ihr diese Tafel des Loyalitätseides, die mit dem Siegel des Gottes Aššur, des Königs der Götter, gesiegelt und vor euch hingelegt ist, nicht wie euren Gott bewahrt, wenn ihr diese Tafel des Loyalitätseides fortschafft, dem Feuer übergebt, ins Wasser werft, in die Erde vergrabt, durch irgendeine Manipulation zerstört, vernichtet oder unleserlich macht, so soll Aššur, der König der Götter, der das Schicksal bestimmt, Übel und Unglück als euer Schicksal bestimmen, kein sattes Alter, kein hohes Alter gewähren.22

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Nach diesen Zeugnissen stand Jojakim mit seiner Methode in der damaligen Welt nicht alleine da. Jojakim nutzt also seinen Zugriff auf das Dokument, um das Geschriebene seiner Kraft zu berauben. Wenn er die Schriftrolle vorweg nochmals verlesen lässt, dann offenbar nicht zu seiner Information über ihren Inhalt, denn darüber ist er laut 20c schon hinreichend im Bilde. Stattdessen scheint auch hier ein magisches Konzept den Ausschlag zu geben: Die laute Proklamation stellt gewissermaßen die Jeremiaworte samt ihrer Wirkmacht in den Raum, sodass sie den Gegenmaßnahmen des König vollends ausgeliefert sind. Ebenso ist die Zerstörung des Konvoluts keine bloße Bücherverbrennung zu dem Zweck, die Weiterverbreitung des Inhalts zu unterbinden, denn dafür wäre die erneute Rezitation sogar eher kontraproduktiv gewesen. Vielmehr vollzieht Jojakim einen numinosen Akt, der nach Art prophetischer Zeichenhandlungen eine Wirklichkeit nicht nur repräsentieren, sondern herstellen soll: Er unternimmt einen magischen Versuch der Entmächtigung. Zu solchen Symbolhandlungen gehört normalerweise ein Deutewort, dessen Aufgabe hier ein Äquivalent in Gestalt eines vorwurfsvoll eingeleiteten Zitats aus dem verbrannten Dokument übernimmt (29d–g). Seine Mitteilung muss bis zu jenem vorgerückten Stand der Erzählung warten, weil der Autor Gründe hatte, nähere Angaben über den Inhalt der Rolle bis zu dem Gerichtswort in V. 29–30 aufzuschieben (s. z. St.). Deshalb schilderte er auch die dritte Verlesung der Schriftrolle, ohne auf ihren Inhalt einzugehen, und teilte das Deutewort zum Zeichenakt des Königs erst mit, als er den richtigen Moment für einen Blick in Jeremias Prophezeiungen gekommen sah. Literatur: C. Bender, Die Sprache des Textilen. Untersuchungen zu Kleidung und Textilien im Alten Testament (BWANT 177), Stuttgart 2008, 148–153.

Nicht nur der König, auch seine Umgebung versagt. Welche Reaktion dem Gehörten gebührt hätte, stellt der Verfasser klar, indem er ihr Ausbleiben anprangert: 22  VTE § 35–37, Z. 397–416. Edition und Kommentar: Parpola  – Watanabe, Neo-Assyrian Treaties (s. o. S. 441, Anm. 13), 45; Watanabe, Die adê-Vereidigung (ebd.), 162 f. Online: http:// oracc.museum.upenn.edu/saao/corpus (Abruf: 27. 2. ​2017). Übersetzung: E. Otto, Deuteronomium 1,1–4,43 (HThKAT), Freiburg 2012, 540 = ders., Deuteronomium 12–34. Erster Teilband: 12,1–23,15 (HThKAT), Freiburg 2016, 1235.

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tiefe Bestürzung, die ihr Ausmaß in dem traditionellen Gestus des Einreißens der Kleider offenbart. Indem er ferner für Jojakims Zerschneiden der Schriftrolle dasselbe Verb verwendet wie für das unterbliebene Einreißen der Kleider ([rq reißen), exemplifiziert er den Kontrast zwischen Sein und Sollen an einer symptomatischen Differenz, insofern die Anwesenden ihre volle Niedertracht gerade darin verraten, dass sie das Richtige am falschen Gegenstand tun: Der Herrscher und seine Höflinge – hier bezeichnenderweise nicht ~yrIf' Patrizier, sondern wyd"b'[] seine Diener genannt –, hätten ihre Kleider einreißen müssen (24b); stattdessen hat der Davidide die Buchrolle zerrissen (so wörtlich 23b). Der Akt des Zerreißens, wie von der Situation verlangt, wird zur himmelschreienden Sünde, indem er auf das verkehrte Objekt gelenkt wird. Ein Schreiber in der alexandrinischen Texttradition hat wahrgenommen, wie die Kaltblütigkeit Jojakims und seines Gefolges vom Verhalten Joschijas absticht, der, nachdem ihm das im Tempel entdeckte „Buch der Tora“ vorgetragen worden war, seine Kleider einriss (2 Kön 22,11). Deshalb vertauschte dieser Revisor in 24a die Verbalform Wdx]p' sie erschraken (nicht) gegen Wvr>D" sie befragten (nicht, d. h. Jhwh durch einen Propheten), angelehnt an Joschijas Auftrag zur Befragung Jhwhs durch die Prophetin Hulda (2 Kön 22,13), um so eine Kontrastparallele zwischen den beiden Szenen in 36,21–24 und 2 Kön 22,10–13 zu schaffen und Jojakim als negatives Gegenbild seines Vaters herauszumodellieren.23 Wie der Erzähler mit einer frei invertierten x-qatal-Formation für eine Rückblende 25 in die Vorvergangenheit nachträgt, war der König mit seiner Untat an der Schriftrolle fortgefahren, obwohl ihn drei der anwesenden Höflinge zur Mäßigung gedrängt und sich dadurch zu Jeremia bekannt hatten (25a), typischerweise aus jenem Kreis, den PR in V. 10 und 12 aus dem Figurenbestand der Erzählung für eine ausführliche Vorstellung ausgewählt hatte, darunter namentlich der Schafanide Gemarja, der Baruch den Vortrag der Rolle in seiner Räumlichkeit am Tempel ermöglicht hatte (s. z. St.). In 25a tritt das realistischere Bild der spätvorexilischen judäischen Aristokratie zutage, wie es die hL'gIm.-Schicht zeichnet, wonach die Führungskreise über den Umgang mit der babylonischen Bedrohung tief zerstritten waren und nur eine Minderheitsfraktion dem Propheten anhing, indem sie sich dem grassierenden zionstheologischen Enthusiasmus verwehrte. Ein prämasoretischer Ergänzer hob hervor, dass es nicht an jenen tapferen Unterstützern lag, wenn Jojakim sich nicht beirren ließ (25b). Der Davidide sendet im Gegenteil seine Schergen aus, um Baruch und Jeremia zu 26 verhaften (26a). Der Greiftrupp ist hochkarätig besetzt: Den Vortritt hat ein im AT sonst nicht erwähnter Königssohn namens Jerachmeël.24 Weil Jojakim seinerzeit erst 23 Häufig wird auch MT als Kontrastparallele zu 2 Kön 22,10–13 interpretiert, doch wie der Rückverweis auf 23b zeigt, soll 24b einen innertextlichen Gegensatz hervorheben. Zudem ist in 2 Kön 22,11 keine Rede davon, dass neben Joschija auch Mitglieder seines Hofstaats ihre Kleider eingerissen hätten. Allerdings ist der Bericht von der joschijanischen Reform in 2 Kön *22–23 auf jeden Fall älter als die Grundschicht von Jer 36; vgl. H.-J. Stipp, Ende bei Joschija. Zur Frage nach dem ursprünglichen Ende der Königsbücher bzw. des Deuteronomistischen Geschichtswerks, in: ders., Alttestamentliche Studien. Arbeiten zu Priesterschrift, Deuteronomistischem Geschichtswerk und Prophetie (BZAW 442), Berlin 2013, 391–439. 24  Im Antikenhandel wurde eine Bulle (s. o. zu V. 10) mit der Aufschrift lyrḥm’l bn hmlk: dem Jerachmeël, dem Sohn des Königs, (gehörig) erworben; vgl. Avigad, Bullae 27 f., Nr. 8; Avigad – Sass,

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knapp dreißig Jahre alt war (vgl. 9a mit 2 Kön 23,36), wird mitunter bezweifelt, dass Jerachmeël ein Sohn Jojakims gewesen sein könne. Doch wurden in Juda die Herrscher bei Bedarf schon in sehr frühem Alter inthronisiert;25 deshalb ist gut vorstellbar, dass ein minderjähriger Prinz mit der Rolle des protokollarischen Befehlshabers betraut wurde, um den Rang der Aktion als Chefsache zu unterstreichen.26 Jedenfalls war Jerachmeël ein wichtiger Davidide, und der Verfasser hat ihn unter die Häscher Jeremias eingereiht, um ihn im Vorblick auf 30b prophylaktisch zu diskreditieren, sodass dieser Prinz nicht nur wegen des göttlichen Strafworts für seinen Vater, sondern auch wegen seines eigenen Übergriffs gegen den wahren Propheten für die Thronfolge disqualifiziert war. Ihm assistiert Seraja ben Asriël, der amtierende oder angehende Oberpriester, der 587 von Nebukadnezzar als einer der Rädelsführer der antibabylonischen Partei in Juda hingerichtet wurde;27 dazu ein sonst unbekannter Schelemja ben Abdiël. Was Jojakim mit Baruch und Jeremia im Schilde führte, darf sich das Publikum im Lichte des Vorspiels selbst zusammenreimen; die Kenntnis von 26,20–23 besagt ein Übriges. Doch nach der alexandrinischen Textform wissen sich die beiden zu entziehen (WrteS'yIw: sie verbargen sich 26b AlT). Da der Narrativ primär Progress, also einen Handlungsfortschritt bezeichnet, scheint er noch die Vorstellungen der Quelle zu repräsentieren, die keine Warnung durch die Patrizier (Vv. 17–19) kannte, sodass die Verfolgten erst einen Unterschlupf aufsuchten, nachdem sie von den Vorgängen bei Hofe Wind bekommen hatten. Aber wie dem auch sei: Auf der vormasoretischen Entwicklungsstufe der Erzählung stellt sich nun heraus, dass der Prophet und sein Vertrauter ihr Leben den Aristokraten verdankten, weil diese ihnen den entscheidenden Rat zum Untertauchen gaben; mithin ergibt sich eine ähnliche Konstellation wie in den patrizischen Zusätzen zu 26. Ein prämasoretischer Bearbeiter hat dagegen tiefer bedacht, wer da im Hintergrund die Fäden gezogen haben musste, und deshalb die Rettungstat ausdrücklich in Jhwhs Hände gelegt (26b MT). Außerdem hat er Baruch mit dem ehrenvollen Titel der Schreiber versehen, der Jeremias Vertrauten explizit zur hochgebildeten gesellschaftlichen Elite zählte, wenn nicht sogar einen Spitzenposten in der judäischen Verwaltung für ihn reklamierte (26a; nochmals 32b). 27 Jojakim hat sich in Gegenwart führender Repräsentanten des judäischen Gemeinwesens durch eine Zeichenhandlung anheischig gemacht, dem Gotteswort seine Wirkkraft zu entziehen und den Propheten samt seinem Stellvertreter auszuschalten; er hat somit die Dreistigkeit besessen, Jhwh selbst demonstrativ herauszufordern, mit Corpus 175, Nr. 414; HAE II.2 10.74. Wegen der Häufigkeit von Fälschungen bei dieser Gattung von Artefakten ist jedoch von der historischen Auswertung des Stücks abzusehen, bis seine Echtheit zweifelsfrei erwiesen ist; vgl. C. Uehlinger, Spurensicherung: alte und neue Siegel und Bullen und das Problem ihrer historischen Kontextualisierung, in: S. Lubs (u. a., Hg.), Behutsames Lesen. Alttestamentliche Exegese im interdisziplinären Methodendiskurs (FS C. Hardmeier; ABG 28), Leipzig 2007, 89–137. 25  Joasch im Alter von 7 Jahren: 2 Kön 12,1; Asarja mit 16 Jahren: 2 Kön 15,2; Manasse mit 12 Jahren 2 Kön 21,1; Joschija mit 8 Jahren: 2 Kön 22,1. 26 Vgl. 1 Kön 22,26–27, wo ebenfalls ein Prinz mit Polizeiaufgaben befasst ist. 27  2 Kön 25,18.21 || Jer 52,24MT.27; vgl. 1 Chr 5,39 f., wo Serajas Vater die Namensvariante Asarja trägt.

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dem Resultat, dass es die Buchrolle mit den Worten Jhwhs – im Endtext: die Urrolle – nicht mehr gab und der Prophet und sein Mitarbeiter Zuflucht in einem Versteck suchen mussten, sodass ihnen auch noch die letzten Möglichkeiten der Verkündigung genommen waren (vgl. V. 5–6). Damit ist der Handlungsfaden an einem Punkt angelangt, an dem Jhwh das Geschehene unmöglich tatenlos auf sich beruhen lassen konnte. Liest man das erzählte Geschehen vor dem Hintergrund der Zerstörung Aschkelons, fällt vor allem auf, was die Erzählung jetzt nicht berichtet: nämlich dass die in einer Entfernung von einigen Dutzend Kilometern aufmarschierten Babylonier nun gen Jerusalem aufbrächen und als Jhwhs Strafwerkzeug an dem vermessenen davidischen Potentaten die verdiente Vergeltung vollzögen. Wie wenig später ein Zitat aus dem verbrannten Dokument bestätigen wird (29e–g), musste in einem realweltlichen Szenario das Ausbleiben genau dieser Konsequenz den Anschein erwecken, als ob Jeremia von Jhwh demonstrativ als Falschprophet desavouiert worden sei. Wenn daher Jhwh nicht eingriff, indem er die Babylonier auf den Plan schickte, musste er es auf andere Weise tun. Deshalb wendet sich der dritte Abschnitt der Ersetzung der zerstörten Urrolle und der Ansage von Straffolgen für Jojakim zu. Den Beginn des neuen Aktes markiert eine an Jeremia adressierte Wortereignisformel, die anders als ihre Vorgängerinnen in V. 1 und 9 keine absolute Datierung enthält, sondern eine relative, die ohne neue Information einfach auf die Vernichtung des Dokuments, also den bekannten Vortext, rekurriert und damit den Eindruck unverzüglicher Reaktion fördert; Jhwh verliert also keine Zeit und antwortet umgehend (für ein analoges Verfahren in analoger Situation vgl. 28,12). Wenn der Autor das Objekt der Verbrennung, die Schriftrolle, mit der Erläuterung versah die Worte, die Baruch nach dem Diktat Jeremias niedergeschrieben hatte, so rief er einerseits jenen zentralen Leitgedanken der Erzählung ins Gedächtnis, der auf eine bestimmte Arbeitsweise des Schreibers pocht (s. zu V. 18); andererseits erinnerte er an die Logik, die der Symbolhandlung Jojakims zugrunde lag: die eigentliche Zielscheibe des Auslöschungsbestrebens war nicht das Schriftstück, sondern das Geschriebene, weil der König die Bewahrheitung der Worte verhüten wollte. Die so eingeleitete Gottesrede fordert den Propheten nach AlT zunächst in schlich- 28 ten Worten auf, den Inhalt der zerstörten Rolle in eine andere zu kopieren. Damit soll nicht bloß ein verlorenes Dokument ersetzt werden; mehr noch geht es darum, Jojakims Entmächtigungsversuch seinerseits durch ein überbietendes Gegenzeichen zu annullieren. Auffälligerweise fehlen der alexandrinischen Fassung die Qualifikation der Worte (28c) und der zerstörten Rolle (28d) als frühere bzw. erste; damit übergeht sie gerade jene Merkmale, die dem Schriftstück seinen singulären Status als Urrolle verleihen. Offenbar hat erst PR das Dokument mit diesem außerordentlichen konzeptionellen Rang ausgestattet (V. 2), und zwar aus Gründen, die die zusammenfassende Auslegung klären muss. In der prämasoretischen Phase hat man die Differenz nivelliert und neben weiteren Retuschen die betreffenden Adjektive nachgetragen. Zugleich hat man damit den Gottesbefehl an Jeremia dem Auftrag Jhwhs an Mose angenähert, nach der Zerstörung des ersten Paares von Dekalogtafeln ein Ersatzpaar herzustellen, wie in Ex 34,1 ausgesprochen und in Dtn 10,1–2 wörtlich (bis auf eine variierte Verbform) zitiert: 451

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36,28a–e tr c Dtn 10,2a: … bTok.a,w> T'r>B;vi rv,a] e ~ynIvoarIh' txoLuh;-l[; Wyh' rv,a] d = Dtn 10,2bc b Meißele dir zwei Steintafeln wie die ersten, c und ich werde auf die Tafeln die Worte schreiben, d die auf den ersten Tafeln gestanden hatten, e die du zerschmettert hast.

Die beiden Passagen ähneln einander in geschildertem Vorgang, Wortwahl und Satzbau. Ein später Ergänzer hat die Übereinstimmungen erweitert, indem er aus Ex 34,1d || Dtn 10,2b zumindest das Adjektiv hn"voarIh' die erste (Rolle) in 28d übertrug (die Präpositionalverbindungen ^l. dir 28b und h'yl,[' darauf 28c können auch aus 2ab stammen). Freilich stehen neben den Parallelen auch beachtliche Unterschiede. Weniger gewichtig sind jene Differenzen, die aus den abweichenden Umständen resultieren: Jeremia braucht das Schreibmaterial – die Buchrolle – nur zu besorgen, Mose muss die Steintafeln eigens herstellen; Jeremia wird zum Beschriften aufgefordert, auf die Dekalogtafeln schreibt Jhwh selbst. Gravierender sind jene Gegensätze, die dem rahmenden Geschehen ein grundsätzlich anderes Gepräge verleihen: Die Zerstörung der Buchrolle war ein Verbrechen, während die ersten Gesetzestafeln einem der Situation angemessenen und von Gott nirgends getadelten Zornesausbruch Moses zum Opfer fielen (Ex 32,19); die Wiederherstellung der Schriftträger bekräftigt zwar in beiden Fällen ihren Inhalt, der jedoch bei Jeremia für Gericht, bei Mose für einen Neubeginn steht. Das Verhältnis der beiden Passagen wird daher wie folgt zu bestimmen sein: Angesichts der deutlich schmäleren Gemeinsamkeiten der alexandrinischen Ausgabe von V. 28 mit Ex 34,1 und Dtn 10,1–2, die dem prämasoretischen Ergänzer erst sein Betätigungsfeld eröffneten, kommt allenfalls eine Abhängigkeit der Pentateuch-Belege von JerAlT in Betracht, nicht umgekehrt. Aber selbst das ist zweifelhaft, denn diese Parallelen können sich spontan aus der strukturellen Ähnlichkeit der Situationen ergeben haben, nämlich dem gleichartigen Auftrag, für einen zerstörten Schriftträger Ersatz zu beschaffen. Ein prämasoretischer Revisor hat die Anklänge bemerkt und sie konflationär gefestigt, wie er dies auch andernorts tat (Stipp, Sondergut 106–108). In seinem Bemühen hat sich die keimende Überzeugung von der Existenz und Einheit eines Kanons autoritativer Schriften niedergeschlagen. 29 Erheblich größeres Augenmerk wendet die Gottesrede ihrem zweiten Anliegen zu, der Verurteilung Jojakims, die formgerecht in einem Gerichtswort erfolgt (Vv. 29–31). Der einleitende Befehl an Jeremia (29a) fordert in AlT dem Wortsinn nach nur, das Orakel zu deklamieren (T'r>m;a'w> du sollst sagen), während die Ausrichtung nicht erwähnt wird. Davon unbefriedigt, fügte ein prämasoretischer Bearbeiter wenigstens den Adressaten der Prophezeiung hinzu. Folglich rechnete die ältere Ausgabe noch 452

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nicht damit, dass Jeremia unter den gegebenen Umständen dem König die Strafansage würde übermitteln können; wie in 51,59–64d (s. z. St.) sollte das bloße Aussprechen des Fluchs das eigentlich gewünschte Ziel – das Eintreffen des Unheils – sicherstellen. Dieser Realismus ist ein weiteres Indiz für die zeitnahe Entstehung der Quelle (vgl. hL'gIm. 29c; Näheres s. u.); zudem verleiht er der Überlieferung von Jojakims Zerstörung des Orakelkonvoluts historische Glaubwürdigkeit, denn ein fiktiver Stoff hätte für Jeremia von vornherein eine schmeichelhaftere Rolle vorgesehen. Allerdings hat der Autor geschickt aus der Not eine Tugend gemacht, indem er die Strafansage zusätzlich als Deuterede zur Herstellung des Ersatzdokuments einsetzte und so den Akt zu einer Symbolhandlung erhob, die als Gegenzeichen die Symbolhandlung Jojakims übertrumpft. Der Schuldaufweis 29c–g wirft dem Herrscher die Verbrennung der Schriftrolle vor und trägt in diesem Rahmen nunmehr auch die Worte Jojakims nach, die dessen spektakuläre Tat begleitet hätten, indem sie als Äquivalent einer Deuterede dienten und so den Akt als Zeichenhandlung markierten (29d–g). Das Zitat besteht seinerseits aus einem Vorwurf an Jeremia, gekleidet in eine anklagende Warum-Frage (29d; s. zu 26,9), die die Orakel in der Buchrolle verdammt. Weil Jojakim deren Inhalt an einem Textauszug exemplifiziert (29e–g), lüftet der Erzähler jetzt endlich ein wenig den Schleier, was genau in dem zerstörten Schriftstück stand. Die drei knappen Sätze ziehen die Summe dessen, worin der König, wie vom Erzähler porträtiert, den Sachkern von Jeremias Prophetie erblickt: in der durchgreifenden Verwüstung Judas durch die Babylonier (29ef). Diese Aussage hat in den wahrscheinlich authentischen Partien des Buches durchaus einen Anhalt,28 ebenso wie das drastische Unheilspanorama, das die Katastrophe in der Ausrottung von Mensch und Tier gipfeln sieht (29g), entsprechend der buchtypischen Neigung, Kriegsfolgen in Juda und andernorts als totale Entvölkerung zu beschreiben.29 Jojakims Kurzformel von Jeremias Prophetie ist indessen gleichermaßen aufschlussreich für das, was sie sagt, wie für das, was sie verschweigt. Naturgemäß kann der König das Zitat aus der Schriftrolle nicht als Gotteswort deklarieren, sei es durch Botenformel oder das Ich Jhwhs, denn er vermag hier keine Offenbarung, sondern nur Blasphemie zu erkennen, und folgerichtig ist der Text auf der Rolle für ihn lediglich von Jeremia geschrieben (29d; typisch für die Grundschicht, ist von einer Beteiligung Baruchs keine Rede). Das Kerygma des Propheten beschränkt sich in Jojakims Optik auf den Untergang Judas, der unbedingt und unbegründet eintreffen wird; es wird kein Rettungsweg gewiesen, nicht einmal durch Unterwerfung vor den Angreifern (wie in 27,11; 38,17.20), noch wird erwogen, ob die Not eine Antwort Jhwhs auf Missstände sein könne, deren Behebung das Gericht noch abwenden würde. Selbstverständlich redet hier nicht der wahre Jojakim, sondern sein vom Erzähler gemaltes Abbild, sodass uns die Prophetie Jeremias in doppelter polemischer Verkürzung entgegentritt: 29e–g ist ein polemisches Resümee der polemischen Sicht von Jeremias Verkündigung in den Augen seines obersten Gegenspielers. Hier wird dem exemplarischen Widersacher des Propheten 28 Vgl.

29 Vgl.

z. B. 4,6–7.20.26–27; 5,10*.17; 6,3–8; 8,16; 9,9–11.18; 10,20–22; 12,9–12. z. B. 2,6.15; 4,7.25.29; 6,8; 9,9–11 u. v. a.; s. Kon 66, 148f.

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bescheinigt, aus Jeremias Botschaft nur die nackte Unheilsansage wahrzunehmen, womit für ihn das Urteil über den Offenbarungsanspruch schon gefallen ist. Schieres Unrecht dürfte dem König damit freilich nicht geschehen sein, denn aus der Warte heilsenthusiastischer Zionstheologie konnten Orakel wie das zitierte schlechterdings nur falsch sein. Wenn die Leser von 36 bis zu diesem späten Erzählschritt auf konkrete Auskünfte über den Inhalt der Urrolle warten müssen, dürfte dies den Erklärungsnöten geschuldet sein, denen sich der Verfasser der Grundschicht ausgesetzt sah, weil Jeremias Unheilsprophetie seinerzeit trotz einer erstklassigen Gelegenheit nicht eingetroffen war. Der Autor schob daher die brisante Information auf bis zu dem Gerichtswort, das seine Version der Geschichte abschloss, um dort das Zitat aus der Urrolle in den Schuldaufweis einzugliedern. Auf diese Weise kam die einstweilen unerfüllte Prophetie erst dann zur Sprache, als ihr ein nunmehr aktuelles Orakel an die Seite trat. 30 Das Drohwort wird gattungstypisch durch eine (erneute) Botenformel mit !kel' darum (30a) vom Scheltwort abgesetzt. Redete der Schuldaufweis den Herrscher an (29c), spricht die Strafansage nun in 3. Person über ihn. Der Wechsel der Sprechrichtung markiert eine literarische Naht, aber nicht aufgrund sekundärer Nacharbeit, sondern wegen der Einschmelzung älterer Sprüche, die sich in 3. Person auf ihre Adressaten bezogen. Zu 30bc bietet die Königsspruchsammlung des Buches parallele Unheilsweissagungen, die ebenfalls in 3. Person auf ihre Empfänger verweisen. Die Drohung des ausbleibenden Thronerben 30b ähnelt 22,30d aus dem Wort über Jojachin 22,24–30, von dem weiter unten zu zeigen ist, dass das abschließende Verdikt V. 30 ursprünglich auf Jojakim gemünzt war und erst nach Nichterfüllung auf Jojachin umgewidmet wurde. Die Verweigerung der Beisetzung 36,30c entspricht der Ankündigung eines Eselsbegräbnisses für Jojakim in 22,19. In 30bc hat der Autor also vorformuliertes Material verwertet. Die letztere Prophezeiung erzeugt einen zusätzlichen innertextlichen Verweis, insofern das Verb für das Werfen des Leichnams ($lv‑H) auf den identischen Ausdruck anspielt, der den Akt beschreibt, mit dem Jojakim die Fetzen der Urrolle dem Feuer anheimgab (23c). Die Strafe für Jojakim erhält so eine talionische Note (s. zu 30,16). Die beiden Orakel, wenn nicht schon ursprünglich zusammengehörig, verbinden sich jedenfalls zu einem kohärenten Bild von Jojakims Ende: Seine Linie der Davididen werde in Thronstreitigkeiten den Kürzeren ziehen, wobei dem König sogar eine ordentliche Bestattung versagt bliebe, eine besonders schändliche Behandlung  – was möglicherweise als Ansage eines erfolgreichen Attentats zu verstehen war. Weil am Begräbnis überdies die Totenruhe hing, war seine Verweigerung ein umso härteres Schicksal.30 Die Echtheit der Orakel wird durch die Tatsache gestützt, dass sie, wie in den Bemerkungen zur Textgenese festgestellt, nicht eingetroffen sind: Jojakim wurde standesgemäß beigesetzt, und seine Nachfolge trat sein Sohn Jojachin an, wenn auch nur für wenige Monate. Ob der in 26a erwähnte Jerachmeël ebenfalls zeitweilig ein Thronprätendent gewesen ist, der aus unbekannten Gründen nicht zum Zuge kam, muss offen bleiben. 30  Vgl. Num 14,33; 1 Sam 17,46; 1 Kön 14,11; 16,4; 21,23–24; 2 Kön 9,35–37; 23,16; Jes 14,19; 34,3; 66,24; Jer 8,1–2; 14,16; 16,4.6; 41,7.9; Ez 6,5; Am 8,3; Koh 6,3.

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Nach den textgenetischen Indizien endet mit V. 30 die von dem patrizischen Redaktor verarbeitete Quelle. Der Befehl zur Herstellung einer neuen Schriftrolle V. 28 und das Gerichtswort V. 29–30 bilden ein befriedigendes Finale, da die Erfüllung von Prophetenaufträgen sich in derlei Erzählungen von selbst versteht,31 wie schon der Redebefehl 29a illustriert, der niemals einen Ausführungsbericht erhielt und ursprünglich (vgl. AlT) gar keine Ausrichtung an Jojakim verlangte. Wann mag das Dokument entstanden sein, und für welchen Zweck war es bestimmt? Obgleich es bloß fragmentarisch erhalten ist, zeichnen sich hinreichend markante Umrisse ab. Die Fabel besitzt strukturelle Parallelen mit 28*, der Erzählung von Jeremias Konflikt mit dem Heilspropheten Hananja, die ereignisnah entstanden ist (s. z. St.). In beiden Quellen ist Jeremia in öffentliche Konfrontationen mit prominenten Gegnern verwickelt, die – nach ihrem Auftreten zu schließen – einer heilsenthusiastischen Spielart der Zionstheologie anhängen. Dabei inszenieren sie erfolgreich und unbehelligt symbolische Akte zur demonstrativen Entmächtigung seiner Prophetie: Hananja zerbricht in einem prophetischen Gegenzeichen Jeremias Jochgeschirr (28,10–11c), Jojakim verbrennt die Buchrolle mit seinen Orakeln (36,23.29d–g). Als sei dies nicht demütigend genug, streben die Vorgänge Tiefpunkten entgegen, die den Eindruck endgültiger Niederlagen Jeremias erwecken können: Er muss vor Hananja geschlagen das Feld räumen (28,11d) und vor Jojakim in den Untergrund fliehen (36,26). Im letzteren Falle kommt erschwerend hinzu, dass der angedrohte Angriff der Babylonier ausbleibt. Jeremias desaströse Lage wendet sich, als ihm eine neue Offenbarung zuteilwird, eröffnet jeweils von Wortereignisformeln, die durch yrEx]a; + Infinitivus constructus nachdem … datiert sind und so einen identischen, im AT einzigartigen Bau aufweisen: 28,12 hj'AMh;-ta, […] hy"n>n:x] rAbv. yrEx]a; hy"m.r>yI-la, hw"hy>-rb;d> yhiy>w: Da erging das Wort Jhwhs an Jeremia, nachdem Hananja […] die Jochstange entzweigebrochen hatte 36,27a hL'gIM.h;-ta, %l,M,h; @rof. yrEx]a; Why"m.r>yI-la, hw"hy>-rb;d> yhiy>w: Da erging das Wort Jhwhs an Jeremia, nachdem der König die Rolle verbrannt hatte

Diese lexikalischen und syntaktischen Übereinstimmungen verbinden sich mit weiteren strukturellen Gemeinsamkeiten. Zunächst sind es neue Aufträge von Jhwh, die den Umschwung herbeiführen: In 28 soll Hananja erfahren, dass sein prophetisches Gegenzeichen die Knechtung der Völker der Welt durch die Babylonier bloß verschärft hat (28,13–14); in 36 soll Jeremia seinerseits ein prophetisches Gegenzeichen vollziehen, indem er die zerstörte Schriftrolle ersetzt und in seinem Deutewort den Abbruch von Jojakims Linie der Davidsdynastie ankündigt (36,28–30 AlT). Allerdings erreicht Jeremia mit seinen Reden jetzt nur noch eine ungleich kleinere Hörerschaft als bei den Ereignissen, die ihn zuvor zum Rückzug zwangen: War er dem prominenten Heilspropheten am Tempel vor großem Publikum aus Priestern und Volk entgegengetreten (vgl. z. St.), ist das neue Orakel einzig Hananja weiterzusagen (28,13b); über einen breiteren Adressatenkreis verlautet nichts (vgl. auch 28,15a). Der demonstrative Versuch Jojakims, die Prophetie Jeremias zu entmächtigen, spiel Vgl. die Belege bei 26,8.

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te sich im Palast vor der versammelten Führungsmannschaft Judas ab (36,21–25), während die Instruktion zum Gerichtswort über den Schuldigen (36,29a) in AlT sogar die Ausrichtung an den König beiseitelässt, und selbst MT bleibt bei diesem Punkt im Vagen. Es ist kein idealisierendes Bemühen erkennbar, der Überbietung von Jeremias Kontrahenten eine Kulisse zuzuschreiben, die jener Situation nahe käme, in der der Prophet seine Niederlage einstecken musste. Nimmt man die Texte beim Wort, wird den finalen Gottesworten, obwohl sie die entscheidende Peripetie einläuten, die öffentliche Bühne erst durch die Erzählungen selbst freigegeben. Angesichts der Gemeinsamkeiten ist identische Verfasserschaft zu erwägen, doch die wichtigere Frage lautet, unter welchen Umständen man es für angezeigt hielt, den betroffenen Stoffen genau diese Gestaltung zu verleihen. Ähnlich wie bei 28* legt sich auch hier die Antwort nahe, dass der Autor auf Adressaten zielte, denen noch nicht glaubhaft zu vermitteln war, dass Jhwh dem Geschehen nicht nur im Wort, sondern auch in der Tat eine solch spektakuläre Quittung erteilt habe, die den angeprangerten Frevel aufwog. Wie ferner schon in den Ausführungen zur Textgenese betont, sprechen noch weitere Indizien für einen frühen Ursprung. Zumindest die Grundschicht muss auf ein Publikum zugeschnitten gewesen sein, das den zeithistorischen Bezug der Datierungen entschlüsseln konnte, was insbesondere bei V. 9 detaillierte Geschichtskenntnisse verlangt. Denn gleichgültig welche Jahresangabe die ältere ist (s. z. St.), wird jedenfalls auf Vorgänge angespielt, die nach dem Zeugnis des AT im kollektiven Gedächtnis der Judäer keine dauerhafte Spur hinterlassen haben. Will man die implizierten Adressaten nicht auf einen winzigen Zirkel von Gelehrten beschränken, ist das von V. 9 vorausgesetzte Weltwissen nur bei einem ereignisnahen Publikum zu erwarten. Der Erklärung bedarf ferner das Figureninventar der Quelle. Die patrizische Redaktion rückt mit den Schafaniden und Achboriden Familien in den Vordergrund, die nicht nur in Jer, sondern im AT insgesamt über mehrere Generationen hinweg mehrfach belegt sind, was ein länger anhaltendes, breiteres Interesse an diesen Sippen bezeugt. Dagegen stellen die hL'gIm.-Partien mit auffälligem Nachdruck die Gestalt des Jehudi heraus, der wie Hananja in 28 einem sonst unbekannten Geschlecht entstammt, in einer einzigen literarischen Einheit auftritt und zugleich neben Jeremia eine Hauptrolle übernimmt. Man fragt sich, wer – außer einem ereignisnahen Auditorium – für diesen Mann ein Interesse aufbringen konnte, das seinem Rang in der Erzählung entspricht. Ähnliches lässt sich zu den Emissären des Königs in 26a sagen, die, obwohl austauschbare Handlanger in rein ausführenden Funktionen, namentlich identifiziert werden und somit als Statisten deutlich übercharakterisiert sind. Die mit Blick auf 30b vorgenommene Disqualifikation des Königssohns Jerachmeël von der Thronnachfolge war nur für Zeitgenossen von Belang. Ferner hat zwar Seraja ben Asriël als Oberpriester (s. z. St.) und Großvater des ersten nachexilischen Hohenpriesters Jeschua (vgl. Hag 1,1 u. ö. mit 1 Chr 5,40–41) eine gewisse Bedeutung erlangt, der der Autor aber kein Augenmerk schenkt, da er den Status Serajas gar nicht erwähnt. Schelemja ben Abdiël schließlich dürfte rasch in Vergessenheit geraten sein. Jedenfalls kann das Profil dieser Figuren nicht von ihrem Stellenwert im Plot gespeist sein, sondern muss außertextlichen Motiven entspringen. Demnach ist hier die Absicht leitend, für zeit456

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nahe Adressaten aktenkundig zu machen, wer aus einem Kreis prominenter Judäer in rezenten Konflikten Jeremia beigestanden hatte und wer nicht. Aussagekraft besitzt schließlich die fehlende Bewahrheitung der Gerichtsansage für Jojakim in 30bc. Obwohl bisweilen das Gegenteil behauptet wird, bleibt schwer glaubhaft, dass ein Autor aus späterer Warte für die Strafankündigung vorgefundene, unerfüllte Orakel verwertet habe und sie dabei zwar abwandelte, doch nicht etwa so, dass dadurch der Widerspruch zum Geschichtsverlauf auch nur gemildert worden wäre, von einer Behebung ganz zu schweigen. Plausibel herzuleiten ist der vorfindliche Wortlaut nur, wenn er bereits zu Lebzeiten Jojakims entstand. In Betracht kommt die Periode zwischen der Verbrennung der Schriftrolle (wahrscheinlich Ende 604; s. zu V. 9) und seinem Tod 598. Die größere Wahrscheinlichkeit hat dabei ein Datum bald nach der demonstrativen Symbolhandlung des Königs, die erhebliches Aufsehen erregt, Jeremias Ansehen schwer beschädigt und unter seinen Anhängern heftige Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit gesät haben muss, zumal die akute babylonische Bedrohung offenbar ohne nennenswerte Folgen verflog. Nun hat die Ansage des ausbleibenden leiblichen Thronerben 30b ihr poetisches Gegenstück in einer Verwünschung, die keinen Namen nennt, aber in der Königsspruchsammlung bei Jojachin eingeordnet ist (22,29–30). Heißt dies, dass der Autor ein Wort über Jojachin auf Jojakim reappliziert hat, also bereits auf Jojakims Nachfolger zurückschaute und somit später gearbeitet haben muss? Da der fragliche Spruch gar nicht auf Jojakim passt, wird man den Befund genau umgekehrt deuten müssen: Wie 36,30b noch weiß, war der Fluch ehemals auf Jojakim gemünzt, doch nachdem er sich nicht bewahrheitet hatte, wurde er leicht variiert auf Jojachin umgewidmet, sei es schon von Jeremia selbst oder von späteren Händen. Den Redaktoren der Königsspruchsammlung war die Verknüpfung mit Jojachin höchst willkommen, weil 22,30d ihrem Widerstand gegen die Erneuerung davidischer Herrschaft durch den Jojachin-Enkel Serubbabel (vgl. 1 Chr 3,17–19) prophetische Argumentationshilfe bot (s. z. St.). Ähnlich wie 36,29 das Eintreffen der Unheilsansagen gegen Juda nach dem Ende des babylonischen Feldzugs gegen die Philister in die Zukunft verschob, lenkte 22,30d eine ältere Drohung gegen Jojakim auf Jojachin um, sodass sie zum fraglichen Zeitpunkt bereits durch den Herrschaftsantritt Zidkijas als erfüllt gelten konnte. Einleuchtend begründen lässt sich jedenfalls nur die nachträgliche Umwidmung des Spruches von Jojakim auf Jojachin, nicht umgekehrt. Gegenüber 36,30c dürfte 22,19 die Priorität besitzen, aber dies braucht nicht entschieden zu werden, da beide Versionen Jojakim betreffen. Folglich repräsentiert das hL'gIm.-Stratum auch bei der Unheilsprophetie gegen Jojakim in V. 30 einen sehr frühen Stand. Nach alldem ist die Grundschicht noch zu Lebzeiten Jojakims wohl recht bald nach dem geschilderten Ereignis im Winter 604/3 verfasst worden, als es dem König gelungen war, Jeremia vor der Kulisse des babylonischen Aufmarsches ostentativ als Scharlatan zu diffamieren, ihn in den Untergrund zu drängen und trotzdem vor nachteiligen Folgen verschont zu bleiben. Diese Vorgänge müssen dem zionstheologischen Enthusiasmus in Juda enormen Auftrieb verliehen haben, während sie im Gegenzug der Glaubwürdigkeit Jeremias einen schweren Schlag versetzten und seine Anhänger demoralisierten. In welche Verlegenheit die politischen Hintergründe den Verfasser 457

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stürzten, ist namentlich daran abzulesen, dass er allein über die Datierungen auf sie verwies, ein Merkmal, das nicht nur die ereignisnahe Abfassung, sondern auch die Historizität des Erinnerungskerns untermauert. Die Erzählung kontert den spektakulären Akt des Davididen mit der Nachricht von einem prophetischen Gegenzeichen Jeremias, das seinerseits die Symbolhandlung Jojakims annullierte, wobei ursprünglich in realistischer Sicht der Lage die Ausrichtung der Strafansage an den Frevler nicht vorgesehen war. Demnach war das Erzählstück am ehesten für Sympathisanten des Propheten bestimmt, die von seiner öffentlichen Demütigung und dem Ausbleiben negativer Konsequenzen für Jojakim tief verunsichert waren. Es sollte sie mit der Kunde bestärken, dass Jhwh die Übergriffe auf seine Botschaft und seinen Boten nicht tatenlos hinnehmen würde, selbst wenn das öffentliche Erscheinungsbild Jeremias vorläufig wenig davon verriet. Der Autor sprach damit seine Überzeugung aus, dass Jhwh auch gegen den zeitweiligen Augenschein Herr des Geschehens bliebe. Infolgedessen würde sich sein durch den Propheten Jeremia vermitteltes Wort schließlich gegen alle gewaltsamen Widerstände als unbesieglich erweisen. 31 Der patrizische Redaktor hat das Drohwort erweitert, kenntlich an der formelhaften Diktion und der Ausdehnung des Kreises der Beschuldigten weit über Jojakim hinaus. Aus dem nachexilischen Blickwinkel der PR war eine Aktualisierung fällig, weil das seither hereingebrochene Unheil alles in den Schatten stellte, was sich jemals aus V. 30 herauslesen ließ. Der Redaktor erledigte diese Aufgabe mit sparsamen Mitteln aus dem theologischen Repertoire der Gerichtsdoxologie, das er sich beim Studium des deuteronomistischen Jeremiabuches angeeignet hatte. Er totalisierte die Reichweite der Strafansage über die Nachkommen Jojakims und die Hofkreise (31a) hinaus auf alle Judäer (31b), wobei er freilich typischerweise das Stichwort ~yrIf' Patrizier vermied. Den Empfängern der Strafansage wird – ähnlich wie in 3ab.7cd sowie schon in 35,17 – die denkbar allgemeinste Drohung ausgesprochen, nämlich dass Jhwh alles angekündigte Unheil über sie bringen werde (31bc; Kon 23 f., 34). Als Begründung dient der ebenso klischierte wie allgemeine Vorwurf der mangelnden Hörbereitschaft (31d), obwohl auch der Endtext der Szene von Baruchs Verlesung der Buchrolle im Tempelbezirk kein Interesse für die Reaktion des Volkes aufbringt (V. 8–11). Im gegebenen Kontext muss das Verhalten Jojakims und seiner Gesinnungsgenossen bei Hofe als Exempel eintreten für das, was auf die Judäer insgesamt schon immer zutraf. Der Vorwurf der mangelnden Hörbereitschaft gegenüber den vergangenen Unheilsansagen dokumentiert wie die Vv. 2–3, dass PR die Gerichtsprophetie in dtr Spuren als konditioniert und somit als Umkehrruf verstand. Sprachlich repräsentiert die Kombination aus (nicht) hören und Unheil reden ein Leitfossil der PR (noch 26,13; 35,16–17; 40,2–3). Die mangelnde Konkretion deutet an, dass es nicht mehr die Gerichtsbegründung war, die den Redaktor umtrieb. Was ihm an dem Stoff von der zerstörten und ersetzten Urrolle wichtiger war, sagt der folgende Vers. 32 Erst PR hat den Auftrag zur Ersetzung der Buchrolle V. 28 mit einem Ausführungsbericht versehen (rp,se 32c). Allerdings habe das auf Geheiß Jhwhs hergestellte neue Exemplar zwar sämtliche Texte der Urrolle umfasst (32cd), sei aber darüber hinausgegangen, denn der Schlusssatz der Einheit vermerkt: Noch viele Worte wie jene wurden ihnen hinzugefügt (32e). Daher steht am Ende der Erzählung nicht mehr das 458

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vollständige Jeremiabuch aus dem vierten Regierungsjahr Jojakims (Vv. 1–4), sondern dessen erweiterte Neuausgabe. Hierdurch spricht das Werk selbst – beispiellos in der Bibel  – die Idee aus, dass seine vorfindliche Gestalt aus einem literarischen Wachstumsprozess hervorgegangen sei. Dessen erste Stufen sucht 32e noch zu Lebzeiten des Propheten. Der Satz schildert den Expansionsvorgang im Passiv, schweigt also über die Urheber, was die Möglichkeit offenhält, dass neben Jeremia und Baruch noch weitere Akteure an der Komplettierung des Inhalts mitgewirkt haben. Weil jedoch die Nachträge jeweils Worte wie jene bildeten, die bereits in der Urrolle standen, blieb der Einklang mit den Intentionen des Propheten gesichert. In der Konsequenz ist „das ganze Jeremia-Buch – die Fassung zur Zeit von Jer 36 und … die späteren Fassungen – … als unverfälschtes Wort von und über Jeremia, als Jhwhs Wort legitimiert“ (Bosshard-Nepustil 77). Für PR entstand das Jeremiabuch demnach in mehreren Schüben. Den Anfang machte eine erste Sammlung von Prophetenworten. Deren Zerstörung veranlasste eine erweiterte Ausgabe, die später durch redaktionelle Fortschreibungen zu wachsen fortfuhr – so wird das Passiv zu verstehen sein. Mit 32e nahm PR Rücksicht auf die Tatsache, dass schon zu ihrer Zeit das Buch umfangreiche Teilkorpora enthielt, die Vorgänge nach 604 betrafen, dazu großenteils narrativen Charakter trugen und in 3. Person auf Jeremia Bezug nahmen. Deshalb scheint sich PR noch gescheut zu haben, sie der Urrolle zuzurechnen. Wichtiger jedoch waren Motive, die mit der eigenen Arbeit der PR zusammenhingen (s. u.). Antike Leser konnten dann Beispiele für die vielen Worte, die später hinzugefügt wurden, etwa in folgenden Stücken finden: 21,1–10; 22,24–30; 24; 27(?; s. zu 27,1 MT); 28–29; 32–34; 35?; 36–45, also auch in Jer 36 selbst (zu 52 s. u.). Das Kapitel bietet daher einen einzigartigen Einblick, wie in der Sicht der Zeitgenossen das Jeremiabuch entstand. Dies gilt für das von PR entworfene Bild, wie es die alexandrinische Ausgabe von Jer 36 widerspiegelt. MT ist demgegenüber in merkwürdiger Weise abgewandelt. Hier ist an die Lesartendifferenzen in den Vv. 17–18 zu erinnern, die konzeptionell mit den Varianten in V. 32 zusammenhängen. Während für den alexandrinischen Text von 32a es Baruch war, der die neue Schriftrolle beschaffte, legt MT den Akt in Jeremias Hände, sodass der Sekretär sogar sein Arbeitsmaterial von seinem Meister empfängt (32b). Der Sinn des Eingriffs erhellt aus dem Vergleich mit den prämasoretischen Modifikationen in den Vv. 17–18 (s. z. St.), laut denen Baruch bei der Niederschrift der Urrolle derart gewissenhaft das Diktat seines Herrn reproduzierte (17c; vgl. 18b), dass sich seine Eigenbeiträge buchstäblich auf den Verbrauch von Tinte beschränkten (18c), mit der Folge: Er nahm keinerlei Einfluss auf den Inhalt des Dokuments. Wie der Nachdruck auf dem radikalen Manipulationsverzicht Baruchs anzeigt, hing die Authentizität des Buches für den späten Tradenten an der alleinigen Verfasserschaft des Propheten, weswegen er jegliche Fremdeinwirkung auf den Wortlaut kategorisch ausschloss. In V. 32 entfaltete er sein Konzept weiter, indem er exemplarisch beschrieb, wie der Prophet auch bei den technischen Details der Herstellung der Schriftrolle stets die uneingeschränkte Kontrolle behielt. Liest man dann 32e im Licht von V. 17–18 MT, erhält der Satz einen erheblich verengten Sinn. PR zufolge hatte Baruch den Textbestand der Urrolle erneut nach dem Diktat Jeremias in ihre Nachfolgerin 459

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kopiert (32c; vgl. 4bc.18b.27b; MT 6c.17c), während die Umstände, unter denen die Nachträge in das neue Dokument eingingen, in der Schwebe blieben (32e). Wenn aber laut MT der Prophet bei der zweiten Schriftrolle sogar Belange von solch nachgeordneter Bedeutung wie die Beschaffung des Rohmaterials in die eigenen Hände nahm, konnte der Inhalt keinen geringeren Qualitätsmaßstäben unterliegen als bei der Urrolle. Dazu musste das Sondergut gleichermaßen nach dem Diktat Jeremias verschriftet worden sein, und der in Dienst genommene Schreiber hatte sich ebenfalls mit dem Verbrauch von Tinte zu bescheiden (vgl. 18c MT). Demnach insistierte zwar bereits PR auf der Authentizität des Buches, indem sie den Wortlaut der Urrolle auf das Diktat des Propheten zurückführte (4b.17–18.32 AlT) und dem Sondergut der neuen Rolle ideelle Konformität bescheinigte (32e). Der prämasoretische Bearbeiter ging jedoch deutlich darüber hinaus, indem er das Echtheitssiegel weitaus strikter fasste und in seinem rigorosen Verständnis auf das komplette Buch ausdehnte. Damit widersetzte er sich der Vorstellung, neben Jeremia hätten noch andere Autoren zu dem Werk beigetragen, wie hochgradig auch immer sie die Anliegen des Propheten geteilt haben mochten. Ein weiteres Zeugnis für seinen Standpunkt ist der prämasoretische Kolophon 51,64ef, der das Ende der Worte Jeremias markiert, also alles Vorausgehende der Verfasserschaft des Propheten unterstellt und nur den folgenden, aus 2 Kön 24,18–25,30 entlehnten Anhang Kap. 52 davon ausnimmt (s. z. St.). Das Konzept des Tradenten, das ganze Buch gehe einzig auf Jeremia zurück, band sich buchstabengetreu an den Auftakt des masoretischen Jeremiabuchs Die Worte Jeremias, des Sohnes Hilkijas, … (1,1a MT), nahm dafür aber einen unaufhebbaren Selbstwiderspruch in Kauf, weil der Anspruch jeremianischer Verfasserschaft die eigenen Modifikationen des Rezensors einschließen musste. Die Inkonsequenz wurde zu gewissem Grad gemildert durch den Umstand, dass der Einfluss der prämasoretischen Zutaten auf die Aussagen des Werkes weit hinter dem Maß zurückbleibt, das ihr Volumen erwarten lassen könnte. Die Verfasserschaftstheorie, die MT in 36,17c.18bc.32ab und 51,64ef verficht, limitierte offenbar die Freiheiten, die sich ihre Vertreter im Umgang mit dem Prophetenbuch zugestanden. Damit ging ein Wandel des Verständnisses der Aufgaben jener Schreiber einher, die mit diesem und anderen biblischen Bücher befasst waren: Nunmehr hatten sie ihre Vorlagen akkurat zu reproduzieren und sich jeder eigenen Kreativität zu enthalten; sie waren zu Kopisten geworden. Folgerichtig ist der Fortschreibungsprozess des Jeremiabuches mit den prämasoretischen Retuschen zum Stillstand gekommen. Eine ähnliche Auffassung vom Ursprung des Werkes hat sich schon vormasoretisch in Kap. 45 niedergeschlagen (s. z. St.). Derlei Stimmen sind Indikatoren der in nachexilischer Zeit wachsenden Neigung, die Autorität religiöser Schriften hochgradig an die Verfasserschaft von Gestalten zu knüpfen, denen die Tradition bereits unumstrittenes Ansehen eingetragen hatte. Dieser Trend scheint zunehmend Eingriffe in (proto‑)kanonische Texte delegitimiert und so den Wortlaut der biblischen Bücher stabilisiert zu haben. Im Gegenzug nötigte er zur Abfassung neuer Werke unter Namen von gefestigter Reputation und brachte die pseudepigraphische Literatur zur 460

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Exkurs

Blüte. Die korrespondierenden Sichtweisen zur Autorschaft der biblischen Bücher sollten für lange Zeit die Oberhand behalten. Auch moderne Exegeten bewegt die Frage, welche Erkenntnisse über die Anfänge und die Geschichte des Jeremiabuchs, der Schriftprophetie oder der Bibel insgesamt Jer 36 zu entnehmen sind. Die Meinungen gehen weit auseinander. Deshalb soll ein Exkurs den Quellenwert des Kapitels zu den genannten Themen beleuchten.

Exkurs: Jer 36, die Geschichte des Jeremiabuchs und der Schriftprophetie Prüft man Jer 36 auf historisch zuverlässige Informationen zur Entstehung und Geschichte des Jeremiabuchs, der Schriftprophetie oder biblischer Literatur überhaupt, ist zu beachten, dass auf das Kapitel selbst zutrifft, was es beschreibt: Es handelt sich um eine gewachsene Einheit. Verschiedenartige Intentionen haben dem Text eine Mehrstimmigkeit eingepflanzt, die verhindert, alle literarischen Merkmale denselben Aussagezielen unterzuordnen. Im Folgenden wird auf der Ebene des durch PR geschaffenen Endtextes (AlT) argumentiert. Wie betont, wird in V. 2–3 die zerstörte Buchrolle auf eine Weise charakterisiert, die das Etikett „Urrolle“ durchaus rechtfertigt, weil das Dokument wahrscheinlich nicht nur als vollständige, sondern auch als erste und somit singuläre Niederschrift der Prophetie Jeremias gedacht war. Man hat diesem Zug häufig ätiologische Funktionen attestiert, insofern er etwa das Aufkommen der Schriftprophetie generell erklären oder bestimmte Formen des Umgangs mit ihr begründen sollte. Eine Erzählung, die darlegt, warum Prophetie schriftlich für die Nachwelt bewahrt wurde, käme indes anderthalb bis zwei Jahrhunderte nach dem Beginn der Schriftprophetie (je nach Alter der Vorstellung von der Urrolle) reichlich spät, und um die Wende vom 7. zum 6. Jh. war die Aufzeichnung von Prophetie längst ein vertrautes Phänomen.32 Außerbiblisch wurde die sog. Bileam-Inschrift von Tell Dēr ‘Allā (biblisch Sukkot) im Jordantal per Überschrift als spr Buch deklariert (TUAT II 138–148) und durch Kolumnen in einem für Schriftrollen typischen Layout gestaltet. Demnach hat man in einer kulturell eher peripheren Zone der südlichen Levante sogar schon im 9. Jh. Prophetenworte auf Schriftrollen gesammelt und von dort zur öffentlichen Präsentation auf die Wände eines Heiligtums übertragen, rechnete also mit einer hinreichenden Anzahl an Lesern oder Vorlesern, die damit etwas anfangen konnten. Vorformen der heutigen Bücher Amos, Hosea, Jesaja, Micha (s. zu 26,18), Nahum und womöglich weitere (Habakuk, Zefanja?) hatten um 600 bereits Gestalt angenommen, und sogar die durchgreifende redaktionelle Bearbeitung von Prophetie hatte begonnen (die Assur-Redaktion des Proto-Jesajabuches im späten 7. Jh. und die deuteronomistische Redaktion des Jeremiabuches um die Mitte des 6. Jhs.). Wie ferner neben dem AT insgesamt vor allem Jer selbst mit zahlreichen Verweisen auf die zeitgenössische Schriftkultur bezeugt,33 war die judäische Elite in  Vgl. z. B. Jes 8,1.16–18; 30,8; Ez 3,1–3; 24,2; 37,16.20; Hab 2,2.  Autoreferenzielle Verweise auf das Buch selbst, seine Vorstufen oder Auszüge daraus (außer Kap. 36): 25,13; 30,2; 45,1; 51,60.63; Briefverkehr: 29; Rechtsurkunden: 3,8; 32,10–16.44; Tätigkeit von Schreibern und ihre Arbeitsgeräte: 8,8; aus dem Schreiberwesen bezogene Metaphorik: 17,1.13; 22,30; 31,33. 32 33

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jener Epoche bereits hochgradig alphabetisiert. Archäologische Funde bestätigen das Bild, allen voran das Ostrakon 1 von Meṣad Ḥašavyāhū und die Lachisch-Briefe.34 Dies spiegelt auch die Gestaltung von 36: Ginge es dem Kapitel um die Ätiologie von Schriftprophetie im Allgemeinen, müsste ihm entweder ein geschichtlicher Auslöser oder ein Vorteil der Schriftform gegenüber der bloßen Mündlichkeit zu entnehmen sein, doch beides will nicht gelingen. Der Befehl zur Niederschrift von Jeremias Orakeln reagiert nicht auf vorweg Erzähltes, sondern er ergeht gleich zu Beginn; er erwächst nicht aus der berichteten Ereigniskette, sondern setzt sie allererst in Gang. Folgerichtig wird die Verschriftung auch nicht als Lösung eines Problems präsentiert. Beispielsweise überbrückt die Buchrolle kein zeitweiliges Akzeptanzdefizit von Jeremias Botschaft; der Prophet ist am Ende eher noch umstrittener, seine Existenz noch weitaus prekärer als am Anfang. Ferner wird das Dokument zwar genutzt, um die Grenzen von Jeremias Kommunikationsmöglichkeiten zu überwinden, doch von seiner beschränkten Bewegungsfreiheit erfahren die Leser erst, nachdem das Opus bereits vollendet ist, während die Zwangsmaßnahmen gegen ihn gerade nicht angeführt werden, um die Herstellung des Schriftstücks zu motivieren. Das Werk ermöglicht auch nur kurzfristig, die Repressionen zu unterlaufen, und das schließlich sogar um den Preis einer gravierenden Verschärfung, denn Baruchs Rezitation führt zur Zerstörung der Urrolle und treibt ihn mit seinem Meister in den Untergrund. Zwar wird das verbrannte Exemplar am Ende durch eine erweiterte Ausgabe ersetzt, deren Herstellung obendrein als prophetische Symbolhandlung dient, doch Funktionen werden dem Produkt nicht mehr zugeschrieben; die Verbreitung des Inhalts ist jetzt kein Thema mehr. Statt Jeremia dauerhaft neue Kommunikationskanäle zu eröffnen, beschneidet die Verschriftung im Endeffekt noch die wenigen, die ihm bis dahin verblieben waren. In der erzählten Welt löst die Niederschrift von Prophetie keine Probleme, sondern bringt im Gegenteil zusätzliche Komplikationen mit sich. Entsprechend lässt der Text auch keinen Gewinn der Schriftform gegenüber bloßer Mündlichkeit erkennen. Jhwh befiehlt in V. 2 nur die Anfertigung der Sammlung, nicht aber ihren Vortrag. Zwar fährt er fort mit einer Reflexion über den möglichen Erfolg der Verkündigung (V. 3), eingeleitet durch die Worte vielleicht wird das Haus Juda … hören (3a); danach wäre das Dokument weiterhin für die mündliche Promulgation bestimmt, freilich ohne dass sie deshalb auch angeordnet würde. Jhwhs Erwägungen kommen zudem den parallelen Überlegungen zu den Chancen der mündlichen Umkehrpredigt in 26,3 so nahe, dass dunkel bleibt, welchen Unterschied die Niederschrift stiften sollte. Mit der erwartbaren Verlesung wird Baruch dann nicht von Jhwh, sondern von Jeremia beauftragt (Vv. 5–6), der eine ähnlich geartete Reflexion über die Erfolgsaussichten der Rezitation anschließt (V. 7), die jedoch ebenfalls keine Vorzüge der Schriftfassung verrät, denn sie bezieht sich zwar auf einen schriftlichen Text, der indes in herkömmlicher Weise mündlich zu deklamieren ist. Gewiss benötigt Baruch eine schriftliche Grundlage, um seinen Meister vertreten zu können, aber dies hat keinen Einfluss auf die Hörbereitschaft der Judäer. In der Logik der Erzählung ist es allenfalls die gesteigerte Intensität der Warnungen durch die Reprise der  HAE I.1, 315–329.405–438; HTAT 225, S. 370–372; 261–264, S. 420–424.

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Gesamtbotschaft (V. 2), die höhere Aufnahmewilligkeit beim Auditorium versprechen mochte. Doch die Generalwiederholung ist nicht auf das Buch angewiesen, wie der parallele Vorgang in 26 illustriert, wo Jeremia sie selber vornimmt, ohne eine schriftliche Gedächtnisstütze zu verwenden,  – und wo die Gesamtreprise ebenso wenig einen Sinneswandel der Adressaten herbeiführt wie in 36. In Kap. 36 schenkt der Text sogar, sobald die Urrolle verlesen wird, der Antwort des Volkes überhaupt keine Beachtung mehr; jetzt interessieren nur noch die Führungskreise mit dem König an ihrer Spitze. Der Handlungsfaden reiht dann nicht weniger als drei Rezitationen aneinander. Für die Hörer bleibt die Prophetie dabei so oral wie eh und je, und wo ihre Reaktionen zur Sprache kommen, ist von einem Fortschritt durch Vorlesen der Orakel nichts zu bemerken. Die Vergeblichkeit der Vorträge geht schon daraus hervor, dass das angedrohte Gericht – all das Unheil (3a), die Wut und der Grimm (7c) – zur Entstehungszeit der PR längst hereingebrochen war. Die abschließende generalisierte Strafansage V. 31 impliziert ferner mit ihrem Fazit sie haben nicht gehört (31d), dass auch die Niederschrift die Erfolgsbilanz der Prophetie mitnichten verbessert hat. Die Reflexionen auf die Umkehrwilligkeit des Publikums in V. 3.7 begründen also nicht die geschriebene Prophetie, sondern lassen nur ihren mangelnden Effektivitätsgewinn gegenüber der mündlichen Variante deutlicher hervortreten. So ergibt sich: Schriftprophetie steht in 36 völlig im Dienste der mündlichen Verkündigung. Sie ermöglicht die Promulgation durch Stellvertreter, steigert damit aber keineswegs die Wirksamkeit der Botschaft. Und mit keinem Wort behauptet der Text, schriftliche Prophetie besäße eine höhere Verbindlichkeit als mündliche. Die schriftliche Konservierung von Prophetie ist im Sinne von 36 auch keine Sicherungsmaßnahme im Moment ihrer Gefährdung, denn in der Erzählung geht die Niederschrift der Jeremiaworte ihrer Bedrohung voraus, nicht umgekehrt. Überdies stellt sich die Schriftform rasch als ungeeignet heraus, die Dauerhaftigkeit von Prophetie zu steigern; im Gegenteil bringt sie sogar neue Gefahren mit sich, weil sie das Gotteswort verwundbarer macht und den Entmächtigungsversuch Jojakims überhaupt erst ermöglicht, denn Schriftrollen brennen, das gesprochene Wort nicht. Wie die Erzählung angelegt ist, überlebt nicht die Urrolle, sondern Jeremia, und die zerstörte Buchrolle wird nicht automatisch ersetzt, sondern auf eine Intervention Jhwhs hin. Das Kapitel legt folglich dar, wie die Prophetie Jeremias nicht wegen, sondern trotz ihrer Schriftform überdauert; was ihr Permanenz garantiert, ist nicht die Niederschrift, sondern das Eingreifen Jhwhs, der dabei den Propheten ausdrücklich involviert.35 Mithin legt 36 ebenso wenig den Ton darauf, dass die Schriftform der Prophetie den Propheten entbehrlich mache. Die Rezitationen durch andere sind nicht erfolgreicher als die eigenen Auftritte Jeremias, und die Möglichkeiten seines Stellvertreters Baruch sind rasch erschöpft, sobald er ähnlichen Repressalien ausgesetzt ist wie sein Meister. Jehudi bringt die Schriftrolle zwar erneut zu Gehör, aber mit dem Ergebnis, dass sie in den Flammen endet. Jhwh richtet seinen Befehl zur 35  Anders Bosshard-Nepustil 74: „Die Schrift (sichert) den Fortbestand über das Verstummen des Propheten hinaus.“ – Vgl. auch 51,59–64d, wo die Babylonorakel gerade nicht zwecks Konservierung verschriftet werden, sondern zum Gebrauch in einem symbolischen Akt, der dort ebenfalls ihre Zerstörung herbeiführt, die freilich ganz anders konnotiert ist als in 36,23.

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Ersatzbeschaffung wie schon sein Geheiß zur Niederschrift der Urrolle an den Propheten selbst (28bc || 2ab), und die Authentizität der von Baruch hergestellten Exemplare haftet beide Male an Jeremias mündlichem Diktat (Why"m.r>yI yPimi wörtlich vom Mund Jeremias 4b1 = 32c; vgl. 18b; MT 17c). Sofern also das Kapitel ätiologischen Absichten dient, zielen sie weder auf den Ursprung der Schriftprophetie als solcher noch auf Vorteile verschrifteter Prophetie gegenüber der mündlichen noch auf die Ersetzung der oralen Prophetie durch die schriftliche. Die Erzählung ist auch keine Ätiologie der Ablösung von mündlicher Kundgabe durch Lektüre. Weil die Schriftprophetie in 36 gänzlich auf die Proklamation vor Auditorien hingeordnet bleibt, begegnen hier ausschließlich Vorleser, keine Leser. Doch ebenso wenig lässt sich der Wortlaut als Ätiologie einer öffentlichen Rezitationspraxis erklären, die nach dem Vorbild Baruchs einspringt, sobald der Prophet verstummt ist. Dazu will der Stoff von 36 nicht passen, weil die Vertretung Jeremias durch einen Mitstreiter keine Hauptverwicklung des Erzählfadens löst, sondern sie umgekehrt erst schafft, und obendrein mit dem Resultat, dass nach dem Propheten auch der Stellvertreter seiner Wirkmöglichkeiten beraubt wird. Innertextlich bewirkt die öffentliche Rezitation vor allem ihre künftige Verhinderung, die innerhalb der Einheit nicht behoben wird. Wer die Praxis der öffentlichen Verlesung rechtfertigen wollte, hätte geeigneteres Illustrationsmaterial gewählt. Ohnehin fragt man sich, wieso jemand überhaupt Bedarf an der Legitimation solcher Akte erkannt haben mochte, und das auch noch so lange nach dem Aufkommen der Schriftprophetie. Am Erzählschluss steht eine erweiterte Kopie der Urrolle, doch von der Möglichkeit zu ihrem Vortrag ist keine Rede mehr. Ihr wird, wie betont, gar keine Funktion mehr zugewiesen. Die Einheit klingt vielmehr mit der Nachricht aus: Die neue Rolle wird gegenüber der Urrolle fortgeschrieben (32e.) Das war es, worauf es PR ankam. In der patrizischen Endfassung der Einheit sind somit folgende Schlüsselmerkmale zu erklären: (1) Am Beginn steht die Herstellung der Urrolle, also eines vollständigen und singulären Schriftzeugnisses der Prophetie Jeremias in der erzählten Welt. Insofern das Kapitel dokumentiert, wie das Buch erstmals Gestalt annahm, fungiert es als „Ätiologie des Jeremiabuches“.36 (2) Die Urrolle wird zerstört, während Jeremia und sein Schreiber entkommen, da die Patrizier sie rechtzeitig zur Flucht auffordern. (3) Am Ende tritt an die Stelle der Urrolle eine erweiterte Neuausgabe, wobei die Komplettierung auf Geheiß Jhwhs durch Jeremia und Baruch selbst in Gang gesetzt wird, die akteursblinde Schilderung der literarischen Expansion aber auch die Mitarbeit Dritter offen hält. Insofern fungiert das gewichtige Finale der Einheit als Ätiologie der Redaktion. Diese Erzählschritte tragen bei zu einer narrativen Konstruktion, an der drei zentrale Implikate hervorstechen: (1) Nach dem Verlust der schriftlichen Aufzeichnungen hatte der Ratschlag der Patrizier zur Flucht die Konsequenz, mit dem Propheten und seinem Sekretär die Prophetie Jeremias überhaupt zu retten, die sonst der Vergessenheit anheimgefallen wäre. Bedingt durch die Singularität der Urrolle, war folglich der judäischen Aristokratie nichts weniger als das Überleben der jeremianischen Prophetie zu verdanken. (2) Das vorliegende Jeremiabuch ist das  Levin, Verheißung des neuen Bundes, 147.

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Ergebnis einer fortschreitenden Vervollständigung, die Jeremia durch Diktat selbst initiiert hat. Das Buch ist also trotz seines sukzessiven Wachstums uneingeschränkt authentisch, insofern es in seiner Gänze den durch Jeremia vermittelten Gotteswillen unverfälscht repräsentiert. (3) Die durch das Passiv in 32e zugelassene Mitwirkung Dritter an der Komplettierung des Buches deckt gleichermaßen die Tätigkeit des patrizischen Redaktors selbst ab, rechtfertigt also auch seine eigene Erweiterung des Prophetenbuches. Die konzeptionellen Qualifikationen der Urrolle und ihrer erweiterten Neuausgabe stehen folglich in einem engen Zusammenhang mit den Selbstdarstellungswünschen der judäischen Aristokratie und sollen vor allem den Beitrag des Patriziats zum Werdegang des Jeremiabuches profilieren. Mit 36 schreiben sich die Patrizier in die Geschichte des Buches selbst ein. Denn wie das Kapitel bezeugt, gäbe es das Buch ohne die laikalen Führungskreise überhaupt nicht. Bereits von Anfang an haben sie an seiner Entstehung mitgewirkt, nämlich durch Baruch, der nach seinem Herkunftsmilieu und Bildungsstand – der Kenntnis der Schreibkunde – dem Adel angehörte (sein Bruder Seraja war laut 51,59 als königlicher Diplomat tätig).37 So erklärt sich, warum das Jeremiabuch den im AT einzigartigen Befund bietet, eine anscheinend überflüssige Ätiologie seiner selbst vorzulegen, obwohl Prophetenbücher zur Abfassungszeit von 36 AlT längst kein Novum mehr waren. Wie das Kapitel weiterhin dokumentiert, stellten die Patrizier in den dramatischen Ereignissen um die Zerstörung der Urrolle sicher, dass Jeremia und Baruch wohlbehalten entkamen, weswegen den Führungskreisen mit dem Überleben Jeremias auch die schiere Existenz seines Buches zu verdanken ist. Die Benutzer des Werkes sollen wissen: Ihr Jeremiabuch ist ein Nachfahre jener Ausgabe, die durch die Solidarität der Patrizier mit Jeremia ermöglicht wurde, nachdem das Original in den Flammen geendet war. Und schließlich waren die Aristokraten bei der erweiterten Neuauflage des Kompendiums abermals durch Baruchs Hände mitbeteiligt. Durch den unentwegten Nachdruck auf Baruchs zuverlässiger Arbeit nach Diktat, also in strikter Abhängigkeit vom Propheten, wird der Sekretär zugleich als Idealbild eines Redaktors stilisiert, der in seiner Person beispielhaft vorführt, wie die Arbeit von Schreibern am Prophetenbuch mit dessen ungeminderter Authentizität vereinbar ist. Wenn PR daher nun die Fortschreibungstätigkeit weiterführt, setzt sie bloß eine Praxis fort, die einer der Ihren vorbildlich begonnen und die Jeremia selbst sanktioniert hat. Deshalb folgt auf die anscheinend überflüssige Ätiologie des Jeremiabuches die anscheinend ebenso überflüssige Ätiologie der Redaktion. Dies geschieht nicht deswegen, weil der patrizische Autor die redaktionelle Arbeit an Prophetenbüchern als solche für begründungsbedürftig gehalten hätte, sondern weil er sich genötigt sah, seine eigene Tätigkeit am Jeremiabuch zu rechtfertigen – in Anbetracht der gemischten Bilanz, die die judäischen Führungskreise im Blick auf Jeremia vorzuweisen hatten. Die Ätiologie der Redaktion steht also im Dienste einer redaktionellen Autolegitimation. (Ende des Exkurses)

37  Für die historische Auswertbarkeit der Bulle mit dem Namen von Baruchs Bruder Seraja (Avigad – Sass, Corpus 163, Nr. 390) gelten dieselben Vorbehalte wie oben S. 449 f., Anm. 24 erhoben.

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Wie die Lektüre von Jer 36 im Rahmen der zugehörigen Redaktionsschicht untermauert, fügt sich das Kapitel ein in die Tendenz der PR, den Ruf des judäischen Adels aufzubessern, der durch die Feindschaft vieler Aristokraten gegenüber Jeremia schwer gelitten hatte. In 36 griff die Redaktion ebenso wie in 26 ein älteres Erzählstück auf, das von einer tödlichen Gefährdung Jeremias berichtete, und verwandelte es in einen historischen Beleg, wie die Patrizier in einmütiger Solidarität dem Propheten das Leben retteten, und das sogar um den Preis, unter Bruch ihrer Loyalitätspflichten den frevlerischen König Jojakim zu hintergehen. Im gegebenen Fall war die Vorlage anders als bei 26 noch nicht Teil des Buches, besaß aber besonderen Wert, weil sie eine Erinnerung daran bewahrt hatte, dass seinerzeit immerhin eine Minderheitsfraktion aus den führenden Schichten für Jeremia eingetreten war (25a). Ferner retten die Patrizier in 36 wie in 26 mit dem Boten auch seine Botschaft, doch vermochte die Redaktion diesem Anspruch hier einen besonderen Akzent zu verleihen, insofern der Beistand des Adels der Prophetie Jeremias galt, wie sie im Buch verschriftet war. So trug die PR ihren Trägerkreis mit Rücksicht auf ihre eigene Redaktionstätigkeit in die Geschichte des Buches selbst ein: Sie nutzte den thematischen Fokus des Stoffes auf eine Schriftrolle mit jeremianischen Orakeln, um im Zuge einer redaktionellen Autolegitimation das historische Recht der judäischen Patrizier auf die Fortschreibung des Jeremiabuchs zu erweisen. Die Theologie des unbesieglichen, prophetisch vermittelten Jhwh-Worts, die schon die Vorlage geprägt hatte, wurde so um eine weitere Facette bereichert: Dieses Jhwh-Wort lebte auch in der redaktionellen Arbeit fort, die eigene der PR eingeschlossen. Im Ergebnis wurde die apologetische Tätigkeit der Redaktion nochmals durch eine Apologie eben jener Redaktionstätigkeit abgesichert: eine Apologie der Apologie. Nach alldem reflektiert Jer 36 Fragen im Zusammenhang mit der Verschriftung und redaktionellen Fortschreibung von Prophetie. Doch wie neben anderen Fingerzeigen die überraschend verspäteten Ätiologien in der Erzählung erweisen, geschieht dies nicht in einem rein innertheologischen Rahmen, sondern – wie so oft im Jeremiabuch – eingebettet in dezidierte Interessen. Dass dabei auch politische Anliegen im Spiel waren, deutet ein weiteres Detail an: Die exemplarische Patrizierfamilie der Schafaniden hatte ihren Rückhalt für Jeremia bewiesen, indem ein prominenter Vertreter der Sippe ein von ihm kontrolliertes Gemach im Tempelbezirk zur Verlesung der Urrolle bereitstellte (V. 10). Dabei versäumte der Redaktor so wenig wie in seinen anderen einschlägigen Beiträgen, den Ort der betroffenen Halle exakt zu notieren (vgl. 26,10; 35,4). Die beständige Übercharakterisierung der Schauplätze muss einen Grund gehabt haben und dürfte auf einen aktuellen geschichtlichen Anlass der PR anspielen: Die Kammer lag in einem Areal, zu dem Nichtpriestern beim Neubau des Tempels der Zutritt entzogen werden sollte (s. zu V. 10 und 26,10–16). Dem trat der Redaktor mit dem versuchten Nachweis entgegen, dass die Patrizier in ebenjenen Räumlichkeiten historische Verdienste um den mittlerweile anerkannten Propheten Jeremia erworben hätten. Die Apologie des Patriziats verfolgte also das konkrete Ziel, Partizipationsansprüche in der sich neu formierenden judäischen Sozialstruktur unmittelbar nach dem Exil zu untermauern. Den Rahmen stellte jenes politische Gebilde, das die Nachfolge des vorexilischen Juda angetreten hatte: die persische Provinz Jehud. Im Dienste von innerem Frieden und 466

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Ausgleich sowie im Interesse der Stärkung des durch anhaltende Kriegsfolgen dauerhaft geschwächten Gemeinwesens sollte das Bestreben einer konkurrierenden Gruppe, zentrale Machtinstrumente und Funktionen für sich zu monopolisieren, nicht das letzte Wort haben. Diese Anliegen sind allerdings nur wahrzunehmen, wenn die beteiligten literarischen Einheiten im Verbund ihrer redaktionellen Schicht gelesen werden.38

38  Zur ganz andersartigen Interpretation von Knobloch vgl. oben S. 110. Wer in nachexilischer Zeit die Möglichkeit postmosaischer prophetischer Offenbarung verteidigen wollte, hätte als Beispielmaterial gewiss keine Falschprophetie angeführt (30c) oder gar erst ex eventu ausgebildet (30b).

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Die Belagerung und Zerstörung Jerusalems, die Ermordung Gedaljas und die Flucht der nichtexilierten Judäer nach Ägypten Literatur: J. M. Abrego de Lacy, Jr 36–45: El anti-Éxodo y su teología, in: J. R. Ayaso Martínez u. a. (Hg.), IV Simposio bíblico español (I ibero-americano). Biblia y culturas 1, Bd. 1, Valencia 1993, 69–74. M. E.  Biddle, The Redaction of Jeremiah 39–41 [46–48 LXX], ZAW 126 (2014) 228–242. K. Bodner, After the Invasion. A Reading of Jeremiah 40–44, Oxford 2015. De Jong, Rewriting the Past. E. Di Pede, Au-delà du refus: l’espoir. E. Di Pede, Surprise et rebondissements en Jr 32–45 au service de l’intrigue et du message prophétique, in: G. van Oyen, A. Wénin (Hg.), La surprise dans la Bible (FS C. Focant; BEThL 247), Leuven 2012, 77–88. G. Galvin, Egypt as a Place of Refuge (FAT 2.51), Tübingen 2011, 130–139. D. A.  Glatt-Gilad, The Personal Names in Jeremiah as a Source for the History of the Period, Hebrew Studies 41 (2000) 31–45. R. Goldstein, The Life of Jeremiah. Traditions about the Prophet and Their Evolution in Biblical Times, Jerusalem 2013 (Ivrit). R. Goldstein, Jeremiah between Destruction and Exile. From Biblical to Post-Biblical Traditions, DSD 20 (2013) 433–451. E. K.  Holt, The Potent Word of God. Remarks on the Composition of Jeremiah 37–44, in: A. R. P. Diamond u. a. (Hg.), Troubling Jeremiah, 161–170. J. Kessler, Images of Exile. Representations of the „Exile“ and „Empty Land“ in the Sixth to Fourth Century BCE Yehudite Literature, in: E. Ben Zvi, C. Levin (Hg.), The Concept of Exile in Ancient Israel and Its Historical Contexts (BZAW 404), Berlin 2010, 309–351. Leuchter, Polemics of Exile 113–141. N. Lohfink, Die Gattung der „Historischen Kurzgeschichte“ in den letzten Jahren von Juda und in der Zeit des Babylonischen Exils (1978), in: ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur II (SBAB.AT 12), Stuttgart 1991, 55–86. M. P.  Maier, Ägypten 167–235. M. C.  Njoku, The Image of the Prophet Jeremiah in the So-called „Baruch Biography“ and Cognate Prose-Texts. A Theological Consideration of the Canonical Text, Owerii 1994. R. J. R.  Plant, Good Figs, Bad Figs. Judicial Differentiation in the Book of Jeremiah (LHB.OTS 483), New York 2008, 134–177. K.-F. Pohlmann, Studien zum Jeremiabuch. C. A.  Rollston, Jeremiah as State-Enemy of Judah. Critical Moments in the Biblical Narratives about the „Weeping Prophet“, in: ders. (Hg.), Enemies and Friends of the State. Ancient Prophecy in Context, Winona Lake 2018, 339–358. Seidel, Freunde und Feinde. Seitz, Theology in Conflict. Stipp, Parteienstreit. Stipp, Tempel. R. D.  Wells, The Amplification of the Expectations of the Exiles in the MT Revision of Jeremiah, in: A. R. P. Diamond (u. a., Hg.), Troubling Jeremiah, 272–292. T. M.  Willis, „They Did Not Listen to the Voice of the Lord“. A Literary Analysis of Jeremiah 37–45, RestQ 42 (2000) 37–45. G. E.  Yates, „The People Have Not Obeyed“. A Literary and Rhetorical Study of Jeremiah 26–45, PhD Dallas Theological Seminary 1998, Online: http://digitalcommons.liberty. edu/fac_dis/26/. Zum historischen Hintergrund: Albertz, Exilszeit. Frevel, Geschichte Israels 270–286. Keel, Geschichte I 757 ff., § 1015 ff. K. Koenen, Art. Zedekia (König von Juda, 597–587 v. Chr.) (erstellt: Febr. 2013), WiBiLex (Internet). K. Koenen, Art. Zerstörung Jerusalems (587 v. Chr.) (erstellt: Jan. 2013), WiBiLex (Internet). P. van der Veen, Sixth-Century Issues. The Fall of

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Jerusalem, the Exile, and the Return, in: B. T. Arnold, R. S. Hess (Hg.), Ancient Israel’s History. An Introduction to Issues and Sources, Grand Rapids 2014, 383–405. Zum babylonischen Reich: S. Einleitung zu 50–51.

Jer 37 eröffnet einen Erzählbogen, der bis 44 reicht, indem er in novellenartiger Weise eine Serie zusammenhängender Episoden in weitgehend chronologischer Abfolge aneinanderreiht, sodass der bei weitem längste narrative Konnex in der gesamten prophetischen Literatur entsteht. Vor dem Beginn der Fremdvölkersprüche in Kap. 46 bildet 45 noch einen Anhang, der auf die vorweg berichteten Ereignisse anspielt, aber mit Jeremias Diktat der „Urrolle“ im 4. Jahr Jojakims nach 36,1 synchronisiert ist, sodass die beiden Kapitel die eingebettete Erzählsequenz rahmen. Die szenische Struktur und weitere sprachliche Signale verleihen dem Endtext folgende Gliederung, die der nachstehenden Kommentierung zugrunde liegt: 37,1–10 vermerkt eingangs den Herrschaftsantritt Zidkijas und zieht eine knappe theologische Summe seiner Regierungsjahre (Vv. 1–2). Die Notiz orientiert als chronologische Marke die Leser darüber, dass das erzählte Geschehen nunmehr wieder – wie schon Kap. 32–34  – unter dem letzten davidischen König spielt, nachdem Kap. 35–36 in die Ära Jojakims zurückgeblendet hatten. Das Korpus des Abschnitts berichtet von einem Fürbittgesuch Zidkijas bei dem Propheten Jeremia nach dem Abzug der babylonischen Truppen, die zuvor Jerusalem belagert hatten. Jeremia antwortet mit der Ankündigung, die Angreifer würden zurückkehren und Jerusalem einäschern (Vv. 3–10). 37,11–38,28b erzählt, wie der Prophet beim Versuch, die Stadt zu verlassen, unter dem Vorwurf der Desertion festgenommen und von den Patriziern (~yrIF'h;) im Haus eines der Ihren eingekerkert wird (37,11–16). Nach längerer Weile bestellt ihn Zidkija im Geheimen zu sich, um ihn um ein Gotteswort zu ersuchen. Jeremia bekräftigt sein Orakel der Einnahme Jerusalems, um dann seinerseits den Herrscher zu bitten, sein Los zu erleichtern. Darauf lässt ihn Zidkija in einer Anlage namens Wachhof (hr"J'M;h; rc;x]) internieren (37,17–21). Die Darstellung fährt fort mit dem Bericht, wie eine Gruppe von Männern aus dem Kreis der Patrizier sich über Jeremias öffentlichen Aufruf zur Fahnenflucht und seine Ansage des babylonischen Sieges empört und beim König dafür die Todesstrafe wegen Wehrkraftzersetzung fordert. Zidkija erklärt ihnen, sie könnten mit dem Propheten nach Belieben verfahren, woraufhin sie ihn in einer verschlammten Zisterne im Wachhof festsetzen (38,1–6). Dagegen protestiert beim König ein Höfling namens Ebed-Melech der Kuschiter: Jeremia sei Unrecht geschehen, und er schwebe in der Zisterne in Lebensgefahr. Der Herrscher weist Ebed-Melech an, den Gefangenen aus seinem Verlies zu hieven. So endet der Prophet wieder im Wachhof (38,7–13). Als ihn Zidkija abermals zu einer Orakelanfrage herbeiholen lässt, zögert Jeremia mit der Antwort unter Verweis auf die Risiken, die ihm aus seiner Verkündigung erwüchsen. Doch auf die Versicherung hin, nicht erneut seinen Peinigern ausgeliefert zu werden, erteilt er die Auskunft, die Kapitulation werde Jerusalem vor der Zerstörung retten, während fortgesetzter Widerstand in den Untergang führe. Zidkija bekennt seine Furcht, die Babylonier würden ihn den judäischen Deserteuren in ihren Reihen preisgeben – mit schrecklichen Folgen für ihn. Jeremia bestreitet dies und prophezeit im Gegenzug durch einen 469

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anschaulichen Visionsbericht, wie weiterer Kampf damit ende, dass schließlich die Königsfamilie den Siegern in die Hände falle. Zidkija befiehlt dem Propheten, den Inhalt des Gesprächs vor den Patriziern zu verheimlichen, und weist ihn an, was er im Falle entsprechender Fragen erwidern solle. Als es zu einer solchen Situation kommt, tut Jeremia wie geheißen. Der Abschnitt schließt mit der Notiz, der Prophet sei bis zur Einnahme Jerusalems im Wachhof verblieben (38,14–28b). 38,28c–40,6 schildert – streckenweise in wörtlicher Übereinstimmung mit 2 Kön 25 und Jer 52 – die Eroberung und Zerstörung Jerusalems, die Deportationen und das Schicksal der zurückgebliebenen Bevölkerung (38,28c–39,10), um sich dann wieder der Hauptfigur zuzuwenden, indem Nebukadnezzar dem General Nebusaradan persönlich Befehle zur Vorzugsbehandlung Jeremias erteilt. Daraufhin lassen die babylonischen Offiziere den inhaftierten Propheten aus dem Wachhof holen und zwecks Freilassung einem gewissen Gedalja überstellen, der durch seine Filiation ben Ahikam ben Schafan als Enkel jenes Schafan ausgewiesen ist, dessen Sippe im babylonischen Jeremiabuch schon wiederholt hervorgetreten war (s. zu 26,24). Infolgedessen nimmt Jeremia mitten unter dem Volk Wohnung (39,11–14; vgl. 14d). Eine Rückblende hält fest, dass Jhwh den Propheten noch im Wachhof mit einem Heilswort für seinen Wohltäter Ebed-Melech beauftragt habe (39,15–18). Danach finden wir Jeremia unversehens in einem Konvoi angehender Exilanten in Rama wieder, wo ihm Ne­bu­sa­ ra­dan die Fesseln löst und anheimstellt zu gehen, wohin es ihm beliebt. Der Prophet nutzt die Freiheit, um sich in Mizpa bei Gedalja – nunmehr ausgewiesen als vom babylonischen König bestelltes Haupt der Verwaltung Judas (V. 5) – unter der im Land verbliebenen Restbevölkerung niederzulassen (40,1–6). In 40,7–41,18 entschwindet Jeremia für die Dauer eines längeren Abschnitts ganz aus dem Blickfeld der Erzählung. Mehrere judäische Offiziere mit dem Titel Truppenführer (~yliy"x]h; yrEf'), darunter Männer namens Jischmael ben Netanja und Johanan ben Kareach (40,8), versammeln sich mit ihren offenbar noch aktionsfähigen Streitkräften bei Gedalja, der sie beschwört, sich der babylonischen Okkupation zu fügen und die normalen landwirtschaftlichen Tätigkeiten wieder aufzunehmen. Überdies kehren sämtliche ins Ausland geflohenen Judäer in ihre Heimat zurück und scharen sich mit den übrigen Nichtexilierten um Gedalja in Mizpa, wo sie reiche Ernten einfahren (40,7–12). Nachdem die Ankunft der Truppenführer nochmals notiert worden ist  – jetzt unter Führung Johanan ben Kareachs  – (40,13), warnen sie Gedalja vor einem drohenden Mordanschlag, für den der Ammoniterkönig Baalis jenen Jischmael ben Netanja gedungen habe, der in V. 8 die Reihe der Truppenführer angeführt hatte. Der Schafanide schenkt ihnen jedoch keinen Glauben. Johanan macht sich sogar erbötig, den angehenden Attentäter aus dem Weg zu räumen, aber Gedalja lehnt entrüstet ab mit dem Einwand, Jischmael werde zu Unrecht verdächtigt (40,13–16). Im siebten Monat (41,1) trifft Jischmael, jetzt als Spross der Davidsdynastie identifiziert, in Mizpa ein, begleitet von königlichen Würdenträgern und zehn Bewaffneten. Eine Einladung zum Mahl bei Gedalja nutzen Jischmael und seine Kämpfer, den Amtsträger von babylonischen Gnaden zu erschlagen, unter den Judäern in Mizpa ein Blutbad anzurichten und die lokale Garnison der Besatzer niederzumetzeln (41,1–3). Am folgenden Tag wird Mizpa von achtzig Pilgern passiert, die aus Orten des ehemaligen 470

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Nordreichs Israel kommen und zum Jhwh-Tempel ziehen. Jischmael lockt sie mit einer List in die Stadt, wo er sie abschlachtet und ihre Leichen schändet, indem er sie in eine Zisterne wirft, mit Ausnahme von zehn Männern, die er gegen Herausgabe von auf freiem Feld versteckten Lebensmitteln verschont (41,5–9). Sodann nimmt er die überlebenden Judäer in Mizpa gefangen, um sie nach Ammon wegzuführen. Johanan und die übrigen Truppenführer erfahren von den Verbrechen des Massenmörders und stellen ihn bei Gibeon. Als Jischmaels Geiseln die Truppenführer gewahren, laufen sie erfreut zu ihnen über, während der Davidide sich mit acht Gefolgsleuten nach Ammon absetzt (41,10–15). Johanan und die Truppenführer begeben sich mit dem Rest der Judäer zu einem Gehöft bei Betlehem, weil sie aus Angst vor babylonischer Rache für den Tod Gedaljas nach Ägypten fliehen wollen (41,16–18). Der Emigration geht in 42,1–43,7 allerdings nochmals eine Orakelanfrage bei Jeremia voraus. Die Truppenführer und sämtliche verbliebenen Judäer ersuchen den Propheten um seine Fürbitte und die göttliche Weisung, was sie in ihrer Bedrängnis tun sollen. Jeremia verspricht eine wahrheitsgetreue Auskunft, während sie ihre Bereitschaft zum Gehorsam beteuern (42,1–6). Nach einer Wartefrist wird dem Propheten eine ausgedehnte Gottesrede offenbart, die er den versammelten Fragestellern ausrichtet: Jhwh verheißt, die Judäer beim Verbleib in der Heimat wieder aufzubauen; er sagt ihnen sein Erbarmen und die Rettung vor den Babyloniern zu. Zugleich warnt er sie vor der Flucht nach Ägypten, wo sie von der befürchteten Kriegsnot eingeholt würden und zugrunde gingen (42,7–18). Dann erhebt Jeremia unvermittelt den Vorwurf, die Orakelanfrage sei von vornherein unaufrichtig gewesen, weil der Entschluss zur Emigration längst gefallen sei, und er beendet seine Rede, indem er den Auswanderern den Untergang in Ägypten ankündigt (42,19–22). In ihrer Replik beschuldigen ihn die Judäer der Falschprophetie und behaupten, Baruch habe ihn zu seiner Aussage verleitet, um sie den Babyloniern ans Messer zu liefern. Johanan und die Truppenführer nehmen sämtliche nichtexilierten Judäer unter Einschluss Jeremias und Baruchs und ziehen mit ihnen wider dem Gotteswort nach Tachpanhes im Nildelta, sodass kein einziger Judäer in der Heimat zurückbleibt (43,1–7). 43,8–13 übermittelt einen göttlichen Auftrag an Jeremia zu einer prophetischen Symbolhandlung in Tachpanhes, begleitet von einem Unheilsorakel über Ägypten, das dem Land die Eroberung durch Nebukadnezzar und die Zerstörung seiner Heiligtümer ankündigt. 44 vollendet den Erzählbogen mit einer durch Jeremia vermittelten Gottesrede an die in Ägypten siedelnden Judäer. Darin führt Jhwh die Verwüstung Judas auf den permanenten Götzendienst zurück und droht den Emigranten, sie ebenfalls dem Tod preiszugeben, wenn sie in der Fremde weiterhin das erste Gebot missachteten (Vv. 1–14). Doch die Auswanderer erklären, an ihrer Apostasie festhalten zu wollen, weil ihnen die Abkehr von der Vielgötterei nur Not und Entbehrung eingetragen habe (Vv. 15–19). Jeremia beharrt auf der umgekehrten Geschichtsdeutung: Jhwhs Zorn über die andauernden Verstöße gegen seinen Alleinverehrungsanspruch sei die Ursache der Bedrängnis (Vv. 20–23). Die Konsequenz ist ein Gerichtswort mit der Ansage des Untergangs (Vv. 24–28), unterstützt durch die Ankündigung eines Erweiszeichens (Vv. 29–30). Damit bricht die Darstellung ab. Der Epilog 45 trägt ein Verschonungsorakel für Baruch nach, das ihm bereits beim Diktat der Urrolle im 471

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4. Jahr Jojakims (vgl. 36,1–4) das Überleben in den kommenden Katastrophen verheißen habe. Die Erzählsequenz überspannt jene Ereignisse von 587, die auf Jahrhunderte hinaus das schwerste Trauma der judäischen Geschichte hinterlassen sollten: die Zerstörung Jerusalems und des sog. salomonischen Tempels, der Verlust des Königtums und der Staatlichkeit, dazu die Deportationen, die nach dem biblischen Geschichtsbild erheblich mehr Menschen ins Exil verschlugen als die Verschleppungen im Jahr 597, schließlich die Flucht der Nichtverbannten, sodass im Endeffekt das Land sogar völlig entleert gewesen sei (vgl. 2 Kön 24,14–16 mit 25,11–12.21.26; 2 Chr 36,20–21). Die Erzählung spiegelt die Dramatik jener qualvollen Zäsur, zeichnet aber ein durchaus eigenwilliges Bild davon, vor allem indem sie bei den denkbaren Stoffen eine Auswahl und Gewichtung vornimmt, die einer Erklärung bedarf. Dies gilt umso mehr, wenn man hinter den heutigen Wortlaut zurückschaut. Denn wie zahlreiche Indizien anzeigen und im Grundsatz auch kaum bestritten wird, hat der vorfindliche Wortlaut eine ausgedehnte Entwicklung durchlaufen. Schon im obigen Resümee der Handlung fällt die Wiederholung der Abfolge aus Inhaftierung Jeremias durch die Patrizier, seiner Audienz bei Zidkija und Verlegung in den Wachhof auf (vgl. 37,11–21 mit 38,1–28b). Merkwürdig sind auch die doppelte Ankunft der Truppenführer bei Gedalja und das unklare Verhältnis Jischmael ben Netanjas zu ihnen (vgl. 40,8 mit 40,13 und 41,1). Empirische Belege für ein lang anhaltendes, intensives Wachstum liefert der Vergleich mit der alexandrinischen Ausgabe des Buches: Noch auf prämasoretischer Ebene trat eine Fülle von Zusätzen hinzu, darunter mit 39,4–13 der zweitlängste Nachtrag aus dieser Phase überhaupt. Die hier getroffenen Annahmen zu Vorstufen und textgenetischen Prozessen bedürfen indes aufwendiger Rechtfertigung und können daher nur schrittweise bei den jeweils kommentierten Perikopen hergeleitet werden. Doch um den Überblick und den Nachvollzug der Argumente zu erleichtern, werden im Folgenden in knapper Form der literarische Werdegang des Komplexes vorwegnehmend skizziert und seine wichtigsten Konstituenten nach Umfang, Herkunft, Datierung und Aussageziel charakterisiert. Nähere Gründe folgen im Zuge der Einzelauslegung. Wo ein ursprünglich selbstständiges Dokument endet, wird eine zusammenfassende Erläuterung eingeschaltet. Der vorfindliche Zusammenhang wurzelt in einem ehemals unabhängigen literarischen Werk, dem hier der wissenschaftliche Name Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums (UPJ-Erzählung) beigelegt wird. Das Etikett hebt den Kulminationspunkt der Schrift hervor: Sie gipfelte in dem Bericht, wie bald nach der babylonischen Eroberung Judas sämtliche nichtexilierten Judäer nach Ägypten flohen, sodass das Land völlig von seinen rechtmäßigen Bewohnern verlassen darniederlag. Am Ende der Erzählung gibt es in Juda keine Judäer mehr. Weil überdies auf den Ägyptenemigranten die prophetische Ansage ihres Untergangs lastet, können jetzt – so die Implikation – allein die babylonischen Exilanten den Fortbestand des Gottesvolkes ermöglichen. Dies würde nach Meinung des Erzählers freilich nur dann gelingen, wenn sich die Verbannten zu einer kooperativen Haltung gegenüber ihren babylonischen Herren durchrängen. Dafür zu werben war der Zweck des Schriftstücks, das folgerichtig im Exil, der sog. Gola, entstanden ist, ebenso wie das 472

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babylonische Jeremiabuch insgesamt, dem es den umfangreichsten vordeuteronomistischen Baustein lieferte. Daraus ergibt sich die Datierung, denn ein auskömmliches Verhältnis zu den Babyloniern zu propagieren, war nur sinnvoll, solange deren Regiment als unverrückbar erschien. Der Autor hoffte sogar noch, die Verbannten könnten die Erlaubnis zur Heimkehr vom babylonischen König erhalten (42,12; s. z. St.); und selbst für die spätere dtr Redaktion von 26–44 lag das Ende des Riesenreichs noch stets jenseits des Erwartbaren. Folglich entstammt die UPJ-Erzählung einer frühen Phase des Exils. Ihr originaler Beginn wurde wahrscheinlich nach 34,7 versprengt; danach reichte das Werk vom Fürbittgesuch Zidkijas ab 37,3 bis zur Ankunft der Ägyptenflüchtlinge an ihrem Ziel in 43,7b. Der ursprüngliche Bestand ist heute durch eine Vielzahl von Zusätzen überlagert, von denen die größeren weiter unten vorzustellen sind; allerdings flocht bereits der Autor zwei vorgefundene Quellen in sein Werk ein: die Apologie Jeremias und das Jischmael-Dossier. Sind im Folgenden allein die Eigenbeiträge des Verfassers ohne die eingeschmolzenen Vorlagen gemeint, ist von der UPJ-Erweiterung (oder UPJ-Ergänzung) die Rede. Ihr entstammen etwa 37,5.7–8.*11–21; 38,18–20.24–27; 40,7–12.15–16; *41,16–42,16; *43,1–2.4–6a1*.7ab. Im Detail bleiben natürlich Unsicherheiten, doch nicht von solchem Grad, dass sie Aussagen über die leitenden Intentionen unterbänden. Die Einarbeitung der Apologie Jeremias (AJ; früher: Erzählung von der Haft und Befreiung Jeremias bzw. HBJ-Erzählung) ist dafür verantwortlich, dass die UPJ-Erzählung die Abfolge von Jeremias Haft, Hafterleichterung und Audienz bei Zidkija doppelt enthält, denn der zweite Durchlauf in 38 ist dieser Quelle entnommen. AJ schilderte, wie der Prophet während der Belagerung Jerusalems von Seiten mächtiger Gegner aus judäischen Führungskreisen den Vorwurf des Hochverrats durch Wehrkraftzersetzung auf sich zog, weil er den Sieg der Babylonier vorhersagte, und zwar namentlich in seiner Antwort auf ein offizielles Fürbittgesuch des Königs. Laut AJ lieferten ihn seine Widersacher in einer verschlammten Zisterne dem sicheren Tod aus, doch der Hofbeamte Ebed-Melech hievte ihn mit Zustimmung Zidkijas aus seinem Verlies, und Jeremia überlebte im Wachhof. Von Zidkija um ein Orakel gebeten, prophezeite er, dass der Herrscher durch die Kapitulation sein eigenes Leben retten und die Stadt vor der Brandschatzung bewahren könne, während weiterer Widerstand ins Verderben führe. Das Gespräch blieb freilich folgenlos, und nach ihrem Triumph schenkten die Babylonier Jeremia die Freiheit. Diesem Schriftstück sind etwa 34,7; 37,3.6.9–10; 38,1.3–17.21–23.28ab; 39,3.14* zuzurechnen. Es suchte zu dokumentieren, dass der Prophet während der kritischen Phase des Krieges entgegen der zitierten Anklage sehr wohl um das Heil der Stadt bemüht war. Zusätzlich bezeugte es die Bewahrheitung von Jeremias Ansagen und damit die Echtheit seines prophetischen Anspruchs. Die Vorzugsbehandlung des Propheten durch die Babylonier belegte überdies, dass die Eroberer die von ihm geforderte Kapitulation honoriert hätten. Da das kleine Werk zum weiteren Schicksal der gewalttätigen Feinde Jeremias schweigt, Gedalja nicht erwähnt und ohnehin der UPJ-Erzählung vorausliegt, muss der Autor recht bald nach den beschriebenen Ereignissen gearbeitet haben, womöglich unmittelbar nach der Freilassung seines Helden. Neben den apologetischen Absichten dürfte er ein positives Ziel verfolgt haben: Jeremia war dafür eingetreten, 473

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die Niederlage als göttlich verfügt hinzunehmen. Der Wahrheitserweis seiner Prophetie kam dann einem Appell gleich, seine Worte endlich ernst zu nehmen und durch Kooperation mit den Siegern zu retten, was in der Katastrophe noch zu retten war. Der Schöpfer der UPJ-Erzählung hat die Apologie Jeremias in sein eigenes Werk aufgenommen, weil sie sein Werben für einen konstruktiven Umgang mit den Babyloniern unterstützte. Doch da er an der Episode mit der Haft des Propheten bestimmte Akzente vermisste, die ihm wichtig waren, hat er zu dem Ausweg gegriffen, den Stoff durch eine eigene Gestaltung in *37,11–21 zu verdoppeln. Für die Schilderung des Mordes an Gedalja baute der Autor der UPJ-Erzählung das Jischmael-Dossier (JD) in seine Schrift ein. Dieser rein profane Bericht ist in 40,13–14 und *41,1–15 anscheinend unversehrt erhalten geblieben, und er ist der Grund dafür, warum Jeremia im gesamten Kapitel 41 nicht erwähnt wird. Die Quelle stammt sichtlich aus dem Umfeld seiner Hauptfiguren, der Truppenführer, und diente ebenfalls einem apologetischen Zweck: JD sollte die Unschuld seines Trägerkreises am Tod des Judäers in babylonischen Diensten erweisen. Der Verfasser des Dokuments datierte das Attentat in 41,1 auf den siebten Monat, hielt aber eine Jahresangabe für entbehrlich; dies und das manifeste Rechtfertigungsbedürfnis der Truppenführer sprechen abermals für einen ereignisnahen Ursprung. Die UPJ-Erzählung war von Anfang an ein Kernstück des babylonischen Jeremiabuchs, das von der dtr Redaktion dieses Buchteils (JerDtr II) erstmals geschaffen wurde. Das zeigt die Tatsache, dass ihr ursprünglicher Beginn 34,7 nunmehr einen nicht herauslösbaren Bestandteil des dtr Kapitels 34 bildet, dort also nicht nachgetragen, sondern schon bei der Abfassung eingeschmolzen wurde. 34 leitete ferner an seinem Ende (34,21–22) ehemals direkt zu 37,3 ff. über (s. z. St.). Die Episode mit der revozierten Sklavenbefreiung unter Zidkija 34,8–22 wurde somit anfänglich nach dem ersten Vers der UPJ-Erzählung eingeschoben. Die letzte große dtr Schöpfung des Buches 44,1–28, die Jeremia im Disput mit den Ägypten-Emigranten zeigt, setzt ihrerseits die UPJ-Erzählung voraus. JerDtr II könnte dazwischen noch weitere Retuschen angebracht haben, die aber kaum sicher zu identifizieren sind (s. z. B. die Diskussion zu 42,10–22). JerDtr II spiegelt einen exilischen Hintergrund, ist noch ganz mit der theologischen Aufarbeitung der Katastrophe befasst und verrät keine Kenntnis vom Niedergang der babylonischen Weltmacht, wird also kaum später als 550 in der Gola entstanden sein.  – Eine mangels Indizien nicht stratifizierbare Erweiterung ist das Drohwort 43,8–13, das die Eroberung Ägyptens durch Nebukadnezzar ankündigt und daher wohl vor dessen Ägyptenfeldzug 568 entstanden ist, aber jedenfalls vor seinem Tod im Jahr 562. Als die patrizische Redaktion (PR; s. zu 26,10–16) das babylonische Jeremiabuch bearbeitete, hinterließ sie auch in 37–45 ihre Spuren. Schon vorweg sprengte sie durch den Einschub der unter Jojakim angesiedelten Einheiten 35–36 den ursprünglichen Zusammenhang von 34 zu 37,3 und musste daher durch 37,1–2 in die Epoche Zidkijas zurücklenken. Ferner fügte sie die betonte Entscheidung Jeremias für den Verbleib bei Gedalja in 40,1–6 ein; auch Retuschen in 39,14 und 43,3.6 dürften auf sie zurückgehen. PR spiegelt Streitigkeiten um Kompetenzen und Zugangsrechte am Jerusalemer Heiligtum und gehört daher in die Phase von Planung und Bau des 474

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Zweiten Tempels in der frühnachexilischen Ära. Der Redaktionsschicht der individuellen Orakel, die der PR ähnelt und wenig später entstand, dürften die Heilsworte für Ebed-Melech in 39,15–18 sowie jenes für Baruch in 45 zuzurechnen sein, dazu die Ansage eines Erweiszeichens in 44,29–30. Auf prämasoretischer Ebene vermisste ein Schreiber nähere Einzelheiten zur babylonischen Einnahme Jerusalems und ergänzte daher 39,4–13, in den Vv. 4–10 aus 52,7b–16 (|| 2 Kön 25,4b–12) entlehnt. Hinzu kam eine Fülle von kleinen Einschüben.

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Jeremias Haftwährend der babylonischen Belagerung Jerusalems 37,1  a  Anstelle von [Konja, dem Sohn] Jojakim[s], wurde [König] Zidkija, der b  den Nebukadrezzar, [der König von Babel,] als König Sohn Joschijas, König, ​ 2  a  Aber er, seine Diener eingesetzt hatte im [Land] Juda. ​ b  die er durch [den und das Volk des Landes hörten nicht auf die Worte Jhwhs, ​ Propheten] Jeremia redete.​ 3  a  Der König Zidkija sandte (einmal) Juchal, den Sohn Schelemjas, und den Priester Zefanja, den Sohn Maasejas, zu [dem Propheten] Jeremia und ließ ihm b  Bete doch für uns zu Jhwh, [unserem Gott]! ​ 4  a  Jeremia aber ging sagen: ​ b  und aus inmitten des Volkes / der Stadt; ​ c  sie hatten ihn (noch) (noch) ein ​ 5  a  Die Streitmacht des Pharao war (damals) von nicht ins Gefängnis gesteckt. ​ b  Da hörten die Chaldäer, [die Jerusalem belagerten,] Ägypten aufgebrochen. ​ c  und rückten von Jerusalem ab. ​ 6  Nun erging das die Nachricht von ihnen ​ 7  a  So spricht  / sprach Jhwh, [der Wort Jhwhs an [den Propheten] Jeremia: ​ b  So sollt ihr zum König von Juda sagen, der euch zu mir gesandt Gott Israels]: ​ hat, um mich zu befragen: (AlT: So sollst du zum König von Juda sagen, der zu dir c  Siehe, die Streitmacht des Pharao, die gesandt hat, um mich zu befragen:) ​ 8  a  Dann zu eurer Hilfe aufgebrochen ist, kehrt in [ihr] Land Ägypten zurück. ​ werden die Chaldäer zurückkehren, ​ b  diese Stadt bekriegen, ​ c  sie erobern ​ d  und im Feuer verbrennen. ​ 9  a  So spricht Jhwh: ​ b  Täuscht euch nicht selbst, indem ihr sagt: ​ c  „Ganz sicher werden die Chaldäer von uns abziehen!“, ​ d  denn sie werden nicht abziehen. ​ 10  a  [Selbst] wenn ihr die ganze Streitmacht der Chaldäer, die mit euch kämpfen, geschlagen hättet ​ b  und es wären c  würden sie, jeder in sei[unter ihnen] (nur) Schwerverletztea übriggeblieben, ​ nem Zelt / an seinem Ort, aufstehen ​ d  und diese Stadt im Feuer verbrennen. 11  Es geschaha nun, als die Streitmacht der Chaldäer wegen der Streitmacht 12  verließ Jeremia Jerusalem, um ins des Pharao von Jerusalem abgerückt war, ​ Land Benjamin zu gehen, um dorta inmitten des Volkes eine Teilung vorzunehmen 13  a  Da geschah es, als er gerade im Benjamintor war, ​ b  war dort ein (?). ​ c  [namens] Jirija  / Seraja, der Sohn Schelemjas, des Sohnes HaWachoffizier ​ nanjas. ​ d  Er ergriff [den Propheten] Jeremia mit den Worten: ​ e  Zu den Chaldäern willst du überlaufen! ​ 14  a  [Jeremia] sagte: ​ b  Lüge! ​ c  Ich laufe nicht d  Doch er hörte nicht auf ihn. ​ e  Jirija / Seraja nahm zu den Chaldäern über. ​ f  und brachte ihn vor die Patrizier. ​ 15  a  Die Patrizier waren zorJeremia fest ​ nig über Jeremia, ​ b  schlugen ihn ​ c  und steckten ihn [in den Kerker] im Haus 476

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des Schreibers Jonatan, ​ d  denn das hatten sie zu einem Gefängnis gemacht. ​ 16  a  [Also] kam Jeremia in das Zisternenhaus und in die Gewölbe, ​ b  und [Jeremia] blieb dort lange Zeit. b  und ließ ihn holen / herbei17  a  Dann schickte [der König] Zidkija hin ​ rufen. ​ c  Der König fragte ihn heimlich [in seinem Palast] ​ d  und sagte: ​ e  Gibt es ein Wort von Jhwh? ​ f  [Jeremia] sagte: ​ g  Es gibt (eines). ​ h  [Und er sagte:] ​ i  In die Hand des Königs von Babel wirst du gegeben werden. ​ 18  a  Dann sagte Jeremia zum König [Zidkija]: ​ b  Was habe ich gegen dich, deine Diener und dieses Volk verbrochen, ​ c  dass ihr mich ins Gefängnis gesteckt habt (AlT: dass du mich ins Gefängnis steckst)? ​ 19  a  Wo sind (denn jetzt) eure Propheten, ​ b  die euch prophezeit haben: ​ c  „Der König von Babel wird nicht über [euch und] dieses Land kommen“? ​ 20  a  Jetzt aber [höre doch,] mein Herr König! ​ b  Möge doch meine Bitte bei dir Gehör finden:a  c  Schaffe mich nicht zurück in das Haus des Schreibers Jonatan, (AlT: Was schaffst du mich zurück in das Haus des Schreibers Jonatan,) ​ d  damit ich dort nicht umkomme! ​ 21  a  Da gab König [Zidkija] Befehl, ​ b  und man verwahrte Jeremia im Wachhof (AlT: und man steckte ihn ins c  und gab ihm täglich ein Fladenbrot aus der Bäckergasse, bis [alles] Gefängnis) ​ d  (So) blieb Jeremia im Wachhof. Brot aus der Stadt zu Ende ging. ​ 10 a Wörtl. durchbohrte Männer. ​ 11 a MT hy"h'w> für klassisch yhiy>w; vgl. H.-J. Stipp, w˙=hayā für nichtiterative Vergangenheit? Zu syntaktischen Modernisierungen im masoretischen Jeremiabuch, in: W. Groß (u. a., Hg.), Text, Methode und Grammatik (FS W. Richter), St. Ottilien 1991, 521–547. ​ 12 a Wörtl. von dort. ​ 20 a Wörtl. möge doch meine Bitte vor dir niederfallen.

38,1  a  Schefatja, der Sohn Mattans, Gedalja, der Sohn Paschhurs, und Juchal, der Sohn Schelemjas, [und Paschhur, der Sohn Malkijas,] hörten die Worte, ​ b  die Jeremia zum [ganzen] Volk redete: ​ 2  a  So spricht Jhwh: ​ b  Wer in dieser Stadt bleibt, wird durch Schwert Hunger [und Seuche] sterben. ​ c  Wer aber zu d  wird überleben; ​ e  er wird sein Leben als Beute den Chaldäern hinausgeht, ​ erhaltena ​ f  und am Leben bleiben. ​ 3  a  So spricht Jhwh: ​ b  Diese Stadt wird ganz sicher in die Hand der Streitmacht des Königs von Babel gegeben werden, ​ c  und er wird sie erobern. ​ 4  a  Darauf sagten [die Patrizier] zum König: ​ b  Dieser Mann muss doch getötet werden, ​ c  denn er lähmt [ja] die Hände der Krieger, die in d[ies]er Stadt übriggeblieben sind, und die Hände des ganzen Volkes, indem er solche Worte zu ihnen redet. ​ d  Denn dieser Mann sucht nicht Heil für dieses Volk, sondern Unheil! ​ 5  a  Der König [Zidkija] erwiderte: ​ b  Siehe, er ist in eurer Hand, ​ c  denn den König gibt es nicht, ​ d  der gegen euch [etwas] 6  a  [Da vermag (?). (5cd in AlT: Denn der König vermochte nichts gegen sie.) ​ b  und warfen ihn in die Zisterne des Königssohns Malkija, ​ ergriffen sie Jeremia] ​ c  die sich im Wachhof befand. ​ d  Sie ließen Jeremia an Stricken hinunter (AlT: e  In der Zisterne war kein Wasser, sonSie ließen ihn in die Zisterne hinunter). ​ dern (nur) Schlamm, ​ f  und [Jeremia] sank in den Schlamm.

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7  a  Da hörte der Kuschiter Ebed-Melech, [ein Hofbeamter,] ​ b  – er befand c  dass sie Jeremia in die Zisterne geworfen hatsich gerade im Königspalast –, ​ ten. ​ d  Der König hielt sich gerade am Benjamintor auf. ​ 8  a  [Ebed-Melech] verließ [den Königspalast] ​ b  und sagte zum König: ​ 9  a  Mein Herr und König, Unrecht verübt haben diese Männer bei allem, ​ b  was sie dem Propheten Jeremia angetan haben, ​ c  nämlich dass sie ihn in die Zisterne warfen, ​ d  damit e  denn es gibt in der Stadt kein Brot mehr. er auf der Stelle an Hunger stürbea, ​ (V. 9 in AlT: Du hast Unrecht verübt bei dem, was du getan hast, um diesen Mann 10  a  Da vor Hunger umzubringen, denn es gibt in der Stadt kein Brot mehr.) ​ b  Nimm dir von hier dreißig befahl der König dem [Kuschiter] Ebed-Melech: ​ c  und zieh [den Propheten] Jeremia / ihn aus der Zisterne, ​ d  beMänner mita ​ vor er stirbt. ​ 11  a  Ebed-Melech nahm die Männer [mit sicha] ​ b  und ging in c  Er nahm von den Königspalast in (den Raum) unterhalb der Vorratskammerb. ​ d  und ließ / warf dort Lumpen von abgetragenen und verschlissenen (Kleidern) ​ 12  a  Dann sagte [der Kuschisie [an Stricken] zu Jeremia in die Zisterne hinab. ​ ter Ebed-Melech zu Jeremia]: ​ b  Leg doch [die Lumpen von abgetragenen und verschlissenen (Kleidern) in deine Achselhöhlen] unter die Stricke! (AlT: Leg doch c  Jeremia tat so. ​ 13  a  Nun zogen sie Jeremia / ihn an dies unter die Stricke!) ​ b  und hoben ihn aus der Zisterne. ​ c  Darauf blieb Jeremia den Stricken hoch ​ im Wachhof. b  und ließ den Propheten Jeremia 14  a  Da sandte der König [Zidkija] hin ​ c  der sich zu sich holen (AlT: und ließ ihn zu sich rufen) an den dritten Eingang, ​ beim Haus Jhwhs befindet. ​ d  Der König sagte zu Jeremia / ihm: ​ e  Ich will dich nach einem (Gottes‑)Wort fragen. ​ f  Verschweige mir kein Wort! ​ 15  a  Jeremia sagte zu Zidkija / zum König: ​ b  Wenn ich es dir mitteile, ​ c  wirst du mich nicht d  Und wenn ich dir einen Rat erteile, ​ e  hörst anstandslos umbringen lassen? ​ 16  a  Da schwor König [Zidkija dem Jeremia heimdu nicht auf mich. ​ lich] und sagte: ​ b  So wahr Jhwh lebt, ​ c  der uns dieses Leben geschenkt hat, ​ d  ich werde dich nicht umbringen lassen ​ e  und werde dich nicht in die Hand dieser Männer geben, ​ f  [die dir nach dem Leben trachten]. ​ 17  a  Hierauf sagte Jeremia zu Zidkija / ihm: ​ b  So spricht Jhwh, [der Gott der Heerscharen, c  Wenn du wirklich hinausgehst zu den Offizieren des Königs der Gott Israels]: ​ d  dann ist dein Leben gerettet.a  e  Diese Stadt wird nicht im Feuer von Babel, ​ verbrannt werden, ​ f  und du bleibst am Leben, du und dein Haus. ​ 18  a  Wenn du aber nicht hinausgehst [zu den Offizieren des Königs von Babel], ​ b  wird diese Stadt in die Hand der Chaldäer gegeben werden. ​ c  Sie werden sie im Feuer verbrennen, ​ d  und du selbst wirst [ihrer Hand] nicht entrinnen. ​ 19  a  König [Zidkija] sagte zu Jeremia: ​ b  Ich habe Angst vor den Judäern, ​ c  die zu den Chaldäern übergelaufen sind; ​ d  man könnte mich in ihre Hand geben, ​ e  und sie 20  a  Jeremia sagte: ​ b  Man wird (dich) nicht (in würden mir übel mitspielen. ​ ihre Hand) geben. ​ c  Höre doch auf die Stimmea Jhwhs ​ d  in dem, was ich zu dir rede, ​ e  damit es dir wohlergehe ​ f  und dein Leben gerettet ist!b  21  a  Wenn du dich aber weigerst hinauszugehen, ​ b  so ist dies das Wort, ​ c  das Jhwh mich hat schauen lassen: ​ 22  a1  Siehe, alle Frauen, ​ b  die im Palast des Königs von 478

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Juda übriggeblieben sind, ​ a2  werden zu den Offizieren des Königs von Babel c  während sie sagen: hinausgeführt, ​ d „Betrogen e und überwältigt haben dich die Männer deines Vertrauens. f Deine Füße sind im Morast versunken; g sie aber haben sich davongemacht (AlT: sie aber haben sich von dir abgewandt).“ 23  a  [Alle] deine Frauen und Kinder führt man zu den Chaldäern hinaus. ​ b  Auch du wirst [ihrer Hand] nicht entrinnen, ​ c  sondern von der Hand des Königs von Babel wirst du gepackt werden; ​ d  diese Stadt aber wirst du [im Feuer] verbrennen. (AlT: diese Stadt aber wird niedergebrannt werden.) 24  a  Zidkija sagte zu Jeremia (AlT: Der König sagte zu ihm): ​ b  Niemand darf von diesen Worten erfahren, ​ c  sonst wirst du sterben. ​ 25  a  Wenn die Patrizier hören, ​ b  dass ich mit dir geredet habe, ​ c  werden sie zu dir kommen ​ d  und zu dir sagen: ​ e  „Teil uns doch mit, ​ f  was du zum König gesagt g  Verschweige uns nichts, ​ h  sonst hast! (AlT: was der König zu dir gesagt hat!) ​ i  Und was hat der König zu dir gesagt?“ ​ 26  a  Dann sag bringen wir dich um! ​ b  „Ich trage meine Bitte dem König vor,a mich nicht in das Haus Jonazu ihnen: ​ tans zurückzuschaffen, sodass ich dort umkäme.“ ​ 27  a  Da kamen alle Patrizier b  und fragten ihn aus. ​ c  Er berichtete ihnen gemäß allen diesen zu Jeremia ​ Worten, ​ d  die (ihm) der König aufgetragen hatte. ​ e  Da ließen sie [von ihm] ab, ​ f  denn der Inhalt des Gesprächsa wurde nicht bekannt. b  als Jeru28  a  So blieb Jeremia im Wachhof bis zu dem Tag / zu der Zeit, ​ salem erobert wurde. 2 a Wörtl. sein Leben wird ihm zur Beute werden. ​ 9 a Anstelle von TT tm'Y"w: ist wahrscheinlich tmuy"w> zu lesen. ​ 10 a Wörtl. in deine Hand. ​ 11 a Wörtl. in seine Hand. b Möglicherweise lautete der Text ursprünglich rc'Aah' tx;T;l.m,-la, in die Kleiderkammer des Magazins (BHS). ​ 17 a Wörtl. a wird deine Lebenskraft / Seele überleben. ​ 20   AlT mit einer sekundären Lesart das Wort (vgl. 27 a). b Wörtl. und deine Lebenskraft / Seele überlebe. ​ 26 a Wörtl. ich lasse meine Bitte vor dem König niederfallen. ​ 27 a Wörtl. das Wort, die Sache; AlT bietet die sekundäre Lesart: das Wort Jhwhs (vgl. 20 a).

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Textgenese und Gliederung Die vorliegende Kommentierung behandelt den Komplex 37,1–38,28b aufgrund seiner thematischen Kohärenz als eine Einheit, da er nach dem Vorspann 37,1–2 durchgehend mit den Ursachen und dem wechselnden Verlauf von Jeremias Haft während der babylonischen Belagerung Jerusalems befasst ist. Die Abgrenzung nach oben entspricht der Kapitelgliederung, denn 37,1–2 setzt mit dem zeitlichen Übergang von den Jahren Jojakims in die Ära Zidkijas eine klare Zäsur. Die untere Grenze wird hingegen nach 38,28b gezogen, weil die Sätze 28cd syntaktisch mit dem nachfolgenden Kontext verzahnt sind (s. Textgenese zu 38,28c–40,6). Die Notiz von der Thronbesteigung Zidkijas und die proleptische theologische Summe seiner Regierungszeit in 37,1–2 treiben die Zeithöhe wieder in die Ära des letzten davidischen Königs voran, wie sie schon in 32–34 erreicht worden war, bevor die patrizische Redaktion (PR) mit 35–36 den älteren Zusammenhang von 34 + 37,3 ff. aufsprengte und in die Epoche Jojakims zurückblendete. Der sekundäre Einbau der Datierungsmarke ist auch daran abzulesen, dass sie den Blick auf den Beginn der 480

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Herrschaft Zidkijas lenkt, obwohl 37,3 ff. kurz vor deren Ende spielt, sodass es den Vv. 4–5 überlassen bleibt, jene Informationen zur Lage nachzutragen, die zum Verständnis des Folgenden vonnöten sind. Ferner wird das harsche Verdikt über Zidkija in V. 2 durch die Fortsetzung kaum ausgetragen, denn anders als das Pauschalurteil in V. 2 erwarten lässt, entwerfen die Kap. 37 f. ein differenziertes Panorama der Reaktionen auf Jeremias Botschaft: Das Volk spielt gar keine Rolle; aus den Hofkreisen schlägt dem Propheten gewaltsamer Widerstand entgegen, während der König ihn um seine Fürbitte bzw. um Auskunft über den Gotteswillen ersucht, auch wenn er es nicht über sich bringt, ihm Folge zu leisten. Nach allen Anzeichen war es der patrizische Redaktor selbst, der mit 37,1–2 wieder zum alten Folgetext von Kap. 34 überleitete, denn immerhin ähnelt die Kombination aus hören und Worte reden in V. 2 der Junktur von hören und Unheil reden, die ein Leitfossil der PR darstellt.1 In 1a ließ er Zidkija direkt seinen Halbbruder Jojakim (vgl. 2 Kön 23,34; 24,17; 1 Chr 3,15) in der Herrschaft ablösen statt dessen Sohn Jojachin (2 Kön 24,6; 1 Chr 3,16), weil er unmittelbar zuvor in 36,30b das göttliche Strafwort über Jojakim zitiert hatte: Er wird niemanden haben, der auf dem Thron Davids sitzt. Erst ein prämasoretischer Rezensor hat den Text an den tatsächlichen Hergang angeglichen, wobei er mit Why"n>K' Konjahu eine der für Jer typischen Varianten des Namens Jojachin verwendete (s. Textgenese zu 27–29). Auch die Trias König – Diener – Volk (2a) ist ein Spezifikum deuterojeremianischer Sprache.2 Die Erzählung hebt an mit der Orakelszene 37,3–10, und zwar ohne eingangs zu erklären, warum Zidkija überhaupt bei Jeremia vorstellig wurde. Die Informationslücke entstand, als PR die Szene von ihrem älteren Vortext abtrennte, dem dtr Kapitel 34, das zuvor an seinem Ende in V. 21–22 den Abzug der babylonischen Belagerer mitgeteilt und so die Brücke zu 37,3 geschlagen hatte. Ursprünglich hatte 34,7 den Vortext gebildet, der als Auftakt der Apologie Jeremias (AJ) sowie später der Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums (UPJ-Erzählung) zu Beginn die dramatische militärische Lage Judas umriss. Allerdings zeichnet die Orakelszene selbst widersprüchliche Bilder von der vorausgesetzten Situation. Die historische Hintergrundinformation V. 5 und die Replik des Propheten in V. 7–8 knüpfen an die Lage an, die bereits in 34,21–22 erreicht war: Zidkija habe seine Delegation zu Jeremia gesandt, nachdem die babylonischen Belagerer von Jerusalem abgezogen waren  – zeitweilig, wie Jeremia in 34,22 angekündigt hatte und wie sich bald bestätigen wird. Nun wird auch der Grund der überraschenden Wende nachgetragen: Die Babylonier hatten vom Anmarsch eines ägyptischen Heeres vernommen (V. 5). In V. 8 prophezeit Jeremia nochmals in ganz ähnlichen Worten wie in 34,22 die Rückkehr der Invasoren. In V. 9 hingegen warnt er nach einer erneuten prophetischen Botenformel (9a || 7a) vor der irrigen Hoffnung, die Babylonier könnten abziehen, um in V. 10 zu versichern, sogar geschlagene Feinde würden sich wieder erheben, und zwar jeder in seinem Zelt, um die Stadt niederzubrennen – ganz so, als lagerten die Gegner noch vor den Mauern. Außerdem lautet in 3b das königliche Begehr an den Propheten: Bete 1 26,13; 2 Sonst

35,16–17; 36,31; 40,2–3; sonst nur in 19,15 aus den individuellen Prosaorakeln. 21,7; 22,2MT.4; 37,18; vgl. 25,19; Kon 160–162.

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doch für uns zu Jhwh! Wenn jedoch im AT ein Mittler um seine Fürbitte ersucht wird, dann naturgemäß in dringenden Notlagen (s. Erklärung). Folglich handelt Zidkija in V. 3 ebenfalls, als drohe der baldige Fall der Stadt. In 7b dagegen bezeichnet Jeremia die Initiative des Königs als normale Orakelanfrage (vrd befragen), wie sie auch nach Abzug der Babylonier plausibel erscheint als Versuch, von Jhwh zu erfahren, wie der plötzliche Umschwung zu deuten sei. Ferner finden sich für den Abzug der Belagerer zwei verschiedene Ausdrucksweisen: in 5c l[;me hl[‑N (hier: abrücken), 9cd hingegen l[;me $lh (hier: abziehen). Diese Spannungen fächern den Textbestand von 37.3–10 in zwei Schichten auf: 1) Laut dem formal eigenständigen Stratum in V. 3.6.9–10 sandte Zidkija seine Delegation während der Belagerung zu Jeremia, um seine Fürbitte zu erlangen. Dieser Schicht entstammt auch der Vers 34,7, der schon früher als originaler Erzählauftakt zu 37,3 ff. identifiziert wurde, denn dort haben die Babylonier die Residenzstadt eingekesselt, und nur noch wenige Festungen halten die Gegenwehr aufrecht (s. z. St.). 2) Dagegen verlegen abhängige Zusätze in V. 5.7–8 die Gesandtschaft nachträglich in eine Belagerungspause und stilisieren Zidkijas Anliegen dementsprechend in eine Orakelanfrage um. Zur sekundären Natur dieses Konzepts passt auch der nach V. 3 verspätete Lagebericht in V. 5. Die Rekonstruktion einer Vorstufe, die noch keine Belagerungspause voraussetzte, wird von externen Zeugnissen erhärtet: 37,3–10 besitzt ein Gegenstück in 21,1–10, und wie die Auslegung zu zeigen hat, ist das Fürbittgesuch Hiskijas bei Jesaja in 2 Kön 18 f. (vgl. 19,4) ein literarischer Reflex desselben Vorgangs. Beide Parallelen verorten die königliche Bitte um prophetische Interzession in der umzingelten Stadt, wie es ohnehin der Erwartung entspricht. Eine Glosse ist vermutlich V. 4, der unterstreicht, dass Jeremia sich noch frei bewegen konnte. Die Notiz berücksichtigt, dass eine spätere Wachstumsstufe des Buches die Gefangenschaft des Propheten bereits in den Kap. *32–33 voraussetzte, die, beginnend mit 32 (JerDtr III), in mehreren Schüben in das Buch eingingen. Zudem gebraucht V. 4 mit ayliK.h; tyBe (Ketib) bzw. aWlK.h; tyBe (Qere) ein Wort für Gefängnis, das vom Sprachgebrauch des gesamten Kontextes abweicht (sonst nur 52,31).3 – Nachdem die patrizische Redaktion das Kap. 34 durch 35–37,2 von seiner originalen Fortsetzung getrennt hatte, wurde die Belagerungssituation als solche am Beginn von 37 gar nicht mehr erklärt. Ein prämasoretischer Ergänzer hat das Problem bemerkt und zu beheben versucht, indem er die Chaldäer 5b mit der Erläuterung die Jerusalem belagerten versah. – Im Weiteren wird sich die Grundschicht 34,7 + 37,3.6.9–10 als ehemaliger Beginn der Apologie Jeremias (AJ) herausstellen, während die Zusätze Vv. 5.7–8 die ersten Beiträge der UPJ-Erweiterung repräsentieren. Die Schichtentrennung in 37,3–10 wird von 37,11–38,28b gestützt, wo sie sich in dem doppelten Durchlauf von Jeremias Haft, Verlegung in den Wachhof und Audienz bei Zidkija fortsetzt (37,11–21 || 38,1–28b). Zwar kann eine „Szenenverdoppelung“ (Hardmeier) durchaus in einem einheitlichen Werk im Dienste bestimmter Wirk­ absichten eingesetzt werden. Das ist etwa in Ijob 1,6–22 + 2,1–10 der Fall, wo die Ab Vgl. aus der UPJ-Erzählung 37,15–16.18.20–21; 38,6–13.26.28; 39,14; ferner 32,2–3.8.12; 33,1.

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folge aus Himmelsszene, Plagen für Ijob, seiner gottesfürchtigen Ergebung und theologischem Fazit zweifach durchgespielt wird. Dort ist die Wiederholung allerdings klimaktisch angelegt, insofern der zweite Durchgang ausdrücklich am Ergebnis des ersten anknüpft und ihn überbietet, also das Geschehen deutlich weitertreibt. Wie jedoch z. St. zu zeigen ist, bleibt in 37–38 der Handlungsfortschritt vage, während die beiden Durchläufe in AlT die Gegner Jeremias nach Zusammensetzung und Motivlage unterscheiden, obwohl es sich auf der Ebene des Endtextes um dieselbe Gruppe handelt. Deshalb erklärt sich die Szenenverdoppelung hier besser als Resultat literarischer Expansion, ebenso wie in 2 Kön 18 f., wo die Sequenz aus Rede bzw. Brief des Rabschake, Klage Hiskijas, Heilsorakel Jesajas und Abzug der assyrischen Belagerer Jerusalems in 18,17–19,9b und 19,19c–36b zweifach auftritt. Die Stilisierung als sukzessive Vorgänge ändert dort nichts daran, dass die kritische Exegese die Reprise einmütig als Nachtrag beurteilt. Innerhalb von Jer 37,11–38,28b führt der erste Durchgang 37,11–21 die Bearbeitungsschicht Vv. 5.7–8 weiter, denn er verweist zu Beginn explizit auf die Belagerungspause als Voraussetzung für Jeremias Versuch, die Stadt zu verlassen (V. 12). Überdies bezeichnet V. 11 den Abzug der Babylonier wie V. 5 mit l[;me hl[‑N abrücken. Diese Eigenarten ordnen den Passus der UPJ-Ergänzung zu. Von den üblichen prämasoretischen Retuschen abgesehen, gibt es keinen Anlass, seine Einheitlichkeit zu bezweifeln, bei einer Ausnahme: Die Antwort des Propheten an Zidkija 17g–20 ist wahrscheinlich sekundär um die Vv. 18–19 erweitert worden, wie mehrere Merkmale anzeigen. 18a leitet ohne Adressatenwechsel die Rede erneut ein. Dann beschuldigt Jeremia dich, deine Diener und dieses Volk, seine Inhaftierung betrieben zu haben, obwohl er laut V. 13–15 von den Patriziern4 eingekerkert worden war, die seine Anklage allenfalls in dem Glied deine Diener mitmeinen kann. Das Volk hingegen geht in dem gesamten Erzählkomplex 37–44 niemals gewaltsam gegen den Propheten vor. Dabei benutzt Jeremia mit der Trias König – Diener – Volk wieder ein Merkmal deuterojeremianischer Sprache (s. o. zu 37,2a). In V. 19 prangert er die irrige Heilsgewissheit eurer Propheten an, die eine babylonische Invasion für ausgeschlossen hingestellt hatten. Dieses Thema besitzt im babylonischen Jeremiabuch nur ein ungefähres Pendant in 27–29, wo die judäischen Heilspropheten den baldigen Zusammenbruch des mesopotamischen Großreichs verheißen. In 37–43 steht dieses Sujet aber isoliert, und das Zitat 19c hat sogar im ganzen Buch keine Vorlage. 37,18–19 ist demnach als Zusatz eines Redaktors deuterojeremianischer Prägung zu werten, der das Versagen der vorexilischen Judäer und namentlich ihrer Heilspropheten in Erinnerung halten wollte. Was das Verhältnis von 37,11–21 zu 38 angeht, so muss der Vergleich vorweg 38,2 ausklammern, denn dieser Teil der zitierten Botschaft Jeremias stimmt nahezu wörtlich mit 21,9 überein, und zudem ist V. 3 durch eine separate prophetische Botenformel (3a) abgesetzt. V. 2 gilt deshalb zu Recht nahezu einhellig als konflationärer Einschub aus 21,9. Davon abgesehen, sind mehrere Gesichtspunkte zu beachten: (1) Auf Jeremias Bitte hin, nicht in das Haus Jonatans zurückgeschafft zu werden (37,20), erteilt Zidkija den Befehl, den Propheten im Wachhof (hr"J'M;h; rc;x]) zu ver Zu dieser Wiedergabe von rf śar s. Textgenese von Jer 26.

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wahren (dqp 21b), laut 32,2 ein Bestandteil des Palastbezirks. Dort stellt der König seine bevorzugte Verpflegung sicher, solange die Vorräte ausreichen (21c). Trotzdem ist auch Jeremias Aufenthalt im Wachhof als eine Form der Haft aufzufassen, obzwar von komfortablerer Art. Denn wie sich später herausstellt, kann der Prophet die Anlage nicht sogleich nach dem babylonischen Sieg verlassen, sondern er erlangt erst aufgrund eines formellen Beschlusses der neuen Herren seine Freiheit wieder (39,3.14). 32,1–5, ein frühes Echo von 37–38, versteht die Maßnahme als königlich verhängte Haftstrafe für seine Prophetie (32,3a WhY"qid>ci Aal'K. Zidkija hatte ihn gefangen gesetzt) und somit als Versuch, deren Verbreitung zu behindern. Selbst wenn er damit nicht alle Wirkmöglichkeiten verloren haben soll (32,6–15), beschränkte sich sein Publikum nach 32,12 auf jene Judäer, die Zutritt zum Wachhof hatten. Auch laut 33,1b wurde der Prophet im Wachhof festgehalten (rWc['). Folglich müsste der Verbleib im Wachhof seinen Zugang zur Öffentlichkeit eng beschnitten haben. Davon scheint 38 jedoch nichts zu wissen, denn das Kapitel beginnt mit der Nachricht, dass einige mächtige Männer Jeremias Ansage der unvermeidlichen Niederlage hörten, die er zum [ganzen] Volk redete (38,1; Partizip rBed:m. für Gleichzeitigkeit, hier in der Vergangenheit). Demnach kann der Prophet weiterhin ungehindert seine Botschaft verbreiten. Der Anfang der zweiten Haftepisode in 38 nimmt daher auf die erste in 37,11–21 aus der UPJ-Erweiterung keine Rücksicht; so entsteht der Verdacht, dass er einer anderen Hand entstammt. Mit den AJ-Anteilen in 37 ist der Passus dagegen problemlos vereinbar. (2) Der Abzug der Babylonier ist in 37 eine Besonderheit der UPJ-Ergänzung. Die Wiederaufnahme der Belagerung wird eigenartigerweise nirgends ausdrücklich konstatiert, aber ab einer bestimmten Zeithöhe vorausgesetzt. Nach langer Gefangenschaft in der Gewalt der Patrizier (37,16b) wird Jeremia zu Zidkija vorgeladen (V. 17). Dort erinnert er den König daran, dass die Heilspropheten, die einen babylonischen Einmarsch kategorisch ausgeschlossen hatten, durch den Gang der Ereignisse widerlegt wurden (V. 19). Diese Kritik entfaltet ihre volle Wucht nur bei Anwesenheit der Angreifer. Allerdings hat sich 37,18–19 bereits als Einschub erwiesen. Keinen solchen Bedenken unterliegt die Notiz 37,21c, auf Befehl Zidkijas habe der Prophet bis zum Versiegen der Nahrungsvorräte Sonderrationen erhalten, was bloß im Belagerungszustand Sinn ergibt. Kap. 38 setzt durchgehend die Feinde vor den Mauern voraus, so wenn Jeremias Widersacher ihn der Wehrkraftzersetzung bezichtigen (V. 4) und Ebed-Melech die Erschöpfung der Proviantreserven in der Stadt beklagt (9e). Dasselbe gilt für den zitierten Aufruf des Propheten zur Desertion in dem später ergänzten V. 2. Die Audienz 38,14–26 ist nur im eingekesselten Jerusalem verständlich. Der mangelnde Hinweis auf den erneuten Umschwung der Lage ist am ehesten zu begreifen, wenn die Belagerungspause sekundär von einem Bearbeiter eingeführt wurde, der die Rückkehr der Babylonier schlicht zu notieren versäumte. Der Schluss auf die Nachträglichkeit der Belagerungspause harmoniert mit dem Befund in 37,3–10. (3) Die Gegner Jeremias weisen in den beiden Haftepisoden ähnliche Kennzeichnungsprofile auf, doch namentlich in AlT stechen auch signifikante Unterschiede hervor. In 37,12–15 sind es nach beiden Textformen die Patrizier (~yrIF'h; 14 f.15a; zur Wiedergabe s. zu Kap. 26), die als geschlossene Gruppe brutal gegen den Propheten 484

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vorgehen. Der Wachoffizier Jirija (V. 13) liefert ihnen ihr Opfer aus, was den Anschein erweckt, dass er zu ihnen zählt. Sonst wird aus ihrem Kreis nur der Schreiber Jonatan namentlich identifiziert als Besitzer jenes Hauses, in dem die Patrizier Jeremia einkerkern (37,15.20; 38,26); allerdings tritt er nicht als handelnde Figur auf. Im zweiten Durchgang fallen eingangs die Namen von vier (AlT: drei) Männern (38,1), angeführt von einem gewissen Schefatja ben Mattan. Das dritte Mitglied des Quartetts bzw. Trios, Juchal ben Schelemja, war bereits als Mitglied der königlichen Delegation in 37,3 erwähnt worden. Laut MT sind es dann die Patrizier, die bei Zidkija die Todesstrafe für Jeremias Agitation verlangen, während in AlT nur das vorgenannte Trio redet (38,4a). Die Schefatja-Gruppe ist, nach ihrem Einfluss bei Hofe zu urteilen (Vv. 5–6), den Patriziern zuzurechnen, doch setzt erst MT die Sprecher von V. 4 mit Jeremias Widersachern aus 37,12–15 generalisierend gleich. Demgegenüber hat AlT eine ältere Fassung bewahrt, laut der Jeremia in der ersten Haftepisode von sämtlichen Patriziern drangsaliert wird, während ihn in 38 nur die Schefatja-Gruppe befehdet, deren selbstherrliches Gebaren sie der Führungsschicht zuordnet, ohne dass der Erzähler Interesse daran zeigt, ihren gesellschaftlichen Status zu explizieren. Auch Ebed-Melech und Zidkija bezeichnen in 38,9a.16e die Gegenspieler Jeremias nicht als „Patrizier“, sondern allgemein als diese Männer (anders 38,25a.27a; dazu sogleich). (4) Die divergierenden Kennzeichnungsprofile der Gegner Jeremias erstrecken sich weiterhin auf die Eigenart ihrer Vorwürfe gegen ihren Erzfeind. Die Schefatja-Gruppe in 38,1–6 vernimmt seine Botschaft (Vv. 1.3) und verurteilt sie als Anschlag auf die Kampfmoral (V. 4). Die Patrizier in 37,12–15 hingegen verhaften den Propheten beim Versuch, die Stadt nach Norden zu verlassen, und beschuldigen ihn der versuchten Fahnenflucht, als liefe er den abmarschierten Babyloniern hinterher. Diesen Verdacht konnte Jeremias Aufbruch nur erregen, wenn seinen Widersachern eine prophetische Verkündigung der in 37,7–10 zitierten Arten vertraut war; trotzdem sind es nicht seine Auftritte, die sie zum Einschreiten bewegen, sondern ein Akt, den sie als Desertion auffassen. Den Patriziern in 37 gilt Jeremia als Überläufer, der Schefatja-Gruppe in 38 als Wehrkraftzersetzer. Der Text wird allerdings in 38,19–20 auf das Thema Fahnenflucht zurückkommen; dazu sogleich. (5) Unterschiedliche Vorstellungen hegen die beiden Haftepisoden ferner von den Rahmenumständen der Audienzen. Im ersten Durchgang begegnet Jeremia dem König heimlich an einem nicht präzisierten Ort (37,17c), ohne dass die Vorsichtsmaßnahme begründet wird. Die zweite Unterredung ereignet sich dagegen am dritten Eingang, der sich beim Haus Jhwhs befindet (38,14bc). Nach allem, was wir über die Topographie des Tempelbezirks wissen, kann es sich dabei um keinen Schauplatz gehandelt haben, der zur Diskretion taugte. Erst prämasoretisch wurde auch die zweite Audienz durch den Zusatz heimlich 38,16a kontextwidrig in ein klandestines Treffen verwandelt. Der Text gibt keine Fingerzeige, warum die Gespräche erst im Verborgenen und dann auf öffentlicher Bühne stattfinden; dies erhärtet weiter den Verdacht, dass die beiden Durchgänge getrennte literarische Ebenen repräsentieren. Überdies wird sich in der Folge die Vorliebe für Heimlichkeit als ein typischer Zug der UPJ-Ergänzung erweisen (vgl. zu 38,24–27; 40,15). 485

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Alle genannten Indizien konvergieren zu dem Urteil, dass die beiden Haftepisoden verschiedenen Federn entstammen. *37,11–21 setzt die UPJ-Erweiterung in 37,3– 10 fort. Der zweite Durchlauf in 38,1 ff. schließt glatt an die Grundschicht 34,7 + 37,3.6.9–10 aus der AJ an und teilt mit ihr die Figur des Juchal ben Schelemja (37,3; 38,1). Folgerichtig weiß 38 zunächst nichts von einer vorherigen Haft Jeremias, noch wird eine Belagerungspause erwähnt. Gegen Ende von Kap. 38 treten indes Passagen auf, die Merkmale der UPJ-Ergänzung an sich tragen. Nachdem Zidkija das erbetene Gotteswort erhalten hat, befiehlt er dem Propheten, über die Gegenstände des Dialogs zu schweigen: Niemand darf von diesen Worten erfahren (38,24b). Damit unterwirft er das Gespräch in ähnlicher Weise dem Siegel des Geheimnisses, wie es schon in 37,17 geschehen war, obwohl der Ort jetzt wenig dafür geeignet erscheint. Weiterhin diktiert Zidkija dem Propheten eine Ausrede für den Fall, dass die Patrizier (38,25a) von dem Treffen Wind bekommen und nach seinem Inhalt fragen sollten. Tatsächlich handeln alle Patrizier (27a) wie befürchtet, doch weil Jeremia das königliche Geheiß befolgt, bleibt die Heimlichkeit gewahrt, denn der Inhalt des Gesprächs (wörtlich das Wort, die Sache) wurde nicht bekannt (27f). So kehren in 38,24–27 die bevorzugten Themen des Ergänzers mehrfach wieder. Besonders aussagekräftig ist die Antwort, die Zidkija dem Propheten vorgibt: Ich trage meine Bitte dem König vor, mich nicht in das Haus Jonatans zurückzuschaffen, sodass ich dort umkäme (26b). Der Satz ist im Hebräischen eine adaptierte Kopie des gleichartigen Ansuchens Jeremias während der ersten Audienz in 37,20b–d: Möge doch meine Bitte bei dir Gehör finden: Schaffe mich nicht zurück in das Haus des Schreibers Jonatan, damit ich dort nicht umkomme! Freilich kollidiert der Passus in 38 mit seinem Kontext, weil er nicht die letzte Folterhaft hervorhebt (38,6–13), als die Schefatja-Gruppe den Propheten in die Zisterne im Wachhof warf und ihn damit der Schilderung nach in eine weitaus bedrohlichere Lage brachte (38,6.9). Vielmehr verweist 26b über jene hinweg zurück auf die Gefangenschaft in den Händen der Patrizier, wie in der UPJ-Erweiterung geschildert (37,15–16). Folglich ist in 38,24–27 die Stimme des UPJ-Ergänzers zu vernehmen, die sich wie üblich in einem unselbstständigen Nachtrag zu Wort meldet. Die Handschrift des Bearbeiters tritt auch in 38,19 zutage, wo Zidkija seine Furcht vor den Judäern eingesteht, die zu den Chaldäern übergelaufen sind (19c). Diese Wendung markierte in 37,13e.14c das Motiv für die Feindschaft der Patrizier gegenüber Jeremia. Mit 38,19 ist Jeremias Antwort V. 20 untrennbar verbunden. Dass diese Passage tatsächlich der UPJ-Erweiterung angehört, wird sich später bestätigen, wenn sich herausstellt, dass Jeremias Verheißung an Zidkija damit es dir wohlergehe (20e) den geprägten Sprachgebrauch jenes Stratums repräsentiert (vgl. 40,9e; 42,6e; Kon 61). Nach der Ausklammerung der Vv. 19–20 schließt die Visionseröffnung V. 21 nur an V. 17 an, nicht aber an V. 18, der somit ebenfalls dem Einschub angehören muss. So erklärt sich auch die Verdoppelung der negativen Alternative in V. 18 und V. 21–23 (besonders 18a || 21a). Somit führt die textgenetische Prüfung von 37–38 auf eine Grundschicht, die wahrscheinlich 34,7; 37,3.6.9–10; 38,1.3–17.21–23.28ab umfasste. umfasste, einen nahtlosen Zusammenhang bildet und alsbald in 39,3.14* ihren Abschluss finden wird. 486

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Es handelt sich um die Apologie Jeremias, wobei die Exegese den abgerundeten Charakter des Dokuments und die Berechtigung des Titels erweisen muss. Im einstweilen erhobenen Bestand berichtet das Dokument, wie Jeremia in einer kritischen Phase der babylonischen Belagerung Jerusalems von Zidkija um seine Fürbitte ersucht wird, daraufhin Hoffnungen auf einen Abzug der Feinde zerstreut und deren Sieg ansagt. Diese Botschaft trägt Jeremia seitens mächtiger Gegenspieler aus judäischen Führungskreisen die Anklage der Wehrkraftzersetzung und eine lebensgefährliche Folterhaft ein. Auf die Fürsprache des Höflings Ebed-Melech lässt Zidkija den Propheten im Wachhof internieren und von dort zu einer Unterredung herbeiholen. In deren Verlauf erteilt Jeremia ein alternativ formuliertes Orakel: Durch die Kapitulation werde der König sich selbst und die Stadt retten; andernfalls stehe der Untergang fest. Auf das Konto des UPJ-Ergänzers gehen hingegen 37,5.7–8.11–17.20–21; 38,18– 20.24–27. Er führte den zeitweiligen Abzug der Angreifer und eine zusätzliche Haftepisode in die Erzählung ein. Ferner erweiterte er den Kreis der Opponenten Jeremias auf sämtliche Patrizier, die den Propheten verdächtigen, er wolle zu den Babyloniern desertieren. In dieser Haftepisode ist Jeremia eindeutig Gefangener der Patrizier in dem Haus ihres vornehmsten Vertreters (s. zu 37,15). Die Beiträge des UPJ-Ergänzers werden sich anschließend bis 43,7b fortsetzen. Weitere Wachstumsprozesse in 37–38 setzen bereits den Einbau der UPJ-Erzählung ins Jeremiabuch voraus. Der Vermerk von Jeremias unbeschränkter Bewegungsfreiheit 37,4 reagiert auf die sukzessive Vorschaltung von 32–33, die mit dem Nachtrag von 32 (JerDtr III) anhob. Die Datierungsmarke 37,1–2 entstammt dem patrizischen Redaktor, der 35–36 einfügte. Den deuterojeremianischen Hintergrund teilt sie mit dem Zusatz 37,18–19. 38,2 wurde konflationär aus 21,9 entlehnt. Zuletzt haben prämasoretische Hände eine Fülle von Glossen angebracht, die oben nur in Ausnahmefällen behandelt werden konnten, sofern sie für die weitere textgenetische Analyse bedeutsam sind. Schließlich hat auch die alexandrinische Textform sekundäre Retuschen erfahren. Ein für diesen Traditionsstrang ungewöhnliches Ausmaß erreichte die antizidkijanische Bearbeitung, die in 37,18c.20c.21b und 38,9 das Bild des letzten judäischen Königs kräftig nachgeschwärzt hat (TK). Die Eingriffe sind zu vergleichen mit zwei weiteren Revisionen: 34,18–19 AlT wirft Zidkija und seinen Zeitgenossen einen Stierkult nach Art des Goldenen Kalbes vor, und 52,11d AlT berichtet, der Davidide habe den Rest seiner Tage in Babylonien mit Sklavenarbeit im Mühlenhaus verbringen müssen (vgl. auch 52,8c). Dass diese Modifikationen auf alexandrinischer Seite vorgenommen wurden, wird von ihrer Typologie bestätigt, denn sie sind – anders als die weitaus meisten prämasoretischen Abweichungen – nicht primär quantitativer, sondern qualitativer Art. Möglicherweise gehen sie alle auf denselben Urheber zurück. Der Komplex 37,1–38,28b ist in mehrere Abschnitte gegliedert. Eine erste Zäsur verläuft nach V. 2, denn V. 3 fährt zwar mit Narrativ fort, belegt aber Zidkija trotz seiner Vorstellung in 1a nochmals mit Namen und Titel (so schon in AlT) und führt dazu zwei neue Figuren mit Filiation und im zweiten Fall auch mit Standesbezeichnung ein (3a). Nach dem Zitat des Redebefehls, mit dem Zidkija diese Männer zu Jeremia sendet (3b), tragen die Vv. 4–5 Hintergrundinformationen nach, bevor die Vv. 6–10 487

37,1

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Jeremias Antwort wiedergeben. Danach eröffnet V. 11 mit der Gliederungsformel hy"h'w> (original: yhiy>w:; TK) + b mit Infinitivus constructus einen neuen Abschnitt, der berichtet, wie der Prophet in den Kerker der Patrizier geriet. Die Szenenfolge schließt mit dem ersten Exemplar einer Serie von Notizen über den jeweiligen Aufenthaltsort Jeremias, die den Text bis 40,6b strukturieren werden, indem sie Abschnittsenden markieren: [Also] kam Jeremia in das Zisternenhaus und in die Gewölbe, und [Jeremia] blieb dort lange Zeit (V. 16; ferner 21d; 38,6 f.13c.28ab; 39,14d; 40,6b). In 17a fährt der Text zwar mit Narrativ fort, führt aber jetzt den Propheten zu einem Dialog mit Zidkija an einem neuen Schauplatz zusammen, der in MT als der Königspalast präzisiert wird (17c). Die Szene mündet ebenfalls in einen Vermerk der genannten Art, laut dem Jeremia nunmehr im Wachhof verbleibt (21d). Mit 38,1 betritt eine neue Gruppe von Figuren die Bühne: Gegner Jeremias, die bei Zidkija den Tod des Propheten fordern und von ihm freie Hand erhalten, mit dem Ergebnis, dass er in der Zisterne des Königssohns Malkija (6b) mit seinen Füßen im Schlamm versinkt (6f). Dies und die Einführung des Kuschiters Ebed-Melech in 7a bezeichnen den Anfang eines weiteren Abschnitts, der die Rettung Jeremias aus seinem lebensbedrohlichen Verlies schildert und im hebräischen Text von 13c in gleichen Worten wie in 37,21d die Rückkehr des Propheten in den Wachhof konstatiert. Danach geben die Vv. 14–26 eine ausgedehnte Audienz Jeremias bei Zidkija wieder, die an einem Schauplatz im Tempelbezirk lokalisiert wird (14bc). In V. 27 folgt ein kurzer Wortwechsel des Propheten mit den Patriziern, der aber der Ankündigung Zidkijas in den Vv. 25–26 entspricht und zu Beginn formal nicht nach oben abgesetzt wird. Mithin ist der Schlusspunkt des letzten Abschnitts wieder in der Nachricht von Jeremias Verbleib im Wachhof in 28ab zu verorten. Nach alldem ist der untersuchte Komplex in folgende Abschnitte gegliedert: 37,1–2.3–10.11–16.17–21; 38,1–6.7–13.14–28b.

Erklärung 37,1–10: Zidkijas Fürbittgesuch bei Jeremia 1 Die Notiz von der Thronbesteigung Zidkijas (V. 1) und die proleptische theologische

Bilanz seiner Regierungszeit (V. 2) beschließen den Einschub der patrizischen Redaktion (PR; s. zu 26,10–16), die durch 35–36 in die Jahre Jojakims zurückgeblickt hatte und hiermit wieder zur Ära des letzten davidischen Königs aufschließt, die in 32–34 schon erreicht war. Wie AlT zeigt, stellte der Redaktor in 1a Zidkija als direkten Nachfolger seines Halbbruders Jojakim hin (2 Kön 23,34; 24,17; 1 Chr 3,15), indem er die dreimonatige Herrschaft von dessen Sohn Jojachin (2 Kön 24,6.8) als unerheblich ignorierte. Dies geschah mit Rücksicht auf das Orakel, das unmittelbar zuvor in 36,30b über Jojakim ergangen war und ihm einen leiblichen Thronerben verweigerte: Er wird keinen (Nachkommen) haben, der auf dem Thron Davids sitzt. Erst ein prämasoretischer Schreiber hat den Namen in der buchtypischen Variante Konja(hu) ergänzt und so dem Gang der Ereignisse Rechnung getragen. Der Hinweis, dass Zidkija sein Amt aus babylonischer Hand empfangen hatte (1b; vgl. 2 Kön 24,17), stellt sich an488

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37,3

schließend als eine Art Menetekel heraus: Zidkijas Herrschaft stand über ihre gesamte Dauer im bedrückenden Schatten der babylonischen Übermacht, mit desaströsem Ausgang. – Zur Namensvariante Nebukadrezzar im Hebräischen s. Textgenese von Jer 27–29. Die Abhängigkeit der Herrschaft Zidkijas von fremder Gunst erscheint nicht unver- 2 dient angesichts des vorweggenommenen theologischen Resümees seiner Regierungsjahre, das die mangelnde Hörbereitschaft hervorhebt, ein für PR kennzeichnender Vorwurf (2a; ferner 35,16; 36,31; 40,3). PR erweitert damit die zuvor schon ausgesprochene Kritik an den früheren Generationen der Judäer, Jojakim, seiner Nachkommenschaft und seinen Hofkreisen (35,16; 36,31) auf die Zeitgenossen Zidkijas, und zwar speziell zugespitzt auf die Anklage der Taubheit gegenüber den durch Jeremia übermittelten Worten Jhwhs (2b). Wenn ausdrücklich er (Zidkija), seine Diener und das Volk des Landes bezichtigt werden (2a), variiert die Trias eine typisch deuterojeremianische Reihung gesellschaftlicher Stände, wobei PR nicht von ungefähr eine Spielart wählt, die von den Dienern (~ydIb'[]) der Könige redet5 anstelle von den Patriziern (~yrIf'), wie es vergleichbare Serien regelmäßig tun.6 Aber selbst wenn die patrizische Überleitung zu *37–44 den Ruf ihres Trägerkreises schont, erhebt sie doch die folgenden Fallbeispiele vergeblicher Appelle Jeremias vorweg zu Symptomen der umfassenden Schuld, die die Judäer in der Epoche Zidkijas auf sich luden. Im Dienste der religiösen Aufarbeitung der Exilskatastrophe verleiht sie damit den betreffenden Episoden einen exemplarischen Zeugniswert, der ihnen in den verarbeiteten Quellen noch abging. Was Zidkija selbst angeht, so werden die Leser angeleitet, seine mehrfachen Orakelanfragen bei Jeremia (37,3.17; 38,14) nicht als Ausdruck des Respekts vor dem Propheten, sondern vom Ergebnis her zu lesen, dem zufolge der König den Aufrufen zur Kapitulation schlussendlich doch nicht nachkam. Die Handlung kommt in Gang mit dem Fürbittgesuch Zidkijas bei Jeremia. Dabei 3 verrät zunächst weder die Erzählerstimme (3a) noch die durch Boten übermittelte Rede des Königs (3b) die Beweggründe des Herrschers, obwohl dessen Akt von einer dramatischen Notlage veranlasst sein müsste. Die Informationslücke resultiert aus den redaktionellen Prozessen, die die vorfindliche Komposition hervorgebracht haben. In V. 3 meldet sich die Apologie Jeremias (AJ) zu Wort mit einer Nachricht, die im Originalzustand der Quelle unmittelbar an das erschreckende Summarium der Kriegslage in 34,7 anschloss, das als Exposition diente und festhielt, dass außer Jerusalem nur noch die Festungen Lachisch und Aseka den Babyloniern widerstanden. Nach 34,7 ist 37,3 uneingeschränkt verständlich: Die endgültige Niederlage rückt unaufhaltsam näher. Derart in die Enge getrieben, greift König Zidkija zum letzten Strohhalm, indem er Jeremia um seine Fürbitte ersucht, weil er dem Propheten zutraut, Jhwh zum Eingreifen bewegen zu können. Wie der Verzweiflungsakt bekräftigt, spiegelte der Vers ursprünglich als Fortsetzung von 34,7 eine erzählte Situation, die keine Belagerungspause kannte. Denn im AT werden Dritte in der Regel dann als In5 Auch

21,7; 22,2MT.4; 37,18.  1,18; 2,26; 4,9; 8,1; 17,25; 24,1.8; 25,18; 29,2MT; 32,32; 34,19; 44,9AlT.17.21; vgl. 25,19; 49,3; Kon 160–162. 6

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37,3

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terzessoren bei Jhwh beansprucht, wenn schwerwiegendes Unheil droht oder bereits hereingebrochen ist.7 Dabei übernehmen oft Propheten die Fürbitte, die demnach zu ihren klassischen Aufgaben zählte. Nach diesem Muster lässt auch der UPJ-Ergänzer in 42,2 (vgl. 42,20) die nichtexilierten Judäer bei Jeremia um sein Fürbittgebet vorstellig werden, weil sie nach der Ermordung Gedaljas babylonische Racheakte fürchten (41,18). Zudem hat Jhwh laut JerDtr I dem Propheten mehrfach die Fürbitte strikt verboten, um jedes Hindernis für seinen Strafwillen auszuschließen (7,16; 11,14; 14,11). In der AJ folgte Zidkija also einer gängigen Praxis, doch sollte sich Jeremia bald als heikle Wahl herausstellen. Durch seine Anfrage gab der König zu verstehen, dass die göttliche Intervention, die allein das Kriegsglück noch zugunsten der Verteidiger wenden könnte, nun eilends erfolgen müsste, sollte sie dem babylonischen Triumph zuvorkommen. In der Parallele 21,2 spricht Zidkija sein Anliegen im Klartext aus: Vielleicht wird Jhwh [an uns] gemäß allen seinen Wundern handeln, sodass er (der König von Babylon) von uns abrücken muss. Dasselbe brachte der König hier per konkludenter Handlung zum Ausdruck: Jetzt konnte bloß noch ein Mirakel helfen; und wie eine in 9c zitierte, damals in Jerusalem umlaufende Durchhalteparole verrät, klammerte man sich an die Hoffnung auf einen überraschenden Abbruch der Belagerung. Dies kennzeichnet die Lage, auf die V. 3 ehemals gemünzt war: In der AJ war der Abzug der Babylonier das Ziel von Zidkijas Bitte um Interzession. Dagegen hat der UPJ-Ergänzer, wie wir in V. 5 erfahren, den tatsächlich eingetretenen Abmarsch in den Anlass von Zidkijas Botensendung verwandelt. Der Autor der AJ hielt die Namen von Zidkijas Emissären für wichtig genug, um sie mitzuteilen. Der erste, Juchal ben Schelemja, wird in 38,1 unter den gewalttätigen Gegenspielern Jeremias wiederkehren. Für die Historizität und Bedeutung des Mannes spricht die Tatsache, dass 2005 eine kontrollierte Grabung in Jerusalem eine Bulle (Siegelabdruck) zutage förderte, die den Namen Yhwkl bn Šlmyhw bn Šby (Juchal ben Schelemja ben Schobi) trägt und in einem Stratum auftrat, das laut der Ausgräberin Eilat Mazar aus der Zeit um die Wende zur babylonischen Epoche stammt.8 Der zweite Abgesandte, der Priester Zefanja ben Maaseja, gilt auch in der Parallele 21,1 als Mitglied der königlichen Delegation, und zwar neben Paschhur ben Malkija, der in der masoretischen Fassung von 38,1 ebenfalls zu den Widersachern des Propheten zählt. Außerdem spielt Zefanja in 29,25.29 in seiner Eigenschaft als Chef der Tempelpolizei gegenüber Jeremia eine zwielichtige Rolle (s. z. St.). Typisch für ein zeitnah entstandenes Dokument, konnte der Autor seine Figuren ohne nähere Vorstellung einführen. Für Zidkija und Jeremia gilt dies ohnehin; selbst der Titel der Prophet war ursprünglich entbehrlich (3a MT). Aber auch von den Boten trägt nur der Priester eine Amtsbezeichnung. Der Verfasser schrieb für Adressaten, die wussten, von wem 7  Z. B. Gen 20,7.17; Ex 12,32; Num 11,2; 21,7; 1 Sam 7,8–9; 12,19.23; 1 Kön 13,6; 2 Kön 19,4 || Jes 37,4; Ijob 42,8.10; vgl. Jer 29,7; Ps 72,15. Beispiele für Fürbitte ohne Auftrag: Ex 17,10–12; 32,11–13; Num 12,13; 14,13–19; 16,20–22; Dtn 9,18–20.25–29; 1 Sam 7,5; 2 Kön 6,17; Jer 15,11(korr.); 18,20; Am 7,2.5; Ps 106,23; Neh 1,6; 2 Chr 30,18–19; vgl. Gen 18,22c–33; Jer 15,1; 27,18. 8  E. Mazar, R. L.  Ben-Arie, Hebrew and Non-Indicative Bullae, in: E. Mazar (Hg.), The Summit of the City of David Excavations 2005–2008. Final Reports Vol. I: Area G, Jerusalem 2015, 299–362, 311 f.; Keel, Corpus Bd. V 434 f., Nr. 349. War Juchal tatsächlich der Besitzer des zugehörigen Siegels, war er kein Bruder des in 13c erwähnten Jirija / Seraja ben Schelemja ben Hananja.

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37,6–8

die Rede war. Nach dem Grund für das Interesse an den aufgezählten Vertretern der judäischen Führungskreise ist in der zusammenfassenden Rückschau auf die AJ zu fragen (s. zu 39,14). Obwohl der Abschnitt gerade erst mit V. 3 in den Erzählvordergrund eingetreten 4 war, schalten die Vv. 4–5 sogleich wieder in den Hintergrund, um Informationen zu ergänzen, die für das Verständnis des Folgenden unabdingbar sind. Auch diese verspäteten Klärungen resultieren aus den Textwachstumsprozessen in der Umgebung. V. 4 betont mit Partizipialsätzen für Gleichzeitigkeit in der Vergangenheit (4ab) die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit des Propheten. Die Glosse berücksichtigt die Vorkenntnisse eines Publikums, das eine weiterentwickelte Ausgabe des Jer liest, wo bereits der Vorbau der Kap. 32–33 begonnen hat, die ebenfalls während der Gefangenschaft Jeremias im Wachhof spielen. Wie V. 4 zugleich andeutet, wird der Text die bei linearer Lektüre schon bekannte Haft des Propheten bald wieder zum Thema machen. Dabei wird auch die Frage nach der Verantwortlichkeit eine neue Antwort erhalten, denn während 32,3–5 einzig Zidkija bezichtigte, verweist 4c mit pluralischem Prädikat auf eine Mehrzahl von Schuldigen. Deren Identität bleibt jedoch einstweilen in der Schwebe, weil das Subjekt nicht expliziert wird. Bis die Erzählung nähere Aufschlüsse gewährt, werden die Leser und Hörer noch für ein paar Verse in Spannung gehalten. V. 5 blendet mit einem frei invertierten Verbalsatz der Formation w˙=x-qatal (5a) 5 in die Vorvergangenheit zurück, um nachzutragen, dass schon vorweg die Babylonier von Jerusalem abgezogen waren, nachdem sie vom Anmarsch einer ägyptischen Armee vernommen hatten. Tatsächlich stieß der Pharao Apriës (biblisch Hofra, ägyptisch Wahibra; 589–570; s. zu 44,30; 46,25–26) 588 mit See‑ und Landstreitkräften in die Levante vor, um Tyrus und Sidon anzugreifen und so ägyptische Ansprüche auf die syropalästinische Landbrücke zu erneuern (ob er auch Jerusalem entsetzen wollte, ist zweifelhaft). Wie die Leser somit erst jetzt erfahren, wurde Zidkija in einem Moment bei Jeremia vorstellig, als sich die Kriegslage gerade überraschend entspannt hatte, ganz im Gegensatz zur üblichen Praxis der Auftragsfürbitte. Für ein Publikum, das über das weitere Schicksal Jerusalems im Bilde war, stand überdies von vornherein fest, dass die Rettung nur scheinbarer Natur gewesen sein konnte. In V. 5 wird erstmals die Stimme des UPJ-Ergänzers hörbar, der die Belagerungspause in den Handlungsfaden einflocht, weil sie ihm erlaubte, bestimmte Akzente zu setzen, die in seinen Beiträgen ab V. 11 zutage treten. Die Wortereignisformel V. 6 hat der UPJ-Ergänzer wohl aus der AJ übernommen, 6–8 um dann jedoch wieder selbst das Wort zu ergreifen, indem er, die Belagerungspause voraussetzend, den Propheten den Rückzug der Ägypter, die Wiederkehr der Babylonier sowie die Einnahme und Brandschatzung Jerusalems ankündigen lässt (7c–8). Jeremia verweigert damit nicht nur die gewünschte Fürbitte, sondern er definiert auch das Anliegen Zidkijas zu einer Orakelanfrage um, indem er es mit dem Verb vrd befragen beschreibt (7b). So unterlegt er der Initiative des Königs eine andere Stoßrichtung, denn ein Bittgebet zielt auf das Handeln Gottes in Gestalt der Erhörung; dagegen zielt eine Orakelanfrage normalerweise auf das Handeln der Fragesteller und sucht dazu Gottes Weisung in Gestalt einer Antwort (vgl. Hardmeier 310 f.). Verglichen mit Fürbittgesuchen passen Orakelanfragen auf ein sehr viel breiteres Spekt491

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rum von Umständen, da sie nicht auf akute Notlagen beschränkt sind. Sie erkunden beispielsweise vor wichtigen Entscheidungen den Gotteswillen,9 werden aber auch in dramatischen Krisen gestellt und kommen damit einem Fürbittgesuch nahe,10 zumal wenn sie die Hoffnung auf eine göttliche Rettungstat andeuten oder gar offen aussprechen. Dies tut etwa Zidkija in der Parallele 21,1–10, wenn er sich um eine vrd-Befragung bemüht, während die Stadt eingekesselt ist (V. 2). Der UPJ-Ergänzer reinterpretierte das königliche Gesuch an den Propheten durch 7b rückwirkend als Orakelanfrage, um es mit der neu eingeführten Belagerungspause zu vereinbaren, denn der Bedarf an göttlicher Deutung des Geschehens und Weisung für das politische Handeln war auch nach dem Abzug der Feinde glaubhaft. Infolgedessen ist 3b.7b der einzige Fall im AT, in dem die Verben llp-Dt und vrd scheinbar synonym nebeneinander auftreten (vgl. Thelle 199). Auf die somit unterstellte Orakelanfrage erteilt Jeremia indes eine Antwort, die möglichem Jubel über die unverhoffte Freiheit barsch widerspricht: Das ägyptische Entsatzheer werde alsbald unverrichteter Dinge in seine Heimat zurückkehren (7c), während die Babylonier ihrerseits zurückkehren und Jerusalem einäschern würden (V. 8). Der zweifache Gebrauch des Verbs bwv zurückkehren streicht die Ironie des Vorgangs heraus. Dabei nennt der Prophet keinerlei Grund für das göttlich beschlossene Unheil, was sich als charakteristisch für das theologische Profil der UPJ-Erzählung herausstellen wird. Mit dieser Replik Jeremias äußerte der Verfasser nicht zuletzt seine Kritik an den Hoffnungen auf ägyptischen Beistand, die seinerzeit den Durchhaltewillen der eingekesselten Jerusalemer maßgeblich gestärkt hatten, wie mehrere Quellen bezeugen: Ezechiel beklagte, dass Zidkija im illusionären Vertrauen auf ägyptische Unterstützung den Aufstand gegen Babylon riskiert hatte (Ez 17,7.15.17; vgl. 16,26; 29,6–7.16). Zur Warnung vor irrigen Erwartungen an Ägypten hat er ein umfangreiches Korpus von Unheilsworten über das Land der Pharaonen hinterlassen (Ez 29–32). Klgl 4,17 schaut tief enttäuscht auf die Zeit der Belagerung zurück: Noch vergehen unsere Augen (in der Erwartung) auf Hilfe für uns – umsonst! Auf unserer Warte spähten wir aus nach einer Nation, die (dann doch) nicht retten kann. Der Dichter erinnerte sich einer Nation, von der man sich Rettung vor den Babyloniern versprochen hatte, doch deren Namen er lieber schamvoll verschwieg. Dafür kommen einzig die Ägypter in Betracht, und tatsächlich schienen sie ja zeitweilig die in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen. Das in Lachisch aufgefundene Ostrakon 3 aus den Jahren der babylonischen Invasion deutet auf diplomatische Kontakte mit Ägypten, die das Ziel verfolgt haben dürften, Hilfe gegen die Invasoren zu finden: „Der Oberbefehlshaber des Heeres Konjahu, der Sohn des Elnatan, ist heruntergekommen, um nach Ägypten zu gehen“ (HTAT 262, S. 422). Bedingt durch die Lage auf der syropalästinischen Landbrücke zwischen Nil und Eufrat, hatte das Werben um ägyptischen Beistand gegen den Imperialismus mesopotamischer Großmächte in Israel Tradition. Schon Jesaja prangerte die bevorzugte Sicherheitspolitik seiner Zeitgenossen an, der assyrischen Expansion durch 9 Vgl. z. B. Num 27,21; Ri 1,1–2; 18,5–6; 20,18; 1 Sam 10,19–24; 14,37; 23,2.4; 2 Sam 2,1; 5,18– 19.22–24; 1 Kön 22,5.7.8. 10  Z. B. Ri 20, 23.27–28; 1 Sam 28,4–19; 30,1–8; 1 Kön 14; 2 Kön 3,9–19; 8,7–15; 22,11–20; Jer 37,17; 38,14; 42; 2 Chr 20,1–17.

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Militärallianzen mit Ägypten zu begegnen, weil er darin eine Schändung der Prärogativen Jhwhs als Schutzherr Israels erblickte (Jes 20; 30,1–7; 31,1–3). In den Berichten von der assyrischen Belagerung Jerusalems unter Sanherib 701 in 2 Kön 18,13–19,37 mokiert sich der assyrische Feldherr mit dem Titel Rabschake über judäische Hoffnungen, die Ägypter könnten die mesopotamische Übermacht abwehren (2 Kön 18,21.24). Die zugrundeliegende Erzählung ist wahrscheinlich im belagerten Jerusalem der Jahre 589–87 entstanden und ein Reflex jener politischen Richtungskämpfe, in denen Jeremia eine zentrale Rolle spielte (s. den Rückblick auf die AJ bei 39,14). Auch im Raum des einstigen Nordstaats Israel sah der Prophet den in seinen Augen gotteslästerlichen Hang zur Kumpanei mit Ägypten fortwirken (Jer 2,16–18). Die Kompilatoren des deuteronomischen Gesetzes sahen nicht von ungefähr Anlass, im Königsgesetz (Dtn 17,14–20) dem israelitischen Herrscher eigens das Bemühen um ägyptische Militärhilfe zu verbieten (V. 16). Ablesbar an der wiederholten prophetischen Botenformel (9a || 7a) und dem gegen- 9–10 teiligen Bild der Lage, ist wieder die Stimme der AJ zu vernehmen, denn jetzt warnt Jeremia vor irrigen Erwartungen, die aktuelle Bedrängnis werde ein wunderhaftes Ende finden: Täuscht euch nicht selbst, indem ihr sagt: „Ganz sicher werden die Chaldäer von uns abziehen!“ (9bc) Der Prophet spricht in eine Situation hinein, wo es zwar keinen Abzug der Belagerer, wohl aber enthusiastische Hoffnungen auf einen solchen gibt – ähnlich jenen, die die Parallele 21,2 dem König Zidkija explizit in den Mund legt (s. o. zu V. 3). Zugleich redet er, als gehörten seine Gegenüber zu den Selbstbetrügern, die mit dem zitierten Slogan ihr eigenes Wunschdenken befeuern. Dabei sei, wie er einräumt, durchaus mit einem Wunder zu rechnen; bloß werde es, sollte es denn eintreten, nicht im Interesse der Judäer, sondern zugunsten der Babylonier ausfallen: Sogar wenn die Verteidiger das Unmögliche zustande brächten und alle Belagerer niederschlügen, würden sich diese wundersam erheben und Jerusalem den Flammen weihen (V. 10). Die Unheilsansage bleibt unmotiviert; dieser Zug der UPJ-Erzählung (s. zu V. 8) ist somit bereits in ihrer Quelle AJ grundgelegt. Denn wie sich im Folgenden ergeben wird, beantwortet die AJ nicht die Frage, warum die Katastrophe hereinbrach, sondern was Jeremia unternahm, um einen glimpflichen Ausgang zu ermöglichen. – Der Erzähler teilt keine direkte Reaktion auf die klare Stellungnahme des Propheten zur Lage mit, doch werden sogleich indirekte Reaktionen zur Sprache kommen. Das Fürbittgesuch Zidkijas und die abweisende Replik Jeremias haben während der babylonischen Belagerung Jerusalems mit einiger Wahrscheinlichkeit tatsächlich stattgefunden. Zum historischen Hintergrund und zur literarischen Spiegelung der Ereignisse in der AJ s. an ihrem Ende zu 39,14.

37,11–21: Jeremias Verhaftung und seine erste Audienz bei Zidkija Kap. 37 berichtet ab V. 11 zunächst Vorgänge, die die Belagerungspause voraussetzen. 11–12 V. 11 verweist explizit und in der Terminologie der UPJ-Erweiterung auf sie zurück (l[;me hl[‑N abrücken wie 5c). Folglich fährt nunmehr wieder die Bearbeitungsschicht fort. Der Abzug der Babylonier erlaubt Jeremia, die Stadt zu verlassen und 493

37,11–12

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nach Norden in das angrenzende Territorium des Stammes Benjamin aufzubrechen. Der Erzähler schreibt ihm eine Absicht zu, die hier tentativ übersetzt ist mit um dort inmitten des Volkes eine Teilung vorzunehmen (V. 12). Der Versuch fußt auf dem Wort qlix]l;, in dem die tiberische Vokalisation einen Infinitiv des H-Stamms von qlx II teilen erkennt. Der Text ist ungesichert, denn die Form ist der einzige Fall des H-Stamms bei diesem Verb und überdies irregulär; außerdem weicht G* mit τοῦ ἀγοράσαι um zu kaufen ab, was allerdings wenig zur Klärung beiträgt, weil sich nicht entscheiden lässt, ob die Lesart eine abweichende Vorlage, eine andere morphologische Analyse oder eine bloß erratene Wiedergabe spiegelt. Die Variante belegt zumindest, dass der Passus schon früh auf einen Besitzerwerb Jeremias bezogen wurde. Zudem meint 32, der Prophet habe während seiner Haft im Wachhof an einer Immobilientransaktion seiner Sippe in seiner Heimat Benjamin (1,1; s. ferner unten zu V. 13–14) mitgewirkt. Was die Angabe inmitten des Volkes besagen soll, bliebe ohnehin rätselhaft, sofern der Verwandtschaftsterminus ~[; Volk hier nicht einfach Jeremias Großfamilie bezeichnet. Vielleicht dachte der Autor mit der „Teilung“ an einen Vorgang, bei dem die Nießbrauchrechte am Sippeneigentum an Grund und Boden, das nach israelitischen Vorstellungen theoretisch unverkäuflich war (vgl. Lev 25,8–31), nach aktuellem Bedarf unter den zugehörigen Familien neu ausgehandelt wurden (vgl. Domeris). Doch selbst wenn die präzise Bedeutung der Angabe über den Zweck der Reise kaum mehr zu ermitteln ist, tritt vor der Kulisse der Fortsetzung der entscheidende Punkt hinreichend klar hervor: Wie der Erzähler beansprucht, machte sich Jeremia aus einem privaten, ganz unpolitischen Grund auf den Weg; seine Motive hatten nichts mit dem Vorwurf gemein, der alsbald am Stadttor zu seiner Festnahme führte. 13–14 Als Jeremia das Benjamintor, also das nördliche Stadttor passiert, verhaftet ihn der wachhabende Offizier Jirija (AlT: Seraja) ben Schelemja ben Hananja11 unter der Anklage: Zu den Chaldäern willst du überlaufen! (13e), wobei er den Chaldäern durch die Position vor dem Subjekt und dem partizipialen Prädikat (lpenO hT'a;) einen starken Nachdruck beilegt und so seiner Wut über den vermeintlichen Hochverrat Luft macht. Jeremia wehrt sich mit dem empörten Ausruf rq,v, Lüge! bzw. Unsinn! (14b) und weist den Vorwurf zurück (14c), freilich ohne dass er mit einem Versuch zitiert würde, seine tatsächlichen Reisegründe zu erläutern. Jedenfalls schenkt der Wachoffizier Jeremia keinen Glauben und zieht daraus die Konsequenz, ihn den Patriziern auszuhändigen (14f). Darin klingen zwei Motive an, die die Gestaltung des Stoffes von der Haft des Propheten bestimmen, wie sie der UPJ-Ergänzer im Unterschied zur älteren Apologie Jeremias vornahm: Dieser Autor legte erstens Wert darauf, dass die feindliche Front gegen den Propheten „die“ bzw. „alle Patrizier“, also die kompletten judäischen Führungskreise einschloss, weshalb sie eine bevorzugte Zielscheibe seiner Polemik abgaben; zweitens spitzte er deren Kritik an Jeremias Haltung in der babylonischen Krise auf den Vorwurf der Fahnenflucht zu, den er seinerseits zu widerlegen trachtete. Wie wichtig ihm dieses Thema war, bestätigt sein Einschub 38,18–20, wo er nochmals darauf zurückkommen wird; daher soll es dort näher behandelt werden.  Wohl kein Bruder des Juchal ben Schelemja (3a; 38,1a); s. o. S. 490 Anm. 8.

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37,15–16

Jeremia stammte aus Anatot in Benjamin (1,1; 11,21.23; 32,7–9), sodass eine Reise dorthin einen gänzlich unpolitischen Charakter tragen konnte. Allerdings porträtiert ihn die UPJ-Erweiterung als einen Propheten, der auch nach Abzug der Babylonier unbeirrbar den finalen Triumph der Invasoren ankündigte; umso näher lag in der Textwelt der Verdacht, er habe die Unterbrechung der Kampfhandlungen nutzen wollen, um seinen lang gehegten Wunsch zur Desertion endlich umzusetzen. Ohnehin musste er, als babylonischer Parteigänger wahrgenommen, auch unter den neuen Umständen weiterhin um seine Sicherheit bangen. Zu alldem hat die Archäologie nachgewiesen, dass im damaligen Herrschaftsgebiet der Davididen vor allem der benjaminitische Raum den durchgreifenden Verwüstungen entging, die die Sieger seinerzeit anrichteten (Lipschits). Das Zentrum der Verwaltung des geschlagenen Juda installierten die Babylonier im benjaminitischen Mizpa (40,6 ff.). Das muss Gründe gehabt haben, über die sich derzeit freilich nur spekulieren lässt. Wie die UPJ-Erzählung, so bezeugt das gesamte Jeremiabuch, dass der Prophet in dem Streit, wie mit dem „Feind aus dem Norden“ umzugehen sei, Widerstand gegen die babylonische Übermacht ablehnte: Die Judäer sollten sich in die von Jhwh verfügte Unterlegenheit schicken, während die aussichtslose Gegenwehr sie nur ins Verderben risse. In dieser Kontroverse zog Jeremia den Kürzeren, doch er stand nicht allein. Man fragt sich daher, ob der Stamm Benjamin seine Verschonung einer größeren Bereitschaft zum Kompromiss mit den Angreifern verdankte. Dann könnte Jeremias benjaminitische Herkunft seine sogenannte „probabylonische“ Haltung gefördert oder zumindest den Argwohn politischer Motive hinter seinem religiös propagierten Standpunkt genährt haben. Das alles ist jedoch einstweilen offen und muss daher dahingestellt bleiben. Zum Gesamtbild gehört überdies, dass der Aufruf an die Benjaminiter zur Flucht aus Jerusalem in 6,1 nichts von einer Sonderbehandlung dieses Stammes durch die Babylonier weiß. V. 13 überliefert den Namen des Offiziers, der Jeremia verhaftet haben soll: Jirija (MT) bzw. Seraja (AlT) ben Schelemja ben Hananja. Der Autor hatte somit Gründe, den Urheber des Frevels an seinem Helden in Erinnerung zu halten. Der Mann ist sonst unbekannt, doch das Auftreten, das ihm zugeschrieben wird, spricht ihm unter den Patriziern eine führende Rolle zu. Die Vv. 15–16 führen die beiden zentralen Themen Desertion und Patrizier zu- 15–16 sammen, denn laut dem Vorspiel war es der Verdacht der versuchten Fahnenflucht, der die Patrizier derart gegen Jeremia aufbrachte, dass sie ihn misshandelten und in den Kerker warfen. Auch der Ort wird angegeben: das Haus eines Jonatan, der als Staatsschreiber das höchste Amt im Staate nach dem König ausübte und daher naturgemäß eine Spitzenstellung unter den Patriziern einnahm. Der hoch prominente Mann ermöglichte es den Adressaten, das Gebäude zu identifizieren, in dem der Prophet inhaftiert war. Ferner machte er sich mitschuldig, da es ohne sein Einverständnis nicht möglich gewesen wäre, Jeremia in seinem Haus gefangen zu halten. Doch obwohl Jonatan neben dem Offizier Jirija als einziger aus ihrem Kreis einen Namen trägt, wird er im Unterschied zu jenem nicht als handelnde Figur profiliert. Der UPJ-Ergänzer interessierte sich primär für die judäische Führungsschicht als Kollektiv. Vom Haus Jonatans wird eigens vermerkt, die Adligen hätten es zu einem Privatverlies umgerüstet (V. 15). Der Vers zeichnet das Bild einer von Spannungen zer495

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rissenen judäischen Gesellschaft, in der die Patrizier Jagd auf politische Abweichler machen, brutal gegen sie vorgehen und sie durch Haft in eigener Regie unschädlich zu machen suchen. Dabei handeln sie vollkommen eigenmächtig, ohne den König einzubeziehen. 16a steuert eine nicht ganz durchsichtige Erläuterung bei: Jeremia kam in das Zisternenhaus und in die Gewölbe (?). Die doppelte Beschreibung der Anlage weckt den Verdacht, dass sie nachträglich mit Rücksicht auf die zweite Haft Jeremias in der Zisterne im Wachhof 38,6–13 um das Zisternenhaus angereichert wurde, aber dies lässt sich nicht mehr entscheiden. Zisternen sind in den Fels geschlagene Wasserspeicher mit relativ kleiner Öffnung, die leicht zu verschließen ist, um die Verdunstung des Wassers zu bremsen (Abb. 4). In der Antike wurden sie mitunter zweckentfremdet, um Menschen festzusetzen,12 zumal es gebaute Gefängnisse als Instrumente des Strafvollzugs im antiken Israel nicht gab, weswegen die atl. Gesetzeskorpora auch keine Haftstrafen vorsehen. Eine vage Vorstellung von den Lebensumständen in solchen Löchern vermögen die Andeutungen im Zusammenhang mit Jeremias zweiter Zisternenhaft in 38,6–13 zu vermitteln. Zur Einkerkerung von Personen nutzte man natürlich Zisternen von geeigneter Größe und Form, die die Flucht unmöglich machten (Abb. 5); daher mussten die Opfer an Stricken herabgelassen und wieder herausgezogen werden (38,6d.10c.11c–13b; vgl. Gen 37,28). Für die Häftlinge stellten derlei Verliese eine extrem unkomfortable Form des Gewahrsams dar (Molnar-Hidvegi). Das feuchtkalte, düstere Milieu, womöglich noch verschärft durch armselige Kost, und die erbärmlichen hygienischen Verhältnisse – schließlich diente der Ort den Insassen auch als Toilette – drohten den Aufenthalt dort auf die Dauer in ein Todesurteil zu verwandeln. Wie Jeremia in 37,20d während seiner ersten Audienz bei Zidkija flehentlich beteuert, ginge er mit Sicherheit zugrunde, würde er in das Haus Jonatans zurückgeschafft werden (vgl. auch 38,26b), und in 38,9d.10d gehen sowohl Ebed-Melech als auch König Zidkija davon aus, dass Jeremia einen längeren Verbleib in der Zisterne des Königssohns Malkija (38,6b) nicht überleben würde. Wie nun 37,16b vermerkt, musste Jeremia die Gefangenschaft in der Gewalt der Patrizier für eine ausgedehnte Weile erdulden.

Abb. 4: Schematische Querschnitte von Zisternen. Die verengten Öffnungen bremsten die Verdunstung des Wassers und ließen sich mit Steinen oder Holz verschließen.  Gen 37,22–28; Ex 12,29; Jes 24,22; Sach 9,11; Klgl 3,53.

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37,17

Abb. 5: Schematische Darstellung von Zisternen. Bei hinreichender Höhe und steilen oder gar nach innen geneigten Wänden der Kavernen hatten Gefangene keine Möglichkeit zur Flucht.

Die Vv. 17–21 vollenden die erste Haftepisode durch die Hafterleichterung Jeremias 17–21 und die Audienz beim König, wie es dann der zweite Durchgang in 38 nochmals tun wird. Hier verschmilzt der Autor die beiden letzteren Erzählschritte, indem der Prophet seine Hafterleichterung während der Audienz erhält. Dem UPJ-Ergänzer ist es wichtig, dass die Unterredungen zwischen König und 17 Prophet, soweit von ihm gestaltet, heimlich stattfinden (17c), ein Muster, das sich in seinen Zusätzen zur zweiten Audienz wiederholen wird (vgl. 38,24–27). Weil dort die Verschwiegenheit gegenüber den Patriziern betont wird, werden die Leser angeleitet, sich diese Gruppe als so machtvoll vorzustellen, dass sie den Monarchen unter enormem Druck hält und seinem Handlungsspielraum enge Grenzen zieht. Dabei gibt sich der Erzähler keine Mühe zu erklären, wie der König den Propheten überhaupt insgeheim seinen Kerkermeistern hat entreißen können. Noch weitere Merkwürdigkeiten kennzeichnen die erste Audienz. Zidkija fragt ohne jeden expliziten Bezug auf Situation und Anlass: Gibt es ein Wort von Jhwh? (17e) und erkennt damit an, dass Offenbarungen dem Propheten unerzwingbar fallweise zuteilwerden (vgl. 42,7). Jeremia antwortet seinerseits ebenso kurz angebunden: Es gibt (eines). In die Hand des Königs von Babel wirst du gegeben werden. (17gi, nach AlT; in MT ist eine weitere Redeeinleitung dazwischengeschaltet, die eine spannungssteigernde Sprechpause andeutet). Formal auf ihren Mindestbestand reduziert, sind Orakelanfrage und ‑antwort auf das Schicksal des Königs zugespitzt, und abermals bleibt die Unheilsansage unbegründet. Die Knappheit der Szene ist den Darstellungszielen des UPJ-Ergänzers geschuldet: Er hat die erste Haftepisode eingefügt, um den Widersachern Jeremias ein bestimmtes Profil beizulegen und ihren Kollaborationsvorwurf zu entkräften, wie oben zu V. 13–14 beschrieben. Der anschließenden ersten Audienz kommt dann nur noch die Aufgabe zu, Jeremia in den Wachhof zu befördern, um eine einigermaßen glaubhafte Ausgangslage für die ältere Parallelfassung aus der Apologie Jeremias ab 38,1 zu schaffen. Dies werden die Vv. 20–21 leisten. 497

37,18

Jeremias Haft

Die erste Audienz hat in ihrer heutigen Fassung größeres Gewicht erhalten durch den Nachtrag VV. 18–19, der an der neuen Redeeinleitung 18a und dem kontextfremden Inhalt kenntlich ist. In V. 18 macht Jeremia dich (den König), deine Diener und dieses Volk – die schon in 2a aufgetretene typisch deuterojeremianische Trias (s. z. St.) – für seine Gefangenschaft haftbar. Indem der Redaktor die Verantwortung für die Repressalien gegen Jeremia aus späterer theologischer Warte auf sämtliche Judäer verallgemeinert, erhebt er sie zu einem Exempel der generellen Schuldverstrickung der vorexilischen Generation und stellt so den erzählten Stoff in den Dienst der religiösen Bewältigung der Exilskatastrophe. Wenn der Prophet dabei seinen Protest gegen das erlittene Unrecht in die Form der Frage nach seinem Verschulden gießt, bedrängt er Zidkija, die Gründe für seine Misshandlung offenzulegen, was diesen zum Eingeständnis seiner Unschuld zwingen müsste. Indem Jeremia den König weiterhin der Mittäterschaft an seiner Kerkerhaft bezichtigt, macht er ihn für sein vergangenes Ergehen mitverantwortlich – und damit zugleich für seine Zukunft. So übt er Druck auf den Herrscher aus, an seinem Elend etwas zu ändern. 19 Anschließend hebt Jeremia das Versagen der Heilspropheten hervor, distanzierend eure Propheten genannt, die einen babylonischen Angriff kategorisch ausgeschlossen hatten, wie ihnen dies in 5,12; 23,17 vorgehalten wird.13 Der Kontrast zu seinen prophetischen Gegenspielern unterstreicht seine Unschuld: Während der Gang der Ereignisse die Heilspropheten der Lüge überführt hat, darf sich Jeremia glänzend bestätigt finden. Trotzdem hat er Anlass, rhetorisch zu fragen: Wo sind (denn jetzt) eure Propheten …? Jeremia droht im Kerker zugrunde zu gehen, doch sie bleiben unbehelligt; dabei wären eigentlich sie es, die sein Schicksal verdient hätten. Der Seitenhieb auf die Heilspropheten greift weit über den engeren Kontext hinaus, da diese Enthusiasten zuletzt in der Falschprophetenkomposition 27–29 zu Wort gekommen waren; das Zitat 19c hat in Jer sogar überhaupt keine unmittelbare Entsprechung. Die sarkastische Reminiszenz überfordert zwar den gegebenen Erzählzusammenhang, trägt aber dazu bei, die theologische Relevanz der UPJ-Erzählung zu verstetigen. Nachdem das Dokument ehemals – wie noch zu zeigen ist – auf eine recht enge historische Situation gemünzt gewesen war, gewinnt es an Bedeutung, indem der Einschub zusätzlich dazu gemahnt, aus der Erinnerung an die unheilvolle Rolle der Heilspropheten unmittelbar vor dem Exil die angemessenen Lehren zu ziehen. 20–21 Der UPJ-Ergänzer arrangierte die erste Audienz des Propheten bei Zidkija unter dem Erzählzwang, einen plausiblen Übergang von der Haft Jeremias bei den Patriziern zur älteren Haftepisode aus der AJ in 38 zu bewerkstelligen. Deshalb hatte er die Orakelszene als bloßen Aufhänger in V. 17 auf das Mindestmaß beschränkt, um nun Jeremia den erzähllogisch notwendigen Punkt vorbringen zu lassen: die flehentliche Bitte, ihn vor dem Privatgefängnis im Haus Jonatans zu retten (V. 20), weil er dort, wie er begründend hinzufügt, unweigerlich zu Tode käme (20d). So flicht der Autor einen Hinweis ein, was die Patrizier mit dem Propheten im Schilde führten und wie man sich seine Existenz dort auszumalen hat (s. zu V. 16). Der König willfährt 18

 Vgl. ferner 6,14 || 8,11 MT; 27,14–17; 28,2–4.

13

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38,1

Jeremias Bitte und lässt ihn im Wachhof verwahren (21b), einer milderen Form der Haft in einem Teil der Palastanlage (s. Textgenese). Im Unterschied zu 32,2b wird der Wachhof nicht lokalisiert, denn auch der UPJ-Ergänzer schrieb für ein zeitnahes Publikum, dem die Lage der Einrichtung noch geläufig war. Auf Geheiß Zidkijas erhält der Prophet dort eine privilegierte Verpflegung, solange die Vorräte in der Stadt dies erlauben (21c). Folglich soll man sich Jerusalem wieder als belagert vorstellen, obwohl die UPJ-Erzählung darüber sonst nichts verlauten ließ. Wenn Jeremia eine derartige Vorzugsbehandlung erfährt, obwohl er ein unerwünschtes Gotteswort übermittelt hat (17i), verstärkt dies den schon von den beiden Orakelanfragen geförderten Eindruck, dass für den Erzähler der König dem Propheten im Grunde wohlgesonnen ist.

38,1–28b: Ebed-Melechs Einsatz für Jeremia und dessen zweite Audienz bei Zidkija Die zweite, ältere Haftepisode aus der Apologie Jeremias (AJ) setzt ein mit der Nach- 1 richt, dass mächtige Gegner Jeremias aus den judäischen Führungskreisen die Verkündigung des Propheten hörten. Nach seiner Antwort auf das Fürbittgesuch fasste die Quelle also nochmals seine Kernbotschaft aus der Perspektive dieser Widersacher zusammen. Von den vier (MT) bzw. drei (AlT) Männern ist der dritte, Juchal ben Schelemja, bereits als ein Mitglied von Zidkijas Delegation in 37,3 bekannt.14 Deshalb ist seine Person schon mit bestimmten Assoziationen besetzt, insofern sich Jeremias pluralisch adressierte Warnung vor illusionären Hoffnungen auf den Abzug der Babylonier 37,9 auch an seine Adresse zu richten schien. In der Tat wird er sich nun als erbitterter Feind des Propheten hervortun. Über die beiden ersten Vertreter, Schefatja ben Mattan und Gedalja ben Paschhur, ist im AT sonst nichts überliefert. Die Namen Schefatja und Mattan sind zwar jeweils mehrfach im AT belegt, kehren aber in Jer nicht wieder, anders als Gedalja (vgl. 39,14; 40,5–41,18; 43,6; ferner Zef 1,1 u. ö.) und Paschhur (vgl. 20,1–6). Doch da dies alles gängige althebräische Männernamen waren, hat bei Schlüssen auf Identitäten und Verwandtschaften Vorsicht zu walten. Allerdings wird die Historizität und machtvolle Position des Gedalja ben Paschhur – ebenso wie bei Juchal ben Schelemja (s. zu 37,3) – durch eine Bulle (Siegelabdruck) mit seinem Namen untermauert, die 2008 in Jerusalem in einer kontrollierten Grabung in einer Schicht aus der Zeit um die Wende vom 7. zum 6. Jh. gefunden wurde.15 Der nur in MT erwähnte Paschhur ben Malkija zählt in 21,1 zu Zidkijas Gesandtschaft und wird mit dem gleichnamigen Priester zu identifizieren sein, der in 1 Chr 9,12 || Neh 11,12 erwähnt wird. Doch gerade weil sein Name die vierte und letzte Position einnimmt, lässt sich nicht ausschließen, dass er konflationär aus 21,1 entlehnt wurde;  Dort auch Verweis auf eine inschriftliche Bezeugung.  – Die orthographischen Differenzen

14

hy"m.l,v,-!B, lk;Why> 37,3a  / Why"m.l,v,-!B, lk;Wy 38,1a betreffen nur die Schreibung der theophoren Anteile

und sind unerheblich. 15  Mazar  – Ben-Arie, Hebrew and Non-Indicative Bullae (s. o. S. 490 Anm. 8) 307 f.; Keel, Corpus Bd. V 436 f., Nr. 350. Eine Abbildung findet sich z. B. auch bei Frevel, Geschichte Israels 280, Abb. 43.

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38,1

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freilich kann er auch durch Parablepsis (Augensprung) ausgefallen sein. Aber selbst wenn es sich um einen späten Einschub handeln sollte, wird man 21,1 als Beleg werten dürfen, dass der Mann korrekt derselben Partei zugerechnet wurde wie die übrigen drei Figuren. Interessanterweise trägt er wie der Vater des vorweg aufgeführten Gedalja einen ägyptischen Namen, denn Paschhur geht zurück auf ägyptisch pȝ-šrj-[n]Ḥr der Sohn des Horus (Ges18), formal eine Huldigung für Horus, den bedeutenden ägyptischen Himmels‑ und Königsgott. Die übrigen Männer unter Einschluss von Paschhurs Vater tragen jahwistische Bekenntnisnamen (Schefatja Jhwh hat Recht geschaffen; Gedalja Jhwh ist groß/hat Großes getan; Schelemja Jhwh hat einen Mangel behoben; Malkija Jhwh ist König); oder ihren Namen fehlt das theophore Element (d. h. der Gottesname), sodass die gemeinte Gottheit als bekannt vorausgesetzt wird (Mattan Gabe [des Gottes X]; Juchal [Der Gott X] erweise/erwies seine Macht) und als Jhwh identifizierbar ist. Laut Jer war somit ein Horus-haltiger Name um die Wende vom 7. zum 6. Jh. in Juda populär, und das sogar bei Priestern (20,1; 21,1), obwohl wenige Jahrzehnte zuvor die joschijanische Reform (622) der Monolatrie im offiziellen judäischen Kult den Weg geebnet hatte. Der Name Paschhur dürfte daher keine Anrufung eines Fremdgottes repräsentieren, sondern „eine ägyptisierende Interpretation Jhwhs als Königsgott“ (Keel, Geschichte I 411, § 472). Die Beliebtheit einer solchen Deutung Jhwhs bei hochrangigen Judäern ist ein Indiz für die Verbreitung ägyptophiler Tendenzen in den Führungskreisen des Landes. Ein Paschhur bezog schon durch seinen Namen einen politischen Standpunkt, der ihn in Konflikt mit Jeremias Aufrufen zum Arrangement mit den Babyloniern bringen musste (vgl. 20,1–6), wie sie in V. 2–3 abermals zur Sprache kommen.  – Eine prämasoretische Glosse in 4a rechnete die Männer den Patriziern zu, was soziologisch zweifelsohne zutrifft, doch kennzeichnet es den Autor der AJ, dass er an einer solchen Zuordnung noch nicht interessiert war, ganz zu schweigen von einer Ausweitung der Opposition gegen den Propheten auf den gesamten judäischen Adel, wie sie der UPJ-Ergänzer vollzog. Der Verfasser hatte mit einzelnen prominenten Vertretern der Führungsschicht eine Rechnung offen, weswegen er sorgfältig ihre Namen protokollierte. 2 Das Summarium von Jeremias Kernbotschaft ist, wie die doppelte Botenformel 2a || 3a und die hochgradige Übereinstimmung von V. 2 mit 21,9 bezeugen, sekundär aus jener Parallele angereichert worden. Der einkopierte V. 2 unterstellt zweifellos, dass Jerusalem wieder eingekesselt ist, und legt Jeremias Hörern eine Alternative vor, ausgedrückt in der geprägten Sprache, die der Vorlage (aus den individuellen Orakeln) eigen ist: Wer weiterhin Widerstand leistet, wird durch Schwert und Hunger sterben – MT setzt noch die Seuche hinzu – (Kon 49 f.); wer dagegen zu den Chaldäern hinausgeht, der wird sein Leben als Beute erhalten. Das letztere Idiom bezieht sich auf einen Kämpfer, der mit knapper Not einen Krieg überlebt hat, sodass das bloße Entrinnen vor dem Tod an die Stelle der erhofften Beute tritt. Die Belege der Phrase meinen immer die Rettung des eigenen Lebens in dem von den Babyloniern herbeigeführten Untergang Judas (ferner 39,18; 45,5; Kon 135). Laut dem zitierten Autor von 21,9 bot Jhwh den Belagerten folglich seinerzeit nicht mehr als das nackte Überleben an. Wie indes der Vergleich mit 37,7–10 und 38,17–23 zeigt, erweitert der Einschub den Blickwinkel der damaligen Prophetie Jeremias über das Los Jerusalems und des 500

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Königs hinaus auf alle Judäer. Die Anleihe ist allerdings insofern an den neuen Kontext angepasst, als sie auf der positiven Seite nur den Appell zur Kapitulation 21,9b adaptiert, der ebenso wie die gleichartige Forderung an Zidkija in 17c.18a.21a mit dem Verb acy hinausgehen formuliert ist. Mit Rücksicht auf Jeremias demonstrative Distanzierung von den Überläufern (37,13–14; 38,19–20) fehlt dagegen der Aufruf zur Desertion 21,9c, der mit lpn fallen, überlaufen ausgedrückt wird, jenem Verb, von dem das substantivierte Partizip lpenO Überläufer abgeleitet ist. V. 3 repräsentiert den älteren Stand, dem zufolge der Prophet ohne Wenn und 3 Aber die babylonische Einnahme Jerusalems ankündigte, ganz im Einklang mit den Zitaten Jeremias in der AJ 37,9–10 und in der UPJ-Ergänzung 37,7–8, die allein das Ergehen der Stadt ins Auge fassen, ohne auf die Not der Belagerten einzugehen. Die Fokussierung auf Jerusalem ist bedingt durch die Kontroversen um die Zionstheologie, die zur Entstehungszeit der beiden Werke tobten (s. die zusammenfassenden Exegesen der AJ bei 39,14 und der UPJ-Erzählung bei 43,7). Die Vv. 17–23 werden nur insofern darüber hinausgehen, als sie neben der Stadt auch die Königsfamilie berücksichtigen. Wie daher der Vergleich mit V. 2 beispielhaft illustriert, verschob sich die theologische Problematik erst später derart, dass sich das Interesse dem Schicksal der Bewohner zuwandte. Die Männer um Schefatja ben Mattan  – MT sieht hier die Patrizier insgesamt 4–6 am Werk (4a) – fordern beim König für Jeremia die Todesstrafe (4b), weil sie seine Prophetie als Wehrkraftzersetzung verdammen. Wenn sie um die Kampfmoral der Krieger fürchten, die in d[ies]er Stadt übriggeblieben sind (4c), eröffnen sie nebenbei einen Blick auf die dramatische Lage der eingekesselten Residenzstadt: Die Zahl der Verteidiger schmilzt rapide dahin. Wie sehr damals die Resignation um sich griff, beleuchtet das Lachisch-Ostrakon 6, das einer Gruppe von Briefen angehört, die Schlaglichter auf die militärische Lage in Juda während des babylonischen Feldzugs gegen Juda werfen. Der Absender charakterisiert die Situation mit denselben Worten, mit denen die Schefatja-Gruppe in 4c den Vorwurf der Wehrkraftzersetzung formuliert: ydEy>-ta, hpr‑D jemandes Hände schlaff machen. Wer ist dein Diener – ein Hund! –, dass mein Herr (ihm) den Brief des Königs und die Briefe der Min[ist]er gesandt hat mit den Worten: „Lies!“ Doch siehe, die Worte der [Mi]nist[er] sind nicht gut, (sondern geeignet,) deine Hände schlaff zu machen und die Hände der Mä[nner? …] zur Untätigkeit zu veranlassen. (HTAT 264, S. 423 f.)

Die Gegner Jeremias bündeln ihre Sicht auf den Propheten, indem sie ihn als Feind in den eigenen Reihen denunzieren, der den Judäern nur schaden will: Dieser Mann sucht nicht Heil für dieses Volk, sondern Unheil! (4d). Naturgemäß verweigern sie ihrem Gegenspieler den Prophetentitel, sondern tun ihn verächtlich als dieser Mann ab (4bd), ebenso wie die Sprecher in 26,11b, die ebenfalls die Todesstrafe für Jeremia verlangen. Der Erzähler nutzt den Auftritt der Schefatja-Gruppe bei Zidkija, um ihre Macht in Szene zu setzen: Zuvor hatte der Herrscher um Jeremias Fürbitte gebeten und so den Propheten öffentlich als authentischen Kommunikationskanal zu Jhwh anerkannt (und dem UPJ-Ergänzer zufolge hatte Zidkija den Propheten sogar in gewissem Maße 501

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7

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protegiert: 37,17.20–21). Nun gehen die Schefatja-Leute zwar nicht rundheraus eigenmächtig gegen ihren Erzfeind vor wie zuvor die Patrizier in 37,15, denn immerhin protestieren sie formal beim König als oberstem Gerichtsherrn. Doch was als rechtmäßiges Verfahren erscheinen mag, hat nur die Folge, dass Zidkija ungeschminkt die Grenzen seiner Autorität eingestehen muss: Wie er in MT offen einräumt, ist es nicht seine eigene Jurisdiktion, die über Jeremia entscheidet, sondern der Wille dieser Männer, vor denen auch er seinen prophetischen Günstling nicht schützen kann (V. 5). Ist seine Antwort 5cd richtig verstanden mit: denn den König gibt es nicht, der gegen euch [etwas] vermag, stellt er seine Gegenüber sogar als eine Clique hin, die das wahre Machtzentrum Judas ausmacht. Daraufhin bringen die Schefatja-Leute ihren prophetischen Gegenspieler zwar nicht kurzerhand um, sondern werfen ihn in eine verschlammte Zisterne (der ältere alexandrinische Text weiß nichts von Stricken, mit denen Jeremia herabgelassen worden sei). Die Leere der Zisterne wird wie in Gen 37,24 eigens notiert, da sie eine unabdingbare Voraussetzung dafür bildet, dass der Häftling überhaupt eine Weile darin überleben kann. Aber was wie Schonung aussehen mag, gehört in Wahrheit zur Brutalität des Vorgehens: Die Gefangenschaft in der Kaverne ist die Methode der Schefatja-Gruppe, das in 4b verlangte Todesurteil zu vollstrecken, indem sie den Propheten mit einer abschreckenden Folterstrafe in seinem nasskalten Verlies langsam zu Tode quälen (s. zu 37,15–16). Ebed-Melech wird sogleich mit eben dieser Interpretation ihrer Absichten den König überzeugen, zugunsten Jeremias einzugreifen (9d.10d), und schon von der weniger konkret beschriebenen Haft in der Gewalt der Patrizier hatte der Prophet nichts anderes als den sicheren Tod erwartet (37,20; vgl. 38,26). Wenn die Schefatja-Leute für ihren Mordplan eine Zisterne nutzen können, die sich im Wachhof befindet und einem Königssohn zugeordnet wird, zeichnet dies eine Jerusalemer Binnenwelt, wo der Streit um den richtigen Umgang mit der aktuellen Kriegsnot auch die Königsfamilie entzweit.

Literatur: V. Lopasso, Ebed-Melec nella letteratura biblica e guidaica, LASBF 63 (2013) 117–136. T. Parker, Ebed-Melech as Exemplar, in: J. Goldingay (Hg.), Uprooting and Planting (FS L. Allen; LHB.OTS 459), New York 2007, 253–259. R. S.  Sadler, Can a Cushite Change his Skin? An Examination of Race, Ethnicity, and Othering in the Hebrew Bible (LHB.OTS 425), New York 2005.

7a führt eine neue Figur ein, die Jeremia das Leben retten wird: Ebed-Melech. Das Gentilizium der Kuschiter kennzeichnet ihn als dunkelhäutigen (13,23) Afrikaner, der selbst oder über seine Vorfahren aus Nubien, d. h. dem nördlichen Sudan, oder aus Abessinien, d. h. dem nördlichen Äthiopien, abkünftig ist (vgl. bes. Ez 29,10). Sein Name bedeutet Königsdiener und klingt nach dem Titel eines Amtsträgers bei Hofe.16 Allerdings stellt der fehlende Artikel beim Nomen rectum der Konstruktusverbindung %l,m,-db,[, klar, dass die Kombination als Eigenname fungiert, was G* durch die Transkription Αβδεμελεχ untermauert. Wie sich jedoch sogleich herausstellt, umschreibt der Eigenname auch den Stand seines Trägers korrekt. So hat es den Anschein, als habe bei diesem Ausländer die Berufsbezeichnung die Rolle seines hebräischen Rufnamens übernommen. Indes kann der Bestandteil %l,m, König als theophores Element gedient haben, mit der Besonderheit, dass hier ein Hoheitstitel den  Durch Artikel determiniert: 2 Kön 22,12 || 2 Chr 34,20; vgl. 2 Sam 18,29.

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38,8–10

Eigennamen der Gottheit – die hier nur Jhwh sein kann – ersetzt hat. Erst eine prämasoretische Hand legte Ebed-Melech die Standesbezeichnung syrIs' vyai Hofbeamter bei. Als der Verfasser der AJ ihn vorstellte, beschränkte er sich auf den Namen und das Gentilizium, da er wieder mit einem Publikum rechnete, das über den Mann im Bilde war. Die Anstellung von Ausländern und speziell Afrikanern am Jerusalemer Hof scheint, warum auch immer, nicht ganz außergewöhnlich gewesen zu sein (vgl. 2 Sam 18,21.31). Der Afrikaner betritt die Bühne, indem er von der Misshandlung vernimmt, die Jeremia widerfahren ist (7a–c). Dabei schiebt der Erzähler zwischen Haupt‑ (7a) und Objektsatz (7c) den Umstandssatz er befand sich (gerade) im Königspalast (7b) parenthetisch ein. Der Grund dafür klärt sich sogleich, wenn Ebed-Melech den König am Benjamintor aufsucht (7d–8; derselbe Ort, an dem Jeremia laut dem UPJ-Ergänzer in die Hände der Patrizier gefallen war: 37,12–13). Demnach nutzte der Schefatja-Kreis die Abwesenheit Zidkijas, um gegen den Propheten vorzugehen, doch der im Palast weilende Hofbeamte Ebed-Melech erfuhr von den Vorgängen und legte bei dem Herrscher Protest ein (V. 8–9). – Wenn der Autor es unterließ, den Aufenthalt Zidkijas am Benjamintor zu erläutern, kalkulierte er das Vorwissen seiner Adressaten ein, dass die nördliche Stadtgrenze als einzige nicht über einem Abhang lag, daher am schwierigsten zu verteidigen war und für Angreifer die natürliche Schwachstelle für die Erstürmung darbot. Jerusalem, wohl unter Hiskija (728–699) um die Neustadt bzw. den Zweitbezirk (hna;; wörtlich: die Männer deines Heils) sind dann diejenigen, die zuvor behauptet hatten, Jeremia suche nicht das Heil (~Alv' 4d) des Volkes, und die sich damit selbst zu Sachwaltern dieses Heils aufgeschwungen hatten. Für überwältigen benutzt das Hebräische zudem das Verb lky imstande sein, vermögen, überwinden, das die AJ (wie die UPJ-Erzählung) nur noch in 5d verwendet, wo der König damit seine Machtlosigkeit gegenüber dem Schefatja-Kreis einräumt. Am deutlichsten ist die Anspielung in 22f: Deine Füße sind im Morast versunken (wörtlich: versenkt worden). Das Verb [bj versinken, hier im passiven H-Stamm gebraucht, kommt in Jer nur noch in 6f im G-Stamm vor, wo es das Versinken des Propheten im Schlamm der Zisterne beschreibt. Obwohl die Substantive wechseln von jyji Schlamm 6f zu #Bo Morast 22f, ist doch augenfällig, dass der Erzähler den Frauen für den Sturz des Monarchen ein Sprachbild in den Mund legt, das den konkreten Qualen entspricht, die Jeremia vorweg seitens der Schefatja-Gruppe erlitten hatte. Damit werden die Schicksale Jeremias und Zidkijas metaphorisch parallelisiert: Das dem Propheten zugedachte Unglück ereilt schließlich den König; nur blieb es bei Jeremia zeitweilig, während es Zidkija für immer befiel. Im Endeffekt sind die Machenschaften der Widersacher Jeremias auf absurde Weise erfolgreich, nämlich bei einem anderen Opfer, das die Täter, wie sie andeuteten, durch ihre Verbrechen an dem Propheten gerade hatten schützen wollen (vgl. V. 4). Indem der Autor durch das Klagelied die Schefatja-Leute für das Fiasko Zidkijas haftbar macht, verortet er auch die Ursache für den Zusammenbruch Judas in ihrem verbissenen Durchhaltewillen, der sie skrupellos alles daransetzen ließ, die durch Jeremia vermittelten Weisungen Jhwhs gewaltsam zum Schweigen zu bringen. Wenn das alternative Orakel zudem die Konsequenzen von Zidkijas Politik für das Ergehen Jerusalems besonders hervorhob – Brandschatzung oder nicht (17e.23d) –, schaute der Verfasser sichtlich bereits auf die Schleifung der Stadt zurück. Trotzdem ist für AJ der Nachdruck charakteristisch, mit dem die politische Krise als persönliches Desaster Zidkijas stilisiert wird, ein Zug, der eine besonders frühe Phase der religiösen Aufarbeitung der Exilskatastrophe markiert, als das Theologumenon der Schuldverstrickung des Volkes noch nicht Allgemeingut geworden war. Wenn über508

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38,24–27

dies das Klagelied in 22g zum Abschluss die falschen Freunde des Königs bezichtigt, sie hätten sich von dir abgewandt (AlT) bzw. davongemacht (MT), wird dies als Hinweis zu verstehen sein, dass die Verantwortlichen zur Zeit der Niederschrift zwar noch lebten, aber noch nicht zur Rechenschaft gezogen worden waren; dafür spricht auch die Tatsache, dass die Schefatja-Leute mit diesen Anspielungen ungeschoren aus dem Gesichtskreis der AJ entschwinden. Der Verfasser dürfte mit seinem Erzählwerk nicht zuletzt einen Wink gegeben haben, dass gewisse von der Geschichte überführte Übeltäter noch ihrer verdienten Strafe harrten. V. 23 bündelt Kernaussagen der negativen Alternative: 23a wiederholt 22ab, nun auf 23 die Kinder des Königs ausgeweitet; 23bd verdoppelt in umgekehrter Reihenfolge 18cd; neu hinzu tritt lediglich die Vorhersage der Gefangennahme Zidkijas 23c (vgl. 37,17i). Wahrscheinlich verallgemeinerte der Autor der AJ damit die Aussagen des Klagelieds der Frauen, und der UPJ-Ergänzer hat später eine Dublette von V. 23 in V. 18 als redaktionellen Kitt benutzt, um den Einwand Zidkijas nebst Jeremias Replik Vv. 19–20 in den älteren Kontext zu integrieren. Wie bei V. 18 betont, haftet der Blick – charakteristisch für einen frühen Umgang mit der Katastrophe – auf dem Schicksal von König und Stadt, während das Volk noch außerhalb des konzeptuellen Radars verweilt. Nach V. 18–20 hat der UPJ-Ergänzer die zweite Audienzszene noch um einen 24–27 zweiten Einschub Vv. 24–27 erweitert, der sich an der spannungsvollen Weise verrät, wie Zidkija in 24b trotz des öffentlichen Schauplatzes (14bc) Verschwiegenheit über den Inhalt des Treffens verlangt und in V. 26 dem Propheten eine Ausrede vorgibt, die nicht auf die vorausgehende, der AJ entstammende Haftepisode (V. 6–13) zurückverweist, sondern auf die erste Gefangenschaft im Haus Jonatans (37,15–16), die der UPJ-Ergänzer gestaltet hatte. Dazu kommen dessen typische Anliegen und Stilmerkmale: der Affekt gegen alle Patrizier (27a; vgl. 25a), die Vorliebe für Geheimhaltung (vgl. 24b.27f mit 37,17c; 40,15a), und ohnehin ist 26b eine gestraffte Kopie von 37,20b–d. In V. 24–26 antwortet Zidkija auf das Gotteswort Jeremias, ohne auf seinen Inhalt einzugehen. Er fordert lediglich striktes Stillschweigen über das Gespräch (24b), sonst wirst du sterben (24c). Wie die Fortsetzung zeigt, ist der Satz nicht als Drohung aufzufassen. Vielmehr soll er anzeigen, was der Prophet in den Augen Zidkijas von den Patriziern zu erwarten hat, falls sie von seinem Orakel  – sprich: von seiner Kapitulationsforderung  – erfahren. Dem Herrscher zufolge würden die Patrizier, sollten sie von dem Treffen Wind bekommen, Jeremia ohne Zögern mit dem Tod bedrohen, um ihm den Inhalt der Unterredung abzupressen (V. 25). Die Wahrheit preiszugeben, würde ihn erst recht das Leben kosten (24c). Zidkija trägt Vorsorge, indem er dem Propheten eine Notlüge diktiert (V. 26). In der Tat kommt es wie angekündigt, doch mit dem Trick des Königs kann Jeremia seinen Kopf aus der Schlinge ziehen (V. 27). Wiederum beweist der letzte Davidide auf dem Jerusalemer Thron, dass er zwar Jeremia nur halbherzig unterstützt und seiner Prophetie keine Folge leistet, ihn aber immerhin vor dem Schlimmsten bewahrt. Durch die Rede Zidkijas Vv. 24–26 und den Bericht V. 27 hat der UPJ-Ergänzer das Bild der judäischen Patrizier nochmals kräftig nachgeschwärzt: Sie hätten Jeremia umgebracht, wäre die durch Jeremia übermittelte Kapitulationsforderung Jhwhs – und das heißt: der von ihm gewiesene Weg zur Verschonung Jerusalems – zu ihrer Kenntnis gelangt. Kron509

38,24–27

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zeuge dafür, wie sie mit Gewalt die Rettung der Stadt verhinderten, ist kein Geringerer als König Zidkija. 28ab Mit V. 27 schloss die zweite Audienz Jeremias bei Zidkija nach der UPJ-Erzählung, nachdem das Treffen in der Fassung der AJ schon mit V. 23 geendet hatte. In beiden Schriftstücken blieb die Unterredung innertextlich folgenlos; 28ab zeigt den Propheten ohne Übergang wieder im Wachhof, bis Jerusalem erobert wird. Sofern die Leser beider Dokumente die Information, dass der König den Aufruf zur Kapitulation V. 17 missachtete, nicht ohnehin aus ihren Geschichtskenntnissen schöpften, mussten sie sie aus der lapidaren Notiz vom Fall der Stadt 28b ableiten. Noch weitere Auskünfte blieben dem Publikum vorenthalten: Die AJ schwieg über das nachmalige Ergehen Zidkijas und der Schefatja-Leute. Daran änderte auch der UPJ-Ergänzer nichts, bei dem mit V. 27 die Patrizier insgesamt aus dem Blickfeld entschwanden, wie es zuvor schon in V. 19–20 mit den Überläufern geschehen war. Wie sich weiterhin zeigen wird, widmeten die beiden Quellen der Einnahme Jerusalems nicht mehr als den Relativsatz 28b, wo die Katastrophe zur bloßen Datierungsmarke für das Ende von Jeremias Aufenthalt im Wachhof geronnen ist; dazu kommt noch die öffentliche Sitzung der babylonischen Generäle (39,3), die die Freilassung Jeremias anordneten (39,14). Auch der Redaktor, der 38,28c + 39,1–2 aus 2 Kön 25,1–4 exzerpierte (s. z. St.), tat nicht mehr, als den endgültigen Zusammenbruch mit einem genauen Datum nach Jahr, Monat und Tag zu versehen. Erst jene Hand, die vom Ende der Königsbücher den historischen Anhang entlehnte, steuerte in 52,5–11 eine verschärfte Fassung der in 2 Kön 25,2–7 verfügbaren Nachrichten über Zidkija bei, gefolgt in 52,12–27 von einer modifizierten Parallele zu 2 Kön 25,8–21, wo die Zerstörungen, Deportationen und Massaker der Babylonier festgehalten sind, darunter die Hinrichtung aller Patrizier Judas (52,10b; vgl. auch 52,24–27). Erst ein prämasoretischer Bearbeiter trug ausgewählte Angaben zu Zidkija, den Verwüstungen und Verschleppungen aus 52,7– 16 durch 39,4–10 in den engeren Kontext der Kap. 37 f. ein (s. z. St.), wobei er auch auf das nachmalige Schicksal der Patrizier einging, freilich in anderer Terminologie (39,6b). Was mit den Überläufern geschah, wurde überhaupt erst auf dieser späten Ebene zum Thema (39,9; 52,15). Solche Ellipsen bezeugen, dass der Verfasser der AJ und der UPJ-Ergänzer nicht die Zerstörung Jerusalems, sondern bestimmte Aspekte der Geschichte Jeremias in jener Krise darstellen wollten. Da beide Autoren dem letzten König Judas Porträts zuteilwerden ließen, die im Vergleich zu anderen biblischen Urteilen über seine Person18 bemerkenswert günstig ausfallen, überrascht es nicht, wenn wir zu seinem weiteren Geschick mit allen grauenhaften Zügen (2 Kön 25,2–7 || Jer 52,5–11) nichts erfahren: Diese Schriftsteller wollten Zidkija offenkundig schonen. Was hingegen die Schefatja-Gruppe betrifft, dürfte die AJ geradezu als Schuldaufweis entworfen worden sein und damit als indirekter Appell, die Täter endlich ihrer gerechten Strafe zuzuführen (vgl. zu V. 21–22). Der Groll des UPJ-Ergänzers auf die Patrizier und seine Abneigung gegen die Überläufer sind mit Händen zu greifen, aber da er ebenfalls vom späteren Ergehen seiner Negativfiguren schwieg, muss er gleicher18  Vgl. namentlich 21,7; 24,8–10; 32,1–5; 34,21; 37,1–2; 52,2–3 MT || 2 Kön 24,19–20; Ez 17,1–21; 21,30–31; 2 Chr 36,11–16.

510

Jeremias Haft

38,28ab

maßen eine spezielle Agenda mit ihnen verfolgt haben. Die Frage nach den Triebkräften hinter solchen Formen von Polemik ist nochmals in der zusammenfassenden Erklärung der beiden Quellen aufzuwerfen (s. zu 39,14 und 43,7). Das Verhalten Jeremias gegenüber Zidkija belegte der AJ zufolge, dass er dem König einen Weg der Rettung gewiesen hatte, indem er ihm den Aufruf Jhwhs, sich den Babyloniern zu ergeben, übermittelte und die gegenteiligen Konsequenzen von Kapitulation und anhaltendem Widerstand offenlegte. Hätte seine Prophetie Gehör gefunden, wäre Jerusalem die Zerstörung erspart geblieben. Wie die AJ erwies, suchte Jeremia – anders, als die Schefatja-Leute behaupteten – nicht Unheil für das Volk, sondern Heil (vgl. 38,4d). Und wie der UPJ-Ergänzer hinzusetzte, bedeutete der Glaube an den gottgewollten Sieg der Eroberer keineswegs, sich mit den niederträchtigen Überläufern gemein zu machen.

511

38,28c–39,14

Die babylonische Eroberung Jerusalems und die Befreiung Jeremias 38,28  c  Es geschaha aber, ​ d  [als Jerusalem erobert wurde]: ​ 39,1  a  – Im neunten Jahr Zidkijas, des Königs von Juda, im zehnten Monat waren Nebukadrezzar, der König von Babel, und seine ganze Streitmacht gegen Jerusalem vorgerückt ​ b  und hatten es eingeschlossen. ​ 2  Im elften Jahr Zidkijas im vierten Monat am neunten (Tag) des Monats war die Stadt(mauer) aufgebrochen worden. – ​ 3  a  Da kamen alle Offiziere des Königs von Babel ​ b  und ließen sich am mittleren Tor nieder: Nergal Sar-Ezer, der Gouverneur, Nebu Sar-Sekim, der General (AlT: Nebu-Saris), und Nergal Sar-Ezer, der Streitwagenkommandant,a sowie [alle] 4  a  [Nun geschah es,] ​ b  [als Zidkiübrigen Offiziere des Königs von Babel. ​ ja, der König von Juda, und alle Krieger sie sahen,] ​ c  [ergriffen sie die Flucht] ​ d  [und verließen bei Nacht die Stadt auf dem Weg des königlichen Gartens, durch das Tor zwischen den beiden Mauern,] ​ e  [und sie schlugen die Richtung nach 5  a  [Chaldäische Truppen setzten ihnen nach] ​ b  [und holder Araba ein.] ​ ten Zidkija in den Niederungen von Jericho ein.] ​ c  [Sie ergriffen ihn] ​ d  [und brachten ihn hinauf zu Nebukadrezzar, dem König von Babel, nach Ribla in der e  [Der sprach über ihn das Urteil.] ​ 6  a  [Der König von Landschaft Hamat.] ​ b  [auch Babel ließ in Ribla die Söhne Zidkijas vor dessen Augen abschlachten;] ​ 7  a  [Die Augen alle Vornehmen Judas ließ der König von Babel abschlachten.] ​ b  [und ließ ihn in Bronzeketten legen, um ihn nach Babel Zidkijas blendete er,] ​ zu bringen.] ​ 8  a  [Den Palast des Königs und die Häusera des Volkes steckten die Chaldäer in Brand,] ​ b  [und die Mauern Jerusalems rissen sie nieder.] ​ 9  a1  [Den Rest des Volkes, (jene, die) übriggeblieben waren in der Stadt, und die Überläufer,] ​ b  [die zu ihm übergelaufen waren,] ​ a2  [und den Rest des Volkes, (jene, die) übriggeblieben waren, verschleppte Nebusaradan, der Befehlshaber der Leibwache, nach Babel.] ​ 10  a1  [(Nur) von den armen Leuten,] ​ b  [die nichts hatten,] ​ a2  [ließ Nebusaradan, der Befehlshaber der Leibwache, (einen Teil) im Land Juda zurück] ​ c  [und gab ihnen an jenem Tag Weinberge und Äcker.] ​ 11  [Nebukadrezzar, der König von Babel, erteilte durch Nebusaradan, 12  a  [Lass den Befehlshaber der Leibwache, über Jeremia folgenden Befehl:] ​ b  [achtea auf ihn] ​ c  [und tu ihm nichts zuleide!] ​ d  [Sondern wie ihn holen,] ​ e  [so verfahre mit ihm!] ​ 13  [Da schickten Nebusaradan, er dir sagen wird,] ​ der Befehlshaber der Leibwache, Nebuschasban, der General, und Nergal Sar-Ezer, der Streitwagenkommandant, sowie alle Obersten des Königs von Babel hin;] ​ 14  a  sie schickten (also) hin, ​ b  ließen Jeremia aus dem Wachhof holen ​ c1a ​ 512

Die babylonische Eroberung Jerusalems

38,28c–39,14

und übergaben ihn Gedalja, dem Sohn Ahikams, des Sohnes Schafans, ​ c2  damit d  So ließ er sich mitten er ihn [ins Haus] entlasse (AlT: und sie entließen ihn). ​ unter dem Volk nieder. 38,28 a S. Textanm. 37,11 a. ​ 39,3 a Hinter der Liste von babylonischen Offizieren verbergen sich je teilweise Eigennamen und Titel. Wie der Vergleich mit den akkadischen Äquivalenten und die Setzung der Makkef-Zeichen dokumentieren, sind in den hebräischen Text mehrere Verschreibungen und Missverständnisse eingegangen. Zu den hier gewählten Wiedergaben s. TK. ​ 8 a MT das Haus; der Plural ist konjiziert nach 2 Kön 25,9b und Jer 52,13b. ​ 12 a Wörtl. a richte deine Augen. ​ 14   Die Aufteilung in c1 und c2 ist hier nicht syntaktisch bedingt, sondern soll den Nachvollzug der Vorstufenrekonstruktion erleichtern. S. Textgenese.

Literatur: S. Lit. zu 37–45. – P.-M. Bogaert, La libération de Jérémie et le meurtre de Godolias, in: D. Fraenkel (u. a., Hg.), Studien zur Septuaginta (FS R. Hanhart; MSU 20), Göttingen 1990, 312–322. P.-M. Bogaert, La vetus latina de Jérémie: texte très court, témoin de la plus ancienne Septante et d’une plus ancienne de l’hébreu (Jer 39 et 52), in: A. Schenker (Hg.), The Earliest Text of the Hebrew Bible. The Relationship between the Masoretic Text and the Hebrew Base of the Septuagint Reconsidered (SBL.SCS 52), Leiden 2003, 51–82. E. Di Pede, Le récit de la prise de Jérusalem (Jr 46 LXX et 39 TM): son importance dans le récit et son impact sur le lecteur, BZ 52 (2008) 90–99. G. Fischer, Don’t Forget Jerusalem’s Destruction! The Perspective of the Book of Jeremiah, in: P. Dubovský (u. a., Hg.), The Fall of Jerusalem and the Rise of the Torah (FAT 107), Tübingen 2016, 291–311. E. Ga, Nebukadnezzar ante portas – Zu den babylonischen Interessen in der südlichen Levante, ZAW 128 (2016) 247–266. J. Joosten, L’excédent massorétique du livre de Jérémie et l’hébreu post-classique, in: J. Joosten, J.-S. Rey (Hg.), Conservatism and Innovation in the Hebrew Language of the Hellenistic Period (StTDJ 73), Leiden 2008, 93–108. O. Lipschits, The Fall and Rise of Jerusalem. Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005. A. J.  Nevins, When Was Solomon’s Temple Burned Down? Reassessing the Evidence, JSOT 31 (2006) 3–25. H.-J. Stipp, Zur aktuellen Diskussion um das Verhältnis der Textformen des Jeremiabuches, in: ders., Studien zum Jeremiabuch, 57–82. S. Timm, Wird Nebukadnezar entlastet? Zu 2Kön 24,18–25,21, in: F. Hartenstein, M. Pietsch (Hg.), „Sieben Augen auf einem Stein“ (Sacharja 3,9). Studien zur Literatur und Geschichte des Zweiten Tempels (FS I. Willi-Plein), Neukirchen-Vluyn 2007, 359–389.

Textgenese und Gliederung In diesen Abschnitt fällt mit 39,4–13 der zweitgrößte masoretische Überschuss nach 33,14–26. Darüber hinaus enthält MT noch mehr späte Zuwächse, die ältere Textwachstumsprozesse unkenntlich machen, weswegen die alexandrinische Ausgabe hier in besonderem Maße die Rekonstruktion beeinflusst. So fehlt dort schon der Temporalsatz 38,28d, der 28b verdoppelt und mit der Konjunktion rv,a]K; in temporaler Funktion (als) ein Element des prämasoretischen Idiolekts enthält und so als späte Glosse markiert wird (TK). Demnach leitete 28c es geschah aber ursprünglich zu 39,1 über und nicht, wie es nach dem unlogischen Einbau von 28d in MT nun erscheinen mag, zu 39,3. Das entspricht jedoch der Erwartung, weil 39,1–2 aus 2 Kön 25,1a–c.2– 3a.4a (|| Jer 52,4a–c.5–6a.7a) abgeleitet ist (TK) und das Vorbild in 2 Kön 25,1a wie 513

38,28c–39,14

Die babylonische Eroberung Jerusalems

auch Jer 52,4a mit yhiy>w: beginnt. Diese Parallelen bestätigen überdies, dass in 28c MT hy"h'w> aufgrund nachklassischer Wandlungen des Hebräischen die ursprüngliche Form yhiy>w: ersetzt hat. So erweist sich 38,28c + 39,1–2 als Zugabe einer ordnenden Hand, die dem späteren Bedürfnis nach chronologischer Fixierung des Geschehens entsprach. Der Einschub geht vielleicht auf die deuteronomistische Redaktion zurück, doch wie die Vv. 4–10 belegen, wurden derlei Anleihen auch von späteren Ergänzern vorgenommen. Während die annalistische Notiz aus ihrer Vorlage 2 Kön 25,1 die jüngere Sicht übernahm, dass Nebukadnezzar selbst die Belagerung Jerusalems befehligt habe (V. 1), lag die Führung laut V. 3 bei seinen Offizieren, wie dies die Apologie Jeremias (AJ) schon in 38,17c.22a (vgl. 34,7) unterstellte. Da V. 3 glatt an 38,28ab anschließt, ist er als Fortsetzung dieser Quelle zu werten. In 39,4–13 folgt der ausgedehnte masoretische Überhang, der in drei Teile zerfällt: (1) Die Vv. 4–10 bilden eine knappere Parallele zu 52,7b–16 || 2 Kön 25,4b–12. (2) Die Vv. 11–12 knüpfen die in 40,1–6 mitgeteilte Freilassung Jeremias durch Nebusaradan an einen entsprechenden Befehl Nebukadnezzars. (3) V. 13 kombiniert Elemente aus der Liste babylonischer Offiziere in V. 3 mit neuen Namen und Titeln und verbindet die Aufzählung mit dem Prädikat Wxl.v.YIw: sie schickten hin 14a, das wie V. 3 im gemeinsamen Bestand von MT und AlT bezeugt ist. Weil sowohl V. 3 als auch das masoretische Sondergut gleichlautend mit lb,B'-%l,m, der König von Babel enden, hat man die Lücke in AlT mitunter auf Parablepsis durch Homoioteleuton zurückgeführt (Bericht bei *McKane 990 f.). Das ist jedoch aus mehreren Gründen auszuschließen. Gegen einen versehentlichen Textverlust spricht schon der Umfang der Passage. Wenn der Überschuss ferner in V. 13 eine zweifache Dublette bildet, nämlich zur Liste babylonischer Kommandeure am Ende des vorausgehenden gemeinsamen Bestandes in V. 3 sowie zu 14a, ist sein Schluss den formalen Eigenarten einer Wiederaufnahme bzw. Ringkomposition angenähert, einer besonders deutlichen Spur der Nacharbeit von späterer Hand.1 Weiterhin steht der Überhang mehrfach in Spannung zu seinem Kontext: Der Bericht von der Flucht Zidkijas in V. 4 kommt nach der Sitzung der babylonischen Generäle in V. 3 zu spät, denn laut 3b ließen sich die Offiziere am mittleren Tor nieder; die Einnahme Jerusalems ist also bereits abgeschlossen, und die Sieger treten amtlich ihre Herrschaft an (s. z. St.). Außerdem fehlt in V. 3 Nebusaradan in der Liste der Teilnehmer, im Einklang mit der Nachricht in 52,12 || 2 Kön 25,8, dass der Würdenträger erst im 5. Monat (Ab), also einen Monat nach der Einnahme Jerusalems (39,2; 52,6 || 2 Kön 25,3) vor Ort eingetroffen sei. In 39,9–13 hingegen spielt Ne­bu­sa­ ra­dan eine prominente Rolle, ohne dass die von den Parallelen überlieferte Notiz von seiner späteren Ankunft wiederkehren würde. Hier soll V. 13 offenbar nachholend klarstellen, dass Nebusaradan bereits Mitglied des in V. 3 geschilderten Tribunals gewesen sei. Die Wiederaufnahme in V. 13 mit ihren Doppelungen zu 3b und 14a sowie die Spannungen sind literarkritische Indizien, die zusätzlich zum Zeugnis von AlT die sekundäre Natur des Überschusses verbürgen. Für die stratigraphische Einordnung entscheidend sind mehrere Merkmale des prämasoretischen Idiolekts und Züge des nachklassischen Hebräischen, die belegen, dass  Vgl. C. Kuhl, Die Wiederaufnahme – ein literarkritisches Prinzip?, ZAW 64 (1952) 1–11.

1

514

Die babylonische Eroberung Jerusalems

39,28c–39,14

der Zusatz erst aus der spätesten Phase des Buchwachstums herrührt (TK). Er ergänzt das schon früher eingeschobene, noch in den alexandrinischen Text eingegangene Exzerpt aus 2 Kön 25,1–4a (|| 52,4–7a) in 38,28c + 39,1–2. Die jüngere Anleihe knüpft dort an, wo die ältere abgebrochen hatte, und verlängert die Quellenauszüge. Während indes der Autor von 38,28c + 39,1–2 aus den Königsbüchern schöpfte, zeigt der Textvergleich, dass sich der prämasoretische Ergänzer auf das buchinterne Pendant 52,7b–16 (|| 2 Kön 25,4b–12) stützte (TK). Wenn er sein Werk nicht direkt hinter V. 2 platzierte, sondern hinter V. 3 aus der AJ einfügte, wollte er offenbar das Tribunal V. 3 nicht erst nach den Deportationen und der Neuordnung der Verhältnisse in Juda stattfinden lassen, wie sie in V. 9–10 geschildert werden. Dafür nahm er in Kauf, dass nun der weit abgerückte V. 14 den Eindruck vermittelt, Jeremia habe erst eine gewisse Weile nach dem babylonischen Sieg seine Freiheit wiedererlangt. Dagegen scheint 38,28ab MT die Sichtweise der AJ bewahrt zu haben, dass der Prophet mit der Einnahme Jerusalems augenblicklich freikam. Nach dem masoretischen Überhang führt V. 14 harmonisch den Vortext V. 3 weiter und ist deshalb ebenfalls der AJ zuzurechnen. Danach findet sich keine Passage mehr, die die Merkmale der AJ an sich trägt. Weil 14d zudem mit der wiedergewonnenen Freiheit Jeremias den Erzählstoff der AJ auf plausible Weise abrundet, hat der Satz wahrscheinlich den originalen Schluss des Dokuments bewahrt. Ein textgenetisches Problem größerer Tragweite haftet an den Lesartendifferenzen von 14c: 14 a Sie (die babylonischen Offiziere) schickten (also) hin, b ließen Jeremia aus dem Wachhof holen, c1 und übergaben ihn Gedalja, dem Sohn Ahikams, des Sohnes Schafans, c2 damit er ihn ins Haus entlasse / AlT: und sie entließen ihn. d So ließ er sich mitten unter dem Volk nieder. Dieser Wortlaut erzeugt mehrere Spannungen, und zwar sowohl innerhalb von V. 14 als auch zu 40,1–6. Dabei variieren die Ungereimtheiten, je nachdem ob bei c2 vom masoretischen Text ausgegangen wird, der eine finale Infinitivkonstruktion bietet (WhaeciAhl. wörtlich: um ihn zu entlassen), oder von der alexandrinischen Fassung, die einen selbstständigen Satz liest (WhauciAYw: und sie entließen ihn). Laut MT lässt der babylonische Gerichtshof Jeremia aus dem Wachhof holen (14ab) und an Gedalja überstellen (14c1). Gedalja tritt hier erstmals auf und wird dabei schon in AlT durch eine zweigliedrige Filiation als Enkel jenes Schafan ausgewiesen, der unter dem Kultreformer Joschija das Amt des Staatsschreibers innehatte (2 Kön 22). Allerdings wird Gedalja nicht vorgestellt; insbesondere bleibt seine Funktion als höchster einheimischer Würdenträger des babylonischen Herrschaftsapparats in Juda noch unerwähnt (vgl. dagegen 40,5c.7c–e.11de; 41,2c–e.10a–c.18cd). Er wird also wie eine wohlbekannte Persönlichkeit behandelt, sodass uninformierte Leser einstweilen mit der Frage allein gelassen werden, was er mit der Freilassung des Propheten überhaupt zu tun hat. Der Übergabe Jeremias an den Schafaniden schreibt c2 MT einen Zweck zu durch den Ausdruck WhaeciAhl. um ihn zu entlassen. Der Infinitiv ist untauglich, den Akteur zu markieren, doch nach dem Vortext erwartet man, dass Gedalja die genannte 515

39,28c–39,14

Die babylonische Eroberung Jerusalems

Handlung an dem Propheten vollziehen soll. Was soll der Schafanide näherhin mit ihm anfangen? Zuvor war Jeremia im Wachhof interniert, und gleich danach stellt 14d fest: So ließ er sich mitten unter dem Volk nieder. Dieser Satz kehrt (verlängert) in 40,6b wieder und macht dort die Freiheit aktenkundig, die Nebusaradan zuvor dem Propheten geschenkt hatte (40,1–5; vgl. namentlich 5d). Dies stützt die Deutung, dass der Infinitiv die Freilassung Jeremias bezeichnet, die dann allerdings ins Haus erfolgen soll, das durch Artikel als bekannte Größe vorgestellt, aber nirgends identifiziert wird. Man fragt sich, ob Jeremias eigene Wohnstätte gemeint ist, doch dann wäre zusätzlich zu beantworten, warum der Erzähler dies nicht eindeutig ausspricht (wieso sagt er beispielsweise nicht „in sein Haus“?). Demnach sind bei V. 14 MT drei Spannungen zu erklären. Intern: (1) Die Babylonier, die Herren des Verfahrens (14ab), entlassen den Propheten nicht selbst, sondern ziehen dazu in 14c1 Gedalja heran, ohne dass der Umweg motiviert wird. (2) 14d zufolge erhält Jeremia seine volle Freiheit zurück, doch in 14c2 erscheint seine Autonomie begrenzt, wenn er ins Haus entlassen wird. (3) Extern: 14d widerspricht 40,1–6, wo Nebusaradan den Propheten aus einem Konvoi angehender Exilanten erneut befreit. Zudem schließt jener Passus in 40,6b mit einer Dublette zu 14d. In AlT übergeben die Babylonier den Gefangenen ebenfalls an Gedalja (c1), doch fehlt dort ein Hinweis zum Zweck der Maßnahme, da die Babylonier den folgenden Schritt selbst vollstrecken: und sie entließen ihn (c2). Das in MT als Ziel genannte Haus kommt nicht vor. Folglich gibt es auch keinen Grund zu bezweifeln, dass c2 im Einklang mit dem folgenden Satz d die uneingeschränkte Befreiung Jeremias notiert. Daher eignen der alexandrinischen Fassung zwei Spannungen: (1) Intern: Die Übergabe Jeremias an Gedalja (c1) ist nicht nur funktionslos, sondern kollidiert auch mit seiner Freilassung durch die Babylonier (c2). (2) Extern: Weil 14c2d keinerlei Schranken der Freiheit Jeremias andeutet, treten die Widersprüche zu 40,1–6 umso klarer hervor: Warum muss der Prophet dort erneut befreit werden? Und warum wird er in 14c1 an Gedalja übergeben, muss ihn aber laut 40,6 eigens aufsuchen? Die Spannungen in AlT sind zwar geringer an Zahl, aber stärker ausgeprägt. Deshalb legt sich folgende Erklärung nahe: Die alexandrinische Version von 14c2 verkörpert den älteren Stand, während die masoretische Fassung einem mäßig geglückten Versuch entspringt, die gravierenden Widersprüche zwischen dem Satz und seinem Kontext zu mildern. Um erstens den Gegensatz zwischen der Überstellung an Gedalja (c1) und der Freilassung durch die Babylonier (c2) zu dämpfen, hat man in MT den Satz c2 AlT in eine finale Infinitivkonstruktion verwandelt, die der Übergabe den Zweck zuschreibt, den Schafaniden mit der Freilassung zu betrauen, freilich mit der Folge, dass jetzt dieser Umweg unerklärt dasteht. Um zweitens den Kontrast zwischen den beiden Freilassungen Jeremias in 39,14 und 40,1–6 abzuschwächen, hat man in c2 die Zielangabe ins Haus ergänzt, um eine irgendwie geartete vorläufige Begrenzung seiner Freiheit anzudeuten, wobei man anscheinend absichtsvoll in der Schwebe hielt, um welches Gebäude es sich handelte und welche Schranken es dem Propheten auferlegte. Doch auch diese Lösung wurde um den Preis einer neuen Unausgeglichenheit zu 14d erkauft, und die Dublette 14d || 40,6b ließ man inkonsequenterweise unangetastet. 516

Die babylonische Eroberung Jerusalems

39,28c–39,14

Repräsentiert somit die alexandrinische Fassung von 14c den älteren Stand, sind im nächsten Schritt jene Widersprüche zu erklären, die schon prämasoretische Hände zu Glättungsversuchen trieben. Wenn die Babylonier den Propheten ursprünglich selbst entließen (c2 AlT), muss seine Übergabe an Gedalja (c1) einen Zusatz darstellen. Dafür spricht auch, dass der Satz neben 40,5b den einzigen Beleg des Namens in Jer enthält, bei dem AlT die zweigliedrige Filiation bestätigt, also jene, die bis zu Gedaljas Großvater Schafan zurückreicht. Sein ausgeprägtes Interesse an der Schafanidensippe teilt der Satz mit den sekundären Bestandteilen in 26 und 36, die der patrizischen Redaktion (PR) entstammen. Deshalb lautet die natürliche Konsequenz, ihn ebenfalls diesem Hintergrund zuzuordnen. Weitere Blicke auf Textwachstumsprozesse eröffnet die doppelte Befreiung Jeremias in 39,14* und 40,1–6. Dabei kommt der kurzen, bescheideneren Fassung 39,14* eindeutig die Priorität zu, denn sie schließt glatt an die Nachricht vom Tribunal der babylonischen Offiziere in V. 3 an und liefert den einzigen Grund, warum von der Konferenz überhaupt berichtet wird; ohne V. 14* ergäbe der Erzählschritt ein blindes Motiv. Außerdem ist zwar vorstellbar, dass 40,1–6 einer Vorlage inkorporiert wurde, die 39,14* bereits enthielt, aber nicht umgekehrt. Vor allem ist 40,1–6 im Kontext nach unten und im vormasoretischen Jeremiabuch auch nach oben isoliert. Der Passage mangelt eine Anbindung nach oben, denn sie führt nicht wie V. 14* einen vorgängigen Handlungsfaden weiter (die Internierung Jeremias im Wachhof), sondern sie muss zu Beginn ihre Ausgangslage eigens konstituieren (Jeremias Anwesenheit in einem Deportationstreck in Rama). Ferner schreibt sie die Befreiung dem babylonischen General Nebusaradan zu und verleiht ihm obendrein durch eine theologisierende Rede erstaunliche Prominenz; trotzdem fehlt ausgerechnet Nebusaradan in der Liste babylonischer Offiziere in 39,3. Dies ist bereits in der Antike als störend aufgefallen und veranlasste den prämasoretischen Ergänzer von V. 4–13, Nebusaradan in V. 13 an erster Stelle vorzuschalten, als er damit V. 3 wieder aufnahm. 40,1–6 bildet daher keine originale Fortsetzung eines älteren Vortextes (wie etwa der AJ). Auch nach unten ist der Passus isoliert, denn er schildert Jeremias freie und bewusste Entscheidung, bei Gedalja in Mizpa seine Wohnung zu nehmen, doch ohne dass sich die beiden anschließend in der Textwelt je gegenüberträten, obwohl die Handlung dazu reichlich Gelegenheit geboten hätte. In den ausgedehnten, in Mizpa spielenden Episoden tritt Jeremia niemals auf; nach 40,6 kehrt er erst dann wieder auf die Bühne zurück, als die überlebenden nichtexilierten Judäer bei Betlehem Station machen (42,1–2; vgl. 41,17). Demnach ist 40,1–6 auch gegenüber dem nachfolgenden Kontext heterogen. Der Sprachgebrauch untermauert, dass 40,1–6 weder von der AJ noch der UPJ-Ergänzung herrührt, sondern ein redaktionelles Werk darstellt. In 2c–3 findet sich deuterojeremianische Terminologie, die hier, wie nur sehr selten der Fall, außerhalb von Gottes‑ bzw. Prophetenreden auftritt; obendrein wird sie in singulärer Weise einem Nichtisraeliten, nämlich Nebusaradan, in den Mund gelegt. Daher hat man den formelhaften Passus häufig herausgelöst und als Nachtrag der dtr Redaktion gewertet (Thiel, Redaktion II 58 f. u. a.). Die Nutzbarkeit des einschlägigen Vokabulars hängt aber an geeigneten paränetischen Themen, die im Rest der Einheit fehlen. Und während sich die einbettende Episode mehrfach mit ihrem Kontext stößt, ist das 517

39,1–6

Die babylonische Eroberung Jerusalems

klischierte Stück nahtlos in die Einheit integriert, da es mit der Bewahrheitung von Jeremias Prophetie einen theologischen Sachgrund für seine Befreiung anführt. Deswegen ist 40,1–6 insgesamt als redaktionell einzustufen. Für die stratigraphische Einordnung gilt: 40,2–3 verbindet die Ausdrücke Unheil reden, bezogen auf Jhwh, und (nicht) hören, gesagt von den Judäern, und gebraucht damit eine Kombination, die das sprachliche Leitfossil der patrizischen Redaktion ausmacht (sonst 26,13; 35,16– 17; 36,31). Außerdem enthält 40,5b den einzigen weiteren vormasoretischen Beleg einer bis Schafan zurückreichenden Filiation Gedaljas neben dem Fall in 39,14c1, der oben demselben literarischen Horizont zugewiesen wurde. Jeremias Parteinahme für einen Schafaniden entspricht exakt dem Programm dieser Redaktion. Folglich entstammt 40,1–6 ebenfalls der PR, allerdings kaum dem gleichen Arbeitsgang, weil Jeremia in 39,14c1 von den Babyloniern an Gedalja übergeben wird, während er sich laut 40,1–6 aus freien Stücken dorthin begibt. Wenn das Volk, bei dem sich der Prophet abschließend niederlässt, über die Parallele 39,14d hinaus mit den Worten erläutert wird das im Land übriggeblieben war (rav‑N übrigbleiben 6b), so bestätigt dies zusätzlich, dass die Szene keineswegs dazu geschaffen wurde, eine aktuelle Herrschaft Gedaljas zu stützen, sondern bereits die UPJ-Erzählung voraussetzt, die auf das Scheitern des Schafaniden zurückschaute und das Schicksal des nichtexilierten Restes reflektierte (tyrIaev., von derselben Wurzel gebildet, 40,11.15; 41,16; 42,2.19; 43,5; MT 41,10; 42,15). Zwischen 39,14 und 40,1–6 steht das Verschonungsorakel für Ebed-Melech 39,15– 18, mit dem der Prophet laut der Wortereignisformel V. 15 noch während seines Aufenthalts im Wachhof beauftragt worden sein soll, sodass es nach Jeremias Freilassung in V. 14 als Rückblende eine dyschronologische Position einnimmt. Gründe für eine sekundäre Verschiebung sind nicht ersichtlich. Zudem benutzt das Heilswort jene geprägte Terminologie, die die individuellen Prosaorakel kennzeichnet und hier erneut so widerspruchsfrei wie unlösbar in die Einheit integriert ist (s. z. St.). Diese Redaktion hat ihre Zutaten wiederholt dyschronologisch platziert, und zwar noch weitaus stärker als hier (vgl. 21,1–10 mit 37,3–10 und Kap. 45 mit 36; s. jeweils z. St.). Obendrein vollzieht V. 15 eine kontextgerechte Rückblende in die Vorvergangenheit (s. z. St.); wollte man daher annehmen, das Stück sei von einem der linearen Erzählfolge entsprechenden Ort hierher verpflanzt worden, muss man zusätzlich postulieren, V. 15 sei sekundär an seine heutige Position angepasst worden. Demzufolge ist das Verschonungsorakel für Ebed-Melech zur Gänze der Schicht der individuellen Prosaorakel zuzuschreiben. Nach alldem spiegeln die Indizien in 38,28c–40,6 eine komplexe Literargeschichte. 39,3.14* bildet den Abschluss der Apologie Jeremias. Nachdem das Schriftstück als Bestandteil der UPJ-Erzählung in das babylonische Jeremiabuch eingegangen war, unterstrich die patrizische Redaktion in den frühnachexilischen Jahren durch 39,14c1 und 40,1–6 die Nähe des Propheten zu dem Schafaniden Gedalja als exemplarischem Vertreter der judäischen Aristokratie. Bald darauf setzte der Autor der individuellen Orakel das Heilswort für Ebed-Melech 39,15–18 hinzu. Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt entlehnte ein Redaktor aus 2 Kön 25,1–4 chronologische Informationen zur babylonischen Eroberung Jerusalems und bildete daraus die an518

Die babylonische Eroberung Jerusalems

39,3

nalistische Notiz 38,28c + 39,1–2. In der Spätphase des Buchwachstums wuchs die prämasoretische Texttradition um den ausgedehnten Nachtrag 39,4–13; dazu traten weitere Retuschen, von denen namentlich der Temporalsatz 38,28d und die glättenden Eingriffe in 39,14c2 für die Rekonstruktion der Textgenese zu beachten sind. Stärker erweitert wurde auch die Rede Nebusaradans in 40,3–5. Im Endtext ist 38,28c–40,6 klar in drei Abschnitte gegliedert: 38,28c–39,14 beschreibt die babylonische Eroberung Jerusalems und die Strafmaßnahmen der Sieger, gefolgt von der auf Befehl Nebukadnezzars vollzogenen Freilassung Jeremias. 39,15–18 übermittelt das Heilswort für Ebed-Melech, und 40,1–6 berichtet, wie der Prophet durch Nebusaradan erneut freigelassen wird und sich daraufhin bei Gedalja in Mizpa niederlässt.

Erklärung In der ursprünglichen Fassung dieser Passage, wie von AlT repräsentiert, bildet 38,28c 38,28c– mit 39,1–2 einen aus 2 Kön 25,1–4 adaptierten Zusammenhang, der nach der Notiz 39,2 von der Einnahme Jerusalems in 38,28b chronologische Daten zur Dauer der Belagerung in Form einer Hintergrundschilderung einschiebt. In MT dagegen hat die Verdoppelung von 28b durch 28d einen neuen Konnex von 28cd zu 39,3 geschaffen, der von 39,1–2 parenthetisch unterbrochen wird. In beiden Fassungen blenden 38,28c + 39,1–2 (AlT) bzw. 39,1–2 (MT) in die Vorvergangenheit zurück. In MT hebt der neue Abschnitt mit 38,28cd an, indem er wie schon 28ab die Einnahme der Stadt als Zeitmarke nutzt, jetzt aber, um die Sitzung der babylonischen Generäle in V. 3 zu datieren. Doch um den Bedürfnissen eines Publikums Rechnung zu tragen, dem dieser chronologische Anker keine hinreichende Klarheit mehr verschafft, wird sogleich der Erzählfluss wieder angehalten, um die historische Information 39,1–2 einzuspielen, die per Rückblende die Eckdaten der Belagerung Jerusalems nachträgt. Für den Beginn sind mit einer Ausgabe der Königsbücher ähnlich jener, die ihrem griechischen Übersetzer vorlag (4 Bas 25,1), nur das 9. Regierungsjahr Zidkijas und der 10. Monat (Tebet) angegeben (2 Kön 25,1 MT; Jer 52,4 und Ez 24,1 ergänzen: am 10. Tag), was bei Jahresbeginn im Frühjahr etwa in den Dezember 589 oder den Januar 588 führt. Dagegen wird das Ende, gleichgesetzt mit dem Aufbrechen der Mauern, auf den Tag genau fixiert: 11. Jahr Zidkijas, 9. Tag des 4. Monats (Tammus; vgl. 2 Kön 25,2–4; Jer 52,5–7). In heutiger Zeitrechnung ergibt dies wahrscheinlich den 29. Juli 587 (Näheres bei Albertz, Exilszeit 69–73; Keel, Geschichte I 760–762, § 1018–1020). Mit V. 3 kehrt die Stimme der Apologie Jeremias (AJ) wieder, die alle Horror- 3 szenarien der Eroberung Jerusalems mit Schweigen übergeht und einzig das Tribunal der siegreichen Generäle herausgreift, das laut der originalen Fortsetzung V. 14* die Haft des Propheten beendete. Der Schauplatz, das mittlere Tor (3b), wird nur hier erwähnt und ist bislang nicht identifiziert, dürfte aber den Namen seiner zentralen Position in der Nordmauer jenes Stadtteils verdanken, der als Zweitbezirk (hn nebū śar-sekīm lässt sich auf den 2 S.

o. S. 104 Anm. 27.  E. Unger, Babylon. Die heilige Stadt nach der Beschreibung der Babylonier, Berlin ²1970, 285 u. Tafel 56 IV 22´; P. R.  Berger, Die neubabylonischen Königsinschriften (AOAT 4.1), Kevelaer 1973, 313; R. da Riva, Nebuchadnezzar II’s Prism (EŞ 7934). A New Edition, ZA 103 (2013) 196–229, 213. 3

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Die babylonische Eroberung Jerusalems

39,4–7

Namen Nabû-šarrūssu-ukīn: Nabu (mesopotamischer Gott der Schreibkunst), festige das Königtum! beziehen. Beigegeben ist der Titel syrIs'-br: rab sarīs, die hebraisierte Form von akkadisch rab ša rēši Oberkämmerer, General (vgl. zu den Funktionen der babylonischen Würdenträger Jursa, Hof). Dieselbe Kombination aus Name und Titel begegnet in akkadischer Fassung auf einer Tontafel aus der Zeit Nebukadnezzars (BM 114789; Jursa, Nabû-šarrūssu-ukīn); demnach haben wir es auch hier mit einer historischen Person zu tun. An letzter Stelle kehrt der Name Nergal Sar-Ezer wieder, jetzt wie in V. 13 mit dem Titel gm'-br: rab mag, herzuleiten von rab mu(n)gi, wohl die Bezeichnung eines Kommandeurs der Streitwagentruppen und der Kavallerie. Die Wiederholung des Namens ist verdächtig, doch davon abgesehen, darf man die Nachrichten in V. 3 als zuverlässig werten. Zur historischen Glaubwürdigkeit der Liste trägt bei, dass sie zwei wichtige Namen auslässt: Wie schon in 38,17.22 setzt AJ voraus, dass Nebukadnezzar selbst zumindest in der Schlussphase der Belagerung nicht vor Ort zugegen war (s. z. St.; anders dagegen 39,1.11–12; 52,4; 2 Kön 25,1). Zusätzlich fehlt Nebusaradan, der zwar anschließend als führender babylonischer Repräsentant in Juda auftritt (39,9–13; 40,1–5; 41,10; 43,6), aber laut 2 Kön 25,8 || Jer 52,12 erst am 7. (so Kön) bzw. 10. (so Jer) Tag des 5. Monats in Jerusalem eintraf, also rund einen Monat nach dem Fall der Stadt (s. zu V. 2). Die Nachricht von dem Tribunal wird durch 1,15 bestätigt und klingt plausibel, weil die Babylonier durch die judäischen Überläufer (s. zu 38,19–20) gut im Bilde waren über die tiefe Gespaltenheit der Jerusalemer Führungskreise hinsichtlich der Frage, wie dem babylonischen Imperialismus zu begegnen sei. Deshalb ist es nur natürlich, wenn die Sieger jenen Judäern, die sie als ihre Parteigänger betrachteten, eine Vorzugsbehandlung einräumten. So erklärt sich ihr differenzierter Umgang mit den judäischen Eliten, greifbar etwa einerseits in der Berufung Gedaljas zum einheimischen Verwaltungschef und andererseits in den selektiven Exekutionen, wie aufgezeichnet in 2 Kön 25,18–21 (|| Jer 52,24–27; wenn Jer 52,10b || 39,6b MT die Hinrichtung der gesamten Führungsschicht behauptet, verrät dies eine jüngere Sichtweise; s. z. St.). Nach diesen Berichten entschieden die Offiziere in Jerusalem, wer dem Großkönig in Ribla vorgeführt werden sollte (s. zu V. 5), während jener die Todesurteile fällte und vollstrecken ließ (s. zu V. 6 und 52,10.27). 1,15–16 überhöht die Erinnerung an das Tribunal zu einem Gerichtstag der Königreiche des Nordens, den Jhwh als sein Instrument nutzt, um über Jerusalem und Juda sein Urteil zu sprechen. Mit zunehmendem Abstand zu den Ereignissen wurde das Schweigen der zeitnahen 4–13 Quellen zur Katastrophe Jerusalems nicht mehr verstanden und als unbefriedigend empfunden. Eine prämasoretische Hand hat daher in V. 4–10 eine adaptierte Fassung des Berichts in 52,7b–16 (|| 2 Kön 25,4b–12) nachgetragen. Sie resümiert den Fluchtversuch Zidkijas samt den Strafmaßnahmen der Babylonier an den Rädelsführern des Aufstands (Vv. 4–7), die systematische Zerstörung Jerusalems (V. 8), die Deportationen (V. 9) und die Neuordnung der Verhältnisse im Land (V. 10). In V. 11–12 traten neue Details hinzu, bevor V. 13 wieder zur älteren Fortsetzung von V. 3 überleitete. Die Vv. 4–7 steuern die nach Kap. 37–38 vermissten Nachrichten über Zidkija 4–7 bei, beginnend mit seiner Flucht aus Jerusalem, die hier durch den Anblick der zum 521

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Gericht versammelten babylonischen Offiziere veranlasst erscheint (4b). Während die Vorlage in 52,7 (|| 2 Kön 25,4) den Ausbruch als Akt der Krieger (hm'x'l.Mih; yven>a;) beschreibt, nimmt der Ergänzer den König unter die Subjekte des Satzes auf und beschreibt die Tat ausdrücklich als Flucht (xrb fliehen), hier wie in 52,7b eine Besonderheit des masoretischen Jeremiabuchs. Der Trupp verlässt die Stadt auf dem Weg des königlichen Gartens, durch das Tor zwischen den beiden Mauern (4d). Da die Hauptmacht der babylonischen Streitkräfte im Norden Jerusalems lagerte (s. zu V. 3), werden sich die Flüchtlinge im Süden die besten Chancen ausgerechnet haben, den Belagerungsring (52,7e  || 2 Kön 25,4d) zu durchdringen. In der Tat weist die genannte Route in die Südostecke der Stadt. Laut Jes 22,9.11 ließ Hiskija vor der Belagerung Jerusalems durch den Assyrerkönig Sanherib 701 zwischen den beiden Mauern (V. 11) ein Wasserreservoir anlegen, den später so genannten Schiloachteich (Joh 9,7) als Sammelbecken am Ende des Schiloachtunnels.4 Damit war auch die Wasserversorgung für den königlichen Garten gesichert, der im selben Raum zu suchen ist (vgl. Neh 3,15–16).5 Die Flüchtlinge schlagen die Richtung nach Osten zur Araba ein, also nach atl. Sprachgebrauch zum südlichen Jordantal, was auf die Absicht schließen lässt, nach Ammon zu entweichen. Dieses Nachbarland östlich des Jordantals widersetzte sich wie Juda den Babyloniern (vgl. Ez 21,23–28), war aber noch nicht unterworfen (s. zu 49,1–6) und deshalb laut 40,11 das Ziel zahlreicher judäischer Flüchtlinge. Außerdem unterstützte sein Herrscherhaus die Davidsdynastie, wie der Autor des Jischmael-Dossiers bezeugt, wenn er versichert, der Davidide Jischmael habe im Auftrag des Ammoniterkönigs gehandelt, als er drei Monate später (vgl. 39,2 mit 41,1) Gedalja erschlug, und anschließend sei der Mörder nach Ammon entkommen (40,14; 41,10.15; s. z. St.). Wie auch immer es Zidkija und seinen Begleitern gelang, die babylonischen Linien zu durchbrechen, bleibt den Belagerern der Fluchtversuch jedenfalls nicht verborgen. Sie setzen dem König nach, nehmen ihn in der Jordansenke bei Jericho fest und bringen ihn vor Nebukadnezzar, der in Ribla sein Hauptquartier aufgeschlagen hat. Die Stadt (heute Tell Zarrā‘), zum Aramäerstaat mit dem Zentrum Hamat (heute Hama) gehörig, lag im Tal des Orontes am Nordende der Biqā‘-(Bekaa‑)Hochebene zwischen Libanon und Antilibanon und muss Invasoren in der Levante günstige Bedingungen als militärischer Stützpunkt geboten haben, denn sie diente wiederholt zu diesem Zweck (2 Kön 23,33). Dort spricht der Sieger dem letzten davidischen Herrscher das Urteil (V. 5). Die Strafe ist von ausgesuchter Grausamkeit und zeugt wie die übrigen Maßnahmen der Babylonier von ihrer Entschlossenheit, an Juda und seinem König ein Exempel zu statuieren: Zidkijas Söhne werden vor seinen Augen abgeschlachtet, um alle Thronanwärter aus seiner eigenen Nachkommenschaft auszuschalten (6a). Die Brutalität des Vorgangs charakterisiert das Verb jxv schlachten, das sonst zumeist die Tötung von Tieren für Opfer und Verzehr beschreibt (aber vgl. in Jer auch 41,7b). Dem König selbst wird das Augenlicht geraubt, damit ihm diese Szene als letzter Anblick seines Lebens erhalten bleibt und 4 2 Kön

20,20; 2 Chr 32,2–4.30; Sir 48,17; HTAT 328 f., Nr. 180.  Zur Lage vgl. N. Na’aman, Death Formulae and the Burial Place of the Kings of the House of David, Bib. 85 (2004) 245–254, 250 f. 5

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ihm für immer die Fähigkeit genommen wird, sein Amt wieder aufzunehmen (7a). Zusätzlich entlehnt 6b aus der Vorlage 52,10b die Vorstellung, dass Nebukadnezzar in Ribla die komplette judäische Aristokratie (alle Vornehmen Judas) niedergemetzelt habe (ebenfalls mit jxv). Setzt man alle Vornehmen Judas (39,6b) mit allen Patriziern Judas (52,10b) gleich, berichtet nun auch der nahe Kontext der Kap. 37 f., dass die Patrizier, die Jeremia zuvor so übel mitgespielt hatten, von der gerechten Strafe ereilt worden waren. Die Nachricht hat kein Pendant in der Quelle 2 Kön 25 und geht weit über deren Geschichtsbild hinaus, wonach die Babylonier nur für schuldig befundene Mitglieder der Hofkreise exekutierten (2 Kön 25,18–21 || Jer 52,24–27). 52,10b hängt mit dem Konzept der älteren alexandrinischen Fassung von Jer 52 zusammen, dass nach der Einnahme Jerusalems einzig Zidkija verschleppt worden sei (s. z. St.). Der unglückliche König muss in Ketten den Weg ins Exil antreten (7b), wo er, der gerade sein drittes Lebensjahrzehnt vollendet hatte (2 Kön 24,18; 25,2–4 || Jer 52,1.4–6), noch längere Zeit unter der Last seiner Schande und seiner traumatischen Erinnerungen dahinvegetiert haben dürfte (s. zu 34,1–5; vgl. Ez 12,12–13). Insbesondere die Assyrer, die in ihrer auf Einschüchterung zielenden imperialen Propaganda gern ihre Brutalität hervorkehrten, rühmten sich, durch die Blendung abtrünnige Vasallen auf abschreckende Weise zu disziplinieren (Timm 376 f.), wie das folgende Relief aus Ninive veranschaulicht:

Abb. 6: Der assyrische König Sargon II. (721/0–705 v. Chr.) sticht einem aufständischen Fürsten die Augen aus.

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Das grauenvolle Los des letzten regierenden Davididen erklärt sich aus der Vorgeschichte und den Sicherheitsinteressen der Babylonier: Juda lag an der Grenze zu Ägypten, seinerzeit der stärkste Gegenspieler der mesopotamischen Großmacht, und damit an einer besonders neuralgischen Flanke des Reiches. Seitdem die Levante durch Nebukadnezzars Sieg über die Ägypter bei Karkemisch in Syrien 605 unter das babylonische Zepter geraten war, hatten die Kleinstaaten des Raumes wiederholt den Aufstand geprobt. Schon 604 musste der Großkönig den Widerstand Aschkelons durch die Verwüstung der Philisterstadt brechen (s. zu 47,7). Juda trat erstmals 597 als Unruheherd hervor, als König Jojakim rebellierte (2 Kön 24,1). Damals deportierten die Babylonier seinen Sohn und Nachfolger Jojachin mit einem Teil der Oberschicht als Geiseln und forderten empfindliche Tribute ein, sahen aber davon ab, Jerusalem zu zerstören (2 Kön 24,10–16). Offenbar hielten sie drakonischere Schläge für verzichtbar, weil Jojachin kapituliert hatte und sie in Zidkija einen Wunschkandidaten für den judäischen Thron gefunden hatten, den sie mit dem Vasalleneid belegten, in der Erwartung, er werde als gefügiger Handlanger das Land in ihrem Interesse regieren (s. zu 52,1). Doch bereits in seinem 4. Regierungsjahr (594/3) stellte sich Zidkija an die Spitze einer Erhebung palästinischer Kleinstaaten, die überdies wohl mit Ägypten, dem Erzfeind der Babylonier, konspirierten (s. zu 27,1). Das Abenteuer muss in den Anfängen stecken geblieben sein; trotzdem ist es Zidkija aus unbekannten Gründen gelungen, von schwerwiegenden Folgen verschont zu bleiben. Wenn seine in 51,59 erwähnte Reise nach Babylon im selben Jahr tatsächlich stattfand (s. z. St.), dürfte sie dem Zweck gedient haben, Abbitte zu leisten und den Babyloniern erneut seine Loyalität zu beteuern. Doch dann begehrte Zidkija 589 erneut auf, von der Hoffnung auf ägyptische Waffenhilfe beflügelt (s. zu 37,7), da in jenem Jahr der Pharao Apriës (biblisch: Hofra; 589–570) die Herrschaft antrat und die alten ägyptischen Ansprüche auf die Levante mit gesteigertem Nachdruck vertrat. Zusätzlich förderte der zionstheologische Enthusiasmus in den führenden Kreisen Judas die Risikobereitschaft (s. zu 27–28). Dieser Hang zur Rebellion trug Juda einen Ruf ein, der noch in der Protestnote nachklingt, die in Esr 4,9–16 den Gegnern des Wiederaufbaus Jerusalems zugeschrieben wird; dort halten es die Absender für historisch erwiesen, dass diese Stadt eine aufrührerische Stadt ist; sie hat Königen und Provinzen Schaden gebracht, und von jeher hat man in ihr Empörung angestiftet (V. 15; vgl. V. 19). Weil Zidkija als Herrscher von babylonischen Gnaden unter Bruch des Vasalleneids in kurzer Folge mehrere Aufstände angezettelt und überdies den Schulterschluss mit dem ägyptischen Rivalen gesucht hatte, war es im Rahmen imperialer Logik nur konsequent, wenn die Babylonier an ihm und Juda ein abschreckendes Exempel statuieren wollten, das die judäische Bereitschaft zur Auflehnung für möglichst lange Zeit ersticken, aber auch den Nachbarn eine unmissverständliche Warnung erteilen sollte. Entsprechend brutal gingen sie gegen die Anstifter vor. Weitere durchgreifende Maßnahmen schildern die Vv. 8–10. 8 Im nächsten Schritt wendet sich der Text der systematischen Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier zu. 8a entnimmt der Vorlage 52,13a (|| 2 Kön 25,9a) die Liste der niedergebrannten Baulichkeiten, übergeht aber das erste und wichtigste Glied: den Tempel; folgerichtig wird auch seine Plünderung ausgespart (52,17–23 || 524

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2 Kön 25,13–17). Es ist undurchsichtig, was den prämasoretischen Ergänzer bewog, den Untergang des vorexilischen Heiligtums auszuklammern, denn diese Schmach gehörte zu den Fixpunkten im Geschichtsbild seines Publikums; zudem waren die Vorgänge ohnehin in der buchinternen Quelle des Einschubs beschrieben, und ein masoretischer Überschuss in 50,28 spielt auf die Tempelzerstörung an (allerdings ist das masoretische Sondergut literarisch nicht einheitlich). Den Ausschlag gab schwerlich der Wunsch, das Porträt des Großkönigs aufzuhellen, denn Nebukadnezzar ordnet zwar in V. 11–12 persönlich die Freilassung Jeremias an und wird andernorts im masoretischen Sondergut von Jhwh als mein Knecht tituliert (MT 25,9; 27,6; 43,10), gilt aber trotzdem in V. 6–7 als Urheber der Grausamkeiten an Zidkija und der judäischen Elite. Vielleicht wollte der Ergänzer einen Widerspruch zu der Notiz 41,5b vermeiden, der zufolge Pilger aus den ehemaligen Nordreichgebieten zum Haus Jhwhs gezogen seien (s. z. St.), woraus er den irrigen Schluss abgeleitet haben könnte, damals habe das Heiligtum noch existieren müssen. Eindeutiger sind bestimmte Züge des Überschusses, die den Wunsch anzeigen, Nebusaradan zu schonen, der in V. 11–12 Nebukadnezzars Befehl zur Sonderbehandlung Jeremias entgegennimmt und in 40,1–6 ausführt. Denn während die Vorlage den General die Gebäude in Jerusalem einschließlich des Tempels brandschatzen lässt (52,12–13 || 2 Kön 25,8–9), verlegte der prämasoretische Interpolator diese Akte – unter Verschweigen der Tempelzerstörung – rhetorisch in die Hände der Chaldäer; der Hinweis auf Nebusaradans Kommando in 52,14b (|| 2 Kön 25,10b) wurde übergangen; und nach der Exekution der kompletten judäischen Führungsschicht durch Nebukadnezzar in 6b war es nur folgerichtig, wenn die Hinrichtungen entfielen, zu denen der Offizier die Vorarbeit geleistet hatte (52,24–27b || 2 Kön 25,18–21b). Zwar behält Nebusaradan die Verantwortung für die Deportationen (V. 9 || 52,15 || 2 Kön 25,11), aber das erklärt sich wie der Zusatz von V. 11–12 aus der Rücksicht auf 40,1–6, wo er in eben dieser Funktion Jeremia die Freiheit gewährt. Bei der Neuordnung des Lebens in der Heimat betätigt er sich gegen die Vorlagen geradezu als sozialer Wohltäter, indem er einzig Besitzlose vor der Deportation bewahrt und ihnen Eigentum an Weingärten und Äckern zuweist (V. 10, s. z. St.). – Aus seiner Quelle entlehnt hat der Ergänzer dagegen das Einreißen des Königspalastes. Die nicht ganz klaren Angaben in 52,13b (|| 2 Kön 25,9b), welche Gebäude die Babylonier zusätzlich einäscherten, fasste er in dem summarischen Ausdruck ‚die Häuser‘ des Volkes (8a) zusammen. Die Schleifung der Stadtmauern (8b) vollendete die auf Dauer angelegte Entwaffnung Judas. Vom Schicksal des Tempels abgesehen, lässt V. 8 somit keinen Zweifel daran, dass die Babylonier Jerusalem total in Trümmer legten. Den Zerstörungen folgen die Deportationen, vollstreckt durch Nebusaradan, der 9 hier unvermittelt auf der Bühne erscheint, da der prämasoretische Ergänzer seine Beteiligung an der Schleifung Jerusalems verschleierte (s. zu V. 8) und deshalb auch die Nachricht von seiner Ankunft vor Ort 52,12 (|| 2 Kön 25,8) ausließ. Der hebraisierte Name Nebusaradan spiegelt akkadisch Nabû-zēra-iddina: Nabu (s. zu V. 3) hat (mir) Nachkommenschaft geschenkt. Sein Titel ~yxiB'j;-br: rab ṭabbāḥīm bedeutet wörtlich Oberster der Schlächter, Oberkoch und wurde auch von den G*-Übersetzern so verstanden (ἀρχιμάγειρος). Eine solche Bezeichnung für einen Militärkommandeur ist 525

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nicht ungewöhnlich, gehen doch die Titel vieler Würdenträger auf Positionen im höfischen Haushalt zurück, wie etwa die Offiziersränge hqev'-br: Obermundschenk in 2 Kön 18,17 ff. oder Marschall (ursprünglich: Pferdeknecht) im Deutschen. Die besagte Beamtenliste Nebukadnezzars (s. zu V. 3) verzeichnet einen Nabû-zēra-iddina mit dem Titel rab nuḫ(a)timmī Oberkoch. Zumeist gilt rab ṭabbāḥīm als wörtliche Übersetzung dieses akkadischen Titels, sodass der Mann in der Beamtenliste mit dem biblischen Nebusaradan zu identifizieren wäre. Neuerdings wird indes vorgeschlagen, der hebräische Titel bilde die Wiedergabe von rab ṭābiḫī, was wörtlich ebenfalls Oberster der Schlächter bedeutet, wobei die Schlächter die königliche Leibgarde bezeichnen (Jursa, Hof). Daher wird hier die auf Josephus (Ant. 10.197) zurückgehende Interpretation Befehlshaber der Leibwache beibehalten; sollte dies fehlgehen, handelt es sich auf jeden Fall um einen hohen Offizier. Entsprechend dem in 52,15 || 2 Kön 25,11 belegten Wortlaut verschleppt Nebusaradan die gesamte überlebende Einwohnerschaft der Residenzstadt unter Einschluss – wie beziehungsreich beigefügt wird – der Überläufer. Demnach teilte der Autor von 2 Kön 25,11 noch immer das Ressentiment gegen die Deserteure (s. zu 37,13–14; 38,19–20), weswegen er nicht zu notieren vergaß, dass ihr Verrat ihnen keineswegs die Verbannung ersparte. Wenn Nebusaradan laut V. 9 im Unterschied zur Vorlage ohne Einschränkung den Rest des Volkes, (jene, die) übriggeblieben waren, exiliert, ist dies im Licht von V. 10 zu verstehen: Es trifft von den Überlebenden den relevanten Anteil, also nicht die Besitzlosen. 10 Im Zuge der Neuordnung der Verhältnisse im Land lässt Nebusaradan nur Angehörige der mittellosen Unterschicht in Juda zurück und teilt ihnen Weinberge und Äcker zu. Dies verleiht seinen Maßnahmen einen geradezu sozialreformerischen Anstrich und verschiebt deutlich den Akzent gegenüber den Parallelen, laut denen er (einige) von den armen Leuten im Land (2 Kön 25,12; Jer 52,16 MT) bzw. den Rest des Volkes (Jer 52,16 AlT) als Weingärtner und Ackerbauern in der Heimat zurückließ (vgl. auch 40,7d MT). Statt also die Restbevölkerung auf die hierarchisch niedrig angesiedelten Berufe der Bauern und Winzer (vgl. Jes 61,5) zu reduzieren, um die judäischen Tributleistungen zu sichern, scheint er dem mittellosen Proletariat im Zuge einer Landreform agrarische Nutzflächen zuzuweisen, die im Gefolge der Deportationen herrenlos geworden sind und nun die Ärmsten der Armen erstmals in die Lage versetzen, ihren Lebensunterhalt auf eigenen Böden zu erwirtschaften. So sehr der soziale Idealismus des Ergänzers beeindruckt, handelt es sich doch um eine Vorstellung, die erst in der Spätphase des Buchwachstums bezeugt ist und leider keinerlei historische Wahrscheinlichkeit für sich hat. 11–12 Die in 40,1–6 ausgesprochene Idee, Nebusaradan höchstselbst habe Jeremia die Freiheit geschenkt, wird in V. 11–12 nochmals gesteigert, indem der Akt auf einen persönlichen Befehl Nebukadnezzars zurückgeführt wird, der seinen General beauftragt habe, dem Propheten umfassende Schonung zu gewähren (12a–c) und allseits seinen Wünschen zu willfahren (12de). Der Passus ist eine Facette des stellenweise überaus positiven Porträts, das der babylonische Großkönig in den masoretischen Sonderlesarten erhält, gipfelnd in seinem Ehrentitel mein (Jhwhs) Knecht (MT 25,9; 27,6; 43,10), und das der retrospektiven theologischen Rechtfertigung seiner histori526

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schen Ausnahmerolle dient: Wenn Nebukadnezzar von Jhwh zeitweilig zum Weltenherrn bestellt wurde (vgl. 27,5–8.11–12), hat er sich in Handlungen wie dieser seiner Ehre würdig erwiesen. V. 13 fungiert als Wiederaufnahme von V. 3 und variiert die Liste der babylonischen 13 Offiziere aus 3b, möglicherweise deswegen, weil schon der Ergänzer seine Vorlage zum Teil nicht mehr verstand. Wegen V. 11–12 + 40,1–6 hat er am Anfang Ne­bu­ sa­ra­dan hinzugefügt, und von Nergal Sar-Ezer kehrt nur der zweite Beleg mit dem leicht erkennbaren Titel rab mag Kommandant der Streitwagentruppen (o. ä.) wieder. Anstelle der Passage dazwischen findet sich !B'z>v;Wbn> Nebuschasban, der hier den Titel syrIs'-br: rab sarīs General trägt. Der Name lautet akkadisch Nabû-šūzibanni: Nabu (s. zu V. 3), errette mich! Ein ša rēši (s. zu V. 3) dieses Namens ist aus der Zeit Nebukadnezzars und Neriglissars mehrfach belegt. Woher der prämasoretische Bearbeiter zu seiner Zeit diese Information bezog, bleibt einstweilen unbeantwortbar. – V. 13 leitet über zu V. 14, der, wie empirisch in AlT bezeugt, nahtlos an V. 3 anschließt. V. 14 enthält die letzten Sätze, die sich der Apologie Jeremias zuschreiben lassen, 14 und da die oben rekonstruierte Originalfassung des Verses einen plausiblen Ausklang bietet, dürfte hier auch ihr ehemaliges Finale zu finden sein. Demnach gipfelte das Werk in der Feststellung, dass es die Babylonier waren, die dem Propheten die gebührende Behandlung erwiesen und seine Haft beendeten (c2 AlT). Infolgedessen kann der Schlusssatz aktenkundig machen, wie Jeremia seinen ordnungsgemäßen Platz einnahm: So ließ er sich mitten unter dem Volk nieder (d). Davor fügte später die patrizische Redaktion ihre Glosse ein, die erstmals in Jer Gedalja erwähnt, und zwar typischerweise mit einer Filiation, die schon vormasoretisch bis zu seinem Großvater Schafan reicht (c; vgl. zur PR ferner 40,1–6). Dabei hielt der Redaktor eine Angabe zum Status Gedaljas für entbehrlich, weil er sich an Adressaten wandte, die mit der Position des Schafaniden als babylonisch bestelltem Haupt des judäischen Gemeinwesens vertraut waren (zu möglichen Bezeugungen Gedaljas auf Siegelabdrücken s. zu 40,7). Der Einschub unterstreicht für solcherart informierte Leser die Nähe Jeremias zu dem Schafaniden, indem er beansprucht, die Babylonier hätten bei der Freilassung des Propheten den Amtsweg beschritten und ihren judäischen Funktionär irgendwie an der Prozedur beteiligt. Unvorbereitete Leser der alexandrinischen Ausgabe konnten sich bei linearer Lektüre allerdings fragen, wer dieser Gedalja war und was die Übergabe Jeremias an ihn bezweckte, wo die Babylonier den Propheten doch anschließend selbst freiließen (c2 AlT). Deshalb verwandelte ein prämasoretischer Bearbeiter den Satz c2 in eine Infinitivkonstruktion, um den maßgeblichen Rechtsakt in die Hände Gedaljas zu verlegen. Überdies legte er der Befreiung im Vorblick auf 40,1–6 einen diffusen vorläufigen Charakter bei, indem er sie auf eine Entlassung ins Haus beschränkte (s. Textgenese).

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Die Apologie Jeremias 34,7 + *37,3–39,14

Rückblick: Die Apologie Jeremias 34,7 + *37,3–39,14 Übersetzt und in ihre Abschnitte gegliedert dürfte die AJ etwa folgenden Wortlaut gehabt haben: 34,7  a  Die Streitmacht des Königs von Babel führte Krieg gegen Jerusalem und die Städte Judas, nämlich Lachisch und Aseka, ​ b  denn (nur) diese waren von den Städten Judas als befestigte Städte übriggeblieben. 37,3  a  Da sandte der König Zidkija Juchal, den Sohn Schelemjas, und den Priester Zefanja, den Sohn Maasejas, zu Jeremia und ließ ihm sagen: ​ b  Bete doch für uns zu Jhwh! ​ 6  Daraufhin erging das Wort Jhwhs an Jeremia: ​ 9  a  So spricht Jhwh: ​ b  Täuscht euch nicht selbst, indem ihr sagt: ​ c  „Ganz sicher werden die Chaldäer von uns abziehen!“, ​ d  denn sie werden nicht abziehen. ​ 10  a  Wenn ihr die ganze Streitmacht der Chaldäer, die mit euch kämpfen, geschlagen hättet ​ b  und es wären (nur) Schwerverletzte übriggeblieben, ​ ​c  würden sie, jeder in seinem Zelt, aufstehen ​ d  und diese Stadt im Feuer verbrennen. 38,1  a  Schefatja, der Sohn Mattans, Gedalja, der Sohn Paschhurs, und Juchal, der Sohn Schelemjas, [und Paschhur, der Sohn Malkijas,]? hörten die Worte, ​ b  die Jeremia zum Volk redete: ​ 3  a  So spricht Jhwh: ​ b  Diese Stadt wird ganz sicher in die Hand der Streitmacht des Königs von Babel gegeben werden, ​ c  und er wird sie erobern. ​ 4  a  Darauf sagten sie zum König: ​ b  Dieser Mann c  denn er lähmt die Hände der Krieger, die in der muss doch getötet werden, ​ Stadt übriggeblieben sind, und die Hände des ganzen Volkes, indem er solche Worte zu ihnen redet. ​ d  Denn dieser Mann sucht nicht Heil für dieses Volk, sondern Unheil! ​ 5  a  Der König erwiderte: ​ b  Siehe, er ist in eurer Hand. ​ cd ​ Denn der König vermochte nichts gegen sie. ​ 6  b  Sie warfen ihn in die Zisterne c  die sich im Wachhof befand. ​ d  Sie ließen ihn in des Königssohns Malkija, ​ die Zisterne hinunter. ​ e  In der Zisterne war kein Wasser, sondern (nur) Schlamm, ​ f  und er sank in den Schlamm. 7  a  Da hörte der Kuschiter Ebed-Melech, ​ b  – er befand sich gerade im Königspalast –, ​ c  dass sie Jeremia in die Zisterne geworfen hatten. ​ d  Der König hielt sich gerade am Benjamintor auf. ​ 8  a  Er ging zu ihm hinaus ​ b  und sagte 9  a  Mein Herr und König, Unrecht verübt haben diese Männer bei zum König: ​ b  was sie Jeremia angetan haben, ​ c  nämlich dass sie ihn in die Zisterallem, ​ ne warfen, ​ d  damit er auf der Stelle an Hunger stürbe, ​ e  denn es gibt in der 10  a  Da befahl der König dem Ebed-Melech: ​ b  Nimm Stadt kein Brot mehr. ​ c  und zieh ihn aus der Zisterne, ​ d  bevor er dir von hier dreißig Männer mit ​ 11  a  Ebed-Melech nahm die Männer ​ b  und ging in den Königspalast stirbt. ​ c  Er nahm von dort Lumpen von in (den Raum) unterhalb der Vorratskammer. ​ d  und warf sie zu Jeremia in die abgetragenen und verschlissenen (Kleidern) ​ Zisterne hinab. ​ 12  a  Dann sagte er: ​ b  Leg doch dies unter die Stricke! ​ c  Jeremia tat so. ​ 13  a  Nun zogen sie ihn an den Stricken hoch ​ b  und hoben ihn c  Darauf blieb Jeremia im Wachhof. aus der Zisterne. ​

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14  a  Da sandte der König hin ​ b  und ließ ihn zu sich rufen an den dritten c  der sich beim Haus Jhwhs befindet. ​ d  Der König sagte zu ihm: ​ Eingang, ​ e  Ich will dich nach einem (Gottes‑)Wort fragen. ​ f  Verschweige mir kein Wort! ​ 15  a  Jeremia sagte zum König: ​ b  Wenn ich es dir mitteile, ​ c  wirst du mich nicht anstandslos umbringen lassen? ​ d  Und wenn ich dir einen Rat erteile, ​ e  hörst du nicht auf mich. ​ 16  a  Da schwor ihm der König und sagte: ​ b  So wahr Jhwh lebt, ​ c  der uns dieses Leben geschenkt hat, ​ d  ich werde dich nicht umbringen lassen ​ e  und werde dich nicht in die Hand dieser Männer geben! ​ 17  a  Hierauf sagte Jeremia zu ihm: ​ b  So spricht Jhwh: ​ c  Wenn du wirklich d  dann ist dein Leben gehinausgehst zu den Offizieren des Königs von Babel, ​ rettet. ​ e  Diese Stadt wird nicht im Feuer verbrannt werden, ​ f  und du bleibst am Leben, du und dein Haus. ​ 21  a  Wenn du dich aber weigerst hinauszugehen, ​ b  so ist dies das Wort, ​ c  das Jhwh mich hat sehen lassen: ​ 22  a1  Siehe, alle b  die im Palast des Königs von Juda übriggeblieben sind, ​ a2  werden Frauen, ​ c  während sie sagen: zu den Offizieren des Königs von Babel hinausgeführt, ​ d „Betrogen e und überwältigt haben dich die Männer deines Vertrauens. f Deine Füße sind im Morast versunken; g sie aber haben sich von dir abgewandt.“ 23  a  Deine Frauen und Kinder führt man zu den Chaldäern hinaus. ​ b  Auch du wirst nicht entrinnen, ​ c  sondern von der Hand des Königs von Babel wirst du gepackt werden; ​ d  diese Stadt aber wird niedergebrannt werden. ​ 28  a  So blieb Jeremia im Wachhof bis zu dem Tag, ​ b  als Jerusalem erobert wurde. b  und ließen sich am 39,3  a  Da kamen alle Offiziere des Königs von Babel ​ mittleren Tor nieder: Nergal Sar-Ezer, der Gouverneur, Nebu Sar-Sekim, der General, und Nergal Sar-Ezer, der Streitwagenkommandant, sowie die übrigen Offiziere des Königs von Babel. ​ 14  a  Sie schickten hin, ​ b  ließen Jeremia aus dem c  und entließen ihn. ​ d  So ließ er sich mitten unter dem Volk Wachhof holen ​ nieder. Die Apologie Jeremias (AJ) und die Erzählung von der assyrischen Bedrohung und der Befreiung Jerusalems (ABBJ-Erzählung) Die aus Jer 34 und 37–39 rekonstruierte Apologie Jeremias (AJ; früher: Erzählung von der Haft und Befreiung Jeremias, HBJ-Erzählung) berichtet eine Ereignisfolge um Jeremia, die mit einem Fürbittgesuch des Königs Zidkija bei dem Propheten während der babylonischen Belagerung Jerusalems 589–87 anhebt (34,7 + 37,3), worauf Jeremia ein Jhwh-Orakel geoffenbart wird, das vor der enthusiastischen Hoffnung auf den sicheren Abzug der Belagerer warnt (37,6.9–10). Anschließend fordert eine Gruppe einflussreicher Männer aus den judäischen Führungskreisen bei Zidkija die Todesstrafe für den Propheten wegen Wehrkraftzersetzung. Nachdem der König seine Unfähigkeit eingestanden hat, den Anklägern ihren Willen zu verweigern, kerkern sie Jeremia in einer Zisterne im sog. Wachhof ein (38,1.3–6). Dagegen protestiert der kuschitische Hofbeamte Ebed-Melech bei Zidkija, weil er Jeremia ungerecht be529

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handelt und in Lebensgefahr sieht. Vom König ermächtigt, lässt er den Propheten aus der Zisterne hieven, und Jeremia wird im Wachhof interniert (38,7–13). Von dort lässt ihn Zidkija herbeiholen, um ihn nach einem Gotteswort zu fragen. Jeremia erteilt ihm ein alternatives Orakel: Durch die Kapitulation kann der König Jerusalem vor der Brandschatzung retten; anderenfalls stürzt er sich und die Stadt ins Unglück (38,14–17.21–22). Das Gespräch endet ohne Folgen, und Jeremia bleibt im Wachhof, bis er nach der Einnahme Jerusalems von den babylonischen Offizieren befreit wird und sich inmitten des Volkes niederlässt (38,28ab; 39,3.14*). Auf die Hintergründe und die Abzweckung der Apologie Jeremias fällt Licht von einer anderen Erzählung, der Grundschicht von 2 Kön 18 f., die die Belagerung Jerusalems durch die Assyrer unter Sanherib im Jahr 701 schildert und in der kritischen Exegese seit Stade (1886) nahezu einhellig mit 2 Kön 18,17–19,9b.36c–37 gleichgesetzt wird. Hardmeier hat in dieser Quelle eine religiös-politische Kampfschrift aus der Zeit der babylonischen Belagerung Jerusalems wiedererkannt, die mit dem Exempel der wunderbaren Bewahrung der Stadt vor den Assyrern den Durchhaltewillen der Verteidiger stärken sollte und aufschlussreiche Einblicke in politische Richtungskämpfe in der eingekesselten Stadt eröffnet. Die Träger der „Erzählung von der assyrischen Bedrohung und der Befreiung Jerusalems“ (ABBJ-Erzählung) waren hochrangige Angehörige der Hofkreise um Zidkija, abzulesen insbesondere an der Prominenz, die der Text den Beamten Hiskijas einräumt (2 Kön 18,18.26.37; 19,2; 409–418). Geprägt von zionstheologisch gestimmtem Jahwismus, propagierten diese Führungspersonen die unerschütterliche Zuversicht auf die Uneinnehmbarkeit des Zion, die sich in der erneuten wunderbaren Rettung Jerusalems bewähren würde. Im Gegenzug verdammten sie Kapitulationsbereitschaft als Blasphemie. Indem sie die Schmähung der – anachronistisch Hiskija zugeschriebenen – Opferzentralisation dem bösen Feind in den Mund legten (18,22), gaben sie sich zudem als Anhänger der deuteronomistischen Bewegung zu erkennen (419 f.). Im Visier hatten sie namentlich die Propheten Ezechiel und Jeremia, deren Überzeugung von der Unabwendbarkeit der Niederlage sie in wörtlichen Anspielungen dem assyrischen Propagandaredner Rabschake in den Mund legten, um sie so als gotteslästerliche probabylonische Agitation zu entlarven (321–392). In der Figur Jesajas stellten sie Ezechiel und Jeremia das Idealbild des zionstheologisch standfesten Heilspropheten gegenüber, der unbeirrt den wunderhaften Abzug der Belagerer ankündigt (19,5–7; 319 f.), Am Beispiel Hiskijas ließen sie Zidkija wissen, wie er mit der aktuellen Krise umzugehen habe, nämlich indem er ausharrte und auf das rettende Eingreifen Jhwhs vertraute (319). Für die Schöpfer der ABBJ-Erzählung sollte die göttliche Intervention konkrete Gestalt annehmen, indem ägyptischer Entsatz die Angreifer vertrieb, wie der vorgebliche Grund des Abzugs der Assyrer und der angestrengte Versuch, den Vorwurf proägyptischer Neigungen abzuwehren, durchblicken lassen (s. u.). Abweichend von Hardmeiers Analyse ist die Kampfschrift indes kaum während der Belagerungspause entstanden, von der die UPJ-Erweiterung berichtet (Jer 37,5.7–8.11), sondern entsprechend dem Erzählstoff während einer kritischen Phase der Belagerung.6  Neuerdings datiert E. Ga, Im Strudel der assyrischen Krise (2. Könige 18–19). Ein Beispiel bibli-

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Diese Annahmen erklären zahlreiche Einzelzüge der ABBJ-Erzählung. Wenn der Rabschake die Jerusalemer apostrophiert als Männer, die auf der Mauer sitzen, während sie ihren eigenen Kot essen und ihren Urin trinken (18,27), und Hiskija sie als erbärmlichen, gerade noch auffindbaren Rest bezeichnen muss (19,4), passt dies nicht zu einem eben erst erfolgten Feindaufmarsch (18,17), wohl aber auf die Zustände in Jerusalem während einer fortgeschrittenen Phase der babylonischen Belagerung. Ebenso macht diese Datierung den anachronistischen Verweis auf die joschijanische Reform in 18,22 verständlich. In der ABBJ-Erzählung ist es der Rabschake, der – ähnlich wie Jeremia in Jer 37,9 – Hiskija alias Zidkija illusionäres Vertrauen auf Ägypten vorwirft und dabei mit der Rede vom geknickten Schilfrohr … Ägypten, das, wenn sich jemand darauf stützt, in seine Hand geht und sie durchbohrt (18,21) eine Wendung aufgreift, die auch Ezechiel in seinen Drohworten gegen das Nilland gebraucht (Ez 29,6–7). Demgegenüber soll Hiskijas Gesuch um Jesajas Fürbitte bei Jhwh (2 Kön 19,3–4) den Verdacht falschen Vertrauens auf eine ausländische Macht als haltlos erweisen. Wenn der Rabschake ferner verächtlich hinzusetzt: Und du hast dich Ägypten anvertraut wegen Wagen und Pferden! (18,24b), ist dies eine Anspielung auf die Ägyptenpolemik des Jesajabuches (vgl. besonders dieselbe Verknüpfung von xjb vertrauen, bk,r< Wagen und ~yvir"P' Wagenpferde in Jes 31,1). Mit alldem wollten die Verfasser die Kritik unterlaufen, dass sie ihre eigenen zionstheologischen Maximen verrieten, indem sie auf auswärtige Militärhilfe bauten. Laut ihrer Geschichte ziehen die Assyrer zwar auf die Nachricht hin ab, dass Tirhaka, ein außerbiblisch als Taharqa bekannter Pharao (690–664) der kuschitischen 25. Dynastie, gegen sie aufmarschiere (19,9ab.36c), doch dies wird als bloßes Gerücht hingestellt (h['Wmv. 19,7), das der Autor mit Bedacht nicht bestätigt (zumal dieser Pharao erst eine runde Dekade nach der assyrischen Belagerung Jerusalems den Thron bestieg). Tirhakas Status wird zusätzlich getarnt, indem er in 19,9 nach seiner Abkunft König von Kusch heißt, auch dies ein Kniff, der Angriffsflächen für den Vorwurf unzulässigen Vertrauens auf Ägypten vermeiden sollte. Auch Botschaften Jeremias finden sich im Mund des Rabschake. In 18,30–31a warnt der General die Judäer vor Hiskija: Hiskija soll euch nicht zum Vertrauen auf Jhwh verleiten, indem er sagt: „Ganz sicher wird uns Jhwh retten, und diese Stadt wird nicht in die Hand des Königs von Assur gegeben werden!“ Hört nicht auf Hiskija! Der Passus spiegelt die Kernbotschaft Jeremias nach der AJ in 38,3b: Diese Stadt wird ganz sicher in die Hand der Streitmacht des Königs von Babel gegeben werden. Und wenn der Rabschake zuvor den Jerusalemern zuruft: Hiskija soll euch nicht täuschen (18,29), so gebraucht er dasselbe Verb II avn‑H täuschen wie Jeremia bei seiner Warnung vor scher Geschichtsdeutung (BThSt 166), Neukirchen-Vluyn 2016, die Grundschicht von 2 Kön 18–19 in die Mitte des 7. Jhs. (bes. 229). B. D.  Thomas, Hezekiah and the Compositional History of the Book of Kings (FAT 2.63), Tübingen 2014, sucht die Abfassung im Jahr 681 oder bald danach. Vgl. auch den Forschungsbericht von J. E.  Anderson, The Rise, Fall, and Renovation of the House of Gesenius. Diachronic Methods, Synchronic Readings, and the Debate over Isaiah 36–39 and 2 Kings 18–20, CBR 11 (2013) 147–167, der allerdings Hardmeiers These kaum beachtet. Weitere rezente Datierungsvorschläge sind aufgelistet bei D. Kahn, An Update of the Hezekiah – Sennacherib Narrative during the Babylonian Siege? Some Further Thoughts, in: S. Aḥituv (u. a., Hg.), „Now it Happened in Those Days“ (FS M. Cogan), Winona Lake 2017, 157–169, 159 f. mit Anm. 13 f.

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dem Glauben an einen überraschenden Abzug der Babylonier in Jer 37,9b: Täuscht euch nicht selbst, indem ihr sagt: Ganz sicher werden die Babylonier von uns abziehen! Wenn ferner der feindliche Redner das Angebot Lebt und sterbt nicht! (Wtmut' al{w> Wyx.wI 18,32) an die Bedingung knüpft Kommt zu mir heraus (yl;ae Wac. V. 31), entspricht die Wortwahl dem Angebot Jeremias an Zidkija in Jer 38,17: Wenn du wirklich hinausgehst zu den Offizieren des Königs von Babel (la, acy), dann ist dein Leben gerettet … du bleibst am Leben (hyx), du und dein Haus. Im sarkastischen Bild der Wegführung in ein Schlaraffenland (18,32), als sei das drohende Exil ein Paradies, wird Jeremias Angebot einer Überlebensmöglichkeit obendrein bitter karikiert. Zu vergleichen ist auch der Anspruch des Königs von Assur, auf Jhwhs Geheiß hin gegen Juda gezogen zu sein (18,25): Nun, bin ich ohne (den Willen von) Jhwh gegen diesen Ort heraufgezogen, um ihn zu verwüsten? Jhwh hat zu mir gesagt: „Ziehe hinauf gegen dieses Land und verwüste es!“ Hierzu lassen sich zahlreiche Parallelen aus authentischen Jeremiasprüchen nennen, namentlich der Zyklus über den Feind aus dem Norden, dem zufolge die Eroberer von Jhwh selbst entsandt sind.7 Doch die Worte Ezechiels und insbesondere Jeremias werden nicht nur indirekt als Feindpropaganda verunglimpft, indem sie im Gewand einer assyrischen Kapitulationsforderung daherkommen, sondern sie werden auch offen als Gotteslästerung angeprangert: Laut 19,4 waren für Hiskija die Worte des Rabschake – alias Jeremia und Ezechiel – dazu bestimmt, den lebendigen Gott zu verhöhnen. Und in 19,6 pflichtet ihm Jhwh im Munde Jesajas bei, dass mich die Buben des Königs von Assur gelästert haben. Nach 18,33–35 begeht, wer zur Kapitulation rät, den Frevel, Jhwh auf eine Stufe mit jenen Göttern zu stellen, die ihre Völker nicht vor dem König von Assur (!) zu retten vermochten. Besonders bemerkenswert sind die Übereinstimmungen und Gegensätze zwischen den Fürbittgesuchen Hiskijas in 2 Kön 19,2–7 einerseits und Zidkijas in Jer 37,3.6.9– 10 andererseits. Beide Herrscher schicken Delegationen aus hochrangigen Führungspersonen zu einem prominenten Propheten, um seine Fürbitte bei Jhwh zu erwirken. In der Fassung von 2 Kön 19,4 heißt es: Trage ein Gebet vor für (d[;B. hL'pit. t'af'n"w>) den verbliebenen Rest! Mit derselben Kombination aus der Wurzel llp beten mit der Präposition d[;B. zugunsten von, für bittet Zidkija in Jer 37,3b: Bete doch für uns zu Jhwh! Die beiden Delegationen haben sogar den spezifischen Zug gemeinsam, dass sie Priester einschließen: in Jer 37,3a Zefanja ben Maaseja, in 2 Kön 19,2 die Ältesten der Priester. Beide Fürbittgesuche werden mit Orakeln beantwortet, die indes gegenteilig ausfallen: Jeremia warnt vor der Hoffnung, die Babylonier würden abziehen, während Jesaja ankündigt, die Assyrer täten alsbald genau dies, was auch geschieht (2 Kön 19,9ab.36c). Hardmeier hat nun plausibel gemacht, dass die beiden Fürbittgesuche zwei literarische Reflexe ein und derselben offiziösen Anfrage sind, mit der Zidkija während der Endkämpfe um Jerusalem bei dem Propheten Jeremia durch eine Gesandtschaft vorstellig wurde. Die Demarche des Königs erfolgte allerdings nicht, wie Hardmeier aufgrund seiner vorstufenkritischen Beurteilung von Jer 37 f. annimmt, während der  Vgl. z. B. Jer 4,6.26.28; 5,15–17; 6,2–6.19.

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Belagerungspause, die erst durch die UPJ-Erweiterung Eingang in diese Quelle fand; und sie war auch keine Orakelanfrage zum Zweck der Klärung, „wie der Abzug der Babylonier einzuschätzen ist“ (295). Wie vielmehr die ABBJ-Erzählung, die AJ und Jer 21,1–10 übereinstimmend voraussetzen, handelte es sich um ein Fürbittgesuch, das naturgemäß während einer kritischen Phase der Belagerung vorgetragen wurde. Die Differenzen zwischen den beiden Darstellungen sind – wie in kritischer Adaption der Thesen Hardmeiers auf die AJ geschlossen werden kann – durch die unterschiedlichen Interessen ihrer Trägergruppen bedingt. Die AJ schildert den Vorgang aus der Sicht des Kreises um Jeremia, wohingegen die ABBJ-Erzählung die Perspektive derjenigen führenden Männer einnimmt, die im jeremianischen Gegenstück an der Delegation Zidkijas beteiligt sind und den Propheten gewaltsam aus dem Weg zu räumen suchen. In der AJ schlägt Jeremia das Fürbittgesuch Zidkijas aus und kritisiert stattdessen in pluralischer Anrede exakt jenen Enthusiasmus der prominenten Gesandten, der auch die Version in 2 Kön 18 f.* prägt. In der ABBJ-Erzählung dagegen demonstriert der aus Jer 37 f.* bekannte Schefatja-Kreis anhand des nach seinem Geschmack idealisierten Propheten Jesaja, wie ein gottesfürchtiger, in der Zionstheologie verankerter Jhwh-Prophet hätte reagieren müssen: durch die heilsgewisse Ansage des baldigen Abzugs der Belagerer. Zugleich signalisiert er dem König Zidkija am Vorbild Hiskijas, wie er in der gegenwärtigen Lage zu entscheiden habe. Die ABBJ-Erzählung ist so als Reaktion auf jenes Fürbittgesuch Zidkijas entstanden und zu verstehen „als ‚historische‘ Beleggeschichte und narrative Gegenprophetie gegen Jeremia“ (302). Wird in der ABBJ-Erzählung zu Recht ein Zeugnis des religiösen und politischen Standortes der Schefatja-Gruppe erkannt, sah sich Jeremia seinerzeit einem Kreis zionstheologisch enthusiasmierter Deuteronomisten gegenüber, von deren inbrünstigem Glauben in der AJ allerdings nichts übriggeblieben ist. In 37,9 erliegen diese Männer einem puren Selbstbetrug; nach 38,3–6 sind sie profan denkende Gewalttäter. Datierung und Autorschaft Zahlreiche Indizien erweisen die ABBJ-Erzählung als zeitnahe Travestie eines Fürbittgesuchs Zidkijas während der babylonischen Belagerung Jerusalems, das in der AJ dokumentiert ist. Die AJ trägt nun ebenfalls Merkmale, die auf einen Ursprung bald nach den geschilderten Ereignissen deuten. Die Darstellung fällt durch bezeichnende Leerstellen auf. Der Autor erklärt die Vorgänge kaum und nimmt nur wenige ausdrückliche Bewertungen vor, sondern lässt lieber sein Material für sich selbst sprechen. Nur das Wunschdenken der Schefatja-Gruppe (37,9) und ihre Gewaltakte gegen Jeremia (38,9) werden ausdrücklich gebrandmarkt. Beachtenswert ist ferner das Fehlen expliziter Erfüllungsberichte zu den Vorhersagen des Propheten. Der Verfasser scheint sich damit zufriedenzugeben, dass deren Richtigkeit seinen Adressaten offen zutage lag. Dabei wird in Gestalt von 38,28ab + 39,3 faktisch ein Erfüllungsbericht für 38,3 und der Sache nach auch für 38,21–22 beigesteuert, doch ohne als solcher hervorgehoben zu werden. Die Einnahme Jerusalems sinkt zu einer nebensächlichen Datierungsmarke für die Freilassung des Propheten herab (38,28ab), während der 533

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Erzähler den Schrecken der Niederlage keine Silbe widmet. Danach schweigt er über das Ergehen sämtlicher wichtiger Figuren außer Jeremia, was besonders auffällt angesichts der Untaten und Verdienste, durch die sich die Gegenpole Schefatja-Gruppe und Ebed-Melech gegenüber dem Helden hervorgetan haben, wie auch angesichts der persönlichen Orakel, die Zidkija zuteilwurden. Man fragt sich, wie eine solche Erzählweise befriedigen kann, außer wenn die fraglichen Schicksale unmittelbar vor Augen standen oder jedenfalls in frischer Erinnerung hafteten. Auch die Praxis, Zidkija einzig bei seiner Ersterwähnung mit seinem Namen zu belegen (37,3a) und dann nur noch mit seinem Titel als der König zu bezeichnen,8 ist einer Frühdatierung günstig. Obendrein werden den implizierten Adressaten nicht wenige Vorkenntnisse abverlangt. Eine Reihe von Namen fällt, wobei die Mehrzahl der judäischen Akteure keine Funktionsbezeichnung erhält. Die Mitglieder der Schefatja-Gruppe wurden erst prämasoretisch explizit den judäischen Patriziern zugeordnet (38,4a). Lediglich Zefanja ben Maaseja wird als Priester vorgestellt (37,3a). Der Name Ebed-Melech ist mit der Parenthese versehen: er befand sich (gerade) im Königspalast (38,7b), wobei die Wahl eines Umstands‑ statt eines Relativsatzes dem Verständnis Vorschub leistet, Ebed-Melech habe durch einen zufälligen Aufenthalt bei Hofe vom Schicksal Jeremias erfahren. Erst eine prämasoretische Hand hat den Kuschiter als Hofbeamten identifiziert (38,7a). Diese Figuren werden wie wohlbekannte Persönlichkeiten behandelt. Die Durchhalteparole Ganz sicher werden die Chaldäer von uns abziehen! (37,9c) kann unerläutert zitiert werden; auch hier müssen die Leser und Hörer über die Hintergründe Bescheid wissen. Diesen Leerstellen stehen zugleich bestimmte konkrete Details gegenüber, die sich auf keine literarischen Stilisierungsabsichten zurückführen lassen. Bei der Verhandlung Ebed-Melechs mit dem König wird notiert, dass Zidkija am Benjamintor gesessen habe (38,7d). Die Audienz Jeremias wird ebenfalls an einer genau bezeichneten Stelle des Tempelareals angesiedelt (38,14bc). Ebenso wird der Ort der Sitzung der babylonischen Offiziere angegeben (39,3b). Der Erzähler zehrte offenbar von frischen Erinnerungen und rechnete mit einem Publikum, das sich auf Lage und Zweck dieser Schauplätze einen Reim machen konnte. Ferner zählte er drei babylonische Generäle mit Namen und Rang auf (39,3b), wobei der Vergleich der Liste mit babylonischen Quellen ihm einen eindrucksvollen Informationsstand attestiert. Zudem unterstellt die AJ, dass vor Jerusalem nicht der König von Babel, sondern bloß seine Offiziere zugegen waren (38,17c.22a; 39,3ab), eine Sicht, die übrigens auch der ABBJ-Erzählung zugrunde liegt, wo ebenfalls nur hohe assyrische Offiziere mit schwerer Streitmacht vor Jerusalem aufmarschieren, während sich der König von Assur andernorts aufhält (2 Kön 18,17). Dieser Zug entspricht den Tatsachen (s. jeweils z. St.) und ist ohnehin kaum als Ergebnis eines Traditionsprozesses vorstellbar. Spätere Autoren meinten hingegen, Nebukadnezzar sei bei der Einnahme Jerusalems vor Ort gewesen (2 Kön 25,1 || Jer 39,1 || 52,4; vgl. Jer 39,11–12). Ein Merkmal frühen Ursprungs ist ferner der Umstand, dass die AJ einzelne namhafte Männer aus Führungskreisen profiliert,  38,4a.5aAlT.5c.7d.8b.10a.14aAlT.14d.15a.16aAlT.22b.

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im Unterschied zur UPJ-Erweiterung, wo die Widersacher Jeremias als die Patrizier verallgemeinert sind. Weiterhin sind an Jeremia keinerlei wunderhafte Elemente zu entdecken. Die AJ enthält nichts, was  – selbst nach heutigen Maßstäben  – die Grenzen der Alltagswahrscheinlichkeit überschreitet, vom Phänomen des Prophetismus als solchem abgesehen. Auch die abschließende Befreiung des Propheten geht unspektakulär vonstatten. Sein Porträt trägt keine Merkmale, die eine steigernde Tradition anzeigen. Auffällig ist schließlich die Weise, wie theologisch mit der Eroberung Jerusalems umgegangen wird. Eine religiöse Motivation der Katastrophe des Staates Juda ist erst in Ansätzen vorhanden. Der babylonische Sieg gilt in allen drei Orakeln Jeremias (37,9– 10; 38,3; 38,17.21–22) als von Jhwh beschlossene Sache, ohne dass dafür Gründe angegeben würden. Jeremia sagt in der AJ entschieden, dass es so kommen wird, aber er erklärt nicht, warum. Insofern knüpft das Dokument auch nicht an der authentischen jeremianischen Unheilsprophetie an. Die drohende Niederlage wird nirgendwo ausdrücklich mit irgendjemandes Verschulden in Beziehung gesetzt, auch nicht mit den in der AJ selbst geschilderten Verbrechen an dem authentischen Jhwh-Propheten. Nicht die Einnahme Jerusalems, sondern lediglich seine Zerstörung gilt als vermeidbar, und zwar nicht durch religiöse oder moralische Orthopraxie, sondern einzig durch die von Zidkija vollzogene Kapitulation (38,17.21–22). Die Ursachen der Katastrophe werden mit beachtlicher politischer Nüchternheit im Zusammenspiel der mangelnden Durchsetzungskraft Zidkijas und des skrupellosen Illusionismus seiner Umgebung angesiedelt. Das Volk wird nur beiläufig erwähnt (38,1b.4cd; 39,14d); eine Verantwortlichkeit seinerseits spielt – ganz im Gegensatz etwa zur deuteronomistischen Bewältigung des Exils – überhaupt keine Rolle. Der Autor lässt nicht erkennen, dass ihm der Kriegsausgang ein Theodizeeproblem aufgegeben hätte. Jhwh hat dem Hauptverantwortlichen durch die Prophetie Jeremias einen Weg gewiesen, das Schlimmste zu verhüten, und ist damit gerechtfertigt. Die Frage, warum das Schlimmste drohen musste, wird in der AJ nicht angeschnitten. Das Erzählwerk repräsentiert also allem Anschein nach ein ganz frühes Stadium der theologischen Arbeit an der Exilskatastrophe. Hier geht es nicht um die Rechtfertigung des Exils, sondern um die Rechtfertigung Jeremias. Wenn ferner der Umfang der Einheit korrekt bestimmt wurde, erreicht sie mit der Rückkehr Jeremias an den ihm zustehenden Platz inmitten des Volkes (39,14d) ihr Gleichgewicht. Der Tatbestand, dass der Prophet – auf welche Weise auch immer – nach Ägypten kam, spielt noch keine Rolle. Auch von Deportationen fällt kein Wort. Dies ist eine Fülle von Gründen, die nur einen Schluss zulassen: Die Apologie Jeremias ist bald nach der Freilassung ihres Helden entstanden. Da Gedalja nicht erwähnt wird, scheint auch die Ermordung des babylonischen Amtsträgers noch nicht vorausgesetzt zu sein. Andererseits legt die AJ Wert darauf zu betonen, dass die Brandschatzung Jerusalems vermeidbar gewesen wäre (38,17e; vgl. 37,10d), was nur im Rückblick auf die einen runden Monat nach der Erstürmung begonnene planmäßige Zerstörung Jerusalems (August 587; s. zu 52,12) verständlich ist. Zwischen diesem Datum und dem Tod Gedaljas im September/Oktober 587 (s. zu 41,1) wird 535

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die AJ von einem Anhänger des Propheten geschaffen worden sein. Dass es Baruch war, ist nicht auszuschließen. Zur Intention Die AJ beginnt mitten in der Belagerung Jerusalems durch die Babylonier mit einem Fürbittgesuch, das König Zidkija durch eine Delegation an Jeremia richtet. Der Prophet nimmt das Gesuch zum Anlass, einem größeren Kreis zu widersprechen, der eine enthusiastische Hoffnung auf den baldigen Abzug der Belagerer verficht. Eine Gruppe machtvoller Männer, der Schefatja-Kreis, bemächtigt sich des Propheten und versucht, ihn mit Verweis auf seine defätistische Botschaft zu Tode zu foltern. In den Schefatja-Leuten kann man Exponenten der von Jeremia gemeinten Enthusiasten erkennen, zumal sie über Juchal ben Schelemja mit der Gesandtschaft Zidkijas verbunden sind. Aufgrund der Intervention Ebed-Melechs aus der Hand seiner Todfeinde befreit, weist der Prophet dem König folgenlos einen Weg zu einem glimpflichen Ausgang der Krise. Nach der Eroberung Jerusalems wird er von den Babyloniern aus der Haft entlassen. Wie betont, erfahren wir über das Fürbittgesuch indirekt mehr aus der Erzählung von der assyrischen Bedrohung und der Befreiung Jerusalems 2 Kön 18 f.*, die aus dem Umfeld der Schefatja-Gruppe stammt, kurz vor der AJ entstand und ihre Träger als zionstheologisch-heilsprophetisch inspirierte Anhänger der deuteronomischen Reform ausweist. Wenn die AJ mit einem analogen Fürbittgesuch einsetzt, wird für sie die These gelten, die Hardmeier für seine ähnlich geartete Rekonstruktion („Erzählung von der Gefangenschaft und Befreiung Jeremias“) entwickelt hat: Sie ist – unter anderem – eine literarische Replik auf die ABBJ-Erzählung (290.318), indem sie die Sicht des Vorgangs auf Seiten der Anhängerschaft Jeremias dokumentiert und die Ankündigungen des Propheten in Erinnerung ruft. Vor allem lädt sie aus der Rückschau unausgesprochen dazu ein, durch Vergleich von Ansage und Geschichtsverlauf in Jeremia den authentischen Jhwh-Propheten zu erkennen, der überdies in kritischer Zeit die Lauterkeit seiner Motive und seine Kooperationsbereitschaft unter Beweis gestellt hat. Hätte man auf Jeremia gehört, statt ihn gewaltsam zu bekämpfen, wäre Jerusalem die Verwüstung erspart geblieben. Diese Aussageziele bestimmen den Namen, der dem Werk hier beigelegt wird: Die Apologie Jeremias dient der retrospektiven Rechtfertigung des Propheten. Zugleich rechnet sie mit seinen Feinden ab und dankt Ebed-Melech für seinen Einsatz. Wenn wir nichts von den weiteren Schicksalen dieser Männer erfahren, dann wohl deswegen, weil ihr Ergehen noch offen war und der Text den einen oder anderen Wink gab, wie man mit ihnen verfahren sollte. Die Freilassung Jeremias durch die Babylonier deutet an, dass sie sein Auftreten vor der Einnahme Jerusalems honorierten. In gleicher Weise, so wird zu folgern nahegelegt, hätten sie die Kapitulation belohnt, wie von Jeremia angekündigt – und ebenso würden sie künftige Kooperationsbereitschaft erwidern. Der Schluss der AJ läuft auf den indirekten Appell an die Judäer hinaus, die Zusammenarbeit mit den Siegern zu suchen. Trotz der gottgewollten Niederlage war noch nicht alles verloren. Wie bisher, würde Jhwh auch fürderhin durch Jeremias Prophetie den Weg weisen, weshalb es 536

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galt, endlich auf ihn zu hören. Die AJ ist somit eine Jeremia-Erzählung, die wie 28* und 36* noch zu Lebzeiten ihres Helden (und vor seiner Flucht nach Ägypten) entstand. Wie jene Beispiele bezeugt sie, in welchem Maße das Bedürfnis, den Propheten angesichts von mangelnder Hörbereitschaft und gewalttätiger Opposition zu rechtfertigen, zur Entstehung der zeitgenössischen Jeremia-Erzählliteratur beigetragen hat.

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Das Verschonungsorakel für Ebed-Melech 15  An Jeremia war das Wort Jhwhs ergangen, [als er (noch)] im Wachhof [festgehalten wurde]a: ​ 16  a  Geh ​ b  und sag dem Kuschiter Ebed-Melech: ​ c  So spricht Jhwh [der Heerscharen], der Gott Israels: ​ d  Siehe, ich bringe (bald schon) meine Worte über diese Stadt zum Unheil und nicht zum Heil. ​ e  [Sie werden an 17  a  Ich werde dich an jenem Tag retten [– jenem Tag (erfüllt) vor dir (stehen).] ​ b  und du wirst nicht in die Hand der Männer gegeben werden, Spruch Jhwhs,] ​ c  vor denen dir (AlT: und ich werde dich nicht in die Hand der Männer geben,) ​ graut. ​ 18  a  Ja, ganz sicher werde ich dich erretten; ​ b  durch das Schwert wirst du nicht fallen, ​ c  sondern du wirst dein Leben als Beute erhalten,a  d  weil du auf mich vertraut hast – Spruch Jhwhs. 15 a Präzisierung in Anlehnung an 33,1b.  18 a Wörtl. sondern dein Leben wird dir zur Beute werden.

Literatur: S. Lit. zu 38,7. – K. D.  Mulzak, Is Jeremiah 39:15–18 out of Order? AUSS 45 (2007) 69–72. Stipp, Prosaorakel.

Textgenese S. zu 38,28c–39,14.

Erklärung Das Heilswort für Ebed-Melech dankt dem fremdstämmigen Höfling seinen vorbildlichen Einsatz für Jeremia (s. zu 38,7–13) durch eine Rettungszusage, die selbst Bestandteil einer Unheilsprophezeiung ist, also wie 30,11 MT  || 46,28; 34,1–5 und Kap. 45 der Gattung des Verschonungsorakels angehört. Das Heilswort sei dem Propheten noch während seines Verbleibs im Wachhof offenbart worden; so die einleitende Wortereignisformel V. 15, die die folgende Gottesrede auch syntaktisch als Rückblende markiert, indem sie den Wechsel in die Vorvergangenheit durch ihre frei invertierte Form anzeigt (d. h. sie rückt das Verb an eine nichterste Satzposition, ohne dass der Satz ein Wort enthielte, das obligatorisch auf eine Position vor dem Verb festgelegt ist). Die Inversion erfolgt hier durch die singuläre Voranstellung des Adressaten 538

Das Verschonungsorakel für Ebed-Melech

39,15–18

(Kon 36 f.): An Jeremia war das Wort Jhwhs ergangen … Der dyschronologische Ort und die fast durchgehend deuterojeremianische Sprachgestalt erweisen das Orakel als redaktionelles Erzeugnis. Es lässt weder einen älteren Kern erkennen noch verrät es nähere Kenntnis vom Schicksal Ebed-Melechs, abgesehen davon, dass er die Katastrophe überlebte (Vv. 17–18). Nach der Wortereignisformel fährt die geprägte Einleitung fort mit der deuterojeremianischen Auftragsformel %Alh' + w˙=qatalta geh (im Infinitivus absolutus) und … (16ab; Kon 42 f.) sowie der um Gottesepitheta erweiterten prophetischen Botenformel (16c). Das Gotteswort selbst beginnt mit einer klischierten Ankündigung Jhwhs: Siehe, ich bringe (bald schon) meine Worte über diese Stadt zum Unheil und nicht zum Heil (16d; Kon 24, 123). In MT folgt der Überhang 16e, der wahrscheinlich aus einer Dittographie von 17a erwachsen ist (TK) und wörtlich lautet: Sie werden an jenem Tag vor dir sein. Der Satz lässt sich als Zusage lesen, Ebed-Melech werde die Zuverlässigkeit der Prophezeiungen durch eigenen Augenschein bestätigt finden: Sie (d. h. meine Worte) werden an jenem Tag (erfüllt) vor dir (stehen). Nicht formelhaft, aber ebenfalls inkonkret ist die Rettungszusage 17a, bevor mit der (hier negierten) Übereignungsformel 17b (Kon 94) und dem Adjektiv rAgy" Grauen empfindend 17c (vgl. 22,25 sowie rAgm' Grauen 20,3.4; Kon 54) charakteristische Merkmale der individuellen Prosaorakel zutage treten (Stipp 326). Wenn das Heilswort damit die Furcht des Kuschiters vor nicht identifizierten Männern beschwichtigt, legt zwar der Sprachgebrauch des Kontextes nahe, diese Gegner mit der Schefatja-Gruppe (38,1a) gleichzusetzen (vgl. 38,9a.16e.22e), doch warnt die klischierte Ausdrucksweise davor, dahinter spezifische Erinnerungen zu vermuten, die über die Nachrichten im Kontext hinausgingen. Der Redaktor hatte sich bloß zurechtgelegt, dass Ebed-Melech als Unterstützer Jeremias ebenso Repressalien seitens der Gegner des Propheten ausgesetzt war wie dieser selbst. Es folgen zwei weitere Zusagen der Rettung (18a) und des Überlebens im Krieg (18b), die zwar ebenfalls nicht formelhaft sind, aber weiterhin jede Konkretion vermissen lassen. Die geprägte Wendung vom Leben als Beute (18c; vgl. 21,9; 45,5; Kon 135) verspricht dem Adressaten knappes Entrinnen mit nicht mehr als dem eigenen Überleben (s. zu 38,2); auch sie ist typisch für die individuellen Prosaorakel, ebenso wie das Thema (richtiges oder falsches) „Vertrauen“ (18d; vgl. 28,15; 29,31; 46,25; Kon 25), mit dem hier ein Nichtisraelit das außergewöhnliche Lob erhält, auf Jhwh vertraut zu haben. Die Begründung des Verschonungsorakels ist bemerkenswert, weil sie gerade nicht explizit den Beistand Ebed-Melechs für den Propheten hervorhebt, sondern sein Gottvertrauen, wenngleich es sich für den Autor in dem Einsatz für Jeremia manifestiert haben muss. Der Nachdruck auf dem Gottvertrauen erhebt den Kuschiter zum Musterbeispiel für den Segenswunsch 17,7 und macht ihn auch den Generationen nach Jeremia unmittelbar zum Vorbild. Die Formelhaftigkeit und mangelnde Konkretion des Heilsorakels deuten darauf hin, dass der Redaktor von Ebed-Melech über das hinaus, was in Kap. 38 stand, kaum mehr wusste, als dass der Afrikaner die Krise lebend überstanden hatte. Wenn er ihm trotzdem ein Heilswort widmete, dürfte sich darin sein fortgeschrittener Verfasserstandort manifestieren: Während es dem Autor der Apologie Jeremias genügt hatte, die Verdienste des Höflings zu dokumentieren, sollte der Prophet – aus späterer Warte betrachtet – seinem Lebensretter auch Dank gezollt haben. Was Jeremia seinerzeit 539

39,15–18

Das Verschonungsorakel für Ebed-Melech

gewiss sinngemäß verheißen hatte, trug der Schöpfer der individuellen Prosaorakel mit seinem charakteristischen Vokabular ins Prophetenbuch ein. So gab er seiner Überzeugung Ausdruck, dass Jhwh den Freunden und Feinden Jeremias hatte Gerechtigkeit widerfahren lassen. Dabei bilden Ebed-Melech und Baruch (Kap. 45) die einzigen positiven Beispiele. Typisch für die Redaktionsschicht, sind beide Männer nichtpriesterliche Mitglieder der judäischen Führungskreise. So haben alttestamentliche Autoren einem Afrikaner für seinen Gerechtigkeitssinn, seinen zupackenden Einsatz für die authentische Quelle des Gottesworts (38,7–13) und sein Gottvertrauen (39,18d) ein sympathisches Denkmal gesetzt.

540

40,1–6

Jeremias Befreiung durch Nebusaradan 1  a  Das Wort, ​ b  das von Jhwh an Jeremia erging, nachdem ihn Nebusaradan, der Befehlshaber der Leibwache, von Rama aus freigelassen hatte, als er ihn hatte c  [während er] mit Handschellen [gefesselt war] mitten unter [all] holen lassen, ​ den Verbannten [Jerusalems und] Judas, die nach Babel verschleppt werden sollten. ​ 2  a  Der Befehlshaber der Leibwache ließ also Jeremia / ihn holen ​ b  und c  Jhwh, dein Gott, hatte dieses Unheil über diesen Ort geredet. ​ sagte zu ihm: ​ 3  a  [Er hat es so kommen lassen.] ​ b  Jhwh hat gehandelt, ​ c  [wie er geredet d  weil ihr gegen Jhwh / ihn gesündigt ​ e  und nicht auf seine Stimme hatte,] ​ gehört habt. ​ f  [Also ist euch diesa widerfahren.] ​ 4  a  [Nun aber,] siehe, ich löse dir [heute] die Fesseln,a  b  die an deinen Händen sind. ​ c  Wenn es gut ist d  so komm, ​ e  und ich will in deinen Augen, mit mir nach Babel zu kommen, ​ auf dich achten.b  f  Wenn [es aber schlecht in deinen Augen ist, mit mir nach g  [so lass es!] ​ h  [Schau,] ​ i  [das ganze Land liegt vor dir.] ​ Babel zu kommen,] ​ j  [Geh, wohin es gut und recht ist in deinen Augen zu gehen!] ​ 5  a  – Noch will a b  Und kehr zuer nicht zurückkehren – (?). (4f–5a in AlT: Wenn aber nicht, geh!) ​ rück zu Gedalja, dem Sohn Ahikams, des Sohnes Schafans, ​ c  den der König von d  Lass dich bei ihm Babel über die Städte Judas / das Land Juda eingesetzt hat! ​ e  [oder] geh, wohin auch immer mitten unter dem Volk nieder, ​ f  Der Befehlshaber der Leibwache gab zu gehen es recht ist in deinen Augen! ​ g  und entließ ihn. ​ 6  a  So kam [Jeremia] zu ihm Proviant und ein Geschenk ​ b  und ließ sich [bei ihm] nieder mitGedalja, [dem Sohn Ahikams,] nach Mizpa ​ ten unter dem Volk, das im Land übriggeblieben war. 3 a Wörtl. dieses Wort. 4 a Wörtl. ich binde dich [heute] los von den Fesseln. b Wörtl. und ich will mein Auge auf dich richten. 5 a Verbalsyntax und Bedeutung dieser ungenügend markierten Unterbrechung der Rede Nebusaradans sind unklar. Zudem fährt die Rede in 5b syndetisch fort. Sehr wahrscheinlich liegt eine Textstörung vor.

Literatur: S. V. Davidson, Chosen Marginality as Resistance in Jeremiah 40:1–6, in: A. R. P. Diamond, L. Stulman (Hg.), Jeremiah (Dis)Placed, 150–161. A. Faust, Judah in the Neo-Babylonian Period. The Archaeology of Desolation (Archaeology and Biblical Studies 18), Atlanta 2012, 209–231. J. Hill, Jeremiah 40.1–6: An Appreciation, in: M. A. O’Brien, H. N. Wallace (Hg.), Seeing Signals, Reading Signs. The Art of Exegesis (FS A. F. Campbell SJ; JSOT.S 415), London 2004, 130–141. O. Lipschits, The History of the Benjamin Region under Babylonian Rule, TA 26 (1999) 155–190. J. R.  Zorn, Tell en-Naṣbeh and the Problem of the Material Culture of the Sixth Century, in: O. Lipschits, J. Blenkinsopp (Hg.), Judah and the Judeans in the Neo-Ba-

541

40,1

Jeremias Befreiung durch Nebusaradan

bylonian Period, 413–447. J. R. Zorn, Jeremiah at Mizpah of Benjamin (Tell en-Naṣbeh): The Archaeological Setting, in: J. R. Lundbom (u. a., Hg.), The Book of Jeremiah, 69–92.

Textgenese S. zu 38,28c–39,14.

Erklärung Auf der erreichten Zeithöhe ist Jeremia nach dem älteren alexandrinischen Text von 39,14 bereits endgültig der Gefangenschaft entronnen, während MT in einer mehrdeutigen Schwebe hält, inwieweit der Prophet seine Unabhängigkeit wiedergewann. Der Grund ist die definitive Befreiung Jeremias durch Nebusaradan, die 40,1–6 in einer Episode schildert, die das Profil der patrizischen Redaktion (PR) trägt (s. Textgenese). In den frühnachexilischen Jahren suchte der patrizische Redaktor das desaströse Bild der judäischen Führungskreise im deuteronomistisch edierten Jeremiabuch zu kontern und insbesondere die Polemik des UPJ-Ergänzers gegen die Patrizier in 37–38 aufzuwiegen. Dazu pflegte und verallgemeinerte er Erinnerungen, wonach Jeremia die Anfeindungen, die ihm seine umstrittene Prophetie eintrug, nicht zuletzt durch den Beistand einzelner Aristokraten überlebte, allen voran solcher aus der Sippe der Schafaniden (s. zu 26,24). Nun hatte das von PR bearbeitete Buch mit der UPJ-Erzählung auch deren reichhaltige Nachrichten über Gedalja übernommen, einschließlich des Geschichtskonzepts, dass sämtliche Judäer, die Tod und Exil entgangen waren, bei Gedalja in Mizpa zusammenströmten (s. zu 40,7–12). Dies musste dann ebenfalls für Jeremia gelten, weswegen er folgerichtig in Kap. 42 als Mitglied dieser Gruppe auf die Bühne wiederkehrt. So lag es nahe, auch den Schafanenkel Gedalja als exemplarischen Vertreter der judäischen Patrizier in das Licht des Propheten zu rücken, selbst wenn dem Redaktor allem Anschein nach kaum geeignete Überlieferungen zu Gebote standen. Schon der UPJ-Ergänzer führte die beiden niemals zusammen, und die patrizische Glosse 39,14c1 flocht den Umweg über Gedalja nur behelfsmäßig in die Prozedur von Jeremias Haftentlassung ein. Der patrizische Beitrag in 40,1–6 sollte darlegen, dass der Prophet seine Wertschätzung für den Schafaniden demonstrierte, indem er sich aus freiem Willen zu ihm nach Mizpa begab, doch konkrete Nachrichten von einer Begegnung der beiden bleiben aus. 1 PR eröffnet die Szene mit der Relativsatz-Variante der Wortereignisformel (Kon 37), obwohl gar kein Gotteswort folgt. Die Merkwürdigkeit ist nicht plausibel mittels diachroner Annahmen aufzulösen und daher als intendiertes Ausdrucksmittel zu werten. Laut 1b erging die Offenbarung an Jeremia, nachdem ihn Nebusaradan … freigelassen hatte, also nach dem in 5g notierten Akt des babylonischen Feldherrn: Er entließ ihn, worauf V. 6 berichtet, wie sich Jeremia zu Gedalja in Mizpa begab und sich dort niederließ. Es ist also sein Gang zu dem Schafaniden, dem die Einleitung regelrecht Offenbarungsrang zumisst, sodass seine Tat die Parteinahme Jhwhs für 542

Jeremias Befreiung durch Nebusaradan

40,2–3

die patrizische Galionsfigur in einer Art prophetischer Zeichenhandlung symbolisch proklamiert. Damit unterscheidet sich PR vom UPJ-Ergänzer, bei dem Jeremia durch einfachen Verbleib in der Heimat in den Umkreis Gedaljas geriet, weil er zu den Überlebenden zählte, die sich laut 40,11–12 ohne Ausnahme bei dem Schafaniden in Mizpa einfanden – was freilich nur indirekt aus der Fortsetzung hervorgeht, wenn der Prophet in Kap. 42 unvermittelt unter den Judäern beim Gastlehen Kimhams (41,17) anzutreffen ist, die mit dem Attentäter Jischmael ben Netanja von Mizpa weggezogen waren (41,10) und bei Gibeon die Seite zu Johanan ben Kareach gewechselt hatten (41,13–16). Mit diesem Bild des Verhältnisses Jeremias zu Gedalja gab sich der patrizische Redaktor nicht mehr zufrieden. Auch die ältere patrizische Notiz 39,14c1, wonach die Babylonier Gedalja irgendwie an der Freilassung des Propheten beteiligt hatten, genügte nicht mehr; vielmehr sollte sich Jeremia bewusst für den prominenten Aristokraten entschieden haben. Dazu bedurfte es einer Alternative, die aber nicht innerhalb Judas liegen konnte, weil sich nach dem Geschichtsbild der UPJ-Erweiterung ohnehin sämtliche nichtexilierten Judäer in Mizpa versammelten. Folglich musste Jeremia in eine Situation versetzt werden, die ihn normalerweise von Juda fortgeführt hätte. Das ist der Grund, warum der Redaktor den Anspruch erhob, der Prophet habe sich in Rama (s. zu 31,15) in einem Konvoi angehender Exilanten befunden, um von dort in Handschellen (1c) den Marsch in die Deportation anzutreten, als ihm Nebusaradan persönlich die Freiheit schenkte. Der historische Quellenwert der Mitteilung ist nach 39,14 AlT so gering wie bei der anschließenden Rede des babylonischen Generals an Jeremia, doch erklärt sich die Nachricht aus der Kenntnis der folgenden Passagen aus der UPJ-Erzählung, die mithin vorausgesetzt werden. PR hält sich auch nicht mit der Frage auf, wie der Prophet nunmehr in babylonische Gefangenschaft geraten war, sondern fasst seine Ausgangslage bloß per Rückblende in die Vorvergangenheit knapp zusammen, um damit das Offenbarungsereignis zu datieren. Wie die Rede Nebusaradans in 2c–5e bestätigen wird, war Jeremia für PR vor die Wahl zwischen Gedalja und dem Exil gestellt. Die Worte Nebusaradans in 2c–3 bilden eine der seltenen Ausnahmen, in denen 2–3 deuterojeremianische Terminologie im Jeremiabuch außerhalb von Gottes‑ bzw. Prophetenreden auftritt. Einzigartig ist dieses Vokabular gar im Mund eines Nichtisraeliten, der wie ein jahwistischer Theologe die Niederlage Judas mit typisch deuterojeremianischen Interpretamenten erklärt: Jhwh, dein Gott, hatte dieses Unheil über diesen Ort geredet (2c).1 Mithin bewertet sogar der Vertreter der Siegermacht das dramatische Geschehen als Tat Jhwhs. Er kennt überdies die Gründe für Jhwhs hartes Einschreiten, nämlich das religiöse Versagen der Judäer, das ihnen  – kennzeichnend für PR – in recht pauschalen Vorwürfen vorgehalten wird: „gegen Jhwh sündigen“ (3d);2 und „nicht auf Jhwhs Stimme hören“ (3e).3 Für den Redaktor lag die Schuld der vorexilischen Judäer so offen zutage, dass sie nicht einmal den Babyloniern verborgen blieb. Wenn Nebusaradan ferner den Einklang zwischen den göttlichen 16,10; 19,15; 26,13.19; 35,17; 36,31; vgl. 18,8 MT; 1 Kön 22,23; Bar (hebr.) 2,7 (Kon 34). 33,8; 44,23; 50,14 MT; vgl. 3,25; 8,14; 50,7 (Kon 46). 3 3,13; 7,28; 9,12; 18,10; 32,23 u. ö. (Kon 137 f.). 1 11,17; 2 16,10;

543

40,2–3

Jeremias Befreiung durch Nebusaradan

Ankündigungen, die Jhwh laut dem Buchkontext durch Jeremia zu Gehör brachte, und ihrer Erfüllung betont (AlT 2c.3b; in MT kräftig unterstrichen durch die Zusätze 3acf), verkörpert ausgerechnet der ausländische Würdenträger die einzige Stimme im Buch, die die Wahrhaftigkeit der Prophetie Jeremias explizit anerkennt. 4–5 Wenn Nebusaradan nach diesen Worten dem Gefangenen die Fesseln löst (4a mit performativem qataltī), so bekräftigt die Abfolge, dass es im theologischen Geschichtsbild der PR die Bewahrheitung von Jeremias Prophetie gewesen ist, die dem babylonischen General den Grund für seinen Großmut lieferte. Die Entlassung versieht der Offizier mit einem bemerkenswerten Kommentar: Er lädt Jeremia ein, als freier Mann nach Babel mitzukommen, wo Nebusaradan ihm jene Fürsorge erweisen werde (4de), die Nebukadnezzar nach 39,12b MT ausdrücklich verlangt hatte; andernfalls, so unterstreicht ein prämasoretischer Zusatz in 4f–j, sei der Prophet frei zu gehen, wohin es ihm beliebt; das ganze Land – oder, wie der hebräische Text auch verstehbar ist, die ganze Welt – stehe ihm offen (4i), einschließlich der Möglichkeit, zu Gedalja zurückzukehren, bei dem er sich folglich zuvor befunden haben muss (5b–d). Im älteren und kürzeren alexandrinischen Wortlaut der Vv. 4–5 ist das Spektrum der Wahl enger gefasst: Die Alternative zum Exil heißt dort, zu Gedalja zurückzukehren, der typischerweise schon in AlT durch eine zweigliedrige Filiation als Enkel Schafans ausgewiesen ist (5b), und sich bei ihm mitten unter dem Volk niederzulassen (5d). Trotz des Nachsatzes 5e ist der Akzent hier anders geartet: Nicht Exil ja oder nein, sondern Exil oder der Schafanide lautete die Wahl, die Jeremia in der ursprünglichen Fassung treffen sollte. Nachdem Nebusaradan dem Propheten seine Aufmerksamkeit erwiesen hat, indem er ihn großzügig mit Proviant für die Reise und weiteren Gaben versah (5f), vollzieht Jeremia jene Entscheidung, die der Vorspann V. 1 als gleichwertig mit dem Ergehen eines Gottesworts deklariert hatte. Während also der patrizische Redaktor den fremdländischen General in den Vv. 2–3 mit voller Ehrerbietung von Jhwh hatte sprechen lassen, bereichert er dieses Porträt in den Vv. 4–5 noch um außerordentliche Generosität und Fürsorglichkeit. Als Exponent der Siegermacht verkörpert Nebusaradan damit ein überaus attraktives Bild des babylonischen Reiches. Wenn Jeremia dann trotzdem Gedalja der babylonischen Obhut im Exil vorzog, fällt ein umso freundlicheres Licht auf den Schafaniden. 6 Der Schlussvers der Einheit ist gefasst als Ausführungsbericht zur zweiten Alternative, die Nebusaradan dem Propheten im alexandrinischen Wortlaut vorlegte (5bd): Jeremia geht zu Gedalja […] nach Mizpa (6a). Die benjaminitische Stadt ca. 12 km nördlich von Jerusalem (heute Tell en-Naṣbe) war unzerstört geblieben und blieb während des 6. Jhs. durchgehend besiedelt. Der Ort ist die einzige Fundstätte in Juda und Benjamin, an der bislang größere Bautätigkeit aus dem 6. Jh. archäologisch nachgewiesen wurde. Mizpa diente als Residenz für den von Nebukadnezzar eingesetzten (5c) Judäer Gedalja, der dort ein Amt von ungeklärtem Rang ausübte (vgl. 40,10a; Statthalter oder gar Vasallenkönig? S. zu 40,7). Der Schafanide war für die Babylonier eine natürliche Wahl, weil die Familie – wie ihre Unterstützung für Jeremia zeigt – im Konflikt mit dem mesopotamischen Imperium wie der Prophet eine „probabylonische“ Haltung eingenommen hatte, also für ein realistisches Arrangement mit der Übermacht eingetreten war (26,24; 29,3; 36,10–13.25). Wenn ferner im Raum 544

Jeremias Befreiung durch Nebusaradan

40,6

des Stammes Benjamin zumindest die Städte in auffälligem Maß von den Kriegszerstörungen verschont blieben (vgl. die unterschiedlich nuancierten Darstellungen von Lipschits und Faust), dann möglicherweise deswegen, weil dort die Bereitschaft, sich mit den Eroberern abzufinden, wie bei dem benjaminitischen Propheten stärker ausgeprägt war (vgl. zu 37,13). In diesem Mizpa also lässt sich Jeremia mitten unter dem Volk nieder (6b). Wenn dann der Redaktor dem Volk noch das partizipiale Attribut das im Land übriggeblieben war (~yrIa'v.NIh;) beifügt, schlägt er abschließend die Brücke zum nachfolgenden, älteren Kontext der UPJ-Erzählung, die sich nun mit dem Schicksal dieses Restes befassen wird (ein weiterer Beleg, dass der Autor der Vv. 1–6 die Fortsetzung kannte). Mit V. 6 ist aktenkundig: Auf Gedalja ruht das Wohlwollen Jhwhs, proklamiert zwar nicht durch das Wort, wohl aber per konkludenter Handlung Jeremias. Nicht nur haben namhafte Patrizier dem Propheten in lebensbedrohlichen Situationen beigestanden, sondern er hat sich auch seinerseits mit führenden Exponenten ihres Kreises solidarisch erklärt. Das musste Konsequenzen zeitigen für die Rolle, die die Patrizier späterer Generationen im politischen Leben Judas beanspruchen durften. Für PR sollten die Nachkommen der Verfolger Jeremias nicht auf immer mit der Schuld ihrer Väter behaftet bleiben. Wie dürfte das Verhältnis des Propheten zu Gedalja in der historischen Wirklichkeit ausgesehen haben? Unter Einbezug der weiteren Nachrichten in Kap. 40–43 lässt sich feststellen: Allein die patrizische Glosse 39,14c1 vermeldet in summarischer Form eine unmittelbare Begegnung zwischen den beiden, noch dazu von dritter Seite herbeigeführt. Von einem irgendwie gearteten Zusammenwirken Jeremias mit Gedalja wissen unsere Quellen nichts; bemerkenswerterweise ist nicht einmal eine prophetische Reaktion auf den Tod des Schafaniden überliefert. Wie ferner das Jischmael-Dossier durchblicken lässt, gehörte die Loyalität der Bevölkerung im benjaminitischen Mizpa nicht Gedalja, sondern seinem davidischen Attentäter Jischmael, mit dem die Bewohner schließlich nach dem Mord in großer Zahl die Stadt verließen, und zwar gewiss aus freien Stücken (s. zu 41,4–14). Dieselbe Gruppe hat laut dem UPJ-Ergänzer die Flucht nach Ägypten gewählt (s. zu 41,16–43,7), und das ist der Kreis, in dem wir Jeremia nach längerem Schweigen zu seiner Person wiedertreffen (s. zu 42,1–43,7). So sehr also der Prophet für ein Arrangement mit der babylonischen Übermacht eingetreten war und dabei den Rückhalt der Schafaniden genossen hatte, ist durchaus fraglich, ob er deswegen auch die Ablösung der Davidsdynastie durch die Patrizierfamilie begrüßte.

545

40,7–41,18

Die Sammlung der nichtexilierten Judäer bei Gedaljaund dessen Ermordung 40,7  a1  Da hörten alle Truppenführer, ​ b  die im Feld waren, ​ a2  sie und ihre c  dass der König von Babel Gedalja, [den Sohn Ahikams,] im Land einMänner, ​ gesetzt ​ d  und dass er ihm Männer und Frauen [und Kinder sowie Leute von e  [von denen], die nicht nach Babylon den Armen des Landes] unterstellt hatte ​ verschleppt worden waren. (AlT: die er nicht nach Babylon verschleppt hatte.) ​ 8  Und es kamen zu Gedalja nach Mizpa: Jischmaela, der Sohn Netanjas, Johanan und Jonatan, die Söhne Kareachs (AlT: Johanan, der Sohn Kareachs),b ferner Seraja, der Sohn Tanhumets, und die Söhne Efais aus Netofa, sowie Jaasanjac, der 9  a  Gedalja, [der Sohn Ahikams, Sohn des Maachatiters, sie und ihre Männer. ​ b  Fürchtet euch nicht des Sohnes Schafans,] schwor ihnen und ihren Männern: ​ davor, den Chaldäern zu dienen! (AlT: Fürchtet euch nicht vor den Knechten der c  Bleibt im Land ​ d  und dient dem König von Babel, ​ e  damit es Chaldäer!) ​ 10  a  Ich meinerseits, siehe, ich bleibe in Mizpa, um euch euch wohlergehe! ​ vor den Chaldäern zu vertreten,a  b  die zu uns kommen. ​ c  Ihr aber, erntet Wein, Obst und Öl ​ d  und sammelt (die Ernte) in euren Gefäßen. ​ e  Lasst euch f  die ihr in Besitz genommen habt! ​ 11  a1  Auch nieder in euren Ortschaften, ​ b  die sich in Moab, bei den Ammonitern, in Edom ​ c  und in allen alle Judäer, ​ a2  hörten, ​ d  dass der (anderen) Ländern (AlT: in der ganzen Welt) aufhielten, ​ e  und Gedalja, den Sohn Ahikams, König von Babel Juda einen Rest belassen ​ 12  a  [Da kehrten alle Judäer [des Sohnes Schafans,] darüber eingesetzt hatte. ​ b  wohin sie versprengt worden waren.] ​ c  Sie kamen zurück von allen Orten, ​ d  und ernteten Wein und Obst ins Land Juda zu Gedalja nach Mizpa ​ in großer Menge. b  die im Feld 13  a1  Johanan, der Sohn Kareachs, und alle Truppenführer, ​ a2  kamen zu Gedalja nach Mizpa ​ 14  a  und sagten zu ihm: ​ b  Weißt waren, ​ du eigentlich, ​ c  dass Baalis, der König der Ammoniter, Jischmael, [den Sohn Netanjas,] geschickt hat, um dich ermorden zu lassen? ​ d  Aber Gedalja, [der Sohn Ahikams,] glaubte ihnen nicht. 15  a  Nun sagte Johanan, [der Sohn Kareachs,] heimlich zu Gedalja in Mizpa: ​ b  Ich will hingehen ​ c  und Jischmael, [den Sohn Netanjas,] erschlagen. ​ d  Niemand soll davon erfahren. ​ e  Warum soll er dich ermorden, ​ f  und ganz Juda, g  und der Rest Judas geht zugrunde? ​ das bei dir versammelt ist, wird zerstreut, ​ 16  a  Doch Gedalja, [der Sohn Ahikams,] sagte zu Johanan, [dem Sohn Kareachs,]: ​ b  Tu dasa nicht; ​ c  denn Lüge redest du über Jischmael. 546

Die Sammlung der nichtexilierten Judäer bei Gedalja

40,7–41,18

8 a In MT fehlerhafter syndetischer Anschluss: Und Jischmael. b Die alexandrinische Lesart ist korrekt, während die masoretische Variante auf eine Dittographie zurückgeht. Ein Bruder Johanans mit dem ganz ähnlich geschriebenen Namen Jonatan kommt anschließend nicht mehr vor. c So die sprachlich korrekte Form in der Parallele 2 Kön 25,23; MT: Jesanja. 10 a Wörtl. um vor die Chaldäer zu treten. 16 a Wörtl. diese Sache.

41,1  a  Es geschah im siebten Monat, ​ b  da kamen Jischmael, der Sohn Netanjas, des Sohnes Elischamas, aus königlichem Geschlechta, [die Obersten des Königs] und zehn Männer mit ihm zu Gedalja, [dem Sohn Ahikams,] nach Mizpa, ​ c  und sie speisten dort [in Mizpa] gemeinsam. ​ 2  a  Da erhoben sich Jischmael, [der Sohn Netanjas,] und die zehn Männer, ​ b  die bei ihm waren, ​ c  und ermordeten Gedalja, [den Sohn Ahikams, des Sohnes Schafans, mit dem Schwert,] ​ d  [und er tötete ihn,] ​ e  den der König von Babel im Land eingesetzt hatte, ​ 3  a1  sowie alle Judäer, ​ b  die bei ihm [– bei Gedalja –] in Mizpa waren, ​ a2  und Chaldäer, ​ c  die sich dort befanden; ​ a3  [die Krieger erschlug Jischmael.] 4  a  Es geschah am zweiten Tag nach der Tötung Gedaljas, ​ b  als noch niemand davon erfahren hatte, ​ 5  a  da kamen Männer aus Sichem, Schilo und Samaria, achtzig Mann, mit geschorenen Bärten, zerrissenen Kleidern und Ritzwunden, ​ b  und (sie trugen) Opfergaben und Weihrauch in den Händena, um sie 6  a  Jischmael, [der Sohn Netanjas,] ging ihnen zum Haus Jhwhs zu bringen. ​ [aus Mizpa] entgegen, wobei er unter Tränen daherkam (AlT: während sie unter b  [Es geschah nun, als er auf sie traf:] ​ c  Er sagte [zu Tränen einhergingen). ​ d  Kommt zu Gedalja, [dem Sohn Ahikams]! ihnen]: ​ b  schlach7  a  Es geschah aber, als sie in die Stadtmitte gekommen waren, ​ tete sie [Jischmael, der Sohn Netanjas,] ab (und warf sie)a [mitten] in die Zisterne, c  [die bei ihm waren]. [er und seine Männer,] ​ b  und sie hatten zu 8  a  Zehn Männer aber befanden sich darunter / dort, ​ c  Töte uns nicht; ​ d  denn wir haben im Feld versteckte VorJischmael gesagt: ​ räte: Weizen, Gerste, Öl und Honig. ​ e  Da ließ er ab ​ f  und tötete sie nicht inmitten ihrer Brüder. b  in die Jischmael alle [Leichen der Männer] warf, ​ c  die 9  a1  Die Zisterne, ​ a2  war eine große Zisterne,a  d  die König Asa angelegt er erschlagen hatte, ​ e  Diese füllte Jischhatte wegen (des Krieges mit) Bascha, dem König von Israel. ​ mael, [der Sohn Netanjas,] mit Erschlagenen. 10  a1  Dann führte Jischmael den ganzen Rest des Volkes gefangen fort, ​ b  der sich in Mizpa befand, (10a1b in AlT: Dann führte Jischmael das ganze Volk a2  die Königstöchter [und das weg, das in Mizpa übriggeblieben war,) ​ c  die [Nebusaradan,] der Befehlsganze Volk, das in Mizpa übriggeblieben war], ​ haber der Leibwache, Gedalja, dem Sohn Ahikams, unterstellt hatte. ​ d  [Jischmael, der Sohn Netanjas, führte sie gefangen weg] ​ e  und brach auf, um zu den Ammonitern hinüberzugelangen. 11  a1  Da hörten Johanan, der Sohn Kareachs, und alle Truppenführer, ​ b  die bei ihm waren, ​ a2  all das Böse, ​ c  das Jischmael, [der Sohn Netanjas,] verübt 547

40,7–41,18

Die Sammlung der nichtexilierten Judäer bei Gedalja

hatte. ​ 12  a  Sie nahmen ihre gesamte Mannschaft / Streitmacht ​ b  und zogen aus, um mit Jischmael, [dem Sohn Netanjas,] / ihm zu kämpfen. ​ c  Sie fanden ihn d  [das] in Gibeon [ist]. bei dem großen Wasser, ​ b  das bei Jischmael war, ​ a2  Jo13  a1  Und es geschah, als das ganze Volk, ​ hanan, [den Sohn Kareachs,] erblickte sowie [alle] Truppenführer, ​ c  die bei ihm d  [freute es sich.] ​ 14  a  [Da wandte sich das ganze Volk ab,] ​ b  [das waren, ​ c  kehrte um ​ d  [und ging] Jischmael von Mizpa gefangen weggeführt hatte,] ​ 15  a  Jischmael aber, [der Sohn Netanjas,] zu Johanan, [dem Sohn Kareachs]. ​ b  und ging zu den Ammonitern. entkam mit acht Mann [dem Johanan] ​ 16  a1  Nun übernahm Johanan, [der Sohn Kareachs,] gemeinsam mit allen Truppenführern, ​ b  die bei ihm waren, ​ a2  den ganzen Rest des Volkes, ​ c  den er von Jischmael, [dem Sohn Netanjas, von Mizpa] zurückgebracht hatte, ​ d  [nachdem dieser den Gedalja, den Sohn Ahikams, ermordet hatte]: ​ a3  Männer, Krieger, Frauen, Kinder und Beamte, ​ e  die er von Gibeon wegbrachte. ​ 17  a  Sie zogen ab ​ b1  und machten beim Gastlehen Kimhams Halt, ​ c  das bei Betlehem ist, ​ b2  mit der Absicht, nach Ägypten weiterzuziehena ​ 18  a  wegen der Chaldäer, ​ b  denn sie fürchteten sich vor ihnen, ​ c  weil Jischmael, [der Sohn Netanjas,] Gedalja, [den Sohn Ahikams,] ermordet hatte, ​ d  den der König von Babel über das Land eingesetzt hatte. 1 a Wörtl. aus dem Samen des Königtums. 5 a Wörtl. in ihrer Hand. 7 a Sog. Constructio praegnans, bei der ein Verb die Valenzen eines mitgedachten nachfolgenden Verbs übernimmt; vgl. Gen 42,28; Jes 13,8; Kö § 213a; GK § 119ee. 9 a Die Satzgliederung folgt hier ausnahmsweise jener von AlT, nicht dem fehlerhaften Wortlaut von MT, wo eine große Zisterne zu in der Hand Gedaljas verschrieben ist, mit der Folge einer verschobenen Satzgrenze. 17 a Wörtl. zu gehen, [um] nach Ägypten [zu kommen].

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Textgenese und Gliederung In 40,7–43,7b setzt die „Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums“ (UPJ-Erzählung) ihre Darstellung aus 34,7 + *37,3–39,14 fort, wandelt aber in mehrfacher Hinsicht ihren Charakter. Von Jeremia abgesehen, wird das gesamte Figureninventar ausgetauscht: Zidkija und die Patrizier haben die Bühne verlassen. Dafür gehen neue Hauptrollen an Gedalja, den in Mizpa residierenden judäischen Verwaltungschef in babylonischen Diensten, und die Truppenführer (~yliy"x]h; yrEf'), judäische Militärkommandeure, die weiterhin aktionsfähige Einheiten befehligen; auch die judäische Bevölkerung tritt nun als eigenständiger, kollektiver Akteur in Erscheinung. Ferner verlagert sich der thematische Schwerpunkt: Bislang war der UPJ-Ergänzer vor allem bemüht, die zur geschlossenen Körperschaft nivellierte judäische Aristokratie anzuklagen, weil sie mit brutalen Methoden verhindert habe, dass Jeremias rettender Aufruf zur Kapitulation Gehör fand. Ab 40,7 hingegen nimmt der Verfasser Kurs auf sein narratives Hauptziel, das den Grund für den hier gewählten wissenschaftlichen Namen seines Werkes liefert: die Totalemigration aller nichtexilierten Judäer nach Ägypten, begleitet von einer flammenden prophetischen Unheilsansage, die den Flüchtlingen das sichere Verderben am Ort der vermeintlichen Zuflucht ankündigt (*42,1–43,7b). Wenn daher die beiden Hälften 34,7 + *37,3–39,14 und *40,7–43,7b gleichwohl derselben Quelle zugewiesen werden, liegt dies neben der Abwesenheit von Spannungen zwischen den beiden Textbereichen primär an signifikanten Ge549

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meinsamkeiten im Vokabular (s. u.). Wie allerdings die Auslegung zu zeigen hat, gibt es darüber hinaus auch thematische Klammern, obgleich von sublimer Art: Die Distanzierung von den Überläufern, die die Beiträge des UPJ-Ergänzers in 37 f. auszeichnet (37,13–14; 38,19–20), und seine anhaltende Diskretion, was den Umgang der babylonischen Eroberer mit ihren Opfern angeht, geben ihren vollen Sinn erst im Licht des Erzählschlusses preis. Denn die Flucht aller nichtdeportierten Judäer an den Ort ihres unausweichlichen Todes implizierte, dass künftig nur noch die Gola den Fortbestand des Gottesvolkes gewährleisten konnte – sofern sie sich, wie der Autor insinuiert, zu einem kooperativen Verhältnis mit den weiterhin als milde porträtierten Siegern durchrang. Eine solche Botschaft setzte den Verfasser dem Verdacht der Kollaboration aus, weswegen er sich in der ersten Hälfte seines Werkes im Medium Jeremias vorsorglich strikt von den Deserteuren abgrenzte. Der Abschnitt 40,7–41,18 berichtet von der Herrschaft und Ermordung Gedaljas sowie von den unmittelbaren Folgen des Attentats. Daran ist schon immer eine Merkwürdigkeit aufgefallen: Vorweg führen 39,14 und 40,1–6 den Propheten zu Gedalja nach Mizpa (zu den problematischen Einzelheiten vgl. z. St.); hernach in Kap. 42 hält sich Jeremia unter den Judäern auf, die nach dem Tod Gedaljas von Mizpa in die Nähe von Betlehem gewandert sind. Doch dazwischen lesen wir von dem Propheten kein Wort, obwohl die dramatischen Vorgänge in der Logik des Erzählten auch ihn in Mitleidenschaft gezogen haben müssen, und zwar allein schon durch den Aufbruch von Mizpa unter Führung Jischmaels (41,10 ff.). Daraus hat man wiederholt geschlossen, der Autor des Kontexts habe hier eine ältere Darstellung des Attentats auf Gedalja eingearbeitet, die an Jeremia nicht interessiert war. In der Tat liegen Indizien vor, die den Verdacht bestätigen und erlauben, das Dokument mit hohem Sicherheitsgrad aus dem heutigen Bestand herauszuschälen. Die deutlichsten Doppelungen und Widersprüche finden sich in den Nachrichten von der Ankunft der Truppenführer bei Gedalja in Mizpa. Zunächst berichtet 40,7–8 mit Narrativen – also einen Vortext weiterführend –, wie alle Truppenführer (7a) von der Einsetzung Gedaljas erfuhren (W[m.v.YIw: 7a) und ihn in Mizpa aufsuchten (WaboY"w: V. 8). Dabei fallen mehrere Namen, mit dem späteren Attentäter Jischmael ben Netanja an erster und Johanan ben Kareach an zweiter Stelle (V. 8 AlT). 40,13 meldet abermals, Johanan ben Kareach und alle Truppenführer seien bei Gedalja in Mizpa eingetroffen, jetzt aber in der syntaktischen Formation Subjekt + qatal, die – nach Abzug des syndetischen Anschlusses durch w und (13a1) – einen selbstständigen Text eröffnen kann. Ein Sachgrund für die Wiederholung ist nicht zu erkennen. Obendrein werden die Truppenführer in 13b ebenso durch den Relativsatz die im Feld waren erläutert wie in 7b; Gedaljas Aufforderung in 10c–f, ein sesshaftes Leben mit Landwirtschaft aufzunehmen, hat hier keine Folgen gezeitigt, als sei sie unbekannt (vgl. dagegen die Truppenführer, die bei ihm [= Johanan] waren 41,11a1b.13a2c.16a1b). Noch auffälliger ist die erneute Mitteilung der Ankunft Jischmaels bei Gedalja in 41,1, da er wieder vorgestellt wird, und zwar weitaus genauer als zuvor in 40,8: Jetzt trägt er die zweigliedrige Filiation ben Netanja ben Elischama, gefolgt von der Präzisierung aus königlichem Geschlecht, die ihn als Sprössling der Davidsdynastie ausweist. Überdies warnen in 40,14 alle Truppenführer (13a) Gedalja vor Jischmael. 40,13–14 und 41,1 bilden folglich nicht 550

Die Sammlung der nichtexilierten Judäer bei Gedalja

40,7–41,18

nur Dubletten zu 40,7–8, sondern stehen dazu auch im Gegensatz, weil der Attentäter dort allen Truppenführern zugerechnet wird, hier aber nicht zu ihnen zählt. Eine weitere Spannung durchzieht die Passagen, die die Zusammensetzung und den Umfang der bei Gedalja in Mizpa versammelten Bevölkerung beschreiben. Da der UPJ-Ergänzer in *40,7–43,7b auf die Totalemigration aller nichtexilierten Judäer nach Ägypten hinsteuert, setzt er die Bewohner der Residenzstadt Gedaljas mit sämtlichen Judäern gleich, die dem Tod und den Deportationen entronnen waren. Deshalb erzählt er, wie alle ins Ausland geflüchteten Judäer nach Mizpa zurückströmen (40,11–12), und belegt die Gruppe mehrfach mit dem Terminus Rest (tyrIaev.); dazu treten Aufzählungen, die die Vollständigkeit des Kreises betonen: ein Rest (für) Juda (40,11d); ganz Juda (40,15f); der Rest Judas (40,15g; redaktionell 42,19a); der ganze Rest des Volkes … Männer, Krieger, Frauen, Kinder und Beamte (41,16a); das ganze Volk von klein bis groß (42,1.8); dieser [ganze] Rest (42,2c); das ganze Volk (43,4); der ganze Rest Judas … die Männer, Frauen, Kinder und die Königstöchter (43,5–6a). Dieser spezifische Sprachgebrauch fehlt in dem Bericht von den Taten Jischmaels in 41,1–15. Dort sind Angaben, die dieselbe Gruppe wie an den vorgenannten Stellen bezeichnen, mit einschränkenden Relativsätzen versehen, die klarstellen, dass keineswegs das ganze Volk, sondern nur ein jeweils betroffener Ausschnitt gemeint ist: alle Judäer, die bei ihm [– bei Gedalja –] in Mizpa waren (41,3ab); das ganze Volk, das bei Jischmael war (41,13ab). Folglich hat es daneben auch andere Judäer gegeben, die an den geschilderten Vorgängen nicht beteiligt waren. In 41,10ab benutzt zwar MT die Restterminologie, wenn es dort heißt, Jischmael habe den ganzen Rest des Volkes, der sich in Mizpa befand, gefangen fortgeführt. In AlT kommandiert er hingegen nur das ganze Volk, das in Mizpa übriggeblieben war, ein Ausdruck, der in MT an anderer Satzposition wiederkehrt. Demnach hat der ursprüngliche Wortlaut das Gefolge des Meuchelmörders auf die überlebenden Bewohner Mizpas begrenzt, während MT an die Totalitätsvorstellung angeglichen ist, die der UPJ-Ergänzer propagierte. Damit zeichnet sich in 41,1–15 eine ältere Darstellung des Anschlags auf Gedalja ab, die die Einwohnerschaft der Residenzstadt und folglich auch den Anhang Jischmaels bei seinem Aufbruch von Mizpa erheblich bescheidener bemaß als der UPJ-Ergänzer. Die Quelle zeichnet ferner ein etwas anderes Bild von dem hoheitlichen Akt, der die betroffenen Judäer der Herrschaft Gedaljas unterstellte: Der Befehlshaber der Leibwache (~yxiB'j;-br:; s. zu 39,9) habe dies verfügt (41,10c), während der UPJ-Ergänzer den König von Babel am Werk sah (40,7cd). Weitere Aufschlüsse über den Verlauf der Schichtengrenzen gewähren die widersprüchlichen Nachrichten über die Ankunft der Truppenführer in Mizpa. Aus dem an einen Vortext gebundenen Passus 40,7–8 spricht die Stimme des UPJ-Ergänzers, der den Attentäter Jischmael zu den Truppenführern zählt, ihn zusammen mit seinen Kollegen eintreffen lässt und die Übertragung der Herrschaft an Gedalja dem König von Babel zuschreibt. Außerdem charakterisiert 9e den Lohn der Unterwerfung unter die Babylonier mit dem Finalsatz damit es euch wohlergehe, ein Echo der Worte, mit denen Jeremia in 38,20e Zidkija für die Kapitulation zu gewinnen versucht hatte (ferner 42,6e; s. z. St.). Das ältere Dokument ist dagegen in jenen Notizen zu vernehmen, die das neuerliche und getrennte Eintreffen von Johanan ben Kareach und 551

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Die Sammlung der nichtexilierten Judäer bei Gedalja

allen Truppenführern einerseits (40,13) und Jischmael andererseits (41,1) vermelden. Da 40,13 – nach Abzug der Syndese – die syntaktischen Merkmale eines absoluten Textanfangs trägt, ist hier der Beginn der Quelle zu suchen. Dazu passt, dass die Truppenführer in 40,14 den Attentäter als Handlanger des Königs von Ammon abtun, in dessen Reich er schließlich entkommt (41,15; vgl. 41,10e). Vor 40,13 und nach 41,15 begegnet die für den UPJ-Ergänzer typische Restterminologie (40,11d; 41,16a); ferner leitet 41,16–18 mit dem Halt der Judäer bei Betlehem zu jener Orakelanfrage über, die den Propheten Jeremia wieder ins Geschehen zurückführen wird. Das Stichwort Rest findet sich allerdings auch in 40,15g innerhalb der Szene, in der Johanan Gedalja anbietet, den Attentäter heimlich aus dem Weg zu räumen (40,15– 16). Deshalb sind die beiden Verse als Einschub des UPJ-Ergänzers zu werten, der hier seine Sicht der finalen Konsequenzen des Anschlags nachgetragen hat: Der Rest Judas geht zugrunde (15g). Das bestätigen weitere Züge der Handschrift des UPJ-Ergänzers. So hat sich der Nachdruck auf der Geheimhaltung (15ad) bereits als Leitfossil für seine Beiträge erwiesen (37,17c; 38,24b.27f). In 40,15 resultiert das Stilmerkmal zusätzlich aus den andersartigen Vorstellungen vom Aufenthaltsort Jischmaels: Laut der Quelle wird der Attentäter erst später nach Mizpa gelangen (41,1), weswegen 40,14 von Diskretion nichts weiß, wenn die Truppenführer Gedalja vor seinem Mörder warnen. Für den UPJ-Ergänzer hingegen ist Jischmael bereits in der Stadt (40,7–8); folglich muss Johanan sein Angebot heimlich unterbreiten (40,15a), das Gedalja indes entrüstet als rq,v, Lüge zurückweist (16c), ebenso wie es Jeremia in 37,14b mit dem Vorwurf der Fahnenflucht getan hatte. Damit stellt sich 40,13–14 + 41,1–15 als eine ältere, in sich abgerundete Schilderung des Attentats auf Gedalja heraus, die von der Ankunft der Truppenführer in Mizpa bis zur Flucht Jischmaels nach Ammon reichte und zwischen diesem und den Truppenführern eine scharfe Trennlinie zog. Ferner hatte das Dokument mit Jeremia nichts zu tun und war rein profaner Natur. Wie die Exegese darzulegen hat, war der Verfasser bestrebt, Jischmaels Vorgehen als verabscheuungswürdig zu brandmarken und sich nachdrücklich davon zu distanzieren; dies hat die Wahl des Namens „Jischmael-Dossier“ (JD) für das Schriftstück geleitet. Innerhalb des genannten Bestandes gibt lediglich 41,3 Anlass zur Frage, ob der Vers einen steigernden Einschub bildet, da dort behauptet wird, der Davidide habe auch alle Judäer, die bei ihm [– bei Gedalja –] in Mizpa waren, erschlagen, was unvereinbar ist mit den Nachrichten in V. 10 ff., laut denen Jischmael eben jene Bevölkerung von Mizpa fortgeführt hat. Der Widerspruch ist schon in der Antike aufgefallen, was einen späten Bearbeiter veranlasste, in der masoretischen Texttradition einschränkend zu ergänzen: Die Krieger erschlug Jischmael (3d). Es ist jedoch auch mit übertreibender Redeweise zu rechnen, die sich über den Widerspruch zur Fortsetzung hinwegsetzte, denn 3a–c lag bereits dem Autor von 2 Kön 25,22–26 vor, der die UPJ-Erzählung exzerpierte (V. 25). Andernfalls wurde der Passus schon früh nachgetragen. Von weiteren prämasoretischen Retuschen abgesehen, besteht kein Anlass, mit größeren Eingriffen zu rechnen; folglich dürfte das JD annähernd im originalen Wortlaut bewahrt geblieben sein. Die Rekonstruktion des JD wird durch weitere literarische Merkmale untermauert, die die Quelle vom Kontext abheben: Während die Beiträge der Apologie Jeremias 552

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40,7–41,18

und des UPJ-Ergänzers v. a. mit hohen Dialoganteilen den Gattungsregeln der Erzählung gehorchen, ist JD in eine rasche Folge kurzer Abschnitte gegliedert und enthält nur wenige, knappe Reden, weswegen es der Gattung „Bericht“ zuzuordnen ist (s. sogleich). Wie ferner verschiedene Merkmale erweisen, ist das Schriftstück überaus zeitnah entstanden und lässt hinter seinen offenkundigen Tendenzen die tatsächlichen Vorgänge derart deutlich aufscheinen, dass es fortgesetzt dazu einlädt, das Werk im Kontrast zu den wahrscheinlichen historischen Hintergründen zu interpretieren. In der prämasoretischen Phase wurde 40,7–41,18 durch zahlreiche formelhafte Einsprengsel erweitert, gewann aber auch einige inhaltliche Akzente hinzu. Außer den schon besprochenen masoretischen Sonderlesarten in 41,3d.10ab (s. o.) sind zu nennen: In 40,7d wurden die Gedalja unterstellten Menschengruppen um Kinder sowie Leute von den Armen des Landes vermehrt, im Fall der letzteren Gruppe eine soziale Schicht, die einem prämasoretischen Ergänzer besonders am Herzen lag (vgl. 39,10; 52,15–16). In 40,12ab hat man die Vorstellung der Heimkehr ausnahmslos aller judäischen Auslandsflüchtlinge nochmals radikalisiert, indem man sie durch die Terminologie der Zerstreuung (xdn) nachgerade zur Sammlung einer Diaspora steigerte (ebenso 43,5bc). Ferner wurde in 41 das Charakterbild des Attentäters nachgeschwärzt: Nach der pluralischen Formulierung 2c hat der singularische Einschub 2d Jischmael als eigenhändigen Mörder Gedaljas gebrandmarkt, wie es auch der Temporalsatz 16d tut, der sachlich 18c verdoppelt. In 6a ging das „Wandern unter Tränen“ von den „Nordreichpilgern“ auf den Davididen über, um ihn einer zusätzlichen Heuchelei zu bezichtigen. Nur MT kennt die Vorstellung, dass Jischmael die in Mizpa versammelten Judäer gefangen fortgeführt habe (hbv 41,10ad.14b), sodass diese freudig zu Johanan übergelaufen seien (xmf 41,13d). Derselben Tendenz zur zusätzlichen Perhorreszierung des Attentäters wird die Explikation Leichen der Männer in 41,9b zuzurechnen sein. Wie betont, zeigt die Gliederung von 40,7–41,18 Besonderheiten, die die Rekonstruktion von JD bestätigen. In 40,7–12 hat noch der UPJ-Ergänzer das Wort. Obwohl 40,7a mit Narrativ an den Vortext anknüpft, eröffnet der Satz einen Abschnitt, indem er mit den Truppenführern eine neue Figurengruppe einführt. Nachdem die Militärkommandeure von der politischen Reorganisation Judas erfahren haben, finden sie sich bei Gedalja ein (40,7–8), der eine längere Rede an sie richtet (40,9–10). Mit ~g:w> auch angereiht, berichtet die Fortsetzung von der Sammlung der im Ausland zerstreuten Judäer bei Gedalja, wo sie seinen Aufruf zum Einfahren reicher Ernten (40,10c–f) in die Tat umsetzen (40,11–12). Danach vollzieht V. 13 einen ausgeprägten Neueinsatz, der den ehemaligen Beginn des JD spiegelt; zugleich geht der Text über zu der für diese Quelle typischen Gliederung in besonders kurze Segmente, die nur in einem Ausnahmefall den Umfang von vier Versen erreichen (41,4–7). 13a eröffnet mit dem Subjekt in Frontstellung einen frei invertierten Verbalsatz (s. zu 39,15), der abermals das Eintreffen der Truppenführer bei Gedalja mitteilt. Die Militärs stellen dem Amtsträger eine Frage, worauf nur das geraffte Resümee seiner Reaktion folgt (V. 14). Der Einschub der UPJ-Erweiterung 40,15–16 führt eingangs in einem ebensolchen Neueinsatz durch frei invertierten Verbalsatz mit Subjekt in Frontstellung (15a) Johanan ben Kareach zu einem heimlichen, kurzen Dialog mit Gedalja zu553

40,7

Die Sammlung der nichtexilierten Judäer bei Gedalja

sammen. Wenn in 41,1 das JD wiederkehrt, leitet die Datierung mit der Nachricht von der Ankunft Jischmaels und seiner Leute bei Gedalja schon den nächsten Abschnitt ein, der die Mordtaten des Davididen an den Bewohnern von Mizpa berichtet (41,1–3), bevor die Datierung 41,4a den Auftakt zu dem Abschnitt bildet, der das Massaker an den Besuchern aus den Nordstämmen schildert (41,4–7; in AlT erheblich straffer). Hier ist eine Rede Jischmaels zitiert, die in AlT drei Worte umfasst (6d). In 8a eröffnet ein frei invertierter Verbalsatz mit einer neuen Figurengruppe als Subjekt in Frontposition ein Segment, das ebenfalls eine Rede enthält (8cd), aber nicht über das Versende hinausreicht. Schon 41,9 bildet wieder ein separates Gliederungselement, wenn ein Erzählerkommentar Hintergrundinformationen mit den dafür typischen syntaktischen Ausdrucksmitteln liefert: ein Nominalsatz (9a), erweitert um drei Relativsätze (9bcd), sowie ein frei invertierter Verbalsatz (9e). 41,10–12 kehrt mit Narrativen in den Hauptsätzen in den Erzählvordergrund zurück, um weitere Taten Jischmaels sowie Johanans und seiner Kollegen mitzuteilen. Die Gliederungsformel 13a markiert erneut den Beginn eines Abschnitts, von dem sich 15a wieder durch frei invertierten Verbalsatz mit Subjekt im Vorfeld abgrenzt. 41,15 bildet das letzte Segment, das die Struktur des JD mit auffällig kurzen Abschnitten, sehr geringen Redeanteilen (40,14bc; 41,6d.8cd) und dem Fehlen von Dialogen repräsentiert, ein literarischer Befund, der das Werk gattungsmäßig als Bericht ausweist (dagegen besteht der Einschub des UPJ-Erweiterers in 40,15–16 vollständig aus einem Dialog). Die verbleibenden Vv. 41,16–18 aus der UPJ-Erweiterung heben sich zu Beginn durch einen Subjektswechsel ab und nehmen mit der Dominanz von Narrativen in den Hauptsätzen wieder erzählerischen Charakter an. So ergeben sich folgende Abschnitte: 40,7–12.13–14.15–16; 41,1–3.4–7.8.9.10–12.13–14.15.16–18.

Erklärung 40,7–16: Die Sammlung der nichtexilierten Judäer bei Gedalja in Mizpa 7 Nach dem Ende der Apologie Jeremias in 39,14* setzt der UPJ-Ergänzer seine Dar-

stellung von Vorgängen nach dem babylonischen Sieg fort, indem er einen neuen Kreis von Figuren einführt, die nunmehr Hauptrollen übernehmen. Ohne eigene Vorstellung berichtet er, wie alle Truppenführer von der Neuordnung der politischen Verhältnisse in Juda durch den König von Babel erfuhren (7a–c). Dabei wird Gedaljas Amtseinsetzung ähnlich wie in 40,5 als ein Ereignis behandelt, das den Adressaten des Erzählers vertraut war, hier aber einer innertextlichen Figurengruppe erstmals zur Kenntnis gelangt. Näher bestimmt sind die Kommandeure zunächst durch die Angaben die im Feld waren, sie und ihre Männer (7ba2). Während der Autor mithin auch die betreffende Klasse von Offizieren als bekannt voraussetzen kann,1 bedarf es der Betonung, dass sie trotz der Niederlage weiterhin einsatzfähige Verbände befehligten, was bald wichtig werden wird (41,11–14). Ferner befinden sie sich im Feld, also abseits  Vgl. 2 Sam 24,2.4; 1 Kön 15,20 || 2 Chr 16,4; 2 Kön 9,5.

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40,7

der Zentren von Siedlung und Verwaltung. Demnach hatten die Babylonier sie bei der Bestallung Gedaljas nicht beigezogen, und sie gehörten nicht zu jenen Judäern, die wie Gedalja aufgrund ihrer Kooperationsbereitschaft von den Siegern begünstigt wurden. Wie die Rede Gedaljas in V. 9–10 bestätigt, hatten sie sich mit dem babylonischen Regiment noch nicht abgefunden, was sie aber nicht gehindert habe, mit dem judäischen Vertreter der neuen Herren Kontakt aufzunehmen. Zusätzlich hebt der Verfasser hervor, dass der König von Babel Gedalja die nichtexilierten Judäer unterstellte (7de; ein prämasoretischer Revisor hat hier eigens die Armen des Landes eingereiht, deren Los die Babylonier, wie er in 39,10 betonte, zu bessern bemüht waren). Mit der eigentlich überflüssigen, da redundanten Notiz lenkt der UPJ-Ergänzer erstmals auf sein Erzählziel hin: die Totalemigration aller nichtexilierten Judäer nach Ägypten (s. zu 43,4–7b). Gedalja war ein Sohn Ahikams und ein Enkel von Joschijas Staatsschreiber Schafan, die beide eine Schlüsselrolle bei der joschijanischen Reform gespielt hatten (2 Kön 22,3 ff.). Vielleicht war er identisch mit dem (oder einem der) Inhaber jener Siegel, deren Abdrücke (Bullen2) aus der Zeit um die Wende vom 7. zum 6. Jh. stammen und einen Gedalja, der Palastvorsteher (lgdlyhw ’šr ‘lhbyt)3 bzw. Gedalja, der Knecht des Königs (gdlyhw ‘bd hmlk)4 als ihren Besitzer ausweisen. Doch bleibt dies unsicher, da der Name verbreitet war.5 Die Historizität des Mannes steht ohnehin außer Zweifel. Mitglieder der Schafanidensippe traten in den Konflikten um Jeremia wiederholt als Unterstützer des Propheten auf (s. zu 26,24) und teilten demnach seinen politischen Standpunkt, der häufig etwas missverständlich „probabylonisch“ genannt wird und auf die Bereitschaft hinauslief, sich mit dem übermächtigen babylonischen Imperialismus zu arrangieren. Diese Haltung muss Gedalja für seine Aufgabe in babylonischen Diensten prädestiniert haben. Sein präziser Status bleibt allerdings ungewiss. Die biblischen Quellen erklären nur, dass Nebukadnezzar Gedalja eingesetzt habe (dqp‑H),6 nennen aber keinen Titel. Daher wird bisweilen gemutmaßt, die Babylonier hätten Gedalja zum König anstelle der Davidsdynastie erhoben, was die biblische Tradition aus Verlegenheit verschwiegen habe. Zu beachten bleibt allerdings, dass der Verfasser des JD, der sich demonstrativ auf die Seite Gedaljas stellte (s. die zusammenfassende Erklärung des JD bei 41,15), Jischmael königliches Geblüt zuschrieb (41,1b). Hätte der Autor Gedalja als König betrachtet, hätte er den Attentäter der Familie des Opfers zugerechnet, sodass Gedalja einem Mörder aus dem eigenen Haus erlegen wäre. Das ist wenig glaubhaft. Folglich wird man sich besser mit der negativen Feststellung bescheiden, dass Gedalja jedenfalls kaum die Königswürde zuteilwurde, und Jischmael hat weiter als Davidide zu gelten, wie es ohnehin der natürlichen Wahrscheinlichkeit entspricht. – Zu Gedaljas Residenzstadt Mizpa s. zu 40,6.  S. o. S. 312 Anm. 6. Sass, Corpus 172 Nr. 405; van der Veen, Final Phase 74–84. 4  Avigad – Sass, Corpus 172 Nr. 409; R. Deutsch, Messages from the Past. Hebrew Bullae from the Time of Isaiah, through the Destruction of the First Temple. Shlomo Moussaieff Collection and an Up to Date Corpus, Tel Aviv 1997, 72 f. Nr. 8. 5 Jer 38,1; Zef 1,1; 1 Chr 25,3.9; Esr 10,18; in der Variante „Jigdalja“ Jer 35,4; vgl. die Kontroverse zwischen Becking und van der Veen. 6  Jer 40,5.7.11; 41,2.18; 2 Kön 25,22.23. 2

3 Avigad –

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40,8

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Die Nachricht von der Installation Gedaljas habe die Truppenführer veranlasst, sich bei ihm in Mizpa einzufinden; folglich hat ihm die Einsetzung durch die Babylonier in ihren Augen eine legitime Führungsrolle übertragen. Anschließend werden mehrere Offiziere namentlich aufgeführt: An erster Stelle der spätere Meuchelmörder Jischmael, der hier im Gegensatz zu 40,13 + 41,1 den Truppenführern zugerechnet wird und  – wie bei seiner königlichen Abkunft nicht anders zu erwarten  – unter ihnen den Vorrang innehat. Es folgen Johanan ben Kareach (der seinen Bruder Jonatan nur einer Dittographie in MT verdankt), der künftige Gegenspieler des Attentäters (40,13.15–16; 41,11–16) und Anführer der Ägyptentauswanderer (42,1.8; 43,2–5), sowie weitere Mitstreiter, die im Fortgang keine Rolle spielen. Ihre Namen belegen, dass der UPJ-Ergänzer zeitnah gearbeitet hat und bestimmte, seinem Publikum bekannte Personen für die desaströse Totalemigration verantwortlich machen wollte, die am Ende seines Werkes stand (eine leicht kürzere Namensliste ist in 2 Kön 25,23 eingegangen). 9–10 Gedalja richtet eine Rede an die Truppenführer samt ihren Leuten, in der der Erzähler den babylonischen Amtsträger zum Sprachrohr seiner eigenen Interpretation des Neuanfangs nach der Niederlage macht. Gedalja, durch einen Schwur seine Redlichkeit beteuernd (9a), möchte die Furcht seiner Besucher vor den Babyloniern zerstreuen (9b). Sein Aufruf #r ihr aber 10c eine klare Rollenverteilung: Er selbst wird in Mizpa als Mittelsmann zwischen den Judäern und den Babyloniern fungieren (10ab), die folglich als ein ferner, unbedrohlicher Faktor erscheinen, den die Judäer kaum zu Gesicht bekommen. Sie hingegen dürfen sich der angenehmen Aufgabe widmen, die Früchte der Landwirtschaft in solcher Fülle zu ernten, dass die Überschüsse die Vorräte anschwellen lassen (10cd). Dies veranschaulicht Gedalja, indem er gerade keine Grundnahrungsmittel (Getreide) aufzählt, sondern Erzeugnisse, die die Lebensfreude steigern: Wein, Obst und Öl (10c) – in dieser Reihenfolge! 8

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40,11–12

Dazu fordert er die Truppenführer und ihre Leute auf, das unstete Kriegerdasein zu beenden und sich in den Ortschaften niederzulassen, die ihr in Besitz genommen habt (~T,f.p;T. 10f). Leider ist nicht klar, was damit genau gemeint ist. Vielleicht geht es nur um die Städte und Dörfer, die die Reste der eigenen Streitkräfte gegen die landhungrigen Nachbarvölker, an die die Judäer damals beträchtliche Teile ihres Territoriums verloren, hatten sichern können (s. zu 41,17; 49,7–22). Möglicherweise verbirgt sich dahinter aber ein spezieller Konflikt zwischen den heimischen Judäern und den Exilanten, unter denen der UPJ-Ergänzer schrieb. Die enormen Bevölkerungsverluste und der Verfall ordnungswahrender Strukturen im Gefolge der Niederlage (s. zu 43,4–7b) müssen in Juda bewirkt haben, dass Immobilien – v. a. landwirtschaftliche Nutzflächen – in großem Stil ihre Besitzer wechselten, weil die Daheimgebliebenen verwaiste Güter an sich rissen, während die Exilanten mit ohnmächtiger Wut zuschauen mussten (vgl. Ez 11,14–21; 33,23–29). Sollte 10f darauf anspielen, trüge 10c–f zur Verurteilung der späteren Emigration nach Ägypten bei: Obwohl sich die heimischen Judäer rücksichtslos auf Kosten der Verschleppten Wohlstand und Überfluss gesichert hatten, suchten sie trotzdem alsbald das Weite. Wie dem auch sei – im Mund Gedaljas hat der UPJ-Ergänzer seine Sicht der Lage in Juda nach der babylonischen Eroberung ausgesprochen: Gefördert durch den Großmut der Sieger, waren die Startbedingungen für ein heilvolles Dasein optimal. Die Vv. 11–12 berichten die Heimkehr der Flüchtlinge, die ins Ausland aus- 11–12 gewichen waren. Penibel wird verbucht, dass alle Judäer … in allen (anderen) Ländern (bzw. AlT: in der ganzen Welt; 11a–c) sich zu Gedalja nach Mizpa (12c) begaben, denn in der Logik des Erzählfadens müssen sich ausnahmslos sämtliche nichtexilierten Judäer an der Residenz ihres Oberhaupts einfinden, um die Totalität der späteren Auswanderung sicherzustellen. Ein prämasoretischer Ergänzer hat das Bild nochmals zur Sammlung einer regelrechten Diaspora radikalisiert (12ab; zu seinen Absichten s. zu 43,5). Ebenso wie bei den Truppenführern gibt der UPJ-Ergänzer einen Einblick in die Weise, wie seine Figuren die Situation wahrnehmen (sie hörten 11a2 || 7a1), wobei er wie bei Gedalja (V. 9–10) ein Schlüsselelement seiner Geschichtsinterpretation in ihre Perspektive verlegt: Die Flüchtlinge erfahren, dass der König von Babel Juda einen Rest belassen hatte (11d). Damit fällt erstmals jenes Stichwort, das anschließend zum Leitwort aufrücken wird (s. zur Textgenese) und den Status der um Gedalja gescharten Gruppe definiert: Dies ist der Rest (tyrIaev.) Judas, an dem künftig der Fortbestand des Volkes nicht ausschließlich, aber in entscheidendem Maße hängen wird. Deshalb steht das Schicksal dieses Restes hinfort im Zentrum der UPJ-Erzählung. Kennzeichnend für das Bild des Dokuments von den Besatzern, ist es der König von Babel, der das Überleben des „Restes“ sichert. Einstweilen stehen die Dinge zum Besten, denn dem Aufruf Gedaljas (10c) gehorsam, nutzen die Rückkehrer die günstigen Bedingungen: Sie ernteten Wein und Obst in großer Menge (12d; AlT fügt nach dem Vorbild 10c noch Öl hinzu). Der Autor konnte sich auf den Umstand stützen, dass in Palästina die Spanne zwischen der Einnahme Jerusalems im 4. Monat (Tammus = Juni/Juli; 39,2 || 52,6 MT) und der Ermordung Gedaljas im 7. Monat (Tischri = September/Oktober; 41,1) normalerweise mit dem Zeitraum für die Ernte von Trauben, Oliven und den meisten anderen Sorten von Anbaufrüchten 557

40,11–12

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ineinsfällt.7 Die Wirklichkeit dürfte damals indes nach anderthalb Jahren Krieg und mit der babylonischen Armee im Land sehr viel düsterer ausgesehen haben. Das idealisierte Bild der Verhältnisse diente jedoch dem Zweck, die spätere Flucht nach Ägypten umso törichter erscheinen zu lassen. 13–14 Die Vv. 13–14 melden die Ankunft aller Truppenführer – diesmal unter alleiniger Führung Johanans – nach V. 7–8 zum zweiten Mal, weil hier das Jischmael-Dossier (JD) einsetzt, das der UPJ-Ergänzer in sein Werk eingeschmolzen hat, um sich die Arbeit zu erleichtern und vielleicht auch weil die nach Mesopotamien gelangte Quelle einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hatte. Dafür nahm er in Kauf, dass seine Vorlage mit dem Massaker an der als Pilger aus den Nordstämmen stilisierten Gruppe (41,4–9) eine längere Episode enthielt, die zwar im JD eine wichtige Funktion erfüllte (s. z. St.), aber seine eigene Thematik allenfalls unerheblich weitertrieb. Die Truppenführer warnen Gedalja vor seinem Mörder, der laut JD erst später in Mizpa eintreffen wird (41,1). Obwohl Jischmael hier im JD erstmals genannt wird, stellte der Autor ihn ebenso wenig näher vor, wie dies in 40,8 der UPJ-Ergänzer getan hatte, sondern schob dies bis 41,1 auf (s. z. St.). Jetzt war sogar die Filiation entbehrlich (14c AlT), weil das JD noch ereignisnäher entstand und der Name in einer Rede an Gedalja fiel, der, wie der Verfasser voraussetzen durfte, als Angehöriger der judäischen Führungskreise den davidischen Prinzen kannte. Die Truppenführer stempeln Jischmael verächtlich als bloßen Auftragskiller im Sold des Königs Baalis von Ammon ab (14c, wo der Name syli[]B; möglicherweise eine hebraisierte und verstümmelte Variante von b‘lyš‘ Baal rettet darstellt;8 zu Ammon vgl. weiterhin zu 49,1–6). Nun ist zwar gut denkbar, dass der Herrscher des Nachbarlandes die Anschlagspläne unterstützte, da der babylonische Imperialismus ihn ebenfalls bedrohte; ferner wird der bei Josephus (Ant. 10,9.7) für das 23. Jahr Nebukadnezzars (= 582) behauptete Feldzug gegen die Ammoniter bisweilen als Vergeltung für das Attentat auf Gedalja gewertet. Doch dass der Davidide in der wirklichen Welt auch nur vorrangig in fremdem Sold gehandelt habe, darf als ausgeschlossen gelten. Aus der Warte des angestammten judäischen Königshauses vergriff sich Gedalja an geheiligten davidischen Privilegien, gleichgültig wie sein Status näherhin beschaffen war (s. zu V. 7), und er kollaborierte mit den Todfeinden der Dynastie. Folglich hatte Jischmael auf jeden Fall seine eigenen Gründe, den Rivalen zu beseitigen; daher mochte er zwar fremden Beistand nutzen, aber er bedurfte keiner Anstiftung durch Dritte. Wenn ihm dies trotzdem unterstellt wird, tritt hier gleich zu Beginn die Tendenz des JD zutage, den Attentäter als völlig bedeutungs‑ und gewissenlos abzutun. Zugleich wird dem Eindruck gewehrt, dass es unter Judäern Widerstand gegen die Herrschaft Gedaljas gegeben habe – nicht einmal sein Mörder soll aus eigenem Antrieb vorgegangen sein. Was für den Autor vor allem zählte: Mit ihrer Warnung haben die Truppenführer ihre Abscheu gegenüber dem Meuchelmörder unmissverständlich demonstriert. Mit ihm haben sie nichts zu tun. Dagegen unterstützen sie rückhaltlos Gedalja, bei dem ihre Worte freilich auf taube 7 G. Dalman, Arbeit und Sitte in Palästina, Bd. 1: Jahreslauf und Tageslauf, 2. Hälfte: Frühling und Sommer, Gütersloh 1928, 556–564. 8  Zu möglichen inschriftlichen Bezeugungen vgl. HTAT 375; van der Veen 256–258; Becking 162–172.

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Die Ermordung Gedaljas

41,1ab

Ohren treffen (14d). Doch damit steht zumindest so viel fest: Es ist nicht ihre Schuld, wenn der babylonische Amtsträger zu Tode kam. Dem UPJ-Ergänzer war dies noch nicht genug. In einem Zusatz, der ganz von 15–16 seiner Handschrift geprägt ist (s. Textgenese), ließ er Johanan ein Angebot an Gedalja nachschieben, den Attentäter diskret aus dem Weg zu räumen (15b–d). Weil für diesen Autor der Mörder bereits in Mizpa zugegen war (40,8), musste schon die Unterredung heimlich (15a) stattfinden. Den Grund für seinen Einschub offenbart das Motiv, das Johanan für seine Offerte anführt und das die eigentliche Gefahr beim Namen nennt, die von den Anschlagsplänen ausgeht: Ganz Juda, das bei dir versammelt ist, wird zerstreut, und der Rest Judas geht zugrunde (15fg). Beim gewaltsamen Tod Gedaljas waren nicht nur bedrohliche politische Turbulenzen zu befürchten; viel mehr noch war es das Überleben des kostbaren Restes Judas, das auf dem Spiele stand. Indessen schenkt ihm der Schafanide erneut keinen Glauben, sondern tut seine Rede ebenso als Lüge ab, wie dies Jeremia mit dem Vorwurf der Fahnenflucht getan hatte (37,14b). Daher erscheint Gedalja in der UPJ-Erzählung grundsätzlich als positive Figur, aber das Unheil bricht auch aufgrund seiner Blauäugigkeit herein. Doch hat das Interesse des Autors an dem babylonischen Amtsträger auch deutliche Grenzen, wie sich daran zeigt, dass er ihn niemals mit Jeremia zusammenführt; wie sich bald herausstellen wird, hat er dem Propheten nicht einmal einen Kommentar zu dem Attentat in den Mund gelegt. Auf Buchebene liefert Gedaljas Verhalten ein weiteres Exempel für die vielen in den Wind geschlagenen Warnungen, die den Weg Judas in den Untergang säumten.

41: Die Ermordung Gedaljas Mit 41,1 kehrt der Text wieder zum JD zurück, kenntlich daran, dass die Ankunft 1ab Jischmaels in Mizpa nach 40,8 zum zweiten Mal mitgeteilt wird, und zwar jetzt mit besonders ausführlicher Vorstellung: Hatte sich seine Filiation in 40,8 auf den Vatersnamen beschränkt, reicht sie nun bis zum Großvater, und er wird als Mitglied der Königsfamilie ausgewiesen (womit die Davidsdynastie gemeint ist und nicht etwa die Sippe Gedaljas; s. zu 40,7). Bei Jischmaels erster Erwähnung im JD hatte hingegen der bloße Name genügt (40,14c AlT), entsprechend der ereignisnahen Entstehung des Dokuments und dem Kommunikationsrahmen, einer Rede der Truppenführer an Gedalja (s. z. St.). Trotzdem stellt die Erzählerstimme den Attentäter hier nachträglich detailliert vor, Anzeichen einer dezidierten Gestaltungsabsicht: Bevor der Meuchelmörder zur Tat schritt, galt es, sein königliches Geblüt hervorzukehren, das ihn jedoch nicht an den anschließend geschilderten Verbrechen hinderte. Nachdem sich somit der Autor in 40,14 von Jischmael abgegrenzt hatte (s. z. St.), bereitete er hier seine Distanzierung von den Davididen insgesamt vor, die sich, wie die Fortsetzung zeigen würde, durch den Blutrausch ihres Sprösslings selbst disqualifiziert hatten. Die Datierung des Anschlags im siebten Monat (Tischri = September/Oktober; 1a) bestätigt zusätzlich den zeitnahen Ursprung des JD, da eine Jahresangabe fehlt, was nur sinnvoll ist, wenn die Niederschrift noch im selben Jahr erfolgte. Wie die Exegese 559

41,1ab

Die Ermordung Gedaljas

untermauern wird, steht diese frühe Ansetzung des Dokuments in vollem Einklang mit seinen apologetischen Zielen. Kombiniert man V. 1 mit 2 Kön 25,3 ff.; Jer 39,2 und 52,6 MT, wonach Jerusalem im vierten Monat fiel, kann Gedalja sein Amt nur für wenige Wochen ausgeübt haben. Zwar wird sein Tod mitunter ins Jahr 582 verlegt, weil die Exilantenstatistik in JerMT 52,28–30 von einem weiteren Deportationsschub im 23. Jahr Nebukadnezzars (= 582) berichtet; ferner sollen die Babylonier laut Josephus (Ant. 10, 9.7) damals auch gegen Ammon vorgegangen sein, wo das JD die Hintermänner des Attentats sucht (40,14; 41,15). Diese These kann jedoch nicht erklären, warum der ebenfalls zeitnah entstandene Schluss der Königsbücher (vgl. 2 Kön 25,27) die knappe Datierung im siebten Monat einfach übernimmt (2 Kön 25,25), also von einer längeren Regentschaft keine Kenntnis verrät. Sollten also die genannten babylonischen Maßnahmen Reaktionen auf den Mord an Gedalja dargestellt haben, sind sie jedenfalls erst zeitverzögert eingetreten. Nach 1b.2a brachte Jischmael zehn Männer als Begleiter mit, von denen acht schließlich mit ihm nach Ammon entkamen (V. 15). MT setzt aus unbekanntem Grund in 1b noch die Obersten des Königs hinzu. Es klingt höchst erstaunlich, was Jischmael im Fortgang mit seinem geringen Anhang zuwege gebracht haben soll. Dies erklärt sich aber leicht, wenn man die leitenden Tendenzen des JD beachtet und einkalkuliert, dass die Sympathien der Bevölkerung im benjaminitischen Mizpa nicht dem babylonischen Amtsträger Gedalja, sondern dem davidischen Prinzen gehörten. Deshalb ist die exakte Zahl zehn Männer zwar ebenso eine stilisierende Rundung wie die gleichlautende Angabe in 8a; zudem ist damit zu rechnen, dass der Autor auch hier seiner Neigung nachgegeben hat, die Bedeutung des Attentäters herunterzuspielen, indem er seine Gefolgschaft zu niedrig bezifferte. Gleichwohl kann die Zahl angesichts der Rahmenbedingungen durchaus den Tatsachen nahekommen. 1c–2 Laut dem JD nutzte Jischmael für seinen Plan die vertrauensvolle Atmosphäre eines Gastmahls bei Gedalja. Damit lud der Davidide doppelt Schuld auf sich: Zu dem heimtückischen Mord trat der Bruch des Gastrechts, in den altorientalischen Kulturen ein besonders infames Vergehen. Wenn der Relativsatz 2e den der König von Babel im Land eingesetzt hatte das Opfer charakterisiert, werden obendrein die Babylonier als die eigentliche Zielscheibe des Anschlags kenntlich gemacht. Indes wird man diese Vorwürfe nicht ohne weiteres für bare Münze nehmen dürfen. In der wirklichen Welt musste Gedalja wissen, wen er in Jischmael vor sich hatte und wie man in der Königsfamilie seine Kollaboration mit jenen schätzte, die die Dynastie entthront hatten. Es ist daher auch schwer glaubhaft, dass er eine Warnung nach Art von 40,14 gebraucht hätte. Jedenfalls wäre er kaum ungeschützt dem Prinzen gegenübergetreten. Jischmael wollte seinerseits gewiss zwar auch die Babylonier treffen, aber primär gegen die Usurpation der angestammten Vorrechte seiner Sippe einschreiten. Man kann daher die Abscheu des Autors vor dem beschriebenen Verhalten teilen, doch historisch wird man die Passage eher als Ausdruck seiner propagandistischen Ziele werten und sich hüten, ihr nähere Informationen zum Verlauf des Attentats zu entnehmen. – Ein prämasoretischer Ergänzer hat mit dem Einschub er tötete ihn 2d zusätzlich die persönliche Verantwortung Jischmaels für das Ende Gedaljas unterstrichen (vgl. auch 16d). 560

Die Ermordung Gedaljas

41,4

V. 3 verlängert das Objekt von 2c, das das Opfer der Bluttat benennt, um weitere 3 Glieder: Jischmael und seine Spießgesellen hätten neben Gedalja auch sämtliche Judäer und Babylonier in Mizpa umgebracht. Eine Mordorgie an den Judäern (3a1b) ist unvereinbar mit V. 10, wonach der Attentäter eben jene Menschen von Mizpa weggeführt habe; nimmt man V. 3 beim Wort, hätte auch Jeremia im Zuge des Massakers den Tod finden müssen. Weil der Widerspruch schon in der Antike ins Auge sprang, hat ein prämasoretischer Bearbeiter in 3d die Einschränkung angebracht: Die Krieger erschlug Jischmael. Historisch ist selbst diese reduzierte Version seiner Taten ausgeschlossen. Unbeschadet der Frage, ob sein Anhang dazu überhaupt in der Lage war, wären derlei sinnlose Gemetzel völlig den Interessen eines Davididen zuwidergelaufen, dem an der Rückkehr seiner Dynastie auf den judäischen Thron gelegen sein musste. Man kann daher bei V. 3 mit einem steigernden Zusatz rechnen, aber auch mit einer originären Übertreibung, die von Anfang an zur Delegitimation Jischmaels beitragen sollte (vgl. Textgenese). Wie dem auch sei: Hatte ihn 1c–2 als gewissenlosen Meuchelmörder gebrandmarkt, verdüstert sich in 3a1b weiter sein Charakterbild, indem er in wahnwitziger Blutgier die Machtbasis seiner eigenen Herrscherfamilie abschlachtet. Faktisch könnte sich dahinter die Exekution der Leibgarde und einiger führender Mitarbeiter Gedaljas verbergen (zur Frage, warum dann Jeremia verschont blieb, s. zu 40,6). Wenn in Mizpa zudem, wie für die Residenz Gedaljas zu erwarten, eine babylonische Schutztruppe stationiert war, musste Jischmael auch diese ausschalten (3a2c), sofern er, wie die Fortsetzung unterstellt, dem Ort nicht sofort wieder den Rücken kehren, sondern sich länger dort aufhalten wollte. Diese Aktionen sind allerdings nur unter mehreren Voraussetzungen begreiflich: Zunächst können Jischmaels Leute, selbst wenn er handstreichartig vorging, nicht allzu wenige gewesen sein. Ferner musste er sich darauf verlassen können, dass die Loyalitäten der relevanten Bürger Mizpas ihm, dem Davidsspross, galten und nicht etwa dem Verwaltungschef in babylonischen Diensten. Und schließlich konnten die Truppenführer mit ihren Streitkräften nicht in der Stadt gewesen sein, obwohl sie ebendort Gedalja vor dem drohenden Anschlag gewarnt haben sollen (40,13–14). Über die Tatsache ihrer Abwesenheit und erst recht deren Gründe geht der Verfasser schweigend hinweg. Diese Diskrepanz wird einen wichtigen Fingerzeig beisteuern zur Frage, wo die eigentlichen Beweisziele des JD zu suchen sind. In den Vv. 4–9 folgt eine Episode, die den Attentäter vollends als psychotischen 4 Banditen (*Carroll) diffamiert: sein Massenmord an achtzig Männern, die das JD als Pilger aus den Territorien der israelitischen Nordstämme hinstellt. 4a datiert den Vorfall auf den Tag nach dem Mord an Gedalja, was impliziert, dass Jischmael nicht sofort die Stadt verließ, sondern dort noch weitere Pläne verfolgte. Historisch ist durchaus vorstellbar, dass Jischmael versuchte, von Mizpa aus die davidische Herrschaft zu erneuern oder wenigstens einen Guerillakrieg gegen die Babylonier zu entfesseln, so aussichtslos dies auch gewesen sein mag. Wie 4b betont, hatte noch niemand von dem Anschlag erfahren, ein weiterer Hinweis auf die Absichten des Verfassers: Der Umstandssatz soll die Erklärung liefern, warum die Truppenführer das anschließend geschilderte Blutbad nicht verhinderten. 561

41,5 5

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Literatur: U. Bail, Hautritzen als Körperinszenierung der Trauer und des Verlustes im Alten Testament, in: J. Ebach (u. a., Hg.), „Dies ist mein Leib“. Leibliches, Leibeigenes und Leibhaftiges bei Gott und den Menschen (Jabboq 6), Gütersloh 2006, 54–80. C. Bender, Die Sprache des Textilen. Untersuchungen zu Kleidung und Textilien im Alten Testament (BWANT 177), Stuttgart 2008. S. M. Olyan, Biblical Mourning. Ritual and Social Dimensions, Oxford 2004. B. B.  Schmidt, Israel’s Beneficent Dead. Ancestor Cult and Necromancy in Ancient Israelite Religion and Tradition (FAT 11), Tübingen 1994, 166–178.

Damals hätten achtzig Männer aus städtischen Zentren des ehemaligen Nordstaats den Raum Mizpa passiert, ausgestattet mit Opfergaben, die für das Haus Jhwhs bestimmt waren. Damit kann nur die Ruine des Jerusalemer Tempels gemeint gewesen sein und nicht etwa eine Jhwh-Kultstätte in Mizpa, wie bisweilen vermutet wird (z. B. Weinberg, Gedaliah 365). Immerhin erklärt der Autor, Jischmael habe die Wanderer eigens auffordern müssen, die Stadt zu betreten (V. 6); und auch der Ausdruck Haus Jhwhs setzt kein intaktes Gebäude voraus (Esr 2,68; 3,8). Demnach hätten die Angehörigen der Nordstämme beabsichtigt, an der Trümmerstätte des judäischen Reichsheiligtums Trauerliturgien zu begehen, wie auch die Selbstminderungsriten bestätigen sollen, mit denen sie ihren Gram über die Zerstörung des Gotteshauses bekundet hätten: gestutzte Bärte, eingerissene Kleider9 und Hautritzungen10. Trauer ist die schmerzliche Erfahrung von Verlusten; öffentliche Trauer macht solche Erfahrungen zu einer Gemeinschaftsaufgabe, indem Betroffene durch geeignete, meist sozial konventionalisierte Verhaltensweisen, Riten und Symbole ihren inneren Zustand in der Außenwelt repräsentieren. Derlei kommunikative Akte sollen die Mitmenschen stimulieren, ihr Mitgefühl zu bekunden und weitere Hilfeleistungen zu erbringen, um das Leid der Opfer zu lindern und ihnen so zu helfen, die Krise zu bewältigen – geteiltes Leid ist halbes Leid. Eine verbreitete Spielart öffentlicher Trauer sind Selbstminderungsriten, wie sie den Wanderern zugeschrieben werden, nämlich Formen der Körperinszenierung, die künstlich Merkmale von Hässlichkeit und eines niederen sozialen Status herstellen. Das leibliche Erscheinungsbild hat immer eine semiotische Qualität; d. h. es ist ein Kommunikationskanal, der Botschaften übermittelt (wie etwa Uniformen, Ornate oder das power dressing). Selbstminderungsriten sind ein besonders effektives Instrument zur Externalisierung von Trauer, indem sie innere Verstörung durch systematisch herbeigeführte äußere Vernachlässigung vergegenwärtigen. Die Gesetzesliteratur des AT hat allerdings aus nicht leicht durchschaubaren Gründen versucht, solche Umgestaltungen des Körpers einzudämmen, die längerfristige oder gar dauerhafte Folgen zeitigen (Haarschur und Hautritzungen; Lev 19,27–28; 21,5; Dtn 14,1). Selbst wenn die Fortsetzung Zweifel an den vorgeblichen Absichten der Reisenden aus den Nordstämmen schüren wird, sind seinerzeitige Wallfahrten zur Tempelruine, um dort Klagegebete nach Art von Ps 74 und 79 vorzutragen, doch wahrscheinlich, denn anders hätte sich der Autor für sein Porträt dieser Gruppe kaum Glauben er-

9 Vgl.

z. B. Gen 37,29.34; Num 14,6; Ri 11,35; 2 Sam 1,2.11; Jer 36,24 u. v. a. Jer 16,6; 47,5; 48,37.

10 Vgl.

562

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41,6–7

hoffen können. Zur Plausibilität seiner Darstellung mochte beigetragen haben, dass das Laubhüttenfest in den 7. Monat fiel (vgl. 1a).11 Die Vv. 6–7 gestalten die Bilder der Hauptfiguren weiter aus. V. 6 berichtet, Jisch- 6–7 mael habe die „Nordreichpilger“ aufgesucht und sie, seine Untat vertuschend, zu Gedalja (6d) eingeladen. Kennzeichnend für den straffen Stil des JD, hat der Verfasser darauf verzichtet, ihm eine Begründung für die überraschende Offerte in den Mund zu legen. Während der ältere alexandrinische Text zusätzlich den Schmerz der Reisenden hervorhebt, indem er schildert, wie sie unter Tränen einhergingen (6a), hat eine prämasoretische Hand diesen Akt auf Jischmael übertragen, um dessen Niedertracht nochmals zu steigern: Der Attentäter sei nicht davor zurückgeschreckt, durch den heuchlerisch erweckten Eindruck, er teile die Trauer der Pilger, das Vertrauen seiner arglosen Opfer zu erschleichen, um sie dann abzuschlachten, sobald sie die Stadt betreten hatten (V. 7). Das Gemetzel wird mit einem Verb belegt, das sonst die Schlachtung von Tieren bezeichnet (jxv 7b; vgl. 39,6 || 52,10, wo das Wort, entlehnt aus 2 Kön 25,7, die Exekution von Zidkijas Söhnen und der judäischen Führungskreise durch die Babylonier beschreibt). Beide Textformen attestieren dem Prinzen ein grotesk widersinniges Gebaren: Er habe sich in einer grundlosen Mordorgie an frommen Wallfahrern vergriffen, die nichts anderes im Sinn hatten, als Klagegebete am Ort der zerstörten davidischen „Palastkirche“ (so z. B. Keel, Geschichte I 248, § 296) vorzutragen, sprich: seiner eigenen Dynastie zu huldigen – so interpretiert 1 Kön 12,27 die Teilnahme von Nordisraeliten am Jerusalemer Gottesdienst, wenn der Passus erklärt, Jerobeam I. habe seinen schismatischen Kult eingerichtet, um solche Loyalitätsbekundungen für seine judäischen Widersacher zu unterbinden. Doch damit ist das Ende von Jischmaels Wahnwitz noch nicht erreicht: Laut 7b ließ er die Toten in die Zisterne werfen; danach hat er nicht bloß seine eigenen Parteigänger massakriert, sondern obendrein ihre Leichen geschändet und ihnen die Totenruhe geraubt (s. zu 36,30). Beachtung verdient, dass die Zisterne, obwohl zuvor nicht erwähnt, einen Artikel trägt und somit als einziges nennenswertes Reservoir ihrer Art in Mizpa erscheint; dem sekundiert V. 9 mit der Information, die Größe der Anlage sei auf strategische Zwecke zugeschnitten gewesen. Weil es zudem hier nicht wie in 38,6e heißt, dass die Zisterne leer gewesen sei, müsste Jischmael zu alldem auch noch das Weiterleben in Mizpa erschwert haben, indem er den wichtigsten Wasserspeicher der Stadt vergiftete. Auch hier lohnt der Vergleich mit dem historisch Plausiblen: Dass der Davidsspross derart zum eigenen Schaden gewütet habe, liegt fernab jeder Vorstellbarkeit. Verdächtig ist zudem abermals, wie viel er mit seiner kleinen Kämpferschar erreicht haben soll: Mit achtzig Pilgern, die sich kaum unbewaffnet auf den Weg machen konnten, habe er leichtes Spiel gehabt. Wie ihm das gelang, und warum er überhaupt gegen die Fremden vorging, dazu enthalten die Vv. 6–7 erste Fingerzeige: Jischmael habe seine Opfer in der Stadtmitte (7a) niedergemacht, bevor er ihre Leichen in die Zisterne werfen ließ. Da das Detail nicht durch den Erzählstoff erzwungen ist, 11  Lev 23,33.39.41; Num 29,1.7.12; vgl. Sach 14,16–19. Das deuteronomische Gesetz verbindet mit dem Fest eine Wallfahrtspflicht: Dtn 16,13–16; vgl. Ex 23,16–17; 34,22–23.

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dürfte es eine korrekte Erinnerung bewahren: Die Fremden kamen in den Mauern von Mizpa ums Leben. Wenn dem so war, dürften die Bewohner der Stadt an dem Massaker mitgewirkt haben, d. h. sie standen dem Attentäter gegen die vorgeblichen Wallfahrer zur Seite. 8 V. 8 könnte den Schlüssel liefern, warum sie das taten. Jischmael habe zehn der Nordisraeliten am Leben gelassen, weil sie ihn bestachen mit im Feld versteckten Vorräten: Weizen, Gerste, Öl und Honig (8d). Im JD trägt die Episode dazu bei, den Attentäter weiter zu dämonisieren: War er bislang als Heuchler und Massenmörder hervorgetreten, erscheint er nun als habgieriger Wegelagerer, der augenblicklich von seinem Blutrausch ablässt, sobald ihm fette Beute winkt. Man fragt sich indes, was Wallfahrer bewegen mochte, geheime Nahrungsmitteldepots im Feld anzulegen. Und warum sollten die Bürger von Mizpa unter Führung eines Davididen Pilger auf dem Weg zum davidischen Reichsheiligtum niedermetzeln, um ihnen dann sogar das Begräbnis und folglich die Totenruhe zu verweigern? Mundraub war im kriegsverwüsteten Juda sicher an der Tagesordnung, aber der Massenmord mit demonstrativer Leichenschändung weist vielmehr auf einen Racheakt. Deshalb leuchtet eher ein, dass sich hinter der als Wallfahrer stilisierten Gruppe in Wahrheit Plünderer verbargen, wie sie das geschlagene und geschwächte Juda seinerzeit scharenweise heimsuchten,12 und die Depots im Feld waren Zwischenlager für ihre Beute. Während ferner die zehn Männer im JD davonkommen um den Preis, ausgeraubt zu werden, könnten sie ihr Leben tatsächlich einem Deal verdankt haben: Gegen Herausgabe ihres Diebesguts ließ Jischmael die Banditen laufen. Und wenn Jischmael und die Leute von Mizpa schließlich ihren eigenen Wasservorrat ungenießbar machten (7b), dann wohl in dem Moment, als sie sich gezwungen sahen, die Stadt zu verlassen, und den Fortbestand des lokalen babylonischen Herrschaftszentrums behindern wollten (s. zu V. 10). Dann bedarf es aber einer Antwort auf die Frage, warum das JD die Vorgänge um Gedaljas Tod so grob polemisch verzerrt hat. 9 V. 9 flicht einen Erzählerkommentar ein, der auf die Zisterne von Mizpa zurückkommt, um sie als Gradmesser für die dem Davididen angelasteten Gräueltaten zu nutzen. Dazu betont der Autor das Volumen der Anlage und plausibilisiert es durch eine historische Information: Das Bauwerk wurde von Staats wegen für militärische Zwecke errichtet, nämlich im Zuge von Grenzbefestigungsmaßnahmen des Königs Asa (ca. 911–871), wie beschrieben in 1 Kön 15,16–24. Dass es einer solchen Erläuterung bedurfte, die überdies auf die Geschichte der Zisterne abhob, weist auf Adressaten des JD, die die Anlage nicht notwendigerweise kannten: die babylonischen Besatzer. 10 V. 10 sieht Jischmael mit umfangreichem Gefolge den Schauplatz des Attentats in Richtung Ammon verlassen. Dabei setzen MT und AlT recht unterschiedliche Akzente: Wie AlT mitteilt, führte Jischmael das ganze Volk weg, das in Mizpa übriggeblieben war (10ab). Dort leitet der Prinz eine Marschkolonne, die die überlebenden Bewohner von Mizpa umfasst. Laut MT hingegen führte Jischmael den ganzen Rest des Volkes gefangen fort, der sich in Mizpa befand. Hier ist zum einen das Konzept des 12  Vgl. 2 Kön 24,2; Ez 21,33–37; 25; 26,2; 35; 36; Joël 4,19; Am 1,11–12; Ob 1–15.18–19; Zef 2,8–10; Klgl 4,21–22; Ps 44,11; 80,13; 89,42.

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Die Ermordung Gedaljas

41,12

UPJ-Ergänzers nachgetragen worden, wonach sich bei Gedalja der ganze Rest Judas (o. ä.) versammelt habe (s. Textgenese); daher machen sich sämtliche nichtexilierten Judäer auf den Weg. Zum anderen verdunkelt sich Jischmaels Charakterprofil weiter, indem er einer zusätzlichen Gewalttat bezichtigt wird; den Vorwurf, er habe seinen Anhang gefangen fortgeführt (hbv), wiederholt MT ferner in 10d und 14b. Der Wortlaut des JD ist zweifellos in AlT bewahrt, während MT die Quelle stärker mit ihrem Kontext verzahnt hat. Dies bedeutet indes, dass das JD es vermied, beim Aufbruch von Mizpa von Zwang zu reden, sondern lediglich betonte, dass Jischmael dem Willen der Babylonier zuwiderhandelte, indem er Kompetenzen an sich riss, die sie für Gedalja bestimmt hatten (10c). Fehlender Zwang entspricht freilich der Erwartung, denn was das Dokument bisher von Jischmaels Auftreten in Mizpa berichtete, ist nur begreiflich, wenn der Davidsspross die Bevölkerung hinter sich wusste. Überdies mag er mit seiner begrenzten Truppe von Getreuen zwar imstande gewesen sein, per Handstreich Gedalja, seine Leibgarde und eine kleine babylonische Garnison bzw. ein Wachbataillon beiseite zu räumen, aber er konnte keine Stadt mit mehreren Hundert Einwohnern zur Emigration nötigen, zumal nicht zu sehen ist, warum er das überhaupt gewünscht haben sollte. Mithin wiederholt sich das vertraute Muster: Sein Anhang ist ihm beim Aufbruch von Mizpa offenbar freiwillig gefolgt; für die Königstöchter (10a2) versteht sich dies ohnehin von selbst. Der Autor des JD dürfte gewusst haben, warum er dies nicht bestätigt, aber auch nicht bestritten hat. Mit der Erwähnung der Prinzessinnen verrät er übrigens, dass ihm der dynastische Hintergrund von Jischmaels Taten durchaus klar gewesen ist. Mit V. 11 treten die Truppenführer wieder ins Blickfeld: An einem nicht präzisier- 11 ten Ort und – wie von der Erzählfolge suggeriert – nach dem Abzug Jischmaels von Mizpa sei ihnen all das Böse, das Jischmael [ben Netanja] verübt hatte, zur Kenntnis gelangt. Der Passus spricht die einzige explizite Wertung im JD aus und verlegt sie in die Perspektive der Truppenführer, denen damit bescheinigt wird, dass sie das korrekte Urteil über den Attentäter teilten. Zugleich wird implizit eingeräumt, dass sie während des Anschlags nicht in Mizpa weilten, obwohl sie dort Gedalja vor der drohenden Ankunft seines Mörders gewarnt haben sollen (40,14). Man fragt sich, warum sie dann nicht aus der Nähe über ihn gewacht hatten, zumal angesichts des Leichtsinns, der ihm attestiert wird (40,14d.16). Der Verfasser unternimmt keinen Versuch, den Widerspruch aufzulösen. Literatur: K. Koenen, Art. Gibeon / Gibeoniter (erstellt: Febr. 2016), WiBiLex (Internet). 12 J. B.  Pritchard, Gibeon, in: E. Stern (Hg.), The New Encyclopedia of Archaeological Excavations in the Holy Land. Bd. 2, New York 1993, 511–514.

Über die Vorgänge an Gedaljas Residenz informiert, hätten Johanan und die Truppenführer ihre Streitkräfte gegen Jischmael aufgeboten und ihn bei dem großen Wasser […] in Gibeon gestellt. Die nicht aus Stilisierungsabsichten herleitbare Ortsangabe bezeugt wieder den guten Kenntnisstand des Autors und die kurze Retrospektive, aus der die Niederschrift erfolgte. Gibeon ist nicht eindeutig lokalisiert; wichtigster Kandidat ist das heutige el-Ğib, das einer Lage ca. 9 km nordwestlich von Jerusalem und ca. 5 km südwestlich von Mizpa entspricht. In der Eisenzeit wurde dort ein mächtiger zylindrischer Wasserschacht mit fast 12 Metern Durchmesser und 565

41,12

Die Ermordung Gedaljas

nahezu 11 Metern Tiefe angelegt. An dessen Rand führt eine spiralförmig verlaufende Treppe bis auf den Grund, von wo aus ein Tunnel Zugang zu einer Brunnenkammer gibt, die nochmals mehr als 13 Meter tiefer liegt. Es bleibt indes fraglich, ob das große Wasser – und der Teich von Gibeon 2 Sam 2,13 – sich auf diese Installation beziehen. Trifft die Identifikation von Gibeon mit el-Ğib zu, zieht V. 12 die Behauptung in Zweifel, das Ziel der Marschkolonne sei Ammon gewesen (10e), denn dann wäre die Routenwahl schwer zu verstehen. Deshalb ist damit zu rechnen, dass Jischmael und seine Gefolgschaft ursprünglich ganz andere Absichten hegten, über die der Verfasser des JD indes lieber den Mantel des Schweigens breitete, während der vorgebliche Plan, über den Jordan zu flüchten, bloß aus dem Umstand herausgesponnen war, dass Jischmael dort herkam und schließlich wieder dorthin entrann. Wie sich Punkt für Punkt bestätigt, zeichnet das JD ein hochgradig interessengesteuertes Panorama der Vorgänge, das mit entsprechender Vorsicht historisch auszuwerten ist. 13–15 Das Treffen bei Gibeon zeitigt ein eigentümliches Ergebnis: Das Volk aus dem Tross Jischmaels wechselt die Seite, während der Attentäter mit nurmehr acht Leuten nach Ammon entweicht. Johanan und die Truppenführer werden also der Gefolgschaft habhaft, aber der Davidide kann sich in Sicherheit bringen (jl;m.nI 15a), obwohl er mit einer nochmals kleineren Handvoll Helfershelfern eine längere Strecke zurücklegen muss, bevor er sein rettendes Asyl im Ostjordanland erreicht. Dabei „flieht“ er nicht, sondern er „geht“ lediglich ($lh 15b). Übersetzt man dieses Bild in ein reales Szenario, besteht Anlass zur Skepsis, ob die Truppenführer ernsthaft versuchten, den Prinzen festzunehmen, der nach Meinung des UPJ-Ergänzers ohnehin bei ihnen eine leitende Rolle gespielt hatte (40,7–8). Was das Volk angeht, so wissen nur prämasoretische Nachträge zu berichten, dass es froh, der Gefangenschaft entronnen zu sein, zu den Truppenführern überlief (13d–14a), während es im Originaltext des JD emotionslos den Seitenwechsel absolviert. Man fragt sich, ob nach den unausgesprochenen Eindrücken des Autors das Volk lieber dem Davididen treu geblieben wäre. Mit den Entkommen Jischmaels und seiner verbliebenen Spießgesellen endet das JD. Nach allen Indizien wollte der Verfasser damit erweisen: Johanan und die Truppenführer waren am Tod des babylonischen Amtsträgers unschuldig und hatten mit dem verabscheuten Attentäter nichts gemein. Zwar hatten sie trotz ihres Einsatzes weder den Tod Gedaljas abwenden noch seinen Mörder ergreifen können, aber sie hatten verhütet, dass der Davidide die überlebenden Bewohner von Mizpa ins Ausland verbrachte.

Rückblick: Das Jischmael-Dossier 40,13–14 + *41,1–15 Übersetzt und in seine Abschnitte gegliedert lautete das JD etwa wie folgt: 40,13  a1  Johanan, der Sohn Kareachs, und alle Truppenführer, ​ b  die im Feld a2  kamen zu Gedalja nach Mizpa ​ 14  a  und sagten zu ihm: ​ b  Weißt waren, ​ c  dass Baalis, der König der Ammoniter, Jischmael geschickt hat, du eigentlich, ​ d  Aber Gedalja glaubte ihnen nicht. um dich ermorden zu lassen? ​ 566

Das Jischmael-Dossier 40,13–14 + *41,1–15

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41,1  a  Es geschah im siebten Monat, ​ b  da kamen Jischmael, der Sohn Netanjas, des Sohnes Elischamas, aus königlichem Geschlecht, und zehn Männer mit ihm zu Gedalja nach Mizpa, ​ c  und sie speisten dort gemeinsam. ​ 2  a  Da erhoben sich Jischmael und die zehn Männer, ​ b  die bei ihm waren, ​ c  und ermordeten Gedalja, ​ e  den der König von Babel im Land eingesetzt hatte, ​ 3  a1  {sowie alle Judäer,}? ​ b  {die bei ihm in Mizpa waren,}? ​ a2  {und die Chal? däer,}  ​ c  {die sich dort befanden.}? 4  a  Es geschah am zweiten Tag nach der Tötung Gedaljas, ​ b  als noch niemand davon erfahren hatte, ​ 5  a  kamen Männer aus Sichem, Schilo und Samaria, achtzig Mann, mit geschorenen Bärten, zerrissenen Kleidern und Ritzwunden, ​ b  und (sie trugen) Opfergaben und Weihrauch in den Händen, um sie zum Haus 6  a  Jischmael ging ihnen entgegen, während sie unter TräJhwhs zu bringen. ​ nen einhergingen, ​ c  und sagte: ​ d  Kommt zu Gedalja! ​ 7  a  Es geschah aber, als sie in die Stadtmitte gekommen waren, ​ b  schlachtete er sie ab (und warf sie) in die Zisterne. b  und sie hatten zu Jisch8  a  Zehn Männer aber befanden sich darunter, ​ mael gesagt: ​ c  Töte uns nicht; ​ d  denn wir haben im Feld versteckte Vorräte: e  Da ließ er ab ​ f  und tötete sie nicht inmitten Weizen, Gerste, Öl und Honig. ​ ihrer Brüder. b  in die Jischmael alle warf, ​ c  die er erschlagen hatte, ​ 9  a1  Die Zisterne, ​ a2  war eine große Zisterne, ​ d  die König Asa angelegt hatte wegen (des Krieges e  Diese füllte Jischmael mit Erschlagenen. mit) Bascha, dem König von Israel. ​ 10  a1  Dann führte Jischmael das ganze Volk weg, ​ b  das in Mizpa übriggeblieben war, ​ a2  samt den Königstöchtern, ​ c  die der Befehlshaber der Leibwache dem Gedalja, {dem Sohn Ahikams,}? unterstellt hatte, ​ e  und brach 11  a1  Da hörten Johanan, auf, um zu den Ammonitern hinüberzugelangen. ​ b  die bei ihm waren, ​ a2  all das der Sohn Kareachs, und alle Truppenführer, ​ c  das Jischmael verübt hatte. ​ 12  a  Sie nahmen ihre ganze Streitmacht ​ Böse, ​ b  und zogen aus, um mit ihm zu kämpfen. ​ cd ​ Sie fanden ihn bei dem großen Wasser in Gibeon. b  das bei Jischmael war, ​ a2  Jo13  a1  Und es geschah, als das ganze Volk, ​ hanan erblickte sowie die Truppenführer, ​ c  die bei ihm waren, ​ 14  cd ​ kehrte es um zu Johanan. b  und ging zu den Ammoni15  a  Jischmael aber entkam mit acht Mann ​ tern. Was die Exegese aus dem rekonstruierten JD erhoben hat, mag heutige Bibelleser verstören: Das Schriftstück bietet eine massiv verzerrte, interessengesteuerte Darstellung von Ereignissen um den Mord an Gedalja, dem von den Babyloniern eingesetzten Oberhaupt jenes politischen Gebildes, das nach der Niederlage das vorexilische Juda beerbte. Dabei wird der dem Davidsgeschlecht entstammende Attentäter wider alle historische Wahrscheinlichkeit als gewissenloser Vollstrecker in fremdem Auftrag, blutrünstiger Terrorist und habgieriger Wegelagerer verteufelt. Die Quelle betreibt profane politische Propaganda und verfolgt das offenkundige Ziel, die Unschuld der 567

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Das Jischmael-Dossier 40,13–14 + *41,1–15

Truppenführer am Tod Gedaljas zu belegen und die Verantwortung einzig dem außer Landes befindlichen Davididen in die Schuhe zu schieben. Das JD ist die Apologie der Truppenführer. In deren Kreisen ist der Bericht demnach auch entstanden. Darin behaupten sie, das Opfer vorweg gewarnt und nach dem Anschlag gegen den Täter vorgegangen zu sein; ferner soll sein widerwärtiges Porträt demonstrieren, dass sie rein gar nichts mit Jischmael verband. Die Adressaten des Dokuments sind folglich bei der babylonischen Besatzungsmacht zu suchen. Entsprechend ist es von Merkmalen zeitnahen Ursprungs geprägt: Die wichtigsten Akteure (Johanan, die Truppenführer, Gedalja, Jischmael) werden nicht vorgestellt (40,13–14), und eine Einführung in die politische Rahmensituation unterbleibt. Wenn der Anschlag überdies nur über den Monat datiert wird (41,1a), deutet dies auf eine Abfassung noch im Todesjahr Gedaljas hin. Mit der Flucht der Offiziere nach Ägypten (43,7) entfiel zudem der Bedarf an solchen Rechtfertigungsversuchen. Unter den Erzähltexten des AT dürfte das JD deshalb in puncto Ereignisnähe einzigartig dastehen. Wie das Pamphlet durchblicken lässt, waren die Truppenführer dringend auf den Unschuldsnachweis angewiesen: Weder waren sie im entscheidenden Moment in Mizpa zur Stelle, noch vermochten sie, den Attentäter zu verhaften. Glaubt man überdies dem UPJ-Ergänzer, war Jischmael in Wahrheit ein führendes Mitglied der Truppenführer, wenn nicht gar ihr Oberkommandierender (40,7–8). Wie der UPJ-Ergänzer weiterhin bezeugt, kann ihre Apologetik auch nicht verfangen haben, da die Offiziere es bald sehr eilig hatten, über die Grenze zu gelangen (*41,16–43,7). Mithin besteht Anlass zu Zweifeln, ob sie den Anschlag tatsächlich so entschieden verurteilten, wie sie zu suggerieren suchten. Auch was wir vom Verhalten der Bevölkerung von Mizpa lesen, schürt den Verdacht, dass deren Loyalitäten eher dem davidischen Attentäter als seinem Opfer zuneigten. Das JD beleuchtet auf seine Weise den Horror, der Juda in den Jahren nach dem Zusammenbruch im Nacken blieb. Mit dem babylonischen Sieg war der Schrecken längst nicht vorüber: Nachbarvölker entrissen den dezimierten Judäern große Stücke ihres Territoriums und plünderten sie mit Räuberscharen aus; der Zerfall der Ordnungsstrukturen dürfte das Land in eine post-collapse society verwandelt haben (s. zu 43,4– 7) mit Hungersnöten, Seuchen und Terror marodierender Banden, wie sie auch hinter den „Nordreichpilgern“ zu vermuten sind. Dazu schwelten die Dispute weiter, wie man es mit den Besatzern halten sollte, und entluden sich eher noch brutaler, als sie das vor der Niederlage getan hatten. Der Mord an Gedalja – ein besonders spektakulärer Gewaltausbruch – muss große Teile der Bevölkerung, allen voran die Truppenführer, in panische Angst vor babylonischen Vergeltungsmaßnahmen gestürzt haben, wie der UPJ-Ergänzer bestätigt (s. zu 41,18). Das JD ist ein Versuch, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, und angesichts der drohenden Gefahren waren die Leute hinter dem Schriftstück naturgemäß nicht zimperlich bei der Wahl ihrer Mittel. Historiker werden daher das Auftreten Jischmaels deutlich milder beurteilen, als der Autor des JD es zu tun vorgibt, und im Gegenzug werden sie auch dem Verfasser Verständnis für seinen kreativen Umgang mit der Wahrheit entgegenbringen. 568

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Dies gibt Anlass zu einigen hermeneutischen Bemerkungen, welche Lesestrategien Texten wie dem JD angemessen sind. Die vorstehende Erklärung hat das Dokument hochgradig als rekonstruierte Größe interpretiert, d. h. unabhängig von seiner literarischen Einbettung in das Jeremiabuch. Dies erscheint lohnend, da die Quelle, historisch gelesen, ein aufschlussreiches Schlaglicht wirft auf die dramatischen Verhältnisse, unter denen die Menschen damals ihre Hoffnung auf eine heilvolle Zukunft des Jhwh-Volkes bewahren mussten, und die weithin gleichbedeutend waren mit den Bedingungen, unter denen das Jeremiabuch entstand und als religiös wegweisend empfunden wurde. In den Rahmen des Buches eingeschmolzen, ist der Wortlaut des JD jedoch weitgehend refunktionalisiert, mit wichtigen Folgen für die Lektüre: Im Kontext des Buches fungieren Johanan, die Truppenführer, Jischmael und die „Nordreichpilger“ als literarische Figuren, unbeschadet dessen, was sich historisch hinter ihnen verbergen mag. Was speziell Jischmael betrifft, so dürfte der Abstand zwischen dem historischen Menschen und seinem literarischen Porträt ähnlich groß sein wie bei seinem Ahnherrn David, nur in entgegengesetzter Richtung: Wie die Tradition David glorifiziert hat, so hat sie Jischmael dämonisiert. In diesem Licht ist Jischmael ein gewissenloser Massenmörder, der ein literarisches Modell dafür liefert, was geschehen kann, wenn eine Führungsgestalt nicht wahrhaben will, dass Jhwh auch unter den Bedingungen drückender Fremdherrschaft und Zerstreuung sein Heil zu wirken imstande ist. Ferner sind die Besucher aus den Nordstämmen dann tatsächlich Wallfahrer, die aus der analogen Katastrophe gelernt haben, der ihre Heimat ausgesetzt war, sodass sie das Richtige tun: Sie pilgern zu den Trümmern der Wohnstätte Jhwhs, nach wie vor ein Ort der Gottesnähe, um dort ihre Klagerufe an jene Macht zu richten, die allein ihre Not noch wenden kann. Johanan und die Truppenführer sind Führungsfiguren, die ihrer Verantwortung gerecht zu werden suchen, indem sie das Schlimmste verhindern – einstweilen jedenfalls, bevor auch sie unter dem Druck ihrer verzweifelten Lage dem Gotteswillen den Gehorsam aufkündigen (43,7), was jedoch abermals nicht das Ende aller Heilshoffnungen bedeuten wird. Der auf intellektuelle Redlichkeit bedachte Bibelleser wird beide Lektürestrategien – die historische und die endtextorientierte – verbinden und aus beiden Gewinn ziehen. Mit V. 16 kehrt der Sprachgebrauch des UPJ-Ergänzers zurück: Der Autor nennt 16–18 den nun von Johanan und seinen Mitstreitern geführten Konvoi den ganzen Rest des Volkes und notiert penibel seine Vollständigkeit: Männer, Krieger, Frauen, Kinder und Beamte; d. h. die Gruppe wird wieder wie in 40,11.15 mit sämtlichen nichtdeportierten Judäern gleichgesetzt. Die Marschkolonne zieht von Gibeon nach Süden in die Nähe von Betlehem zu einem Ort, den der Verfasser präzis als Gastlehen (tWrGE; Ges18) Kimhams identifiziert. Der Name kennzeichnete das Anwesen – eine Karawanserei? – als Besitz eines nichtjudäischen Eigentümers, vielleicht jenes Kimhams aus der Umgebung Davids, der laut 2 Sam 19,32–41 aus dem Ostjordanland eingewandert war. Ihm könnte David ein Landgut in der Nähe seines eigenen Familiensitzes gewährt haben.13 Die Wahl des Lagerplatzes war möglicherweise dem Umstand geschuldet, dass damals schon bei Betlehem die Südgrenze jenes Gemeinwesens verlief,  A. Alt, Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, Bd. 3, München ²1968, 359.

13

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das als Konkursmasse des vorexilischen Juda im Gefolge der edomitischen Expansion nach dem babylonischen Sieg (s. zu 49,7–22) den Zuständigkeitsbereich Gedaljas umschrieb.14 Die Marschrichtung ergab nur Sinn, wenn die Reisenden, wie ihnen der Autor bescheinigt, bereits entschlossen waren, die Flucht nach Ägypten anzutreten (17b2). Als Grund hebt er ihre Angst vor babylonischen Racheakten für den Mordanschlag hervor (V. 18), also eine gesteigerte Form jener Furcht vor den Besatzern, die Gedalja in 40,9 programmatisch als unbegründet zurückgewiesen hatte.

14  A. Alt, Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, Bd. 2, München ³1964, 249, 280 f., 291 Anm. 2, 328.

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Jhwhs Warnung vor der Auswanderung nach Ägypten 1  Da traten alle Truppenführer und Johanan, [der Sohn Kareachs], ferner Jesanja, der Sohn Hoschajas (AlT: Asarja,a der Sohn Maasejas,) sowie das ganze Volk von klein bis groß heran ​ 2  a  und sagten zu dem Propheten Jeremia / zu ihm: ​ b  Möge doch unsere Bitte bei dir Gehör finden:a  c  Bete d  denn wir sind als [für uns] zu Jhwh, deinem Gott, für diesen [ganzen] Rest, ​ e  wie du mit deinen eigenen (nur) wenige von (einst so) vielen übriggeblieben, ​ b  den wir Augen siehst.b  3  a1  Möge Jhwh, dein Gott, uns den Weg kundtun, ​ gehen sollen, ​ a2  und dasjenigea, ​ c  das wir tun sollen. ​ 4  a  [Der Prophet] Jeremia sagte zu ihnen: ​ b  Ich habe es gehört. ​ c  Siehe, ich bete nun gemäß euren Worten zu Jhwh, eurem Gott. ​ d  Und es wird geschehen: ​ e1  [Jedes] Wort, ​ f  das Jhwh [euch] antworten wird, ​ e2  werde ich euch kundtun; ​ g  ich 5  a  Sie aber sagten zu Jeremia: ​ b  Jhwh werde euch kein Wort vorenthalten. ​ c1  wenn wir nicht gemäß jedem sei ein wahrer und treuer Zeuge gegen uns, ​ d  das Jhwh, [dein Gott,] zu uns sendet, ​ c2  (genau) so handeln werden. ​ Wort, ​ 6  a  Ob gut ​ b  oder ob schlimm – ​ c1  auf die Stimme Jhwhs, unseres Gottes, ​ d  zu dem wir dich senden, ​ c2  werden wir hören, ​ e  damit es uns wohlergehe, ​ f  weil wir auf die Stimme Jhwhs, unseres Gottes, hören. b  da erging das Wort 7  a  Und es geschah nach Ablauf von zehn Tagen, ​ 8  a1  Daraufhin rief er Johanan, [den Sohn Kareachs, alle] Jhwhs an Jeremia. ​ Truppenführer, ​ b  [die bei ihm waren,] ​ a2  und das ganze Volk von klein bis groß herbei ​ 9  a  und sagte zu ihnen: ​ b  So spricht Jhwh, [der Gott Israels,] ​ c  [zu 10  a  Wenn dem ihr mich gesandt habt, damit euer Flehen zu ihm dringea]: ​ ihr umkehrt und in diesem Land bleibt, (AlT: Wenn ihr dauerhaft in diesem Land c  und nicht niederreißen; ​ d  ich werde bleibt,)a  b  werde ich euch aufbauen ​ euch einpflanzen ​ e  und nicht ausreißen; ​ f  ich bereue sogar das Unheil, ​ g  das ich euch angetan habe. ​ 11  a  Fürchtet euch nicht vor dem König von b  vor dem ihr euch fürchtet! ​ c  Fürchtet euch nicht [vor ihm] – Spruch Babel, ​ d  denn ich bin mit euch, um euch zu retten und euch seiner Hand Jhwhs  –, ​ 12  a  Ich werde euch Erbarmen erweisen. ​ b  Er wird sich / Ich zu entreißen. ​ c  und er wird  / ich werde euch auf euren Ackerwerde mich euer erbarmen, ​ boden zurückkehren lassen. 13  a1  Wenn ihr aber sagt: ​ b  Wir werden nicht in diesem Land bleiben!, ​ a2  indem ihr nicht auf die Stimme Jhwhs, [eures Gottes,] hört, ​ 14  a  [indem ihr sagt:] ​ b  [Nein,] ​ c  sondern ins Land Ägypten werden wir ziehen, ​ d  wo / damit wir weder Krieg sehen ​ e  noch den Schall des Widderhorns hören ​ f  noch nach g  und dort werden wir bleiben!, ​ 15  a  [nun,] darum Brot hungern werden, ​ 571

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Jhwhs Warnung vor der Auswanderung nach Ägypten

hört das Wort Jhwhs, [Rest Judas]! ​ b  So spricht Jhwh [der Heerscharen, der Gott Israels]: ​ c  Wenn ihr [wirklich] euer Gesicht nach Ägypten [zu ziehen] richtet ​ d  und (dorthin) zieht, um euch dort anzusiedeln, ​ 16  a  dann wird es geschehen: ​ b1  Das Schwert, ​ c  vor dem ihr euch fürchtet, ​ b2  wird euch [dort] d1  und der Hunger, ​ e  vor dem ihr Angst habt, ​ im [Land] Ägypten einholen; ​ d2  wird [dort] in Ägypten an euch haften, ​ f  und dort werdet ihr umkommen. ​ 17  a  Es wird geschehen: ​ b1  Alle Männer, ​ c  die ihr Gesicht nach Ägypten [zu ziehen] richteten, um sich dort anzusiedeln, ​ b2  werden durch Schwert Hunger [und Seuche] umkommen / zugrunde d  Es wird bei ihnen weder Entronnene noch Überlebende geben wegen gehen. ​ e  das ich über sie bringe. des Unheils, ​ b  Wie sich 18  a  Denn so spricht Jhwh [der Heerscharen, der Gott Israels]: ​ meine Wut [und mein Grimm] über die Einwohner Jerusalems ergossen hat, ​ c  so wird sich mein Grimm über euch ergießen, wenn ihr nach Ägypten zieht. ​ d  Ihr werdet [zur Verwünschung,] zum Bild des Entsetzens, zum Fluch und zur Schmähung werden, ​ e  und ihr werdet diesen Ort nie mehr wiedersehen. b  Zieht nicht nach 19  a  Jhwh über euch geredet hat, Rest Judas: ​ c  Ihr sollt genau wissen: ​ d  [Ich warne euch heute (hiermit).] ​ Ägypten! ​ 20  a  Jawohl, ihr habt euch selbst in die Irre geführt / Unheil zugefügt, ​ b  alsa c  Bete für ihr selbst mich [zu Jhwh, eurem Gott,] gesandt habt mit den Worten: ​ d  und gemäß allem, was Jhwh, [unser Gott,] sagen wird, ​ 21  a  [Ich habe es euch heute kundgetan.] ​ b  Aber ihr habt nicht auf die Stimme Jhwhs, [eures Gottes,] gehört [noch auf alles,] ​ c  womit er mich zu euch gesandt hat. ​ 22  a  Jetzt aber [sollt ihr genau wissen], ​ b  [dass] ihr durch Schwert Hunger [und Seuche] umkommen / zugrunde gehen werdet an dem Ort, ​ c  wohin ihr zu ziehen wünscht, um euch dort anzusiedeln. 1 a Diese Lesart ist zu bevorzugen; zu MT Jesanja s. 40,8 c. 2 a Wörtl. Falle doch unsere Bitte vor dir nieder. b Wörtl. wie deine Augen [uns] sehen. 3 a Wörtl. die Sache. 9 a Wörtl. um eure Bitte vor ihm niederfallen zu lassen. 10 a Die masoretische Lesung ist durch den Ausfall eines Buchstabens entstanden. 17 a G* καὶ πάντες οἱ ἀλλογενεῖς für ~yrIZ"h;-lk'w>, das auf eine Verschreibung von ~ydIZEh; zurückgeht (vgl. 43,2b MT). 20 a Ges18 540b s. v. yKi II 4.

Literatur: S. Lit. zu Jer 37–45. W. Brueggemann, At the Mercy of Babylon: A Subversive Rereading of the Empire, JBL 110 (1991) 3–22; ND ohne Anmerkungen in: M. Kessler (Hg.), Reading the Book of Jeremiah, 117–134. G. Fischer, Zurück nach Ägypten? Exodusmotivik im Jeremiabuch, in: H. Ausloos, B. Lemmelijn (Hg.), A Pillar of Cloud to Guide (FS M. Vervenne; BEThL 269), Leuven 2014, 73–92. D. Rom-Shiloni, Exclusive Inclusivity. R. Kessler, Die Ägyptenbilder der Hebräischen Bibel. Ein Beitrag zur neueren Monotheismusdebatte (SBS 197), Stuttgart 2002. M. P.  Maier, Ägypten. W. Oswald, Jeremiah and Moses. A Comparison of their Public Offices in Exod. 18:13–17 and Jer. 42:1–6, in: H. M. Niemann, M. Augustin (Hg.), „My Spirit at Rest in the North Country“ (Zechariah 6.8). Collected Communications to the XXth Congress of the International Organization for the Study of the Old Testament, Helsinki 2010 (BEATAJ 57), Frankfurt a. M. 2011, 265–272. B. Rossi, L’intercessione nel tempo della

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Jhwhs Warnung vor der Auswanderung nach Ägypten

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fine. Studio dell’profetica nel libro di Geremia (AnBib 461), Roma 2013, 346–363. E. Trinka, „If You Will Only Remain in This Land“. Migration Decision Making and Jeremiah as a Religiously Motivated Nonmover, CBQ 80 (2018) 580–596. G. E.  Yates, New Exodus and No Exodus in Jeremiah 26–45. Promise and Warning to the Exiles in Babylon, TynB 57 (2006) 1–22.

Textgenese und Gliederung 42 setzt zunächst die UPJ-Erweiterung fort, die zuvor in 41,16–18 wieder zutage getreten war: Die Truppenführer und ihre Gefolgschaft ersuchen Jeremia um seine Fürbitte und klären damit, warum die Marschkolonne laut 41,17 bei Betlehem Halt gemacht hat. Das Volk wird mit dem werktypischen Vokabular als Rest bezeichnet (2c) und mit Vollständigkeitsfloskeln belegt (das ganze Volk von klein bis groß V. 1.8a2), um es als die Gesamtheit der nichtexilierten Judäer zu markieren (s. zur Textgenese von 40,7–41,18). Distinktiv für diese Schicht ist ferner der Finalsatz damit es uns wohlergehe 6e (vgl. 38,20e; 40,9e). Kaum lösbare textgenetische Probleme wirft die große Prophetenrede Jeremias in V. 10–22 auf. Von ihrem merkwürdigen Schluss in den Vv. 19–22 abgesehen (s. u.), sitzt sie spannungsfrei im Kontext. Doch weil sie ausgiebig deuterojeremianisches Formelgut verwendet, wurde sie wiederholt, nahezu einzig auf sprachstatistische Argumente gestützt, fast komplett – bis auf wenige Worte aus 17b–d – als Nachtrag der dtr Redaktion eingestuft (Thiel, Dtr Redaktion II 62–67, u. a.; noch *Schmidt). Doch obwohl der vorfindliche Wortlaut der Rede kaum ihre Originalfassung spiegelt, kann man solch radikale Thesen mit Sicherheit ausschließen; in methodischer Hinsicht liefert der Befund nachgerade Anschauungsmaterial, dass die Suche nach dtr Zutaten auf ein Kriterienraster angewiesen ist, das über die geprägte Sprache hinausreicht. Das deuterojeremianische Vokabular ist zwar in der UPJ-Erzählung weitgehend auf Jeremias Ansprache an die Ägyptenemigranten beschränkt, aber nicht ausschließlich (vgl. 42,6cf; 43,4.7b), und weist damit eine Streuung auf, die dem Üblichen entspricht, da die paränetische Prägung des Idioms seine Einsetzbarkeit auf geeignete Passagen begrenzt, die zumeist in Gottes‑ bzw. Prophetenreden zu finden sind. Im gegebenen Fall ist die durchgreifende Reduktion besonders bedenklich, da sie ausgerechnet das konzeptionelle Kernstück der UPJ-Erzählung verkennt, obwohl das Orakel durch mehrere starke Signale als ihr theologischer Programmtext ausgewiesen wird. Wie sich regelmäßig bestätigt, lenkt das Dokument in seiner zweiten Hälfte ab 40,7 auf die Totalemigration der nichtexilierten Judäer nach Ägypten hin und gipfelt in 43,7ab in diesem spektakulären Finale, das, wie der diskrete Umgang mit den grauenvollen Begleitumständen der Niederlage erweist, in der werkimmanenten Logik die eigentliche Katastrophe jener Jahre darstellt. Diese Klimax bedarf einer angemessenen theologischen Bewertung, wie sie nur die Rede Jeremias in Kap. 42 bereitstellt, sofern daraus ein hinreichender Anteil als vorredaktionell zugestanden wird. Dass das sachliche Gewicht des Orakels sich auch in einem entsprechenden Umfang niederschlug, wird durch seine aufwendige Vor‑ und Nachbereitung untermauert. In einem nicht weniger als acht Verse währenden Vorspiel ersuchen die Judäer den 573

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Propheten um die Weisung Jhwhs und beteuern unter Eid ihre Gehorsamsbereitschaft, während Jeremia seinerseits eine wahrhaftige Auskunft verspricht (42,1–6). Dazu akzentuiert der Erzähler zusätzlich die Bedeutung des Jhwh-Worts, indem er zehn Tage verstreichen lässt, bis der göttliche Bescheid ergeht, zu dessen Weitergabe der Prophet die Bittsteller eigens wieder zusammenrufen muss (42,7–8). Dieses narrative Präludium zu einer prophetischen Offenbarung steht mit seiner Länge in der Bibel beispiellos da. Hernach schaut der Autor auf alle Worte Jhwhs … alle diese Worte (43,1a) zurück, und es folgt ein Nachspiel, in dem die Hörer Jeremia der Lüge zeihen (43,2.[3]). Dieser ausladende Rahmen nährt weiter die Skepsis, dass das Orakel ehemals bloß wenige Worte umfasst habe. Obendrein ist es durch spezifische Klammern in Thematik und Sprachgebrauch mit der UPJ-Erweiterung verknüpft: Der Aufruf, die Furcht vor dem König von Babel abzustreifen (V. 11), spinnt einen thematischen Faden weiter, der sich bereits in 40,9b und 41,18ab als ein Leitmotiv des Werkes herausgestellt hatte, und das Verb gad Angst haben vor (16e) hat eines seiner seltenen Gegenstücke in 38,19b. Außerdem ist die Sprache von 42,10–22 zwar stark formelhaft geprägt, doch gehen der Prophetenrede alle unterscheidend dtr Theologumena ab. Typisch dtr Maximen wie die Toraobservanz mit dem Schwerpunkt auf der Alleinverehrung Jhwhs fehlen,1 ebenso jene Themen, die namentlich den jeremianischen Deuteronomisten am Herzen lagen, wie die ungebrochene Schuldgeschichte der Israeliten seit dem Exodus trotz Jhwhs anhaltender Umkehrrufe.2 In 42,10–12 bezieht sich die Gehorsamsforderung einzig auf den Verbleib im Land, geknüpft an ein Heilsversprechen. Entsprechend machen sich die nichtexilierten Judäer anschließend schuldig, indem sie gegen Jhwhs Willen ihre Heimat verlassen. Dagegen erklären dtr Autoren innerhalb und außerhalb von Jer in ihren Reflexionen über die Exilskatastrophe, dass Jhwh die Judäer aus ihrem Land vertrieben habe.3 Zu alldem wird die Verdammung der angehenden Ägyptendiaspora durch eine zweite Prophetenrede zum selben Gegenstand in 44 verdoppelt, die im Unterschied zu 42,10–22 einen markanten dtr Stempel trägt. Laut 44 werden die Judäer in Ägypten dem Götzendienst erliegen und damit ihren Untergang einleiten (Vv. 7–8), und bis V. 28 hält die Polemik gegen Fremdgötterei in typisch dtr Tonfall an. Die bloße Existenz von Kap. 44 bestätigt, dass die Deuteronomisten jedenfalls den Hauptbestand des Orakels in 42 nicht als ihr Werk betrachteten. So ist der originale Umfang der zentralen Offenbarungsrede deutlich höher zu veranschlagen, als es häufig geschieht, doch ist zugleich auch mit nicht geringen Zusätzen zu rechnen. Auffällig sind insbesondere die Schlussverse 19–22, die in starker Spannung zum Kontext stehen. 19a eröffnet die Gottesrede erneut, und zwar in MT mit einer ungewöhnlichen asyndetischen qatal-x-Formation (… ~k,yle[] hw"hy> rB,DI), der AlT (sekundär?) die Relativpartikel rv,a] voranschickt und so einen Zitateinleitungs1  Vgl. dagegen etwa 1,16; 2,28; 5,19; 7,5–11.17–18.30–31; 8,2; 9,12–13; 11,3–4.6.9–10.12–13.17; 13,10; 16,11–12.18; 19,4–5.13; 22,3.9; 25,5–6; 26,3–4; 32,23.29.34–35; 34,13–17; 44,3.5.8.15–25. 2 7,13.24–27; 16,11–12; 25,3–8; 26,5; 32,23.30–35; 44,3–5.9–10; vgl. 11,7–8 MT. 3  Jer 8,3; 9,15; Dtn 30,1. Vgl. ferner aus anderen literarischen Schichten Jer 16,15; 23,3.8; 24,9; 29,14.18; 30,11 || 46,28; 32,37 (sowie weiter Kon 88 f.).

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satz bietet, wie er sonst in Jer als Überschrift zu separaten Einheiten dient.4 Das Jhwh-Wort umfasst zudem nur den Satz Zieht nicht nach Ägypten! (19b), ein knappes Summarium der vorausgehenden Rede Vv. 10–18, während im Übrigen Jeremia spricht. Vor allem wird die ablehnende Antwort der Judäer, wie in 43,2.[3] zitiert, bereits vorausgesetzt (Vv. 20–21). Der Sprachgebrauch bietet ein gespaltenes Bild: Einerseits trägt 19a mit dem Terminus Rest Judas ein Markenzeichen der UPJ-Erweiterung, und die Vv. 20–22 blicken auf das Fürbittgesuch der Judäer in V. 1–6 mit Worten zurück, die sich eng an die Vorlage anlehnen (vgl 2c.4c.5cd.6d); dazu treten Gemeinsamkeiten mit dem Nachspiel des Orakels (vgl. 43,1b.2de.4.7b). Andererseits hat 20a AlT ihr habt euch selbst Unheil zugefügt (TK) seine nächsten Parallelen bei JerDtr II (26,19f; 44,7b), neben weiteren Wendungen, die bei deuterojeremianischen Autoren beliebt waren: „(nicht) auf die Stimme Jhwhs hören“ (21b; Kon 137 f.) sowie das Wortpaar „Schwert und Hunger“ (22b AlT; Kon 49 f.), die freilich auch in der UPJ-Erzählung auftreten (vgl. 42,6cf.16bd; 43,4.7b) und ohnehin zu verbreitet sind, um Schichtenzuordnungen tragen zu können. Daher hat der Vorschlag von *Volz viel Anklang gefunden, die Vv. 19–22 seien von ihrem ursprünglichen Ort hinter 43,3 hierher versetzt worden.5 Allerdings lässt sich kein wirklich überzeugender Grund für diesen merkwürdigen Eingriff nennen. Wegen 20a AlT kommt auch ein dtr Redaktor als Verfasser in Betracht, der dann die UPJ-Erzählung nachgeahmt haben müsste. Das Bild bleibt jedoch verschwommen. Kandidaten für eher post-dtr Nachträge finden sich v. a. in den Vv. 10 und 17–18. Eine detaillierte Diskussion würde jedoch den gegebenen Rahmen sprengen und zudem keine eindeutigen Resultate erzielen. Letztlich ist die Prophetenrede textgenetisch kaum befriedigend zu beurteilen. Zumindest für das geprägte Sprachmaterial sei auf die unten folgende Erklärung verwiesen. Bei der Interpretation der UPJ-Erzählung werden vorsichtshalber die Vv. 10 und 17–22 ausgeklammert. Auch dieses Kapitel wurde prämasoretisch durch diverses floskelhaftes Material aufgefüllt, das nur geringen Einfluss auf die Textaussagen nimmt. Dabei wurde u. a. in 42,15a der für die UPJ-Erweiterung typische Terminus Rest Judas konflationär ergänzt. – In AlT 42,2a hat man Jeremia den Prophetentitel beigelegt und in 42,12bc das dem König von Babel zugeschriebene Erbarmen furchtsam für Jhwh reserviert und dadurch eine Dublette zu 12a geschaffen. Kap. 42 ist in mehrere längere Abschnitte gegliedert. Die Konstitution der Szene in V. 1 und die Redeeinleitung 2a eröffnen die chorisch vom ganzen Volk vorgetragene Rede 2b–3, die eine Orakelanfrage unterbreitet mit der Bitte um Weisung, was nun zu tun sei (V. 3), allerdings deklariert als Fürbittgesuch, das durch die zusammengeschmolzene Zahl der Judäer (2b–e) motiviert wird. Jeremias Versicherung, er werde der Bitte willfahren und Jhwhs Auskunft unverkürzt übermitteln (V. 4), wird per Redeeinleitung im Narrativ (4a) direkt angeschlossen. Eine weitere Rede der Judäer (Vv. 5–6) beginnt zwar mit frei invertiertem Verbalsatz (5a), der aber, 4 Zum prämasoretischen Idiolekt gehören die Wortereignisformeln dieses Typs in MT 14,1; 46,1; 47,1; 49,34. Vgl. ferner 46,13b AlT sowie die ehemalige Überschrift der Fremdvölkersprüche in 25,13c. 5 So auch noch Stipp, Parteienstreit 189 f.195 f.

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42,1–3

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da die Rede einen Dialog fortführt, keine Zäsur zieht, sondern nur eine rhetorische Entgegensetzung vornimmt: Der Erzähler konfrontiert das Redlichkeitsgelöbnis Jeremias mit dem emphatischen Gehorsamsversprechen der Judäer. Dagegen setzt die formal einer Gliederungsformel angenäherte Datierung nebst Wortereignisformel (V. 7) einen Einschnitt, der einem zeitlichen Fortschritt korrespondiert. Nachdem Jeremia sein Auditorium zusammengerufen hat (V. 8), trägt er im Anschluss an die Redeeinleitung (9a) samt Botenformel (9b; in MT durch den Relativsatz 9c erweitert) das ausgedehnte Orakel vor, das auf den konzeptionellen Programmtext der UPJ-Erzählung zurückgeht und auch im Endtext eine vergleichbare Stellung bewahrt hat (Vv. 10–22). In der vorliegenden Fassung zerfällt es in eine Jhwh-Rede (Vv. 10–18) und ein Nachwort Jeremias (Vv. 19–22), das eingangs die Gottesrede nochmals knapp resümiert (19b). Die Gottesrede unterbreitet den Hörern, durch die konditionalen Protasen 10a und 13a eröffnet, zwei entgegengesetzte Alternativen mit ihren Konsequenzen: Wenn die Judäer im Land verbleiben, wird Jhwh sie auferbauen (V. 10) und Sorge tragen, dass der König von Babel (!) sie in ihre Heimat zurückkehren lassen wird (V. 12), eine Zusage, die Jhwh mit einem dazwischengeschalteten Appell zur Furchtlosigkeit gegenüber dem Fremdherrscher unterstreicht (V. 11). Mehr als doppelt so umfangreich fällt die negative Alternative aus: die trotzige Emigration nach Ägypten, repräsentiert durch eine zitierte hypothetische Rede (13b–14, in 13a2.14aMT durch die kommentierende Gottesstimme unterbrochen). Die Apodosis wird hier nochmals durch !kel' darum mit Aufmerksamkeitsruf und prophetischer Botenformel (15ab) eingeleitet, sodass dieser Teil der Rede formal einem prophetischen Gerichtswort angenähert ist. Die Unheilsansage Vv. 16–17 kündigt den Auswanderern den Untergang an, bevor V. 18, durch die neuerliche Botenformel 18a abgesetzt, ihr künftiges Ergehen zusammenfassend mit dem Schicksal parallelisiert, das Jerusalem bereits erlitten hat. Mit der Zitatformel 19a geht die Sprecherrolle an Jeremia über, der nochmals den Kern des Gotteswillens einschärft (19b), bevor er den Judäern vorwirft, dass die Beteuerung ihrer Gehorsamsbereitschaft von vornherein unaufrichtig war (V. 20) und ihre Insubordination bereits eine ausgemachte Sache ist (V. 21), sodass er abschließend nur noch einmal die göttliche Untergangsansage resümieren kann (V. 22). So ergeben sich als Gliederungssegmente des Kapitels die Vv. 1–6, 7–12, 13–17, 18 und 19–22.

Erklärung 1–3 Die Vv. 1–3 beantworten die Frage, warum die Marschkolonne unter Führung Joha-

nans bei Betlehem einen Halt eingelegt hat: Die Judäer wollen durch Jeremia Jhwhs Weisung für ihre nächsten Schritte einholen. Dabei lässt der Verfasser die Bittsteller zwar ihr eigentliches Anliegen nicht beim Namen nennen, doch hat er durch gewisse Vorinformationen bereits angedeutet, worum es geht: die geplante Flucht nach Ägypten. Darüber hinaus hat er klargestellt, dass die Entscheidung zur Emigration in Wahrheit schon gefallen ist. Dies spricht die finale Infinitivkonstruktion um nach Ägypten […] zu gehen 41,17b2 AlT offen aus, und auch den Ort südlich von Jerusalem, 576

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42,3

vermutlich sogar an der damaligen Südgrenze Restjudas gelegen (s. zu 41,17), hätten die Reisenden kaum aufgesucht, solange sie unschlüssig waren, was zu tun sei. Wer sich festgelegt hat, braucht kein Gotteswort mehr. Der mangelnde Realismus der Szene belegt ihre Konstruiertheit: Für den Autor galt es, unmittelbar vor dem Verlassen des Landes das göttliche Urteil über die Auswanderer verkünden zu lassen. Seinen Aussagezielen getreu, lässt er das ganze Volk von klein bis groß (1.8a2) die Orakelanfrage chorisch vortragen, also dem Wortsinn nach sogar die Kinder. Die Führung haben weiterhin die Militärkommandeure inne. Namentlich aufgeführt wird dabei neben Johanan ein Mann, der nur im Kontext dieser Orakelanfrage in Erscheinung tritt und nach 43,2 Asarja ben Hoschaja (MT) oder Asarja ben Maaseja (AlT) hieß. Über ihn teilt der Autor so wenig Näheres mit wie über die in 40,8 aufgezählten Truppenführer. Folglich zielte er auf ein Publikum, das auch Asarja kannte, was den ereignisnahen Ursprung des Dokuments erneut bestätigt. Vielleicht wussten die Adressaten überdies, warum sich Asarjas Rolle auf die Konfrontation mit Jeremia beschränkt. Die Fragesteller suchen mit einer geradezu unterwürfigen Eröffnung das Wohl- 2 wollen des Propheten zu gewinnen: Möge doch unsere Bitte bei dir Gehör finden! (2b). Den Klang des Idioms illustrieren 37,20b und 38,26b, wo die Floskel das (echte bzw. vorgeschobene) Flehen begleitet, mit dem Jeremia den König Zidkija bestürmt, ihn vor dem sicheren Tod im Privatgefängnis der Patrizier zu bewahren (vgl. auch den Rückblick auf V. 1–6 in 42,9c MT sowie ferner 36,7). Mit der Redewendung unterstreichen die Judäer sowohl die Dringlichkeit ihres anschließend vorgetragenen Anliegens als auch ihre Abhängigkeit von Jeremia, weil sie auf seine Mittlerschaft angewiesen sind: Sie ersuchen Jeremia um seine Fürbitte (2c), eine gängige Aufgabe von Propheten (s. zu 37,3). Dabei kleiden sie genauerhin, wie V. 3 präzisiert und Jeremias Antwort in V. 4 bestätigt, eine Orakelanfrage in ein Gesuch um eine Fürbitte, gerichtet an einen Mantiker, von dem sie erhoffen, dass seine Fürsprache bei Jhwh besonders gute Aussichten auf Erfolg besitzt. Sie geben damit wie Zidkija in 37,3 (s. z. St.) zu verstehen, dass sie sich in höchster Gefahr sehen. Worin diese besteht, formuliert 2cd der Sache nach ebenso, wie es Johanan laut dem UPJ-Ergänzer in 40,15fg getan hatte: Es ist der Rest (Judas), dessen Existenz bedroht ist. Um zu veranschaulichen, was auf dem Spiel steht, appelliert der Autor an die Vorstellungskraft seines Publikums: Wir sind als (nur) wenige von (einst so) vielen übriggeblieben, wie du mit deinen eigenen Augen siehst (2de). Neben dem Adressaten im Text sind es vor allem die Adressaten des Textes, die sich die dahingeschmolzene Restbevölkerung vor ihrem geistigen Auge ausmalen und daran den Ernst der Stunde ermessen sollen. Das Schicksal des „Restes Judas“ hat sich durch den Mord an Gedalja zugespitzt und strebt einem dramatischen Höhepunkt entgegen. V. 3 spricht genauer aus, was die Judäer mit ihrem Fürbittgesuch bezwecken: Kon- 3 kret gilt ihr Begehr einer wegweisenden Auskunft Jhwhs. Wie der Autor die Sprecher zitiert, fragen sie nicht nur nach (wörtlich) der Sache, die wir tun sollen, sondern zuvor noch nach dem Weg, den wir gehen sollen. In erster Linie richtet sich ihr Blick auf den einzuschlagenden Weg – welche Alternativen mochten sich da in ihrer Lage geboten haben? Auch mit dieser verräterischen Wendung porträtiert der Verfasser die Judäer als Menschen, die insgeheim bereits fest zur Flucht nach Ägypten entschlossen sind. 577

42,4

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Jeremia erwidert mit der Zusicherung, der Bitte zu willfahren, indem er zu Jhwh beten und dessen Antwort unverkürzt weiterreichen werde. Der Verfasser sah Anlass zu betonen, dass das Gotteswort nicht der Kontrolle des Propheten unterliegt, sondern von Jhwh erbeten werden muss – mit offenem Ausgang. Ferner habe Jeremia seine redliche Mittlerschaft beteuert: Was er alsbald verkündete, war nicht seine interessengeleitete Fiktion, sondern der authentische und vollständige Gotteswille. Damit deutet sich an, dass eine heikle Botschaft ergehen wird, die schwere Vorbehalte gewärtigen muss und daher eines eigenen Glaubwürdigkeitsnachweises bedarf. Wie nötig er ist, wird sich in 43,2d herausstellen, wenn die Bittsteller Jeremias Auskunft zurückweisen, indem sie die Echtheit seines prophetischen Anspruchs leugnen. Doch der enorme Aufwand deutet darauf hin, dass die Beweisanstrengung noch weiter zielt. Wie Jeremia beim innertextlichen Publikum auf Ablehnung stoßen wird, so muss der Autor das Misstrauen seiner implizierten Adressaten überwinden. 5–6 Damit noch nicht genug der Vorreden: Die Judäer erlegen sich ihrerseits die bei Jhwh beeidete Selbstverpflichtung auf (5b), sein Geheiß wortgetreu zu befolgen (5cd), selbst wenn es nicht wunschgemäß ausfallen sollte: Ob gut oder ob schlimm (6ab), sie werden auf die Stimme Jhwhs, unseres Gottes, hören, also Gehorsam leisten, wie sie in deuterojeremianischer Terminologie (Kon 137 f.153 f.) gleich doppelt schwören (6cf). Denn die Sprecher geben sich überzeugt, dass ihnen die Effekte untrüglich zur Rettung gereichen werden: damit es uns wohlergehe (6e). So legt ihnen der Autor seine typische Wendung in den Mund, mit der er die Heilschancen im beschriebenen Geschehen markiert, die bisher von einem duldsamen Verhältnis zu den Babyloniern abhingen (38,20e; 40,9e). Wie sich bald erweisen wird, bleibt es für den Verfasser dabei. Weil seine Sicht der Dinge nicht überall begrüßt wird, bereitet er durch die Konditionalsätze 6ab seine Adressaten weiter darauf vor, dass Jeremias Botschaft für manche Ohren schlimm ([r") klingen wird, aber trotzdem der Umsetzung von Jhwhs Heilsplänen dient, wie sogar die angehenden Ägyptenauswanderer bekannt hätten, die er als unverdächtige Zeugen zitiert. Wenn er ferner die Emigranten derart emphatisch ihre Gehorsamsbereitschaft beschwören lässt, dann mit dem Ziel, dass ihr Wortbruch in 43,1–7 sie umso nachdrücklicher ins Unrecht setzt. Deshalb einen Widerspruch zwischen Vor‑ und Nachspiel des Orakels zu behaupten, hieße, die Pointe des schriftstellerischen Kunstgriffs zu verfehlen. 7–9 Die Einleitung des Gottesworts festigt weiter die Glaubwürdigkeit des Zeugen und damit seines Zeugnisses. Trotz ihrer Ängste müssen sich die Judäer zehn Tage gedulden, bis Jeremias Bitte um den Bescheid Jhwhs erhört wird (V. 7). Die Frist soll den Lesern einen besonders deutlichen Beleg für die Echtheit der Botschaft liefern, denn für ein fingiertes Orakel hätte der Prophet seine Hörer nicht warten zu lassen brauchen. Zugleich erhärtet der Erzählzug die Konstruiertheit der Szene, da die Flüchtlinge unter realen Bedingungen niemals so lange ausgeharrt hätten. – Die Anfrage war von sämtlichen nichtexilierten Judäern vorgetragen worden (V. 1); entsprechend ruft Jeremia jetzt dieselbe, teilidentisch umschriebene Hörerschaft zusammen: die Truppenführer und das ganze Volk von klein bis groß, damit ausnahmslos alle die Antwort vernehmen (V. 8). 4

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42,11–12

Die Gottesrede hebt an mit einer bedingten Verheißung: Sofern die Judäer im 10 Land verbleiben (10a), werde Jhwh ihnen Wohltaten erweisen, die umschrieben werden durch eine viergliedrige Variante der deuterojeremianischen Verbenkette vom Niederreißen und Aufbauen (10b–e). Das ziemlich flexible geprägte Material kommt in dtr Stücken noch nicht vor, sondern bildet ein Merkmal jüngerer Schichten.6 Hier werden wie in 24,6 Verbenpaare gebildet, die je eine konstruktive und eine destruktive Handlung bezeichnen, wobei das negativ konnotierte Verb nachsteht und negiert ist: Ich werde euch aufbauen und nicht niederreißen; ich werde euch einpflanzen und nicht ausreißen. Dies ist eine Heilszusage, die über die negierten kontrastiven Glieder die Umkehrung einer Unheilsgeschichte verheißt, wie die Fortsetzung bestätigt mit einer Phrase, die sowohl in dtr (Jer 26,3.19), spät‑ (Ex 32,14) und post-dtr Kontexten (Jer 18,8; 26,13; Jona 3,10; Kon 90) beheimatet ist: ich bereue sogar das Unheil, das ich euch angetan habe (10fg). Wenn der Autor einen solch überraschenden Einblick in das Innenleben Gottes gewährt, dürfte er kaum zu insinuieren gewünscht haben, dass Jhwh sein Unheilswirken im Rückblick als Fehler bewertete. Die Wortwahl schreibt Jhwh indes ein Gespür für die Ambivalenzen seines Handelns zu. Der immense Preis seiner korrigierenden Eingriffe weckt Jhwhs „Reue“, d. h. die Bereitschaft, angesichts gewandelter Umstände seine früheren Beschlüsse zu revidieren (s. zu 26,3). Deshalb bietet er den bei Betlehem versammelten Judäern die Chance, einer Periode göttlich verhängter Not ein Ende zu setzen, sofern sie bloß auf die Emigration verzichten. Das geprägte Sprachmaterial deutet allerdings darauf hin, dass hier eine (wohl post-dtr) Nachinterpretation dem Handeln der Ägyptenflüchtlinge einen Stellenwert beigelegt hat, den es in der UPJ-Erzählung noch nicht besaß. In der UPJ-Erzählung hat das Orakel vermutlich mit V. 11–12 eingesetzt, denn dort 11–12 kehrt ein Zentralthema dieses Autors wieder: das Verhältnis zu den Babyloniern, insbesondere die ungerechtfertigte Angst vor ihnen, die der Verfasser hier nicht wie an den Vergleichsstellen allgemein auf die Chaldäer (40,9b; 41,18a), sondern speziell auf den König von Babel (11a) bezieht, weil er im folgenden V. 12 wichtige Dinge von ihm zu sagen hat. Im Bestreben, die falsche Furcht mit der Autorität der Gottesstimme zu zerstreuen, setzt er gattungstypische Merkmale schematisierter Heilsorakel ein (s. o. zu 30,10–11): die Beruhigungsformel fürchtet euch nicht, zur Steigerung der Eindringlichkeit wiederholt (11ac), sowie die Beistandsformel ich bin mit euch, gefolgt von Verheißungen, die die Effekte dieser Zusage explizieren (11d). Die Konsequenzen werden fortschreitend konkretisiert: Erklärt Jhwh zunächst, er werde die Judäer retten, spitzt er dies sogleich auf den König von Babel zu, indem er verspricht, sie seiner Hand zu entreißen. Scheinbar unvermittelt fährt er fort mit der Verheißung seines Erbarmens (12a), um dann dasselbe nochmals vom König von Babel zu sagen (12b), mit der Implikation: Das Erbarmen Jhwhs wird im Erbarmen des Königs von Babel erfahrbar, und zwar auf höchst überraschende Weise: Er wird euch auf euren Ackerboden zurückkehren lassen (12c). Die Ankündigung ignoriert die Rahmensituation, die die innertextlichen Adressaten noch auf judäischem Boden verortet (41,17). Man postuliert daher gern eine andere Vokalisierung des Verbs mit dem Ergebnis: Er wird euch  1,10; 12,14–17; 18,7.9; 24,6; 31,28.40; 45,4; Kon 96 f.

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579

42,11–12

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auf eurem Ackerboden wohnen lassen (byvihow>* von bvy-H statt byvihew> von bwv-H). Die Konjektur ist jedoch überflüssig, da sie einem Vorurteil über den Entstehungshintergrund der UPJ-Erzählung entspringt und nicht erklären kann, wie die Ableitung von bwv-H zurückführen trotz ihrer Kontextfremdheit sekundär zustande kam und warum sie obendrein so erstaunlich stabil bezeugt ist (TK). Vielmehr ist die tiberische Lesart (d. h. der masoretische Konsonantentext in tiberischer Vokalisation) vollauf plausibel, sofern man die UPJ-Erzählung, wie es auch die Idee der Totalemigration in 43,4–7 verlangt, aus Exilantenkreisen herleitet. Normalerweise eignet Figurenreden immer eine doppelte Sprechrichtung, die sowohl auf die inner‑ als auch auf die außertextlichen Adressaten zielt. In V. 12 vernachlässigt der Autor in einem Fiktionsbruch für einen kurzen Moment das innertextliche Publikum und lässt Jeremia ausschließlich zu den implizierten Adressaten des Werkes reden, um sie in der Hoffnung zu bestärken, dass der mesopotamische Großkönig ihnen die Heimkehr ermöglichen werde, vorausgesetzt, sie folgen dem Appell in V. 11 und geben ihre Furcht vor dem Herrscher auf – was zeigt, dass auch dieser Vers sich primär an die Exilanten wendet. V. 12 ist zudem wichtig für die Datierung der UPJ-Erzählung, denn wenn die Freiheit vom König von Babel erhofft wird, muss das Werk noch in einer Phase der Exilszeit entstanden sein, bevor sich der Niedergang seines Reiches abzeichnete. 13–14 Die Vv. 13–14 kehren zur erzählten Situation zurück, indem die Gottesrede eine denkbare Widerrede vorwegnimmt, mit der die Ägyptenauswanderer sich rechtfertigen könnten, sollten sie den Gehorsam verweigern. Das hypothetische Zitat beruft sich nicht auf die Angst vor den Babyloniern, sondern auf eine generelle Furcht vor Krieg und Hunger, denen sich die Sprecher in ihrer Heimat ausgesetzt sähen. Das Verfahren ist im Vorblick auf die Drohung gewählt, die Jhwh in den Vv. 15–18 an die Emigration knüpft. 15–16 Die bedingte Unheilsansage wird nochmals durch !kel' darum, Aufmerksamkeitsruf (15a) und prophetische Botenformel (15b) separat eingeleitet. Diese Textsignale nähern die negative Alternative der Struktur eines prophetischen Gerichtsworts an, obwohl die Drohung keinem schon begangenen, sondern einstweilen nur einem hypothetisch möglichen Delikt gilt. Die formale Anleihe bei der emblematischen Gattung der Unheilsprophetie unterstreicht den Ernst, den Jhwh dem Verstoß gegen seinen Willen beimisst. Nach einem kurzen Resümee der Protasis (15cd) trägt Jhwh seine auf den Fall des Ungehorsams zugeschnittene Ankündigung vor. Dabei nutzt der Autor die Weise, wie er die Judäer in dem fiktiven Zitat in V. 14 ihre Flucht nach Ägypten hat begründen lassen. Sie ermöglichte ihm, das Orakel in V. 16 sachlich komplementär zum Zitat anzulegen, ohne dass er die Babylonier erwähnen musste. Anscheinend rechnete er seinerzeit nicht damit, dass der Arm des mesopotamischen Reiches bis nach Ägypten reichte. Folglich kündigt Jhwh an, dass die von den Judäern befürchteten Katastrophen – mit einem bei deuterojeremianischen Schriftstellern beliebten Wortpaar als Schwert und Hunger bezeichnet (Kon 49 f.) – die Flüchtlinge in Ägypten einholen würden und ihnen den Tod brächten, ohne dass ein Verursacher benannt wird. Jedenfalls wird die Emigration in den sicheren Untergang führen. Mit dem Verb gad Angst haben hat der UPJ-Erweiterer in 16e wieder einen sprachlichen Fingerabdruck hinterlassen (vgl. 38,19b). Ist mit V. 11–16 die theologische 580

Jhwhs Warnung vor der Auswanderung nach Ägypten

42,19–22

Schlüsselpassage des Werkes wenigstens annähernd korrekt herausgeschält, kündigte die Gottesrede den Auswanderern ehemals einfach den Tod in Ägypten an, weil sie gegen den erklärten Willen Jhwhs ihre Heimat verlassen hatten. Dagegen machten erst spätere Nachträge Jhwh als Urheber des Verderbens namhaft (17de.18c) und weiteten den Blick auf die unheilvolle Vorgeschichte, die den aktuellen Notstand verursacht hatte (10.18b), während sie im Originaltext noch nicht ins Licht der Reflexion getreten war. V. 17 verschärft die Drohung aus V. 15–16, indem einzelne Elemente wiederholt 17 werden und neue hinzutreten, die mehrfach sprachliche Parallelen in 44,12–14 aufweisen, freilich ohne deshalb auch konzeptionell einen dtr Charakter anzunehmen. Die angehenden Ägyptenflüchtlinge werden in 17c ähnlich umschrieben wie in 15cd und 44,12b, und ihnen wird in 17b2 abermals der Tod durch Schwert Hunger [und Seuche] angekündigt wie schon in V. 16, allerdings jetzt in einer verknappten, stärker klischierten Diktion, die ähnlich in 44,12e[f MT] wiederkehrt. Mit 17d geht der Vers über den Vortext hinaus, wenn der Satz wie 44,14a die Totalität der Ausrottung mit der Ankündigung bekräftigt, dass es unter den Auswanderern weder Entronnene noch Überlebende geben werde. Damit soll auch die Möglichkeit der Flucht in Gegenrichtung und folglich die Rückkehr nach Juda ausgeschlossen werden. Ferner thematisiert 17de die Rolle Jhwhs im Geschick der Ägyptenemigranten, wenn deren Untergang eintreten soll wegen des Unheils, das ich über sie bringe. Die verbreitete deuterojeremianische Phrase7 verlegt die Urheberschaft jetzt ausdrücklich in göttliche Hände. V. 18 führt nach erneuter, gliedernder Botenformel (18a) diesen Aspekt weiter, in- 18 dem Jhwh das den Auswanderern drohende Unheil mit jenem parallelisiert, das bereits über die Einwohner Jerusalems hereingebrochen ist, und beide Katastrophen auf die Ausgießung seiner Wut und seines Grimms zurückführt (18bc). Diese Wendung ist sonst für die jeremianischen Deuteronomisten typisch (7,20; 44,6). Auch sie unterstreicht, dass sich im Verderben der Flüchtlinge das Tun Jhwhs manifestiert, und sie erhebt die Zerstörung Jerusalems mit ihren Begleiterscheinungen zum Maßstab für das, was den Emigranten bevorsteht. 18d veranschaulicht die Wirkungen durch die Katastrophenformel (Kon 158 f.; vgl. zu 29,18), bevor 18e nochmals einschärft, dass es aus Ägypten kein Zurück gibt. – In den Vv. 17–18 dürfte ebenso wie in V. 10 ein postdtr Theologe das Wort ergriffen haben, um die Hand Jhwhs hinter dem erwarteten Schicksal der Ägyptendiaspora kenntlich zu machen und zudem klarzustellen, dass ihnen der Heimweg endgültig versperrt war. Mit den Vv. 19–22 kommt Jeremia selbst zu Wort. Der Passus wurde möglicher- 19–22 weise aus Kap. 43 hierher verpflanzt, aber dies ist ganz unsicher (s. Textgenese). Er reflektiert proleptisch die Situation, die sich aus der ablehnenden Antwort der Bittsteller ergeben wird. Nach der Einleitung 19a fasst der Prophet in 19b das Orakel Vv. 10–18 ähnlich wie 43,2e in dem Satz zusammen: Zieht nicht nach Ägypten! Die eigene Rede des Propheten ab 19c hat ihren Kernsatz in 20a, der wohl ursprünglich mit AlT lautete ihr habt euch selbst Unheil zugefügt und die Judäer uneingeschränkt für das Unheil ver Z. B. 6,19; 11,11.23; 19,3.15 u. v. a.; Kon 23 f.

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antwortlich machte, das sie in Ägypten erwartete; MT hat dies (aufgrund einer Verschreibung?) zum Vorwurf einer Selbsttäuschung abgewandelt. Zur Rechtfertigung ruft Jeremia das widersprüchliche Gebaren seiner Hörer in Erinnerung (20b–f): Vollmundig hatten sie Gehorsam gelobt und setzen sich daher durch ihren Wortbruch umso schallender ins Unrecht. Die Konsequenz der Missachtung des durch Jeremia vermittelten Gottesbescheids (V. 21) liegt dann auf der Hand: der Tod durch Krieg, Hungersnot und Epidemien im selbstgewählten Exil (V. 22).

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Die Emigration der nichtexilierten Judäer nach Ägyptenund Jeremias prophetische Symbolhandlung in Tachpanhes 1  a1  Und es geschah, als Jeremia geendet hatte, zum [ganzen] Volk alle Worte b  womit ihn Jhwh, [ihr Gott,] zu ihnen gesandt Jhwhs, [ihres Gottes,] zu reden, ​ a2  alle diese Worte, ​ 2  a  da sagten Asarja, der Sohn Hoschajas / Maahatte, ​ sejas, und Johanan, der Sohn Kareachs, ​ b  – und alle [vermessenen] Männer sagten zu Jeremia –: ​ c  Lüge [redest du da]! ​ d  Nicht Jhwh, [unser Gott,] hat e  Zieht nicht nach Ägypten, um euch dich gesandt mit den Worten: ​ dort anzusiedeln! ​ 3  Vielmehr hetzt dich Baruch, der Sohn Nerijas, gegen uns auf, um uns in die Hand der Chaldäer zu geben, sodass sie uns töten oder nach Babel verschleppen. 4  Johanan, [der Sohn Kareachs,] alle Truppenführer und das ganze Volk hörten 5  a  Johanan, [der also nicht auf die Stimme Jhwhs, im Land Juda zu bleiben. ​ b1  der Sohn Kareachs,] und alle Truppenführer nahmen den ganzen Rest Judas, ​ c  [wohin er versprengt worden war,] ​ zurückgekehrt war [aus allen Nationen], ​ b2  um sich im Land [Juda] anzusiedeln: ​ 6  a1  die Männer, Frauen, Kinder und b  die Nebusaradan, [der Befehlshaber die Königstöchter und [alle] Menschen, ​ der Leibwache,] bei Gedalja, dem Sohn Ahikams, [des Sohnes Schafans,] gelassen a2  auch den Propheten Jeremia und Baruch, den Sohn Nerijas. ​ 7  a  Sie hatte, ​ b  denn sie hörten nicht auf die Stimme Jhwhs. zogen in [das Land] Ägypten, ​ 7  c  So kamen sie nach Tachpanhes. 9  a  Nimm große 8  In Tachpanhes erging das Wort Jhwhs an Jeremia: ​ a b1  und grabe sie [mit Mörtel in das Ziegelpflaster (?)b] ein, ​ Steine [in die Hand ] ​ c  [das sich] am Eingang zum Haus des Pharao in Tachpanhes [(befindet)], ​ b2  vor den Augen judäischer Männer. ​ 10  a  Dann sag [zu ihnen]: ​ b  So spricht Jhwh c  Siehe, ich sende hin ​ d  und hole [mei[der Heerscharen, der Gott Israels]: ​ nen Knecht] Nebukadrezzar, den König von Babel. ​ e  Ich werde seinen Thron f  die ich eingegraben habe (AlT: über diesen Steinen aufstellen (AlT: Er wird …), ​ g  und er wird sein Prunkzelt darüber aufspannen. ​ die du eingegraben hast), ​ 11  a  Er wird kommen ​ b  und das Land Ägypten schlagen; ​ c  wer für den Tod d  (verfällt) dem Tod, ​ e  wer für die Gefangenschaft, ​ f  der Ge(bestimmt ist), ​ fangenschaft, ​ g  und wer für das Schwert, ​ h  dem Schwert. ​ 12  a  Ich werde an die Häuser der Götter Ägyptens Feuer legen; (AlT: Er wird an die Häuser ihrer b  er wird sie niederbrennen ​ c  und siea gefangen wegGötter Feuer legen;) ​ 583

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führen. ​ d  Er wird das Land Ägypten entlausen, ​ e  wie ein Hirtb sein Gewand f  danach wird er wohlbehalten [von dort] abziehen. ​ 13  a  Er wird entlaust; ​ b  das im Land Ägypten liegt die Obelisken von Bet-Schemesch zerschmettern, ​ c  und die Häuser der Götter Ägyptens (AlT: ihre Häuser) (AlT: die in On stehen), ​ wird er im Feuer verbrennen. 9 a Wörtl. in deine Hand. b Die Semantik der Wörter jl,m, und !Bel.m; lässt sich nur ungefähr eingrenzen (vgl. HAL, Ges18). Die Bedeutung des Hapax legomenon jl,m, ist im Bereich Lehm, Mörtel zu suchen; !Bel.m; ist mit hn"bel. Lehmziegel verwandt und in 2 Sam 12,31Q und Nah 3,14 in der Bedeutung (hölzerne) Ziegelform belegt. Neuere Wiedergaben der Wortgruppe lauten: im Lehmboden bei der Ziegelterrasse (Zürcher Bibel 2007); im Sandboden an der Ziegelterrasse (Einheitsübersetzung 2016); mit Lehm in das Ziegelpflaster (Lutherbibel 2017). 12 a D. h. die Götter mittels ihrer Statuen (s. zu 28,3). b Wörtl. der Hirt.

Literatur: S. Lit. zu Jer 37–45 und 42. – R. Albertz, More and Less Than a Myth. Reality and Significance of Exile for the Political, Social, and Religious History of Juda, in: J. J. Ahn, J. Middlemas (Hg.), By the Irrigation Canals of Babylon. Approaches to the Study of the Exile (LHB. OTS 526), New York 2012, 20–33. H. M.  Barstad, The Myth of the Empty Land, in: ders., History and the Hebrew Bible. Studies in Ancient Israelite and Ancient Near Eastern Historiography (FAT 61), Tübingen 2008, 90–134. H. M.  Barstad, Judah in the Neo-Babylonian Period, in: ebd. 135–159. B. Becking, In Babylon: The Exile in Historical (Re)construction, in: ders. (Hg.), From Babylon to Eternity. The Exile Remembered and Constructed in Text and Tradition (BibleWorld), London, Oakville CT 2009, 4–33. E. Ben Zvi, Total Exile, Empty Land and the General Intellectual Discourse in Yehud, in: E. Ben Zvi, C. Levin (Hg.), Concept of Exile, 155–168. J. Blenkinsopp, The Bible, Archaeology and Politics. Or the Empty Land Revisited, JSOT 27 (2002) 169–187. W. Brueggemann, The ‚Baruch Connection‘. Reflections on Jeremiah 43.1–7, in: A. R. P. Diamond (u. a., Hg.), Troubling Jeremiah, 367–386. R. P.  Carroll, The Myth of the Empty Land, Semeia 59 (1992) 79–93. C. E.  Carter, The Emergence of Yehud in the Persian Period. A Social and Demographic Study (JSOT.S 294), Sheffield 1999. C. E.  Carter, Ideology and Archaeology in the Neo-Babylonian Period. Excavating Text and Tell, in: O. Lipschits, J. Blenkinsopp (Hg.), Judah and the Judeans, 301–322. J. Cook, The Difference in the Order of the Books of the Hebrew and Greek Versions of Jeremiah – Jeremiah 43 (50). A Case Study, OTE 7 (1994) 175–192. E. Farisani, The Israelites in Palestine during the Babylonian Exile, OTE 21 (2008) 69–88. A. Faust, Deportation and Demography in Sixth-Century B. C. E. Judah, in: B. E. Kelle (u. a., Hg.), Interpreting Exile. Displacement and Deportation in Biblical and Modern Contexts (SBL Ancient Israel and Its Literature 10), Atlanta 2011, 91–104. A. Faust, Judah in the Neo-Babylonian Period. The Archaeology of Desolation (Archaeology and Biblical Studies 18), Atlanta 2012. I. Finkelstein, The Territorial Extent and Demography of Yehud/Judea in the Persian and Early Hellenistic Periods, RB 117 (2010) 39–54. G. Galvin, Egypt as a Place of Refuge (FAT 2.51), Tübingen 2011. F. Gangloff, Le „pays dévasté et dépeuplé“. Genèse d’une idéologie biblique et d’un concept sioniste: Une esquisse, BN 113 (2002) 39–50. E. Ga, Nebukadnezzar ante portas – Zu den babylonischen Interessen in der südlichen Levante, ZAW 128 (2016) 247–266. J. S.  Holladay, Judeans (and Phoenicians) in Egypt in the Late Seventh to Sixth Centuries, in: G. Knoppers, A. Hirsch (Hg.), Egypt, Israel, and the Ancient Mediterranean World (FS D. B. Redford), Leiden 2004, 405–437. J. Kessler, Images of Exile. Representations of the „Exile“ and „Empty Land“ in the Sixth to Fourth Century BCE Yehudite Literature, in: E. Ben Zvi, C. Levin (Hg.), Concept of Exile, 309–351. K. Koenen, Art. Zerstörung Jerusalems (587 v. Chr.) (erstellt: Jan. 2013), WiBiLex (Internet), 3.2.1. O. Lipschits, The Fall and Rise

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43

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Textgenese 43,1–7b führt die UPJ-Erweiterung weiter, kenntlich an der logischen Fortsetzung des Erzählfadens und der typischen Diktion: der entrüstete Ausruf Lüge! (2c AlT; vgl. 37,14b; 40,16c), die Charakterisierung des Volkes als der ganze Rest Judas (5a) und seine appositionelle Ausdifferenzierung in Untergruppen die Männer, Frauen, Kinder und die Königstöchter (6a1; vgl. 41,16a3). Allerdings lässt der Passus gewisse Retuschen erkennen. Nach der Redeeinleitung mit Narrativ 2a ist die wiederholte, nunmehr partizipiale Einleitung 2b anscheinend eine Glosse, die den Sprecherkreis auf alle [vermessenen] Männer ausdehnte. Verdächtig ist ferner die Weise, wie Jeremia und Baruch in 6a2 in die Aufzählung der Bestandteile des ganzen Restes Judas eingereiht werden. Nach den zitierten vier Appositionen aus 6a1 folgt zunächst eine fünfte: und [alle] Menschen, die Nebusaradan, [der Befehlshaber der Leibwache,] bei Gedalja ben Ahikam [ben Schafan] gelassen hatte. Der Sache nach zieht der Passus per zusammenfassender Charakterisierung eine Summe der vorangehenden Glieder, wird aber syndetisch angebunden, als addiere er eine weitere Untergruppe. Außerdem sei es Nebusaradan gewesen, der die Judäer Gedalja unterstellte, ebenso wie im Jischmael-Dossier (wo der babylonische Offizier indes mit seinem Titel benannt wird: 41,10c AlT), während die UPJ-Erweiterung diesen Akt dem König von Babel zuschreibt (40,7) und Nebusaradan niemals erwähnt. Abschließend führt 6a2 in Gestalt zweier zusätzlicher Appositionen noch den Propheten Jeremia (der schon in AlT belegte Prophetentitel ist ungewöhnlich) und Baruch ben Nerija auf. Infolgedessen 585

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zählen der Prophet und sein Vertrauter ebenfalls zu den grammatischen Subjekten der Fortsetzung 7ab sie zogen nach […] Ägypten, denn sie hörten nicht auf die Stimme Jhwhs, sodass das theologische Verdammungsurteil 7b merkwürdigerweise dem Wortsinn nach auch über sie fällt. Das kann aber unmöglich gemeint gewesen sein, denn Jeremia fungiert hernach ebenso als authentischer Sprecher Jhwhs wie zuvor, und Baruch erhält wenig später in 45 eine (vordatierte) Heilsverheißung. Die Vv. 5–7 bieten demnach einen missverständlichen Wortlaut, der den Lesern die eigenständige Schlussfolgerung abverlangt, dass das Verdikt 7b bloß für einen Teil der in V. 6 aufgezählten Figuren(gruppen) gelten soll. Obendrein wird Baruch innerhalb der von der UPJ-Erzählung geprägten Kap. 37–43 nur hier erwähnt sowie kurz vorweg in V. 3, wo ihn die Judäer beschuldigen, er beeinflusse Jeremia mit dem Ziel, sie den Babyloniern auszuliefern. Der Vorwurf kommt im Rahmen der UPJ-Erzählung ganz unvorbereitet, da Baruch zwar im Buchkontext eine wichtige Rolle spielt, aber nach 36 nicht mehr aufgetreten war. Diese Ungereimtheiten deuten darauf hin, dass in den Vv. 3 und 6 (ab vp,NyI-ta, Wn[]Y:w: sie antworteten Jeremia 15a1. Die Replik ist zunächst nicht als Gotteswort gekennzeichnet, sondern indem der Prophet dem Einwand der Judäer seine eigene Sichtweise entgegensetzt, unterstellt er, dass sein Standpunkt auch ohne göttlichen Autoritätsanspruch einleuchten müsse. Ihm zufolge stellen seine Hörer die Tatsachen auf den Kopf: Die über Generationen landesweit geübten Gräuel, nämlich die illegitimen Opfer (V. 21.23a) als Krönung des unablässigen, sündhaften Ungehorsams gegen7  E. Bresciani, K. Murad, Le lettere aramaiche di Hermopoli, in: E. Volterra (u. a., Hg.), Atti della Accademia Nazionale dei Lincei. Ser. 8: Memorie, Classe di scienze morali, storiche e filologiche, Vol. 12 (1965–66). Roma 1966, 362–428, Nr. 4; B. Porten, A. Yardeni, Textbook of Aramaic Documents from Ancient Egypt. Vol. 1: Letters. Jerusalem 1986, A.2.1, 10 f. Dazu J. T.  Milik, Les papyrus araméens d’Hermoupolis et les cultes syro-phéniciens en Egypte perse, Bib. 48 (1967) 556–564.

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über dem in der Tora niedergelegten Gotteswillen (23b–d) – die waren es, die Jhwh nach einer langen Zeit des Abwartens in den Sinn kamen und schließlich seine Geduld erschöpften (22ab), sodass sich Juda in die Trümmerstätte verwandelte, die sich nunmehr dem Betrachter darbietet (22c.23e). Dabei schließt Jeremia seine Hörer mit ihren Vorfahren in einem kollektiven ihr zusammen (21b), das ein lückenloses Schuldkontinuum bis zur Sprechergegenwart markiert. Der Sache nach läuft seine Erwiderung auf das Argument hinaus, dass vor den über Jahrhunderte verübten Freveln die kurze Pause in der jüngsten Vergangenheit als bedeutungslos verblasse. Der Autor geht damit weit über den Gedanken hinaus, mit dem die exilszeitlichen Bearbeiter des Deuteronomistischen Geschichtswerks erklärten, warum die Katastrophe trotz der durchgreifenden Kultreinigung Joschijas hereinbrechen musste.8 Im Unterschied zum DtrG kennt JerDtr II keinen Tiefpunkt der judäischen Vergangenheit unter Manasse,9 sondern, wie in V. 4–5 bekräftigt, nur eine Geschichte des permanenten Abfalls.10 Mit seiner Redestrategie veranschaulicht Jeremia dabei zusätzlich, welche Schwierigkeiten die in V. 17–18 zitierte Geschichtsdeutung den dtr Theologen bereitete: Er repetiert bloß Jhwhs Argument aus den Vv. 2–6 und kleidet es zum Teil in eine rhetorische Frage, um seinem Publikum die Last des Gegenbeweises aufzubürden (V. 21). Überdies sollte schon der Umstand, dass die bekämpfte Interpretation im Mund der Ägyptenemigranten auftrat, zu ihrer Diskreditierung beitragen.  – Auffälligerweise verengt der Prophet die Kultakte auf die den Deuteronomisten besonders verhassten Räucheropfer (21ab.23a), in 21a mit dem anscheinend abfällig getönten, nominalen Hapax legomenon rJeqi Räucherei belegt, während er gar nicht mehr in den Mund nimmt, wem die Handlungen galten. Die erneute Redeeinleitung mit der merkwürdigen Adressatenangabe 24a, die nur 24–25 an die Frauen gerichtete Anrede 25b AlT und die femininen Verbalformen in 25bfg zeigen an, dass in dem auf die Gegenwart bezogenen Schuldaufweis nochmals die fragmentarische Quelle zutage tritt; dazu wurde der Hörappell 24bc erst prämasoretisch auf die gesamte Ägyptendiaspora ausgedehnt. Laut 24b und der prophetischen Botenformel 25a ist das Folgende nun wieder mit der vollen Autorität des Gotteswortes bewehrt. Jhwh stellt den in Wort und Tat vollendeten Ungehorsam der Vorredner(innen) fest (25bc), indem er sie mit einer variierten Version der Beteuerung ihrer Verstocktheit zitiert (25de || 17ab), gefolgt von dem sarkastischen Aufruf, ihre gotteslästerlichen Gelübde unbeirrt weiter in die Tat umzusetzen (25fg). Die Implikation lautet: Wer nicht hören will, muss fühlen; dann ist es nur erwünscht, wenn er selbst jene Strafe auf sich herabruft, die ihn allenfalls zur Besinnung bringen könnte. Ein wiederholter Hörappell (26a  || 24bc), der abermals die Totalität von Jere- 26 mias Hörerschaft unterstreicht, leitet über zur Strafansage, die den Blick auf die Zukunft richtet. Dabei wechselt die Sprechrichtung wie im korrespondierenden Passus Vv. 11–14 zum Diskurs über die Auswanderer, und zwar eindeutig in den Vv. 27–28, entsprechend der implizierten Kommunikationssituation, wo der Autor zu seinem 8 S.

die oben S. 612 Anm. 4 zusammengestellten Passagen. lediglich den wohl nachgetragenen Vers 15,4 im ersten Teil des Jer. 10 S. o. S. 612 Anm. 5. 9 Vgl.

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exilischen Publikum über die Ägyptendiaspora redet. Weil die Judäer nicht von ihren Gelübden für die Königin bzw. Schufterei des Himmels abrücken wollen, legt Jhwh seinerseits einen Schwur ab, und zwar bei meinem großen Namen (26b), d. h. bei sich selber, da es über ihm keine höhere Garantiemacht für seinen Eid geben kann (vgl. 22,5; 49,13; 51,14). So bindet er sich selbst, etwas zu verhindern, was mit dem Anlass seines Gelöbnisses aufs engste zusammenhängt: nämlich dass jemals wieder ein Judäer in Ägypten einen Schwur unter Anrufung Jhwhs leisten wird (26de, mit dem Zitat der gängigen Eidesformel11). Weil die Judäer Gelübde zugunsten von Fremdgöttern ablegen, sollen sie es nie wieder in seinem Namen tun. Vorausgesetzt sind die üblichen polylatrischen Verhältnisse, wo die Menschen kein Problem darin sehen, neben anderen Gottheiten auch Jhwh zu huldigen. Da die Strafansage sachlich an den Schuldaufweis anknüpft, dürfte hierin ein Zug der Quelle nachhallen, allerdings in deutlich stärker an den Kontext adaptierter Form, insofern das Auditorium irreduzibel auf die gesamte Ägyptendiaspora ausgedehnt ist. Der Schwur bei einer Gottheit nahm diese in die Pflicht, die Erfüllung der beeideten Zusage zu gewährleisten – ist diese Option für Jhwh ausgeschaltet, kann auch niemand mehr auf seinen Beistand hoffen. Die Tragweite des Unheilsorakels erhellt aus Jes 65,16, wo die wiederhergestellte Möglichkeit, beim Gott der Treue (BHS) zu schwören, einen Verheißungsgegenstand bildet. Die Ankündigung 26de wird exemplarisch zu verstehen sein: Jhwh unterbindet seine Verehrung durch die Ägyptenauswanderer überhaupt, sodass sie, ihrer göttlichen Schutzmacht beraubt, dem unentrinnbaren Verderben ausgeliefert sind. Weil der Verfasser auf die absolute Verdammnis der Ägyptendiaspora abzielt, lässt er Jhwh sogar so weit gehen, eigenhändig seine Anbetung durch die Emigranten zu beenden. Damit sollen die Ägyptenflüchtlinge jener Gottesferne verfallen, von der noch JerDtr I – neben anderen heimatlichen Stimmen – geglaubt hatte, dass sie die Exilanten aller Heilschancen beraubt habe (s. zu 29,7). Bei JerDtr I war der Götzendienst in der Fremde in 16,13 eine Drohung Jhwhs gewesen, die sich bewahrheiten würde, wenn die Judäer aufgrund ihres Ungehorsams nach Babylonien verschleppt worden waren; bei JerDtr II dagegen ist der Fremdgötterkult die hiermit verhängte Strafe für die Auswanderer an den Nil. Dabei übernehmen sie nicht nur die örtlichen Kultpraktiken (8a), sondern sie importieren auch noch jene Missbräuche, die sie bereits auf eigenem Boden ins Unglück gestürzt hatten (Vv. 15–25). 27–28 Dementsprechend kündigt Jhwh nochmals wie schon in V. 11–12 in formelhafter Sprache an, dass er die Emigranten restlos dem Untergang durch Krieg und Hungersnöte anheimgeben wird (V. 27). Dabei schlägt 27a einen Bogen zurück zu den Visionen Jeremias am Beginn des Buches (1,11–15, speziell 12c). Bei der Berufung des Propheten hatte Jhwh erklärt, über die Erfüllung seiner Worte vom Kommen des Feindes aus dem Norden zu wachen. Diese sind mittlerweile eingetroffen; nun wacht er über die Ägyptendiaspora, um ihre Vernichtung sicherzustellen (auf der Ebene des Endtextes hat der jüngere Vers 31,28 die Aussage bereits für die heimischen Judäer und die Exilsheimkehrer ins Positive gewendet; s. z. St.). 28a, wohl ebenso ein Nachtrag wie seine Parallele 14d, gesteht indes ebenfalls aus späterer Warte eine kleine Anzahl  Z. B. Ri 8,19; 1 Sam 14,39.45; 19,6 u. v. a.

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von Rückkehrern zu. Laut 28b soll am Ende der Geschichte des nichtexilierten Restes Judas eine Erkenntnis stehen, nämlich wessen Wort Bestand haben wird (28c); so wird man das Verb ~wq aufstehen, Bestand haben, in Erfüllung gehen hier auffassen müssen. Denn 28c konfrontiert zwei einander ausschließende Gültigkeitsansprüche; der Prophetie Jeremias steht jedoch kein anderes Orakel gegenüber, sondern die konkurrierende Geschichtsdeutung, die seinen Hörern in den Mund gelegt wird. So scheint auch – völlig korrekt – der prämasoretische Einschub das meine oder das ihre den Vortext zu verstehen. Es sind demnach die beiden konträren Geschichtsinterpretationen, über die die Zukunft richten wird: Während es aus der zeitnahen Rückschau so erscheinen mag, als ob die Katastrophe Judas den Fremdgötterkult rehabilitiere – ein Schluss, den auch viele Exilanten geteilt haben dürften  –, wird das Schicksal der Ägyptendiaspora schließlich die Wahrheit ans Licht bringen. Den Auswanderern wird diese Einsicht freilich erst in ihrem Untergang aufgehen, ähnlich wie die Ägypter nach Ex 14,17–18 an ihrem Tod in den Fluten des Meeres erkennen sollen, dass ich Jhwh bin. Die Exilanten hingegen haben das Jeremiabuch, das sie eindringlich und hier am Beispiel der Ägyptendiaspora vor der Verlockung der Götzendienerei warnt, der zu widerstehen unabdingbar ist, sollen sie ihrer Aufgabe als einzige verbleibende Heilslinie des Gottesvolkes gerecht werden. – Die Sätze 28bc dürften ehemals den Ausklang von JerDtr II gebildet haben. Wenn der Autor am Ende seines Werkes diese Worte an sein Publikum richtete, gibt er zu erkennen, wie sehr ihn die Sorge umtrieb, dass das Ringen um Jeremias Glaubwürdigkeit auch im Exil noch nicht ausgestanden war.

Literatur: H. M.  Barstad, Jeremiah the Historian. The Book of Jeremiah as a Source for the 29–30 History of the Near East in the Time of Nebuchadnezzar, in: G. Khan, D. Lipton (Hg.), Studies on the Text and Versions of the Hebrew Bible in Honour of R. Gordon (VT.S 149). Leiden 2012, 87–98. J. K.  Hoffmeier, A New Insight on Pharao Apries from Herodotus, Diodorus and Jeremiah 46:17, Journal of the Society for the Study of Egyptian Antiquities 11 (1981) 165–170. K. Jansen-Winkeln, Art. Amasis (erstellt: Febr. 2009), WiBiLex (Internet). A. Schütze, Art. Apries (erstellt: April 2010), WiBiLex (Internet). Stipp, Prosaorakel.

Außerhalb der parallelen Struktur Vv. 1–14 || 20–28 steht die abschließende Ankündigung eines Zeichens (tAa 29a). Das Substantiv meint hier ein Erweiszeichen bzw. Erweiswunder, d. h. ein wunderhaftes oder unvorhersehbares Begebnis, das durch sein baldiges Eintreten einstweilen die Glaubwürdigkeit eines anderen Orakels verbürgt. Der prämasoretisch stark erweiterte V. 29 bestimmt zur Aufgabe des Zeichens, die Bewahrheitung der vorangehenden Strafansagen zu garantieren. Die Prophezeiung reagiert also bereits auf einen Erfüllungsverzug; ferner kehrt V. 29 gegenüber V. 26–28 zur Anrede der Ägyptenemigranten zurück. Auf einen Nachtrag deutet weiterhin das formelhafte Vokabular der individuellen Prosaorakel,12 das auch die Schichtenzugehörigkeit der Passage markiert. V. 30 gibt den Inhalt des Erweiswunders an: Jhwh werde den ägyptischen Pharao Hofra seinen Todfeinden ausliefern (30b). Das Orakel bezieht sich auf die Tatsache, dass Hofra (ägyptisch Wahibra, griechisch Apriës, 589–570), Sohn von Psammetich II. (s. zu 27,1), seine Macht an einen putschenden General verlor, der unter dem Namen Ahmose II. (griechisch Amasis, 570–526) den Thron bestieg, bevor Hofra schließlich im Jahr 567 im Kampf gegen seinen Nach S. o. S. 606 Anm. 1.

12

617

44,29–30

Jeremias Disput mit den judäischen Ägyptenemigranten

folger ums Leben kam, und zwar möglicherweise als Teilnehmer jenes gescheiterten babylonischen Ägyptenfeldzugs, der in 43,8–13 gespiegelt wird (s. dort). Die Selbstsicherheit, mit der die Vv. 29–30 auf diese Vorgänge anspielen, nährt den Verdacht, dass hier ein vaticinium ex eventu vorliegt. Hofras Tod liefert dann den terminus post quem für das Abfassungsdatum des Stückes. Das Erweiszeichen ist so geartet, dass es zwar den Hörern im Text zugesprochen wird, aber auf die Adressaten des Textes zielt, die sich eine Weile nach der Publikation von JerDtr II fragen, wo die angekündigte Vernichtung der Auswanderer bleibt. An sie ergeht die Botschaft: Wenn Jeremia den – mittlerweile eingetretenen – Tod Hofras zutreffend prophezeite, darf man auch seiner Ansage des Untergangs der ägyptischen Diaspora vorbehaltlos vertrauen. 30c parallelisiert das Ende Hofras mit dem Schicksal Zidkijas, obwohl dafür sachlich nur begrenztes Recht erkennbar ist, da der letzte judäische König bei aller Tragik in seiner Biografie allem Anschein nach nicht gewaltsam zu Tode kam (s. zu 34,1–6). Den Anstoß dafür könnte der Umstand geliefert haben, dass Hofra jene ägyptische Streitmacht befehligte, die die Babylonier während ihrer Belagerung Jerusalems 589/7 zu einem zeitweiligen Abzug veranlasste, was in Juda unter Zidkija vorschnellen Hoffnungen auf ein Ende der babylonischen Bedrohung Auftrieb verlieh (s. zu 37,5–8). Auch die Vorbehalte des Trägerkreises der individuellen Prosaorakel gegen die Davidsdynastie und sein Widerstand gegen nachexilische Bestrebungen zur Restauration der davidischen Herrschaft durch Serubbabel dürften eine Rolle gespielt haben (vgl. 21,1–7; 22,11–12.24–27; 23,1–2 und jeweils z. St.). Diesem Indiz für die Datierung der individuellen Prosaorakel fügen die Vv. 29–30 ein weiteres hinzu: Der Autor weiß vom Tod Hofras, aber wäre ihm auch die Eroberung Ägyptens durch Kambyses (525) und – in deren Gefolge – der Tod des letzten saïtischen (s. zu 46) Pharaos Psammetich III. (523) bekannt gewesen, hätte er sicherlich dieses Ereignis, da von ungleich größerer Bedeutung für die Geschichte Ägyptens, zum Gegenstand des Erweiszeichens gewählt. Das Entstehungsdatum wird daher nicht viel früher, aber jedenfalls vor 525 zu suchen sein. Auch zur Abfassungszeit von JerDtr II enthält Jer 44 wichtige Hinweise. Diese Redaktion, von V. 29–30 vorausgesetzt, verrät wie JerDtr I keine Kenntnis vom Zusammenbruch des babylonischen Reiches und muss daher gleichermaßen noch vor der Mitte des 6. Jahrhunderts entstanden sein, jedenfalls bevor Kyrus II. 547/6 große Teile Kleinasiens eroberte und zu einer ernsten Bedrohung für Babylonien aufstieg. Dieser Zeitrahmen wird von 44,1–28 bestätigt. Den Vv. 2.6c.22c zufolge dauert die Verwüstung Judas unvermindert an, und wie die Vv. 3–6.20–23 bezeugen, besteht weiterhin dringender Bedarf an einer Erklärung der Exilskatastrophe. Nach wie vor ist die Monolatrieforderung unter den Judäern umstritten, und der Autor muss sich dem Vorwurf stellen, dass nicht die Vielgötterei, sondern deren Eindämmung das Volk ins Verderben gestürzt habe. Ferner übernimmt er aus der Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums das Konzept der Totalemigration (vgl. 43,4–7 mit 44,12ab.14a.28b), das man nur während des Exils oder aber aus erheblich späterer Warte (2 Chr 36,20–21) mit Aussicht auf Einverständnis vertreten konnte. Welche Absichten verfolgte der Verfasser bei seinen exilischen Adressaten? Drei Ziele sind zu erkennen. Erstens bekräftigte er die Untergangsansage für die ägyptische 618

Jeremias Disput mit den judäischen Ägyptenemigranten

44,29–30

Diaspora aus *42,10–22, indem er sie um ein Verdikt ergänzte, das deuteronomistischen Standards gehorchte, also vor allem auf dem Vorwurf des Götzenkults beruhte. Indem die Auswanderer unbelehrbar auf der Verehrung ihrer Abgöttin beharren, fällen sie sich selbst das Urteil. Wie sein Vorbild koppelte der Autor den Richterspruch an das Konzept der Totalauswanderung und erreichte so, dass den babylonischen Exilanten als einziger verbleibender Heilslinie Judas die Aufgabe zufiel, den Fortbestand des Volkes zu sichern. Da es ihm nicht um die Rettung der Ägyptenflüchtlinge, sondern um ihre Verfemung ging, ließ er – auch darin seinem Modell ähnlich – den Propheten nicht zur Rückkehr nach Juda aufrufen, sondern den Heimweg als verschlossen hinstellen. Ein Appell zur Abkehr vom Götzendienst fehlt folgerichtig ebenso. Zweitens nutzte der deuteronomistische Theologe die Gelegenheit, ein populäres und wegen seiner historischen Erfahrungsbasis hoch gefährliches Argument gegen die Alleinverehrung Jhwhs zu diskreditieren, indem er es den ägyptischen Rivalen in den Mund legte und durch Jeremia im Namen Jhwhs verdammen ließ. Wie das wahrscheinliche Finale des babylonischen Jeremiabuchs in 28b unterstrich, sollte die Zukunft gegen den momentanen Augenschein bestätigen, was die Vergangenheit bereits erwiesen hatte: Das monolatrische Programm der Deuteronomisten vertrat die alles entscheidende Forderung des Gottes Israels an sein Volk. Damit einher ging das dritte Ziel, die Mitexilanten vor der Religion ihrer Umwelt zu warnen, indem er den heimischen Astartekult nicht von ungefähr im Gewand der Ischtarverehrung vorführte und, nach Ägypten transponiert, als Musterbeispiel jener Missbräuche hervorhob, mit denen sich die Emigranten selber dem Tod weihten. Das harsche Urteil des Autors über die Ägyptendiaspora ist wie bei dem Verfasser der UPJ-Erzählung aus der Dramatik der Lage zu verstehen, in der sich diese Theologen wiederzufinden glaubten: Aus ihrer Sicht stand für das Jhwh-Volk nichts weniger als das Überleben auf dem Spiel. Heimische Judäer gab es nicht mehr; die Ägyptenflüchtlinge hatten sich selber aller Heilschancen beraubt. Während der UPJ-Erzähler für einen klugen modus vivendi mit den siegreichen Kerkermeistern eintrat, rückte der Autor von JerDtr II in Kap. 44 den Kampf gegen die religiöse Assimilation in den Vordergrund. Auf lange Sicht hat sich Einsatz der beiden gelohnt.

619

45

Das Verschonungsorakel für Baruch 1  a  Das Wort, ​ b  das der Prophet Jeremia zu Baruch, dem Sohn Nerijas, sprach, als dieser im vierten Jahr Jojakims, des Sohnes Joschijas, des Königs von Juda, 2  So spricht Jhwh, diese Worte nach dem Diktat Jeremias in ein Buch schrieb: ​ [der Gott Israels,] über dich, Baruch: ​ 3  a  Du hast gesagt: ​ b  „Wehe mir! ​ c  Denn Jhwh hat Kummer auf meinen Schmerz gehäuft. ​ d  Ich bin erschöpft e  und Ruhe fand ich nicht.“ ​ 4  a  [So] sollst du zu ihm von [meinem] Stöhnen, ​ b  So spricht Jhwh: ​ c  Siehe, was ich aufgebaut habe, ​ d  breche ich sagen: ​ e  und was ich gepflanzt habe, ​ f  reiße ich aus. ​ g  [– Die ganze Welt nieder, ​ 5  a  Du aber begehrst Großes für dich!? ​ b  Begehre es nicht! ​ (meint) das. –] ​ c  Denn siehe, ich bringe (bald schon) Unheil über alles Fleisch – Spruch Jhwhs –, ​ d  aber ich werde dir dein Leben als Beute geben an allen Orten, ​ e  wohin du auch gehen wirst. Literatur: P.-M. Bogaert, De Baruch à Jérémie. Les deux rédactions conservées du livre de Jérémie, in: ders. (Hg.), Le livre de Jérémie, 168–173.430–432. E. Bosshard-Nepustil, Schriftwerdung der Hebräischen Bibel. Thematisierungen der Schriftlichkeit biblischer Texte im Rahmen ihrer Literaturgeschichte (AThANT 106), Zürich 2015. E. Di Pede, Jérusalem, ‘Ebed-Melek et Baruch. Enquête narrative sur le déplacement chronologique de Jr 45, RB 111 (2004) 61–77. B. Gosse, Jérémie xlv et la place du recueil d’oracles contre les nations dans le livre de Jérémie, VT 40 (1990) 145–151. H. Knobloch, Art. Baruch / Barucherzählung / Baruchbuch (erstellt: Juni 2016), WiBiLex (Internet). P. J.  Scalise, Baruch as First Reader: Baruch’s Lament in the Structure of the Book of Jeremiah. in: J. Goldingay (Hg.), Uprooting and Planting (FS L. Allen; LHB.OTS 459), New York 2007, 291–307. Stipp, Prosaorakel. J. E.  Wright, Baruch, the Ideal Sage, in: J. E. Coleson, V. H. Matthews (Hg.), „Go to the Land I Will Show You“ (FS D. W. Young), Winona Lake 1996, 193–210.

Textgenese und Gliederung Das meist als „Trostwort für Baruch“ bekannte Kap. 45 ist wie Jer 25 und der Beginn von Kap. 36 auf das 4. Regierungsjahr Jojakims datiert (V. 1) und zählt daher zu jenen Einheiten, die den durch JerDtr II grundgelegten chronologischen Aufbau des zweiten Buchteils 26–45 durchbrechen (s. Einleitung). Eigenart und Vokabular zeigen an, dass Jer 45 wie schon der Vortext 44,29–30 zur Redaktionsschicht der individuellen Prosaorakel gehört: Es spricht einer Figur den verdienten Lohn zu (so auch bei Ebed-Melech in 39,15–18; bei anderen Akteuren die Strafe) und gebraucht die Wendung das Leben zur Beute geben (5d; vgl. 21,9 || 38,2; 39,18). Dagegen fehlen deuteronomistische 620

Das Verschonungsorakel für Baruch

45,1

Spezifika. Indem das Heilswort zeitlich an Baruchs Mitarbeit an der „Urrolle“ gebunden wird (vgl. V. 1 mit 36,1–4), ist es wie die Einheiten 21,1–10 (vgl. 37,3–10) und 39,15–18 (vgl. 38,7–13), die dasselbe Stratum repräsentieren, zwar auf einen Erzählzusammenhang des Buches bezogen, aber von ihm abgerückt, was seine redaktionelle Natur bestätigt. Das Stück hat wie 39,15–18 die Gestalt eines Verschonungsorakels, das eine Heilszusage an eine Unheilsankündigung knüpft. Zur Herkunft der Schicht aus unmittelbar nachexilischer Zeit s. zu 44,29–30. Zwei Gründe haben dem Heilswort für Baruch seine dyschronologische Position eingetragen: Zum einen war ihm bei Abfassung der Status als Buchschluss zugedacht (s. Erklärung). Da dem Redaktor die Fremdvölkerspruchsammlung bereits vorlag, wie seine Einschübe in 46,25 und 50,18 zeigen, bekräftigt die dem Kapitel zugewiesene Funktion die Priorität des alexandrinischen Buchaufbaus. Zum andern spielt das Verschonungsorakel in 5de auf die Flucht Baruchs nach Ägypten 43,5–7 an und nimmt Jeremias Sekretär von den in Kap. 42 und 44 verkündeten Unheilsansagen über seine Mitemigranten aus, weswegen das Stück seinen natürlichen Platz nach 44 hat. – V. 1 enthält einen der wenigen Fälle, wo der Name Jeremias schon vormasoretisch mit dem Titel der Prophet versehen ist (sonst 42,2; 43,6; 51,59). Hier dürfte eine frühe Glosse zu greifen sein. In der masoretischen Texttradition wurde die Einheit um einige floskelhafte Zusätze vermehrt. Größere Bedeutung besitzt lediglich der erklärende Einschub 4g (s. z. St.). Die Einleitung mit detaillierter Situationsangabe (V. 1) eröffnet ein zweiteiliges Gotteswort. Nach der ersten prophetischen Botenformel V. 2 zitiert Jhwh eine Rede Baruchs (V. 3). Der (deplatzierte) Redebefehl 4a, die zweite Botenformel 4b sowie hNEhi siehe 4c leiten über zur Prophezeiung. Zunächst statuiert Jhwh die Grundsätze seines aktuellen Handelns (4c–f). Mit 5a lenkt er zu Baruchs individueller Situation über und erteilt dazu eine Aufforderung (5b), der das Verschonungsorakel als Begründung zugeordnet ist (5c–e).

Erklärung Die Überschrift weist die Einheit als prophetische Rede Jeremias aus, gerichtet an 1 Baruch, als dieser, wie in 36,1–4 berichtet, nach dem Diktat Jeremias die Urrolle (s. zu 36) niederschrieb, nämlich im vierten Regierungsjahr Jojakims (605/4), dem Jahr der Schlacht bei Karkemisch, die die babylonische Herrschaft über die Levante einläutete (s. zu 36,1; 46,2). Der Gegenstand von Baruchs Sekretärstätigkeit heißt diese Worte, ein autoreferenzieller Verweis auf das Buch selbst. Im älteren alexandrinischen Arrangement bildete Kap. 45 den Ausklang des Werkes, bevor der Epilog Jer 52 hinzutrat. Am Buchschluss bezeichneten diese Worte das gesamte Werk, zumal die nächstgelegene Bezugsgröße in dem unmittelbar voranstehenden Disput Jeremias mit den Ägyptenemigranten zu finden ist, dem spätesten Ereignis aus seinem Leben, von dem die Bibel berichtet (Kap. 44). Der Ausdruck diese Worte unterstellte folglich das ganze Buch der Prophetie Jeremias bis 605/4 und führte es auf sein damaliges Diktat zurück. Der Autor der individuellen Prosaorakel identifizierte so den 621

45,1

Das Verschonungsorakel für Baruch

von ihm hergestellten Bestand mit der Urrolle, mitsamt jenen Passagen, die eindeutig Vorgänge aus der Zeit nach Jojakims viertem Jahr widerspiegeln, wie etwa 21,1–10; 22,24–30; 27(?; s. zu 27,1 MT); 28–29; 34; 35?; 37–44; darunter nicht zuletzt seine eigenen Beiträge (Stücke wie 24 und 30–33 waren damals noch nicht in das Buch eingegangen; zu Kap. 52 sogleich). Dabei unterstreicht die aus 36,4.27.32 (vgl. 36,18; MT 36,6c.17c) bezogene Wendung nach dem Diktat Jeremias die uneingeschränkte Authentizität des Ergebnisses: Das vorliegende Buch ist zur Gänze Baruchs unverfälschte Dokumentation von Jeremias Prophetie, woraus im Umkehrschluss die alleinige Verfasserschaft Jeremias folgt. Hatte der patrizische Autor von 36,32 AlT noch mit Rücksicht auf seine autolegitimatorischen Bedürfnisse im Schlusssatz 32e die Tür für spätere, nichtjeremianische Zutaten offen gelassen, schaute der Schöpfer von Kap. 45 über diesen Hinweis auf spätere Fortschreibungsprozesse hinweg und insistierte auf der ausschließlichen Urheberschaft des Propheten, wie es ihm später ein prämasoretischer Tradent in 36,17c.18bc.32ab und 51,64ef besonders entschieden nachtat (s. jeweils z. St.; Näheres bei 36,32). Infolgedessen blieb sogar nach der Ankopplung von Kap. 52 nur dieses selbst vom Anspruch der Authentizität ausgenommen, was freilich schon für antike Leser leicht nachzuvollziehen war, da sie auch ohne den prämasoretischen Kolophon 51,64ef (zum Begriff s. zu 36,22–23) in der Regel gewusst haben dürften, dass der Anhang weitgehend mit 2 Kön 24,18– 25,30 übereinstimmt, also von dort entlehnt war. Nimmt man 45,1 beim Wort, lässt auch die jüngere masoretische Buchstruktur an dem Konnex mit dem Jahr 605/4 allenfalls für einen Teil der hinter Kap. 45 eingereihten Fremdvölkersprüche Abstriche zu, natürlich weiterhin von 52 abgesehen. Im Dienste seines Echtheitserweises fügte der Autor der individuellen Prosaorakel das Kap. 45 unter Abkehr von der chronologischen Ordnung am Ende des Werkes an. Weil er ferner zwar selbst ein Redaktor war, seine Fortschreibungen aber trotzdem das authentische Wort des autoritativen Propheten verkörpern sollten, synchronisierte er das Verschonungsorakel für Baruch mit der Erstfassung der schriftlichen Dokumentation von Jeremias Prophetie, während er die Herstellung der erweiterten Version im folgenden Jahr beiseiteließ (36,9aMT.27–32). Im Unterschied zur patrizischen Erzählung Jer 36 AlT (s. dort) war sein Thema nicht mehr die redaktionelle Expansion des Buches, sondern er wollte Baruchs verdienstvollen Beitrag zur Entstehung des Werkes auf eine Weise stilisieren, die zugleich Jeremias letztgültige Verfasserschaft ins Licht rückte. 2–3 Die erste prophetische Botenformel V. 2 (vgl. 4b) weist Jeremias Rede als Gotteswort aus; sie qualifiziert also die Worte des Propheten auch ohne Verweis auf ein vorausgehendes Offenbarungsgeschehen als göttliche Rede. Eingangs nennt das Orakel seinen Anlass: eine Klage Baruchs, in der dieser sein geplagtes Dasein betrauert (V. 3). Die Tonlage des Zitats markiert schon der Auftakt mit dem Ausruf yAa wehe!, den Klagende bevorzugt wie hier über sich selbst ausstoßen, um das Mitgefühl ihrer Umgebung zu erregen.1 Als Urheber seiner Qual macht Baruch allein Jhwh namhaft: Denn Jhwh hat Kummer auf meinen Schmerz gehäuft (3c). Die Fortsetzung  Vgl. z. B. auch 4,13.31; 6,4; 10,19; 15,10.

1

622

Das Verschonungsorakel für Baruch

45,4

unterstreicht, dass Baruchs Nöte bereits geraume Zeit andauern und nun den Punkt erreicht haben, wo sie seine Kräfte übersteigen (3de). Über das persönliche Ergehen von Jeremias Schreiber erfahren wir aus dem Buch sehr wenig, doch der in V. 1 hergestellte Zusammenhang mit 36 legt nahe, dass der Autor Baruchs Pein mit der Verfolgung verband, die der Sekretär zusammen mit dem Propheten ertragen musste (vgl. 36,19.26). Darin dürfte eine zutreffende Erinnerung stecken, denn wenn Jeremia schweren Repressalien ausgesetzt war, kam sein prominenter Gefolgsmann kaum ungeschoren davon. Für Baruch, wie er hier porträtiert wird, steht dahinter freilich einzig Jhwh. Wenn er ferner mit der Beschwerde zitiert wird, dass Jhwh seinen Schmerz noch durch weiteren Kummer verschärft habe (3c), ist dies wohl als Anspielung auf die Unheilsansagen in der Urrolle zu verstehen (vgl. 36,29): Jhwh hat Baruchs leidvolles Leben nur zusätzlich verschlimmert durch die Ankündigung von Katastrophen, die notwendig auch ihn einholen mussten. Es folgt die Replik Jhwhs, vom Zitat abgesetzt durch die zweite prophetische 4 Botenformel (4b). Vorweg geht noch ein Redebefehl an Jeremia (4a), der nach der Einleitung V. 1 deplatziert ist, da diese ja keinen Auftrag, sondern bereits die Ausrichtung mitteilt. Der Satz verdankt sich wohl einer Unaufmerksamkeit des Verfassers, die ihn verleitete, seinen Einschub gewohnheitsmäßig mit Versatzstücken von Prophetenerzählungen aufzufüllen. Jhwh statuiert zunächst in einer Grundsatzerklärung die Prinzipien seines aktuellen Wirkens. In Kenntnis von Kap. 36 können die Leser darin den Kern von Jeremias Prophetie in der Urrolle wiedererkennen, doch ist das Gotteshandeln hier durch hNEhi siehe 4c und die Partizipialkonstruktionen in 4df in die alsbaldige Zukunft herangerückt. Der reflektierende Abstand des Autors vom proklamierten Geschehen zeigt sich an seiner formelhaften, abstrahierenden Sprache, indem er Jhwhs Absichten mittels der geprägten Verbenreihe vom Niederreißen und Aufbauen beschreibt (4c–f), die hier zum einzigen Mal im Buch reine Unheilsansage vollzieht. Die übrigen Belege schildern die alternativen Handlungsmöglichkeiten Jhwhs in Heil und Unheil, abhängig vom menschlichen Verhalten (12,14–17; 18,7–10); oder die heilvolle Seite nimmt die Schlussposition ein (1,10); oder die Serie wird in den Dienst der Heilsverkündigung gestellt, indem die Verben der Destruktion negiert sind (24,6; 31,40; 42,10). Hier dagegen schaut Jhwh auf sein vergangenes Heilswirken zurück und erklärt, es durch sein Gegenteil zu ersetzen, um anzudeuten, welche Grenzen möglichen Zugeständnissen an Baruch gezogen sind. Ein prämasoretischer Ergänzer hat die Worte ayhi #r Arzneien 11c, gefolgt von dem Satz hl'['T. %l' !yae Vernarbung gibt es nicht für dich (30,13b; ha'Wpr> sonst nur Ez 30,21; hl'['T. II Vernarbung, Schorf sonst nur 48,2 AlT); die Kombination der Imperative von dgn-H berichten, melden, [mv-H verkünden und rma sagen 14acd (4,5; 50,2; Jes 48,20; vgl. Jer 31,10); Negation + dm[ stehen + yKi denn 15bc.21de (4,6; ferner Spr 25,6–7; Dan 11,25); hcn II verheeren 19c (4,7; 9,11; 2 Kön 19,25 || Jes 37,26; konjiziert Jer 48,9), zumal wenn gefolgt von dem Ausdruck ohne Bewohner bzw. ohne jemanden, der hindurchzieht (4,7; 9,11); ~g:-yKi denn/doch auch 21b (6,11; 12,6; 14,18; 23,11; 48,34; MT 14,5; 51,12 sowie 6-mal in Koh und 8-mal im Rest des AT); awb + dyae der Untergang kommt 21e (48,16 MT; 49,8.32; Ijob 21,17; Spr 6,15); hD"quP. t[e Zeit der Züchtigung 21e (6,15 || 8,12 MT; 10,15 || 51,18; 49,8; vgl. 50,27.31).

Das Trostwort für Jakob Vv. 27–28 bildet die einzige Heilsansage für Israel innerhalb der überwiegend authentischen Fremdvölkersprüche Kap. *46–49. Weitere Beispiele finden sich nur in den Babylongedichten, wo sie aber keinen Anhang darstellen, sondern in die Komposition integriert sind.1 Das Trostwort geht folglich auf einen Einschub zurück. Ferner besitzt es eine Dublette in 30,10–11. Doch wie mehrere Indizien zeigen, hat das Trostwort für Jakob hier, obwohl nachgetragen, seinen ursprünglichen Ort im Buch: 30,10–11 fehlt in AlT und unterscheidet sich von 46,27–28 durch Züge des prämasoretischen Idiolekts (s. z. St.). Dazu kommt das Stück im Handlungs 50,4–5.17–20.33–34; 51,5.10.36–37; vgl. auch 51,15–19 || 10,12–16.

1

645

46,1

Ägypten

bogen von Kap. 30 zu früh, und der adversative Auftakt mit hT'a;w> du aber ist nach der Heilsansage 30,8–9 schwer zu motivieren, während er in Kap. 46 den Gegensatz zwischen den Drohungen für Ägypten und der Ermutigung für Jakob/Israel betont. Weil das Gedicht indes formal und inhaltlich viele Gemeinsamkeiten mit den Heilszusagen in der Trostschrift aufweist, wurde es in der masoretischen Tradition dorthin kopiert. Seine Position innerhalb der Fremdvölkersprüche erklärt sich am besten auf der Grundlage des alexandrinischen Textarrangements, wo es in JerAlT 26,27–28 nicht nur – wie auch in MT – adversativ an das Ägyptenorakel (AlT 26,2–25) anschließt, sondern überdies vor dem Ergehen der Babelworte (AlT 27–28) herausstreicht, dass sich im Untergang des mesopotamischen Großreiches Heil für Israel ereignet. Bei der Umstellung auf die masoretische Spruchfolge wurde das Stück allerdings nicht als Überleitung zu den Babylon-Kapiteln, sondern als Anhang zum Ägyptenorakel behandelt und daher von den Babelworten getrennt.

Erklärung 1 1 bildet eine Wortereignisformel in Gestalt eines rv,a]-Zitateinleitungssatzes. Hatte die

2–12

alte Überschrift zu den Fremdvölkersprüchen 25,13c das Korpus lediglich als Niederschrift dessen ausgewiesen, was Jeremia über die Nationen prophezeit hat (AlT), so charakterisiert der jüngere, prämasoretisch ergänzte Titel die komplette Sammlung unbeschadet der dort zitierten Sprecher als dem Propheten Jeremia geoffenbartes Wort Jhwhs. Die Leser dürfen sich damit der Zuverlässigkeit des gesamten Buchteils gewiss sein, also nicht nur der jeweils als Gottesworte ausgezeichneten Stücke, sondern gerade auch jener vielen Passagen, die Vorgänge an Orten und zu Zeiten spiegeln, die Jeremias eigenem Augenschein entzogen waren. Literatur: A. H. W.  Curtis, „Terror on Every Side!“, in: A. H. W. Curtis, Th. Römer (Hg.), The Book of Jeremiah and Its Reception (BEThL 128), Leuven 1997, 111–118.

Die Überschrift zum gesamten Ägyptenorakel Über Ägypten 2a ist erweitert um eine Situationsangabe, die das erste Gedicht Vv. 3–12 auf die Schlacht von Karkemisch im 4. Jahr Jojakims (605) bezieht. Mit diesem Datum verknüpft Jer mehrfach bedeutende Äußerungen des Propheten (36,1 sowie, davon abhängig, 25,1 und 45,1; s. jeweils z. St.), ein Indiz, dass der babylonische Sieg über die Ägypter schon zeitgenössisch als Epochenwende wahrgenommen wurde. Wenn V. 2 das erste Ägyptengedicht Vv. 3–12 mit der Schlacht von Karkemisch verbindet, wird dies durch zwei Erwähnungen des Eufrats in 6c.10e als berechtigt erwiesen. Der Titel König von Babel ist allerdings streng genommen ein Anachronismus, weil Nebukadnezzar nach babylonischen Quellen erst nach dem Sieg über die Ägypter seinem Vater auf dem Thron folgte (HTAT 258, S. 415). 3–12 Das erste Ägyptengedicht ist durch klare Signale in drei Abschnitte (Strophen) gegliedert. Die Vv. 3–6 durchmessen in sehr raschen Schritten den Weg vom ägyptischen Aufmarsch bis zur Niederlage. V. 7 spult die erzählte Zeit wieder an den Anfang zurück, um von dort aus bis V. 10 – anders akzentuiert – nochmals denselben Bogen 2

646

Ägypten

46,3a

zu durchlaufen. Die Vv. 11–12 reden das als Jungfrau, Tochter Ägypten (11b) stilisierte Land an, um ihm die Tiefe seiner Schmach vorzuhalten. Ohne weitere situative Orientierung oder auch nur Redeeinleitung beginnt das 3–4 Gedicht mit einer Serie militärischer Kommandos, die Streitkräften verschiedener Waffengattungen befehlen, sich in Gefechtsbereitschaft zu versetzen. Der Text verwendet das Instrument des „prophetischen Hörspiels“, das unerläutert Reden aneinanderreiht, wie sie ein Zeuge vor Ort bei einem dramatischen Ereignis vor allem kriegerischer Art vernehmen konnte. Die Technik kehrt wieder in V. 9.14 sowie im Zyklus vom Feind aus dem Norden (z. B. 4,5–6d; 6,1.4–5.24–25) und der Trostschrift (30,5b–6); dazu auch in den Babelworten (50,14–16). Wie die Beispiele belegen, schätzte Jeremia das Verfahren. Die ohne Einleitung anhebenden Zitate von in die Vorgänge verwickelten Akteuren sind eine Methode der Höreraktivierung über die Herstellung poetischer Unmittelbarkeit, indem die Adressaten direkt in den Strudel der Ereignisse hineingezogen werden durch die Illusion, selbst mitten im Geschehen gegenwärtig zu sein. Dabei ermöglicht der redaktionelle Vorspann immerhin den Schluss, dass in den Kommandos Befehlshaber aus den Reihen eines der Kriegsgegner bei der Schlacht von Karkemisch zu Wort kommen, und zwar kurz vor dem Kampf; allerdings werden die Leser bzw. Hörer einstweilen in Spannung gehalten durch die Unklarheit, welcher Partei die Sprecher angehören. Man mag sich fragen, ob eine mündlich vorgetragene Version des Gedichts mit noch mehr Unbestimmtheitsstellen operierte, doch lässt sich dies kaum bejahen. Zunächst ist generell schwer zu entscheiden, wie sich die erhaltenen, meist recht kurzen und rasch rezitierten schriftlichen Ausgaben zu ihren möglichen mündlichen Vorläufern verhalten. Was konkret Jeremias Ägyptengedichte angeht, sind ihre Situationsbezüge mit der Schlacht von Karkemisch und einem babylonischen Angriff auf Ägypten so spezifisch, dass sie die Deutung nahelegen, sie seien unter historischen Umständen proklamiert worden, wo die Kenntnis der Lage den Hörern noch erheblich mehr Informationen bereitstellte als jene, die heute die redaktionellen Erläuterungen in V. 2 und 13 liefern. Lediglich bei jener Schriftfassung, die bloß die alte Überschrift Über Ägypten 2a* trug, waren die Leser bei der historischen Verankerung der Gedichte allein auf ihre eigenen Geschichtskenntnisse angewiesen. Stellt Schild und Setzschild bereit benennt zwei antike Schildtypen: zunächst den 3a herkömmlichen kleineren Typ (!gEm'), oft von runder Form wie in Abb. 8; Abb. 9 zeigt ihn an den Armen von Soldaten, die sich damit gegen Geschosse beschirmen. In Abb. 10 ist der Lang‑ bzw. Setzschild (hN"ci) zu sehen, der annähernd die Größe eines Mannes erreichte und konvex geformt war, sodass er erheblich mehr Schutz bot, aber wegen seines Gewichts auf dem Boden aufgesetzt wurde.

647

46,3–4

Ägypten

Abb. 8: Rundschild

Abb. 9: Verschiede Schildformen

648

46,5

Ägypten

Abb. 10: Setzschilde

Das Kommando ~yxim'r>h' Wqr>mi 4d mit dem Verb qrm polieren (Ges18), hier wiedergegeben mit macht die Speere blank, dürfte das Schleifen der Speerspitzen zum Zweck der Schärfung meinen. Führten die Vv. 3–4 in eine Situation unmittelbar vor dem Kampf, ist die Schlacht 5 in V. 5 bereits geschlagen, und ohne Überleitung, nur am Übergang vom kommandierenden zum kommentierenden Tonfall kenntlich, vollzieht der Text einen Sprecherwechsel. Jetzt meldet sich eine Art Kriegsberichterstatter  – bzw. im masoretischen Endtext (V. 1!) Jhwh selbst – zu Wort, der seinem Erstaunen oder Erschrecken über die kopflose Flucht Ausdruck verleiht (vgl. ähnlich 30,6), die sich vor seinen Augen abspielt (ytiyair" mit einer qatal-Formation von einem Verb der sinnlichen Wahrnehmung 5a MT; Nominal‑ und Partizipialsatz in 5bc; x‑yiqtul für imperfektiven Sachverhalt 5d) oder sogar schon rhetorisch als abgeschlossen konstatiert werden kann (x-qatal 5ef). Die Flüchtlinge werden nur als sie apostrophiert (hM'he 5b), also nicht identifiziert; so bleibt es den Hörern bzw. Lesern überlassen, aus ihrer Kenntnis der Situation bzw. des redaktionellen Vorspanns V. 2 abzuleiten, dass von den Ägyptern die Rede ist. Mehr noch bleibt es der Fantasie des Publikums überlassen, sich den gesamten Kriegsverlauf zwischen dem Aufmarsch und der Zerstreuung der Verlierer auszumalen. Diese extreme Raffung und Verknappung ist ebenfalls ein Verfahren zur Aktivierung der Adressaten, indem es ihre Entschlüsselungsarbeit einfordert, um die 649

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Lücken (Unbestimmtheitsstellen) im Bild der Vorgänge zu schließen. Wenn die Schilderung ferner die Form der Frage nach den Ursachen annimmt: Warum …?, wird insinuiert, dass der Ausgang der Schlacht völlig der Erwartung widerspreche: Mit einer solch schmachvollen Niederlage, wo sogar die ~yrIABgI Vorkämpfer versprengt werden und in Panik davonstieben (5d–f), war bei der Großmacht Ägypten nicht zu rechnen, sodass ihr der Hohn der Beobachter sicher ist. Dass das unvermutete Ergebnis einer numinosen Regie folgen könnte, deutet der letzte Satz des Verses an, indem er die Lage mit dem typisch jeremianischen (s. o.) Schreckensruf Grauen ringsum resümiert und dieses Fazit als Spruch Jhwhs ausweist (5g), dessen steuernde Hand somit hinter dem Geschehen aufscheint. Zugleich erlaubt die Gottesspruchformel nun auch dem Publikum des älteren alexandrinischen Textes, den kommentierenden Betrachter der Szene eindeutig zu identifizieren: nämlich Jhwh selbst. 6 Das Gedicht, in den Vv. 5–6 möglicherweise von Am 2,14–16 inspiriert (Backhaus 81–86), fährt fort mit Mahnungen, die Kämpfer sollten die Flucht unterlassen (6ab), nun allerdings nicht mit Imperativen an die 2. Person gerichtet wie die Kommandos in V. 3–4, sondern als generelle Postulate in 3. Person formuliert. Deshalb bleibt der Sprecher nun vollends in der Schwebe: ein ägyptischer Offizier, der die Auflösung seines Heeres beklagt? Oder Jhwh, der erklärt, wie es eigentlich zugehen sollte, um durch den krassen Gegensatz zur Wirklichkeit das Ausmaß des ägyptischen Debakels tiefer auszuloten? Oder ruft er rhetorisch zum Bleiben auf, um die Fluchtversuche als ohnehin vergebens abzutun? Die Appelle lassen verschiedene Sprecherhypothesen und Leseweisen zu, aber jeweils mit demselben Resultat: Die ägyptische Niederlage ist absolut. Das unterstreicht nochmals der Kommentator – also Jhwh – in 6cd, wenn er feststellt, dass die Aufrufe, dem Drang zur Flucht zu widerstehen, sowieso zu spät kommen: Im Norden, am Ufer des Eufrat[strom]s, sind die ägyptischen Soldaten längst gestrauchelt und gefallen. Diese im AT häufige Ausdrucksweise, hier mit dem geprägten Wortpaar lvk straucheln und lpn fallen, meint nicht das alltägliche Stolpern über ein Hindernis, sondern den körperlichen Zusammenbruch aufgrund lebensbedrohlicher Entkräftung oder Verwundung (vgl. v. a. 6,21; Jes 31,3).2 Die ägyptischen Kämpfer hat der Untergang ereilt; nicht einmal die wilde Flucht konnte sie retten. Die topographischen Indikatoren Norden und Eufrat bestätigen, dass das Fazit des göttlichen Beobachters den Ausgang der Schlacht von Karkemisch resümiert. 7–8 Die Vv. 7–8 eröffnen die zweite Strophe, indem sie in der erzählten Welt wieder zurückblenden auf die Phase vor der Schlacht. In V. 7 stellt eine nicht identifizierte Stimme die Rätselfrage nach jemandem, der da anschwillt wie der Nil (7a) und erklärt hat, er wolle die Welt überschwemmen sowie [Städte und] ihre Bewohner zugrunde richten (8ef). Das kann nach Kontext und Metaphorik natürlich nur das personifizierte Ägypten selbst sein, und deshalb hat die Hypothese einiges für sich, dass die sofortige Auflösung des Rätsels in 8a Ägypten schwillt an wie der Nil eine jüngere Erleichterung darstellt, die den Lesern wenig Scharfsinn zutraut (und nochmals erweitert wurde durch die prämasoretische Verdoppelung von 7b in 8b). Es ist bezeichnend, wie der Passus ein Emblem der ägyptischen Landesnatur  – die jähr Ferner z. B. 12cd.16ab; 6,15; 50,32; Lev 26,36–37; Jes 3,8; 8,15 u. v. a.

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lichen Nilüberschwemmungen (zu dieser Bedeutung von hl[ aufsteigen vgl. Am 8,8; 9,5) – dazu nutzt, um die ägyptische Politik zu charakterisieren, indem dieses Naturereignis radikal umgewertet wird. So wäre es keinem Ägypter in den Sinn gekommen, den lebensspendenden Anstieg des Nils als zerstörerisch zu beschreiben, wie es hier geschieht, wo die Flut als Bild für einen brutalen ägyptischen Imperialismus eintritt. Zunächst wird der Fluss mit chaostypischen Konnotationen ausgestattet, wenn es heißt, dass das Wasser wie die Ströme wogt (7b; vgl. MT 8b). Der Vergleich rückt den Nil in die Nähe der „Urströme“,3 jener reißenden, bändigungsbedürftigen Arme des Chaos, das man sich als lebensfeindliche Wassermasse vorstellte, die u. a. durch ihren Lärm ihren destruktiven Charakter verriet.4 Damit wird ein geprägtes Motiv verschärft, das Feindbedrohungen in das Bild vernichtender Fluten fasst.5 Weiterhin werden die verheerenden Effekte im Rahmen einer fiktiven Rede Ägyptens als dessen Absichtserklärung präsentiert (8d–f), sodass sich das Nilland in maßloser Hybris selbst als Chaosmacht stilisiert, die in einem Vernichtungsfeldzug ihren weltweiten Herrschaftsanspruch durchzusetzen sucht. So erscheint Ägypten  – und nicht etwa sein Gegenspieler Babylon – als aggressiver Hort der Gewalt, der die Welt unter seinen imperialen Ambitionen zu begraben gewillt ist.  – Die prämasoretisch in 8f hinzugesetzte Stadt ist eine konflationäre Anpassung an die Parallele 47,2d (vgl. 8,16d), weil ein Tradent in diesem Textüberlieferungsstrang die Gemeinsamkeiten zwischen den Vv. 7–8 und 47,2 wahrnahm und weiter festigen wollte aus Gründen, die bei 47,2 erläutert sind. Die Stadt meint daher keinen bestimmten Ort, sondern ist wie in 47,2d kollektiv zu verstehen. Dem trägt die pluralische Wiedergabe Rechnung. Literatur: A. Spans, Art. Lud / Luditer (erstellt: Juli 2017), WiBiLex (Internet).

Ohne Überleitung folgt wieder ein prophetisches Hörspiel mit militärischen Kommandos nach Art von V. 3–4, nur dass die Befehle jetzt ihren fiktiven Charakter zur Schau tragen, indem sie sich zunächst an Pferde und Streitwagen richten und ihnen einschüchterndes Auftreten gebieten (9ab). 9c wendet sich ausländischen Söldnern in ägyptischen Diensten zu, und zwar nach AlT weiterhin in Form von Befehlen, während MT einen Finalsatz mit der Formation w˙=yiqtul nach Aufforderung bietet: Die Kriegsgefährte sollen rollen, damit die Kämpfer ausrücken können. Jedenfalls feilt der Vers weiter am Bild Ägyptens als Weltmacht mit einer auf expansive Zwecke getrimmten Armee, die über teure, prestigeträchtige und gefürchtete Waffengattungen wie Reiter und Wagenstreitkräfte6 verfügt und bekanntermaßen weitgehend aus kostspieligen Söldnerkontingenten besteht, die sich aus einer Vielzahl von Nationen rekrutieren,7 wie es auf das ägyptische Militär zur Zeit der saïtischen Dynastie zutraf. Als erstes Beispiel wird Kusch aufgezählt, der Name für Schwarzafrika (13,23) südlich von Assuan, also den Norden des Sudans und/oder Äthiopiens. Weniger eindeutig zu lokalisieren ist Put, das überwiegend mit Libyen, mitunter aber auch mit der Landschaft  Ez 31,4.15; 32,2; Nah 1,4; Hab 3,8–9; Ps 24,2; 93,3 u. ö. Jes 17,12–13; Hab 3,10; Ps 77,17–18; 93,3. 5 Z. B. 47,2; 51,42; Jes 8,7–8; 17,12–13; 28,17–19; Nah 1,7–8. 6 Vgl. z. B. Ex 14,17–18; 15,1.21; Dtn 17,16; 20,1; Jos 11,4; 17,16.18; Ri 1,19; 4,3; 1 Sam 13,5; 1 Kön 9,19.22; 10,26; 20,1; 2 Kön 2,12; 6,14.15.17; 13,14; 18,24 usw. 7  Ez 27,10; 30,5; Nah 3,9; vgl. Ex 12,38. 3

4 Z. B.

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Punt gleichgesetzt wird, die wohl an der Küste des Horns von Afrika im Raum der heutigen Staaten Eritrea, Äthiopien und Somalia zu suchen ist. Während die Söldner aus diesen Gegenden den Schild tragen, also als Spezialisten für die Infanterie gelten, sind die Luditer, wahrscheinlich Lydier aus Kleinasien, für ihre Fähigkeiten als Bogenschützen berühmt. Das glanzvolle Bild steckt die Fallhöhe des pharaonischen Reiches ab, um damit die Dimension der Epochenwende zu umreißen. Literatur: M. Beck, Art. Tag Jahwes (AT) (erstellt: Febr. 2008), WiBiLex (Internet). J. Jeremias, Jhwh – ein Gott der „Rache“ (2009), in: ders., Studien zur Theologie des Alten Testaments, hg. v. F. Hartenstein u. J. Krispenz (FAT 99), Tübingen 2015, 172–187.

Mit V. 10 unterbricht ein Deutevers die Schilderung, indem sich eine reflektierende Stimme einschaltet, die den Blick von den politisch-militärischen Vorgängen auf ihre theologischen Hintergründe lenkt. Da der Kommentator die Absichten Jhwhs erklärt, ist hier der Prophet zu vernehmen. Die Verbalsätze des Verses verlegen das ab dem Beginn der Strophe wie gleichzeitig behandelte Geschehen nun eindeutig in die Zukunft (w˙=qatal 10b–d), und die einleitende Datierung jener Tag 10a betont die Distanz zur Sprechergegenwart: Jeremia prophezeit und interpretiert das weltgeschichtliche Ereignis bereits aus erheblichem Abstand vorweg. Demnach gilt: So enorm die politische Bedeutung des babylonischen Triumphs auch sein mag, seine religiöse Aussagekraft reicht noch weit darüber hinaus, denn die Schlacht von Karkemisch ist für den Herrn Jhwh [der Heerscharen] ein Tag der Rache, um sich an seinen Feinden zu rächen (10a). Mit der Proklamation Jhwhs als des wahren Lenkers der Geschichte tritt wieder ein Kernanliegen Jeremias hervor, wie es das Babelschweigen dokumentiert, das auch Jer *1–25 zugrunde liegt: Der Name des Werkzeugs wird ignoriert, um seine Unerheblichkeit gegenüber seinem Benutzer zu unterstreichen. Wenn der Prophet näherhin erklärt, dass Jhwh Rache nimmt, also Vergeltung übt, beschreibt er das Gotteshandeln als Gebrauch eines Instruments der Rechtspflege, das in vormodernen Gesellschaften mangels effektiver zentraler Strafverfolgungsinstanzen unentbehrlich ist, soll die Gewalt nicht belohnt, sondern wirkungsvoll eingehegt werden. Nach altorientalischem Verständnis muss ein Verschulden durch eine entsprechende Sühne aufgewogen werden, um der gestörten Weltordnung wieder jenes Gleichgewicht zurückzugeben, das dauerhaftes Leben erst ermöglicht. Dabei dürfte das erneute Stichwort Tag den Modus von Jhwhs Eingreifen anzeigen, indem es das Assoziationsfeld des „Tages Jhwhs“ aufruft, ein Vorstellungskomplex, der ein katastrophales Ereignis – oft militärischer Art – als massive Intervention Jhwhs deutet, ursprünglich zugunsten Israels (z. B. Jes 13,2–8), in der prophetischen Transformation des Konzepts aber auch gegen es (s. zu 30,7). Dieser Tag Jhwhs wird bei Karkemisch innergeschichtlich konkret, wenn Jhwh die Ägypter als seine Feinde behandelt. Der Text verrät keinen Bedarf an einer expliziten Erläuterung, was den Ägyptern diesen Status vor Jhwh eingetragen hat, und bewegt sich so in den Bahnen der übrigen Fremdvölkersprüche des Buches, die sich – von den Babylongedichten abgesehen – mit konkreten Vorwürfen an die attackierten Nationen zurückhalten. Indes bildet V. 10 insoweit eine Ausnahme, als er auf das Porträt des ägyptischen Welteroberungsdrangs in den Vv. 7–9 folgt, was nahelegt, den Imperialismus als manifesten Ausdruck der Gottesfeindschaft der Ägypter zu werten. Die Ägypter nehmen sich heraus, 652

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dem Machtanspruch Jhwhs mit einem autonomen Machtanspruch Konkurrenz zu machen, indem sie sich seinen Plänen mit den Babyloniern widersetzen. Mehr als diese allenfalls vage Motivation ist dem Wortlaut jedoch nicht zu entnehmen. Und zumindest moderne Leser mögen einen Hinweis vermissen, warum den dynamisch expandierenden Babyloniern dieser Vorwurf einstweilen erspart bleibt, wo sie doch in unserer Sicht nichts Anderes taten als ihre ägyptischen Widersacher, bloß mit mehr Fortüne. Darüber verliert der Text freilich kein Wort; ja, im Rahmen des Babelschweigens nennen die Gedichte das Siegervolk nicht einmal beim Namen. Wie das Kapitel dasteht, zählt einzig die Tatsache, dass Jhwh mit den Ägyptern eine Rechnung offen hat und die (ehemals ungenannten) Babylonier als seine Vollstrecker nutzt; an dieser Grenze endet der Reflexionshorizont des Textes. Ägyptens Vergehen ist der nicht von Jhwh autorisierte Imperialismus; deshalb heißt der eigentliche Gegner der Ägypter Jhwh. Die unbegründete Parteilichkeit entspricht allerdings der „probabylonischen“ Haltung Jeremias, die zu den Konstanten seines literarischen Profils zählt, d. h. die nirgends näher gerechtfertigte Überzeugung, dass Jhwh den Babyloniern unbefristet oder zeitweilig die Herrschaft über Juda oder gar die ganze Welt gewährt habe, weswegen keine andere Wahl bleibe, als sich ihr zu fügen.8 Die Schilderung des Vollzugs der Rache in 10b–e beschönigt nichts: Das Schwert, d. h. der Krieg richtet ein Blutbad an, und zwar von solchem Ausmaß, dass 10e die Schlacht sogar in kultischen Kategorien als Opfer bezeichnen kann, wohl angeregt durch den Umstand, dass der Jerusalemer Opferkult – so zumindest sein von nachexilischen Priestern normiertes Bild im AT – primär der Sühne diente und das Blut als sühnende Materie fungierte (Lev 17). Leider verrät der Text nichts über die näheren theologischen Implikationen dieser Beschreibung: Ist das Opfer nur eine Metapher, um plastisch den Blutzoll zu veranschaulichen, oder spielt sich tatsächlich ein Sühnegeschehen ab  – mit welchen Folgen?9 Jedenfalls vertritt V. 10 im Handlungsbogen der zweiten Strophe die ägyptische Niederlage, jetzt aber nicht wie zuvor in V. 5–6 mit szenischen Mitteln, sondern per theologischer Interpretation. Insofern führt der zweite Durchgang deutlich über den ersten hinaus. 10b–e enthält lexikalische Übereinstimmungen mit Jes 34,5–6 aus dem Edomorakel unter den Fremdvölkersprüchen des Jesajabuches. Die Parallelen sind allerdings derart lose, dass sie zwar auf Abhängigkeit deuten, diese aber auch über dritte Größen vermittelt sein kann. Sollte ein direkter Einfluss vorliegen, erlauben die Korrespondenzen jedenfalls kein Urteil über seine Richtung. Die Verhältnisbestimmung hängt daher vor allem an den Datierungen. Weil Jes 34 wahrscheinlich die Edom-Feindschaft spiegelt, die aus den Erfahrungen der Exilszeit und möglicherweise noch späteren Epochen erwuchs (vgl. die Jes-Kommentare), dürfte V. 10 älter sein. Die Konvergenz ist ein Beispiel für die hochgradige Konventionalisierung der Fremdvölkersprüche, einer Gattung, bei der Anleihen und Umwidmungen besonders weit verbreitet waren.

Literatur: F. W.  Dobbs-Allsopp, Weep, o Daughter of Zion. A Study of the City-Lament 11 Genre in the Hebrew Bible (BO 44), Roma 1993. F. W.  Dobbs-Allsopp, The Syntagma of bat Followed by a Geographical Name in the Hebrew Bible. A Reconsideration of Its Mea8 V.

a. 21,8–10; 27–29; 37–38; 42,10–12; vgl. ferner 40,7–12. ähnliche Vorstellungen vgl. z. B. Jes 34,2.6; Ez 39,17–20; Zef 1,7–9.

9 Für

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ning and Grammar, CBQ 57 (1995) 451–470. M. Häusl, Bilder der Not. Weiblichkeits‑ und Geschlechtermetaphorik im Buch Jeremia (HBS 37), Freiburg i. Br. 2003. M. Kartveit, Rejoice, Dear Zion! Hebrew Construct Phrases with „Daughter“ and „Virgin“ as Nomen Regens (BZAW 447), Berlin 2013.

Nach dem doppelten Gang durch den Kriegsverlauf vom Aufmarsch bis zur Niederlage Ägyptens schreitet die dritte Strophe Vv. 11–12 fort, indem sie die Lage des Verlierers in den Blick nimmt. Sofern 8a tatsächlich auf einen Nachtrag zurückgeht (s. z. St.), vollzieht die Anrede als Jungfrau, Tochter Ägypten (11b) die einzige namentliche Identifikation der Materie des ersten Ägyptengedichts. Wenn Jeremia dem Namen des Landes das Wort Tochter voranstellt, nutzt er eine Form der weiblichen Personifikation ethnisch-politischer Größen, die von traditionsgeschichtlichen Vorläufern in altorientalischen Stadtklagen herrührt, bedingt durch den Umstand, dass Städte weiblich konnotiert waren und grammatisch das feminine Genus trugen. Dem entsprach als mythologisches Korrelat der Glaube, dass die Städte dem Schutz von Stadtgöttinnen unterstünden, die faktisch ihre numinosen Hypostasen bildeten. In außerbiblischen Quellen bezeichnen Konstruktusverbindungen des Typs Tochter von [Ortsname] solche Stadtgöttinnen. Im AT hat die Ausdrucksweise ihre polytheistischen Implikationen abgestreift und ihre Funktion gewandelt von der Angabe einer lokalen Zugehörigkeit (wie laer"f.yI %l,m, der König von Israel) zu einer solchen, die der Appositionsverbindung analog ist (wie laer"f.yI #rhi bzw. ynIa] dqepo (siehe,) ich züchtige18 und das Thema des falschen Vertrauens19 sind typisch für die individuellen Prosaorakel aus frühnachexilischer Zeit. Derselben Schicht entstammt das Orakel über Hofra (s. zu V. 17) in 44,30, das den Tod dieses Pharaos im Gefolge eines Putsches seines Generals Amasis zum Erweiszeichen für Unheilsansagen an die Adresse der judäischen Ägyptenemigranten erhebt (s. z. St.). Demnach dürfte auch hier Hofra gemeint sein, selbst wenn sein Name nicht fällt. Die Worte die auf ihn vertrauen schließen den Unterstützerkreis des Herrschers in die Unheilsansage ein. Der Zusatz dürfte 18 11,22; 19 28,15;

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23,2; 29,32; 44,29; 50,18; Kon 112. 29,31; 39,18.

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auf den weiteren Verlauf der babylonisch-ägyptischen Konfrontation reagieren: Trotz der von Jeremia laut V. 13–24 angekündigten babylonischen Unterwerfung Ägyptens waren beide Feldzüge Nebukadnezzars in den Jahren 601/0 und 568 gescheitert, doch immerhin war Hofra 567 gewaltsam ums Leben gekommen. Der Einschub in seiner alexandrinischen Fassung verengt die Zielgruppe des zweiten Ägyptengedichts auf Hofra und seine Getreuen und beansprucht ihren Untergang als die Erfüllung des Orakels; zudem prangert er nochmals die früheren Hoffnungen auf ägyptischen Beistand in den judäischen Führungskreisen an (s. zu 37,5–8). Die Invektive gegen den ägyptischen Obergott Amon verschärfte den religionspolemischen Akzent des Vortextes (vgl. 15a AlT). In der prämasoretischen Phase versah ein Ergänzer den Anhang mit einer feierlichen Einleitung (25a) und steigerte die interreligiöse Polemik abermals, indem er die Reichweite der Unheilsprophetie auf sämtliche Götter Ägyptens ausdehnte (25b). Obendrein bezog er alle Könige des Landes ein. Ferner deutete er durch die zusätzliche Nennung Nebukadnezzars (26a) an, wie die Ansage in seinen Augen in Erfüllung gegangen war, was seinen geringen Kenntnisstand und mithin seinen Abstand von den tatsächlichen historischen Abläufen beleuchtet. Der Schlusssatz verheißt für die Zukunft die Wiederbesiedlung Ägyptens (26b) und zieht damit der Gültigkeit der vorangehenden Untergangsansagen20 eine vage zeitliche Grenze. Auf Buchebene ist die Heilszusage durch das alternativ formulierte Orakel über die Nachbarvölker Israels 12,14–17 konditioniert: Sie gilt nur, sofern die Anrainer sich nicht mehr am Landbesitz Israels vergreifen, eine Bedingung, die der Ergänzer im Falle Ägyptens offenbar als erfüllt ansah. So führte er nach der Niederlage des Nillandes auch dessen Fortbestand auf den expliziten Willen Jhwhs zurück (ähnlich für Ägypten Ez 29,13–16; für andere Völker in Jer: 49,39; 49,6 MT).

Literatur: E. Peels, ‚But Fear not, O Jacob my Servant!‘. Place and Function of the Salvation 27–28 Oracle Jeremiah 46:27–28 MT, in: K. van Bekkum (u. a., Hg.), Biblical Hebrew in Context (FS J. P. Lettinga; OTS 74), Leiden 2018, 114–129.

Dem Ägyptenorakel ist eine Heilsweissagung für Jakob/Israel angehängt, die gattungsmäßig aus ihrer Umgebung herausragt und prämasoretisch unter geringfügiger Abwandlung in die Trostschrift kopiert wurde, wo sie besser in den Kontext zu passen scheint, wenn man ihren adversativen Auftakt vernachlässigt (30,10–11). Wie allerdings oben in den Ausführungen zur Textgenese begründet, hat das Gedicht hier seinen originalen Ort im Buch, und zwar im Rahmen des alexandrinischen Arrangements der Fremdvölkersprüche, wo es zwischen den Drohungen gegen Ägypten (AlT 26,2–25) und Babylon (AlT 27–28) eingefügt worden ist. Dort schließt es – wie auch noch in MT – durch hT'a;w> du aber an die Ägyptenorakel an, um den Kontrast herauszustreichen zwischen dem Untergang, der dem Land am Nil beschieden ist, und der für Jakob bestimmten Rettung. Die Hauptfunktion des Einschubs bezieht sich aber auf die Prophezeiungen über Babel, die in AlT nachfolgen. Vor deren Ergehen soll das Trostwort für Jakob/Israel betonen, dass das mesopotamische Imperium im 20  Vgl. auch 28cd und 43,8–13; 44,29–30. Wenn ferner 42,15–22 und 44,12–14.27–28 den judäischen Ägyptenemigranten mehrfach den Untergang durch Schwert, Hunger und Seuche prophezeien, lässt sich dies als implizite Unheilsansage über ihr Gastgeberland lesen, auf dessen Boden die Plagen ihren Lauf nehmen werden.

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Dienste von Israels Heil zugrunde geht. Infolgedessen reichern die beiden Einheiten in AlT ihre Sinnpotenziale gegenseitig an: Die Jakob zugesagte Rettung durch Heimführung aus dem Exil konkretisiert sich im Sturz Babylons, und das Ende des babylonischen Reiches wird von Jhwh mit dem Ziel der Rettung Israels herbeigeführt. Dieses Konzept bekräftigt die auch in den Babelworten verankerte Vorstellung, dass der Kollaps der babylonischen Macht den Exilanten das Tor zur Freiheit aufstößt.21 Ein Analogon zur Vorschaltung von 46,27–28 vor das Babelorakel bildet die Heilszusage Jes 14,1–3, die sekundär dem Spottlied auf den König von Babel in V. 4–21(23) vorangestellt wurde. In MT sind die Heimkehrverheißungen für Israel in den Fremdvölkersprüchen aufgespalten und je zu Teilen nahe an die Ränder des Korpus gerückt worden. Das verwandelte sie angesichts ihrer konkreten Positionen nicht in einen Rahmen des Buchteils, bedingte aber, dass die angekündigten katastrophalen Kriegsereignisse stärker im Zeichen eines heilvollen Ausgangs für das Gottesvolk stehen. – Zur Einzelexegese des Trostworts s. zu 30,10–11.

 50,4–5.8.19.34; 51,6.9–10.45.50.

21

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Philister 1  a  [Was als Wort Jhwhs an den Propheten Jeremia erging] über die Philister, ​ b [bevor der Pharao Gaza schlug:] 2 a So spricht Jhwh: b Siehe, Wasser schwillt an von Norden her c und wird zum überflutenden Bach; d es überflutet das Land und was es erfüllt, die Städtea und ihre Bewohner. e Dann werden die Menschen schreien, f und heulen wird jeder Bewohner des Landes 3 a vor dem Lärm vom Stampfen der Hufe seiner Hengste, (AlT: vor dem Lärm seines Stampfens, vor den Hufen seiner Hengste,) vor dem Dröhnen seiner Wagen, dem Rasseln seiner Räder. b Väter wandten sich nicht mehr um nach den Söhnen, die Arme erschlafft, 4 a wegen des Tages, der da kommt, um alle Philister zu vernichten, um auszurotten für Tyrus und Sidon den letzten Helfera. b Denn Jhwh vernichtet [die Philister], den Rest von der Insel Kaftor (AlT: der Gebiete in Übersee). 5 a Kahlgeschoren ist Gaza,a b zum Verstummen gebrachtb ist Aschkelon. c Rest der Anakiter, bis wann musst du dich noch wundritzen? 6 a [Wehe,] Schwert Jhwhs, b wie langea noch willst du keine Ruhe geben? c Fahr zurück in deine Scheide, e  und sei still! d halt ein ​ 7 a Wie sollte esa Ruhe geben, b wo Jhwh ihm doch den Befehl gab? c Gegen Aschkelon und die Meeresküste – dort hat er es hinbeordert. 2 a Im Hebr. Singular. 4 a Wörtl. jeden helfenden Entronnenen, d. h. jeden Überlebenden, der helfen könnte. 5 a Wörtl. Kahlköpfigkeit ist über Gaza gekommen. b Oder: ausgetilgt. Über die Zuordnung zu hmd II verstummen oder III vernichten lässt sich nicht entscheiden. 6 a hn"a'-d[;

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kann auch bis wohin? bedeuten, bezeichnet also sowohl die zeitliche als auch die örtliche Erstreckung. 7 a Mit AlT; MT: du.

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Auf ihrer West-Ost-Route machen die Fremdvölkerorakel in MT den zweiten Halt bei den Philistern, die als westliche Nachbarn Judas die südpalästinische Küstenebene von den Ausläufern des palästinischen Höhenrückens bis zum Mittelmeer und vom Fluss Jarkon (auf der Höhe von Tel Aviv) bis zum sog. Bach Ägyptens (Wādi l-ʽArīš) bewohnten. Diese indogermanischen Einwanderer haben sich dort im 12. Jh. als städtische Elite etabliert. Ihre ursprüngliche Heimat wird in der Ägäis oder in Südwestanatolien verortet. Sie waren Teil einer Immigrationswelle, die als der sog. Seevölkersturm bekannt ist, im östlichen Mittelmeerraum mit heftigen Zerstörungen und politischen Umwälzungen einherging und wahrscheinlich durch den Übergang zu einem trockeneren Klima verursacht war. Im atl. Israel erinnerte man sich, dass die Philister aus Kaftor (rATp.K;) gekommen seien (4b MT; Am 9,7), das meist mit Kreta oder Zypern identifiziert wird, vielleicht aber auch in Anatolien zu suchen ist. Entsprechend heißen sie auch Kaftoriter (Gen 10,14 || 1 Chr 1,12; Dtn 2,23) und Kereter bzw. Kreter (ytirEK.; 1 Sam 30,14; Ez 25,16; Zef 2,5). Die philistäische Kultur zeigt mykenische, ägäische, minoische und zyprische Einflüsse, glich sich jedoch zunehmend lokalen levantinischen Mustern an. Zur Zeit Jeremias sprachen die Philister eine semitische, dem Hebräischen sehr ähnliche Sprache. Politisch waren sie in fünf Stadtstaaten organisiert, der sog. philistäischen Pentapolis (Jos 13,3; 1 Sam 6,16–18): Aschdod, Aschkelon, Gaza, Ekron sowie Gat, dessen Zerstörung im späten 9. Jh. (vgl. 2 Kön 12,18) die Konföderation zur Tetrapolis schrumpfen ließ (Jer 25,20; Am 1,6–8; Zef 2,4; Sach 9,5–7). Namentlich der Simsonzyklus (Ri 13–16), 1 Sam und Ez 25,15–17 zeichnen die Philister als die Erzfeinde der Israeliten. Militärischer Druck von ihrer Seite förderte am Ende des 2. Jahrtausends die Zentralisierung der israelitischen Herrschaft im Königtum Sauls (1 Sam 13–31), während David sich mit ihnen arrangieren konnte und sogar eine philistäische Söldnertruppe besessen haben soll (die „Krethi und Plethi“ 2 Sam 8,18 u. ö.). Danach verlautet im AT weniger von solchen Konflikten. Laut 2 Kön 18,8 soll Hiskija erfolgreich militärische Konflikte mit den Philistern ausgetragen haben. Für die Israeliten manifestierte sich die Andersartigkeit ihrer südwestlichen Nachbarn v. a. in der fehlenden Beschneidung (Ri 14,3 u. ö.). Die politische Macht der Philister erlosch, als Nebukadnezzar 604/3 ihre Zentren verwüstete. Archäologisch dokumentiert sind die massiven Zerstörungen von Aschkelon (s. zu V. 7) und Ekron; weniger eindeutig ist der Befund in Aschdod (vgl. die Kontroverse zwischen Finkelstein und Singer-Avitz einerseits sowie Ben-Shlomo und Ga 667

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andererseits). Zum Schicksal Gazas sind mangels geeigneter Ausgrabungsbefunde nur Mutmaßungen aufgrund von Analogieschlüssen möglich. Jedenfalls existierten laut dem sog. Murašu-Archiv1 im 5. Jh. bei Nippur südöstlich von Babylon Siedlungen von Philistern, deren Vorfahren von den Babyloniern aus den Städten Aschkelon und Gaza deportiert worden waren. – Weitere Unheilsworte gegen die Philister finden sich in 25,20; Jes 11,14; 14,28–32; Ez 25,15–17; Joël 4,4–8; Am 1,6–8; Ob 19; Zef 2,4–7; Sach 9,5–7; Ps 60,10 || 108,10.2

Textgenese und Gliederung Die Überschrift V. 1 hatte ehemals nur die im alexandrinischen Text erhaltene Kurzform ~yTiv.liP.-la, Über die Philister, wie es bei den Fremdvölkersprüchen ursprünglich die Regel war (s. zur Textgenese von 46,2). Nach Abspaltung der alexandrinischen Texttradition wurde sie erweitert zu einer Wortereignisformel in Gestalt eines rv,a]-Zitateinleitungssatzes, wie sie ausschließlich im masoretischen Jeremiabuch vorkommt (1a; noch 14,1; 46,1; 49,34). Ferner hat man eine Datierung beigegeben, die die angekündigte Verwüstung des Philisterlandes von den – nach den Regeln des Babelschweigens ungenannten – Babyloniern auf die Ägypter übertrug, indem man die feindliche Invasion mit einer ägyptischen Eroberung Gazas verband (1b; s. z. St.; TK). Mutmaßlich auf dieselbe literarische Ebene wie die originale Überschrift in 1a gehört die prophetische Botenformel 2a, die – wie später nochmals die Wortereignisformel in 1a – das folgende Orakel als Gottesrede deklariert, obwohl es konstant von Jhwh wie von einem Dritten spricht (4b.6a.7bc). Innerhalb des Gedichts 2b–7 lassen sich, von geringfügigen prämasoretischen Retuschen abgesehen, keine Textentwicklungsprozesse nachweisen. Das Gedicht ist aus konzeptionellen und sprachlichen Gründen mit hoher Sicherheit Jeremia zuzuschreiben. Es befolgt wie der Zyklus vom Feind aus dem Norden und die meisten anderen Fremdvölkersprüche das Babelschweigen, indem es den Angreifer nicht beim Namen nennt, sondern lediglich als von Norden her (!ApC'mi 2b) anrückend identifiziert. Ferner erhebt es gegen die Philister keine Vorwürfe; namentlich ist nichts zu verspüren von dem Vergeltungsbedürfnis, das in Ez 25,15–17 laut wird und aus den Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Untergang des judäischen Staates gespeist ist. Dazu kommen mehrere für die Poesie des Jeremiabuches typische, gattungsübergreifende Sprachmerkmale: Die Phrase Hb' ybev.yOw> ry[i Ha'Alm.W #rK; hz dann werden die Menschen schreien könnte das kollektive Subjekt mit seinem pluralischen Prädikat die ganze Menschheit meinen; ähnliches gilt für 2f #r[;)2 und ziehen somit die Grenze des moabitischen Siedlungsraums weit nördlicher. Von denselben Verhältnissen gehen die Moabsprüche in Jes 15–16 und Jer 48 aus. Unter diesen territorialen Prämissen ist ein Großteil der Wüstenwanderungsstoffe in Moab lokalisiert: Nachdem Num 10,11–13 den Aufbruch der Israeliten aus der Wüste Sinai vermeldet hat, erreichen die Marschierer in Num 22,1 die Steppen von Moab, um in Schittim zu lagern (Num 25,1), von wo aus sie laut Jos 3,1 den Jordan überschreiten und in das Verheißungsland eindringen. Historisch diskutable Nachrichten von den Beziehungen zwischen Israel und Moab beginnen mit den Notizen, wonach David dem Nachbarland Tribute auferlegt habe (Num 24,17?; 2 Sam 8,2.12), obwohl er in seiner Frühzeit als Bandenchef auch freundschaftliche Beziehungen dorthin gepflegt haben soll (1 Sam 22,3–4). Die Stele des Königs Mescha aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts bestätigt die alte Verwurzelung der Moabiter nördlich des Wādi el-Mōğib, denn ihr Auftraggeber stammte aus und residierte bei Dibon nördlich des Arnon. Wie er auf seinem Gedenkstein rühmend hervorhebt, hatte der von den Omriden regierte Nordstaat Israel zeitweilig Gebiete auf dem Mischor okkupiert, doch Mescha konnte die Fremdherrschaft abschütteln (vgl. 2 Kön 1,1; 3,4–5) und in den Städten der Region größere Baumaßnahmen durchführen. Dabei führt sein Tatenbericht zahlreiche Ortslagen auf, die auch in Jer 48 erwähnt sind (Nebo 1c.22; Kirjatajim 1f.23; Dibon 18b.22; Aroër 19b; Jahaz 21[korr.].34a; Bet-Diblatajim 22; Bet-Meon 23; Bozra 24; Kerijot 24). Sofern gegen Ende der Inschrift, wie zumeist angenommen, die Stadt Horonajim (3a.5b.34b) erwähnt ist, konnte Mescha auch nach Süden vordringen und so jenen Raum einnehmen, der im AT als moabitisches Kernland gilt. Am Ende der moabitischen Expansion stand jener Zustand, der vom AT faktisch vorausgesetzt wird. Mit den übrigen Ländern der Levante geriet Moab 732 in assyrische und 605 – nach der Schlacht bei Karkemisch (s. zu 46,2) – in babylonische Vasallität. Laut 27,3 zählte Moab zu den Staaten der Region, die 594/3 mit Zidkija in Jerusalem die Chancen eines Aufstands erörterten (s. z. St.). Josephus zufolge (Ant. 10.9.7, § 181 f.) beendete ein Feldzug Nebukadnezzars 582 die Staatlichkeit des Landes – sofern die Nachricht nicht einfach aus Jer herausgesponnen ist (Tyson). Der Hauptgott Moabs war Kemosch, wie aus der Mescha-Stele und anderen Quellen hervorgeht. Im AT wird er als Gott Moabs bezeichnet (48,13; 1 Kön 11,7.33; 2 Kön 23,13),3 und umgekehrt heißen die Moabiter das Volk des Kemosch (MT 48,46 || Num 21,29), analog der Weise, wie sich Israel als Volk Jhwhs versteht.4 Nach den militärischen Machttaten, die Kemosch in der Mescha-Stele zugeschrieben werden, war er 2 Num 22,1; 26,3.63; 31,12; 33,48–50 u. ö.; vgl. auch die Lokalisierung von Moses Abschiedsrede in Moab Dtn 1,1–5 (V. 5); 28,69 sowie ferner Ri 3,28. 3 Ri 11,24 verbindet Kemosch mit Ammon. 4 Ex 15,16; Num 11,29; 17,6; Ri 5,11 u. v. a.

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ebenso ein Gott des levantinischen Hadad-Typus, zuständig für Wetter, agrarische Fruchtbarkeit und Krieg, wie (ursprünglich) Jhwh, der ammonitische Milkom (s. zu 49,1–6) und der edomitische Qaus/Qôs (s. zu 49,7–22).5 Daneben kommen in theophoren moabitischen Namen weitere levantinische Gottheiten vor. Gottesworte gegen die Moabiter finden sich auch in 9,24–25; 25,21; Jes 11,14; 15–16 (dazu s. u.); 25,10–12; Ez 25,8–11; Am 2,1–3; Zef 2,8–11; Ps 60,10 || 108,10.6 Im Übrigen ist das Bild der Moabiter im AT gespalten. Neben zum Teil heftiger Moab-Polemik7 steht das Buch Rut mit seinem freundlichen Blick auf das Nachbarland.

Textgenese und Gliederung Das Moabkapitel ist mit 47 (MT) bzw. 44 (AlT) Versen nach den Babylonorakeln die umfangreichste Einheit, die die Fremdvölkersprüche in Jer einem einzelnen Volk widmen. Im Vergleich zur nächstkleineren Komposition – den Ägyptenworten in Jer 46 mit 25/24 Versen – und auch gegenüber dem Philisterkapitel 47 ist es anders geartet, insofern es keinen Handlungsbogen oder ‑fortschritt erkennen lässt. Es betreibt auch nicht einfach Ankündigung wie die Orakel über Ammon (49,1–6), Kedar und Hazor (49,28–33) sowie Elam (49,34–39), sondern pendelt ohne ersichtliche Regel bei geringem Kennzeichnungsaufwand zwischen den Sprechern und Zeitebenen, indem es Unheil androht, aber auch Not beklagt, die als bereits eingetreten gilt. Dazu ist der poetische Text mit prosaischen Passagen durchsetzt (v. a. Vv. 13.21–24.26–27.34–39). So stellt sich Jer 48 ähnlich der Edomkomposition (49,7–22) und den Babylonworten (50 f.) als eine Anthologie von Einzelsprüchen und Bruchstücken dar, die nicht immer klare Grenzen aufweisen und allenfalls nach vagen Ordnungsprinzipien aneinandergereiht sind. Formale Eigenarten heben drei größere Segmente voneinander ab: (1.) Die Vv. 1–9 behandeln Moab grammatisch als feminin. Nach der Fluchsentenz V. 10, die auf Moab keinen Bezug nimmt, wechselt der Text (2.) ab V. 11 für Moab zum Maskulinum. (3.) Die Vv. 29–47  – ungefähr das letzte Drittel des Kapitels  – ragen heraus, indem sie fast durchgehend Parallelen besitzen, und zwar zumeist außerhalb des Buches, darin der dritten Spruchsequenz in Kap. 50 ähnlich (Vv. 35–46):8 Die Vv. 29–38a stehen Jes 15,2–7 und 16,6–11/12 aus den Moabsprüchen des Jesajabuches sehr nahe, freilich bei stark abweichender Reihenfolge der Bestandteile (vgl. allerdings schon 4b–5 || Jes 15,5). Die Vv. 40–41 wurden prämasoretisch um variierte Anleihen aus Jer 49,22 erweitert. Die Vv. 43–44b stimmen hochgradig mit Jes 24,17–18 überein. Der masoretische Überhang V. 45–46 ist weitgehend identisch mit Num 21,28–29 5  Vgl. auch 2 Kön 3,27, wo nach dem Sohnesopfer des Moabiterkönigs eine numinose Zornesmacht die israelitischen Streitkräfte zum Abbruch der Belagerung der moabitischen Residenzstadt Kir-Heres (V. 25) zwingt. Dabei kann es sich nur um die anonymisierte Form einer Überlieferung handeln, die ursprünglich von Kemosch sprach. 6  Vgl. allerdings auch unten S. 706 Anm. 17. 7 Gen 19,30–38; Ex 15,15; Num 22–24; 25,1–5; Dtn 23,4–7; Ri 3,12–30; 2 Kön 1,1; 3,4–27; 13,20–21; 24,2; 2 Chr 20,1–30; Esr 9,1; Neh 13,1–2.23; Ps 83,7; Sir (hebr.) 36,12; Jdt 5,22–24; 7,8–15. 8  Eine Synopse der Parallelen zu Jer 48 bietet H. Wildberger, Jesaja. 2. Teilband: Jesaja 13–27 (BK 10.2), Neukirchen-Vluyn 1978, 607–609.

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und 24,17g. Diese Besonderheit des Schlussteils ist allerdings bloß deshalb erkennbar, weil uns die Parallelen vorliegen, während wir umgekehrt nicht wissen, ob die vorausgehenden Stücke ebenfalls auf Vorbildern fußen. Darüber hinaus tritt im dritten Segment ständig das Ich Jhwhs hervor (vgl. V. 29–32.35.36ab.38b.44c.47a), was zuvor nur in 12b geschieht, ein Merkmal, das den dritten Abschnitt sowohl von den Vv. 1–28 als auch von seinen Parallelen abhebt. – Einen Anhang bildet der allein in MT bezeugte Schlussvers mit der Restitutionsverheißung für Moab 47a nach dem Muster von 49,39, gefolgt von der Unterschrift 47b. Die kleinteilige Stückelung auf der Mikroebene ist im Zuge der Auslegung zu erläutern. Verbindendes Thema ist die Invasion Moabs durch einen anonymen Verwüster (ddEvo 8a.15a*.18c.32d), hinter dem nur aufgrund verschwommener Indizien die Babylonier aufscheinen. So deutet die Aufzählung eroberter Städte grob eine Nord-SüdRichtung der Vorstöße an (1c–5.18–20), allerdings ohne dass das Stichwort Norden wie in den Sprüchen vom „Feind aus dem Norden“ fiele. Die Gegner sind derart übermächtig, dass die Moabiter ihnen wehrlos ausgeliefert sind und panisch die Flucht ergreifen. Die Ansage auch du wirst erobert werden 7a lässt durchblicken, dass die Eindringlinge noch weitere Völker in der Region überrollen. Ferner wird Moab angedroht, es müsse in die Verbannung (hl'AG 7b.11d) ziehen, dem Ausdruck für Deportationen großen Stils, was als Gegner eine Großmacht voraussetzt, die zu solchen Maßnahmen imstande war. Obendrein kündigt die Unheilsansage des sog. Küferspruchs (Vv. 11–12) in 12bc unter metaphorischem Schleier die Verschleppung an. Bei alldem beschränkt sich die Schilderung des Krieges jedoch nahezu ausschließlich auf die moabitische Seite, während Bilder der Invasoren nach Art von 46,18.22–23; 47,2–3 fehlen. Von dem Verwüster wird nur gesagt, dass er kommt (8a), heraufzieht (15b*.18c) und herfällt über (32d); den Moabitern läuft das Schwert hinterher (2f); die Eroberer haben ihre Ausrottung geplant (2b–d). Mithin ist das Porträt der Angreifer gerade konkret genug, um auf die Babylonier hin durchsichtig zu sein, sodass das Babelschweigen noch konsequenter gehandhabt wird als in Jer *46–47.

Gehört schon das Babelschweigen zu den Kennzeichen jeremianischer Unheilsprophetie, untermauern überdies zahlreiche sprachliche Eigenheiten, dass das Kapitel im Wesentlichen von Jeremia stammt, und zwar einschließlich der Parallelen mit dem Jesajabuch. 1cd Abn>-la, yAh hdDvu yKi hat das einzige Gegenstück in 4,13 Wnd>Dvu yKi Wnl yAa. 1f–h bG"f.Mih; hv'ybiho ~yIt'y"r>qi hd"K.l.nI hT'x'w" enthält eine Kollokation der Verben vwb und dkl (1fg), die sonst nur in 8,9 und 50,2 vorkommt. Dazu werden vwb und ttx verbunden (1gh), wie es auch in hT'x;-yKi ba'Am vybiho 20ab und vAB ba'Am @r Wkl.] h['r" h'yl,[' gruppiert die Verben bvx und trk zusammen, wie dies einzig in 11,19 wiederkehrt. Einen Satzbau wie 6c rB'd>MiB; r[eAr[]K; hn"yy verwenden sonst nur 14,8 und 17,6. Die Vorstellung, dass Götter in die Verbannung ziehen, wie ausgesprochen in 7b ac'y"w> Q wyD"x.y: wyr"f'w> wyn"h]Ko hl'AGB; QvAmk., kennt das AT nur noch in der Parallele 49,3 AlT. Die Struktur der zweiten Hälfte der Phrase mit Nomen (Plural) + w + Nomen (Plural) + wD"x.y: ist eine exklusive Besonderheit der Poesie des Buches (6,12.21; 13,14; MT 31,13). Die ungrammatische Figura etymologica aceTe acon 9b ist als Verschreibung aus hC,ti hcon* zu werten, gebildet von hcn II, das zu den Kennzeichen der Poesie des Buches zählt (2,15; 4,7; 9,11; 46,19; sonst 2 Kön 19,25). 9c !yaeme !heB' bveAy hat – unter Einschluss der Präpositionalverbindung – seine einzige Parallele in 4,29

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(vgl. 50,3). 14ab Wnx.na] ~yrIABGI Wrm.aTo %yae variiert 8,8 Wnx.n:a] ~ymik'x] Wrm.ato hk'yae. 16a ~Ay\dyae bArq' aAbl' ba'Am enthält die Junktur von dyae und awb, die außerhalb der jeremianischen Fremdvölkersprüche (46,21; 49,8.32) nur in der Weisheitsliteratur belegt ist (Ijob 21,17; Spr 6,15). Die Konstruktusverbindung aus dyae und Eigenname ist eine Spezialität des Korpus (auch 49,9). 17c hk'yae hr"a'p.Ti lQem; z[o-hJem; rB;v.nI ist strukturidentisch mit 49,25 yfiAfm. ty:r>qi hL'hiT. ry[i hb'Z>[u-al{ %yae kraft der Sequenz hk'yae / %yae (+ Negation) + verbales Prädikat im Passiv + Subjekt als Konstruktusverbindung + Apposition als Konstruktusverbindung. In 18cd %yIr"c'b.mi txevi %b' hl'[' ba'Am ddEvo folgen die Verben hl[ und txv eng aufeinander, was im AT an sich nicht selten ist, doch wie hier mit nur einem Wort Abstand (nach Spatien gezählt) geschieht dies sonst nur in 5,10ab und 6,5bc. 19a–c hj'l'm.nIw> sn"-ylia]v; r[eAr[] tb,v,Ay yPic;w> ydIm.[i %rqi jeweils yBili benutzt und am Ende hm,h/y< hinzugefügt wird. So entsteht zweimal die Kombination von ble mit dem Prädikat hmh, die sonst einzig in 4,19 belegt ist. Unter den Divergenzen von den Jes-Parallelen begegnen also auf engem Raum mehrere Formulierungen, die die jeremianische Poesie kennzeichnen. Hierzu kann man auch noch die jeremianischen Merkmale rechnen, die in 38bc und 39d auftreten, also innerhalb von 38b–39, wo Jeremia mit Eigenbildungen die Komposition Vv. 34–39 abschließt, die zuvor von Anleihen bei Jes 15–16 dominiert wird. Zu V. 40–42 ist festzuhalten, dass 42a ~['me ba'Am dm;v.nIw> den Untergang Moabs als Volk mit einer Konstruktion ankündigt, die mit 2d yAGmi hN"t,yrIk.n:w> parallel geht und sonst nur in Jes 7,8 und Ps 83,5 bezeugt ist; ferner ist 42b identisch mit 26b.

Daher ergibt sich: Ähnlich den anderen Fremdvölkersprüchen des Buches, vom Elamgedicht und dem Großteil der Babylonworte abgesehen, enthält das Moabkapitel eine dichte Kette sprachlicher Eigenarten, die es über Gattungsgrenzen hinweg mit der übrigen Poesie des Buches verklammern. Die betreffenden Merkmale sind meist 683

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recht unauffällig und teilweise sogar nur von struktureller Art, sodass sie nicht zur planvollen Nachahmung zwecks Markierung literarischer Verweise taugen. Wer auf die Erkennbarkeit sprachlicher Querbezüge Wert legte, hätte zu deutlicheren Signalen gegriffen, wie es etwa in der deuterojeremianischen Tradition zu beobachten ist. Folglich müssen die sprachlichen Klammern spontan entstanden sein, wie es allein bei jenem Autor zu erwarten ist, der auch die Gegenstücke geschaffen hat. Dafür kommt einzig Jeremia in Frage. Der beschriebene Befund gilt auch für die Gemeinsamkeiten mit Jes 15–16, wo das für die Poesie Jeremias typische Vokabular nur im Eigengut der Jer-Fassung auftritt. Demnach darf das Moabkapitel weit überwiegend als authentische Schöpfung des Propheten gelten, einschließlich der Parallelen zum Jesajabuch. Laut den sprachlichen Indizien war es Jeremia selbst, der die auch in Jes dokumentierten Sprüche über Moab aufnahm und ihnen seine charakteristische Sprachfärbung verlieh. Der Prophet praktizierte damit ein Verfahren der Aneignung, das in seiner Welt üblich war, wie die Tatsache bestätigt, dass später auch Stücke aus jeremianischen Unheilsorakeln gegen Jerusalem, Edom und Damaskus unter geringer Modifikation auf Babylon umgewidmet wurden9 (s. Einleitung zu den Fremdvölkersprüchen). Unter solchen Bedingungen braucht Jes 15–16 auch keineswegs die einzige Version gewesen zu sein, in der die betreffenden Sprüche umliefen, weswegen nicht vorausgesetzt werden kann, dass Jeremia für seine Moabgedichte eine Vorform des Jesajabuchs konsultierte. Doch jedenfalls benutzte er eine Fassung, die der Ausgabe in Jes ähnelte (dieser Vorbehalt ist im Folgenden immer mitzuverstehen, wenn von Anleihen bei Jes die Rede ist). Außerdem hat Jeremia seine Vorlage eher aus dem Kopf verwendet und seinen eigenen Aussagezielen angepasst, denn anders lassen sich die zahlreichen Umstellungen und Abweichungen im Detail kaum erklären. Dass Jeremia im Rezeptionsvorgang den empfangenden Part spielte, zeigen neben seinem Idiolekt noch weitere Merkmale an. Jer 48 ist mit 47 (MT) bzw. 44 (AlT) Versen etwa doppelt so umfangreich wie Jes 15–16 mit insgesamt 23 Versen, von denen 13 Verse verschiedengradig ausgeprägte Parallelen in der Jer-Ausgabe haben, nämlich Jes 15,2–7 und 16,6–12. Auffälligerweise fehlen Gemeinsamkeiten zwischen Jer und den wahrscheinlich jüngeren Stücken Jes 16,1–5.13–14 (vgl. die Kommentare zu Jes). Reduziert man den Vergleich auf den älteren Bestand von Jes 15–16, ergibt sich, dass 13 von 16 Versen (d. h. mit Ausnahme von 15,1.8–9) Schnittmengen mit Jer 48 besitzen. Umgekehrt gilt: Von der Parallele Jer 48,4b–5 || Jes 15,5 abgesehen, beschränken sich die Übereinstimmungen mit Jes 15–16 auf Jer 48,29–38a innerhalb des dritten makrostrukturellen Segments, das weitgehend aus Parallelen zu anderen atl. Passagen besteht. Schon dieser Befund beweist die Priorität von Jes *15–16, denn es ist zwar gut vorstellbar, dass jemand bei Abfassung von Jer 48,1–28 in freier Auswahl, Reformulierung und Neuarrangement aus Jes 15–16 schöpfte. Dagegen fragt man sich, warum ein Autor seine Anleihen aus Jer 48 neben den Vv. 4b–5 auf den Block 29–38a begrenzt haben sollte.  50,30 || 49,26; 50,40 || 49,18; 50,41–43 || 6,22b–24; 50,44–46 || 49,19–21.

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Zusätzliche Indizien untermauern den Vorrang der Moab-Orakel im Jesajabuch. In Jer 48,29–39 liegt durchgehend Jhwh-Rede vor: In 30a MT und 35.38c ist sie per Gottesspruchformel explizit als solche ausgewiesen, und in 33b sowie 35 schreibt sich der Sprecher Handlungen zu, die nur Jhwh offenstehen. In 29a beginnt MT zwar wie Jes 16,6 mit der pluralischen Lesart Wn[.m;v' wir haben gehört, doch ist hier wahrscheinlich der alexandrinische Singular ich habe gehört vorzuziehen, der den Satz als Gottesrede kennzeichnet, was die singularische Fortsetzung in V. 30 bestätigt. Weiterhin divergieren die Vv. 29–38a von ihren Korrespondenzgliedern in Jes durch mehrere Fälle der 1. Person Singular, die das göttliche Ich repräsentieren; so in den Vv. 30a (vgl. Jes 16,6), 31 (vgl. Jes 16,7), 33b (vgl. Jes 16,10 [korr.]) und 35 (vgl. Jes 16,12). Infolgedessen ist auch die 1. Ps Sg in 32a, die mit Jes 16,9 übereinstimmt, hier anders als dort eindeutig auf Jhwh bezogen. Jes 15,2–7 und 16,6–12 hingegen sind allein durch das letzte Wort von 16,10 als Gottesstimme markiert (yTiB;v.hi ich habe beseitigt; vgl. Jer 48,33b), allerdings wohl aufgrund einer textgeschichtlich sekundären Variante (BHS). Ferner ist die Götzenpolemik, eine Besonderheit der Fremdvölkersprüche in Jer (s. Einleitung), zwar auch in Kap. 48 mehrfach vertreten (Vv. 7b.13.35), doch fehlt sie in Jes 15–16, unter Einschluss von 16,12, wo ebenso wie in Jer 48,35 der moabitische Höhenkult zur Sprache kommt. Obendrein lassen die beiden Belege von !Ke-l[; deshalb in 48,36ac geeignete Verweisgrößen vermissen (s. z. St.), während ihre Gegenstücke in Jes 16,11 und 15,7 folgerichtig in ihre Kontexte eingebettet sind. Wäre daher Jes 15–16 die abhängige Größe, müsste der Verfasser mit Jer 48 höchst erstaunlich verfahren sein: Erstens hätte er, wie betont, ausschließlich von 4b–5 und dem Abschnitt Vv. 29–39 gezehrt. Zweitens hätte er aus seiner Vorlage die Merkmale der Gottesrede beseitigt und drittens auch noch treffsicher den jeremianischen Idiolekt getilgt. Viertens hätte er die Götzenpolemik vermieden, und zwar sogar dann, wenn er wie seine Quelle den moabitischen Höhenkult erwähnte. Fünftens hätte er für die unbefriedigend integrierten Fälle von !Ke-l[; deshalb in 36ac harmonische Kontexteinbettungen gefunden. Das ist ausgeschlossen. Demzufolge war es Jeremia, der die Anleihen bei Jes 15–16 bzw. einer älteren Fassung des Gedichts vorgenommen hat. Bestätigend kommt hinzu: Gegenüber Jes 15,4–6 ist V. 34 erheblich kürzer, und zwar derart, dass der Vers bei teilweise inkohärentem Wortlaut vor allem die Städte aus der Parallele aufzählt; deshalb haben der zweite Stichus von 15,4 und der zweite Stichus von 15,6 in Jer kein Pendant. Folglich muss V. 34 aus einer Vorlage nach Art von Jes 15,4–6 exzerpiert worden sein, während umgekehrt die Ausweitung von Jer zu Jes nicht plausibel zu machen ist. Nach alldem hat Jeremia in Kap. 48 vorliegende Materialien frei verarbeitet, indem er auswählte, rekombinierte und dem Ergebnis sprachlich wie sachlich seine Handschrift aufprägte. Deshalb ist auch nicht auszuschließen, dass mutmaßlich heterogene Stücke bereits von Jeremia aufgenommen, d. h. für den vorliegenden Kontext aus einer Quelle adaptiert wurden (allerdings kaum die prosaische Städteliste V. 21–24; s. z. St.). Neben dem Vergleich mit Jes 15–16 untermauern noch weitere Eigenarten, dass das Kapitel zwar zum Großteil auf Jeremia zurückgeht, aber gleichwohl keine literarische Einheit bildet. Zu nennen sind hier namentlich verschiedene grammatische Genera für Moab, der Mangel an einer übergreifenden Dramaturgie und sprunghafte 685

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Themenwechsel. Die Komposition versammelt eine Blütenlese von Gedichten und Prosastücken, die Jeremia entweder verfasste oder entlehnte und seinen Zwecken anglich, als er im Gefolge babylonischer Aktivitäten in der Levante auch Angriffe auf Moab erwartete. Jedenfalls gehören sie in den Zusammenhang von Jeremias Verkündigung zum Feind aus dem Norden. Obwohl weitgehend als Strafansagen für moabitische Hybris präsentiert, fallen sie möglichen judäischen Hoffnungen auf moabitischen Beistand gegen die Babylonier ins Wort, und dies dürfte der von dem Propheten angezielte Effekt gewesen sein. Später wurde das Material in einer Weise aneinandergereiht, die keinen Bedarf an Systematik erkennen lässt. Mehrere Besonderheiten und der Vergleich mit Moabsprüchen in anderen Büchern bestätigen, dass der vormasoretische Bestand im Wesentlichen vorexilisch entstanden ist: Jer 48 verrät noch keine Kenntnis von einer verheerenden Niederlage Judas, im Unterschied zu Ez 25,8; es fehlt der Vorwurf an die Moabiter, opportunistisch die Schwäche der besiegten Judäer auszunutzen, wie ihn Zef 2,8–10 erhebt, und Aussagen wie 16a der Untergang Moabs steht nahe bevor „sind ex eventu sinnlos“ (Huwyler 177). Nicht entscheiden lässt sich, ob bei der vorliegenden Fusion schon Jeremia selbst Hand anlegte, ob also der Prophet sein eigener Redaktor gewesen ist, oder ob ein Schüler dafür verantwortlich zeichnet. Die zusätzliche Botenformel in 40a deutet darauf hin, dass die Komposition nach einem vorläufigen Abschluss mit den Anleihen aus Jes 15–16 in V. 29–39 nachträglich verlängert wurde, und zwar gestuft, denn die Vv. 45–47 sind erst prämasoretisch hinzugetreten. Darüber hinaus hat das Kapitel noch ein paar weitere Interpolationen erfahren. Neben den bereits genannten prämasoretischen Zusätzen wurden in der Spätphase diverse kleinere, häufig konflationäre Einschübe angebracht, die die Textaussagen verstärken, aber kaum reakzentuieren, wie die Gottesspruchformel (25b.30a.43.44c; in erweiterter Form 15cd). Die MT-Version der synoptischen Passagen steht den Jes-Parallelen wiederholt näher als AlT, ist also geringfügig an die Jes-Fassung readaptiert worden, die demzufolge als Norm galt. Zu den ausgeprägten Besonderheiten der Moab-Gedichte gehört die offenbar mit Bedacht in die Höhe getriebene Anzahl geographischer Begriffe. So dienen die Vv. 21–24 (wahrscheinlich sekundär; s. z. St.) und 34 gezielt dem Zweck, die Komposition mit moabitischen Ortsnamen anzureichern. „Das Kapitel nennt die Namen von insgesamt nicht weniger als 23 Orten, dazu weitere geographische Bezeichnungen (qm,[eh' ‚das Tal‘ V. 8, rvoyMih; ‚die Fläche‘ V. 8.21), den Fluß Arnon sowie natürlich Moab selbst (34 mal)“ (Huwyler 151). Die Fülle der Toponyme konkretisiert die Drohung 8ab: Der Verwüster kommt über jede Stadt; keine Stadt wird entrinnen. Zu den Identifikationen der biblischen Namen mit heutigen Ortslagen s. Ga 172–188; S. Mittmann, G. Schmitt, Tübinger Bibelatlas. Auf der Grundlage des Tübinger Atlas des Vorderen Orients (TAVO), Stuttgart 2001, Karten B IV 6 (Nord‑ und Südteil); W. Zwickel, Calwer Bibelatlas, Stuttgart ²2007. – Zur Bestimmung von Ortslagen kann dieser Kommentar nur die meistvertretenen Vorschläge aufführen, während für Einzelabwägungen die Spezialliteratur heranzuziehen ist. Die Karte u. S. 708 soll den Überblick erleichtern. 686

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Erklärung Auf die Überschrift 1a und die prophetische Botenformel 1b folgt in 1c–9 Unheils- 1–9 prophetie über Moab, die das ostjordanische Volk grammatisch als Femininum behandelt. Nach einleitendem Weheruf (1c) und der Rückblende auf bereits eingetretene Verluste (1d–2d) schaut der Text kurz voraus in die Zukunft (2ef), bevor er Schlaglichter auf die panische Flucht der Moabiter aneinanderreiht (V. 3–6). Anschließend werden für die Zukunft weitere Niederlagen angekündigt (V. 7–8), die in der Verwüstung und Entvölkerung Moabs gipfeln sollen (V. 9). Indem das Stück den Blick insgesamt zielgerichtet von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft schweifen lässt, verrät es eine übergreifende Gestaltungsabsicht. Da es zudem keine Indizien enthält, die zur Annahme größerer Wachstumsprozesse nötigen, wird hier eine literarische Einheit zu erkennen sein. Die schlichte Überschrift Über Moab mit dem Lamed inscriptionis 1a folgt jenem 1 Muster, das für die Fremdvölkersprüche in Jer als original anzusehen ist (s. zur Textgenese von 46,2). Die prophetische Botenformel 1b, in MT um feierliche Gottesepitheta erweitert, unterstellt  – wie schon die masoretische Gesamtüberschrift 46,1 – das Folgende einem Offenbarungsanspruch, der die Beschreibungen und eingebetteten Zitate einschließt. Das Unheilsorakel beginnt mit einem Weheruf über Nebo (1c), eine moabitische Festungsstadt am Hang des gleichnamigen Berges, der aus der Kante des ostjordanischen Plateaus auf der Höhe des Nordendes des Toten Meeres herausragt. Von dieser Landmarke aus habe Mose laut biblischer Tradition vor seinem Tod einen Blick in das Verheißungsland werfen dürfen (Dtn 32,48–50; 34,1–5). Die Fortsetzung nennt die Gründe des Weherufs: Nebo ist verwüstet, Kirjatajim – das wenige Kilometer südwestlich ebenfalls an der Flanke des Hochlands lokalisiert wird – ist eingenommen (1d–f). Demnach sind moabitische Bastionen an seiner Nordwestgrenze zum Jordangraben hin einem Angreifer erlegen, von dem nur klar ist, dass er aus nördlicher Richtung eindringt, während sein Name verborgen bleibt. 1gh fasst zusammen: Zuschanden ist die Hochburg und geschleift. bG"f.Mih; die Hochburg bezeichnet wohl keine weitere Ortschaft, sondern der Passus soll den Schluss ziehen, dass der Fall der beiden Grenzfestungen praktisch dem Verlust sämtlicher Fluchtburgen gleichkommt, sodass die Moabiter den Invasoren wehrlos ausgeliefert sind. Typischerweise wird die Terminologie von Scham und Schande auf Bauwerke angewandt, entsprechend einer Vorstellung von Schande, wo die soziale Vernichtung die physische nach sich zieht, das Opfer also „zuschanden wird“. Weil der Krieg faktisch entschieden ist, gilt schon jetzt: Moabs Ruhm ist dahin (2a). 2 Ursprünglich benutzte der Satz wohl jene medizinische Diktion, die zu Jeremias Vorlieben zählte: Es gibt keine Vernarbung für Moab mehr (AlT). Die anonymen Eindringlinge haben sogar schon das moabitische Heschbon, einige Kilometer nordöstlich von Nebo ebenfalls am Rand der Hochebene gelegen, zu ihrer Operationsbasis umfunktioniert, um von dort aus den Genozid an den Moabitern auszuhecken (2b–d) – so ein Versuch, das hebräische Wortspiel mit dem Namen Heschbon (!ABv.x, Ḥešbōn) 687

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und dem Verb bvx ḤŠB planen nachzuahmen. In 2ef eilt der Blick kurz in die Zukunft voraus, wenn Madmen das Verdammen angekündigt wird; diese freie Wiedergabe soll das Wortspiel zwischen dem Ortsnamen Madmen und dem Verb ~md DMM I erstarren, verstummen, schweigen andeuten. Der Name ist sonst nicht bezeugt. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Verballhornung, als deren Zielscheibe mehrere Ortslagen in Betracht kommen; so insbesondere das in Jes 15,9 erwähnte Dimon am Rand des moabitischen Hochplateaus auf der Höhe der el-Lisān genannten großen Halbinsel im Toten Meer, oder eine unweit nordöstlich davon gelegene Ruinenstätte, deren Name Ḫirbet Dimne auf Dimon oder Madmen zurückgeht. Eine alternative Deutung bezieht Madmen auf Medeba südlich von Heschbon. Was auch immer der Ursprung, seine Entstellung zu Madmen sollte allem Anschein nach einen Anklang an hn"med>m; madmenā Misthaufen (Jes 25,10) herstellen. Das literarische Verfahren verrät, dass die Klage über die Niederlage Moabs nicht für bare Münze zu nehmen ist; in Wahrheit wird der ostjordanische Nachbar verhöhnt, weil er, wie das Kapitel noch begründen wird, aus der Warte des Sprechers verdientermaßen einem Eroberer zum Opfer fällt, der auch weiterhin anonym bleibt, wenn er einfach das Schwert heißt, das Moab im Nacken sitzt (2f). 3–6 Mit dem Nominalsatz 3a schwenkt das Blickfeld in die Gegenwart und in Richtung der Südgrenze Moabs: Eine anonyme Stimme – nach 1b und MT 46,1 muss sie Jhwh gehören – teilt mit, dass von Horonajim, ebenfalls am Rand des moabitischen Hochlands südlich von Dimon zu suchen (s. bei V. 2), Alarmrufe zu vernehmen sind, die entsetzt von schweren Verwüstungen berichten (3b) und sogar schon den endgültigen Zusammenbruch Moabs beklagen (4a). Die Alliteration rb,v,w" dvo šod wa=šäbär (3b; ursprünglich etwa: šudd wa=šabr) unterstreicht die Dramatik. Bis Zoar ist das Geschrei zu hören (4b), so mit der älteren Lesart von AlT (MT: seine [Moabs] Kleinen/ Geringen ließen Geschrei vernehmen), wobei der hebräische Name r[;co Ṣoʽar an die Wörter für Geschrei: hq'['c. ṣeʽaqā 3a und hq'['z> zeʽaqā 4b MT anklingt. Am Ostrand der Araba südlich des Toten Meeres gelegen, markiert Zoar den südwestlichen Ausläufer Moabs. Die Erwähnung von Horonajim und Zoar regte an, eine Phrase aus Jes 15,5 aufzugreifen, die dort ebenfalls an den Namen Zoar anschließt und beschreibt, wie Flüchtlinge unter lautem Wehklagen die Steige von Luhit (5a) und den Abstieg von (5b MT) bzw. den Weg nach (5b AlT = Jes 15,5) Horonajim erklimmen. Die Ausdrücke bezeichnen bislang nicht eindeutig identifizierte Verkehrswege durch die steilen, bis zu 1400 Meter hohen Abbruchkanten des moabitischen Hochplateaus hin zur Araba und zur Schlucht des Sered. Die Feinde operieren also bereits im Raum der Südgrenze des Landes. V. 6 zitiert die Fliehenden mit dem Warnruf, dass jenen, die ihr Leben retten wollen, nur noch der Rückzug in die Wüste bleibt, um dort das elende Dasein von Wüstenstauden (6c MT) oder ‑tieren (6c AlT) zu fristen. 7 Im Schlussteil seiner Rede wendet sich Jhwh der Zukunft zu. In 7a erklärt er, fiktiv direkt an Moab gewandt, dass die Katastrophe in der kompletten Eroberung des Landes kulminieren werde. Hier spricht er auch eine explizite Begründung aus: Schuld auf sich geladen haben die Moabiter durch ihre falsche Selbstsicherheit, gestützt auf  – nach dem älteren alexandrinischen Text  – deine Festungen (vgl. 5,17), 688

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also ihre Burgen mit den natürlichen Bollwerken der unwegsamen Steilhänge, die einen Großteil der moabitischen Grenzen zu den Kulturländern hin ausmachten und Angriffe erschwerten. Dieses literarische Image prägt die Sprüche über Moab (vgl. 1g.18d.41b), ebenso wie der Vorwurf der Überheblichkeit, die sich aus der Illusion der Unverwundbarkeit speiste (11.14.18a.26–27.29–30.42). In Jeremias Orakeln über die ostjordanischen Anrainer sind die strategischen Vorzüge ihrer Heimatländer ein wiederkehrender Topos, so auch im Ammon‑ und im Edom-Orakel (s. zu 49,4.10.16). Der Prophet konnte anscheinend an verbreitetem Neid der Israeliten auf den Vorsprung an Sicherheit anknüpfen, den die Natur den Siedlungsräumen ihrer östlichen Nachbarn bescherte. In MT haben sich die Gründe für den moabitischen Hochmut unter Einfluss von 49,4b auf deine Taten und deine Waffenarsenale (bzw. Vorräte oder Schätze) verschoben; hier wird ein Volk anvisiert, das sich auf seine Leistungen und seine militärische Schlagkraft viel zugutehielt. Doch dem setzt Jeremia entgegen: Den Moabitern werden ihre Privilegien nichts nützen. Auch du wirst erobert werden, schließt 7a, um indes über die Partikel ~G: auch gleichzeitig zu verraten, dass die Ziele und Erfolge der Angreifer über Moab hinausreichen. Zugleich wird man die Partikel neben den übrigen Gemeinsamkeiten der jeremianischen Fremdvölkersprüche als weiteres Indiz werten dürfen, dass die Orakel von vornherein als zusammengehöriges Korpus konzipiert wurden. Weist schon dies auf die Babylonier als die Invasoren, geht 7b noch weiter, indem der Satz ein vielsagendes Detail expliziert: Der moabitische Gott Kemosch wird mit großem Gefolge seiner wichtigsten Verehrer aus den Führungskreisen des Landes den Marsch ins Exil antreten. Hier appliziert Jeremia einen Satz auf Moab, den er in 49,3g auch auf Ammon und seinen Gott Milkom anwendet und der dort aus Am 1,15 adaptiert ist (s. z. St.). Bei der Verschleppung der Gottheiten ist an die Konfiskation ihrer Kultsymbole zwecks Aufstellung in den Heiligtümern der Sieger gedacht, wie dies die antiken mesopotamischen Großmächte regelmäßig taten, weil sie Kultrequisiten analog zu menschlichen Geiseln behandelten (s. zu 28,2–4). So kommt wieder die Polemik gegen Fremdgötterkulte zu Wort, die die Fremdvölkersprüche in Jer von Exemplaren dieser Gattung in anderen Büchern abhebt. Darin redet der Prophet unbefangen polytheistisch (s. Einleitung): Die Existenz von Gottheiten wie Kemosch wird nicht angezweifelt, aber die kriegerischen Niederlagen legen ihr Unvermögen bloß. Mitziehen ins Exil muss ein Großteil der lokalen Oberschicht, um Rebellionsgelüsten einen Riegel vorzuschieben. Das Stichwort hl'AG Deportation, Verbannung gibt die Babylonier als Urheber preis, selbst wenn dem Buchstaben nach ihre Anonymität gewahrt wird. Die Identität der Sieger weiterhin unter der Chiffre der Verwüster verbergend (8a), 8 zählt V. 8 Orte auf, die noch künftig der Zerstörung anheimfallen werden: Städte (8ab), Täler (8c) und die Ebene, hebräisch rvoyMih; ha=mīšōr (8d). Der letztere Ausdruck bedeutet zunächst einfach Ebene, meint hier aber konkret das Hochplateau nördlich des Arnon, das diesen Namen trug (Jos 13,9 u. ö.). Kombiniert summieren sich die drei Bezeichnungen zum Gesamt des moabitischen Territoriums. Die Liste wird bekräftigt durch einen Satz, der den Einklang mit Jhwhs Ankündigung 689

48,8

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unterstreicht (8e) und damit seine steuernde Hand hinter den katastrophalen Umwälzungen offenbart. 9 Weil damit der kommende Untergang Moabs besiegelt ist, kann 9a rhetorisch dazu aufrufen, ihm bereits ein Grabmal zu errichten. 9bc fasst resümierend die Zukunft des ostjordanischen Volkes zusammen: durchgreifende Verwüstung des Landes und Entvölkerung der Städte. Die Moabiter werden nicht einfach von einem Feind politisch unterworfen, sondern ausgetilgt. 10 Der Fluch ruft Unheil herab auf jene, die die kriegerischen Ziele Jhwhs nachlässig vollstrecken oder – dies ist nicht eindeutig – sie gar zu vereiteln trachten. Der Wortlaut lässt unterschiedliche Interpretationen zu, je nachdem, ob man hY"mir> Lässigkeit, Trug adverbiell mit hf,[o machend (so auch G) oder prädikativ mit tk,al,m. Werk verbindet. Die Verwünschung ist in sich geschlossen und übersteigt mit ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit jegliche konkreten historischen Umstände, sodass sie ihren näheren Bezug jeweils erst durch einen situativen oder literarischen Rahmen erhält. Sie wurde also wohl von einem Redaktor (schon Jeremia selbst?) vorgefunden und hier eingefügt. Anlass und Zielscheibe der Interpolation lassen sich nur mutmaßen. Vielleicht verurteilt sie Kräfte in Juda, die den bewaffneten Widerstand gegen die babylonische Expansion betrieben. Jedenfalls betont V. 10, dass Versuche, Jhwhs Pläne mit Moab – und darüber hinaus – zu sabotieren, nicht ungesühnt bleiben werden. Zugleich macht der Fluch erneut ausdrücklich das Geschehen als Werk Jhwhs durchsichtig: Die Eroberer sind Jhwhs Vollstrecker, deshalb ist Gegenwehr sinnlos, während das Werkzeug selbst nicht wichtig genug ist, um eine namentliche Identifikation zu verdienen.

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Literatur: W. D.  Barker, Wine Production in Ancient Israel and the Meaning of ‫ ְש ָמ ִרים‬in the Hebrew Bible, in: D. A. Baer, R. P. Gordon (Hg.), Leshon Limmudim (FS A. A. Macintosh; LHB.OTS 593), New York 2013, 268–274. R. Frankel, Wine and Oil Production in Antiquity in Israel and Other Mediterranean Countries (JSOT/ASOR Monograph Series 10), Sheffield 1999. J. Robinson (Hg.), Das Oxford-Weinlexikon (Hallwag-Lexikon), 3., vollst. überarb. Aufl. München 2007.

Das folgende Gedicht ist in sich gerundet und thematisch gegenüber dem Fluch V. 10 und der prosaischen Fremdgötterpolemik V. 13 klar abgegrenzt; situativ greift es hinter die in 1c–9 gespiegelte, galoppierende Katastrophe zurück, und grammatisch wird Moab ab V. 11 als maskulin behandelt. Folglich liegt hier ohne Zweifel eine separate poetische Einheit vor. Sie ist etwas unsachgemäß als Küferspruch bekannt, denn die namengebenden ~y[ico 12b sind keine Hersteller von Holzfässern, sondern (wörtlich) Um‑ bzw. Ausgießer oder Umfüller, d. h. Kellermeister. Das kleine Poem nutzt den Ruf Moabs als Weinbaugebiet (vgl. V. 32–33), um über die Bewohner des Landes ein metaphorisches Unheilsorakel zu verkünden, das ihnen die Deportation prophezeit. Doch während über die Sachebene der Aussage kein Zweifel besteht, ist die Funktionsweise der Bildebene weniger leicht zu durchschauen, da der Autor in seiner Metaphorik auf damalige Verfahren der Weinproduktion anspielt, ohne Eindeutigkeit im Ausdruck anzustreben. Das Gedicht fasst die Moabiter in das Bild lange lagernden Weins (V. 11) und repräsentiert die angedrohte Verschleppung figurativ durch Kellermeister, die den Rebensaft ausschütten und seine Behälter zerstören (V. 12). Dabei bedarf der Klärung: Wird Moab als qualitativ hoch‑ oder minderwertiger Tropfen 690

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charakterisiert? Gießen die Kellermeister den Wein aus, obwohl er besonders wertvoll – oder weil er verdorben ist? Die Metaphorik rekurriert auf den Tatbestand, dass im Zuge der Gärung die Hefe (hebräisch ~yrIm'v.) entsteht, die für den Prozess unentbehrlich ist, aber zu gegebener Zeit vom werdenden Wein getrennt werden muss. In der Antike wurde der gekelterte Traubensaft zunächst mit seinen Verunreinigungen und Resten an festen Pflanzenbestandteilen einer ersten Fermentationsphase ausgesetzt, die etwa drei bis zehn Tage dauerte. Unterdessen lagerte sich die grobe Vollhefe (Grobtrub bzw. Geläger) am Boden der Bottiche ab. Dann wurde der Most abgegossen und in anderen Gefäßen einer zweiten Gärungsphase von etwa zwanzig bis vierzig Tagen unterzogen, während derer abermals ein Bodensatz an Weinhefe ausflockte. Nach erneuter Umfüllung (Dekantierung) steigerte eine dritte Fermentationsphase die Qualität des Erzeugnisses. Dabei war  – nötigenfalls in mehreren Schüben  – weitere Hefe auszusieben, bevor der fertige Wein in Lederschläuchen oder versiegelten Behältern gelagert wurde. Die Hefe verbesserte so in den fortgeschrittenen Gärungsphasen einerseits den Gütegrad des Resultats; andererseits konnte sie, wenn nicht rechtzeitig hinreichend ausgesiebt, den Wein übersäuern bzw. zu bitter machen (Barker). Jedenfalls enthielt der ausgeschenkte Wein normalerweise einen Bodensatz (Zef 1,12), weswegen man das völlige Austrinken eines Weinbechers als „ausschlürfen der Hefe“ o. ä. bezeichnen konnte (vgl. Ez 23,34 [korr.]; Ps 75,9). Wegen der Möglichkeiten, per Nachgärung die Qualität zu erhöhen, schob man in einem aufwendigeren Verfahren die Abscheidung der Feinhefe (Feingeläger) kontrolliert hinaus, um besonders intensive Geschmacksnoten zu erzielen. Eine Vorstellung von dieser Prozedur, die schon bei Cato dem Älteren (234–149 v. Chr.) in seinem Werk De agri cultura erwähnt ist, vermittelt ihre moderne Nachfolgerin, die Methode zur Herstellung von Qualitätsweinen durch Hefesatzlagerung (sur lie). Dabei wird der Wein zunächst wie üblich nach der Gärung durch Abstich von der abgesunkenen Vollhefe getrennt, um dann auf der verbleibenden Feinhefe für einige Wochen oder Monate zu ruhen, was dem Geschmack und der Komplexität zugutekommt. An solche Qualitätsprodukte denkt offenbar die Prophezeiung Jes 25,6, der zufolge Jhwh allen Völkern ein ~yqiQ'zUm. ~yrIm'v. … ~yrIm'v. hTev.mi ein Bankett mit Hefe(‑weinen), … dekantierten Hefe(‑weinen) bereiten will, wobei zu den luxuriösen Zügen des Festmahls zählt, dass die servierten Köstlichkeiten zuvor von ihren Bodensätzen getrennt wurden. 11bc zeichnet die Moabiter in der Metapher eines Weines, der ohne Umfüllung auf seiner Hefe ruht, was die Unheilsansage V. 12 durch !kel' darum 12a als den Grund benennt, warum – weiterhin figurativ gesprochen – Kellermeister kommen und den Wein ausschütten werden. Aus dieser Abfolge hat man mitunter geschlossen, Moab erscheine bildhaft als Wein, der auf seiner Hefe verdorben sei und daher entsorgt werde (so z. B. Barker). Dem steht allerdings entgegen, dass die ausgebliebene Dekantierung in 11d mit der bisherigen Verschonung vor dem Exilsschicksal gleichgesetzt und folglich als Privileg gewertet wird. Zudem soll diese Behandlung laut 11ef der Vollmundigkeit und dem Aroma des Weins zum Vorteil gereicht haben: Deshalb blieb ihm sein Wohlgeschmack erhalten, und sein Duft wandelte sich nicht. Daher wird 691

48,11–12

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man 11bc als Kurzformel für eine Methode zur Erzeugung erlesener Kreszenzen werten müssen – zumal wir nicht wissen können, ob der Verfasser von den Künsten der Vinifikation mehr verstand als der Autor dieser Zeilen. Ohnehin gilt: Wie auch immer die Bildwahl des Küferspruchs näherhin angelegt ist, steht sein Charakter als Unheilsansage außer Frage. Zur Funktion des begründenden darum 12a s. i. F. 11 Treffen die soeben gezogenen Schlüsse zur Wirkweise der Metaphorik des Küferspruchs zu, stilisiert das kleine Gedicht die Moabiter bildhaft als personifizierten edlen Tropfen, der sich aufgrund der sorgsamen Pflege, die er bisher erfuhr und daher als Selbstverständlichkeit zu erwarten gelernt hat, in illusionärer Sicherheit wiegt. V. 11 blickt weit zurück in die Vergangenheit, um zu erklären, wie es dazu kam: Von seiner Jugend an, also seit jeher konnte Moab unbeschwert auf seiner Hefe ruhen (11ab). Die Metapher vom Verbleib im selben Gefäß (11c) wird in 11d ausgedeutet auf das günstige Geschick, von der Deportation verschont geblieben zu sein – ein vielsagendes Schlaglicht auf die unablässigen Bedrohungen, unter denen sich die levantinischen Kleinstaaten jener Epoche behaupten mussten. Der Sprung von der Bild‑ auf die Sachebene in 11d wird mitunter als plumpe, unpoetische Vereindeutigung einem epigonalen Bearbeiter zugeschrieben, aber der Satz ist nahtlos in die Stichenstruktur integriert und nicht anzutasten. Laut 11ef bewirkten die glücklichen Umstände, dass Moab seinen Wohlgeschmack und seinen Duft über lange Zeit ungeschmälert bewahrte. Wenn das Unheilsorakel V. 12 begründend an diesen Eigenschaften anknüpft, obwohl sie doch als Vorzüge des Nachbarvolks erscheinen müssten, legt sich die Interpretation nahe, dass sie vielmehr im Einklang mit dem Kontext als das überhebliche Selbstbild der Moabiter (s. bei V. 7) oder im besten Falle als ihr unverdienter Nimbus zu verstehen sind. Dem desaströsen Schicksal so vieler Gemeinwesen im Umfeld entgangen zu sein, hat Moab die Augen für die Wirklichkeit getrübt. 12 Aber dabei wird es nicht bleiben: Für die nahe Zukunft (12a) kündigt Jhwh mit einer für das Jeremiabuch typischen Wendung10 an, der Beschaulichkeit ein Ende zu setzen, und zwar mit !kel' darum angeschlossen, das ein Kausalverhältnis zwischen Vorher und Nachher markiert: Die Selbstgefälligkeit Moabs ist in theologischer Optik die Ursache für seinen Untergang. Die Bildebene fortsetzend und erstmals in Ich-Rede, erklärt Jhwh, er werde Moab Kellermeister (wörtlich Um‑ bzw. Ausgießer, s. o.) senden (12b), die es jetzt ausgießen werden (12c); d. h. sie werden Moab in Umkehrung von 11cd ins Exil verschleppen. Aber mehr noch: Die Kellermeister werden seine Gefäße entleeren (MT) bzw. – wohl ursprünglich – zermalmen (AlT) und ‘seine’ Krüge zerschmettern (12de). Mit dem Verlust der Gefäße entfällt die Möglichkeit zur Weinproduktion. Wiederum ist es durchgreifende Vernichtung, die auf Moab wartet, mit den Deportationen als augenfälligstem Instrument. Das Gedicht zielt auf ein Publikum, das sich neidvoll die Moabiter ausmalt, wie sie selbstzufrieden in ihren natürlichen Trutzburgen hocken, delikate Tropfen aus heimischen Winzereien schlürfen und weinselig über die Israeliten herziehen (vgl. V. 27). Einen Blick auf die Zielscheiben des Spottes dürften 11d und die Exilsdrohung in 12bc freigeben: Die Judäer wissen, dass sie bereits Deportationen erlitten haben und dass die Moabiter  7,32; 9,24; 16,14; 19,6; 23,5.7 u. ö. (Kon 60).

10

692

Moabiter

48,13

dies wissen. Das spricht für eine Abfassung nach 597. Wie die regelmäßigen Klagen über moabitische Arroganz bestätigen (s. zu 7a), ist es die gefühlte Verachtung Israels, die in den Augen der implizierten Hörer und Leser die babylonische Verwüstung des Nachbarlands und die Verschleppung seiner Bewohner als vor Jhwh wohlverdient erscheinen lassen.

Literatur: B. Becking, Die Gottheiten der Juden in Elephantine, in: M. Oeming, K. Schmid 13 (Hg.), Der eine Gott und die Götter. Polytheismus und Monotheismus im antiken Israel (AThANT 82), Zürich 2003, 203–226. K. Koenen, Art. Bethel (Gott) (erstellt: Jan. 2006), WiBiLex (Internet). W. Röllig, Art. Bethel ‫ב(י)תאל‬, DDD² (1999) 173–175. K. van der Toorn, Papyrus Amherst 63 (AOAT 448), Münster 2018.

Fand der sog. Küferspruch Vv. 11–12 die Ursache für den Untergang Moabs in seinem Hochmut, fügt der prosaische V. 13 einen spezifischeren theologischen Grund hinzu: Moab wird an Kemosch zuschanden gehen (13a); es wird also wegen seiner Götzendienerei jene Einheit von sozialem und physischem Untergang erleiden, die das Verb vwb vergegenwärtigt. Dazu wird als historisches Vorbild das Haus Israel hervorgehoben (d. h. der Nordstaat), das an Bet-El zuschanden ging, dem es vertraute (13b). Der Hintergrund dieser Aussage ist einstweilen nicht mit Sicherheit zu erhellen. Im AT bezeichnet Bet-El, übersetzt Haus bzw. Tempel Gottes, sonst die bekannte Kultstätte ca. 17 km nördlich von Jerusalem, die, solange der Nordstaat existierte, als eines seiner Reichsheiligtümer diente (Am 7,13) und in deuteronomistischer Sicht von Jerobeam I. unter Bruch der gottgewollten Opferzentralisation eingerichtet wurde (1 Kön 12,26–33), weswegen Joschija sie profanierte (2 Kön 23,15–16). Obwohl der Name verrät, dass der Kultort vormals dem levantinischen Hochgott El geweiht war, galt er zur Zeit des Nordstaats als Stätte der Anbetung Jhwhs (Gen 28,10–22), wie indirekt sogar die Deuteronomisten einräumten, wenn sie zugestanden, dass in BetEl der Exodusgott angerufen wurde (1 Kön 12,28). Darüber hinaus bildete Bet-El in einigen antiken semitischen Sprachen einen Fachterminus für eine Kultstele (Massebe), wie sie auch in atl. Zeit den Kern des Heiligtums von Bet-El ausmachte (Gen 28,18.22). Der Ausdruck ist als Fremdwort ins Griechische (βαιτύλιον, βαίτυλος) und Lateinische (baetulus) eingegangen. Weiterhin gab es einen Gott Bet-El, dessen Name ihn als vergöttlichte Kultstele im Sinne eines hypostasierten Heiligtums auswies. Ursprünglich wohl eine in Syrien beheimatete Manifestation Baals, gewann die Gottheit ab dem 7. Jh. zunehmend Verehrer im Vorderen Orient. Zeugnisse für die Anbetung Bet-Els unter Israeliten, zudem für seine enge Assoziation oder gar Identifikation mit Jhwh finden sich in Quellen, die die religiösen Praktiken von ins Ausland emigrierten Angehörigen der Nordstämme und ihren Nachfahren spiegeln. In der jüdischen Söldnerkolonie auf der Nilinsel Elefantine bei Assuan im 5. Jh. wurde eine Göttin Anat-Bet-El verehrt (HTAT 288, S. 485), eine lokale Erscheinungsweise jener Göttin Anat, die im AT durch mehrere Ortsnamen belegt ist, darunter Jeremias Heimatort Anatot (1,1; s. z. St.). Wie ihr Name in Elefantine anzeigt, galt sie dort als Partnerin Bet-Els. Weil neben Anat-Bet-El aber ebenfalls der Name Anat-Jaho (= Anat-Jhwh) begegnet (HTAT S. 478), legt sich der Schluss nahe, dass Bet-El in Elefantine mit Jhwh verschmolzen war. Der in Theben entdeckte Papyrus Amherst 63 aus dem 4. Jh. parallelisiert Jaho/Jhwh unmittelbar mit Bet-El (XII 16–18). Es fragt 693

48,13

14–17

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Moabiter

sich daher, ob Jhwh-Verehrer in Ägypten unter Bet-El eine Manifestation Jhwhs verstanden und dabei Traditionen pflegten, die ihre Ahnen aus dem ehemaligen Nordstaat mitgebracht hatten. Wie indes die Parallelisierung von Bet-El mit Kemosch in V. 13 dokumentiert, sollte 13b eklatante Auswüchse von Fremdgötterei unter Nordisraeliten verurteilen. Weil jedoch glaubhafte Belege für die Verehrung Bet-Els in Israel gänzlich fehlen, handelt es sich möglicherweise um eine gewollte Fehlinterpretation. Sollte Jhwh bei den Nordstämmen – wie in Ägypten? – auch über eine Manifestation namens Bet-El bzw. als Hypostase seines Kultorts angebetet worden sein, könnte der Autor die Gelegenheit ergriffen haben, diese Form der Jhwh-Verehrung polemisch zum Götzendienst an Bet-El umzudeuten. Oder er nutzte die Namensgleichheit dieses Gottes mit dem alten nordisraelitischen Reichsheiligtum, indem er den Kult in der Stadt Bet-El als Kult des Gottes Bet-El schmähte. Wie dem auch sei: Hier ergreift eine Sichtweise das Wort, die nach Art der Deuteronomisten den Jhwh-Kult von Bet-El als Götzendienst verwarf, wie es in 1 Kön 12,28 geschieht, wenn König Jerobeam zitiert wird, wie er von den Exodusgöttern im Plural redet (vgl. Ex 32,4). Daher könnten solche orthodoxen Kreise in V. 13 einen theologischen Kommentar eingefügt haben, was auch die Prosaform des Verses stützt. Nach dem thematisch in sich geschlossenen sog. Küferspruch Vv. 11–12 und dem Prosavers 13 richtet V. 14 das Wort an die Moabiter. Die Fortsetzung Vv. 15–17 setzt voraus, dass die Invasion ihres Landes im Gegensatz zum Küferspruch, aber ebenso wie in 1c–9 bereits weit fortgeschritten ist. V. 14 eröffnet demnach eine neue Einheit. Der Frage 14a Wie könnt ihr sagen …? mit Zitat einer moabitischen Prahlrede in 14b korrespondiert in 17bc der Appell sagt: Wie … !, der alle, die Moab kennen, auffordert, das Unglück des geschlagenen Volkes zu beklagen. Nach dieser kontrastierenden Rahmung sprechen die Vv. 18–19 die Einwohner einzelner moabitischer Städte an. Folglich reichte das Gedicht mindestens bis V. 17, doch vor allem bei den Vv. 18–20.25.28 ist nicht auszuschließen, dass sie schon ursprünglich dazugehörten (s. z. St.). Per fiktiver Anrede stellt in V. 14 eine anonyme Stimme – im redaktionellen Kontext weiterhin Jhwh – den Moabitern die rhetorische Frage, wie sie sich großmäulig selber als ~yrIABGI Helden oder genauer Elitekämpfer preisen können. Dem hält der Sprecher die Wirklichkeit entgegen: Der anonyme ‘Verwüster Moabs ist heraufgezogen’ (15ab korr.); er hat die natürlichen Schutzmauern des Landes schon überwunden, sodass die Blüte seiner jungen Männer, also die Auslese der moabitischen Krieger, eine Bewegung in der Gegenrichtung vollziehen musste: Sie sank dahin (wörtlich stieg herab) zur Schlachtung, wie ein an Alliterationen reicher Satz feststellt (15c: 2-mal bḥr rx;b.mi  – wyr"WxB;; 1-mal bḥ xb;J'l;). Die kampfstarken Elitestreitkräfte, als die sich die verbliebenen moabitischen Verteidiger ausgeben, existieren gar nicht mehr. Die masoretische Tradition hat diese Aussage durch eine feierliche, erweiterte Variante der Gottesspruchformel bekräftigt, die für die Wahrhaftigkeit der Prophetie die Autorität Jhwhs beansprucht, des Königsgottes und Herrn der Scharen (15cd; vgl. 46,18; 51,57). Daher kann Jhwh in V. 16 den baldigen Zusammenbruch Moabs prophezeien, um dann in V. 17 nach Art von V. 9 zu Handlungen aufzurufen, die den Untergang als bereits eingetreten betrachten: Alle, die Moab kennen, sollen sein Ende beweinen. 17c 694

Moabiter

48,19–20

gibt dazu mit der Kurzfassung eines Klagelieds ein Musterbeispiel vor: Der Einzeiler hebt an mit dem Klageruf hk'yae ach (wie) …!, um dann im sog. Qina-Metrum, das aus 3+2 Hebungen besteht und bevorzugt bei Klageliedern gewählt wurde, die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu betrauern.11 Wenn das Zitat Moab als zerbrochenen, aber ehemals starken Stock und prachtvolles Zepter beschreibt, also das Nachbarvolk im Bild einer Hiebwaffe zeichnet, wird zugestanden, dass es die selbstbewusst behauptete militärische Schlagkraft tatsächlich einst besaß – aber damit ist es vorbei. Anschließend wendet sich der Sprecher zwei Städten zu und erteilt ihnen fiktive 18–20 Aufrufe, die dem Publikum weitere Momentaufnahmen von der dramatischen militärischen Bedrängnis der Moabiter vermitteln. Der Passus kann schon bei Abfassung die Vv. 14–17 fortgesetzt haben, während die prosaische Städteliste V. 21–24 einer heterogenen Quelle entstammt. In den Vv. 25.28 dürfte der abgesprengte Schluss der Vv. 18–20 vorliegen (s. zu V. 25–28). V. 18 redet die Stadt Dibon an, die Fundstätte der berühmten Mescha-Stele (s. o.). 18 Dibon lag nördlich der Arnon-Schlucht an der sog. Königsstraße (Num 20,17; 21,22), der zentralen Nord-Süd-Route durch das Ostjordanland. 18a fordert die Einwohner von Dibon auf, von der (im Sinne von: deiner) Herrlichkeit herabzusteigen, was erneut die wiederholt angeprangerte moabitische Überheblichkeit ins Visier nimmt. Stattdessen sollen die Diboniter sich – wie 18b MT anscheinend zu verstehen ist – in der Wüste niederlassen, um dort dem Tod von den Waffen der Angreifer zu entrinnen (vgl. 6c.28). Doch ist diese Lesart mit einiger Wahrscheinlichkeit aus einer älteren Fassung verschrieben, die die Adressaten aufrief, in ihren eigenen Fäkalien Platz zu nehmen (TK). Das ist überaus drastisch, ergibt aber einen plausibleren Kontrastbegriff zur Herrlichkeit. Ist der ältere Wortlaut richtig erschlossen, repräsentiert der unappetitliche Akt allerdings kaum einen sonst nicht belegten Selbstminderungsritus nach Art der körperlichen Vernachlässigung, wie sie bei heftigen Leiderfahrungen (s. zu 41,5) oder schwerwiegender Unreinheit (Lev 13,45–46) üblich war. Eher bietet die geforderte Selbstbesudelung eine ins Absurde übersteigerte Karikatur solcher Bräuche, um damit sarkastisch die abgrundtiefe Erniedrigung der Diboniter vor Augen zu führen: herab von der majestätischen Bergeshöhe – aber nicht bloß wie die Aussätzigen auf die Müllhalde vor der Stadt (vgl. Num 5,1–4; 12; Ijob 2,8), sondern gleich in die eigenen Exkremente. Angestoßen hat den Absturz wieder der anonyme Verwüster, der heraufgezogen ist (18c, wie es ähnlich ehemals auch in 15ab gelautet haben dürfte) und deine Festungen vernichtet hat (18d). Die natürlichen Bastionen und vermeintlich uneinnehmbaren Trutzburgen, die Fundamente von Moabs Arroganz (vgl. 7a), haben nichts gefruchtet. – In 18b MT ist vor dem Ortsnamen Dibon tB; Tochter aus 46,19a ergänzt; zur Bedeutung s. zu 46,11. Der nächste Aufruf richtet sich an die Einwohner von Aroër, das unweit von Dibon 19–20 etwas weiter südöstlich über der Arnonschlucht thronte. Sie sollen an der Überlandstraße die vorbeihastenden Flüchtlinge befragen, und zwar, wie der Genuswechsel in 11  Vgl. z. B. V. 39; 49,25; 50,23; 51,41; 2 Sam 1,19.25.27; Ez 26,17; Ob 5–6; Zef 2,15; Ps 73,19; Klgl 1,1; 2,1; 4,1.2; nachahmend Jes 1,21; 14,4.12; Jer 2,21; 9,18.

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der Flüchtling und die Entronnene signalisiert, möglichst vollständig, um aus erster Hand vom Ausmaß der Katastrophe zu erfahren (V. 19). Die zu erwartende Antwort gibt der Sprecher übergangslos selbst in Worten, die aus 1gh bekannt sind: Moab ist zuschanden, ja, ‚es‘ ist verängstigt (oder: zerbrochen, 20ab). Dies sollen die Bürger von Aroër ihrerseits unter Klagegeschrei am Arnon weiter nach Süden melden (20c–f), um anzukündigen, dass die Feinde dabei sind, über diese natürliche Barriere hinweg weiter nach Süden vorzustoßen. Abermals regt die vorausgesetzte Marschrichtung dazu an, hinter den namenlosen Invasoren die Babylonier zu erkennen. Die folgenden vier Verse sind prosaisch und verallgemeinern das Vorausgegangene, indem sie es als jP'v.mi Gericht interpretieren (V. 21; ebenso MT 47b), was auf einen sekundären Charakter deutet. Der Einschub macht hinter den Vorgängen wieder die Lenkung Jhwhs sichtbar, allerdings ohne ihn beim Namen zu nennen, und qualifiziert das Geschehen als Strafe für Vergehen Moabs, die indes ebenfalls nicht ausgesprochen werden und daher aus dem Kontext zu entnehmen sind, der inständig den Vorwurf der Vermessenheit erhebt (s. zu 7a). Hinsichtlich der Sprecherrolle sind die Vv. 21–24 mehrdeutig: Die Leser können darin die Fortsetzung zur Inhaltsangabe des Botenauftrags 20e in 20f erblicken; demnach würden die Moabiter ihre Niederlage endlich als gerechte Folge ihres Tuns durchschauen. Andernfalls ist es Jhwh – oder Jeremia als sein prophetischer Interpret –, der den tieferen Kern der fürchterlichen Erschütterungen bloßlegt. Darüber hinaus umreißt der Abschnitt die Reichweite des Gerichts mit dem Ausdruck das Land des Mischor (V. 21), gefolgt von einer Serie von elf moabitischen Ortschaften, die mit dem Summarium und über alle Städte [des Landes] Moab, die fernen und die nahen schließt (V. 24). Der Katalog soll also die Vollständigkeit der Unterwerfung Moabs aktenkundig machen, ähnlich wie schon V. 8, jetzt aber in besonders expliziter Weise, und er dürfte auf einer andernorts vorgefundenen Städteliste fußen. Das Land des Mischor meint die Hochebene nördlich des Arnon (vgl. 8d). Holon ist nicht identifiziert; vorgeschlagen wurde eine Ortslage etwas östlich der Linie Heschbon  – Medeba, das seinerseits etwa 9 km südlich von Heschbon das Zentrum des Mischor bildete. Jahaz wird an der Königsstraße (s. bei V. 18) nordöstlich von Dibon gesucht, Mefaat im selben Raum etwas weiter südlich. V. 22: Zu Dibon, der Residenz Meschas, s. bei V. 18; zu Nebo s. bei V. 1. Bet-Diblatajim lag ca. 9 km süd-südöstlich von Medeba. V. 23: Zu Kirjatajim s. bei V. 1. Bet-Gamul wird am Ostrand des moabitischen Kulturlands auf einer Höhe etwa zwischen Dibon und Aroër lokalisiert; Bet-Meon bzw. Baal-Meon lag ca. 8 km südwestlich von Medeba. V. 24: Für Kerijot wird ebenfalls eine Trümmerstätte im moabitischen Osten erwogen, auf einer Höhe zwischen Jahaz und Dibon. Der Name Bozra (hr"c.B') haftet sonst am Hauptort von Edom (s. zu 49,13); hier jedoch soll er eine moabitische Siedlung bezeichnen. Daher wird er auf das Dorf bezogen, das im AT sonst den Namen Bezer (rc,B,) trägt, der von derselben Wurzel bṣr unzugänglich sein abgeleitet ist. Das AT verortet Bezer auf dem Mischor in einer Gegend, die als rB'd>mi Wüste, Steppe gilt und dem Stammesgebiet von Ruben zugerechnet wird (Dtn 4,43; Jos 20,8; 1 Chr 6,63), was auf eine Lage in der Nordostecke von Moab deutet. Der Schluss von V. 24 deklariert diese Liste als repräsentativ für das gesamte moabitische Territorium. 696

Moabiter

48,25

V. 25 wird oft als Abschluss einer Einheit Vv. 18–20.25 gewertet, während die 25–28 Vv. 26–27 als Einschub von fremder Hand gelten. V. 25 wird durch seine chiastische Struktur als Poesie ausgewiesen und so mit V. 18–20 verbunden, aber von V. 21–24 abgesetzt. 25a wiederholt zwar den Namen Moab, obwohl dieser auch in 20f auftritt, sodass V. 25 einen selbstständigen Textanfang bilden könnte. Dies ist jedoch darauf rückführbar, dass hier der in 20e erteilte Botenauftrag nach der Inhaltsangabe 20f in wörtlicher Rede zitiert wird. Dagegen sind die Vv. 26–27 vollauf kontextabhängig, weil 26ab einzig durch grammatische Morpheme auf das Nachbarvolk verweist, beginnend mit dem Pronomen in 26a WhrUyKiv.h; macht es betrunken, bevor 26c den Namen nennt. Die Vv. 26–27 werden Jeremia abgesprochen, weil sie sich zu „kleinlichen nachbarlichen Sticheleien“ herabließen (so exemplarisch *Rudolph 281), in Prosa abgefasst sind, eine motivliche Übereinstimmung mit 25,27 aufweisen und Israel erwähnen (27a), wie dies im Moabkapitel sonst nur das prämasoretische Gottesepitheton in 1b und der wahrscheinlich sekundäre Kommentar V. 13 (s. z. St.) tun. Selbst wenn literarische und theologische Geschmacksurteile schon wegen der Gefahr anachronistischer Maßstäbe kein Vertrauen verdienen, ist die Indizienlage hier derart, dass man besser eine sekundäre Fortschreibung veranschlagen wird. Danach kehrt V. 28 zur Poesie zurück, um die Moabiter aufzufordern, die Städte zu verlassen und in unwegsame, felsige Zonen zu flüchten, ähnlich den Appellen in V. 6 und 18b MT. V. 28 ist in seinem unmittelbaren Kontext isoliert, schließt aber nahtlos an die Vv. 18–20.25 an, zumal 28ab einen doppelten Imperativ mit der Anrede an die Einwohner Moabs (ba'Am ybev.yO) verbindet, wie es auch in 18ab mit der Einwohnerschaft von [Tochter] Dibon (!AbyDI‑[tB;] tb,v,yO) und in 19ab mit der Einwohnerschaft von Aroër (r[eAr[] tb,v,Ay) geschieht. Deshalb wird von einer originalen Einheit Vv. 18–20.25.28 auszugehen sein, in der die Vv. 25.28 den Botenauftrag 20e zitierten. Das Stück könnte schon ursprünglich das Gedicht Vv. 14–17 fortgesetzt haben. Literatur: J. Eggler, Art. Horn (erstellt:  Sept. 2009), WiBiLex (Internet). J. Eggler, Art. 25 Hörnerkrone (erstellt: Sept. 2009), WiBiLex (Internet). A. Wagner, Art. Arm (AT) (erstellt: Juni 2007), WiBiLex (Internet).

Die in 20e aufgetragene Botschaft begann damit, dass Moabiter den Zusammenbruch ihres eigenen Volkes bildhaft weitermelden sollten: Abgehauen ist Moabs Horn, und sein Arm ist zerschmettert. Im gegebenen Kontext wirkt die Sprecherhypothese für die Städteliste Vv. 21–24 auf V. 25 fort. Das Horn ist ein zeit‑ und kulturübergreifendes Symbol für Macht und Kraft,12 weswegen Gottheiten im Alten Orient häufig mit sog. Hörnerkronen dargestellt wurden (Abb. 11). Umgekehrt bezeichnet die Metapher vom Abhauen des Hornes einen Akt, der das Opfer aller Macht beraubt (Ps 75,11: Klgl 2,3). Ähnlich steht der Arm für das Vermögen zu Krafttaten (Ps 83,9; Ijob 22,8) und zur Hilfe (Ijob 35,9); daher verkörpert der Arm Jhwhs besonders häufig seine

12  1 Sam 2,1.10; 2 Sam 22,3 || Ps 18,3; 1 Kön 22,11–12 || 2 Chr 18,10–11; Ez 29,21; 34,21; Mi 4,13; Sach 2,1–4; Ps 75,5–6; Ijob 16,15; Dan 8,3–10.20–22 u. ö.; als Symbol königlicher Macht Ps 89,18.25; 132,17. Ein modernes Beispiel ist der Beginn der südafrikanischen Nationalhymne, verfasst 1897 von Enoch Sontonga: Nkosi sikelel’ iAfrika, maluphakanyisw’ uphondo lwayo  – Herr, segne Afrika; sein Horn erhebe sich!

697

48,25

Moabiter

Machterweise.13 Kommt der Arm abhanden, gilt dasselbe für die daran geknüpften Fähigkeiten (Ez 30,21). Durch den Verlust von Horn und Arm ist Moab aller Instrumente der Machtausübung und damit der Gegenwehr entblößt.

Abb. 11: Terrakottakopf einer gehörnten Göttin aus dem edomitischen Heiligtum von Chorvat Qiṭmit (12 x 9 cm; 7./6. Jh. v. Chr.). 26 Mit V. 26 wechselt die Rederolle endgültig zu Jhwh oder seinem prophetischen Spre-

cher, der anonyme Adressaten dazu aufruft, die Entwaffnung des Nachbarvolks durch seine ultimative Erniedrigung zu vollenden: Sie sollen Moab betrunken machen (26a). Der Befehl greift eine im AT verbreitete Metaphorik auf, die das göttliche Gericht als von Jhwh aufgezwungenen Alkoholrausch beschreibt, während die gängigen Symptome des Deliriums bildhaft die Konsequenzen für die Opfer repräsentieren. Auf Buchebene ist der Passus eine Anspielung auf die Becherperikope 25,15–29, die mit demselben Bildmaterial operiert (s. dort Näheres zum Vorstellungshintergrund). Der Kausalsatz 26b benennt den Grund für Jhwhs Einschreiten: Moab meinte in seinem altbekannten Größenwahn (s. zu 7a), sich sogar über Israels Gott erheben zu können (wieder aufgegriffen in 42b). Wie es das konkret getan hat, wird V. 27 andeuten. Der hohe Promillestand wird die gewohnten Folgen zeitigen: Moab wird sich erbrechen (26c); wahrscheinlich hat der nicht ganz klare Text darüber hinaus noch den spezifischeren Sinn, dass Moab, vom Alkohol benebelt, mit seinen Händen in seinem eigenen Gespei herumpatscht (vgl. Jes 19,14; TK). Jedenfalls soll es dem Spott anheimfallen, und zwar auch selbst (26d) – neben wem, deutet die Fortsetzung an. 27 Mit wem das ostjordanische Volk sein Schicksal zu teilen bestimmt ist und was es mit der Anklage 26b auf sich hat, darüber lüftet V. 27 den Schleier nur teilweise, und  Ex 6,6; 15,16; Dtn 4,34; 5,15; Jes 51,5.9; 53,1; Jer 21,5; 27,5; 32,17.21; Ps 79,11; 89,11.14.22; 136,12

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u. a.

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48,29–39

zwar durch fiktive rhetorische Fragen, die nun Moab selbst ansprechen: Die Lächerlichkeit, der Moab ausgeliefert wird, soll ihm nach den Regeln des Talions (s. bei 30,16) heimzahlen, was es Israel angetan hat (27ac). Dies bedeutet nicht weniger, als dass sich die Verachtung Jhwhs (26b) in der Schmähung Israels äußert: Die haltlosen Vorwürfe des Diebstahls (27b) laufen auf eine Beleidigung des Jhwh-Volkes hinaus, die der Blasphemie gleichkommt. 27b spielt anscheinend auf konkrete Ereignisse an, die den Autor in Verlegenheiten stürzten. Weil er aber offenbar mit Lesern rechnete, die über den Hintergrund Bescheid wussten, konnte er es bei einer Andeutung belassen, die nicht mehr zu entschlüsseln ist. Dem moabitischen Spott für Israel hielt er trotzig den Mangel an Beweisen entgegen. Mutmaßlich ging es um Vorfälle, die zum Schaden Israels bzw. Judas ausgingen und ihm peinliche Kritik eintrugen, nach Meinung des Verfassers allerdings zu Unrecht. Die endlosen Fehden unter den Gemeinwesen der Region eröffnen dafür ein unbegrenztes Spektrum an Möglichkeiten. Jedenfalls lässt 27b den Anlass des Hohns kaum im Untergang des Nordstaats Israel oder der babylonischen Unterwerfung Judas suchen, sondern eher im alltäglichen Gezänk zwischen Judäern und Moabitern; Raubüberfälle und Viehdiebstahl über die Grenze wären gute Kandidaten. Der abgesprengte Aufruf an das Nachbarvolk in V. 28, 28 sich in die extremsten Schlupfwinkel ihrer zerklüfteten Heimat zu verkriechen – ähnlich den Appellen in V. 6 und 18b MT –, entfaltet im Kontext eine prägnante Ironie: Er erinnert die Moabiter süffisant daran, dass die Gründe ihres Stolzes, die viel beneideten Trutzburgen, keinen Schutz zu bieten vermochten. In den Vv. 29–39 folgt jener Teil der Moabkomposition, der aus Gemeinsamkeiten 29–39 mit Jes 15,2–7 und 16,6–12 besteht, abgesehen von dem Schluss 38b–39 sowie vielleicht V. 35 (s. u.). Wie im Rahmen der Textgenese begründet, hat Jeremia den Abschnitt aus einer Vorlage abgeleitet, die Jes 15–16 zumindest sehr ähnlich sah. Die eigentümlichen Nuancen der vorliegenden Version sollten dort besonders deutlich hervortreten, wo sie durch Auswahl und Reformulierung von ihrem Muttertext abweicht, doch bleibt der Sicherheitsgrad von Vergleichen begrenzt, da sich nicht zweifelsfrei klären lässt, wie sich die Vorlage genau zu Jes 15–16 verhielt, sowohl was ihren Umfang als auch ihren konkreten Wortlaut angeht. Wenn etwa Jer 48 keine Passage aus Jes 16,1–5 widerspiegelt, dann möglicherweise deshalb, weil Jeremia am Thema des Abschnitts – moabitische Fluchtversuche nach Juda – nicht interessiert war. Doch mehr noch ist damit zu rechnen, dass der Passus in seinem Referenztext noch nicht enthalten war; dasselbe dürfte auf Jes 16,12/13–14 zutreffen (vgl. die Kommentare zu Jesaja). Die folgenden Aussagen gelten daher unter dem Vorbehalt, dass Jeremias Vorlage in den entlehnten Stücken nicht wesentlich von der masoretischen Jes-Fassung abwich. Dann zeichnen sich folgende Grundsätze ab, die Jeremias Vorgehen bei seinen Anleihen bestimmten: (1) Er hat die Sprache der Quelle vereinfacht und seinen stilistischen Vorlieben angeglichen (s. Textgenese). (2) Er hat dem Ich Jhwhs deutlich mehr Gewicht verliehen, indem er Passagen in 1. Person, die vorher keine Gottesrede waren, auf Jhwh umwidmete und Zusätze im Ich Jhwhs eintrug. (3) Das Exzerpt beginnt in V. 29–30 mit Jes 16,6, d. h. dem einzigen Vers der Vorlage, der gegen Moab Vorwürfe erhebt und sich daher als weiterer Schuldaufweis nutzen ließ, ein Aspekt, den Jeremia verstärkte. (4) Er hat die Vorlage als topographische Quelle für Ortsnamen genutzt. 699

48,29–33

Moabiter

Am Beginn des synoptischen Abschnitts des Moabkapitels steht die größte zusammenhängende Parallele, die Jes 16,6–10 entlanggeht. 29–30 Die Vv. 29–30 fußen auf Jes 16,6. Das Vorbild hebt an mit einer chorischen Rede von Judäern: Wir haben gehört …. Im gegebenen Kontext – nach dem sekundären Einbau von Jes 16,1–5 – schlagen die Sprecher damit moabitischen Flüchtlingen die Bitte um Unterschlupf ab, indem sie den besiegten Nachbarn ihren notorischen Hochmut zum Vorwurf machen. Jer 48 spiegelt hingegen den älteren Stand der Quelle, als dieses Vorspiel und mithin die spezifische Situation noch fehlten. In 29a versetzte Jeremia seine Vorlage in den Singular, wie AlT im Einklang mit 30a.32a.33b dokumentiert, während in MT mit Rücksicht auf Jes der Plural wiederhergestellt wurde (zu V. 31 s. z. St.). So schuf der Prophet eine Gottesrede, in der Jhwh die Moabiter anklagt und folglich ihre Überheblichkeit zum Strafgrund erhebt, warum er sie der gegenwärtigen Katastrophe ausgeliefert hat. Die Rüge des Größenwahns bekräftigt die Kritik, die das Kapitel durchzieht (s. zu 7a). Reiht schon die Vorlage nicht weniger als vier Substantive für Hochmut bzw. Anmaßung sowie ein Adjektiv aneinander, steigert die Jer-Fassung nochmals den Nachdruck durch den Zusatz ABli ~rU sein hochfahrender Sinn, und MT flicht obendrein Ahb.G" seine Überheblichkeit ein. Außerdem gliedert Jeremia Atr"b.[, seine Vermessenheit aus und bildet damit einen neuen Satz (30a), in dem Jhwh erklärt, dass Moabs Arroganz in seinem Visier steht. 30b ist in MT doppeldeutig, denn das Subjekt wyD"B; ist in der Quelle Jes 16,6 fraglos von dB; IV Geschwätz, Lüge abzuleiten, während das Wort in den Fremdvölkersprüchen des Jeremiabuches mit ihrer Religionspolemik (s. Einleitung) auch als Form von dB; V Orakelpriester einen kontextgerechten Sinn ergibt. Daher kann der Satz besagen: verlogen ist seine Großmäuligkeit, aber auch: verlogen sind seine Orakelpriester. Jedenfalls verkörpert das Urteil hier im Gegensatz zur Quelle keine menschliche, sondern Jhwhs Optik; dasselbe gilt für Jeremias Beifügung verlogen handelten sie (30c), die zwei Leseweisen zulässt, je nach Interpretation von 30b: Entweder dehnt die Erweiterung Jhwhs Verdikt über die Reden der Moabiter auf ihr Handeln aus, sodass die Moabiter in Wort und Tat für Trug stehen, oder sie erläutert die Kritik an den moabitischen Wahrsagern. 31 Antworten in Jes 16,7 die Moabiter auf die Abfuhr mit Klagegeheul, so ist es in 31ab MT Jhwh, der Geschrei über ihre Not anstimmt, im Einklang mit 32a, wo die Tragödie ihn zu Tränen rührt (vgl. auch 36ab). Obwohl Jhwh selbst den Untergang der Moabiter verfügt hat (vgl. Vv. 10.12.21.35.38.44), ist er von ihrem grauenhaften Los erschüttert. In AlT hingegen wird ein anonymes Publikum zur Klage über Moab aufgerufen. Nach den Tendenzen des Kontextes hat MT mit der 1. Person das Original bewahrt, während ein Schreiber in der alexandrinischen Tradition an solchen Emotionen Jhwhs für Moab Anstoß nahm und daher den Wortlaut an 20cd; 25,34; 49,3 anglich. 31c MT berichtet vom seufzenden Bedauern einer Vielzahl von Menschen über die Leute von Kir-Heres. Die Stadt wird zumeist mit der moabitischen Kapitale am Oberlauf des Wādi el-Kerak identifiziert, mitunter aber auch mit dem in der Mescha-Stele erwähnten Qericho bei Dibon gleichgesetzt. Das Prädikat in 3. Person Plural geht wohl auf einen Textschaden zurück (G* ist nicht auswertbar; TK), doch ist in Jer auch kaum die 2. Person Plural aus der Quelle Jes 16,7 ursprünglich, sondern hier wird der Satz ehemals auf Jhwh bezogen gewesen sein. Bei der Bestimmung des 29–33

700

Moabiter

48,33

Verhältnisses zur Vorlage muss eine maßgebliche Streitfrage offen bleiben: Dem Wort yven>a; Leute, (wörtlich) Männer in Jer entspricht in Jes 16,7 yveyvia]. Geht diese Form auf ein Hapax legomenon vyvia* Mann zurück (so HAL), sodass Jeremia lediglich einen ungewöhnlichen Sprachgebrauch durch einen gängigen ersetzt hat? Oder ist yveyvia] von hvyvia] Traubenkuchen abgeleitet (so Ges18),14 sodass Jeremia auf der Basis eines ähnlichen Schriftbilds den Textsinn deutlich vereinfacht hat? Indem jedenfalls der Vers Kir-Heres zur Sprache bringt, fügt er sich dem Bestreben der Anleihe bei Jes, den Jer-Text mit moabitischen Ortsnamen anzureichern. V. 32 setzt dieselbe Tendenz fort: Aus Jes 16,8–9 entfallen das bereits in 2b er- 32 wähnte Heschbon sowie Elale, das in 34a folgen wird. Dagegen wird das zweifach angeführte Sibma (am Nordwesthang des Mischor zwischen Heschbon und Nebo) einmal aufgegriffen, während Jaser doppelt übernommen wird, und zwar gegenüber der Quelle in umgekehrter Reihenfolge (der Ort wird meist mit der Stadt dieses Namens ca. 15 km westlich der ammonitischen Hauptstadt Rabba gleichgesetzt, also sehr weit vom moabitischen Siedlungsraum entfernt, weswegen möglicherweise mit einer gleichnamigen Stadt andernorts zu rechnen ist). In 32a lesen die Textzeugen einhellig mit Jes 16,9 die 1. Person, die dort auf den Propheten verweist, während sie hier der Stimme Jhwhs gehört, der zunächst den Weinstock Sibma anredet und der Stadt erklärt, er werde mehr um dich weinen als um Jaser, was immer diesen Vergleich veranlasst haben mochte (eine Verschreibung?). Dann wird der üppige Wuchs der Reben des Ortes mit einem phantastischen Bild aus Jes 16,8 beschrieben: Ihre Ranken erstreckten sich bis zum (Toten) Meer (32b) und nach Jaser (32c). Ausgespart wird dagegen die zweite Verszeile von Jes 16,8, die keine topographische Information enthält. Die Babylonier treten in 32d – ein typischer Unterschied zu Jes 16,9 – wieder unter der üblichen Chiffre der Verwüster auf, der hier allerdings keine Städte (8a.15a*) oder Festungen (18c mit d) erstürmt, sondern über deine Obsternte und deine Weinlese hergefallen ist. Damit wird nach dem sog. Küferspruch (Vv. 11–12) das Schicksal Moabs erneut im Medium seiner Reputation als renommiertes Weinland reflektiert. V. 33 fasst das Endergebnis zusammen, und zwar ursprünglich, wie noch in AlT 33 bewahrt, als Feststellung vollendeter Tatsachen, während MT per Readaption an Jes 16,10 ein Unheilsorakel bietet. Danach schwinden Freude und Jubelruf aus Moab (33a), weil Jhwh der Weinherstellung den Rohstoff entzieht (33b), sodass den Winzern nichts mehr zu tun bleibt (33c). Eine Kelter bestand damals aus zwei benachbarten, auf leicht unterschiedlicher Höhe angebrachten Bodeneinlassungen (Kufen) von etwa einer Handbreit Tiefe. In der oberen Tretkufe (tG:) wurde der Saft mit den Füßen ausgepresst und floss durch in den Stein getriebene Rillen oder Röhren in die untere Sammelkufe (bq,yq;P. t[e 8de gehört zu den Verbindungen des Typs hD"quP. tn:v. \ t[e, die zu den exklusiven Eigenarten des Jeremiabuches zählen (6,15 || 8,12 MT; 10,15 || 51,18; 11,23; 23,12; 46,21; 48,44; 50,27.31). Darüber hinaus treten Kennzeichen in 49,21 und somit auch in der Parallele 50,46 auf, aber da sie sonst die jeremianische Poesie charakterisieren und weitere Anzeichen für den Vorrang der Edom-Fassung sprechen, wird man die Merkmale auch hier als Indikatoren der Echtheit zu bewerten haben. #r reḥōb freier Platz (in einer Siedlung) (26a) ist sonst einzig in 9,20 belegt, könnte also ein Stilmerkmal Jeremias widerspiegeln. Andererseits ist 50,30 nahtlos in seine Umgebung eingebettet, indem der Vers die Anklage der Blasphemie 29g folgerichtig mit einer durch !kel' darum markierten Strafansage fortführt, während bei 49,26 kein begründender Schuldaufweis vorausgeht. Indes kann !kel' bisweilen eine nur vage mitgedachte, nicht ausformulierte, lose Ursächlichkeit bezeichnen, sodass sich die Bedeutung der Konjunktion vom Kausalkonnex zur zeitlichen Abfolge verlagert, etwa nach Art von daraufhin.1 Freilich wird ein Zitat seine regelhaften Funktionen normalerweise nicht im Empfängertext besser erfüllen als im Spenderzusammenhang. Textkritisch identifizierbare Glossen bilden jedenfalls die Worte an jenem Tag und die Erweiterung der Gottesspruchformel in 26b. V. 27 ist ein Mischzitat aus Am 1,4.14, bei dem sich nicht ausschließen lässt, dass es bereits von Jeremia angebracht wurde, da er eine ähnliche Abfolge in 21,14  Vgl. z. B. 15,19; 30,16; 32,28; 51,47.

1

735

49,23

Damaskus

benutzt hat. Wendungen dieses Typs waren ohnehin leicht merkbar und zu einem Versatzstück geronnen.2 Außerdem hat Jeremias Kenntnis einer Vorform des Amosbuches auch andernorts auf seine Fremdvölkersprüche eingewirkt.3 Zur Textgenese ist ferner zu beachten: Da dem Damaskusorakel eine Botenformel fehlt (vgl. aber 46,1 MT), erhält es eine explizite religiöse Komponente erst durch die beiden literarkritisch umstrittenen Schlussverse mit der Gottesspruchformel 26b und dem Ich des Sprechers in V. 27, das aus Sachgründen nur auf Jhwh beziehbar ist. Insgesamt lässt die Indizienlage jedoch kein klares Urteil zu.

Zumindest ein Grundbestand des Gedichts darf Jeremia zugeschrieben werden. Dafür sprechen die typischen Züge jeremianischer Fremdvölkersprüche, nämlich der anonyme Angreifer aus dem Norden und schwache oder fehlende Anklagen, sowie sprachliche Indikatoren. Zur Kollokation von swn und hnp-H 24b vgl. oben zur Textgenese von 49,7–22 (V. 8). ‘ Hq'yzIx/h, ’ jj,r< 24c hat seine einzigen strukturell-semantischen Parallelen in Wnt.q;yzIx/h, hr"c' 6,24c (|| 50,43c) und ynIt.q'zIx/h, hM'v; 8,21c. V. 25 yfiAfm. ty:r>qi hL'hiT. ry[i hb'Z>[u-al{ %yae ist strukturidentisch mit 48,17c hr"a'p.Ti lQem; z[o-hJem; rB;v.nI hk'yae kraft der Sequenz hk'yae  / %yae (+ Negation) + verbales Prädikat im Passiv + Subjekt als Konstruktusverbindung + Apposition als Konstruktusverbindung. Vgl. ferner oben zu 26a.

Erklärung 23 Nach der einfachen Überschrift mit Lamed inscriptionis 23a (s. zu 46,2, Textgenese)

beginnt das Gedicht ohne prophetische Botenformel; d. h. den Anspruch, die Gottesstimme wiederzugeben, erhebt hier nur die masoretische Fassung durch die Gesamtüberschrift 46,1 MT. Die Unheilsklage 23b–25 betrifft anfänglich noch nicht Damaskus, sondern die Städte Hamat (s. zu 39,5) und Arpad (ca. 30 km nördlich von Aleppo; heute Tell Refāt), zeitweise Zentren nordsyrischer Kleinstaaten abseits des geographischen Raums, den Damaskus bis dahin jemals kontrolliert hatte. Dieser Zug entspricht der Besonderheit jeremianischer Fremdvölkersprüche, auch auf das Schicksal benachbarter Staaten auszugreifen, und zwar als ein literarisches Instrument, um unter den darstellerischen Schranken des Babelschweigens trotzdem die Identität der Eroberer unmissverständlich zu markieren. Hier gibt wieder die Stoßrichtung des Angriffs von Norden nach Süden einen maßgeblichen Wink, denn es waren Feldzüge aus Mesopotamien, die Hamat und Arpad vor Damaskus erreichten. Wenn ferner schon die bloße Nachricht von dem Anmarsch die beiden Städte zuschanden gehen ließ (23b), also einem ehrlosen Ende auslieferte, und in helle Aufruhr versetzte (23d–f), musste eine Militärmacht vom Schlage der Babylonier die Ursache sein. Die einleitende Klage über Hamat und Arpad verrät somit in aller Deutlichkeit, die die Anonymität der Aggressoren zuließ, Art und Ausmaß der Damaskus drohenden Gefahr. 24 Die Reaktion von Damaskus wird noch drastischer geschildert: Die Stadt ist erschlafft (so 24a wörtlich), d. h. lähmende Panik unterbindet jeden Versuch der Gegen2 Vgl. 3 Vgl.

736

17,27; 50,32; Ez 21,3; Klgl 4,11. 46,5–6 mit Am 2,14–16; 46,7a(8a) mit Am 8,8 und 9,5; 48,7b und 49,3g mit Am 1,15.

Damaskus

49,26–27

wehr, weshalb den Menschen nur noch die Flucht bleibt, wie 24b in einer typisch jeremianischen Wendung erklärt (vgl. 46,5.21; 49,8). Die Angst löst unkontrollierbares, krampfhaftes Zittern aus, das koordinierte Bewegungen verhindert (24c). Ein später Ergänzer hat noch das geprägte Bild von der Frau in Wehen hinzugefügt (24d), um die „Verweibung“ der Krieger zu beschreiben, die die zeitgenössische Mentalität als besonders demütigend betrachtete (vgl. zu 30,6). Die beiden Verse 23–24 zählen an sich Symptome des numinosen Gottesschreckens auf, der sonst als Jhwhs Kriegswaffe dient (s. o. zu V. 5). Hier allerdings schweigt der Text von mythischen Implikationen, insofern die panischen Reaktionen weiterhin als Folgen der in 23c berichteten Meldung gelten. Die Klage über die Wehrlosigkeit von Damaskus mündet in einen formgerechten, 25 mit %yae wie …! bzw. ach! eingeleiteten Klageruf, der die Kluft zwischen der großen Vergangenheit und der traurigen Gegenwart bedauert (vgl. zu 48,17): Nach der Flucht eines Großteils der Bevölkerung liegt die ehemals ruhmreiche Metropole verlassen da. Hier wird der verflossene Glanz der Stadt in Worte gekleidet, die möglicherweise traditionelle Ehrenprädikate von Damaskus bezeichneten (wie z. B. bei Rom „die ewige Stadt“). Die beiden Schlussverse schwenken von der Klage über die Gegenwart zum Blick 26–27 in die Zukunft, um nun mit Szenen von der militärischen Eroberung das drohende Schicksal der Stadt klarer zu umreißen. Mit !kel' darum, das hier aber eher eine zeitliche als kausale Folge bezeichnet (etwa: daraufhin), schließt 26a ein Wortspiel an, das den Tod ihrer jungen Männer (h'yryI aB'nI-rv,a] was Jeremia über die Nationen prophezeit hat lesbar als Explikation der vorausgehenden Wortverbindung hZ Jhwh der Heerscharen hervorgehoben wird, dürfte dies auf seine kriegerischen Potenzen hinweisen (s. zu 2,19). Im Ergebnis wird sein Eingreifen nicht nur Israel, sondern der Erde Rast verschaffen ([:yGIr>hi hirgī‘), aber Unrast (zyGIr>hi hirgīz) den Bewohnern von Babel (34c) – so ein Versuch, ein Wortspiel im Hebräischen nachzuahmen. Jhwh wird also weltweit die Verhältnisse im Interesse ihrer Bewohner neu ordnen – mit Ausnahme der Babylonier, denen der Umsturz nur Schrecken einträgt. 781

50,35–38 35–38

Babylon

Nach der letzten Heilsverheißung für Israel/Juda folgen Stücke, die außerhalb der damit gestifteten Struktur stehen und besonders deutlich als Anleihen erkennbar sind. Das von einem strengen Formschema geprägte sog. Schwertlied ist zwar im Unterschied zu den Vv. 39–46 nicht unserer heutigen Bibel entnommen, hat aber mit Sicherheit zunächst für sich bestanden. Der ausgedehnte Fluch ruft auf Babylonien das Schwert herab, im AT oft ein pars pro toto für „Krieg“, so etwa in der in Jer so häufigen Plagentrias Schwert (= Krieg), Hunger und Seuche (Kon 49 f.). Das Schwert wird hier wie eine eigenständige numinose Macht beschworen, und zwar textintern nach Abzug der prämasoretisch ergänzten Gottesspruchformel in V. 35 ohne Beteiligung Jhwhs, sodass dem Gedicht sein Ursprung als Zauberspruch noch deutlich anzusehen ist. Es unterstellt in einer litaneiartigen Aufreihung das Land Babylonien, seine Bewohner, wichtige Funktionsträger und Ressourcen dem Wüten des Schwertes, das in hämmerndem Stakkato jeweils die zugehörigen Verszeilen eröffnet. Nachdem eine erste Serie in V. 35 die Bevölkerung insgesamt und ihre Führungskreise verwünscht hat, greifen die Vv. 36–38b einzelne Gruppen und Ressourcen heraus und explizieren die Effekte des Krieges – Nichtigkeitsflüchen ähnlich (s. zu 29,5–6) – derart, dass die aufgezählten Beispiele ihre Funktionsfähigkeit verlieren oder ganz abhandenkommen: Die Orakelpriester … werden sich als Narren erweisen (36ab); den babylonischen Streitkräften, seien sie einheimisch oder im Ausland rekrutierte Söldner, zerrinnt der Kampfeswille (36c–37c; zur „Verweibung“ 37c vgl. zu 30,6); die Reichtümer Babylons, Grundlage wie Frucht seines Imperialismus und Basis seiner hochfahrenden Prachtentfaltung, werden geraubt (37de); die komplexen Bewässerungssysteme, Fundament seiner Nahrungsmittelversorgung, versiegen (38ab), gemeint ist wohl: aufgrund kriegsbedingter Vernachlässigung. Die ursprünglich rein machtpolitisch orientierte Beschwörung ist sekundär angereichert worden: Um zu betonen, dass auch die waffentechnische Überlegenheit das Großreich nicht retten wird, hat man in 37a aus 51,21a seine Rösser und Wagen entlehnt, kenntlich daran, dass sie das regelmäßige Stichenmaß überschreiten und im Gegensatz zum Kontext mit maskulinen Possessivpronomina auf Babylon verweisen. Vor allem wurde in 38cd eine religionspolemische Begründung angehängt, die den Untergang des Reiches als Sühne für seinen Götzenbilderkult deutet und damit das judäische Publikum vor solchen Missbräuchen warnt. In der prämasoretischen Texttradition hat man ferner noch den eigens apostrophierten Streitkräften (36c–37c) die Orakelpriester vorangestellt, die angesichts des berühmten, hoch entwickelten mesopotamischen Wahrsagewesens (vgl. Ez 21,26) als mustergültige Repräsentanten ihrer Religion eintreten konnten, sodass ihr Versagen auf die exemplarische Desavouierung ihrer Spielart von Götzendienerei hinauslaufen musste. Erst diese Nachträge und die Einbettung in einen Kontext wie den heutigen haben das Schwertlied in einen explizit jahwistischen Denkrahmen eingebunden, der mithin für solche Flüche ehemals nicht verbindlich war. Der mutmaßliche Originaltext veranschaulicht, wie man im Alten Orient versucht hat, mit magischen Mitteln seiner Feinde Herr zu werden. Er ist damit ein Beispiel für die wahrscheinlich originäre Funktion prophetischer Fremdvölkersprüche. Im Falle des Schwertlieds steigerte der beschwörende Gleichklang noch den Nimbus seiner Machtgeladenheit, aber auch seine Memorierbarkeit. Auf dem Weg zum Endtext ist 782

Babylon

50,41–43

daraus eine scharfe Warnung geworden, die am Sturz des einstmals übermächtigen Babylons die verhängnisvollen Konsequenzen des Götzenkults illustriert.

Literatur: C. Nihan, Les habitants des ruines dans la Bible hébraïque, in: Th. Römer (u. a., 39–40 Hg.), Entre dieux et hommes. Anges, démons et autres figures intermédiaires (OBO 286), Fribourg 2017, 88–115.

In V. 39–40 schließt sich mit !kel' darum eine Strafansage (39a) an, die die zuvor angeprangerte Götzendienerei als Schuldaufweis nutzt und so das erweiterte Schwertlied mit dem folgenden Unheilsorakel zu einem formgerechten Gerichtswort über Babylon vereint. Das Orakel ähnelt Jes 13,19–22, insofern beide Passagen dieselben Topoi nutzen, um die künftige Entvölkerung Babylons zu beschreiben: den Vergleich mit der sprichwörtlichen göttlichen Verödung Sodoms und Gomorras sowie die Okkupation der Trümmerstätte mit unheilsschwangerem Wildgetier. Dazu kommen Gemeinsamkeiten im Wortschatz: Die drei Tierarten ~yYIci Wildkatzen (?), ~yYIai Schakale und hn"[]y: tAnB. Strauße (39ab) treten auch in Jes 13,21–22 auf; 39b variiert Jes 13,21c; 39c wiederholt Jes 13,20a, um die Partikel dA[ (nach Negation) nicht mehr erweitert, weswegen ein prämasoretischer Ergänzer in 39d die Fortsetzung Jes 13,20b nachgetragen hat (TK). V. 40 ist eine Parallele zum zweiten Stichus von Jes 13,19, freilich in einer verlängerten Variante, die weitgehend mit 49,18 übereinstimmt. Für die Verhältnisbestimmung gilt: Jer 50,39–40 kombiniert Jes 13,19–22 mit Jer 49,18, wobei V. 39 als kürzeres Äquivalent von Jes 13,20–22 fungiert, während in V. 40 eine Parallele zu Jer 49,18 die Rolle von Jes 13,19 einnimmt. Da folglich von einem buchinternen Gegenstück überformt, bildet Jer 50,39–40 gegenüber Jes 13,19–22 die abhängige Fassung. Das Drohwort schärft nach V. 13 abermals die kommende Entvölkerung Babyloniens ein und fügt aus Jes 13 noch weiteres Unheil hinzu, das der Verwüstung Dauerhaftigkeit verleihen wird: In den Trümmerstätten werde sich Wildgetier einnisten, das als Manifestation gefährlicher Unheilsmächte galt und daher der menschlichen Neubesiedlung einen Riegel vorschob (vgl. auch Jes 34,10–17; Zef 2,13–15; s. ferner zu 49,33). Die schaudererregende Ödnis von Sodom und Gomorra (s. zu 49,18) belegt als wohlbekannter Präzedenzfall, wie todernst die Drohung gemeint ist.

Literatur: E. Peels, „Against You, Daughter of Babylon!“ A Remarkable Example of Text-Re- 41–43 ception in the Oracle of Jeremiah 50–51, in: W. Th. van Peursen, J. W. Dyk (Hg.), Tradition and Innovation in Biblical Interpretation (FS E. Talstra; SSN 57), Leiden 2011, 31–44.

Die Vv. 41–43 sind eine um wenig mehr als den Austausch der Opfer abgewandelte Kopie von 6,22b–24, die die Ankündigung des Feindes aus dem Norden von der Tochter Zion (6,23f) auf die Tochter Babel (42f) und ihren König (V. 43) überträgt – das eindrucksvollste Beispiel des für die Fremdvölkersprüche typischen Verfahrens, vorgefertigte Textbausteine wiederzuverwenden und gegebenenfalls durch geringe Retuschen auf neue Adressaten umzulenken. 41b geht über die Vorlage hinaus: Die angreifende Nation gilt bereits von vornherein als groß, während dieses Adjektiv erst prämasoretisch in das Vorbild 6,22c zurückwanderte; ferner hat man hier viele Könige beigegeben. Nach dem Modell von V. 3 und 9 erliegen die Babylonier nun einer gesteigerten Reprise jenes Ansturms, dem sie Juda einst selbst unterzogen hatten, sodass sie ihre Verbrechen am eigenen Leibe kosten. Dabei ist von einer vormaligen göttlichen Mission Babylons erneut keine Rede. Als Koalition einer anonymen gro783

51,41–43

Babylon

ßen Nation und vieler Könige aus dem Norden ist der Eroberer wieder in eine transhistorische Sphäre entrückt, weil nicht der konkrete Ablauf, sondern die Bedeutung des Vorgangs zählt: der talionische Nachvollzug des Schicksals Judas durch die Täter. Zur Einzelerklärung s. zu 6,22–24. 44–46 In den Vv. 44–46 folgt die auf Babylon umgemünzte Version von 49,19–21 aus der Spruchkomposition über Edom. Vom Austausch der Namen (45bc) und kleineren Differenzen abgesehen, wurde lediglich der Schlussvers abgewandelt: Statt vom Sturz der Edomiter (49,21a) hat die Erde nunmehr vom Triumphgeschrei über die Einnahme Babels gedröhnt (46ab), und statt am Schilfmeer (49,21bc) war der Schall unter den Völkern – also weltweit – zu hören (46c). Das in eine pastorale Metaphorik gegossene Bildwort V. 44 reappliziert im Kontext von 50 erneut das Geschick Judas auf Babylon: Jhwh wird wie ein Löwe diejenigen jagen, die Juda früher wie gefräßige Löwen zusetzten, darunter die Babylonier (V. 17). Zugleich wird er als der eigentliche Akteur hinter dem geheimnisvollen Feind aus dem Norden in V. 41–43 identifiziert. Zur Erklärung der schwierigen Passage s. zu 49,19–21.

51 1 a So spricht Jhwh: b Siehe, ich erwecke gegen Babel und die Bewohner von „Herz meiner Widersacher“a einen Sturm des Verderbens. b  die werden es worfeln 2 a Ich sende nach Babel Worflera, ​ c und sein Land verheeren, d haben sie es erst umzingeltb am Tag des Unheils. (AlT: Wehe! (ertönt es) über Babel ringsumher am Tag des Unheils.) 3 a Der Schütze [… a] spanne [… b] seinen Bogen, b [… a] er recke sich auf in seinem Brustpanzer! c Schont seine jungen Männer nicht, d vollzieht den Bann an seinem ganzen Heer! 4 a Dann werden die Erschlagenen niedersinken im Land Chaldäa, b und die Durchbohrten in seinen Gassen. 5 a b

Jawohl, weder Israel noch Juda sind im Stich gelassena von ihrem Gott, von Jhwh der Heerscharen; obwohl ihr Land voll von Schuld war vor dem Heiligen Israels.

6

Flieht aus Babels Mitte, und rettet – ein jeder sein Leben! Kommt nicht um aufgrund seinera Schuld! Denn die Zeit der Rache ist dies für Jhwh, Seine Schandtaten zahlt er ihm heim.

a b c d e

784

Babylon

50,44–46

 7 a Ein goldener Becher war Babel in Jhwhs Hand, b der alle Welt berauschte. c Von seinem Wein tranken die Nationen; d deshalb werden sie wahnsinnig, [die Nationen]. b  und zerschmettert.  8 a Doch plötzlich ist Babel gestürzt ​ c Heult über es! d Holt Balsama für seinen Schmerz! e Vielleicht ist es zu heilen. b  doch es war nicht zu heilen.  9 a Wir wollten Babel heilen, ​ d  Gehen wir heim, jeder in sein Land! c Verlasst es! ​ e Denn bis zum Himmel hat sich sein Sündenregistera gereckt, f es ragt bis an die Wolken. c  lasst uns 10 a Jhwh hat unsere gerechte Sache durchgesetzt.a  b  Kommt, ​ in Zion von der Tat Jhwhs, unseres Gottes, erzählen! 11 a Schärft die Pfeile! b Füllt die Köcher! c Jhwh hat den Geist der Könige von Medien erweckt, d denn gegen Babel zielt sein Sinnen und Trachten, es auszutilgen. e Jawohl, die Rache Jhwhs ist dies, die Rache für seinen Tempel! 12 a Gegen Babels Mauern richtet ein Feldzeichen auf! b Verstärkt die Wache! c Stellt Posten auf, d legt Hinterhalte!a e Denn Jhwh hat [sowohl] ersonnen, ​ f  und er führt auch aus, g was er über Babels Bewohner geredet hat. 13 Das du an großen Gewässern wohnst, reich an Schätzen – dein Ende ist gekommen, dein Maß ist voll (?)a. 14 a Jhwh [der Heerscharen] hat bei sich selbst geschworen: b Wenn ich dich auch mit Menschen angefüllt habe wie mit Heuschrecken, c wird man trotzdem über dich Triumphgeschrei anstimmen! 15 a b c 16 a b c 17 a b

Der die Erde gemacht hat mit seiner Kraft, den Erdkreis gegründet mit seiner Weisheit, mit seiner Einsicht den Himmel ausgespannt – unter Donnerschlägen brachte er die Wasser am Himmel in Wallung (?),a führte er Wolkenmassen vom Ende der Erde herauf; Blitze für den Regen hat er geschaffen, holte den Wind / das Licht aus seinen Vorratskammern hervor. Entgeistert steht jeder Mensch da, unfähig zu begreifen. Blamiert ist jeder Goldschmied mit seinem Götzenbild, 785

50,44–46

Babylon

c denn Schwindel sind seine Gussbildera, d kein Atem ist darin. 18 a Ein Nichts sind sie, b ein lachhaftes Machwerk; c greift er gegen sie durch,a gehen sie zugrunde. 19 a Anders als jene ist der Anteil Jakobs, c  [… a] sein Erbteil – b denn der Schöpfer des Alls ist ​ d Jhwh [der Heerscharen] ist sein Name. 20 a Ein Hammer bist du mir, Waffe für den Krieg; b ich zerhämmere mit dir Nationen c und vernichte mit dir Königreiche. 21 a Ich zerhämmere mit dir Ross und Reitera, b ich zerhämmere mit dir Wagen und Lenker. 22 a Ich zerhämmere mit dir Mann und Frau, b [ich zerhämmere mit dir Greis und Kinda,] c ich zerhämmere mit dir Bursche und Mädchen. 23 a Ich zerhämmere mit dir Hirt und Herde, b ich zerhämmere mit dir Bauer und Gespann, c ich zerhämmere mit dir Statthaltera und Vorstehera. b  das 24 a Ich zahle Babel und allen Bewohnern Chaldäas all das Böse heim, ​ sie an Zion vor euren Augen verübten – Spruch Jhwhs. 25 a b c d e 26 a b

Pass auf,a jetzt bekommst du es mit mir zu tun,b du Berg des Verderbens [– Spruch Jhwhs –], der die ganze Erde verdarb. Ich strecke meine Hand gegen dich aus, wälze dich (herab/weg ?)c von den Felsen und mache dich zu einem Berg aus Brandschutt (?)c, sodass man von dir weder Schlussstein noch Grundstein nehmen kann, denn eine Ödnis für immer wirst du werden – Spruch Jhwhs.

27 a Errichtet ein Feldzeichen auf der Erde, b stoßt ins Widderhorn unter den Nationen! c Heiligt gegen es Nationen (zum Krieg)! d Bietet auf gegen es die Königreiche von Ararat, Minni und Aschkenas! e Bestimmt gegen es den Strategena! f Lasst b Rosse anrücken (in Massen) wie borstige Heuschrecken. 28  Heiligt gegen es Nationen (zum Krieg): den Königa von Medien, seineb Statthalterc und alle seineb Vorsteherc [und das ganze Land seinerd Herrschaft]. b  und bebte, 29 a Da erdröhnte die Erde ​ 786

Babylon

50,44–46

c weil sich an Babel die Pläne Jhwhs erfüllten, das Land Babels zur Einöde zu machen, wo niemand mehr wohnt. 30 a Die Vorkämpfer Babels gaben es auf zu kämpfen, b sie hocken in den Fluchtburgen. c Ihre Kampfkraft ist verflogen, d sie wurden zu Weibern. e Seinea Wohnstätten hat man in Brand gesteckt, f seinea Riegel sind zerbrochen. 31 a Ein Läufer läuft dem andern entgegen, b ein Melder dem andern, um dem König von Babel zu melden, c dass seine Stadt allseits erobert ist.a 32 a Die Furten sind besetzt, b die Vorwerke hat man im Feuer verbrannt, c und die Krieger sind von Panik befallen. 33 a Denn so spricht Jhwh [der Heerscharen, der Gott Israels]: b Die Tochter Babel ist wie eine Tenne zur Zeit, da man sie feststampft. (AlT: Die Paläste des Königs von Babel sind …) d  dann kommt die [Zeit der] Ernte für sie. c Noch eine kleine Weile, ​ 34 a c d e 35 a b c d

Gefressen hat mich, ​ b  ausgesaugt hat mich Nebukadrezzar, der König von Babel, mich dann beiseitegeschoben wie einen geleerten Topf. Er hat mich verschlungen wie der Chaosdrache, hat seinen Wanst gefüllt; f  hat er mich vertrieben. vom Ort meiner Wonnena ​ Was ich an Gewalt und Ausbeutunga erlitt,b komme über Babel!, soll die Einwohnerschaft Zions sagen. Mein Blut komme über die Bewohner Chaldäas!, soll Jerusalem sagen.

36 a b c d e 37 38 a b 39 a b d

Darum: So spricht Jhwh: Siehe, ich verschaffe dir Recht und nehme Rache für dich. Ich lasse seina Meer austrocknen und seine Quelle versiegen. Dann wird Babel [zum Geröllhaufen, zum Unterschlupf für Schakale,] zum Schauder [und zum (Ort des abwehrenden) Pfeifens], wo niemand mehr wohnt. Allesamt [brüllen sie] wie Löwen, knurren wie Junglöwen. Wenn sie brennen vor Gier, kredenze ich ihnen ein Gelagea und mache sie betrunken, ​ c  damit sie in Ohnmacht fallenb, in ewigen Schlaf entschlafen 787

50,44–46

Babylon

e und nie mehr erwachen – Spruch Jhwhs. 40 Ich führe sie hinab wie Lämmer zum Schlachten, wie Widder und Böcke. 41 a c 42 a b 43 a c

b  und eingenommen Wie ist doch erobert [Scheschacha] ​ das Staunenb der ganzen Welt! Wie ist zum Schauder geworden Babel unter den Nationen! Das Meer hat Babel überflutet,a vom Schwall seiner Wogen wurde es überschwemmt. Seine Städte wurden [zur Ödnis,] ein Land der Dürre und Steppe, b  wo niemand mehr wohnt [ein Land,] ​ und das kein Menschenskind durchzieht.

44 a Ich gehe gegen [Bel in] Babel vor b und entreiße seinen Fraß seinem Rachen. c Dann strömen die Nationen nie mehr ihm zu. d  [Sogar die Mauer von Babel ist eingestürzt.] ​ 45  a  [Zieh weg aus seiner Mitte, mein Volk!] ​ b  [Jeder rettea sein Leben vor Jhwhs Zornesglut,] ​ 46  a  [damit b  [und ihr euch nicht fürchtet bei dem Gerücht, das euer Herz nicht verzagt] ​ c  [– im einen Jahr kommt dieses Gerücht,] ​ d  [im Jahr im Lande zu hören ist] ​ darauf jenes Gerücht –] ​ e  [und wenn Gewalt im Land regiert] ​ f  [und Herrscher gegen Herrscher steht.] ​ 47  a  [Darum: Siehe, Tage sind am Kommen,] ​ b  [da c  [Sein ganzes Land wird zugehe ich gegen die Götzenbilder von Babel vor.] ​ schanden,] ​ d  [und alle seine Erschlagenen werden in seiner Mitte niedersinken.] ​ 48  a  [Jubeln werden über Babel Himmel und Erde und alles,] ​ b  [was in ihnen c  [wenn von Norden her die Verwüster über es herfallen – Spruch Jhwhs.] ​ ist,] ​ 49 a [Gerade Babel muss fallen füra die Erschlagenen Israels.] b Dabei sind doch gerade für Babel gefallen die Erschlagenen der ganzen Welt. 50 a Die ihr dem Schwert entronnen seid, b  bleibt nicht stehen! macht euch fort, ​ c Denkt aus der Ferne an Jhwh, d und Jerusalem komme euch in den Sinna! b  denn Schmähung mussten wir anhören. 51 a Schämen müssen wir uns, ​ c Schamröte bedeckt unser Gesicht, d [denn] Fremde sind hergefallen über die Heiligtümer des Hauses Jh whs. 52 a Darum: Siehe, Tage sind am Kommen – Spruch Jhwhs –, b da gehe ich gegen seinea Götzenbilder vor, c und in seinema ganzen Land röcheln Erschlagene. 53 a Selbst wenn Babel den Himmel erstiege, b und sich in unzugänglicher Höhe verschanztea – 788

Babylon

50,44–46

c auf meinen Wink hin würden trotzdem die Verwüster zu ihm vordringen – Spruch Jhwhs. 54 a Horch! Wehgeschrei von Babel her b und schwerer Schaden aus dem Land Chaldäa. 55 a Denn Jhwh verwüstet Babel, b beseitigt aus ihm den riesigen Lärm. c Zwar braustena seineb Wogen wie gewaltige Wasser, d verbreitete sichc das Getöse ihres Lärms; 56 a doch kam trotzdem [… a] über Babel der Verwüster, b seine Vorkämpfer wurden gefangen genommen, c seine Bogen zersplitterten. d Denn ein Gott der Vergeltung ist Jhwh; e er zahlt gründlich heim. 57 a Seine Befehlshaber, seine Weisen, [seine Statthaltera,] und seine Vorstehera [und seine Vorkämpfer] mache ich betrunken (AlT: macht er betrunken); ​ b  [dann werden sie in ewigen Schlaf entschlafen] ​ c  [und nie mehr erwachen] – Spruch d  Jhwh der Heerscharen ist sein Name. des Königs, ​ 58 a So spricht Jhwh [der Heerscharen]: b Die breite Mauera von Babel wird völlig geschleift, c und seine hohen Tore werden [im Feuer] verbrannt.

d So mühen sich Völker für nichts, ef und Nationen plagen sich aba für das Feuer!

59 a Das Wort, ​ b  das der Prophet Jeremia dem Seraja, dem Sohn Nerijas, des Sohnes Machsejas, auftrug, (AlT: das Jhwh dem Propheten Jeremia zu Seraja, dem Sohn Nerijas, des Sohnes Machsejas, zu sagen auftrug,) als dieser mit Zidkija, dem König von Juda, im vierten Jahr von dessen Regierung nach Babel reiste. ​ c  Seraja war Quartiermeister. ​ 60  a1  Jeremia schrieb all das Unheil, ​ b  das über Babel a2  auf eine einzige Buchrolle: alle diese Worte, die über Babel kommen sollte, ​ aufgeschrieben sind. ​ 61  a  Und Jeremia sagte zu Seraja: ​ b  Wenn du nach Babel kommst, sieh zu, ​ c  dass du alle diese Worte laut verliest. ​ 62  a  Dann b  Jhwh, du selbst hast diesem Ort angedroht, ihn zu vernichten, sodass sag: ​ c  weil eine Ödnis für niemand mehr darin wohnt, weder Mensch noch Vieh, ​ 63  a  Sobald du diese Buchrolle zu Ende gelesen hast, ​ immer entstehen wirda. ​ b  binde einen Stein daran ​ c  und wirf sie mitten in den Eufrat. ​ 64  a  Dann b  So soll Babel versinken ​ c  und nie wieder hochkommen, wegen des sprich: ​ d  das ich über es bringe. Unheils, ​ e  [„Und sie plagen sich ab.“] ​ f  [So weit (reichen) die Worte Jeremias.] 1 a Die masoretische Lesart ym'q' ble bildet ein sog. Atbasch-Kryptogramm für ~yDIfK; Chaldäer – wie von AlT bezeugt –, das hier zufällig einen verständlichen Wortlaut ergeben hat. Zu den

789

50,44–46

Babylon

Atbasch-Kryptogrammen s. zu 25,25. 2 a Lies ~yrIzO (BHS); TT ~yrIz" Fremde. b Wörtl. ringsum gegen es waren. 3 a MT stellt dem Verb regelwidrig die Präposition la, äl zu voran, anscheinend mit behelfsmäßiger Revokalisierung der Negation la; al, der sich hier keine sinnvolle Funktion zuschreiben lässt. b Dittographie des Verbs in MT. 5 a Wörtl. Witwer. 6 a D. h. Babels. 8 a Oder: Mas‑ tix. 9 a Wörtl. Gericht. 10 a Wörtl. Jhwh hat unsere Rechtsansprüche hervorgebracht. 12 a Wörtl. bringt die Auflauerer in Stellung. 13 a Wörtl. (gekommen ist) die Elle, dich abzuschneiden, was meinen dürfte: der Punkt ist erreicht, um deinen Lebensfaden abzuschneiden. 16 a Wörtl. zum Lärm seines Gebens die Menge (oder: das Getöse) der Wasser am Himmel. Zur schwierigen syntaktischen Form des Satzes vgl. die kürzere Parallele 10,13a AlT und R. Althann, The Inverse Construct Chain and Jer 10:13, 51:16, JNWSL 15 (1989) 7–13. 17 a BHS. 18 a Wörtl. zur Zeit ihrer Heimsuchung / Züchtigung. 19 a MT + der Stamm, eine unvollständige Angleichung an die masoretische Fassung der Parallele 10,16bc denn er (Jhwh) ist der Schöpfer des Alls, und Israel ist der Stamm seines Erbteils. 21 a Wörtl. und seinen Reiter. Ebenso trägt in 21b.23ab das jeweils zweite Objekt im Hebräischen ein auf das erste Objekt bezogenes Possessivpronomen. 22 a Wörtl. Knabe. 23 a Im Hebr. Lehnwörter aus dem Akkadischen für Titel hoher Würdenträger. 25 a Wörtl. Siehe. b Wörtl. ich gegen dich, die sog. Herausforderungsformel. c S. Erklärung. 27 a Hebr. rs'p.ji ṭipsar, ein Lehnwort von akkadisch ṭupšarru aus sumerisch dubsar Tafelschreiber, ein schreibkundiger Offizier, der wahrscheinlich für Planung und Logistik wie Truppenaushebung und Materialbeschaffung zuständig war. b Ergänzt nach AlT; in MT wahrscheinlich durch Parablepsis entfallen. 28 a Singular mit AlT und S (vgl. den masoretischen Überhang). b Die femininen Pronomina im Hebr. verweisen auf yd:m' Medien, das hier wie in Jes 21,2 das feminine Genus trägt. c S. 23 a. d Das maskuline Pronomen verweist auf den König von Medien. 30 a S. 6 a. 31 a Vielleicht auch: dass seine Stadt restlos erobert ist. 34 a Satzabgrenzung und Übersetzung nach AlT (TK). 35 a MT yrIaev. mein Fleisch, verschrieben aus yDIvu meine Ausbeutung; vgl. 6,7b; 20,8c; Ez 45,9; Am 3,10; Hab 1,3. b Wörtl. meine (= die mir angetane) Gewalt und meine (= die von mir erlittene) ‚Ausbeutung‘. 36 a S. 6 a. 39 a Wörtl. in ihrer Hitze werde ich ihr ein Gastmahl vorsetzen. b BHS; MT: fidel werden. 41 a Atbasch-Kryptogramm für „Babel“; s. oben zu 25,25. b Wörtl. Ruhm, Lobpreis. 42 a Wörtl. heraufgestiegen über Babel ist das Meer. 45 a Wörtl. und rettet, ein jeder sein Leben. 49 a BHS. 50 a Wörtl. steige auf in euer Herz. 52 a S. 6 a. 53 a Wörtlicher: und wenn es seine befestigte Zinne uneinnehmbar erhöhte. 55 a Mit AlT qatal-Formation für perfektiven Sachverhalt; MT: w˙=qatal (imperfektiv). b BHS. c Wörtl. wurde gegeben. 56 a MT aufgrund von Dittographie + h'yl,[' über es. 57 a S. 23 a . 58 a BHS. 62 a Im Hebräischen Disgruenz zwischen Subjekt (Plural) und nachstehendem verbalen Prädikat (Singular) aufgrund der wörtlichen Entlehnung aus 26b. S. z. St und TK.

Gliederung 51 prophezeit das Ende des babylonischen Reiches ähnlich wie 50, indem mehrfach Sprucheinheiten, die ausgewählte Phasen des Geschehens porträtieren, zu Bilderzyklen verkettet werden. Zumindest teilweise bedingt durch die Entstehungsgeschichte der Babylonkapitel, hat man also nicht auf dieselbe Etappe bezogene Texte zusammengeführt, sondern mit literarischen Reflexen anderer Phasen zu wiederholten Schilderungen desselben Metanarrativs vereint. Dieses Verfahren gibt dem Ergebnis seinen repetitiven Charakter, indem der Weg zum Untergang Babylons in den Kapiteln 50 und 51 je drei Mal durchlaufen wird. Die Selektion der gespiegelten Handlungsschritte und deren konkrete Gestaltung hängen jeweils von den Materialien ab, die den Redaktoren zur Verfügung standen, doch zeichnet sich das Bestreben 790

Babylon

51,1–4

ab, die gesammelten Sprucheinheiten zu dramaturgischen Bögen zu verkoppeln, die überwiegend chronologisch von der Ansage über den Appell zur Flucht an die Exilanten und die Aufforderung zum Kampf an die Angreifer bis zum Krieg und seinen Folgen reichen. Die drei Varianten dieses Musters in 51 gestalten sich wie folgt: Der erste Zyklus umfasst die Vv. 1–19 und beginnt mit der Gottesrede Vv. 1–4, die den Aufmarsch ankündigt und bereits zum Kampf aufruft. Nach dem kurzen prophetischen Kommentar V. 5 folgt in V. 6–10 eine Aufforderung zur Flucht aus Babylon, die in eine gleichartige Selbstermunterung der Exilanten mündet. Die um eine Drohung an Babel erweiterten Appelle zur Gefechtsvorbereitung in V. 11–14 führen an den Krieg heran, der jedoch nicht mehr eigens thematisiert wird. Stattdessen gipfelt der Durchlauf in dem Hymnus auf die Schöpferkraft Jhwhs Vv. 15–19 (|| 10,12–16), die von der Ohnmacht der Götzenbilder absticht, sodass sich als maßgeblicher Gewinn des Sieges über Babylon der Erweis der Überlegenheit der bildlosen Jhwh-Verehrung über die vom Bilderkult geprägte mesopotamische Religion herausstellt. Der zweite Zyklus Vv. 20–33 beginnt mit einer doppelten Ankündigung: Das sog. Hammerlied Vv. 20–24 sagt in seiner vorliegenden, erweiterten Form den Judäern die Vergeltung an Babylon an, während die Rede an den Berg des Verderbens Vv. 25–26 diese Botschaft dem Großreich selbst ausrichtet. Die Vv. 27–33 kombinieren Aufforderungen zum Kampf mit einer Schilderung der nahezu vollendeten babylonischen Niederlage. Der dritte Zyklus Vv. 34–58c ist breiter entfaltet und hebt in V. 34–40 an mit einer Klage Jerusalems über das von der Hand Nebukadnezzars erfahrene Leid, worauf Jhwh mit der Ansage der Vernichtung Babels antwortet. In V. 41–43 konstatiert ein anonymer Sprecher schon erstaunt die Verwüstung der Stadt, doch 44a–c schaltet wieder in den Modus der Drohung, die Jhwh gegen [Bel in] Babel auf eine Weise ausspricht, die an die Klage Jerusalems in V. 34 anknüpft. Dem folgte ursprünglich die Aufforderung zur Flucht an die Exilanten 49b–51, der man in MT 44d–49a ein weiteres Exemplar dieser Gattung inklusive einer Götzenbildpolemik vorangeschickt hat. Der kurze Spruch Vv. 52–53 kündigt nochmals Babel und seinen Götterstatuen das Ende an, bevor die Vv. 54–58c die Verwüstung Babylons durch Jhwh schildern. Jenseits dieser dramaturgischen Bögen stehen das knappe weisheitliche Fazit 58d–f und der Bericht von der prophetischen Symbolhandlung über Babylon in V. 59–64d. In MT setzt der kurze Kolophon 64ef den Schlusspunkt. Da die für den Großteil von 50 charakteristische Rahmungstechnik (s. dort) in 51 nicht wiederkehrt, dürften die beiden Kapitel sukzessive Wachstumsschübe repräsentieren.

Erklärung Den ersten Zyklus Vv. 1–19 eröffnet eine Gottesrede, die den siegreichen Aufmarsch 1–4 gegen Babel ankündigt und den Kämpfern Kommandos erteilt. In bäuerlicher Metaphorik wird der Angriff als göttlich entfesselter Sturm des Verderbens (1b) beschrieben, den von Jhwh gesandte Worfler (2a korr.) nutzen werden, um Babylon zu worfeln (2b) – an sich eine normale landwirtschaftliche Tätigkeit, die hier aber mit der Verheerung des Landes verknüpft wird (2c). Beim Worfeln werden gedroschene 791

51,1–4

Babylon

Getreidekörner emporgeworfen, damit der Wind die Spreu davonträgt und von den Körnern trennt. Hier jedoch, so die Vorstellung, soll der herrschende Sturm des Verderbens die Körner mitreißen, sodass er die Ernte vernichtet, statt sie zu reinigen. 2cd legt mit der Ansage der Belagerung Babylons und der Verwüstung seines Territoriums den militärischen Sachgehalt des Bildes offen, bevor V. 3 schon zu Aufforderungen zum Kampf übergeht, die, wie für die Belagerungsszenarien in 50–51 typisch, die Bogenschützen eigens anfeuern (3ab; s. zu 50,14a–c). Es folgt der Aufruf, an den babylonischen Streitkräften den Bann zu vollstrecken (3cd), sie also Jhwh als seinen Beuteanteil zu überlassen (s. zu 50,21c), was darauf hinausläuft, sie auszurotten und für immer unschädlich zu machen. V. 4 malt die Konsequenzen plastisch aus. – Aus unbekanntem Grund ist in 1b MT der Landesname ~yDIf.K; Chaldäa durch ein Atbasch-Kryptogramm (s. zu 25,25) ersetzt worden, das hier ausnahmsweise einen verständlichen Wortlaut ergibt: ym'q' ble (das) Herz meiner Widersacher, sodass Babylon als der Gottesfeind schlechthin dasteht. 5 An dieser Stelle schaltet sich die kommentierende prophetische Stimme ein, die mit einem eigenwilligen Bild betont, Israel und Juda seien – wörtlich – kein Witwer (Singular!) … von Jhwh (hw"hy>me … !m'l.a;); d. h. er habe das ins Bild der Ehe gefasste Gottesverhältnis nicht gekappt, sie also keineswegs im Stich gelassen. Damit wird offenkundig eine zeitgenössische Deutung von Israels Unheilsgeschichte abgewehrt, wie sie das AT beispielsweise in 8,19; 2 Kön 17,20–23; 23,26–27; 24,3–4.20; Ps 74,1; Klgl 5,20–22 spiegelt. Demgegenüber erinnert der Prophet in einem Stück Theodizee an die Gründe, die Jhwh zu seinem Verhalten trieben: Ihr Land war voll von Schuld (zur vorausgesetzten materialen Schuldvorstellung s. zu 50,20a–c), was umso schlimmer war, als dies vor dem Heiligen Israels geschah (5b), weil Sünde und Schuld mit der Heiligkeit Gottes prinzipiell unvereinbar sind. Wohl mit Bedacht ist ha'l.m' war voll 5b nicht als Adjektiv, sondern als Verb (in der Suffixkonjugation für perfektive Sachverhalte) vokalisiert. Denn bei Zustandsverben wie alm voll sein schließt zwar auch die qatal-Formation nicht aus, dass der beschriebene Sachverhalt noch in der Gegenwart andauert; sie hält aber zumindest die Möglichkeit offen, dass er beendet und folglich die Schuldbeladenheit des Landes mittlerweile vergangen ist. Dass dem so ist, bestätigt der folgende Spruch, der aktuelle Konsequenzen formuliert. 6–10 Literatur: S. Lit. zur Vorstellung vom Becher Jhwhs bei 25,15–29. Nun ist für die prophetische Stimme der Moment gekommen, die ausländischen Geiseln in Babylon zur Flucht zu drängen. Der Aufruf ist seiner Form nach an eine unspezifizierte Vielzahl von Hörern gerichtet, doch nach V. 5 gelesen und eingedenk des in 50,20a–c Gesagten, wendet er sich an die Judäer und hat zum Grund, dass mit der Beseitigung der Schuld aus Israel und Juda die Voraussetzungen zur Heimkehr hergestellt sind, selbst wenn der Appell textintern mit der Gefahr begründet wird, die Gefangenen könnten als Kollateralschaden der Züchtigung Babylons enden (6a–c). Im Kontext gelesen, deutet 6de Jhwhs Aufgebot V. 1–4 als seine Rache (s. zu 46,10), die das von dem Großreich begangene Unrecht korrigieren soll. Welcher Art die 7 Vergehen waren, beleuchtet der Sprecher in V. 7. Der Vers verrät noch deutlich, dass er ältere Formulierungen bewahrt hat, die ursprünglich keineswegs dazu bestimmt waren, einen Schuldaufweis gegen Babylon zu führen. Denn neben dem originalen 792

Babylon

51,9

Hammerlied V. 20–23b ist V. 7 die einzige Ausnahme in 50–51, die von einer ehemaligen göttlichen Mission des Imperiums weiß: Ein goldener Becher ist/war Babel in Jhwhs Hand, der alle Welt berauscht(e) (7ab). Der Passus greift das Mythologumenon vom „Becher Jhwhs“ bzw. vom „Zorn‑“ oder „Taumelbecher“ auf, das, ausgehend von den toxischen Wirkungen des Alkoholkonsums, davon erzählt, wie Jhwh bzw. sein prophetischer Stellvertreter einen Becher mit Wein reicht, der die Empfänger in einen Zustand des wehrlosen Rausches und besinnungslosen Taumels versetzen und ihnen so seinen Willen aufnötigen soll (s. zu 25,15–29; in Jer auch 13,13). Doch anders als in 25,26 gehört Babylon hier nicht zu jenen, die von diesem Becher trinken müssen, sondern es ist selbst der Becher, den Jhwh den Nationen (7c) verabreicht hat, um bei ihnen den gewünschten Effekt zu erzielen (7d). Obendrein ist das Gefäß aus Gold gefertigt und somit überaus kostbar, was Babylon eine Ehrenstellung vor Jhwh zuschreibt. Diese Aussagen sind nur begreiflich, wenn 7ab auf ein vorgefundenes Logion zurückgeht, das – ähnlich anderen Babylonkonzepten in Jer – das Großreich als Vollstrecker des Gotteswillens an der Völkerwelt proklamierte. Der gegebene Rahmen verkehrt die Rolle Babels jedoch ins Gegenteil: Dass die Nationen seinetwegen dem Wahnsinn verfallen (7d), ist jetzt die Ursache seiner Schuld, die nach Jhwhs Vergeltung ruft (6de). Die Umwertung erfolgt, soweit erkennbar, einzig durch die Rekontextualisierung, denn dass Babel ein goldener Becher in Jhwhs Hand gewesen sei, wird ungefiltert zitiert. Der Autor des einbettenden Gedichts nutzte lediglich den Umstand, dass 7ab als Nominal‑ und Partizipialsätze keine Zeitmarker besitzen und ihren Zeitbezug aus dem situativen oder textlichen Umfeld entlehnen, sodass sie zwischen V. 6 und 7c(ff.) nicht mehr wie ursprünglich auf die Gegenwart, sondern nur noch auf die Vergangenheit verweisen können. Infolgedessen legen der Kontext, die Retrospektive und der Ausdruck in Jhwhs Hand nahe, dass Babylon einen göttlichen Auftrag missbraucht hat, als es alle Welt berauschte, doch Näheres bleibt in der Schwebe.  – In dem erweiterten Hammerlied Vv. 20–24 wurde eine ähnliche Umwertung Babylons vollzogen (s. z. St.). Nach der Rückschau auf die Ursachen der Verschuldung Babylons schwenkt der 8 Blick in 8ab zum unmittelbaren Vorspiel der Gegenwart, um die unerwartete Wende zu konstatieren: Mit der Sonderrolle Babels in der Hand Jhwhs ist es schlagartig vorbei, es ist gestürzt und zerschmettert (8ab). Anschließend wendet sich die prophetische Stimme wieder an die Exilanten aus aller Herren Länder (9d), um einen Dialog zu eröffnen, der sich über die Maßstäbe realweltlicher Plausibilität souverän hinwegsetzt. Das Imperium als einen schwerverletzten Patienten personifizierend, ruft der Sprecher ausgerechnet die Geiseln zur lauten Klage über den lebensbedrohlichen Zustand (8c) und zur Beschaffung von Arzneien (8d) auf, um selbst die kleinste Chance auf Genesung zu wahren (8e). Die überraschende Replik der Adressaten lautet, sie hätten Babylon bereits zu hei- 9 len getrachtet (9a), doch bloß um festzustellen, dass sein Fall aussichtslos ist (9b). Zur Schmach des Großreichs sind es die aus den unterworfenen Völkern verschleppten Gefangenen, die noch die Kraft zu einem Rettungsversuch aufbringen, freilich nur mit dem Ergebnis, dass der Autor sie als unverdächtige Zeugen für das definitive Ende Babylons präsentieren kann. Das Scheitern ihres Bemühens liefert nun auch 793

51,9

Babylon

ihnen den Anlass, einander zur Heimkehr zu ermuntern (9cd). Dabei führt sie der Verfasser zusätzlich als Experten für die Ursache von Babylons Katastrophe an, wenn sie das Motiv für ihren Aufbruch nennen: Der Kollaps ist unumkehrbar, da er aus himmelhoher Schuld resultiert (9ef), wie die Sprecher hervorheben, indem sie den Präpositionalausdruck ~yIm;V'h;-la, bis zum Himmel 9e vor dem Subjekt anordnen. Mit ihrem Abschied befolgen sie so zwar faktisch den Appell 6a–c, doch nutzen sie nicht etwa die Gelegenheit zur Flucht, sondern sie treten einfach den Heimweg an, weil Babylon keine Zukunft mehr hat. 10 Der prosaische Zusatz V. 10 verengt das Blickfeld auf die judäischen Exilanten und zitiert sie mit der Einsicht, dass der Untergang des Weltreichs auf Jhwhs Einsatz für ihre gerechte Sache zurückgeht (10a). Damit gilt die Deportation nicht mehr wie sonst zumeist als verdiente Strafe für Götzendienst und vielerlei soziales Unrecht, sondern als Verbrechen der Babylonier. Zudem wird abermals unbefangen der Anspruch erhoben, dass Jhwh um seines Volkes willen ein Weltreich zum Einsturz bringt. Die Heimkehr aus der Verbannung dient dann neben dem Wiedergewinn der Freiheit vor allem dem erklärten Zweck, die Rettungserfahrung mit den Daheimgebliebenen zu teilen (10bc; vgl. 50,28). 11 Nach der Aufforderung zur Flucht kommt die Stimme eines militärischen Befehlshabers zu Wort, der eine Serie knapper Befehle erteilt, allerdings begleitet von theologischen Deutungen. Der Auftakt mit Kommandos an die Bogenschützen stimmt auf eine Belagerungsszene ein (11ab; s. zu 50,14a–c). Doch wird hier nicht nur nach dem generellen Muster von 50–51 eine kriegerische Einnahme Babylons erwartet, sondern dem Kommentar 11c–e zufolge richten sich die Hoffnungen konkret auf die Meder. Wie der Sprecher offenbart, sind deren militärische Erfolge von Jhwh selbst bewirkt (11c); mehr noch: sie sind Gegenstand seines Sinnens (AtM'zIm.), d. h. sie sind Bestandteile eines langfristigen Plans, der systematisch auf ein Ziel hinsteuert, das er nicht verfehlen wird. Den Adressaten ist aufgetragen, den Plan, die Rolle des medischen Aufstiegs darin und seinen Endzweck zu erkennen, nämlich die Vernichtung Babels (11d) als Rache (s. zu 46,10) für den Frevel an Jhwhs Tempel (11e). Als Gegenstand eines göttlichen Plans ist Babylons Schicksal besiegelt, wenngleich es noch der Erfüllung harrt. Erneut gelten die Taten der Babylonier an Juda ausnahmslos als verwerflich, unbeschadet der wiederholt (50,4–5.7de.20) und zuletzt noch in 5b zugestandenen Schuld der Judäer. Deshalb wird auch die Zerstörung des Jerusalemer Gotteshauses uneingeschränkt als Verbrechen verdammt, das nicht ungesühnt bleiben kann. 12 Weitere Kommandos in 12a–d ordnen ebenso wie 11ab nur Gefechtsvorbereitungen an, aber keine Kämpfe. Das Feldzeichen (12a) etwa sollte den Weg zum Truppensammelplatz weisen;45 die Posten (12c) dienten dem Zweck, die Angreifer gegen Ausfälle der Belagerten zu feien, und Hinterhalte (12d) galten atl. Autoren als probate Kriegslist, um Konterschläge in die Falle laufen zu lassen.46 Die Befehle spiegeln also eine frühe Phase der Belagerung. Das passt zur Aussageintention, wie auch der Kom45 Vgl. 46 Jos

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z. B. V. 27; 4,6; Jes 5,26; 11,12; 49,22. 8,1–23; Ri 9,30–45; 20,29–44.

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51,15

mentar 12e–g belegt, wenn er an 11d anknüpft mit der Versicherung, dass Jhwh, was er ersonnen hat (~m;z" 12e), auch ausführen wird (12f), zumal er seine Absichten mit den Babyloniern bereits öffentlich verlautbart hat (12g). Es geht darum, die geduldige Hoffnung auf die Bewahrheitung von Jhwhs Vorhaben einzuüben. Insofern ist die Einheit ein kleines Lehrstück über den Plan Jhwhs. Es geht darum, das Vertrauen einzuüben, dass die Geschichte Gottes Vorsehung unterliegt und deshalb zuverlässig ihr göttlich bestimmtes Ziel erreichen wird, selbst wenn das menschliche Auge dies nicht jederzeit durchschaut. Anschließend wendet sich der prophetische Sprecher an Babylon mit einer Un- 13–14 heilsansage, die nach 12g als Zitat der dort erwähnten göttlichen Drohworte über die Babylonier lesbar ist. Die Anrede hebt die strategischen Vorteile der Stadt hervor, nämlich ihre Lage an großen Gewässern, die es deutlich erschweren, die belagerte Festung auszuhungern, und ihr Reichtum an Ressourcen, die ebenfalls ihrer Gegenwehr zugutekommen. Freilich wird all das ihr nichts helfen (V. 13), denn in diesem Krieg hat sie Jhwh zum Widerpart, der sich obendrein unwiderruflich auf einen Sieg über Babylon festgelegt hat. Er hat einen Schwur geleistet, naturgemäß bei sich selbst, da er keine Garantiemacht über ihm selbst anrufen kann (14a; vgl. 22,5; 44,26; 49,13): Obwohl er die Stadt eigenhändig durch Massen an Verteidigern gestärkt hat, wird ihr dies nicht das Triumphgeheul der Eroberer ersparen (14bc). Literatur: S. Lit. zu 10,12–16.

15–19

Der erste Zyklus in 51 gipfelt in keiner Kriegsszene, sondern in der Wiederholung von 10,12–16. Diese Parallele hat den textgenetischen Vorrang inne, denn 10,1–16 amalgamiert Götzenbilderpolemik mit hymnischem Lobpreis auf die Macht und Weisheit des Schöpfergottes Jhwh, woraus hier nur ein Auszug wiederkehrt. Dabei werden aus den hymnischen Passagen nur jene entlehnt, die auch in AlT bezeugt sind, nicht aber die masoretischen Überschüsse hymnischer Natur (10,6–7.10). Folglich hatte die Vorlage zum Zeitpunkt der Anleihe wahrscheinlich noch ihre alexandrinische Gestalt. Mit dem Duplikat von 10,12–16 richtet der Zyklus an seinem Höhepunkt den Fokus auf den theologischen Sachgehalt von Jhwhs Sieg über Babylon. In seinem neuen Kontext gelesen, findet der Lobgesang das entscheidende Ergebnis des Kräftemessens in dem erneuten Nachweis der Überlegenheit der anikonischen Jhwh-Verehrung gegenüber dem Bilderkult, für den Mesopotamien den herausragenden Repräsentanten stellt. Dabei liefert der Zusammenbruch des Großreichs nur eine weitere Bestätigung, denn wie laut der Logik des Textes ohnehin offen zutage liegt, gibt die Jhwh-Verehrung dem machtvollen Weltenschöpfer die Ehre, während die Idololatrie leblose, handlungsunfähige Götzen glorifiziert. Die Geschichte vollzieht also nur die Kosmologie nach. Das Gedicht hebt an im typischen partizipialen Hymnenstil47 (15ab), um Jhwhs 15 Macht zu rühmen, die er im Zuge seiner Schöpfertätigkeit bewiesen hat. Freilich fällt der Gottesname nicht; der Text baut Spannung auf, indem er erst die Eigenschaften des Schöpfers (und seiner nichtigen Gegenspieler) aufzählt, bevor er im allerletzten Kolon als interne Klimax den Namen preisgibt (19d), obwohl situativ wie kontextuell  Vgl. z. B. Ps 104,2–4; 146,6–9; 147.

47

795

51,15

Babylon

natürlich niemals Zweifel bestehen, von wem die Rede ist. Die drei Sätze von V. 15 durchmessen mit den Größen Erde (#r; das Verb entstammt derselben Basis #pn I wie #Pem;), gefolgt von wechselnden, ab V. 21 paarigen Objekten, die grob nach einer absteigenden sozialen Rangordnung aufgereiht sind: Nationen und Königreiche (20bc), Elitekämpfer (Kavallerie und Wagenstreitkräfte V. 21), die Geschlechter  – zusätzlich differenziert nach Generationen  – (V. 22) sowie Berufe bzw. gesellschaftliche Stände (V. 23). Nur im letzten Kolon 23c nimmt die soziale Hierarchie mit den Statthaltern und Beamten eine steile Kurve nach oben, ein starkes Indiz, dass hier das Hammerlied nachträglich aus V. 28 verlängert worden ist. Ferner wurde 22b prämasoretisch eingeschoben. Der Abzug der Interpolationen erhöht die formale Strenge des Gedichts weiter, indem sich in V. *20b–23b vier Bikola ergeben, die jeweils sachverwandte Objekte verkoppeln. V. 24 verlässt das Bauprinzip des Vortextes, wechselt zur Anrede an die Judäer und trägt keine poetischen Züge mehr, ist also ebenfalls sekundär. So schält sich eine Vorstufe im Umfang von *20–23b heraus, die um 23c–24 und prämasoretisch nochmals um 22b erweitert wurde. Die Rekonstruktion bewährt sich, sucht man die Frage zu beantworten, welche realhistorische Größe der Hammer verkörpert. Da V. 24 die Zerstörungsakte als Vergeltung an Babylonien deklariert, kann die vorliegende Fassung nur die Meder oder 797

51,20–24

25–26

Babylon

die Perser meinen. Dazu passt jedoch kaum die globale Bestimmung bei rein destruktivem Zweck, die Jhwh der Waffe zuvor zuspricht. Zugleich nennt 50,23b Babylon – in allerdings abweichender Terminologie  – den Schmiedehammer der ganzen Welt (#rK' Konjahū (22,24.28; 37,1 MT), Why"n>k'y> Jekonjahū (24,1) und hy"n>k'y> Jekonjā (27,20Q; 28,4; 29,2) gebraucht, die den Gottesnamen ans Wortende rücken. Kap. 52 wurde dem Buch angehängt zu dem Zweck, nach den vielen Unheilsansagen über Jerusalem und Juda noch die zugehörigen historischen Informationen als Äquivalent eines Erfüllungsberichts beizusteuern. Das Kapitel war als geschichtlicher Anhang für eine Fassung des Buches bestimmt, die die Teilparallele 39,4–10 noch nicht enthielt, wie von der alexandrinischen Ausgabe bezeugt. Die Erzählung vom Untergang des palästinischen Judäertums 34,7 + *37,3– 43,7b, der der Kontext von 39,4–10 überwiegend entstammt, hatte die Eroberung Jerusalems (38,28ab; 39,3) und die Deportationen (40,7e) bloß knapp gestreift und die Verwüstungen im Gefolge der Niederlage sogar vollends verschwiegen, weil der Verfasser die Totalemigration der nichtexilierten Judäer als die ungleich schlimmere Katastrophe hinstellen (s. zu 43,5–7) und ein freundliches Porträt der Babylonier zeichnen wollte 817

52

Geschichtlicher Epilog

(passim). Auch die patrizische Redaktion verwies in 40,1–6 nur beiläufig auf die Verschleppungen (Vv. 1.4). Der geschichtliche Epilog schloss diese Lücke, bevor in der masoretischen Texttradition 52,7b–16 zusätzlich nach 39,4–10 kopiert wurde (s. z. St.). Der Redaktor, der Kap. 52 aus 2 Kön bezog, wandelte indes seine Vorlage in mehreren Hinsichten ab. Verständlicherweise überging er aus 2 Kön 25 die Vv. 22–26, die ihrerseits ein Exzerpt des Berichts von der Ermordung Gedaljas und der Totalauswanderung nach Ägypten in 40,7–43,7 bilden und nur eine Dublette erzeugt hätten.1 Daneben enthält Jer 52 auch kleine Überhänge gegenüber 2 Kön 25. Die Vv. 21–23 sind ein erweitertes Pendant zu 2 Kön 25,17. Die Vorlage ist in 21b.22a–e eingegangen, während 21c–e.22f–23 zusätzliche Informationen zur Architektur des Jerusalemer Tempels bieten. Dabei weisen 21c–e Gemeinsamkeiten mit 1 Kön 7,15 bzw. 3 Bas 7,3 auf, während 22f–23 ohne Parallele dastehen. Hier lässt sich allerdings nicht entscheiden, ob der Schöpfer des Kapitels die Zusätze in seiner Vorlage antraf, ob er sie selbst anbrachte oder ob es sich um frühe Einschübe in Jer handelt. Der Blick in den alexandrinischen Text führt auf weitere Besonderheiten (für eine detailliertere Erörterung s. TK). Dort fehlen die Vv. 2–3 (|| 2 Kön 24,19–20), die in MT vom Idiolekt des masoretischen Sonderguts eingefärbt sind (TK), was zeigt, dass MT nachträglich aus der Quelle in Kön aufgefüllt wurde. Der Schöpfer von Jer 52 überging die deuteronomistische Wertungsformel für Zidkija (V. 2) samt den Notizen von der Verstoßung Jerusalems und Judas (3a) und vom Aufstand Zidkijas gegen die babylonische Herrschaft (3b). Infolgedessen entfielen die Hinweise auf die Verantwortung Zidkijas und die politischen Ursachen der Katastrophe, und die Babylonier marschieren ohne äußeren Grund vor Jerusalem auf. Im Licht der vielfältigen Anklagen des Buches gedeutet, erscheint der Angriff dann einzig durch die Sündenlast des ganzen Volkes motiviert. Zugleich fand der Redaktor jedoch auch die Verwerfung Judas nicht mehr aktuell, denn wie der Gang der Geschichte von seinem nachexilischen Blickpunkt aus erwies, war die Schuld durch die Exilskatastrophe abgebüßt, und Jhwh hatte mit Israel einen Neuanfang gesetzt. Der alexandrinische Text des Kapitels vertritt ferner aus bislang ungeklärten Gründen die eigentümliche Vorstellung, dass nach der Zerstörung Jerusalems keine weiteren Deportationen mehr stattgefunden hätten, sondern allein Zidkija nach Mesopotamien exiliert worden sei (Bogaert, Jérémie 52), wie in V. 11 festgehalten, während der Rest des Volkes (V. 16 AlT) in Juda verblieb. Deshalb fehlt in AlT V. 15 (|| 2 Kön 25,11) mit den Angaben über die Opfer der Verschleppung von 587, und 27c (|| 2 Kön 25,21c) so zog Juda von seinem Ackerboden weg in die Verbannung wird ebenso ausgespart (zu V. 28–30 s. u.). Damit übergeht 52 AlT ausgerechnet jenes Geschehen, das das Buchpräskript 1,1–3 in V. 3 als das maßgebliche Ereignis am Ende von Jeremias Wirkungszeit herausgestellt hatte. Zugleich geht 10b über die Quelle (vgl. 2 Kön 25,7) hinaus mit der Nachricht, dass alle Patrizier Judas von Nebukad1  Dieser Auszug aus den Kap. 40–43 straft Jeremia mit Schweigen ab, weil die Kreise hinter der exilischen Ausgabe des DtrG mit dem Propheten verfeindet waren und ihn daher der damnatio memoriae anheimzugeben trachteten (vgl. Jer 11,19g). Zu den Hintergründen vgl. H.-J. Stipp, Probleme des redaktionsgeschichtlichen Modells der Entstehung des Jeremiabuches, in: ders., Studien zum Jeremiabuch 261–297.

818

Geschichtlicher Epilog

52

nezzar exekutiert worden seien. Dies widerspricht den Mitteilungen über selektive babylonische Strafmaßnahmen an den Führungskreisen Judas in V. 24–27b (|| 2 Kön 25,18–21b), denn laut 10b war aus der Aristokratie niemand mehr am Leben, den man noch hätte hinrichten oder exilieren können. Das Konzept von der alleinigen Deportation Zidkijas 587 ist gegenüber der Vorlage in Kön fraglos sekundär. Allerdings wird 10b auch von MT bezeugt, ein wichtiger Beleg, dass diese Textform von einem Vorfahren nach Art von AlT abstammt. Die Idee, nach der Einnahme Jerusalems sei nur noch Zidkija verschleppt worden, kennzeichnete also die älteste erreichbare Fassung von Jer 52 und kam nicht durch sekundäre Kürzung in AlT zustande. Wahrscheinlich demselben Thema zuzurechnen ist der ebenfalls von MT bezeugte Überschuss 11d mit der Nachricht von der lebenslangen Kerkerhaft Zidkijas in Babylonien. Für den textgeschichtlichen Vorrang dieses Konzepts spricht ferner die idiolektale Tönung von V. 15 in MT (TK), die anzeigt, dass der Text nachträglich in Anlehnung an 2 Kön 25,11 aufgefüllt wurde. Im Zuge der Rückanpassung an 2 Kön hat man neben V. 15 u. a. auch 27c ergänzt, mit der Folge, dass Jer 52 wieder dem vorherrschenden Geschichtsbild angeglichen wurde, das mit der Zerstörung Jerusalems umfangreiche Deportationen verband. Dabei ersetzte man zudem in V. 16 den Rest des Volkes nach dem Vorbild von 2 Kön 25,12 durch (nur einige) von den Armen im Land und stellte in V. 15 eine korrespondierende Wortgruppe voran, sodass das Bild vom Ausmaß des demographischen Aderlasses schließlich sogar noch über die Angaben der Quelle hinausreichte. Die Vorstellung von der alleinigen Verschleppung Zidkijas 587 in der älteren alexandrinischen Ausgabe von Jer 52 läuft auf ein Geschichtskonzept hinaus, wonach Juda seitens der Babylonier nur einen größeren Deportationsschub erlitten habe, nämlich jenen von 597 mit König Jojachin (2 Kön 24,14–16). Dies kollidiert innerhalb des Buches mit den Verweisen auf Gefangenentransporte nach der Einnahme Jerusalems in 40,1.4.7, bildet aber eine Gemeinsamkeit mit Jer 24 (samt 29,16–19 MT). Trotzdem ist auch Kap. 24 mit Jer 52 unvereinbar, weil es seinem Wortsinn nach gegen 52,11 sogar die Exilierung Zidkijas ausschließt und gegen 52 AlT, aber ähnlich wie 43,4–7 jegliche Restbevölkerung im exilischen Juda leugnet (s. jeweils z. St.). Zwar mag man einwenden, dass 52 AlT theoretisch mit den Berichten der Kap. 40–44 vereinbar sei, aber wenn der Autor auf diese Kompatibilität Wert legte, erstaunt doch, dass er die Kurzfassung in 2 Kön 25,22–26 aussparte und es seinem Publikum überließ, die Fäden zusammenzuführen.  – Das Nebeneinander solch gegensätzlicher Geschichtsbilder setzt voraus, dass die Benutzer des Buches über hermeneutische Strategien verfügten, die ihnen erklärten, wie sie mit den Diskrepanzen umgehen sollten, auch wenn es nicht leichtfällt zu erschließen, wie diese Verfahren – jenseits einer generellen Toleranz gegenüber Widersprüchen – ausgesehen haben. Eine Sonderrolle spielt die Exilantenstatistik Vv. 28–30, die sich weder in AlT noch in Kön findet und in mehrfacher Hinsicht ihrem Kontext widerspricht. Sie beziffert die Opfer von drei Deportationsschüben in den Jahren 597, 587 und 582. Dazu gibt sie die Regierungsjahre Nebukadnezzars an, und zwar entsprechend der in Babylon üblichen, sog. nachdatierenden Zählweise, die erst mit dem nächsten Kalenderjahr nach dem Akzessionsjahr (Thronbesteigungsjahr) zu zählen begann, im Unter819

52

Geschichtlicher Epilog

schied zur sog. vordatierenden Praxis in Juda, die das Akzessionsjahr bereits als volles Regierungsjahr rechnete. Daher liefert die babylonische Methode jeweils um ein Jahr kürzere Herrschaftsperioden. Das ist der Grund, warum die zweite, auf die Zerstörung Jerusalems folgende Deportation von 587 sich laut V. 29 im 18. Jahr Nebukadnezzars zutrug, während 12b MT (|| 2 Kön 25,8b) die Aktion in sein 19. Jahr verlegt (s. auch zu 32,1b). Schaut man über die Grenzen von Jer 52 hinaus, ist hervorzuheben, dass die erste babylonische Einnahme Jerusalems 597 nach 2 Kön 24,12 ins 8. Jahr Nebukadnezzars fiel, aber die anschließende Deportation laut Jer 52,28c in seinem 7. Jahr stattfand. Ferner listet die Statistik Zahlen von Exilanten auf, die im Vergleich zu den übrigen biblischen Überlieferungen deutlich niedriger ausfallen (s. z. St.) und mit Angaben im Kontext kollidieren: V. 29 nennt für 587 die Summe von 832 Personen, während 27c MT aus 2 Kön 25,21c die Vorstellung übernimmt, damals hätten die Babylonier im Wesentlichen die gesamte überlebende Bevölkerung weggeführt. Obendrein verzeichnet V. 30 für 582 noch einen weiteren Deportationsschub mit 745 Personen, den es laut 27c MT gar nicht mehr hätte geben können. Die Vv. 28–30 divergieren daher sowohl von der älteren Ausgabe des Kapitels, der zufolge 587 einzig Zidkija nach Mesopotamien verbracht wurde, als auch vom übrigen masoretischen Sondergut, das Nebukadnezzars Regierungsjahre vordatierend zählt und mit dem Jahr 587 die weitgehende Entleerung des Landes durch Deportationen verbindet. Von den biblischen Daten zum Umfang der Verschleppungen besitzen allerdings die hier gebotenen Zahlen die höchste Glaubwürdigkeit (s. z. St.). Nach alldem sind die Vv. 28– 30 auf eine alte Quelle zurückzuführen, die von einem prämasoretischen Ergänzer vorgefunden und hier eingefügt wurde. – Daneben fanden in der auf MT zulaufenden Textüberlieferung einige Retuschen statt, die, wo nötig, z. St. zu erläutern sind. Der masoretische Endtext von Jer 52 ist namentlich durch die Auffüllung von Lücken an seine Vorlage in 2 Kön rückangepasst worden (vgl. v. a. Vv. 2–3.12b.15– 16.27c.34). Er ist klar in sieben Abschnitte gegliedert, die sich mehr thematisch als formal voneinander abheben. (1.) Die Vv. 1–3a nennen die schematischen Eckdaten zur Herrschaft Zidkijas, begleitet von einem theologischen Gesamturteil über ihn und die anschließend berichtete Niederlage. (2.) Die Vv. 3b–11 resümieren die babylonische Eroberung Jerusalems, die Festnahme und Bestrafung Zidkijas sowie die Exekution der führenden Schichten. (3.) Abgesetzt durch eine neue Datierung, schildern die Vv. 12–16 die systematische Schleifung Jerusalems und die weitgehende Deportation der Bevölkerung durch Nebusaradan. (4.) Der längste Abschnitt entfällt auf die Plünderung des Tempels, die in den Vv. 17–23 besonders detailreich beschrieben ist. (5.) Die Vv. 24–27 wenden sich nochmals den Strafmaßnahmen gegen die Führungskreise zu, gefolgt von (6.) der Exilantenstatistik Vv. 28–30. (7.) Den Buchschluss bildet wie in 2 Kön die Nachricht von der Rehabilitation Jojachins im Exil Vv. 31–34.

820

Geschichtlicher Epilog

52,1

Erklärung Der vom Ende der Königsbücher bezogene historische Epilog hebt an mit 2 Kön 1–3 24,18–20, dem Vorderteil des deuteronomistischen Königsrahmens für Zidkija (für den nur der Vorderteil existiert angesichts der Umstände, unter denen der letzte Davidide auf dem Jerusalemer Thron seine Herrschaft verlor). Das Rahmenstück folgt dem schematischen Aufbau für die judäischen Könige: Alter bei der Thronbesteigung (1a; der Synchronismus mit den Monarchen des Nordstaats ist mit dessen Ende entfallen), Regierungsdauer (1b), Name der Mutter (1c; sowie meist auch Angaben zu ihrer Abkunft), Wertungsformel (V. 2). Daran schließen sich kultische und politische Nachrichten an. Ursprünglich hat der Ergänzer aus 2 Kön 24,18–20 nur den ersten Vers (|| V. 1) mit den profanen Eckdaten von Zidkijas Regierung entlehnt, während er die beiden folgenden (|| Vv. 2–3) mit den theologischen Urteilen über Zidkijas Regentschaft und das katastrophale Schicksal Judas überging. Die Auslassung wirft ein Licht auf die Intentionen, die den Anhang veranlassten. Der Auszug aus 2 Kön sollte die Erfüllungsberichte zu den zahlreichen Unheilsansagen des Buches vervollständigen, und zwar bezogen auf einen Stand des literarischen Wachstums, als das Werk zwar die Nachricht von der totalen Entblößung des Landes von Judäern enthielt (43,4–7b; s. z. St.), aber der masoretische Überhang 39,4–13 noch fehlte, sodass aus Jer nichts Näheres zur Zerstörung Jerusalems und des Tempels zu erfahren war. Die Deportationen von 587 kamen zwar zur Sprache, doch nur in beiläufigen Verweisen (40,1.4.7). Weil das Buch die Schuld für den Zusammenbruch allen Judäern anlastet, war für den Ergänzer die besondere Bezichtigung Zidkijas und Jojakims (V. 2) nicht mehr aktuell, so wenig wie die Angabe zu den politischen Ursachen des Desasters, dem Aufstand Zidkijas (3b). Auch die kategorische Aussage über die Verwerfung Jerusalems und Judas (3a) entsprach nicht mehr seiner Sicht des Gottesverhältnisses Israels. Eine prämasoretische Hand hat allerdings diese und weitere Lücken gegenüber 2 Kön wieder geschlossen, im Einklang mit dem generellen Trend auf dieser Textwachstumsstufe, konflationären Abgleich mit anderen biblischen Schriften herzustellen, worin sich die allmähliche Herausbildung eines kanonischen Literaturkorpus spiegelt. Zidkija wird vorgestellt als Sohn der Hamutal (kleine Eidechse?) aus Libna, das wohl 1 mit Tel Zayit gleichzusetzen ist (ca. 35 km südwestlich von Jerusalem in dem Hügelland namens Schefela), vielleicht auch mit dem unweit davon gelegenen Tel Burna. Er wird damit als Sohn Joschijas und Vollbruder des 609 nach Ägypten exilierten Joahas ausgewiesen.2 597 setzte ihn Nebukadnezzar nach der ersten babylonischen Belagerung Jerusalems anstelle seines nach Mesopotamien deportierten Neffen Jojachin als einen „König nach seinem Herzen“ ein3 und nahm ihm den Vasalleneid ab.4 Wenn Zidkija solches Vertrauen bei den Babyloniern genoss, muss er seinerzeit in der Königsfamilie zu jenen Realpolitikern gezählt haben, die für ein Arrangement mit dem übermächtigen Imperium eintraten. Dies erklärt auch, warum Jer wieder2 2 Kön

23,30–31.34; 24,6.17. Chronik BM 21946 Rs 11–13; HTAT Nr. 258, S. 417. 4 2 Kön 24,17; Ez 17,1–6.11–19; 2 Chr 36,13; vgl. Jer 37,1. 3 Babylonische

821

52,1

Geschichtlicher Epilog

holt durchblicken lässt, dass ein gewisses Vertrauensverhältnis zwischen Zidkija und Jeremia bestanden haben muss.5 Freilich hinderte all dies den König nicht daran, schließlich doch den heilsenthusiastischen Sirenengesängen seiner Umgebung zu erliegen und den Babyloniern die Gefolgschaft aufzukündigen. 2 Zidkija wird wie alle drei übrigen judäischen Könige nach Joschija mit der negativen deuteronomistischen Wertungsformel bedacht (vgl. 2 Kön 23,32.37; 24,9), und wie bei diesen Vorgängern wird das religiöse Verdikt auf eine Weise motiviert¸ die allenfalls bedingt an kultische Verfehlungen denken lässt, im Unterschied zu der Weise, wie das Deuteronomistische Geschichtswerk (DtrG) zuvor seine Urteile gefällt hatte.6 Denn in dessen Logik hatte Joschija die Opferstätten außerhalb Jerusalems restlos profaniert, also kultuntauglich gemacht und so die Rückkehr zu den kultischen Praktiken vor der Opferzentralisation definitiv unterbunden (2 Kön 23,8– 10.13–16.19–20). Außerdem sahen die Autoren der postjoschijanischen Abschnitte des DtrG offenbar keine Handhabe, den noch in frischer Erinnerung präsenten Nachfolgern Joschijas Götzendienst vorzuwerfen. Als Grund für den Schuldspruch dient daher bei den beiden Joschija-Söhnen Joahas und Jojakim der vage Vergleich mit „den Vätern“ (2 Kön 23,32.37), während das Verhalten Jojachins mit seinem Vater Jojakim (2 Kön 24,9) gleichgesetzt wird, der anschließend auch das Modell für Zidkija abgibt, ein Vorgehen, das die Reputation des idealisierten Joschija vor Schaden bewahren sollte (vgl. 2 Kön 22,2; 23,25). In den Kontext des Jer verpflanzt, gewinnt der Vers dann einen prägnanteren Sinn: „Das Böse in den Augen Jhwhs wie alles, was Jojakim getan hatte“ wird exemplifiziert von Zidkijas Bundesbruch (34,8–22) und seiner mangelnden Hörbereitschaft gegenüber Jeremia, die Juda ins Verderben riss, indem der König erst die Rebellion gegen die Babylonier riskierte und dann die Chance zur Kapitulation verspielte (21,1–10; 27,12–15; 37–38), bis hin zur offenen Feindschaft gegenüber dem Propheten (32,1–5), mit der er dem Beispiel Jojakims nachgeeifert hatte (36,21–29; vgl. 26,20–23). 3 Im Zuge der Niederlage von 587 mussten die Judäer extrem traumatische Verluste hinnehmen, denn auf einen Schlag kamen ihnen jene Instanzen abhanden, die ihren Platz in der Welt markierten: der Staat und das Verheißungsland, dazu Königtum und Tempel als maßgebliche Schaltstellen ihres Gottesbezugs. Obendrein schrumpfte die heimische Bevölkerung dramatisch (s. zu 43,4–7b). Angesichts dessen klang das DtrG in seiner exilszeitlichen Fassung zumindest rhetorisch auf einer ausgesprochen düsteren Note aus: Jhwh hatte Juda verworfen, wie dies zuvor auch mit dem Nordstaat Israel geschehen war (vgl. v. a. 2 Kön 21,12–14; 23,26–27; 25,21c || 17,23c). Dieses bittere Resümee kommt auch in dem gedrängten theologischen Fazit zur Herrschaft Zidkijas in 3a zum Ausdruck: Nach einer ausgedehnten Geschichte unverbesserlicher Sündigkeit bekamen Jerusalem und Juda schließlich die Folgen des Zornes Jhwhs (s. zu 2,35) zu spüren, bis hin zur äußersten Konsequenz, der Verstoßung, die einem  S. zu 21,1–10; 23,5–6; 34,1–5; 37,3.6.9–10; 38,17–18.20–23.  Bei den Nordreichkönigen fällt das Urteil allein schon wegen der „Sünde Jerobeams“ (Missachtung der Opferzentralisation) immer negativ aus. Für Juda vgl. 1 Kön 14,22–24 (Rehabeam); 2 Kön 8,18 (Joram); 8,27 (Ahasja); 16,2–4 (Ahas); 21,2–16 (Manasse); 21,20–22 (Amon); ferner 1 Kön 15,3 (Abija). 5 6

822

Geschichtlicher Epilog

52,7–11

kollektiven Todesurteil gleichkam, da ein Volk in der feindseligen Umwelt ohne göttlichen Beistand dem Untergang geweiht war. Der Schöpfer von Jer 52* dürfte diesen Satz ausgelassen haben, weil er ihn nicht bewahrheitet fand. Für den von der Treue zur kanonischen Literatur beseelten prämasoretischen Revisor scheint indes der Gesichtspunkt gezählt zu haben, dass Jhwh aus Liebe zu Israel selbst ein solch kategorisches Urteil hatte rückgängig machen können. 3b eröffnet mit einer Notiz von Zidkijas Aufstand gegen das babylonische Großreich den zweiten Abschnitt mit dem Bericht von der Einnahme Jerusalems (bis V. 11) und damit auch die ausführliche Darstellung des Untergangs Judas (bis V. 30). Entsprechend seinen theologischen Interessen gab sich der für die Vorlage verantwortliche Redaktor des DtrG nicht mit Anlass und Verlauf der Rebellion sowie der Belagerung ab, sondern schritt nach einem kurzen Blick auf den babylonischen Aufmarsch (Vv. 4–5 || 2 Kön 25,1–2) zu den desaströsen Folgen fort. Als Zielscheibe der Erhebung gilt der König von Babel, denn im Einklang mit den Vorstellungen der Zeit wird die Aufkündigung der Vasallität als Bruch einer persönlichen Treuepflicht gewertet (vgl. Ez 17,13.16.18). Von der anderthalbjährigen Belagerung Jerusalems teilt der Bericht fast nur die 4–6 Daten ihres Beginns und Endes mit: Aufmarsch der Babylonier im 9. Jahr Zidkijas, am 10. Tag des 10. Monats (Tebet), was bei Jahresbeginn im Frühjahr auf Ende Dezember 589 oder Januar 588 hinausläuft. Das Aufbrechen der Mauern (7a), also die Erstürmung der Stadt sei im 11. Jahr Zidkijas am 9. Tag des 4. Monats (Tammus) eingetreten, was neuere chronologische Berechnungen mit dem 29. Juli 587 gleichsetzen.7 Den Kollaps des Widerstandes führt V. 6 auf die Aushungerung der Verteidiger zurück (vgl. 37,21); von der Not der eingekesselten Judäer bis hin zum Kannibalismus ist in Dtn 28,52–57 ein schaudererregendes Echo erhalten geblieben (vgl. auch 2 Kön 18,27). Zur Darstellung des Fluchtversuchs Zidkijas, seiner Gefangennahme und Be- 7–11 strafung vgl. die Erläuterungen zu 39,4–7. Laut den Jer-Fassungen des Berichts haben die Babylonier seinerzeit die komplette judäische Führungsschicht hingerichtet (alle Patrizier8 Judas 10b bzw. 39,6b alle Vornehmen Judas), was keine Entsprechung in der Vorlage 2 Kön 25,7 besitzt und mit den Nachrichten über selektive Strafmaßnahmen der Sieger in V. 24–27b || 2 Kön 25,18–21b kollidiert. Träfe die Notiz zu, hätten beispielsweise weder Baruch noch Gedalja die Massenexekution überlebt. Hier wirkt die ältere Gestalt von Kap. 52 nach, wie in AlT bewahrt, der zufolge 587 einzig Zidkija nach Mesopotamien verschleppt wurde (s. Textgenese). Über die Quelle 2 Kön 25,7 (sowie auch Jer 39,7) hinaus hält 11d ferner fest, Nebukadnezzar habe Zidkija in der Verbannung bis zum Tag seines Todes in Gewahrsam gehalten, was im (hier wohl jüngeren) alexandrinischen Text nochmals zum Mühlenhaus gesteigert ist, einem Ort besonders erniedrigender Sklavenarbeit (vgl. Ri 16,21). Während Jojachin nach seiner Rehabilitation bis zum Tag seines Todes in den Genuss der Gunsterweise Ewil-Mero-

7 Vgl. 8 Zur

Albertz, Exilszeit 69–73; Keel, Geschichte I 760–762, § 1018–1020. Übersetzung s. zur Textgenese von Jer 26.

823

52,7–11

Geschichtlicher Epilog

dachs kam (V. 34; s. u.), musste der geblendete Zidkija bis zum letzten Atemzug sein elendes Häftlingsdasein ertragen. 12–14 Der dritte Abschnitt (bis V. 16) beschreibt die systematische Schleifung Jerusalems und die Neuordnung der Verhältnisse im Land unter dem Kommando des babylonischen Generals Nebusaradan mit dem Titel Befehlshaber der Leibwache (zu Namen und Titel s. zu 39,9). Auch die drei folgenden Abschnitte werden auf ihn zurückkommen: Er befehligt die Plünderung des Tempels (19a2), entscheidet, welche judäischen Führungskräfte der Exekution verfallen (V. 24–26), und setzt die Deportation von 582 in Gang (30a). Damit drückte der Offizier dem Schicksal Judas seinen Stempel in einem Maße auf, dass sogar das Datum seiner Ankunft vor Ort dem Berichterstatter wichtig genug war, um es der Nachwelt zu erhalten: der 10. Tag (2 Kön 25,8: der 7. Tag) des 5. Monats (Ab), also rund einen Monat nach dem Fall der Stadt (6a). Demnach war Nebusaradan im Einklang mit 39,3, aber im Gegensatz zu 39,13 MT (s. zur Textgenese von 38,28c–40,6) an der Belagerung unbeteiligt, sondern wurde erst nach deren Ende für Sonderaufgaben beigezogen. Während der General in 39,4–14 und 40,1–6 (vgl. 41,10; 43,6) freundlicher porträtiert wird, verkörpert er hier wie in 2 Kön 25 das harte Durchgreifen der Sieger, das einen notorischen Unruheherd in einer besonders neuralgischen Zone des Großreiches – nahe der Grenze zum wichtigsten Rivalen Ägypten – ein für alle Mal ersticken und überdies zur Warnung anderer aufmüpfiger Staaten der Levante ein Exempel statuieren sollte (zu den politischen Motiven der Babylonier s. ferner zu 39,4–7). Die drakonischen Maßnahmen entsprangen einer planvollen Strategie der dauerhaften Schwächung und Abschreckung; dem dienten die systematischen Zerstörungsakte ebenso wie die demonstrativ brutale Züchtigung Zidkijas, die Exekutionen und Deportationen. Der Verzug zwischen der Einnahme der Stadt und ihrer Schleifung schuf die Gelegenheit, Jerusalem gründlich auszuplündern, die künftigen Exilanten auszuwählen und ihren Abtransport zu organisieren. In 13a ragt unter den gebrandschatzten Gebäuden an erster Stelle ein besonders auffälliges Beispiel heraus: der Tempel. Zerstörungen von Heiligtümern waren bei Stadteroberungen keineswegs die Regel, denn in solchen Anlagen wohnten schließlich Götter, mit deren Macht zu rechnen war. „Im Normalfall dürfte ein siegreicher Eroberer immer bemüht gewesen sein, sich die jeweiligen Götter des Gegners gewogen zu erhalten, sofern er mit ihnen vertraut war.“ (Mayer 20) Im 7. Jh. sind Tempelzerstörungen allerdings vermehrt zu beobachten. Zu dieser ultima ratio wurde namentlich dann gegriffen, wenn der Sieger einen gesteigerten Abschreckungseffekt erzielen wollte oder der Bruch eines Vasallenvertrags (bzw. genauer: eines Vasalleneids) zu ahnden war. „Ein solcher Vertrag wurde immer vor den großen Göttern als Zeugen geschlossen, zwischen dem lokalen Gott oder dem dynastischen des unterworfenen Fürsten und dem jeweiligen Reichsgott des Siegers.“ Daher „konnten im Falle der Verletzung der Vertragspflichten nicht nur der schuldige Fürst an seinem Leben, sondern auch sein Gott durch die Zerstörung seines Tempels bestraft werden, wodurch dem Gott seine Wohnstätte, sein Besitz und die Versorgung mit Opfern genommen wurden.“ (Mayer 21) Diese Bedingungen für das Niederreißen der Wohnstätte des örtlichen Gottes waren im Falle Jerusalems in babylonischen Augen vollauf erfüllt. Durch die Überläufer und von ihren Gefangenen waren die Eroberer informiert, dass 824

Geschichtlicher Epilog

52,17

die mehrfachen judäischen Rebellionen und der verbissene, immerhin anderthalbjährige Widerstand gegen die Belagerung hochgradig religiös begründet waren, nämlich durch das zionstheologisch fundierte, heilsenthusiastische Vertrauen, dass Jhwh, der Herr dieses Tempels, die Uneinnehmbarkeit seines Königssitzes garantiere (Albertz). Deshalb musste aus babylonischer Warte die Risikoabwägung das vorrangige Ziel ergeben, den ideologischen Herd der Emanzipationsbestrebungen zu eliminieren und damit zugleich die Grenzen der Macht des verantwortlichen Gottes aufzuzeigen.  – Für weitere selektive Züge der babylonischen Aktionen s. u. zu V. 24–30. Insgesamt bleibt das Zeugnis von V. 13 unklar: Laut 13a gaben die Sieger die ganze Stadt den Flammen preis, während 13b präzisierend nachschiebt, sie hätten sich auf die Wohnstätten der Oberschicht konzentriert, die naturgemäß die Verantwortung für den Aufstand trug (vgl. weiter zu V. 24–27b), eine Einschränkung, die freilich durch die Vorlage 2 Kön 25,9 kaum gestützt wird (TK). Der Abbruch der Stadtmauer (V. 14) war unabdingbarer Bestandteil der auf Dauer angelegten Entwaffnung Jerusalems. Der Schöpfer von Jer 52* trug bei den Nachrichten über die Neuordnung der Ver- 15–16 hältnisse im Land wieder sein Geschichtsbild ein, dass 587 außer Zidkija keine Judäer mehr exiliert worden seien. Deshalb überging er aus seiner Quelle 2 Kön 25,11–12 den ersten Vers mit der Notiz von den Deportationen und formte den zweiten (hier V. 16) so um, dass Nebusaradan statt (nur einige) von den Armen im Land nunmehr den Rest des Volkes in der Heimat zurückließ, d. h. alle, die den Krieg und die Exekution der Oberschicht (10b) überlebt hatten. Sie mussten sich – wie schon die Nichtexilierten in der Vorlage – mit einem kargen Dasein in den gering geschätzten (vgl. Jes 61,5) Berufen der Weingärtner und Ackerbauern abfinden. Dies dürfte der historischen Wirklichkeit nahekommen: Mit der durch Gebietsverluste an begierige Nachbarn stark geschrumpften Konkursmasse des vormaligen judäischen Staates, einem ökonomisch marginalen Landstrich, fingen die Babylonier kaum mehr an, als die Erwirtschaftung von Tributen sicherzustellen. Eine prämasoretische Hand hat dann in V. 15 aus 2 Kön 25,11 die Nachricht von den Verschleppungen ergänzt, denen die Überlebenden der Gefechte, aber auch die Überläufer (s. zu 39,9) und die verbliebenen Facharbeiter – also die qualifizierten Berufe – sowie sogar (über die Quelle hinaus) Teile der Unterschicht zum Opfer gefallen seien. Hatte Jer 52* den Exilierungsschub von 587 auf Zidkija beschränkt und somit faktisch geleugnet, kehrte der prämasoretische Bearbeiter das Bild um mit dem Anspruch, die Deportationen hätten damals sogar das von 2 Kön behauptete Maß übertroffen. Der vierte Abschnitt entfaltet ein besonders schmerzliches Thema mit weiteren 17–23 Einzelheiten: Zur Nachricht von der Zerstörung des Tempels (13a) wird nun noch detailliert seine Plünderung ausgemalt, im Zuge derer die Babylonier die Ausrüstung des Gotteshauses entwendeten, die Salomo nach 1 Kön 7,13–51 bei seinem Bau hatte herstellen lassen. V. 17 setzt ein bei den größten Ausstattungsgegenständen.9 Die bronzenen Säulen 17 sind die beiden Säulen, die in 1 Kön 7,15–22 beschrieben sind und den Eingang des 9  Zu ihrer Gestalt und Funktion vgl. ausführlich Zwickel, Tempel 113–142; Keel, Geschichte I 316–330, § 369–381.

825

52,17

Geschichtlicher Epilog

Tempels flankierten (V. 21), wobei nicht klar wird, ob sie ein Vordach stützten oder frei standen; nach Analogien in syrischen Tempelarchitekturen war eher letzteres der Fall. Wie ihre Namen verdeutlichen, schrieb man ihnen ohnehin primär Aufgaben zu, die über architektonische Funktionen weit hinausreichten: Jachin (!ykiy") er verleiht Festigkeit und Boas (z[;Bo) in ihm ist Stärke, wobei die pronominalen Bildeelemente (er/ ihm) wahrscheinlich auf die jeweilige Säule selbst verwiesen (dWM[; Säule ist maskulin). Die normalerweise tragende Funktion von Säulen und die Namen hoben die kosmostatische Rolle des Tempels hervor: Als Gotteswohnung auf Erden und somit als irdische Exklave der himmlischen Wohnstätte des Gottes verlieh der Tempel dem Kosmos – d. h. der geordneten Lebenswelt – Stabilität und machte so dauerhaftes Leben auf Erden erst möglich, indem die Gottheit von hier aus die ständig lauernden Gefahren seitens des Chaos unter Kontrolle hielt. Dazu vergegenwärtigten die mit Lotos-, Blattkranz‑ (hier: Flechtwerk) und Granatapfelornamenten geschmückten Kapitelle (s. V. 21–22 und 1 Kön 7,19–20) „die Regenerationskraft des Orts der Gegenwart JHWHs als solar konnotierter Gottheit“.10 Welcher Art die bändigungsbedürftigen chaotischen Gefahren waren, symbolisierte das bronzene Meer, ein in 1 Kön 7,23–26 beschriebenes Becken von der Größe eines Swimmingpools: Etwa 2,5 Meter hoch soll es gewesen sein bei einem Durchmesser von 5 Metern und einem Umfang von über 15 Metern, woraus sich eine Fassungskraft von annähernd 40 Kubikmetern ergibt. Wie der Name ~y" Meer und die enormen Ausmaße anzeigen, diente das Gerät keinen praktischen Zwecken (als Wasserbehälter), sondern es versinnbildete das Meer in seiner für die altorientalische Mythologie typischen Rolle als lebensfeindlicher Chaosmacht, personifiziert in einem drachenartigen Ungeheuer, das im AT Namen wie Leviatan, Tehom (akkadisch Tiamat) oder Rahab trägt und bei der Schöpfung von einem menschenfreundlichen Gott erlegt werden musste. Dieser seinerzeit weit verbreitete, in Epen wie Enuma-Eliš ausgestaltete mythische Stoff ist im AT durch die Überlieferungen von der Schöpfung als Chaos‑ bzw. Meereskampf Jhwhs vertreten.11 Im bronzenen Meer war diese gottwidrige Chaosmacht allerdings als Bronzeguss in den Tempelvorhof platziert (1 Kön 7,39) und mit Lotosblüten als gängigen Lebenssymbolen verziert (1 Kön 7,26; nicht: Lilienblüten, wie viele Übersetzungen sagen). So vergegenwärtigte die massige Skulptur jetzt das von Jhwh im Meereskampf gebändigte Urmeer als Quelle allen Lebens. Folglich machte das bronzene Meer wie die bronzenen Säulen die kosmostatische Funktion des Tempels augenfällig. Diese gewaltigen Artefakte zerschlugen die Babylonier, schon weil sie das wertvolle Metall gar nicht anders hätten abtransportieren können. Ebenso verfuhren sie mit den Kesselwagen, auf Fahrgestellen montierte Wasserschalen (1 Kön 7,27–39), denen neben praktischen Funktionen im Opferbetrieb vielleicht auch eine symbolische Rolle zukam als Repräsentationen der lebensspendenden Flüsse, die sich aus dem gezähmten Urmeer verzweigen.

10 Keel

ebd. 317, § 371.  Vgl. z. B. Ps 29,3.10; 74,13–15; 89,10–13; 93; 104,5–13; Ijob 26,5–13; 38,8–11; eschatologisiert: Jes 27,1. 11

826

Geschichtlicher Epilog

52,24–27

Die Vv. 18–19 zählen nach dem Vorbild von 1 Kön 7,40.45.50 vielfältige Gerätschaften für den Kultbetrieb des Tempels auf, die aus kostbaren Materialien gefertigt waren; manche sollen sogar ganz aus Gold und Silber bestanden haben, wobei gewiss der Realität etwas nachgeholfen wurde. Im Listenstil von 1 Kön 7,41.44 mit den nachgestellten Zahlwörtern kehrt V. 20 nochmals zu den Säulen und dem „Meer“ zurück, um ergänzend festzuhalten, dass die Babylonier auch die zwölf Stiere geraubt hätten, die, ebenfalls aus Bronze gegossen, als Postament des Beckens dienten (1 Kön 7,25). Diese Notiz kollidiert allerdings mit der Nachricht in 2 Kön 16,17, dass bereits unter König Ahas das „Meer“ von den Stieren getrennt und auf das Steinpflaster gesetzt worden sei (was mit den Stieren geschah, wird nicht mitgeteilt). Der Bericht von der Tempelplünderung geht also von den idealen Verhältnissen aus, wie sie nach dem Bau des Heiligtums unter Salomo bestanden haben sollen. Um die Größenordnung der erlittenen Verluste herauszustreichen, wird zudem betont, dass das Gewicht der von den Babyloniern entwendeten Bronze nicht zu ermessen gewesen sei (vgl. 1 Kön 7,47). Die Vv. 21–23 tragen weitere Einzelheiten zu den Säulen in einer Fassung nach, die gegenüber 2 Kön 25,17 erweitert ist (s. Textgenese). V. 21 MT beziffert die Höhe der Säulen (ohne die Kapitelle) wie die Vorlage mit 1 Kön 7,15 auf 18 Ellen, nach der sog. königlichen Elle rund 9 Meter, was in AlT wie in 2 Chr 3,15 mit 35 Ellen auf nahezu das Doppelte gesteigert ist, sodass sich dort zusammen mit den 5 Ellen hohen Kapitellen (22b und Parallelen) das Idealmaß von 40 Ellen ergibt. Die Kapitelle, beschrieben in den Vv. 22–23, waren mit Blattkranzmustern und Granatäpfeln geschmückt, wie auch in 1 Kön 7,17–18.41–42 angegeben; allerdings nennen 22f–23 aus unbekannter Quelle für die Granatäpfel nur halb so große Zahlen wie 1 Kön 7,42: hundert pro Säule statt zweihundert. Im Detail ist die Schilderung nicht restlos durchschaubar, wie bei architektonischen Beschreibungen im AT üblich, da solche Texte mit ihren Fachausdrücken und die durch den streckenweise listenhaften Stil bedingten Ellipsen schon frühzeitig nicht mehr voll verstanden und obendrein häufig umgearbeitet wurden, wie nicht zuletzt die zahlreichen Differenzen zwischen MT und AlT dokumentieren. Für einen Versuch der Visualisierung der Säulen Jachin und Boas s. Keel, Geschichte I S. 318 Abb. 210. Der fünfte Abschnitt schildert im Einklang mit 2 Kön 25,18–21 und im Unterschied zu 10b (s. z. St.) das selektive Vorgehen der Babylonier gegen die überlebenden Mitglieder der judäischen Führungskreise. Danach ließ Nebusaradan eine größere Anzahl von Männern aus dem religiösen, militärischen und zivilen Spitzenpersonal Judas verhaften (die Zahlen sind offenkundig gerundet: 3, 7, 60). Als höchstrangiges Opfer wird an erster Stelle der Oberpriester Seraja namentlich aufgeführt (V. 24 MT || 2 Kön 25,18; vgl. 1 Chr 5,40), der in 36,26a zu den Häschern zählt, die König Jojakim aussandte, um Baruch und Jeremia nach der mehrfachen Verlesung der „Urrolle“ festzunehmen. Serajas Vize Zefanja ist vermutlich identisch mit dem Priester Zefanja ben Maaseja, der in 29,25.29 erwähnt ist, wie er in seiner Eigenschaft als Chef des Tempelordnungsdienstes gegen die Auftritte Jeremias im Tempelvorhof einschritt; außerdem soll er jener Delegation angehört haben, die während der Belagerung Jerusalems dem Propheten Zidkijas Fürbittgesuch übermittelte (21,1; 37,3). Die mit den beiden Oberpriestern verknüpften Überlieferungen bestätigen, was schon im Zusammenhang mit 827

18–19

20

21–23

24–27

52,24–27

Geschichtlicher Epilog

der Nachricht von der Tempelzerstörung (13a) hervorgehoben wurde: Die Babylonier waren über die Gespaltenheit der judäischen Führungszirkel hinsichtlich der Frage, wie der Weltmacht zu begegnen sei, im Bilde und übten daher an jenen Vertretern grausame Rache, die den Widerstand maßgeblich befeuert hatten. Nicht von ungefähr standen dabei die Oberhäupter der Tempelpriesterschaft in der ersten Reihe. Laut der Nachricht von dem babylonischen Tribunal nach der Einnahme Jerusalems in 39,3 (vgl. 1,15) wurde den Wortführern der (oft etwas missverständlich so genannten) „antibabylonischen“ Fraktion noch in der Heimat der Prozess gemacht, bevor sie an Nebukadnezzar überstellt wurden, damit er sie an seinem Hauptquartier in Ribla in einer triumphalen Machtdemonstration exekutieren konnte. – Ein prämasoretischer Ergänzer hat in 27c aus 2 Kön 25,21c das Resümee nachgetragen: So zog Juda von seinem Ackerboden weg in die Verbannung, die Kurzformel der Vorstellung, dass 587 das judäische Volk im Wesentlichen vollständig ins Exil gewandert sei. Der Schöpfer von 52* hatte diesen Satz im Dienste seiner Theorie, dass damals allein Zidkija deportiert worden sei, übergehen müssen. 28–30 Eine Besonderheit des masoretischen Jeremiabuchs ist die Exilantenstatistik, die ein altes Dokument darstellen muss, das von den Urhebern des masoretischen Sonderguts nicht verfasst, sondern lediglich hier eingesetzt wurde (s. Textgenese). Wenn die Quelle noch geraume Zeit nach dem Exil zur Verfügung stand, muss es Instanzen gegeben haben, die solche Archivalien aufbewahrten. Der Passus listet besonders niedrige und „krumme“ Zahlen auf, was normalerweise die historische Glaubwürdigkeit erhöht, doch bei näherem Zusehen stellen sich erhebliche Interpretationsprobleme. Dem Vertrauen in die Daten steht im Wege, dass die „krummen“ Summanden sich auf den erstaunlich glatten Wert 4600 addieren, wie auch explizit festgehalten wird (30b). Die alternativen Angaben im AT sind jedoch weitaus weniger plausibel. Die Deportationen von 597 erfassten laut 2 Kön 24,16 7000 + 1000 Männer, was der anerkanntermaßen sekundäre V. 14 auf 10.000 steigerte. Fraglos korrekt ist die Mitteilung, dass vor allem Angehörige der Oberschicht, Krieger und Inhaber qualifizierter Berufe verbannt worden seien (vgl. auch Jer 24,1; 29,2), weil sich aus deren Kreisen Widerstandsbestrebungen speisten; überdies waren sie bei Bauprojekten und in der Landwirtschaft einsetzbar, während ihre Verschleppung im Gegenzug die militärische Schlagkraft Judas schwächte. Aber die Zahlen sind typische Idealwerte, und stellt man in Rechnung, dass die Männer in der Regel Frauen, Kinder und mitunter auch weitere Familienangehörige mitgeführt haben dürften, sind die Angaben mit einem nicht zu kleinen Faktor zu multiplizieren, will man auf die Gesamtsumme der Exilanten gelangen, die dann mehrere Zehntausend betragen haben müsste. Für 587 übermittelt 2 Kön keine Zahlen, sondern nur die Nachricht in 25,11–12 (|| Jer 52,15–16 MT, s. o.), wonach die Babylonier bloß einen Teil der armen Bevölkerung in der Heimat belassen hätten. Dazu kam der Satz 25,21c (|| Jer 52,27c; s. o.), dem zufolge der neuerliche Deportationsschub den vorigen weit in den Schatten gestellt und so die Verbannung erst zu jenem kollektiven Trauma von dauerhafter Wirkung gesteigert habe, das schließlich das kanonische Geschichtsbild der Epoche geprägt hat (vgl. 2 Chr 36,20–21). Im Ergebnis muss der Zug ins Exil als eine regelrechte Völkerwanderung erscheinen, bei der man sich fragt, ob sie noch babylonischen Bedürfnissen entsprochen habe und 828

Geschichtlicher Epilog

52,31–34

wie sie logistisch überhaupt zu bewältigen gewesen wäre. Ein solches Panorama ist vor allem als Träger geschichtstheologischer Aussageabsichten zu würdigen. Dem stellt die Exilantenstatistik ein viel nüchterneres Bild gegenüber: Für 597 werden 3023 Judäer verbucht (28c), ein Mehrfaches der 832 Personen (vp,n