Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg: Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe [2. Aufl.] 9783050087993, 9783050045245

Lange Zeit war es üblich, den Ersten Weltkrieg primär als Wendemarke der Kulturgeschichte aufzufassen, ging in ihm doch

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German Pages 400 Year 2008

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Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg: Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe [2. Aufl.]
 9783050087993, 9783050045245

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ULRICH SIEG Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg

ULRICH SIEG

Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe

2., unveränderte Auflage

Akademie Verlag

1. Auflage Akademie Verlag, Berlin 2001 2. Auflage Akademie Verlag, Berlin 2008

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004524-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenveraibeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Ingo Ostermaier, Berlin Druck: Digital Printing Service, Andernach Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort 1.

2.

7

Judentum und Erster Weltkrieg in der Geschichtsschreibung Die deutsch-jüdische Kultur vor 1914 2.1. Erfolgreiche Akkulturation und ihre Grenzen 2.2. Auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis

3.

Das deutsche Judentum im Weltkrieg 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

4.

5.

9

August 1914 Patriotismus unter schwierigen Bedingungen Im Schatten der „Judenzählung" Kriegsende und Revolution

Jüdisches „Kriegserlebnis"

23 37 53 53 69 87 96 109

4.1. Kriegserfahrungen jüdischer Intellektueller 4.2. Kriegsbejahung im Zeichen Kants imd Nietzsches 4.3. Jüdische Friedenssehnsucht

112

Die großen weltanschaulichen Debatten

173

5.1. Die Radikalisierung des Antisemitismus 5.2. Verherrlichxmg des Ostjudentums 5.3. Der Streit um das „Ethos der hebräischen Propheten"

174 195

132 151

217

6

Inhalt

5.4.

6.

Auseinandersetzungen über „Deutschtum und Judentum"

Von der Infragestellung der „Emanzipationsideologie" zu kulturellen Neuentwürfen 6.1. 6.2.

Universale Werte in kulturellem Gewand Geschichtsverzweiflung und jüdischer Messianismus 6.3. Die Anfange jüdischer Existenzphilosophie 7.

Zwischen Idealismus und Interesse: Zur Ideologisierung jüdischen Denkens im Ersten Weltkrieg

231

257 260 274 297

319

Abkürzungen

331

Quellen- und Literaturverzeichnis

333

Personenregister

381

Orts- imd Sachregister

389

Vorwort

In der Gestalt eines Buches spiegelt sich die Geschichte seiner Entstehung. Dieses sähe sicher anders aus, wenn nicht ein längerer Forschungsaufenthalt in Jerusalem mich schon zu Beginn mit der suggestiven Sprache der Originalquellen konfrontiert hätte. Im New Yorker Leo Baeck Institut, am Hebrew Union College in Cincinnati und an der Harvard University konnte ich das eingehende Dokumentenstudium mit der Nutzung phantastischer Bibliotheken verbinden. Vielleicht half dies bei der Deutung einer Epoche, in der genuin politische Motive sich gern in philosophisch-religiösem Gewand präsentierten. Für das materielle Fundament meiner Untersuchungen sorgte die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit einem dreijährigen Habilitanden-Stipendium. Die Adolf-Schmittmann-Stiftung übernahm die Reisekosten fiir einen zweiten USA-Aufenthalt, und schließlich gewährte die Fazit-Stiftung ein wertvolles Jahr, das ich allein der Niederschrift meiner Gedanken widmen konnte. In einer Zeit, als die politische Ideengeschichte von der „Zunft" noch recht despektierlich betrachtet wurde, übernahmen Peter Krüger und Reinhard Rürup die Verantwortung für das Projekt. Mit zahlreichen Empfehlungsschreiben und Gutachten öffneten sie ansonsten verschlossen gebliebene Türen und standen zum wissenschaftlichen Gedankenaustausch stets zur Verfügung. Die der Arbeit zugrunde liegende Habilitationsschrift wurde im Dezember 1999 vom Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften der Marburger Philipps-Universität angenommen. Die Kosten für die Drucklegung stellte die Deutsche Forschungsgemeinschaft zur Verfligung. Während der Überarbeitung des Manuskripts sorgten Friedrich Wilhelm Graf und Dietrich Korsch flir einen neuen Projektzusammenhang, in welchem ich dem Problem der religiösen „Aufladung" politischer Begrifflichkeit weiter nachgehen kann. Eine Quelle der Inspiration waren die Treffen mit anderen Nachwuchshistorikerinnen im Umfeld des Leo Baeck Instituts. Mit der ihm eigenen stillen Autorität schuf Reinhard Rürup einen Gesprächsraum, in dem vom „harten Quantifizierer" bis zum assoziativen Textinterpreten viele Auffassungen und Wissenschaftsstile fruchtbar werden konnten. Die WernerReimers-Stiftung in Bad Homburg wurde geradezu zur zweiten Heimat

8

Vorwort

der Jungen auf dem Feld der deutsch-jüdischen Geschichte. Unter den langjährigen Freunden und intellektuellen Weggefährten aus diesem Kreis seien Andrea Hopp, Elisabeth Kraus, Simone Lässig, Martin Liepach und Richard Mehler eigens genannt. Die intellektuellen Anregungen von Jörg Hackeschmidt waren mir ebenso wichtig wie die kritischen Einwürfe von Till van Rahden. Für warmherzige Anteilnahme und umsichtige Ratschläge danke ich Tom Angress. Während der vergangenen Jahre hatte ich das Glück, meine Gedanken an vielen Orten zur Diskussion stellen zu dürfen. Von den Tagungen der Studienstiftung des deutschen Volkes, des Arbeitskreises LiberalismusForschung oder der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus nahm ich Ermunterung und frische Ideen mit nach Marburg. Die von Hartmut Lehmann und Otto Gerhard Oexle organisierten Konferenzen im Göttinger Max-Planck-Institut flir Geschichte eröffneten neue problemhistorische Perspektiven. Beinahe meditativen Charakter trug die Beschäftigung mit den Handschriften des Marbacher Literaturarchivs, wo die beste Sachkennerin Ingrid Belke manchen wertvollen Tip gab. Jährliche Herbstreisen nach Oxford verschönerten das Leben. Exemplarisch flir die unprätentiöse und herzliche Gastfreundschaft, die ich erfuhr, möchte ich Jörn Leonhard danken. Peter Pulzer habe ich stets als Inbegriff umfassender Gelehrsamkeit bewundert. Mit Elisabeth Albanis, die es vom St. John's College nach Leiden verschlug, konnte ich aufgrund verwandter Interessen einen fruchtbaren Gedankenaustausch führen. Die Gespräche mit Philipp Blom, der eine seltene Begabung flir das Wesentliche besitzt, halfen mir entscheidend, meinen eigenen Weg zu finden. Rembert Untersteils Sinn für intellektuelle Nuancen erleichterte den Umgang mit schwer lösbaren Grübelfragen. Die freundschaftliche Unterstützung von Michael Dreyer und Ewald Grothe bedeutete nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht eine dauerhafte Ermutigung. Den täglichen Rückhalt bildete Anne Chr. Nagel, deren liebevoller Blick auf allen Blättern ruhte. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Derart unterstützt, war die Habilitationsphase für mich eine glückliche Zeit. Ich empfand es als Privileg, in Ruhe an einem zweiten größeren Werk arbeiten zu können, das Forschungsergebnisse und komplizierte Zusammenhänge in lesbarer Form präsentieren soll. Schon früh trug mich der Wille zu einem „schlanken Buch", der wohl auch aus der täglichen Beschäftigung mit der Papierflut des Ersten Weltkrieges geboren wurde. Die Verleihung des Preises für hervorragende Leistungen des wissenschaftlichen Nachwuchses beim Aachener Historikertag bestärkt mich in der Ansicht, daß auch in Deutschland ideengeschichtliche Fragen wieder auf der Tagesordnung stehen. Marburg, im Juni 2001

Ulrich Sieg

1. Judentum und Erster Weltkrieg in der Geschichtsschreibung

Der Kulturbegriff erfreut sich in der Geschichtswissenschaft wachsender Beliebtheit. Er verdankt seine Renaissance der Kritik an jenem Verständnis von Gesellschaftsgeschichte, das „Kultur" lediglich als Epiphänomen sozialer und wirtschaftlicher Prozesse auffaßt. Zu Recht wurde hiergegen der Einwand erhoben, daß das „System kollektiver Sinnkonstruktionen, mit denen Menschen die Wirklichkeit definieren", auf diese Art nicht adäquat beschrieben werden könne.' In den letzten Jahren wurden die subjektiven Vorstellungen der geschichtlichen Akteure vermehrt zum Anaiysegegenstand. Beispielhaft seien die mentalitätshistorischen Arbeiten von Lucian Hölscher über die gesellschaftsverändernde Kraft von Zukunftsvisionen und die im Bereich der „Gender history" bahnbrechende Studie Ute Freverts über die „Ehrenmänner" genannt.^ Gewiß ist es heute angesichts des geschärften methodischen Problembewußtseins nicht mehr möglich, umstandslos - gleichsam im metaphysischen Flug - den Geist einer Epoche zu bestimmen. Doch auch der Verzicht auf synthetisierende Anstrengungen darf in der Kulturgeschichtsschreibung nicht einseitig dominieren, wenn die gewonnenen Ergebnisse Relevanz für die heutige Gesellschaft besitzen sollen. Nicht zuletzt aus diesem Grund dürften sich jüngst zahlreiche Historiker für die Anwendung eines erweiterten Kulturbegriffs entschieden haben, der die Arbeitsund Lebensformen des Menschen ebenso wie seine Moral- und Wertvorstellungen umfaßt.^ Die Entwicklung der deutsch-jüdischen Geschichte spiegelt den „Cultural turn" der Geschichtswissenschaft. Der detaillierte Forschungsüber-

Friedhelm Neidhardt, .„Kultur und Gesellschaft.' Einige Anmerkungen zum Sonderheft", in: Ders., M. Rainer Lepsius u. Johannes Weiss (Hgg.), Kultur und Gesellschaft. Ren6 König, dem Begründer der Sonderhefte, zum 80. Geburtstag gewidmet, Opladen 1986, S. 10-18, hier S. 10 f., das Zitat S. 11. Lucian Hölscher, Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989; Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. Einen Überblick über die vielschichtige Diskussionslage bietet: Wolfgang Hardtwig u. Hans-Ulrich Wehler (Hgg.), Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996.

10

Judentum und Erster Weltkrieg in der Geschichtsschreibung

blick von Trude Maurer aus dem Jahre 1992 behandelte kulturhistorische Fragen noch ganz am Rande. Zwei Jahre später legte Shulamit Volkovs komprimierter Problemaufriß bereits beträchtlichen Wert auf kulturhistorische Zusammenhänge/ Insbesondere die heranwachsende Historikergeneration zeigt sich in hohem Grade bereit, das moderne Judentum vorrangig als Deutungskultur zu verstehen. So rückte eine ganze Reihe von Projekten jüngst den „subjektiven Faktor" der Geschichte in den Mittelpunkt ihrer Analyse und stellte die einfach klingende und doch so schwer zu beantwortende Frage, was den „modernen Juden" ihr Judentum eigentlich bedeutete. Anzuführen wären etwa die kunst- und ideologiehistorischen Studien von Inka Bertz und David Brenner zur „Jüdischen Renaissance" oder Jörg Hackeschmidts Monographie über postassimilatorische Zionismuskonzepte in der jüdischen Jugendbewegung.' Besonders wichtig ist Michael Brenners Werk zur jüdischen Kulturgeschichte in der Weimarer Republik, das sich nicht nur dem „Höhenrist" des kulturellen Lebens zuwendet, sondern auch ausführlich dessen Alltagsgestalt in den Blick nimmt.^ Merkwürdig unterbelichtet blieb jedoch bislang die Zeit des Ersten Weltkrieges. Die umfangreiche und sachkundige Monographie von Egmont Zechlin betrachtete die Juden zumeist als Objekt staatlicher Politik.^ Eva Reichmann behandelte in ihrer Pionierstudie zwar den „Bewußtseinswandel der deutschen Juden", rekurrierte aber ausschließlich auf gedruckte Quellen und ließ kulturhistorische Fragen außer acht.® So ist es fast symptomatisch, wenn auch die Überblicksdarstellung von Clemens Picht einseitig die politikgeschichtliche Dimension des Themas in den Vordergrund rückt. Sein Fazit, daß der Erste Weltkrieg das SelbstverTrude Maurer, Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (17801933). Neuere Forschungen und offene Fragen, Tübingen 1992; Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780-1918, München 1994. Inka Bertz, „Eine neue Kunst für ein altes Volk". Die jüdische Renaissance in Berlin 1900 bis 1924, Berlin 1991; David A. Brenner, Marketing Identities. The Invention of Jewish Ethnicity in „Ost und West", Detroit 1998, sowie Jörg Hakkeschmidt, Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias oder Die Erfindung einer jüdischen Nation, Hamburg 1997. Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000. Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg. Unter Mitarb. von Hans Joachim Bieber, Göttingen 1969. Eva G. Reichmann, „Der Bewußtseinswandel der deutschen Juden", in: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923. Ein Sammelband, hg. v. Werner E. Mosse unter Mitw. v. Arnold Paucker, Tübingen 1971, S. 5 1 1 - 6 1 2 . Ähnliches gilt für Stephen Magill, Defense and Introspection; the First World War as a Pivotal Crisis in the German Jewish Experience, phil. Diss., Los Angeles 1977: eine empirisch ertragreiche Arbeit, die leider vollständig auf archivalische Unterlagen verzichtet, und deshalb mentalitätshistorische Fragen beinahe zwangsläufig zu schematisch behandelt.

11 ständnis des deutschen Judentums allenfalls geringfügig veränderte, wird man schon allein angesichts der jüdischen Kulturblüte der Weimarer Zeit für wenig plausibel halten.' Eine nuanciertere Sicht vertritt Christhard Hoffmann, der jüngst auf den komplizierten Zusammenhang zwischen dem Minderheitenstatus und den expliziten Loyalitätsbekundungen des deutschen Judentums hingewiesen hat. Aber auch er widmet ideen- oder mentalitätshistorischen Problemen nur geringe Aufmerksamkeit und folgt über weite Strecken den zeitgenössischen Selbsteinschätzungen. Seine Quellen stammen vornehmlich aus dem Bereich der veröffentlichten Meinung und sind kaum geeignet, ein differenziertes Bild jüdischer Kriegserfahrungen zu ermöglichen.'" Angesichts der schlüsselhaften Bedeutung des „Großen Krieges" ist es auf den ersten Blick kaum verständlich, warum seine Wahrnehmung und Verarbeitung innerhalb der deutsch-jüdischen Kultur bislang noch nicht zum Analysegegenstand erhoben wurde. Eine wesentliche Ursache hierfür dürfte darin liegen, daß sich die deutschen Juden - gerade während des Weltkrieges - nicht nur als überzeugte Nationalisten, sondern auch als Hüter traditioneller kultureller Werte empfanden und präsentierten. Weite Teile der historischen Forschung sind dieser stilisierten Selbsteinschätzung gefolgt. So vertritt etwa George Mosse die These, daß die deutschen Juden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die eigentlichen Träger des Bildungsbegriffs gewesen seien." Die meisten Juden hätten deshalb nach Bildung gestrebt, weil darin der wichtigste und angesehenste Weg bestanden habe, um sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Dies trifft gewiß wichtige Aspekte des jüdischen Selbstverständnisses, ist aber zugleich eine ausschnitthafte und simplifizierende Sicht. Tatsächlich läßt sich keineswegs behaupten, daß die deutsch-jüdische Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu ausschließlich von linksliberalen und sozialistischen Vorstellungen bestimmt wurde. Vielmehr existierte eine spannungsgeladene Heterogenität von Haltungen, die von deutsch-nationalen bis zu kommunistischen, von religiös orthodoxen bis zu atheistischen, von phänomenologischen bis zu metaphysischen Positionen reichte mithin schwerlich auf eine einzige prägnante Formel zu bringen ist.'^ Clemens Picht, „Zwischen Vaterland und Volk. Das deutsche Judentum im Ersten Weltkrieg", in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 7 3 6 - 7 5 7 , hier S. 751. Christhard Hoffmann, „Between Integration and Rejection: the Jewish Community in Germany, 1914-1918", in: John Hörne (Hg.), State, Society and Mobilization in Europe during First World War, Cambridge 1997, S. 8 9 - 1 0 4 u. 2 5 6 - 2 6 0 . George Mosse, Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus, Frankfurt am Main u. New York 1992. Dazu nuanciert: Steven E. Aschheim, „German Jews beyond Bildung and Liberalism: The Radicai Jewish Revival in the Weimar Republic", in: Ders., Culture and Catastrophe. German and Jewish Confrontations with National Socialism and Other Crises, Hampshire u. London 1996, S. 3 1 - 4 4 u. 150-162, bes. S. 35 f

12

Judentum und Erster Weltkrieg in der Geschichtsschreibung

Die weitgehende Nichtbeachtung des Ersten Weltkrieges innerhalb der deutsch-jüdischen Historiographie icorrespondiert mit seiner eher icursorischen Behandlung in der Ideengeschichte. So bevorzugen die meisten universitäts- und wissenschaftsgeschichtlichen Werke einen dezidiert ideologiekritischen Zugriff. Ihrer Thesenführung hinsichtlich der „Ideen von 1914" und ihrer Bedeutung für die Gelehrtengeschichte wird man sich heute zwar allgemein anschließen, dennoch erscheint die Reichweite dieses Deutungsversuchs weitgehend erschöpft, weil er weder auf der Ebene der individuellen Motive noch der kulturellen Prozesse größeren Raum für hermeneutisch einlässige Interpretationen bietet.'^ Seit einigen Jahren stößt der Weltkrieg jedoch auf vermehrtes kulturhistorisches Interesse. Im Zusammenhang mit Untersuchungen zur gesellschaftlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Moderne hat man die katalysatorische Funktion des Weltkrieges betont und ihn in die Kulturgeschichte des ersten Jahrhundertdrittels e i n g e o r d n e t . F ü r Dichtung, Musik, Architektur, bildende Kunst und den Film besitzt diese Einschätzung erhebliche Plausibiiität; freilich droht sie den von den Zeitgenossen eindringlich bezeugten Umbruchcharakter der Epoche ungebührlich in den Hintergrund zu rücken. Lange Zeit war es üblich, den Weltkrieg primär als Wendemarke der Kulturgeschichte aufzufassen, ging in ihm doch jener Fortschrittsglaube zugrunde, der fiir das bürgerliche Selbstverständnis konstitutiv gewesen war. Die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zerstoben im Ersten Weltkrieg mit seinen gewaltigen Materialschlachten und einer bis dahin nicht gekannten Beteiligung der Zivilbevölkerung so vollständig, daß vielen die Zeit vor 1914 rückblickend als „heile Welt" erschien. Voll Trauer und doch zugleich analytisch hellsichtig konstatierte Joseph Roth, der „Große Krieg" werde mit Recht „Weltkrieg" genannt, „nicht etwa, weil ihn die

Dies trifft auch zu filr die mittlerweile klassischen Darstellungen von Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen, Zürich u. Frankfurt am Main 1969, und Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine, 1890-1933, München 1987 [zuerst amerikan. Cambridge, Mass. 1969]. Ausgesprochen innovativ wirkte: Modris Eksteins, Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg 1990. Überdies verbreitete Eksteins viele Gedanken aus Paul Fussells grundlegendem Werk The Great War and Modern Memory (New York 1975), das lange Zeit von der deutschen Geschichtswissenschaft kaum beachtet wurde. - Einen Überblick über die facettenreiche französische Forschung gibt: Stephane Audoin-Rouzeau, „Von den Kriegsursachen zur Kriegskultur. Neuere Forschungstendenzen zum Ersten Weltkrieg in Frankreich", in: NPL 39 (1994), S. 2 0 3 - 2 1 7 .

13 ganze Welt geführt hatte, sondern weil wir alle infolge seiner eine Welt, unsere Welt, verloren haben"." Auch wenn inzwischen die meisten Historiker darin übereinstimmen, daß der Erste Weltkrieg als „Urkatastrophe dieses Jahrhunderts" aufgefaßt werden muß,'^ wissen wir doch vergleichsweise wenig darüber, wie die Jahre zwischen 1914 und 1918 von den Menschen erlebt und gedeutet wurden. Barbara Tuchmann sprach zu Beginn der sechziger Jahre davon, daß der „Große Krieg sich wie ein Streifen verbrannter Erde zwischen uns und die Zeit davor geschoben" habe.'' Damit kennzeichnete sie nicht zuletzt, wie schwierig es für die Menschen war, die Erfahrung massenhaften Sterbens symbolisch auszudrücken und psychisch zu verarbeiten. Der „Gedächtnisraum" des Ersten Weltkrieges wurde bestimmt durch „Schützengrabenromantik" und Verdrängung. Denkmäler und Klischees traten mit solcher Gewalt an die Stelle individueller „Trauer", daß sie erst rund sieben Jahrzehnte nach dem Krieg zum Gegenstand historischer Aneignung und Reflexion wurde.'® Wieder etwas anderes ist die Rekonstruktion des „Erfahrungsraums", dem sich die jüngste deutsche Weltkriegsforschung energisch zugewandt hat. In ihrem Mittelpunkt steht die Auswertung „authentischer" Quellen wie Tagebücher und Feldpostbriefe; nicht selten dominiert der „Blick von unten" die Erkenntnisziele. Selbst wenn die Anwendung von Methoden der „Oral history" angesichts des zeitlichen Abstands zum betrachteten Ereignis nicht recht vertrauenerweckend scheint, ist es generell begrüßenswert, daß die Vorstellungswelten der historischen Akteure und ihr Alltag mit seinen Sorgen und Nöten ausgeleuchtet w e r d e n . " Überdies ist ein Großteil der Projekte erfreulich komparativ ausgerichtet und läßt

Joseph Roth, Die Kapuzinergruft, Amsterdam 1987 [zuerst ebd. 1938], S. 44. Roths Identifikation mit der „alten Ordnung" analysiert: Helmut Kuzmics, „Von der Habsburgermonarchie zu .Österreich'. Reichspatriotismus, ,habsburgischer Mythos' und Nationalismus in den Romanen von Joseph Roth", in: AfK 79 (1997), S. 105-122. George F. Kennan, Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung, Frankfurt am Main, Berlin u. Wien 1981, S. 12. Barbara Tuchmann, Der stolze Turm. Ein Portrait der Welt vor dem Ersten Weltkrieg 1890-1914, München u. Zürich 1969 [zuerst amerikan. New York 1962], S. 11. Grundlegend: Jay Winter, Sites of Memory, sites of mourning. The Great War in European cultural history, Cambridge 1996. Generell zum „Totenkult" in der Weimarer Republik: George L. Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993. Methodisch fragwürdig: Michael Stöcker, Augusterlebnis 1914 in Darmstadt. Legende und Wirklichkeit, Darmstadt 1994; weiterführend: Gerhard Hirschfeld u.a. (Hgg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch ... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, sowie Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997.

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Judentum und Erster Weltkrieg in der Geschichtsschreibung

beispielsweise regionale wie schichtenspezifische Unterschiede in der Kriegswahrnehmung deutlich hervortreten. Bedenklich stimmt hingegen, daß der dezidiert positivistische Ansatz Relevanzkriterien zu wenig berücksichtigt und nur selten die synthetisierende Zusammenschau wagt.^° Den Fokus dieser Untersuchung bildet die deutsch-jüdische Kultur im Ersten Weltkrieg, deren Behandlung aufgrund ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung und inneren Komplexität besonders reizvoll und ergiebig erscheint. Die Wichtigkeit des Themas wird zusätzlich durch den Umstand erhöht, daß die Stellung des Judentums in der Moderne noch nicht hinreichend geklärt ist. Unstrittig sind lediglich seine intellektuellen und künstlerischen Leistungen im „Projekt der Moderne" (Habermas), doch besteht bislang keine Einigung über die Ursachen dieses Phänomens.^' Hinweise auf die „seismographische Funktion" der Juden in der Kulturgeschichte, ihre „Außenseiterrolle" und damit verbundene „Sensibilität" mögen Richtiges umkreisen, bleiben jedoch ohne sozialhistorische Differenzierung notwendig unscharf und schematisch. Zudem läuft man Gefahr, einen „Gegenmythos" (Gombrich) zu schaffen, wenn rückblickend kulturhistorische Entitäten postuliert und verklärt werden.^^ Zu den schwierigsten Aufgaben gehört die Einbettung der jüdischen in die allgemeine Geschichte. Erst jüngst hat Shulamit Volkov die methodischen Defizite bei der Lösung dieses Problems in den großen Überblicksdarstellungen zur deutschen Geschichte aufgezeigt.^^ Wenn aber nicht einmal der „Antisemitismus" bislang adäquat behandelt wurde, um wieviel mehr mag dies für die komplexe Frage nach den Wechselwirkungen und verschlungenen Zusammenhängen deutsch-jüdischer Kulturgeschichte gelten? Der .jüdische Geist", um eine hegelianisierende Hypostasierung zu verwenden, führte keine „Ghettoexistenz", sondern stand in regem Kontakt mit den einflußreichen Zeitströmungen. Nicht selten

"

Dies gilt bei allem empirischen Ertrag fUr die Mehrzahl der Beiträge in: Gerhard Hirschfeld u.a. (Hgg.), „Kriegserfahrungen". Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997. Hilfreich: Michael A. Meyer, Jüdische Identität in der Moderne, Frankfurt am Main 1992; Gilian Rose, Judaism and Modernity. Philosophical Essays, Oxford u. Cambridge, Mass. 1993, sowie Shulamit Volkov (Hg.), Deutsche Juden und die Moderne, München 1994. Dazu prononciert an einem herausgehobenen Beispiel: Peter Gay, „Der berlinisch-jüdische Geist. Zweifel an einer Legende", in: Ders., Freud, Juden und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen Kultur, München 1989, S. 189-206. Wieviele wissenschaftshistorische Mythen kursieren, verdeutlicht: Shulamit Volkov, „Soziale Ursachen des jüdischen Erfolgs in der Wissenschaft", in: Dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, S. 146-165 u. 2 2 5 - 2 3 0 . Dies., „Nationalismus, Antisemitismus und die deutsche Geschichtswissenschaft", in: Manfred Kettling u. Paul Nolte (Hgg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München 1996, S. 2 0 8 - 2 1 9 .

15 erweisen sich prima facie spezifisch .jüdische" Interpretamente als hochgradig abhängig von der „kulturellen Großwetterlage".^'' Gerade aus diesem Grund empfiehlt es sich, das kulturelle und soziale Umfeld jüdischer Intellektueller näher zu betrachten. Angesichts des „situativen Charakters jüdischer Ethnizität" ist es nicht ratsam, mit einer engen Definition von ,jüdisch" zu operieren; vielmehr sollen, wo es geboten erscheint, neben „Glaubensjuden" auch Atheisten oder Getaufte berücksichtigt werden. Entscheidend ist, in welchem Ausmaß sie an den zentralen Diskursen über die Neudefinition des „Jüdischen" teilnahmen. Gewiß ist eine solcherart pragmatische Vorgehensweise noch recht unüblich, aber sie hat sich wegen ihrer Elastizität und hermeneutischen Einlässigkeit bereits bewährt.^' Überdies entspricht sie über weite Strecken dem zeitgenössischen Selbstverständnis. Gerade im Projekt der „Jüdischen Renaissance" definierte man ,jüdisch" nicht primär als religiöse, sondern als kulturelle und nationale Kategorie. Der Bedeutungszuwachs der Intellektuellen seit dem Dreyfus-Skandal ist kein spezifisch deutsches, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen. Die tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen wurden begleitet von einem Säkularisationsprozeß, der alle Konfessionen und Gesellschaftsschichten erfaßte und umgestaltete. Im Bürgertum führte er zu einem gewaltigen „Sinnhunger", den ganz unterschiedliche Gruppierungen und Institutionen zu befriedigen versuchten. Das steigende Ansehen der Intellektuellen lag nicht zuletzt darin begründet, daß man ihnen flir die neu auftretenden Probleme eine erhebliche Deutungskompetenz zutraute. Meist abhängig von einem großstädtischen Lesepublikum, verkündeten viele Denker die Vorzüge einer natumahen Lebensweise.^^ Die

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Dazu eindmcksvoll: Philipp Blom, Martin Buber and the Spiritual Revolution of the Prague Bar Kochba. Nationalist Rhetoric and the Politics of Beauty, phil. Diss., Oxford 1997. Die methodischen Probleme und Erkenntnischancen einer fächerübergreifenden „Intellectuai history" skizziert: Paul R. Mendes-Flohr, „The Study of the Jewish Intellectuai: A Methodoiogical Prolegomenon", in: Ders., Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity, Detroit 1991,8.23-53.

"

Diesen Weg beschreitet: Steven Beller, men und die Juden 1867-1938, Wien 1993. Zur sozialen Formierung des deutschen Judentums vgl. Till van Rahden, „Weder Milieu noch Konfession. Die situative Ethnizität der deutschen Juden im Kaiserreich in vergleichender Perspektive", in: Olaf Blaschke u. Frank-Michael Kuhlemann (Hgg.), Religion im Kaiserreich. Milieus - Mentalitäten - Krisen, Gütersloh 1996, S. 4 0 9 - 4 3 4 . Christophe Charle, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1996; als Forschungsübersicht: Gangolf Hübinger, „Die europäischen Intellektuellen 1890-1930", in: NPL 39 (1994), S. 3 4 - 5 4 ; für Deutschland mit Schwergewicht auf der wilhelminischen Zeit: Ders. u. Wolfgang J. Mommsen (Hgg.), Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich. Mit Beiträgen von Rita Aldenhoff u.a., Frankfurt am Main 1993.

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Judentum und Erster Weltkrieg in der Geschichtsschreibung

zivilisationskritischen Topoi und Dichotomien, die den „Krieg der Geister" prägten, knüpften in vielem an Denkmuster des Fin de s i e d e an. Freilich ist die Frage nach der kulturgeschichtlichen Bedeutung des Weltkrieges keineswegs hinreichend durch den Aufweis historischer Kontinuitäten beantwortet. Denn der politische und gesellschaftliche Kontext bestimmte in hohem Grade, welche Reichweite Argumente im „Großen Krieg" erhielten und wie man ihren ideologischen Wert beurteilte.^' Bedenkt man das Ausmaß der nationalistischen und religiösen „Aufladung" politischer Begrifflichkeit seit 1914, erscheint es nicht ratsam, mit einem zu engen Ideologiebegriff zu operieren. Gewiß sollte man die Bedeutung praktischer Interessen für „gruppenbezogene Wahrheitsüberzeugungen" auch im Weltkrieg nicht unterschätzen.^^ Dennoch spricht wenig dafür, dem menschlichen Verhalten in einer Zeit existentieller Erschütterungen ein hohes Maß an Intentionalität zu unterstellen. Dies marginalisiert ebenso sehr die neuartige Qualität des mechanisierten Massensterbens, wie es die ästhetische Dimension politischer Sinnstiftung unter den Bedingungen beschleunigten kulturellen Wandels außer acht läßt.^' Weil die zentralen Diskussionen im deutschsprachigen Judentum länderübergreifender Natur waren, läßt sich die Untersuchung nicht auf das Gebiet des wilhelminischen Kaiserreichs begrenzen. Die Städtenamen „Berlin", „Frankfurt", „Prag" und „Wien" stehen für intellektuelle Zentren, welche die Meinungsbildung im deutschsprachigen Judentum nachhaltig bestimmten.^" Die daraus resultierende Materialdichte erzwingt eine stärker systematische Gliederung des Stoffes, die sich im wesentlichen an den großen ideologischen Auseinandersetzungen orientiert. Im Mittelpunkt steht der Diskurs unter den führenden jüdischen Intellektuellen in den vielgelesenen religiösen, politischen und kulturellen Zeitungen und Zeitschriften. Hier diskutierte man nicht nur die aktuelle militärische und politische Entwicklung und erörterte weltanschauliche PrinzipienfraLesenswerte Fallstudien enthält: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996. Zu den Chancen einer modernen Ideengeschichte des Weltkrieges, die kultur- und mentalitätshistorische Fragen integriert: Michael Epkenhans, „Neuere Forschungen zur Geschichte des Ersten Weitkrieges", in: AfS 38 (1998), S. 4 5 8 ^ 8 7 , hier S. 4 7 6 - 4 8 0 .

29

So die klassische Definition von Hermann Lübbe, „Zur Geschichte des IdeologieBegriffs", in: Ders., Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg 1971, S. 159-181, hier S. 160, wonach jede Weltanschauung primär der Verschleierung nicht ausgesprochener Absichten dient. Vgl. allgemein Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, Frankfurt am Main 1995, insbes., S. 260-296, der Essay „Die Apotheose des romantischen Willens. Die Revolte gegen den Mythos einer idealen Welt", und Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, München 1985, S. 121-149. Dazu einleuchtend: Volkov, „Juden", S. 84.

17 gen, sondern stritt auch über die ideologischen Schiüsselbegriffe und strebte danach, sie im eigenen Sinne zu definieren.^' Wenn das moderne Judentum aus heutiger Perspektive vielen als „kulturelles System" erscheint, so resultiert dies ironischerweise aus dem gemeinsamen Bemühungen ausgeprägter Individualisten, die inhaltlich nur selten miteinander übereinstimmten. Über längere Zeit stand die moderne Kulturgeschichtsschreibung im Bann der Arbeiten von Clifford Geertz und seiner Theorie der „dichten Beschreibung". Sie teilt mit Max Webers Soziologie die Prämisse, „daß der Mensch [...] in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist".^^ Der Unterschied liegt im Akzent auf den kulturellen Praktiken. Gerade die Regeln der Alltagswelt helfen Geertz, die Textur eines „kulturellen Systems" zu entschlüsseln. In mancher Hinsicht ist seine Vorgehensweise der klassischen Kulturgeschichte verwandt, deren Beschäftigung mit geschichtlichen Individualitäten nicht nur vom Verstehensprinzip geleitet ist, sondern auch auf die detailscharfe Beschreibung historischer Muster zielt.^^ Gerade angesichts der inneren Heterogenität und kulturellen Aufnahmefähigkeit des modernen Judentums wird man den damit einhergehenden Gewinn an historischer Distanz nicht gering achten. Zudem schärft Geertz' Vorgehensweise den Sinn für jene kulturellen Verweisungszusammenhänge, die den Bereich des für den Menschen „,wirklich Wirklichen'" definieren.^"

Zum hohen Quellenwert der Kulturzeitschriften: David Brenner, Marketing Identities, S. 4 0 - 4 8 u. 181 ff.; Paul R. Mendes-Flohr, „Fin-de-Si6cle Orientalism, the Ostjuden, and the Aesthetics of Jewish Self-Affirmation", in: Ders., Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modemity, Detroit 1991, S. 7 7 - 1 3 2 ; die Bedeutung der Presse für die Politikgeschichte demonstriert: Martin Liepach, Das Wahlverhalten der jüdischen Bevölkerung in der Weimarer Republik, Tübingen 1996, S. 95-210. Clifford Geertz, „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur", in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1996 [zuerst New York 1973], S. 7 - 4 3 , hier S. 9. Vgl. dazu den instruktiven Sammelband Otto Gerhard Oexle u. Jörn Rüsen (Hgg.), Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme, Köln, Weimar u. Wien 1996. Clifford Geertz, „Religion als kulturelles System", in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1996, S. 4 4 - 9 5 , hier S. 77. Im Interesse an den semiotischen Aspekten der Kulturgeschichte dürfte ein wichtiger Grund für die ungebrochene Attraktivität seiner Texte liegen. Ähnlich steht es um die Gründe für die internationale CassirerRenaissance, aus deren überreicher Literatur lediglich Dorothea Frede u. Reinold Schmücker (Hgg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997, genannt sei.

18

Judentum und Erster Weltkrieg in der Geschichtsschreibung

Im Bereich der deutsch-jüdischen Geschichte verbindet Shulamit Volkov eine kulturanthropologische Methodik mit Ansätzen der modernen Nationalismusforschung. Die Entstehung des modernen Judentums beschreibt sie als dialektischen Prozeß, dessen Eigenart vor allem darin bestand, sich „als neue Darstellung des alten zu präsentieren".^^ Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht jedoch ein tiefgreifender Kontinuitätsbruch und nicht die Konstruktion dauerhafter kultureller Werte. Gerade Volkovs „Traditionsbegriff', der auf die Persistenz kultureller Normen verweist, ist fiir die Analyse eines extrem kurzen Zeitabschnitts, der alle Kennzeichen einer Ausnahmesituation trägt, schwerlich geeignet. Überdies droht seine positive Färbung den ideologischen Charakter jüdischen Denkens im Ersten Weltkrieg zu verschleiern.^® Generell sollte man bei der Anwendung anthropologischer Denkansätze im Auge behalten, daß ihre Modelle in der Regel für die rasanten Veränderungen der Moderne zu statisch konzipiert sind. Ihre Stärke liegt in der Erhellung kultureller Verweisungszusammenhänge, wohingegen die Historizität der behandelten Phänomene meist unterbelichtet bleibt. Aus diesem Grund favorisieren viele Studien die Kombination langer Zeiträume mit alltäglichen Gegenständen: das Spektrum möglicher Themen reicht von der „Zigarre" bis zur „Unterwäsche". Die Brüchigkeit und soziale Differenzierung moderner Gesellschaften gerät auf diese Weise freilich selten in den Blick.^^ Im Unterschied zu den meisten kulturhistorischen Arbeiten der letzten Jahrzehnte analysiert diese Studie einen ausgesprochen kurzen Zeitraum. „Mentalität" wird nicht wie in der „Annales-Schule" als „Gefängnis langer Dauer" begriffen oder wie in der frühen „Bielefelder Schule" als quasi autarke Struktur „reifiziert".^^ Im Mittelpunkt stehen vielmehr die

Shulamit V o l k o v , „Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland", in: HZ 2 5 3 ( 1 9 9 1 ) , S. 6 0 3 - 6 2 8 , hier S. 6 0 6 . A l l g e mein: Eric H o b s b a w m u. Terence Ranger (Hgg.), The Inventing

of

Tradition,

Cambridge usw. 1983. 36

B e z e i c h n e n d e r w e i s e geht ihr vielzitierter Aufsatz über die „Erfindung einer Tradition" nicht näher auf den Ersten Weltkrieg ein. Ähnliches trifft auf zwei zentrale Werke z u m jüdischen Geschichtsverständnis zu: Y o s e f H. Yerushalmi, chor:

Erinnere

Dich!

Jüdische

Geschichte

1988, s o w i e Arnos Funkenstein, Jüdische

und jüdisches

Geschichte

Za-

Gedächtnis,

Berlin

und ihre Deutungen,

Frank-

furt am Main 1995. 37

D a z u mit leiser Ironie: Reinhard Sieder, „Sozialgeschichte auf dem W e g zu einer historischen Kulturwissenschaft", in: GG 2 0 ( 1 9 9 4 ) , S, 4 4 4 ^ 6 8 , hier S. 4 5 4 457. Vgl. Lutz Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre. bung und nouvelle

histoire

in Frankreich

1945-1980,

Annales-GeschichtsschreiStuttgart 1994, besonders

S. 3 2 7 - 3 3 0 , s o w i e als Kritik an Bielefelder Selbstverständlichkeiten Ute Daniel, „.Kultur' und ,Gesellschaft'. Überlegungen z u m Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte", in: GG 19 ( 1 9 9 3 ) , S. 6 9 - 9 9 .

19 Wechselwirkungen, welche die historisch erlebte Realität und die menschlichen Sinnkonstruktionen miteinander verbinden. Die erste der beiden Leitfragen thematisiert, warum der Erste Weltkrieg als derart grundstürzendes Ereignis empfunden wurde, daß viele Zeitgenossen ihr Leben in jeweils eine Periode vor und nach dem „Großen Krieg" einordneten. Die zweite sucht zu klären, wie sich das Weltbild jüdischer Intellektueller unter extremem äußeren Druck veränderte. Wie reagierten sie auf den Zusammenbruch der bürgerlichen Wertewelt, und in welcher Form verarbeiteten sie die Kontingenzerfahrung massenhaften Sterbens? Die Arbeit versteht sich als Beitrag zu einer modernen Ideengeschichte, die um den schillernden Charakter ihrer Phänomene weiß und sich vor falschen Eindeutigkeiten hütet. Denn in der Mehrzahl gewinnt eine Idee erst an Bedeutung, wenn sie in der Lage ist, unterschiedliche Bedeutungsinhalte aufzunehmen. In manchem werden Fragen der „Intellectual History" wiederaufgenommen, die sich in England ungebrochener Wertschätzung erfreut, während die sozialhistorische Wende in Deutschland von einer Marginalisierung hermeneutischer Ansätze jedweder Provenienz begleitet war.^' Geistesgeschichte betrachtete man als antiquierte Spezialität historistischen Denkens, die allenfalls zur Sinnstiftung taugte. Mittlerweile beginnt sich allerdings die Einsicht durchzusetzen, daß erst die präzise Behandlung intellektueller Kontexte die politische Virulenz weitanschaulicher Aussagen zeigen kann.'*" Die eingehende Untersuchung der kulturhistorischen Bedeutung weniger Jahre erfordert aussagekräftige Quellen. Glücklicherweise hat das jüdische Bildungsbürgertum reichhaltiges und faszinierendes Material zum Ersten Weltkrieg hinterlassen. Wissenschaftler, Rabbiner, Lehrer, Journalisten und Schriftsteller fühlten sich zur Kommentierung und Deutung des Kriegsgeschehens aufgefordert. In unterschiedlichem Maße fühlten sie sich als Intellektuelle, die den Fortgang der Dinge in ihrem Sinne beeinflussen wollten. Die Fernleihe der Universität Marburg sowie die Spezialbibliotheken und Sammlungen in Frankfurt, Köln, Marbach, Oxford, Jerusalem, Cincinnati, Harvard und New York halfen bei der Erschließung der ungewöhnlich umfangreichen und verstreuten „Weltkriegsliteratur". Die großen Zeitungen waren ebenso auszuwerten wie die facettenreiche jüdische Lokalpresse, die allerdings noch keine so große Bedeutung wie in der

Vgl. als problemhistorisch konzipierte Übersicht: Eckhart Hellmuth u. Hans Christoph von Ehrenstein, „Intellectual History Made in Britain: Die

Cambridge

School und ihre Kritiker", in: GG 27 (2001), S. 149-172. Dazu scharfsinnig und weiterführend; Lutz Raphael, „Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaften im NS-Regime", in: GG 27 (2001), S. 5 ^ 0 , hier S. 28 f. - Ich danke der Redaktion von „Geschichte und Gesellschaft" für die Zusendung der Druckfahnen ihres Themenheftes zur „Neuen Ideengeschichte".

20

Judentum und Erster Weltkrieg in der Geschichtsschreibung

Weimarer Republik besaß. Flankierend wurden die jüdischen Almanache, Familienzeitungen, Kalender und Jahrbücher herangezogen, deren Funktion als Multiplikator kultureller Werte nicht unterschätzt werden darf. Die Vielzahl „handwerklich" hochwertiger Quelleneditionen und Werkausgaben spornte zur problemorientierten Synthese an. Dabei stellte sich heraus, daß die Spezialforschung manche Entwicklung als singulär hinstellt, die sich bei komparativem methodischen Zugriff als epochentypisch erweist. Exemplarisch sei die „existentialistische Wende" deutschjüdischer Denker genannt, die von Leo Baeck über Martin Buber und Hermann Cohen bis hin zu Franz Rosenzweig beinahe alle (Religions-) Philosophen von Rang erfaßte.'" Neben die gedruckten Quellen tritt die archivalische Überlieferung. Schlüsselhafte Bedeutung kommt dem Nachlaß von Martin Buber in der Jewish National and University Library in Jerusalem zu. Allein die mehr als sechstausend Briefe, die Buber im Ersten Weltkrieg erhielt, zeigen eindrucksvoll, in welchem Ausmaß er die Vorstellungen der heranwachsenden Generation prägte. Die Bestände des New Yorker Leo Baeck Instituts bieten umfangreiches Material zum jüdischen „Kriegserlebnis". Entgegen ihrem Titel enthält gerade die dortige „Memoirensammlung" zahllose Primärquellen, wie Tagebücher, Kriegsbriefe und unveröffentlichte Notizen aller Art. Auch soll nicht generell ein Bogen um die Welt der Erinnerungen geschlagen werden. Es wäre allzu puristisch, wenn eine kulturgeschichtliche Betrachtung der jüdischen Intellektuellen im Weltkrieg die Bereiche des individuellen und kollektiven Gedächtnisses vollständig ausklammern wollte. Überdies erscheint es schwerlich vertretbar, eine zentrale Quellengattung unberücksichtigt zu lassen, nur weil die methodischen Probleme im Umgang mit ihr immens sind. Die Kontrastierung zeitnaher und -ferner Dokumente bietet Erkenntnischancen, die bei der Analyse einer historischen Ausnahmesituation nicht ausgeschlagen werden sollten. Die Studie steht im Schnittpunkt von Politik-, Mentalitäts- und Ideengeschichte. Probleme werkimmanenter Interpretation treten hinter die Schilderung und Analyse des kulturellen Kontextes zurück. Im Unterschied zum klassisch geisteshistorischen Ansatz geht es nicht primär um die Selbstentfaltung der Begriffe, sondern um die Rahmenbedingungen, die ihre ideologische Wirksamkeit ermöglichten. In Abgrenzung zur Diskursanalyse wird eine „dichte Beschreibung" der zentralen Diskussionen gegeben, die ihre innere Dynamik hervorhebt und zugleich dem besseren Verständnis der historischen Akteure dient. Der zweite Teil entwickelt ein Panorama der verschiedenen politischen und religiösen Strömungen im deutschen Judentum vor 1914 und skizziert die jüdische Suche nach einer neuen Identität. Die Darstellung der politischen Entwicklungen im dritten Teil konzentriert sich auf die unmittelbaren Folgen für das jüdiDazu unten Kap. 6.3.

21 sehe Selbstverständnis. Er beschreibt und analysiert, warum die vielfältigen Hoffnungen, die der Kriegsausbruch auslöste, in einem Gefühl umfassender Enttäuschung mündeten. Die unterschiedlichen Kriegserfahrungen - an der Front, in der „Etappe" und in der Heimat - bestimmen den Inhalt des vierten Teils. Ausführlich werden zwei Reaktionsmuster betrachtet, die für jüdische Intellektuelle prinzipielle Bedeutung hatten: nietzscheanische Kriegsbejahung und Verherrlichung der Friedensidee. Teil fünf nimmt den weltanschaulichen Gehalt der großen Weltkriegsdebatten des deutschen Judentums näher in den Blick. Abschließend werden die im engeren Sinne ideengeschichtlichen Zusammenhänge analysiert. Die umfassende Erschütterung des Krieges beeinflußte eine Vielzahl kultureller Konzepte, deren Gemeinsamkeit in der Suche nach neuen weltanschaulichen Fundamenten lag. Die Studie beabsichtigt nicht die Formulierung einer wissenschaftlichen „Großthese". Die phänomenologische Methodik zielt auf kulturelle Konfigurationen, nicht auf historische Determinanten. Dies berücksichtigt den ideengeschichtlichen Sachverhalt, daß einheitsstiftende Sinnhorizonte im Verlauf des Krieges massiv an Plausibilität verloren haben.'*^ Zum anderen werden damit mikrogeschichtliche Ansätze aufgenommen, die auf höchstem Niveau bislang erst im Bereich der historischen Biographik erprobt wurden. So hat Friedrich Lenger am Beispiel des Nationalökonomen Werner Sombart erstmals einen engen Zusammenhang zwischen gelehrtem Lebensstil und wissenschaftlichem Weltbild herstellen können.''^ Und Ulrich Raulffs Studie zu Marc Bloch zeigt eindringlich, in wie vielen intellektuellen Schnittlinien und kulturellen Kontexten das CEuvre des französischen Ausnahmehistorikers stand.'*'* Beide Arbeiten eint jener Respekt vor der „Widerständigkeit" der Quellen, der Geschichte nie gänzlich theorieformig werden läßt. Für die jüdischen Intellektuellen im Ersten Weltkrieg gilt Ähnliches: die Mehrdimensionalität des Geschehens fordert eine Abkehr von der „großen Erzählung" (Lyotard), wie sie so lange üblich war. Im Resultat erhält man vielleicht weniger Gewißheiten, aber ein komplexeres Geschichtsbild, in dem Kausalitäten nur noch eine vergleichsweise geringe Rolle spielen.

^^

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Vgl. etwa den komparativ ausgerichteten Sammelband: Jay Winter, GeofFrey Peck u. Mary Habeck (Hgg.), The Great War and the Twentieth Century, New Häven u. London 2000. Friedricii Lenger, Werner Sombart, 1863-1941. Eine Biographie, München 1994. Ulrich Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt am Main 1995.

2. Die deutsch-jüdische Kultur vor 1914

2.1. Erfolgreiche Akkulturation und ihre Grenzen Um 1900 konnte das deutsche Judentum auf eine bemerkenswerte Entwicklung zurückblicken. Mit der rechtlichen Gleichstellung war 1871 ein beschwerlicher und verschlungener Emanzipationsprozeß zum Abschluß gelangt, für den sich die bedeutendsten philosophischen und politischen Köpfe - von Moses Mendelssohn über Saul Ascher bis Gabriel Riesser eingesetzt hatten.' Dementsprechend loyal stand das jüdische Bürgertum dem neuen Staat gegenüber, dessen Rechtssicherheit und wirtschaftliches Wachstum neue Entfaltungsmöglichkeiten eröffneten. Politisch favorisierte man die Liberalen, deren Verteidigung der Grundrechte und bürgerliches Leistungsethos besonders attraktiv erschienen. Und selbst als der kurze Sommer liberaler Reformpolitik durch Bismarcks konservativen Schwenk 1878/79 beendet wurde, änderte sich wenig an der politischen Ausrichtung des deutschen Judentums.^ Rein quantitativ betrachtet und insbesondere im Vergleich mit den Katholiken, bildeten die Juden eine kleine Minderheit. Im Jahre 1905 lebten etwa 600.000 Juden im Kaiserreich, davon gut zwei Drittel in Preußen. Dies war nicht einmal ein Prozent der Gesamtbevölkerung, während der Vgl. Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage" der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfiirt am Main 1987. Zur Begriffsgeschichte: Jacob Katz, „The Term .Jewish Emancipation'. Its Origin and Historical Impact", in: Oers., Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften, Darmstadt 1982, S. 99-123. Vgl. Jacob Toury, Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar, Tübingen 1966, S. 122-153, der herausarbeitet, daß die überwältigende Mehrheit der Juden im Reichsgründungsjahrzehnt für die Nationalliberalen optierte; in wilhelminischer Zeit konnte der Linksliberalismus einen Großteil der jüdischen Wählerstimmen auf sich vereinen. Sachlich und kenntnisreich zur oft verklärten jüdisch-liberalen „Weggemeinschaft": Peter Pulzer, Jews and the German State. The Political History of a Minority, 1848-1933, Oxford u. Cambridge, Mass. 1992, S. 123-147.

24

Die deutsch-jüdische Kultur vor 1914

katholische Anteil bei etwa 37 Prozent lag. Das jüdische Bevölkerungswachstum zwischen 1871 und 1910 betrug zwar etwa zwanzig Prozent, doch war dies angesichts der rascheren demographischen Entwicklung anderer Gruppen vergleichsweise gering. Auswanderung, Taufen und Mischehen sowie der Trend zur Zwei-Kind-Familie im jüdischen Bürgertum machten sich hier geltend.^ Der Bevölkerungsrückgang wäre ohne die ostjüdische Einwanderung noch viel deutlicher ausgefallen. 1910 lebten 78.000 Ostjuden im Reichsgebiet; vier Jahre später waren es bereits 90.000. Der sinkende jüdische Anteil an der Gesamtbevölkerung löste vielfältige Ängste aus und war ein Dauerthema innerjüdischer Diskussionen. Neomalthusianische Argumente und kulturpessimistische Topoi verbanden sich zu einer eigentümlichen Melange, die wortgewaltige Publizisten den „Untergang der deutschen Juden" an die Wand malen ließ." An der Bewertung des Assimilationsprozesses schieden sich die Geister, weil die weitgehende Anpassung an die Bevölkerungsmehrheit die Gefahr des Identitätsverlusts in sich barg. In der emotional aufgeladenen Diskussion der Jahrhundertwende, die um die - soziologisch abwegige Vorstellung einer „völligen Verschmelzung" kreiste, erhielt der Begriff „Assimilation" negative Konnotate. Aus heutiger Perspektive ist er analytisch problematisch, weil er nicht in der Lage ist, Wechselwirkungen präzis zu beschreiben und überdies sowohl auf den historischen Prozeß als auch auf sein Ergebnis bezogen werden kann.^ Im Zusammenhang mit

Zum jüdischen Bevölkerungsanteil im Deutschen Reich: Usiel 0 . Schmelz, „Die demographische Entwicklung der Juden in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933", in: BLBI 83 (1989), S. 15-62; Zahlenangaben: Ebd., S. 21. Ferner aufschlußreich: Monika Richarz, „Die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung", in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, hg. im Auftrag des Leo-Baeck-Instituts v. Michael A. Meyer unter Mitw. v. Michael Brenner, Bd. 3: Umstrittene Integration 1871-1918, v. Steven M. Lowenstein u.a., München 1997, S. 13-38, deren sozialstatistische Daten sich auch auf Österreich erstrecken, wie generell der Vorteil des Handbuchs darin besteht, daß die Geschichte der deutschen Juden im zentraleuropäischen Kontext behandelt wird. So etwa Felix Theilhabers gleichnamige Schrift, die 1911 in München erschien. Differenziert zur jüdischen Einwanderung aus Osteuropa: Jack Wertheimer, Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, N e w York u. Oxford 1987, S. 7 7 - 8 8 u. 2 2 2 - 2 2 9 , sowie der statistische Anhang ebd., S. 184-201; einen problemorientierten Überblick gibt: Shulamit Volkov, „Die Dynamik der Dissimilation: Deutsche Juden und die ostjüdischen Einwanderer", in: Dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, S. 166-180 u. 230-233. Zur Kritik am Assimilationsbegriff: Marion A. Kaplan, Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich, Hamburg 1997, S. 26 f , und Shulamit Volkov, „Jüdische Assimilation und Eigenart im Kaiserreich", in: Dies., Jü-

Erfolgreiche Akkulturation und ihre Grenzen

25

einer Geschichte der jüdischen Intelieictuelien bietet es sich deshalb an, den Terminus „Akkulturation" zu verwenden, der normativ weniger „aufgeladen" ist und zudem eine Vielzahl unterschiedlicher Wertvorstellungen und Verhaltensweisen zu umfassen vermag. Ungeachtet des Anpassungsdrucks blieb es für viele Angehörige des jüdischen Bürgertums plausibel, mit einer Gesellschaft zufrieden zu sein, die sich im europäischen Vergleich keineswegs rückständig oder extrem diskriminierend ausnahm. Immer wieder wurde betont, wie vorteilhaft es sei, in einem Rechtsstaat zu leben und nicht im Frankreich Dreyfus' oder gar unter der „Knute des Zaren". Gewiß sind diese Äußerungen nicht in jedem Fall wörtlich - gleichsam eins zu eins - interpretierbar. So selbstverständlich es war, sich gleichermaßen als Deutscher und Jude zu empfinden, wußte man doch um den prekären Charakter dieser Doppelidentität und mied es, den zweiten Teil in den Vordergrund zu spielen. „Jude" war man in erster Linie als Privatperson, während man im öffentlichen Leben die eigene ethnische und religiöse Identität nicht allzu häufig oder gar emphatisch betonte. Wenn das jüdische Bildungsbürgertum das Kaiserreich primär als Kultumation beurteilte, so war dies jedoch nicht nur Ausdruck einer schönfärberischen Sicht der Wirklichkeit, die aus der fragilen politischen wie gesellschaftlichen Situation einer kleinen Minderheit resultierte und potentielle Angriffe unterlaufen sollte. Es zeigte auch das Ausmaß realer Zufriedenheit innerhalb des Judentums, das in wenigen Jahrzehnten derart in die Gesamtgesellschaft hineingewachsen war, daß der Ausdruck „deutschjüdisch" mit großer Selbstverständlichkeit gebraucht werden konnte.^ Hinzu kamen die ökonomischen Erfolge, die Juden in verschiedenen Bereichen errungen hatten. Vor allem das städtische Judentum partizipierte am wirtschaftlichen Aufschwung. Ihm sind jene Familien zuzurechnen, die zeitgenössisch bereits im Licht der Öffentlichkeit standen und bis heute erhebliche Aufmerksamkeit beanspruchen: die Wirtschaftsmagnaten Ballin und Rathenau, die Bankiers Mendelssohn, Rothschild und Warburg oder die Pressefürsten Mosse, Sonnemann und Ullstein.^ Von den 502 Geschäftsleuten, disches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, S. 130-145 u. 2 2 1 - 2 2 5 , hier S. 132 f. Vgl. Reinhard Rürup, „An Appraisal of German-Jewish Historiography. Introduction to Year Book 35", in: LBIYB 35 (1990), S. X V - X X I V , hier S. XXIII f. Die aufwendige und quellenkritisch schwierige deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte ist immer noch ein weithin vernachlässigtes Gebiet; zudem dominiert beinahe notwendig der lokalhistorische Zugriff. Anregend: Belier, Wien\ eine exemplarische Fallstudie bietet: Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000. Aus der rasch wachsenden Literatur zum deutsch-jüdischen Bürgertum seien lediglich zwei einschlägige Monographien genannt: Andrea Hopp, Jüdisches Bürgertum in Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1997, und Elisa-

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Die deutsch-jüdische Kultur vor 1914

die das „Jahrbuch der Millionäre" zwischen 1910 und 1912 anführt, war rund ein Viertel jüdischer Herkunft. Nicht weniger als 29 Juden zählten im Jahre 1910 zu den einhundert reichsten Männern Preußens. Im letzten Jahrfünft vor Ausbruch des Weltkrieges trugen die Berliner Juden, die vier Prozent der Bevölkerung stellten, mehr als ein Drittel der städtischen Steuerlast.^ Freilich sollte man sich vor unzulässigen Verallgemeinerungen hüten. Neben den wohlhabenden jüdischen Familien existierten viele Haushalte, in deren Mittelpunkt die Sorge um die eigene Existenz stand. Auch das Landjudentum in Hessen oder Südwestdeutschland galt keineswegs als Inbegriff finanzieller Sekurität oder rasanter Modernisierung.' Doch all dies ändert wenig an der normativen Ausrichtung der jüdischen Bevölkerung an bürgerlichen Wertvorstellungen. Eine gute Schulbildung zählte im Kaiserreich zu den unerläßlichen Voraussetzungen gesellschaftlichen Aufstiegs. Als die Einführung der „Simultanschulen" eine Zurückdrängung des konfessionellen Faktors im Unterrichtswesen versprach, wurden viele jüdische Schulen gegen den entschiedenen Protest der Lehrerschaft aufgelöst. Die Eltern hielten es für aussichtsreicher, ihre Kinder aufs Gymnasium zu schicken, und scheuten die damit verbundenen finanziellen Belastungen nicht. Schon 1867 betrug der Anteil jüdischer Schüler auf Berliner Oberschulen 14,8 Prozent, und er wuchs kontinuierlich bis auf etwa 25 Prozent am Vorabend des Ersten Weltkrieges.'" Für die Universitätswelt lassen sich vergleichbare Entwicklungen konstatieren. Nahezu ein Zehntel der deutschen und ausländischen Studenten in Preußen waren zu Beginn dieses Jahrhunderts Juden. Da Positionen in Justizdienst und Verwaltung jüdischen Akademikern weitgehend verschlossen blieben, drängten sie in die „freien Berufe", wo sie als Anwälte, Ärzte und Journalisten ungewöhnlich erfolgreich war e n . " Auch in Handel und Gewerbe waren Juden fraglos überrepräsen-

beth Kraus, Die Familie Jahrhundert,

Masse.

Deutsch-jüdisches

Zahlen nach: Dolores Augustine, Patricians Society

Bürgertum

im 19. und 20.

München 1999.

in Wilhelmine

Nipperdey, Deutsche

Germany, Geschichte

and Parvenues.

Wealth and

1866-1918,

Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist,

München 1990, S. 399, und Werner E. Mosse, Jews in the German Economy. German-Jewish

Economic

Elite 1820-1935,

Berufe und Einkommen

The

Oxford 1987, S. 13.

Hierzu detailliert: Avraham Barkai, Jüdische Demographie,

High

Oxford u. Providence 1994, S. 2 8 - 3 5 ; Thomas

Minderheit

und

Industrialisierung.

der Juden in Westdeutschland,

Tübingen

1988, S. 1 3 6 - 1 6 5 . Eine umfassende Untersuchung zum Niedergang des jüdischen fehlt. Für Bayern: Claudia Prestel, Jüdisches Bayern

1804-1933.

Tradition

Schul-

und Modernisierung

Schulwesens

und Erziehungswesen

im Zeitalter

der

in

Emanzipati-

on, Göttingen 1989. - Allgemein zur Überrepräsentation der Juden an weiterführenden Schulen: Nipperdey, Geschichte,

Bd. 1, S. 400.

Der jüdische Erfolg in den „freien Berufen" bietet noch ein weites Untersuchungsfeld. Zur Justiz nun einschlägig: Barbara Strenge, Juden im

preußischen

Erfolgreiche Akkulturation und ihre Grenzen

27

tiert. Gleichwohl verdient festgehalten zu werden, daß die oft betonte „Modemitätsnähe" der jüdischen Minderheit nicht zuletzt aus den sozialen Restriktionen der Mehrheitskultur erwuchs. Ähnliches gilt für das jüdische Familienleben, das in vielem durchaus moderne Strukturen aufwies. Die geringe Kinderzahl war ein Ergebnis des hohen Heiratsalters und zweckrationaler Familienplanung, die niedrige Kindersterblichkeit eine Folge sorgfältiger Hygiene und steigenden Wohlstands. Zu den obersten Zielen der jüdischen Kieinfamilie zählte der gesellschaftliche Erfolg des Mannes, der in den „heimischen vier Wänden" ein Refugium und eine Kraftquelle für das anstrengende Berufsleben finden sollte. Der überwiegende Teil der häuslichen Pflichten lastete somit auf den Schultern der Frauen, die zudem weitgehend für die Wahrung jüdischer Traditionen sorgten. Ihnen oblag die Pflege nachbarschaftlicher und familiärer Kontakte ebenso wie die Vorbereitung des Sabbats und die Führung eines rituellen Haushaltes. Ihre Stellung zur jüdischen Akkulturation wurde durch eine hochgradige Ambivalenz geprägt: sie schufen die Bedingungen für die berufliche Integration des Mannes in die christliche Mehrheitsgesellschaft und sorgten zugleich für familiäre Strukturen, die das Judentum im Innersten zusammenhielten.'^ Die Rahmenbedingungen für die Entfaltung der jüdischen Minderheit steckte das Deutsche Kaiserreich, dessen Entwicklungsdynamik und kulturelle Vielfalt lange Zeit unterschätzt wurden. Doch sollten auch die „pluralistischen Dissense" nicht überbetont werden.'^ Trotz eines reichen kulturellen Lebens war das Kaiserreich in vielerlei Hinsicht eine rigide Gesellschaft, in der konservative Homogenitätsvorstellungen dominierten. Die herrschenden Schichten definierten „Nation", „Staat" oder „Bildung" für gewöhnlich in preußisch-protestantischem Geist, ohne über abweichende Deutungen auch nur nachzudenken. Überdies verloren die konfessioneilen Zerklüftungen der „Kulturkampf-Ära" nur sehr langsam an Bedeutung.'"* Alle Minderheiten standen unter einem beträchtlichen Justizdienst 1812-1918. Der Zugang zu den juristischen Berufen als Indikator der gesellschaftlichen Emanzipation, München usw. 1996. - Facettenreich zur Situation jüdischer Studenten: Norbert Kampe, „Jews and Antisemites at Universities in Imperial Germany (I): Jewish Students. Social History and Social Conflict", in: LBIYB 30 (1985), S. 3 5 7 - 3 9 4 , hier S. 389 f. Dies verdeutlicht: Kaplan, Bürgertum. Eher skeptisch hinsichtlich der traditionsbewahrenden Funktion der jüdischen Frau: Miriam Gebhardt, Das Familiengedächtnis. Erinnerung im deutsch-jüdischen Bürgertum 1890 bis 1932, Stuttgart 1999, deren Ausführungen allerdings auch die verhaltensprägende Macht der Geschiechterrollen illustrieren. Nipperdey, Geschichte, Bd. 1, S. 824. Zur lebensweltlichen Bedeutung der Religion in wilhelminischer Zeit: Ebd., S. 428-530, und passim. Einen Überblick über die facettenreiche jüngere Forschung bietet: Olaf Blaschke u. Frank-Michael Kuhlemann (Hgg.), Religion im Kaiserreich. Milieus - Mentalitäten - Krisen, Gütersloh 1996; zur anhaltenden

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Die deutsch-jüdische Kultur vor 1914

Konformitätsdruck, der immer wieder konfiiktträciitige Situationen heraufbeschwor. Die spezifische Problemiage der Juden resultierte einerseits aus dem hohen Grad der eigenen Akkulturation und andererseits aus der Vielfalt und Intensität antisemitischer Vorurteile. Der Antisemitismus stellte eine kulturelle und soziale Realität dar, mit der auch etablierte jüdische Kreise leben mußten. Als politische Kraft hatte er bereits im Reichsgründungsjahrzehnt erheblich an Bedeutung gewonnen. So nahm der protestantische Hofprediger Adolf Stoecker seit 1878 die ungelöste „soziale Frage" zum Anlaß heftiger judenfeindlicher Polemiken.'^ Nicht unterschätzt werden sollte auch die Signalwirkung des „Berliner Antisemitismusstreits", der reichsweites Interesse auf sich zog. In ihm bewies Bismarcks publizistischer Sekundant, der angesehene Historiker Heinrich von Treitschke, beträchtliches Geschick als judenfeindlicher Agitator. Seine nationalistische Rhetorik richtete sich nur scheinbar gegen die ostjüdische Einwanderung, tatsächlich machte sie antisemitische Vorurteile im christlichen Bildungsbürgertum und insbesondere in der Studentenschaft gesellschaftsfähig.'^ Das radikalisierte Meinungsklima zeigte sich 1880 in der „Antisemitenpetition", als etwa 225.000 Unterzeichner eine Sondergesetzgebung für Juden forderten. Auch im Katholizismus hatte antisemitisches Gedankengut Konjunktur, wie die Auflagenhöhe und Verbreitung von August Rohlings Hetzschriften zeigt. Die Ritualmordhysterie ließ in Xanten am Niederrhein und im westpreußischen Könitz längst überwunden geglaubte Ängste Wiederaufleben.'^ Demagogen, wie der „hessische Bauernkönig"

Wirkung des Kulturkampfs: Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus in Deutschland, Tübingen 1994, bes. S. 3 0 3 - 3 1 3 . Maßgeblich zu Stoecker: Günther Brakelmann, Martin Greschat u. Werner Jochmann, Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers, Hamburg 1982. Komprimierte Überblicke bieten: Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988, S. 85-110, und Peter Pulzer, The Riss of Political Anti-Semitism in Germany and Austria, 2. Aufl. London 1988, S. 8 3 - 9 7 . Zum Forschungsstand vgl. Till van Rahden, „Ideologie und Gewalt, Neuerscheinungen über den Antisemitismus in der deutschen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts", in: NPL 41 (1996), S. 11-29. Die politische Dimension der Auseinandersetzungen betonen: Michael A. Meyer, „Great Debate on Antisemitism. Jewish Reaction to New Hostility in Germany 1879-1881", in: LBIYB 11 (1966), S. 137-170, und Ulrich Sieg, „Bekenntnis zu nationalen und universalen Werten. Jüdische Philosophen im Deutschen Kaiserreich", in: HZ 263 (1996), S. 6 0 9 - 6 3 9 , hier S. 611-621. Als Textsammlung hilfreich, aber keineswegs erschöpfend: Walter Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt am Main 1988. Vgl. als instruktive Fallstudie Christoph Nonn, „Zwischenfall in Könitz. Antisemitismus und Nationalismus im preußischen Osten um 1900", in: HZ 266 (1998), S. 3 8 7 ^ 1 8 , sowie zur fragwürdigen Haltung der katholischen Kirche:

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Otto Bockel oder der gerichtsnotorische Pamphletist Hermann Ahlwardt in Nordostdeutschland, nutzten die Probleme von Landbevölkerung und Mittelschichten, um ihrer antisemitischen Agenda eine breitere Anhängerschar und sich selbst beträchtliche Wahlerfolge zu verschaffen. 1893 war der Höhepunkt erreicht, als nicht weniger als 16 antisemitische Abgeordnete in den Reichstag einzogen. Allein einen dauerhaften Massenanhang gewann der politische Antisemitismus nicht. Die antisemitischen Parteien brachten kein einziges Gesetz durch den Reichstag und scheiterten kläglich bei der Umsetzung ihrer wirtschaftlichen Programme. Als zudem das Ansehen ihrer „Spitzenpolitiker" durch Korruptionsskandale erschüttert wurde, quittierte dies der Wähler auf dem Stimmzettel.'® In der Folgezeit verlagerte sich die antisemitische Agitation auf Vereine und Verbände, wie den „Bund der Landwirte" oder den „Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband". Jüdischerseits war dies ein großes Ärgernis, ließ es doch auf die verbreitete gesellschaftliche Akzeptanz des Antisemitismus schließen. Als politische Kraft, von der eine unmittelbare Bedrohung jüdischer Existenz ausging, betrachteten ihn freilich nur w e n i g e . " Soziale Exklusionsmechanismen hatten für das deutsche Judentum meist größere Bedeutung als die antisemitischen Ressentiments der Bevölkerung, die man als Relikte der Vergangenheit ansehen und mit rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen konnte. Mit Ausnahme der bayerischen Armee war es für Juden faktisch unmöglich, ein Offizierspatent zu erwerben. Bei der Ernennung zum Reserveoffizier - in mancher Hinsicht das Entree zu den besseren Kreisen - galten ähnliche Restriktionen. Zwar leisteten zwischen 1885 und 1910 zwanzig- bis dreißigtausend Juden

Olaf Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997, S. 74, 125 f , und passim. Generell zu den „langen Linien" christlicher Judenfeindschaft: Robert K. Wistrich, The Langest Hatred, N e w York 1994. Den Niedergang des politischen Antisemitismus, um den eine allzu sehr auf Kontinuitätslinien bedachte Historiographie gern einen Bogen macht, beschreibt anschaulich: Richard S. Levy, The Downfall of the Anti-Semitic Political Parties in Imperial Germany, N e w Häven u. London 1975. Zum wirtschaftlichen Fiasko der Böckel-Bewegung vgl. David Peal, Anti-Semitism and Rural Transformation in Kurhessen: The Rise and the Fall of the Bockel Movement, phil. Diss., N e w York 1985. Die gesellschaftliche Prägekraft und subkutane Wirkung des Antisemitismus unterstreicht zu Recht: Shulamit Volkov, „Antisemitismus als kultureller Code", in: Dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, S. 13-36 u. 197-202. Gleichwohl sollte der Zeichencharakter des Antisemitismus für die politisch vielfach zerklüftete Rechte nicht überschätzt werden. Der kleinste gemeinsame Nenner lag vielleicht in der Ablehnung des Linksliberalismus, dessen Anhänger sich wiederum an ihrem „Anti-Antisemitismus" erkannten.

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ihren Dienst als „Einjährig-Freiwillige", doch verhinderte das preußische Offizierskorps, daß auch nur ein einziger jüdischer Bewerber den begehrten Rang erreichte.^" Mehrfach kam es im Reichstag zu erregten Debatten über diese diskriminierende Praxis, die der formellen Rechtsgleichheit des Judentums Hohn sprach. D o c h letztlich verliefen alle Proteste im Sande, weil das preußische Kriegsministerium dem Offizierskorps die Kooptationsfreiheit nicht beschneiden wollte.^' Ä h n l i c h e Ausgrenzungsmuster betrafen den Staatsdienst generell: man bevorzugte christliche Bewerber und beförderte jüdische Beamte ausgesprochen langsam. In den Regierungsspitzen der Länder oder beim A u s wärtigen A m t sorgte eine „unsichtbare Schranke" für die vollständige A b w e s e n h e i t von Juden.^^ Selbst in der scheinbar offenen Universitätslaufbahn erreichten nur w e n i g e jüdische Wissenschaftler das „Endziel" der Karriereleiter: die ordentliche Professur. Im Wintersemester 1909/10 waren es gerade einmal 25 nicht konvertierte Juden, die einen Lehrstuhl bekleideten. In der akademischen Welt existierte ein „struktureller Taufdruck", der viele jüdische Akademiker zum Konfessionswechsel b e w o g . Spätestens seit ihren Privatdozententagen wußten sie, w i e sehr man an den deutschen Universitäten auf soziale und konfessionelle Homogenität bedacht war.^^

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Werner T. Angress, „Prussia's Army and the Jewish Reserve Officer Controversy before World War 1", in: LBIYB 17 (1972), S. 19-42, hier S. 32 f. Vgl. ebd., S. 2 9 ^ 0 . Dokumente zu den Debatten zwischen 1904 und 1913 finden sich: HStA Stuttgart M 1/3, Bü 675. Der Skandal wurde durch die Tatsache noch sichtbarer, daß in der österreichisch-ungarischen Armee derlei Restriktionen nicht bestanden. Im Jahre 1897 besaß sie nicht weniger als 1.993 jüdische Reserveoffiziere, das entsprach exakt 18,7 Prozent des gesamten Reserveoffizierskorps; Istvan Deak, Jewish Soldiers in Austro-Hungarian Society, New York 1990, S. 17. So Berding, Antisemitismus, S. 152, dessen kluger Ausdruck gleichermaßen die Härte der Exklusionsmuster wie deren nicht justitiablen Charakter verdeutlicht. Ausfuhrlich zu diesem Thema: Ernest Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848-1918, Tübingen 1968. Juden gaben sich hinsichtlich der tJberwindbarkeit dieser Schranke nur selten Illusionen hin. Martin May ging in seinen romanhaften Erinnerungen „The First ,Blitz"' sogar so weit, von „unsichtbaren Ghettos" zu sprechen (LBI New York ME 427, S. 42). Vgl. Norbert Kampe, „Jüdische Professoren im Deutschen Kaiserreich. Zu einer vergessenen Enquete von Bernhard Breslauer", in: Rainer Erb u. Michael Schmidt (Hgg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Mit Beiträgen v. Volker Berbüsse u.a., Berlin 1987, S. 185211, und Ulrich Sieg, „Der Preis des Bildungsstrebens. Jüdische Geisteswissenschaftler im Kaiserreich", in: Andreas Gotzmann, Rainer Liedtke u. Till van Rahden (Hgg.), Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933, Tübingen 2001, S. 67-95.

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All dies war Gegenstand andauernder Unzufriedenheit und gezielter Interessenpolitik. So konzentrierte sich der 1893 gegründete „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (CV) nicht allein auf die Abwehr antisemitischer Umtriebe, sondern tat auch sein möglichstes, um staatliche Barrieren gegen die jüdische Integration abzubauen. Nicht zufällig gaben Juristen oder Politiker in ihm den Ton an, während Rabbiner eine vergleichsweise nachgeordnete Rolle spielten.^'* Ähnliche politische Ziele verfolgte seit 1891 der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus" (VAA), dessen führende Vertreter dem Linksliberalismus nahestanden. Dies trifft etwa für den Reichstagsabgeordneten Georg Gothein zu, der 1909 den Vorsitz übernahm und sich im Parlament gegen die ungerechtfertigte Benachteiligung der jüdischen Minderheit wandte. Auch wenn die Leitung des VAA stets christlich blieb, fanden viele Juden dort ein politisches Betätigungsfeld und ein offenes Ohr für ihre Probleme.^' Immer wieder betonten sie die kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen des Judentums für die deutsche Nation. Binnen weniger Jahrzehnte wurde der Stolz auf das Erreichte zum integralen Bestandteil jüdischen Selbstverständnisses. Nachdrücklich stellte man den jüdischen Beitrag zum deutschen Kulturleben heraus. Zu den Erfolgsgestalten gehörten der Maler Max Liebermann und der Schriftsteller Georg Hermann. Beide bekundeten wenig Neigung zu stürmischen Neuerungen, und so fraglos sie sich für jüdische Themen interessierten, bestimmte dies ihr Schaffen doch nicht entscheidend. Der harmlose Familienroman Jettchen Gebert kam dem Zeitgeschmack sogar so weit entgegen, daß er mit den Buddenbrooks verglichen wurde und alsbald zum Lektürekanon jüdischer Mädchen gehörte.^^ Im

Dies betont: Michael Brenner, Kultur, S. 29 f. - Trotz seiner Massenbasis gehört der CV, der 1909 vierzigtausend Mitglieder zählte, bislang eher zu den Stiefkindern der Forschung, Sein apologetisches, aber keineswegs passives Politikverständnis erörtert: Arnold Paucker, „Zur Problematik einer jüdischen Abwehrstrategie in der deutschen Gesellschaft", in: Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914, hg. V. Werner E. Mosse unter Mitw. v. Arnold Paucker, Tübingen 1976, S. 4 7 9 - 5 4 8 . Zum Abwehrverein vgl. Barbara Suchy, „The Verein zur Abwehr des Antisemitismus (I): From its Beginnings to the First World War", in: LBIYB 28 (1983), S. 2 0 5 - 2 3 9 , sowie Peter Pulzer, „Die Reaktion auf den Antisemitismus", in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, hg. im Auftrag des Leo-BaeckInstituts v. Michael A. Meyer unter Mitw. v. Michael Brenner, Bd. 3: Umstrittene Integration 1871-1918, v. Steven M. Lowenstein u.a., München 1997, S. 2 4 9 277, hier S. 2 5 0 - 2 5 3 , der allerdings, ebd. S. 252, auch darauf hinweist, daß Gothein über seinen Jüdischen Vater „lieber Stillschweigen bewahrte". Vgl. Peter Gay, „Begegnung mit der Moderne. Die deutschen Juden in der Wilhelminischen Kultur", in: Ders., Freud, Juden und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen Kultur, München 1989, S. 115-188, hier S. 122 f u. 152 f., sowie George Mosse, Intellektuelle, S. 109.

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Wissenschaftsbetrieb zählten hingegen jüdische Gelehrte häufig zu den Neuerern. Dies gilt insbesondere für expandierende Fächer wie Medizin, Chemie, Physik und Psychologie, in denen sich für begabte Wissenschaftler manche - auch außeruniversitäre - Nische fand. So nahmen im Zentrum naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung, der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Gelehrte jüdischer Herkunft eine herausragende Rolle ein. Doch läßt sich die hohe Zahl bedeutender jüdischer Forscher nicht allein aus den Spezifika der preußischen Wissenschaftsorganisation herleiten." So wenig es mit Sicherheit einen einheitlichen jüdischen oder deutsch-jüdischen „Denkstil" gab, so lohnend dürfte es sein, über die kulturellen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Erfolges nachzudenken. Eine große, wenn auch ausgesprochen schwierig zu bestimmende Rolle scheint der familiären Erziehung im jüdischen Bürgertum zuzufallen, die „Bildung" und „Erkenntnisstreben" beinahe Letztwertcharakter verlieh.^® So unstrittig der Schlüsselcharakter des Bildungsgedankens für das bürgeriiche Selbstverständnis ist, so umstritten dürfte sein, ob und in welcher Form sich das deutsche Bildungsbürgertum als eigenständige soziale Formation beschreiben läßt. Für manche scheint hier gar das „Herz" des deutschen Sonderwegs verborgen; so spricht Hans-Ulrich Wehler in pointierter Zuspitzung von einem „Unikat unter den westlichen Modernisierungseliten".^' In europäisch vergleichender Perspektive verliert sich freilich viel von dieser Einzigartigkeit. So sind die Unterschiede zwischen dem französischen und dem deutschen Bildungsbürgertum bei weitem nicht so groß, wie lange Zeit angenommen. Betrachtet man etwa ausschließlich das höhere Schulwesen, so ergeben sich bemerkenswerte Ähnlichkeiten in der sozialen Zusammensetzung.^" Unterschiedlich war

Dies versuchte Volkov, „Ursachen", die inzwischen selbst ihren Ansatz kritisiert hat; vgl. Dies., „Juden als wissenschaftliche „Mandarine" im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Neue Überlegungen zu sozialen Ursachen des Erfolgs jüdischer Naturwissenschaftler", in: AfS 37 (1997), S. 1-18. Zur jüdischen Mitwirkung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft: Fritz Stern, „Freunde im Widerspruch. Haber und Einstein", in: Ders., Verspielte Größe. Essays zur deutschen Geschichte, München 1996, S. 2 1 4 - 2 8 1 u. 3 0 8 - 3 1 5 .

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Vgl. George Mosse, Intellektuelle, bes. S. 19-44. Als wissenschaftshistorische Fallstudie aufschlußreich: Mitchell G. Ash, Gestalt psychology in German culture, 1890-1967. Holism and the quest for objectivity, Cambridge 1995. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995, S. 1270. Vgl. Charle, Vordenker, S. 104-109. Zum Terminus extrem skeptisch: Ulrich Engelhardt, „Bildungsbürgertum". Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart 1986. Gelassener: Gangolf Hübinger, „Politische Werte und Gesellschaftsbilder des Bildungsbürgertums", in: NPL 32 (1987), S. 189-210. Jüngster Forschungsüberblick: Hellmut Seier, „Liberalismus und Bürgertum in

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im ausgehenden 19. Jahrhundert die Haltung des Staates zu der wachsenden Zahl von Hochschulabsolventen. Nahmen in Frankreich oder auch in England die Staatsstellen zu, erhöhte sich in Deutschland die Zahl der Akademiker, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ihr Auskommen suchen mußten. Doch änderten die „Überfallungskrise" an der Universität und die Angst vor dem „akademischen Proletariat" wenig am prinzipiellen Respekt, den das Bürgertum den staatlichen Bildungseinrichtungen entgegenbrachte.^' Wie hoch das „symbolische Kapital" (Bourdieu) war, das sich mit der Aneignung von Bildung im Kaiserreich erzielen ließ, verdeutlicht das Verhalten führender Bankiers.^^ Die großen jüdischen Privatbanken stellten sich zum einen in die Tradition uneigennützigen Mäzenatentums, zum anderen trug ihr Umgang mit Kunst nicht unerheblich legitimatorische Züge. Durch die Übernahme des Wertekanons der Bildungselite hoffte man sich vor dem Vorwurf ungerechtfertigter Bereicherung und parvenuhafter Gesinnung zu schlitzen. Dies begünstigte ein klassisches Kunstverständnis und förderte konventionelle Sammlertätigkeit. Direktes Engagement für jüdische Künstler, wie die Unterstützung Max Liebermanns und der „Berliner Sezession" durch Julius Stern, bildeten hingegen die Ausnahme. Bildung kam die Aufgabe zu, nationale, religiöse und wirtschaftliche Schranken zu transzendieren, und bot den Angehörigen einer Minderheit individuelle Aufstiegsmöglichkeiten. Das Wertgefüge der christlichen Mehrheitskultur behielt freilich normativen Charakter. Nicht zufällig verwendeten die meisten jüdischen Intellektuellen als Mitteilungsmedium die deutsche Sprache, die sie virtuos zu handhaben wußten. Ihre private Lektüre stand im Bannkreis von Aufklärung und Klassik: Zu den bevorzugten Autoren gehörte neben Lessing, Kant und Schiller natürlich Goethe, der in zahlreichen Biographien als „ideale[r] Bildungsbürger" verherrlicht wurde.^^

Mitteleuropa 1850-1880. Forschung und Literatur seit 1970", in: Lothar Gall (Hg.), Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert, München 1997, S. 131-229, hierS. 195-208. Für die sozialstatistischen Zusammenhänge grundlegend: Hartmut Titze, Der Akademikerzyklus. Historische Untersuchungen über die Wiederkehr von Überfüllung und Mangel in akademischen Karrieren, Göttingen 1990. Als Fallstudie zum bildungsbürgerlichen Selbstverständnis: Lenger, Sombart. Zum Folgenden vgl. Morien Reitmayer, „Bankiers als Biidungsbürger. Sozialprofil und kulturelle Praxis der Großbankiers im Kaiserreich", in: Werkstatt Geschichte 14 (1996), S. 3 9 - 5 4 , sowie umfassend Ders., Bankiers im Kaiserreich. Sozialproßl und Habitus der deutschen Hochfinanz, Göttingen 1999. Vgl. George Mosse, Intellektuelle, S. 76 ff., hier S. 76. Die jüdischen „Tradition" verklärter Goethe-Bilder betrachtet: Wilfried Barner, Von Rahel Varnhagen bis Friedrich Gundolf. Juden als deutsche Goethe-Verehrer, Göttingen 1992.

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In mancher Hinsicht fiel die Annäherung an die bürgerlich-protestantische Wertewelt leicht. Schon die Mitglieder des 1819 gegründeten „Verein[s] für Cultur und Wissenschaft der Juden" beseelte eben jener Glaube an die geschichtliche Wirkmächtigkeit von Ideen, der für das Humboldtsche Weltbild konstitutiv war. Generell zielte die im Reformjudentum angestrebte kulturelle Erneuerung der eigenen Religion auf die Akzeptanz der christlichen Umgebung. Dies gilt etwa für das Konzept eines religiösen Fortschritts in der Geschichte, das Mendelssohn noch gänzlich fremd gewesen war.^"* Beinahe von selbst verstand es sich, daß an den beiden angesehensten Bildungseinrichtungen, dem Breslauer „Jüdisch-Theologischen Seminar" und der Berliner „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums", die historisch-kritische Fundierung jüdischer Religion im Mittelpunkt von Forschung und Lehre stand. Lediglich in der Orthodoxie sperrte man sich in manchem gegen den Lauf der Zeit und hielt an der rabbinischen Autorität und der Wichtigkeit der Ritualvorschriften fest. Doch auch hier debattierten junge Intellektuelle darüber, wie sich eine gegenwartsnahe Erneuerung des Judentums erreichen ließe.^' Erst recht läßt sich dies über die Vertreter der Neoorthodoxie sagen. Für Esriel Hildesheimer, den entschiedenen Protagonisten der „Kulturorthodoxie", verband sich die angestrebte Modernisierung des Judentums gleichsam natürlich mit dem Wunsch nach bürgerlicher Respektabilität. Das von ihm ins Leben gerufene Berliner Rabbinerseminar gewann rasch eine Schlüsselposition, was sich daran ersehen läßt, daß seine Absolventen alle frei werdenden orthodoxen Rabbinerstellen besetzen konnten. Innerhalb der jüdischen Gemeinden blieb jedoch die Reformbewegung vorherrschend, die im Kaiserreich nahezu achtzig Prozent der Gemeindevorstände stellte.^' Diese hatten nicht nur mit den allgemeinen Folgen der Säkularisierung zu kämpfen, sondern mußten auch den ausgeprägten Akkulturationswillen der jüdischen Minderheit in Rechnung stellen. In Kleidung und Eßgewohnheiten, ja selbst in den Festbräuchen hatte sich das liberale Judentum stark an christliche Gewohnheiten angepaßt. Statt koscherer Küche kamen in südwestdeutschen Gemeinden Spätzle auf den Mittagstisch, und selbst ein jüdischer Weihnachtsbaum zählte

Hierzu monographisch: Michael A. Meyer, Response to Modernity. A History of Reform Movement in Judaism, New York u. Oxford 1988. Generell zur Wissenschaftsorientierung der entstehenden Judaistik: Julius Carlebach (Hg.), Wissenschaft des Judentums. Anfänge der Judaistik in Europa, Darmstadt 1992, sowie Michael Brenner u. Stefan Rohrbacher (Hgg.), Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust, Göttingen 2000. Vgl. Mordechai Breuer, Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871-1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit, Frankfurt am Main 1986. Meyer, Response, S. 142; zur Schlüsselstellung des Berliner Rabbinerseminars vgl. Maurer, Entwicklung, S. 2 L

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nicht zu den Seltenheiten. Man betrachtete die Orgel in der reformierten Synagoge ebenso als Selbstverständlichkeit wie das Kaiserbild in der „guten Stube". Selbst die Kindererziehung oblag zu nicht geringen Teilen den christlichen Hausangestellten.^^ Die grundlegenden Probleme jüdischer Identität ließen sich jedoch über Akkulturation allein nicht lösen. Die Crux bestand darin, daß endgültige Assimilation ohne Aufgabe des Gedankens jüdischer Einzigartigkeit nicht vorstellbar war. Im Bereich der „hohen Kultur" trat das Dilemma der deutschen Juden vielleicht besonders deutlich zutage: j e erfolgreicher man protestantische Ideen und Werte adaptiert hatte, um so ungewisser war die Substanz des Judentums geworden. Die zu allen Zeiten schwierige Definition des „Jüdischen" konnte in einer zunehmend säkularen Gesellschaft nur noch bedingt über religiöse Kategorien erfolgen. Im jüdischen Bildungsbürgertum favorisierte man um die Jahrhundertwende ethische Definitionen des Judentums, deren besonderer Vorteil darin lag, daß sie sich relativ einfach in den protestantischen Wertekosmos einfügen ließen. Dies erklärt etwa den Erfolg von Moritz Lazarus' 1899 erschienener Ethik, die bei allem Beharren auf einer eigenständigen Entwicklung des »Jüdischen Geistes" letztlich ein pastellfarbenes Gesamtbild des Judentums entwarf.^^ Freilich heißt dies nicht, daß protestantische Theologen in ihrer Mehrheit die jüdischen Akkulturationsanstrengungen begrüßten oder gar uneingeschränkt positiv beurteilten. In hohem Maße trifft dies auch für die Exponenten des Kulturprotestantismus zu, die auf politischem Feld nicht selten für die Rechte der jüdischen Minderheit eintraten.^^ Es lag in der eigentümlichen Logik kulturprogressistischer Geschichtsbilder, daß selbst ein so aufgeklärter Gelehrter wie Adolf Hamack dem Judentum mit erheblicher Reserve gegenüberstand, j a es letztlich für eine überwundene Periode der religiösen Menschheitsentwicklung hielt. Harnacks - auf ein "

Einen plastischen Zugang zur Alltagswelt des jüdischen Bürgertums eröffiiet: Kaplan, Bürgertum-, konzeptionell wichtig: Shulamit Volkov, „Die Verbürgerlichung der Juden in Deutschland als Paradigma", in: dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, S. 1 1 1 - 1 3 0 u. 2 1 6 - 2 2 1 .

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Moritz Lazarus, Die Ethik des Judentums, Frankfurt am Main 1899. - Eine Arbeit über Lazarus, der auch als Funktionär im liberalen Judentum über beträchtlichen Einfluß verfügte, ist seit langem ein Desiderat. Als Quellensammlung vorzüglich: Ingrid Belke (Hg.), Moritz Lazarus und Heymann Steinthal. Die Begründer der Völkerpsychologie in ihren Briefen, 2 Bde., Tübingen 1971 u. 1983/86. Allgemein zur zentralen Bedeutung der Ethik für jüdische Selbstdefinitionen seit der Aufklärung: Heinz Mosche Graupe, Die Entstehung des modernen Judentums. Geistesgeschichte der deutschen Juden ] 650-1942, Hamburg 1969, S. 2 8 9 - 3 1 9 .

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Hierzu umfassend: Hübinger, Kulturprotestantismus', exemplarisch: Anne Nagel, Martin Rade - Theologe und Politiker des Sozialen Liberalismus. Eine politische Biographie, Gütersloh 1996.

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breites Publikum berechnete - Berliner Vorlesungen über Das Wesen des Christentums im Wintersemester 1899/1900, die alsbald mit ungeheurem Erfolg veröffentlicht wurden, betrachteten das Judentum als national verengte und innerlich erstarrte Religion.'"' Der junge Oppelner Rabbiner Leo Baeck sah sich zu einer scharfen Entgegnung veranlaßt, die nicht nur Harnacks Unkenntnis der jüdischen Tradition, sondern auch seine befangene Interpretationshaltung monierte.'" Der prinzipielle Charakter der Auseinandersetzung zeigt sich in der Tatsache, daß Baeck die Replik zu seinem wissenschaftlichen Hauptwerk umarbeitete. Bereits der Titel der 1905 erschienenen Schrift Das Wesen des Judentums war programmatisch, behauptete er doch die Gleichrangigkeit der jüdischen mit der christlichen Religion. Zugleich verdeutlichte die Titelwahl aber auch, wie groß der Schatten war, den Harnacks Schrift zu Beginn dieses Jahrhunderts warf Im gebildeten deutschen Judentum schaute man nach Möglichkeit darüber hinweg, daß der hohe Akkulturationsgrad keineswegs die Akzeptanz der Bevölkerungsmehrheit erbracht hatte. Gerade aus diesem Grund favorisierte man eine Weltsicht, die Deutschtum und Judentum harmonisch miteinander verband. Zu den tonangebenden Intellektuellen gehörte neben Moritz Lazarus der Marburger Neukantianer Hermann Cohen. Der einzige jüdische Ordinarius für Philosophie im deutschen Kaiserreich fand einen ebenso kühnen wie zustimmungsfähigen intellektuellen Ausweg: Er stellte das Ethos der hebräischen Propheten gleichberechtigt neben Luthers Weltsicht und behandelte Maimonides als den jüdischen Vorläufer Kants. Da Deutschtum und Judentum auf einen ethischen Monotheismus konvergierten, verloren konfessionelle oder ethnische Unterschiede ihre prinzipielle Bedeutung.'*^

Bis 1903 wurde eine Auflage von 60.000 erreicht, und es erschienen Übersetzungen in 14 Sprachen; Nipperdey, Geschichte, Bd. 1, S. 471. Leo Baeck, „Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums", in: MGWJ N.F. 9 (1901), S. 9 7 - 1 2 0 ; dazu Albert H. Friedlander, Leo Baeck Leben und Lehre, Stuttgart 1973, S. 74 f., und Christian Wiese, „Ein unerhörtes Gesprächsangebot. Leo Baeck, die Wissenschaft des Judentums und das Judentumsbiid des liberalen Protestantismus", in: Georg Heuberger u. Fritz Backhaus (Hgg.), Leo Baeck 1873-1956. Aus dem Stamme von Rabbinern, Frankfurt am Main 2001, S. 147-171. Dies akzentuiert: Uriel Tal, Christians and Jews in Germany. Religion, Politics and Ideology in the Second Reich. 1870-1914, Ithaca 1975, S. 204 ff. Zur „Schräglage" der Debatten zwischen christlichen und jüdischen Theologen vgl. unten Kap. 5.3. 43

Cohens Haltung zum Judentum analysieren: Hans Liebeschütz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig. Studien zum jüdischen Denken im deutschen Kulturbereich. Mit einem Nachw. v. Robert Weltsch, Tübingen 1970, S. 7 - 5 4 ; Steven S. Schwarzschiidt, „.Germanism and Judaism' - Hermann Cohen's Normative Paradigm of the German-Jewish Symbiosis", in: David Bronsen (Hg.), Jews and

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Vielleicht spiegelt der Abstraktheitsgrad von Cohens Idealismus auch die Größe der Akkulturationsanstrengungen des liberalen Judentums wieder. In jedem Fall war seine Betonung des Ethischen kein Ausdruck spezifischer „Modemitätsnähe". Der Rekurs auf aufklärerische Werte mußte in einer Zeit, die Nietzsche mehr als Kant bewunderte und sich nach einer ästhetischen „Verzauberung der Welt" sehnte, antiquiert wirken. Während die etablierten Kirchen an Bedeutung verloren, erfolgte eine religiöse „Aufladung" von Kultur, die mit dem klassischen Bildungsideal Humboldtscher Prägung schwerlich vereinbar war.'*'' Für jüdische Intellektuelle war die Abkehr vom Liberalismus alles andere als unproblematisch, war er doch der verläßlichste Bundesgenosse im Kampf um die eigenen Rechte. Gleichwohl empfanden die Vordenker der jüngeren Generation das liberale Weltbild zunehmend als unzeitgemäß. Sie suchten eine neue Ideologie, welche die Wurzeln jüdischer Identität aufzeigte und zugleich den Weg in eine unbekannte Zukunft wies.

2.2. Auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis Um die Jahrhundertwende war es für junge Juden in Deutschland nicht einfach, ein positives Selbstverständnis zu entwickeln. Das Weltbild ihrer Eltern, welche Reichseinigung und rechtliche Gleichstellung als Erfüllung ihrer politischen Ideale erlebt hatten, empfanden viele als allzu harmonisierend und kompromißgeneigt. Schon während der Schulzeit wurde ihnen klar, daß ein Teil ihrer Mitschüler und Lehrer sie als Bürger zweiter Klasse ansah, und derlei Erfahrungen setzten sich - ungeachtet liberaler Sonntagsreden - an der Universität und beim Militär fort. Ähnlich gravierend war der Umstand, daß kollektive Bekundungen jüdischer Identität nur auf wenig Gegenliebe stießen. Selbst dezidierte Linksliberale wie der Historiker Theodor Mommsen, der im „Berliner Antisemitismusstreit" Treitschke energisch in die Parade gefahren war, verbanden ihr Engagement für staatsbürgerliche Gleichheit mit der Ablehnung einer jüdischen

Germans from 1860 to 1933. The Problematic Symbiosis, Heidelberg S. 1 2 9 - 1 7 2 , und Ulrich Sieg, Aufstieg tianismus.

Die Geschichte

und Niedergang

einer philosophischen

des Marburger

Schulgemeinschaft,

1979, Neukan-

Würzburg

1994, bes. S. 2 5 7 - 2 6 3 u. 4 0 3 - 4 1 3 . Dazu ausführlich: Friedrich Wilhelm Graf, ,„Dechristianisierung'. Zur Problemgeschichte eines kulturpolitischen Topos", in: Hartmut Lehmann (Hg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997, S. 3 2 - ^ 6 , bes. S. 5 4 f. u. 6 1 66, s o w i e zugespitzt: V o l k o v , „Tradition", S. 6 2 4 ff.

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Gruppenidentität.''' Aussciilaggebend für die tiefgreifende Entfremdung von der „Gründerzeit-Generation" dürfte jedoch gewesen sein, daß es deren Religionsverständnis zunehmend an emotionalem Schwung und innerer Überzeugungskraft mangelte. Im Zeichen lebensreformerischer Aufbruchsstimmung vermißte die Jugend am Judentum ihrer Väter jene , ^ u r a des Geheimnisvollen", die alle Dinge in ein anderes Licht tauchte. In einer Zeit, in der ästhetische und mystische Weltsichten rasch an Bedeutung gewannen und „Authentizität" zum Wert an sich wurde, wog dies besonders schwer."® Der jugendliche Enthusiasmus stieß in vielen bürgerlichen Familien auf väterlichen Widerstand. Gershom Scholem hat genau verzeichnet, wie fremd und feindlich sein Vater seinem erwachenden Interesse am Judentum gegenüberstand. Arthur Scholem verbot in „seinen vier Wänden" den Gebrauch jüdischer Ausdrücke und zeigte nach außen gern, wie säkularisiert er war. Er steckte an den Sabbatlichtern seine Zigarre an, nahm am Yom Kippur Speisen zu sich, ja ging am höchsten jüdischen Feiertag zur Arbeit."' Im Hause Rosenzweig oder Kafka sah es kaum anders aus; in allen Fällen bemühten sich freilich die Mütter darum, den gefühlsbetonten Auseinandersetzungen ihre Schroffheit zu nehmen. Zugleich nahmen sie regen Anteil an der geistigen Entwicklung ihrer Söhne, für die sie ihrerseits wichtige Ansprechpartner blieben. Gershom Scholem, der bereits mit sechzehn Jahren intensiv den Talmud studierte, oder Franz Rosenzweig, der nach längerer Gewissensprüfung von der Konversion Abstand nahm, weil er von der Überlegenheit des Judentums über das Christentum überzeugt war, zählen gewiß zu den intellektuellen Ausnahmeerscheinungen, doch ist ihrer Hinwendung zum Judentum auch ein exemplarischer Zug eigen."® Beide gehörten zu einer So Michael Brenner, ,„Gott schütze uns vor unseren Freunden'. Zur Ambivalenz des Philosemitismus im Kaiserreich", in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993), S. 174-199, hier S. 178-181. - Freilich sollte nicht außer acht gelassen werden, daß in Mommsens Idealvorstellung eines christlichen Universaiismus die Tradition des jüdischen Prophetismus aufgehoben war. Nuanciert zu Mommsens Geschichtsverständnis: Christhard Hoffmann, Ju^fe« und Judentum im Werk deutscher Althistoriker des 19. ufidlO. Jahrhunderts, Leiden usw. 1988, S. 8 7 - 1 3 2 . Allgemein zur jugendbewegten Suche nach einer „unverbrauchten" Religion; Gottfried Kuenzlen, Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, erw. Fassung Frankfurt am Main 1994, S. 17. Den historischen Kontext skizzieren: Michael Brenner, „A Tale of Two Families; Franz Rosenzweig, Gershom Scholem and the Generational Conflict Around Judaism", in: Judaism 42 (1993), S. 3 4 9 361, und Michael D. Oppenheim, „Sons against their Fathers", in: Judaism 29 (1980), S. 3 4 0 - 3 5 2 . 48

Zum jungen Rosenzweig vgl. Nahum N. Glatzer, Franz Rosenzweig: His Life and Thought, New York 1953, S. 1-31, und Stefan Meineke, „A Life of Contra-

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postassimilatorischen Jugendgeneration, der die elterliche Weltsicht steril und sinnentleert vorkam. Ihre Protesthaltung erschöpfte sich nicht in der Ablehnung des Bestehenden, sondern forderte die vertiefte Auseinandersetzung mit den eigenen religiösen und kulturellen Wurzeln. Gleichzeitig drückte sie jenes jugendliche Desinteresse an den „Niederungen der Realpolitik" aus, das zeitgenössisch weit verbreitet war und sich keineswegs auf das deutsche Judentum beschränkte.'" Problemverschärfend kam hinzu, daß die jüdischen Organisationen auch nur über geringen gesellschaftlichen Einfluß verfligten. Die ersten Anfänge der jüdischen Nationalbewegung in Deutschland waren wenig spektakulär.^® 1897, im Jahr des Baseler Kongresses, trat die „Zionistische Vereinigung für Deutschland" (ZVfD) ins Leben, die Theodor Herzls Ideal einer „öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina" propagierte. Obwohl die ZVfD eine nationale Agenda hatte, vermieden ihre Funktionäre bewußt Selbstbezeichnungen wie ,jüdischnational", weil sie im deutschen Judentum schwerlich zustimmungsfähig waren. Im Zionismus dominierte zuerst eine Art Honoratiorenpolitik, deren Zentrum in Köln lag. Dort lebten auch die beiden flihrenden Verbandsfunktionäre: der Rechtsanwalt Max Bodenheimer und der Holzgroßhändler David Wolffson. Die jüngere Generation konnte mit trockener Verbandspolitik freilich nicht gewonnen werden; sie strebte in Jugendkulturgruppen, selbst wenn diese kein dezidiert jüdisches Programm hatten. So zählten 1914 mehr als tausend Heranwachsende zu den Anhängern Gustav Wynekens und der Idee der „Freien Schulgemeinde".^' Auch die neue zionistische Funktionärselite um Kurt Blumenfeld definierte „Jugendkultur" als schlüsselhaften Bereich der Gesamtkultur. Ihr streitbarer „Kulturzionismus" richtete sich gegen Herzls Erben wie

diction. The Philosopher Franz Rosenzweig and his Relationship to History and Politics", in: LBIYB 36 (1991), S. 4 6 1 ^ 8 9 , hier S. 462-^67; für Scholem einschlägig: David Biale, Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History, Cambridge, Mass. u. London 1979. Hierzu generell: Chaim Schatzker, Jüdische Jugend im zweiten Kaiserreich. Sozialisationsund Erziehungsprozesse der jüdischen Jugend in Deutschland 1870-1917, Frankfurt am Main 1988. Die generationsspezifischen Erfahrungshorizonte beleuchtet: Hackeschmidt, Blumenfeld, S. 19-23. Materialreich zur Frühgeschichte des Zionismus: Yehuda Eloni, Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914, Gerlingen 1987; vgl. ferner Stephen M. Poppel, Zionism in Germany, 1897-1933. The Shaping of Jewish Identity, Philadelphia 1977, und Jehuda Reinharz, Fatherland or Promised Land. The Dilemma ofthe German Jew, 1893-1914, Ann Arbor 1975. Siegfried Bernfeld, Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf, Berlin 1928, S. 20, Anm. 1; dies war mehr als ein Drittel von Wynekens Anhängerschar. Gleichzeitig hatte der jüdische Wanderbund „Blau-Weiß" sechs- bis siebenhundert Mitglieder; ADJB Ludwigstein A 140, 4.

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Max Nordau, dessen altväterlichem Politikverständnis sie die identitätsstiftende Bedeutung absprachen.^^ Als Zentrum einer kulturellen Erneuerung des Judentums war das katholische Köln, das noch nicht einmal eine Universität besaß, denkbar ungeeignet, und auf die Dauer gab es nur eine realistische Möglichkeit: Berlin. Zwar hatte die preußische Metropole weder den Glanz noch den Charme von Paris oder Wien, doch war es eine dynamische Großstadt mit einem aufblühenden Kulturbetrieb, der Talente anlockte und sich dem Neuen öffnete." Hier lebten angesehene Gelehrte wie Wilhelm Dilthey, Adolf Harnack oder Theodor Mommsen neben erfolgreichen Künstlern wie Fidus, Fontane oder Liebermann und den selbstbewußten Aposteln der Avantgarde. Sozialreformer wie Magnus Hirschfeld stritten zusammen mit der frühen Frauenbewegung gegen veraltete Moralvorstellungen und geschlechtliche Diskriminierung. In der „Neuen Gemeinschaft" der Gebrüder Hart traf der junge Martin Buber gleichzeitig mit der Dichterin Else Lasker-Schüler, dem Schriftsteller Erich Mühsam und dem Sozialrevolutionär Gustav Landauer zusammen. Dort diskutierte man weniger über die politische Reform des wilhelminischen Kaiserreichs als über kulturelle Erneuerungen im Zeichen Nietzsches. Bemerkenswert war die große Nähe zu den neoromantischen Zeitströmungen. So bezeichnete Julius Hart die Mitglieder der „Neuen Gemeinschaft" als „Blutzeugen" der kommenden Generation.'"* Und Buber sah im „dunklen Tasten jungjüdischer Dichter" ein Anzeichen für die anbrechende „Jüdische Renaissance".'' Eine expressionistisch gefärbte Aneignung Nietzsches bildete

Zur Formierung einer jungen zionistischen Funktionärselite am Vorabend des Ersten Weltkrieges vgl. Hackeschmidt, Blumenfeld, S. 2 9 - 3 6 . "

Zum Folgenden: Bertz, „Kunst", sowie dies., „Politischer Zionismus und Jüdische Renaissance in Berlin vor 1914", in: Reinhard Rürup (Hg.), Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien, Berlin 1995, S. 149-180; daneben Michael Brenner, Kultur, S. 3 2 - 4 1 , und Mark H. Gelber, „The jungjüdische Bewegung. An Unexplored Chapter in German-Jewish Literary and Cultural History", in: LBIYB 31 (1986), S. 105-119. Julius Hart, Triumph des Lebens, Leipzig 1898, S. 12; vgl. auch Blom, Buber, S. 49 f., der ausdrücklich den neoromantischen Charakter der Gedanken Julius Harts herausstellt. Einen guten Überblick über die geistesaristokratischen Reformbewegungen im Berlin des Fin de sifecle bietet: Gertrude Cepl-Kaufmann, „Gustav Landauer im Friedrichshagener Jahrzehnt und die Rezeption seines Gemeinschaftsideals nach dem I. Weltkrieg", in: Hanna Delf u. Gert Mattenklott (Hgg.), Gustav Landauer im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag, Tübingen 1997, S. 235-278, bes. S. 2 4 4 - 2 5 0 .

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Martin Buber, „Jüdische Renaissance", in: Ders., Die jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen, 1900-1915, Berlin 1916, S. 7 - 1 6 [zuerst Ost und West 1 (1901), S. 7 - 1 0 ] , hier S. 9. Zur synkretistischen Begriffsbildung Bubers: Bertz, „Zionismus", S. 157 f ; seine Rolle als „Sprecher" der jüngeren Generation betont: Ritchie Robertson, „Die Erneuerung des Judentums aus dem

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das Fundament seiner Weltanschauung, die von Vernunft und Aufklärung nicht mehr viel erwartete. Bezeichnenderweise ist es die Gestalt Zarathustras, die Buber in den Bann schlägt. In einem von der Forschung kaum beachteten Text schlüpft er sogar gänzlich in die Rolle NietzscheZarathustras und trägt seine eigenen Gedanken in gewollt dionysischer Sprache, ja in direktem Zitat vor.^® Die Schaffung einer eigenständigen jüdischen Kunst stand im Mittelpunkt von Bubers Überlegungen. Ein entscheidender Schritt in diese Richtung war 1902 die Gründung des „Jüdischen Verlags". Zusammen mit dem Schriftsteller Berthold Feiwel und dem Graphiker Ephraim Moses Lilien sorgte Buber für ein breitgefachertes und künstlerisch anspruchsvolles Verlagsprogramm. In hohem Maße galt dies für den „Jüdischen Almanach", dessen Bildteil das ganze Spektrum zeitgenössischer jüdischer Künstler von Leonid Pasternak bis Lesser Ury umfaßte.^'' Inhaltlich zielte das Verlagskonzept auf die positive Besetzung der Chiffre „Ostjudentum". Zugleich beanspruchte man, allen kulturell bedeutsamen Strömungen des zeitgenössischen Judentums ein Forum zu bieten. Dies war auch die Zielvorstellung von Leo Winz, dessen anspruchsvolle und reich illustrierte Kulturzeitschrift „Ost und West" schon im Titel auf ihr Programm innerjüdischer Integration verwies. Ihre Resonanz ging deutlich über die zionistischen Zirkel hinaus, wie man an der Abonnentenzahl erkennen kann, die zwischen 1906 und 1914 von 16.000 auf 23.000 anstieg.'^ Doch so erfolgreich das Konzept der „Jüdischen Renaissance" auch war und so viel Begeisterung flir das Ostjudentum sie auch weckte, die zionistische Propagierung des Hebräischen fiel auf steinigen Boden. Zu ausgeprägt war die jüdische Orientierung am deutschen Bildungsbürgertum, als daß realistische Alternativen zur deutschen Sprache bestanden hätten.'' Selbst Bubers Chassidische Geschichten verrieten mehr über den Geist der Assimilation. 1900 bis 1922", in: Wolfgang Braungart, Gotthart Fuchs u. Manfred Koch (Hgg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwende II: um 1900, Paderborn 1998, S. 171-193, hier S. 171. ''

Martin Buber, Zarathustra. Meinen zukünftigen Freunden; JNUL Jerusalem, Ms Var. 350 / 7,b. Hierbei handelt es sich die um Einleitung zu Bubers eigenem Zarathustra, der allerdings über das Planungsstadium nicht hinauskam. Eine knappe Deutung dieses Textes bietet: Gilya G. Schmidt, Martin Buber's Formative Years. From German Culture to Jewish Renewal. 1897-1909, Tuscaloosa 1995, S. 26 f. Allgemein zu Bubers Bedeutung für die zionistische Nietzscherezeption: Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart 1996, S. 107 ff.

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Dazu detaiifreudig und instruktiv: Inka Bertz, „,Jüdischer Almanach' 5663", in: Jüdischer Almanach, Jg. 1996, S. 10-24. David Brenner, Marketing Identities, S. 172, Anm. 6. Dies ist häufig beschrieben und nicht selten kritisiert worden; nuanciert und ausgewogen: Volkov, „Erfindung", S. 6 2 4 - 6 2 7 . - Zur Frühgeschichte des modernen

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bürgerlichen Zeitgeschmack als über die Geheimnisse ostjüdischer Volksfrömmigkeit. Walther Rathenau charakterisierte die Erzählungen als „sehr schön, aber doch gemacht und überzuckert". Der überzeugte Zionist Kurt Blumenfeld konnte darin zwar nur den Versuch Rathenaus erkennen, „sich einer ihm wesensfremden Wirkung zu entziehen"; aus heutiger Perspektive scheint es jedoch, als ob das pointierte Urteil Rathenaus der Wahrheit recht nahe kommt.'® Buber gehörte zur steigenden Zahl freiberuflicher Intellektueller, die um die Jahrhundertwende zu einem gewissen Reichtum gelangten. Schon früh hatte er von der Universitätskarriere Abstand genommen und sich für das unsichere Leben eines Redakteurs bei der zionistischen „Welt" entschieden. Zusammen mit Chaim Waitzmann und Leo Motzkin propagierte er die verstärkte kulturelle Ausrichtung der nationaljüdischen Bewegung, konnte sich damit jedoch auf dem V. Zionistenkongreß 1901 nicht durchsetzen.®' Um so intensiver widmete sich Buber seiner Tätigkeit als Lektor beim Frankfurter Verlag Rütten & Loenig, konzipierte und betreute die vierzigbändige Reihe „Die Gesellschaft", die zeitkritischen Autoren breiten Raum ließ. 1905 zog er für ein Jahr nach Florenz, in jenen Tagen ein kulturelles Zentrum von gesamteuropäischer Ausstrahlung. Als Resultat erschienen 1906 Die Geschichte des Rabbi Nachman und zwei Jahre später Die Legende des Baal Schern, womit Buber endgültig zum Erfolgsautor wurde. Gleichzeitig beschäftigte er sich allgemein mit der philosophischen Bedeutung der Mystik - ein Thema, das ihn schon während seiner Leipziger Studienzeit gefesselt hatte.'^

Hebräisch, die vor allem in Osteuropa spielt: Benjamin Harshav, Hebräisch. Sprache in Zeiten der Revolution, Frankfurt am Main 1995. Kurt Blumenfeld, Erlebte Judenfrage. Ein Vierteljahrhundert deutscher Zionismus, Stuttgart 1962, S. 141; dort auch das vorige Zitat. Vgl. ferner Pinhas Sadeh, „Afterword", in: Ders., Jewish Folktales. Selected and Retold, N e w York usw. 1989, S. 3 9 7 - 4 2 1 , hier S. 4 1 3 - 4 1 8 , sowie als philologische Detailkritik Steven T. Katz, „Martin Buber's Misuse of Hasidic Sources", in: Ders., Post-Holocaust Dialogues. Critical Studies in Modern Jewish Thought, N e w York u. London 1983, S. 5 2 - 9 3 . Es ist ein merkwürdiges Faktum, daß bis heute keine einzige Buber-Biographie vorliegt, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Erwähnenswert wegen des Materialreichtums bleibt Maurice Friedmann, Martin Buber's Life and Work: The Early Years, 1878-1923 (New York 1981), obwohl die Studie leider über weite Strecken reine Hagiographie ist. Skeptisch hinsichtlich der lupenreinen Trennung zwischen politischen und kulturellen Zionisten: Michael Berkowitz, Zionist Culture and West European Jewry before the First World War, Cambridge 1993, S. 4 0 - 7 6 . Die organisationshistorische Bedeutung des V. Zionistenkongresses steht freilich außer Frage. Grundlegend zur Auseinandersetzung des frühen Buber mit der deutschen Mystik: Paul R. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zu „Ich und Du", Königstein im Taunus 1979; ebd..

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Als Publikationsort für seine „Ekstatischen Konfessionen" wählte Buber den Diederichs Verlag. Dies war auf den ersten Blick keine naheliegende Entscheidung, galt der rührige Kulturverlag doch als „Warenhaus der Weltanschauungen", das neben Tolstoi und Kierkegaard, Märchen und Sagen, auch das breite Spektrum lebensreformerischen Schrifttums im Angebot führte.®^ Zudem besaß das Verlagsprogramm eine völkische Dimension und unterstützte Autoren wie Arthur Bonus, der die „Germanisierung des Christentums" verkündete, oder Arthur Drews, dessen kirchenfeindliche Christusmythe 1909 für Furore sorgte. Wie selbstverständlich verbreitete Eugen Diederichs die Ideen Paul de Lagardes, jenes scharfzüngigen Bismarck-Kritikers und verbitterten Kulturpessimisten, an dessen Antisemitismus es nichts zu deuteln gab. Für das Judentum konnte sich Diederichs, der ansonsten für „orientalische Weisheit" schwärmte, hingegen nicht erwärmen. Prima facie könnte man annehmen, daß das Haupt der Kulturzionisten den Kontakt zu Diederichs aus weltanschaulichen Gründen gemieden hätte. Buber allerdings wußte genau, daß das steigende Interesse am Judentum Teil der gegenwartsskeptischen Zeitströmungen war. Beide standen seit 1903 in Kontakt, und Buber brachte dem ideenreichen Verleger beträchtlichen Respekt entgegen.®" Überdies teilte er Diederichs' Bekenntnis zum Neoidealismus und suchte wie dieser nach einer großen Synthese, welche die sozialen und ideologischen Zerklüftungen überwinden sollte. Philosophisch führte dies beide zu Rudolf Eucken, der am Vorabend des Ersten Weltkrieges auf der Höhe seines Ansehens stand.®'

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S. 115 f., eine Auflistung der Schriften, die in Bubers Reihe „Die Gesellschaft" erschienen. Eingehend zur Rezeption der Chassidischen Geschichten: Ders., „Fin-de- Sifecle Orientalism", S. 96-109. Umfassend zum bekannten Jenaer Kulturverlag: Gangolf Hübinger (Hg.), Versammlungsort moderner Geister Der Eugen Diederichs Verlag - Außruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996; ferner aufschlußreich: Erich Viehöfer, „Der Verleger als Organisator. Zur Rolle und Bedeutung von Eugen Diederichs und seines Verlages in den bürgerlichen Reformbestrebungen der Jahrhundertwende", in: AGB 30 (1988), S. 1-147, sowie für das historische Umfeld Gary D. Stark, Entrepeneurs of Ideology. Neoconservative Publishers in Germany, 18901933, Chapel Hill 1981. So teilte Buber am 21. Februar 1907 Diederichs mit, „daß sich die Sympathie, die ich für Ihre Arbeit hatte, in den letzten Jahren noch gesteigert hat, da ich Ihr schönes, konsequentes Weiterschreiten beobachten konnte"; Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, hg. u. eingel. v. Grete Schaeder, 3 Bde., Heidelberg 1972-75, hier Bd. 1, S. 253 f , Zitat S. 253. Als Einfllhrung zu Eucken hilfreich: Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, München 1974, S. 176-185. Neuerdings erhellend: Friedrich Wilhelm Graf, „Die Positivität des Geistigen. Rudolf Euckens Programm neoidealistischer Universalintegration", in: Rüdiger vom Bruch, Friedrich Wilhelm Graf u. Gangolf Hübinger (Hgg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 11: Idealis-

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Eucken, der 1908 den Literaturnobelpreis erhalten hatte, vertrat eine neoidealistische Kulturphilosophie, die das Erbe der deutschen Klassik mit den Wandlungstendenzen der Gegenwart in Einklang zu bringen versprach. Dies war kein sonderlich kühner, aber ein weithin zustimmungsfahiger Ansatz, was sich etwa daran erkennen läßt, daß Eucken 1910 beim Berliner „Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt" die salbungsvollen Schlußworte sprach.^^ Das Bildungsgut der Antike wie die Werke der deutschen Klassik gewannen in seiner Interpretation erneut Aktualität und Bedeutung, weil sie zu einer umfassenden Formung der Persönlichkeit anregten. In scheinbar radikaler Diktion forderte Eucken den „neuen" religiösen Menschen und bot doch nur eine relativ biedere Interpretation jener Texte, die seine Hörer bereits aus dem Gymnasium kannten. Als Panier gegen die erfolgreichen Apostel vagierender Religiosität - wie Ernst Haeckel - genügte dies jedoch. Gerade weil das Bildungsbürgertum weltanschaulich längst in die Defensive geraten war, hatte es kein größeres Interesse an der intensiven Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit und folgte bereitwillig denjenigen, die es in seinem Wertgefüge bestätigte. Eucken verband auf geradezu ideale Weise professorale Reputation mit verbaler Entschlossenheit und wurde deshalb zur Führungsfigur einer verunsicherten Idealistengemeinde, die weit über den „Euckenbund" hinausreichte.^^ Die Zusammenarbeit zwischen Buber und Diederichs war jedenfalls von Erfolg gekrönt, und die „Ekstatischen Konfessionen" gewannen nicht nur einen breiten Leserkreis, sondern galten alsbald auch als „Höhepunkt der mystischen Literatur".'^ Dies war nicht zuletzt eine Folge der sorgfältigen Buchgestaltung, die von der Wahl des Umschlags über die Gestaltung des Titelblatts bis zur Papierqualität reichte. Buber wußte, daß die

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mus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 5 3 - 8 5 . Zu Diederichs' neoidealistischen und völkischen Neigungen, die im liberalsozialen Verlagsprogramm seit 1910 lediglich kurzfristig in den Hintergrund traten: Gangolf Hübinger, „Der Verlag Eugen Diederichs in Jena. Wissenschaftskritik, Lebensreform und völkische Bewegung", in: GG 22 (1996), S. 3 1 ^ 5 , hier S. 39 ff. Vgl. Ders., Kulturprotestantismus, S. 261. Obwohl es eine Vielzahl von Werken zur kulturellen Aufbruchsstimmung um die Jahrhundertwende gibt, ist immer noch weitgehend unbekannt, wie sich das deutsche Bildungsbürgertum gegen diese Entwicklungen abzugrenzen suchte. Ringers Pionierstudie Die Gelehrten nimmt dieses Problem zwar in den Blick, verlagert die „Bewegung zur Synthese" aber einseitig in die Weimarer Republik. Das Ausmaß der Euckenrezeption am Vorabend des Ersten Weltkrieges verdeutlicht: Graf, „Positivität", S. 72-78. Gangolf Hübinger, „Eugen Diederichs' Bemühungen um die Grundlegung einer neuen Geisteskultur (Anhang: Protokoll der Lauensteiner Kulturtagung von Pfingsten 1917)", in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 2 5 9 - 2 7 4 , hier S. 259.

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„Renaissance des Judentums" in ungewöiinlicii hoiiem Maße an visuelle Bedeutungsträger gebunden war, da die hebräische Sprache als Medium der kulturellen Erneuerung des Judentums nur eine kleine Zahl von Menschen erreichte. Deshalb legte er auf ästhetische Perfektion einen besonderen Wert und übertraf selbst den in dieser Hinsicht auch nicht gerade anspruchslosen Diederichs.^' Die „Dynamik der Dissimilation" (Volkov) hatte in Wien eine ähnlich hohe Bedeutung wie in Berlin. Hier stieß eine weitgehend akkulturierte jüdische Bevölkerung auf einen Antisemitismus, der an ideologischer Virulenz und politischer Durchschlagskraft in Europa seinesgleichen suchte.™ Als Bürgermeister der Zwei-Millionen-Metropole amtierte von 1897 bis 1910 der selbstherrliche Karl Lueger, dessen Christlichsoziale Partei strikt antiliberal ausgerichtet war. Die Ausweitung des Wahlrechts auf kleinbürgerliche Schichten ließ den skrupellosen Volkstribun immer wieder mit antisemitischen Themen auf Stimmenfang gehen. Gleichwohl wußte er, daß Wien ohne die Unterstützung des jüdischen Bürgertums schwerlich regierbar war, und verzichtete deshalb auf die offensive Umsetzung seines antisemitischen Programms. Für das Wiener Judentum war der Antisemitismus dennoch eine beklemmende Realität. Hellsichtige Analytiker wie Arthur Schnitzler oder Sigmund Freud gaben sich hinsichtlich der Akzeptanz der jüdischen Akkulturationsanstrengungen in einer zunehmend illiberalen Gesellschaft nur geringen Illusionen hin. Vielleicht noch größeres Gewicht hatten diejenigen jüdischen Autoren, die sich um eine Verklärung Österreich-Ungarns als universales, übernationales und zumindest tendenziell pluralistisches Staatswesen bemühten. Zu erinnern wäre neben dem Wiener Dichterfürsten und erfolgsverwöhnten Librettisten Hugo von Hofmannsthal an Richard BeerHofmann oder Stefan Zweig, die beide im österreichischen Judentum um 1910 über einen großen Leserkreis verfügten. Bei all ihrer präzisen Beobachtungsgabe und schriftstellerischen Modernität einte sie jener sentimentale Blick auf eine idealisierte Vergangenheit, der schon vor 1914 ein zentrales Merkmal der Wiener Kultur darstellte.^' Nicht zuletzt hielten sie jene kurze Blütephase jüdisch-liberaler Zusammenarbeit in lebendiger

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Vgl. den aufschlußreichen Brief Bubers an Diederichs vom 22. November 1907; DLA Marbach, Diederichs; komprimiert zur visuellen Ausrichtung der Kulturzionisten: Michael Brenner, Kultur, S. 35 ff.



Dazu allgemein: Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, 3. Aufl. München 1996, S. 393-435, und Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siede, Frankfurt am Main 1982, S. 111-138 u. 164 ff.; zum sozialhistorischen Hintergrund vgl. Marsha L. Rozenblit, The Jews of Viennu, 1867-1914: Assimilation and Identity, Albany 1983.

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Vgl. den schönen Essay von Steven Beller, „The World of Yesterday Revisited: Nostalgia, Memory, and the Jews of Fin-de-Si6cle Vienna", in: JSS N.F. 2 (1995), S. 3 7 - 5 3 .

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Erinnerung, die in Österreich bereits Ende der 1860er Jaiire ihren Zenit überschritten hatte.'^ Wieder anders lagen die Dinge in Prag, wo um die Jahrhundertwende die nationale Frage alle anderen Themen an Bedeutung überragte. Hier bildeten die Deutschen eine Minderheit, die zur Durchsetzung ihrer Interessen auf die Zusammenarbeit mit Juden angewiesen war. Bereits 1893, vier Jahre vor dem ersten internationalen Zionistenkongreß, wurde in der böhmischen Metropole die national-jüdische Studentenorganisation „Maccabea" gegründet." In der Vereinigung, die nicht zuletzt als Reaktion auf den „Arierparagraphen" der Prager Burschenschaften entstanden war, gaben alsbald die Anhänger des Zionismus den Ton an. Ihr nationalistisches Selbstverständnis zeigte sich bei der Namensänderung des Jahres 1899, als man den Verein nach dem jüdischen Kämpfer gegen die Römerherrschaft „Bar Kochba" umbenannte. Die führenden Vertreter kamen aus jüdischen Familien mit deutschem Bildungshintergrund, in denen Goethe und Schiller zur selbstverständlichen Lektüre gehörten. Der Abgott der jungen Prager Zionisten war ein völkisch auft)ereiteter Fichte, dessen Reden an die deutsche Nation nicht nur als Dokument des erwachenden Nationalismus, sondern auch als Leitfaden zur persönlichen Selbstentfaltung gelesen wurden.^'* Der Prager „Bar Kochba" umfaßte eine Fülle begabter Persönlichkeiten wie Hugo Bergmann, Max Brod, Leo Herrmann, Hans Kohn und die Cousins Felix und Robert Weltsch. Doch schon allein aus Altersgründen kam keiner von ihnen als Führungsgestalt emsthaft in Frage. Statt dessen bewunderte man aus der Ferne Martin Buber, der seit seinen vielfältigen Berliner Aktivitäten und seinen Chassidischen Geschichten der jüngeren

Vgl. Peter Pulzer, „Die Wiederkehr des alten Hasses", in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, hg. im Auftrag des Leo-Baeck-Instituts v. Michael A. Meyer unter Mitw. v. Michael Brenner, Bd. 3: Umstrittene Integration 1 8 7 1 1918, V. Steven M. Lowenstein u.a., München 1997, S. 193-248, hier S. 2 0 6 212.

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Grundlegend zum Folgenden: Blom, Buber, speziell zum jüdischen Nationalismus in Böhmen: Hillel J. Kiöval, The Making of Czech Jewry. National Conflict andJewish Society in Bohemia, 1870-1918, New York u. Oxford 1981. Monographisch zur Situation des Prager Judentums um 1900: Scott Spector, Prague Teritories. National Conflict and Cultural Innovation in Kaflca 's Fin de Siede, Berkeley, Los Angeles u. London 2000; komprimiert: Steven M. Lowenstein, „Der jüdische Anteil an der deutschen Kultur", in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, hg. im Auftrag des Leo-Baeck-Instituts v. Michael A. Meyer unter Mitw. V. Michael Brenner, Bd. 3: Umstrittene Integration 1871-1918, v. Steven M. Lowenstein u.a., München 1997, S. 3 0 2 - 3 3 2 , hier S. 309 f. Vgl. Hans Kohn, Bürger vieler Welten. Ein Leben im Zeitalter der Weltrevolution, Frauenfeld 1965, S. 92 ff.; George Mosse, Intellektuelle, S. 75, sowie Blom, Buber, S. 29 f

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Generation als Schlüsselfigur der jüdischen Kulturbewegung galt." Schließlich lud Leo Herrmann im November 1908 Buber nach Prag ein, damit er ihnen seine Auffassung vom Judentum näherbringe. Zwischen 1909 und 1911 trug Buber einem begeisterten Prager Auditorium seine Gedanken vor, die unter dem Titel Drei Reden über das Judentum alsbald gedruckt wurden und eine große Leserschaft fanden. Bereits die erste Rede zeigte, wie stark Buber vom neoromantischen Zeitgeist beeinflußt war. Er verherrlichte die „Gemeinschaft des Blutes" als Ausdruck der „Unsterblichkeit der Generationen" und folgerte daraus, daß „das Blut als die tiefste Machtschicht der Seele" anzusehen sei.'' Die Einheit des jüdischen Volkes sah Buber durch eine „Generationenkette" gewährleistet, die es über viele Jahrhunderte mit seinen Vorfahren verbinde. Seine Definition des Judentums oszillierte zwischen biologistischen und kulturellen Werten, wie es für das neoromantische Denken am Vorabend des Ersten Weltkrieges keineswegs ungewöhnlich war. Und so teilte Buber seine Gewährsleute, wie Bergson, Fichte, Herder, Lagarde, Langbehn oder Nietzsche, mit vielen Zeitgenossen. Nationalistische, vitalistische und zivilisationskritische Motive prägten auch den Sammelband Vom Judentum, mit dem sich die Mitglieder des Prager „Bar Kochba" 1913 einer breiteren Öffentlichkeit präsentierten. Die ehrgeizige Publikation vereinte führende Repräsentanten der jüngeren Generation, die eine kulturelle „Erneuerung" des Judentums wünschten. Das Spektrum der Autoren umfaßte so unterschiedliche Intellektuelle wie Nathan Birnbaum, Max Brod, Moritz Goldstein, Gustav Landauer, Jakob Wassermann und Arnold Zweig. Literarisch stand zwar die Mehrzahl von ihnen dem Expressionismus nahe, doch weltanschaulich waren vom romantischen Anarchismus über die Bergsonsche Lebensphilosophie bis zum nietzscheanisch gefärbten Kulturaristokratismus eine Vielzahl von Positionen vertreten. Die Vorauswahl unter den Beiträgen traf Hans Kohn in Absprache mit Martin Buber, der jedoch in konzeptionellen Fragen das letzte Wort hatte und auch für den ebenso schlichten wie umfassenden Titel des Sammelbandes verantwortlich zeichnete.'^

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Die Gründe für Bubers Wirkung umreißt: Chaim Schatzker, „Buber's Influence on the Jewish Youth Movement", in: LBIYB 23 (1978), S. 151-171. Idealisierend zum „Bar Kochba": Max Brod, Der Prager Kreis, Stuttgart usw. 1966, S. 47. Martin Buber, Drei Reden über das Judentum, Frankfurt am Main 1911, S. 22; ebd., S. 19, die beiden vorigen Zitate. - Eine eindrucksvolle Analyse der Bedeutung der Blutgemeinschaft für Buber bietet: Blom, Buber, S. 41-54. Vom Judentum. Ein Sammelbuch, hg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Leipzig 1913; eingehend zur Entstehungsgeschichte der Anthologie: Blom, Buber, S. 34-39; gleichfalls informativ Kifeval, Making, S. 148-153 u. 232 ff., der allerdings das Ausmaß von Bubers Einflußnahme unterschätzt.

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Die deutsch-jüdische Kultur vor 1914

Bubers Redaktionspraxis zielte auf die Glättung inhaltlicher Divergenzen und bemühte sich um eine ästhetisch ansprechende Präsentation der Beiträge, die dem renommierten Erscheinungsort, dem expressionistischen Musterverlag Kurt Wolff in Leipzig, alle Ehre machte. Zugleich gab Buber dem Band seine Stoßrichtung, in dem er die Wichtigkeit des Mythos filr jede Selbstdefinition des Judentums in den Vordergrund rückte. Die Ausfuhrungen zum nationalen Charakter jüdischer Religion waren zwar alles andere als eindeutig, doch sprach aus ihnen der unmißverständliche Wille zur positiven Bestimmung völkischer Werte.'* Die meisten von Bubers Anhängern im Prager „Bar Kochba" folgten dieser Linie und setzten ein vages Pathos der Entscheidung an die Stelle einer inhaltlichen Definition dessen, was sie unter „Jüdischer Renaissance" verstanden. So kennzeichnete Hans Kohn den inhaltlichen Anspruch seiner Generation dadurch, „daß in ihrem Leben und durch ihr Leben das Schicksal des Judentums die entscheidende Wendung erfährt".'^ Bezeichnenderweise war Kohns Voraussetzung für die Mitarbeit in der jüdischen Nationalbewegung ausgesprochen subjektiver Natur: ihre Anhänger sollten sich als „Glieder und Träger einer ihr selbst bewußt gewordenen jüdischen Volksgemeinschaft fühlen".^® Damit einher ging die religiöse Überhöhung des Kulturzionismus als Remedium gegen den materialistischen Zeitgeist.®' Zwei Autoren schlössen sich dem allgemeinen Überschwang nicht an: Gustav Landauer verwies auf die Komplexität jüdischer Identität in der Moderne und ironisierte den jugendlichen Tatendrang, der außer ideologischen Verwerfungen keine nennenswerten Resultate hervorgebracht habe.®^ Und Hugo Bergmann, der als einziges Mitglied des „Bar Kochba"

Martin Buber, „Der Mythos der Juden. Aus einem Vortrag", in: V o m Judentum. Ein Sammelbuch, hg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Leipzig 1913, S. 2 1 - 3 1 . Hans Kohn, „Geleitwort", in: Ebd., S. V - I X , hier S. V. - Hervorhebungen im Original werden hier und im folgenden kursiv wiedergegeben. Ebd., S. VI. Zu Kohns rein rezeptiver Übernahme Buberscher Ideen: Blom, Buber, S. 73 ff. Vgl. Kohns Entwurf für das Geleitwort, der auf die hoch in Blüte stehende Dichotomie zwischen „Kultur" und „Zivilisation" rekurriert. Nach Kohns Vorstellung einte die Vorkämpfer des Judentums die Überzeugung, „dass in der Krisis, welche die heutige Kultur durchmacht, eine religiöse Erneuerung allein helfen kann, indem sie an die Stelle der geistentfremdeten Zivilisation unserer Tage eine wieder aus den Tiefen der Menschenseele gewonnene Kultur setzt"; JNUL Jerusalem M s Var. 350, Nr. 376/46. Gustav Landauer, „Sind das Ketzergedanken?", in: Ders., Dichter, Ketzer, Außenseiter. Essays und Reden zu Literatur, Philosophie, Judentum, hg. v. Hanna Delf, Berlin 1997, S. 1 7 0 - 1 7 4 [zuerst V o m Judentum. Ein Sammelbuch, hg. v o m Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Leipzig 1913, S. 2 5 0 - 2 5 7 ] , hier S. 171, heißt es in diesem Sinne: „Noch ist nicht der kleinste Anfang einer

Auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis

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über ausgeprägte Kenntnisse der Wissenschaft des Judentums verfügte, widmete sich einem judaistischen Thema mit philosophischem Einschlag.®^ Doch die Mehrzahl der Artikel charakterisierte jene organische Metaphorik und Überhöhung alles Völkischen, die neben Fichte und Nietzsche auch Lagarde und Langbehn - ungeachtet ihrer antisemitischen Ansichten - zu Kronzeugen nationaler jüdischer Wiedergeburt werden ließ. Die Quellen und zeitgenössischen Bezüge von Bubers Weltbild sind inzwischen hinreichend erforscht, doch provoziert ihre nähere Kenntnis die Frage nach der ,jüdischen Substanz" seines frühen Denkens.®'' Ähnlich wie um Euckens Programm einer „Universalintegration" stand es um die Radikalität von Bubers Philosophie: auch der Trank, den er den Mitgliedern des Prager „Bar Kochba" bot, war lediglich „alter Wein in neuen Schläuchen". Gerade hier liegt jedoch eine wesentliche Ursache für Bubers Erfolg. Im Unterschied zu Achad Haam, von dem er manchen Gedanken übernahm, verwandte Buber eine Bildersprache, die auch hochgradig akkulturierten Juden vertraut war. Er predigte eine radikale Abkehr von bürgerlichen SekuritätsgefÜhlen in religiös-romantischen Metaphern, die seit der Jahrhundertwende in kulturreformerischen Zirkeln gängige Münze waren und die seine Adepten schon vom Gymnasium kannten. So gelang ihm etwas, das bei nüchterner Betrachtung einer „Quadratur des Kreises" ähnelte: er verhieß der heranwachsenden Generation eine Lösung ihrer Identitätsprobleme durch eine „Renaissance des

Verwirklichung da, und schon nimmt der Parteienkampf alles vorweg, was irgend an Wirklichkeiten aufeinander folgen könnte. Kennzeichnend für das, was hier Partei genannt wird, ist eine Art masturbierende Selbstbefriedigung der sogenannten Bewegung in sich selbst." Hugo Bergmann, „Die Heiligung des Namens", in: Vom Judentum. Ein Sammelbuch, hg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Leipzig 1913, S. 32-43; eine eingehende Analyse dieses Essays bietet: Ki^val, Making, S. 150 ff. Soweit ich sehe, ist diese Frage erstmals in der noch ungedruckten Dissertation von Philipp Blom über Bubers Bedeutung für die Entwicklung des Prager „Bar Kochba" konsequent verfolgt worden. Inspirierend, aber kursorisch: George L. Mosse, Germans and Jews. The Right, the Lefl, and the Search for a „ Third Force" in Pre-Nazi Germany, Detroit 1987, S. 85-94. Die beiden neueren Studien von Avraham Shapira, „Buber's Attachment to Herder and German ,Volkism'", in: Studies in Zionism 14 (1993), S. 1-30, und Manuel Duarte de Olivera, „Passion for Land and Volk. Martin Buber and Neo-Romanticism", in: LBIYB 46 (1996), S. 239-260, deuten Bubers frühes Denken im Licht seiner späteren „dialogischen" und humanistischen Schriften und fallen an denkerischer Folgerichtigkeit hinter George Mosse zurück.

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Die deutsch-jüdische Kultur vor 1914

Judentums", indem er zugleich ihre Identifikation mit der deutschen Kultur intensivierte.^' Wie sehr Bubers Texte als Ausdrucic neoidealistischen Unbehagens an der Moderne gelesen wurden, läßt sich am Beispiel von Hans Kohn demonstrieren. Am 15. Juni 1912 hielt er im „Bar Kochba" einen Vortrag „Über den Begriff der , Erneuerung' des Judentums und unsere Gegenwart", von dem die Manuskriptfassung erhalten geblieben ist. Ihr besonderer Wert liegt darin, daß sie die benutzten Quellen akribisch am Seitenrand verzeichnet. So wird daraufhingewiesen, daß der sachliche Kern des Erneuerungsbegriffs der Philosophie Euckens entlehnt ist.®^ Generell gehörte der Jenaer Gelehrte neben Drews und Buber zu den wichtigsten Gewährsleuten von Kohns philosophischem Religionsverständnis, das von vagem existentiellen Pathos und schroffer Zeitkritik bestimmt ist. Gegen die „Nervosität der Hysterie" empfahl Kohn „die ruhige Sicherheit des Glaubens" und erinnerte daran, daß Jede Erneuerung [...] in religiöse Erfüllung (mündet)".®' Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter überraschend, daß Kohn zum Propagandisten gerade jener Publikationen Bubers wurde, die eine Neubegründung des religiösen Mythos verkündeten. Ausgiebig rühmte er etwa in der Prager „Selbstwehr" Bubers Ausgabe der „Reden und Gleichnisse des Tschuang Tse" als schöpferische Tat.®* Auf die Dauer führten die kulturzionistischen Initiativen zu einer generellen Stärkung des Zionismus. Zählte die ZVfD 1904 nur 4.000 Mitglieder, waren es 1914 bereits etwa 10.000. Besonders die jüngere Generation fühlte sich vom radikalen Programm der Zionisten angesprochen, zu dessen integralen Bestandteilen seit dem Posener Delegiertentag 1912 das individuelle Bekenntnis zur Auswanderung nach Palästina gehörte.®' Dennoch wäre es übertrieben, von einer kulturellen oder gar politischen Meinungsführerschaft der Zionisten zu sprechen, die vor allem in den Gemeindewahlen immer wieder ihre Grenzen aufgezeigt bekamen. Der Führungsanspruch des liberalen Judentums hatte sich zu Beginn des 20. Den Einfluß des philosophisch inspirierten Schriftstellers Achad Haam („Einer aus dem Volke"; Pseudonym fUr Ascher Ginzberg) auf Buber betrachten: Jehuda Reinharz, „Achad Haam und der deutsche Zionismus", in: B L B I 6 1 (1982), S. 3 27, bes. S. 10-15, und Schmidt, Buber's Formative Years, S. 85-89; allgemein zur Wirkungsgeschichte Achad Haams: Jossi Goldstein, „An der Zeitenwende. Achad Ha'am in historischer Perspektive", in: Jüdischer Almanach, Jg. 1995, S. 8 1 - 9 0 .

" " ''

LBI N e w York AR 259, Box 2, Folder 2, fol. 4. Kohns Referenzstelle ist: Rudolf Eucken, Einführung in eine Philosophie des Geisteslebens, Leipzig 1908, S. 105. LBI N e w York AR 259, Box 2, Folder 2, fol. 14, Hans Kohn, „Chinesische Philosophen", in: Selbstwehr Nr. 41 vom 18. Oktober 1912, S. 1 ff., hier S. 3. Jehuda Reinharz, „Zur Einführung", in: Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882-1933, hg. u. eingel. v. dems., Tübingen 1981, S. XIX-IL, hier S. XIX; vgl. auch Hackeschmidt, Blumenfeld, S. 29 f.

Auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis

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Jahrhunderts keineswegs verloren. Insbesondere die Reichstagswahl von 1912, in der Sozialdemokratie und Liberale die numerische Mehrheit der Stimmen erlangten, nährte die Hoffnung auf eine friedliche Reform des Kaiserreichs. Angesichts der liberalen Wahlerfolge ging Georg Gothein in seiner Funktion als Vorsitzender des „Abwehrvereins" sogar so weit, die endgültige Aufhebung aller judenfeindlichen Restriktionen in Armee und Verwaltung zu fordern.'® Sowohl dem Weltbild der Zionisten als auch dem der liberalen Juden war am Vorabend des Ersten Weltkrieges ein zukunftsorientierter Zug eigen. Beide Seiten vertraten die Ansicht, daß die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der letzten Jahre in ihrem Sinne verlaufen seien. Dies bedeutete einen instrumenteilen Umgang mit der jüdischen Geschichte und trug von vornherein den Keim zur Schönfärberei und zur ideologischen Überhöhung politischer Konflikte in sich." Überdies führte es zur Marginalisierung der „rückwärtsgewandten" Orthodoxie, die im Zuge der Säkularisierung zwar an Bedeutung verloren hatte, jedoch insbesondere auf dem Land immer noch über beträchtlichen Einfluß verfügte. Entwicklungen, die dem eigenen Erwartungshorizont widersprachen, wurden weder im teleologischen Geschichtsdenken des liberalen Judentums noch in der neoromantischen Zeitkritik der Zionisten zum Gegenstand weiterführender Debatten. Als im August 1914 in Europa die Lichter ausgingen, waren selbst herausragende jüdische Intellektuelle auf das Ausmaß der kommenden Katastrophe nur unzureichend vorbereitet.

Hübinger, Kulturprotestantismus,

S. 272.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist das Ausmaß der Erbitterung, mit dem der Streit um die Unterrichtssprache am Haifaer Technion gefuhrt wurde; Eloni, Zionismus, S. 3 1 3 - 3 5 6 .

3. Das deutsche Judentum im Weltkrieg

Die jüdische „Kriegsbegeisterung" scheint eine so fraglose Tatsache zu sein, daß kaum ein Historiker je an ihr gezweifelt hat. Beinahe alle Darstellungen des deutschen Judentums im Ersten Weltkrieg stimmen in ihrer Betonung des „schäumenden jüdischen Patriotismus" überein. Erst die „Judenzählung" im Herbst 1916 - so das Ondit - habe die Identifikation mit dem Vaterland entscheidend erschüttert und einer tiefgreifenden Enttäuschung über Staat und Gesellschaft den Weg gebahnt.' Auffällig ist freilich, wie unvermittelt Zeugnisse vom August 1914 verallgemeinert, offizielle Presseverlautbarungen entkontextualisiert und stilisierte Erinnerungen für authentisches Kriegserleben genommen werden. Zeitnahe private Quellen zeigen nicht selten ein anderes Bild von den Ängsten und Zweifeln ihrer Verfasser. Neben einem forschen „Hurra-Patriotismus", gab es eine Fülle von Haltungen, die von stiller Pflichterfüllung bis hin zu offener Kritik reichen. Die historische Wirklichkeit war vielstimmig und komplizierter als die Werke der Geschichtsschreiber. Und dies gilt selbst für das so häufig verklärte jüdische „Augusterlebnis".

3.1. August 1914 Lange Zeit war sich die Mehrzahl der Historiker in der Einschätzung des „Augusterlebnisses" einig. Nach nervenaufreibendem Warten habe die Bevölkerung den Ausbruch des Ersten Weltkrieges geradezu euphorisch begrüßt. Scharen von Kriegsfreiwilligen seien zu den Musterungsstätten geeilt, die den Andrang gar nicht hätten fassen können. Geradezu selbstverständlich dienen die Bilder von jubelnden großstädtischen Massen oder blumenbekränzten Soldatenzügen zur Illustration einer Geschichts'

Vgl. etwa die einschlägigen Beiträge in dem Tübingen 1971 erschienenen Sammelband Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923-, Magill, Defense, S. VI u. IX; Picht, „Vaterland", S. 736 u. 746 ff., oder noch jüngst Moshe Zimmermann, Die deutschen Juden 1914-1945, München 1997, S. 3.

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Das deutsche Judentum im Weltkrieg

auffassung, die ausgeprägt ästhetische und bisweilen verharmlosende Züge trägt.^ Das Bild überwältigender Kriegsbegeisterung im August 1914 hat allerdings Risse bekommen. Bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten wies Jean-Jacques Becker nach, daß der überwiegende Teil der französischen Bevölkerung den Krieg nicht gewollt habe.^ In Deutschland relativierten vornehmlich Lokal- und Regionalstudien die schematische Vorstellung vom Kriegsenthusiasmus eines ganzen Volkes. Ähnlich wie in Frankreich zeigte sich dabei ein starkes Gefälle zwischen Stadt und Land."* Überdies erbrachte die Analyse von Presseartikeln, Chroniken und Polizeiberichten auch für die Großstädte divergierende Befunde, die von schwankenden Stimmungslagen der Bevölkerung über Hamsterkäufe und Sturm auf die Banken bis hin zu offenem politischen Protest reichen.^ Insbesondere die sozialdemokratische Arbeiterschaft zeigte keine sonderliche Kriegsbereitschaft. Statt dessen überwogen persönliche Sorgen und eine Resignation, die nicht zuletzt aus der Ohnmacht gegenüber den politischen Entwicklungen und dem Handlungskalkül der eigenen Parteispitze resultierte.® Selbst die ersten Siegesmeldungen riefen unter den Berliner Arbeitern wenig Enthusiasmus hervor. Die Alltagsprobleme lasteten so drückend auf den Familien, daß sich eine schäumende Kriegsbegeisterung wie im Bildungsbürgertum nur schwer entfalten konnte.' In der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung herrscht allerdings noch jene monolithische Vorstellung vom „Augusterlebnis" vor, die eine mentalitätshistorisch orientierte Weltkriegsforschung inzwischen erfolg-

Die Darstellungen konzentrieren sich zumeist auf europäische Hauptstädte, wie London, Paris oder Berlin, und die letzten Juli- bzw. ersten Augusttage. Literarisch glanzvoll: Eksteins, Tanz, S. 9 3 - 1 0 5 , und Gunther Mai, Das Ende des Kaiserreichs. Politik und Kriegführung im Ersten Weltkrieg, 2. Aufl. München 1993, S. 9 - 3 0 . Jean-Jacques Becker, 1914. Comment les Frangais sont entres dans la guerre. Contribution a l 'etude de l 'opinion publique printemps-ete 1914, Paris 1977. In Anschauungsfiille und begrifflicher Klarheit herausragend: Ziemann, Front; eine gelungene Fallstudie bietet: Christian Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914, Essen 1998. Dazu umfassend und methodisch versiert: Jeffrey T. Verhey, Der „Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000. Vgl. Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1994, bes. S. 158-164. Ders., „Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Entstehungszusammenhänge, Grenzen und ideologische Strukturen", in: Marcel van der Linden u. Gottfried Mergner (Hgg.), Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Bonn 1991, S. 7 3 - 8 7 , hier S. 79 f

August 1914

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reich differenziert hat. Selbst Peter Pulzer, der den Enthusiasmus der jüdischen Bevölkerung nicht überbetont, läßt doch keinen Zweifel an der mentalitätsprägenden Wirkung der ersten Augusttage.^ Auch die Lokalstudien bewegen sich innerhalb dieses Interpretationsrahmens. Erika Hirsch spricht von der „allgemeinen Kriegsbegeisterung" der Hamburger Juden, und Stefanie Schüler-Springorum konstatiert für das Königsberger Judentum sogar einen „Taumel nationalistischer Begeisterung", obwohl sie sehr wohl um die Ängste in der Bevölkerung vor einer russischen Invasion weiß. Gerade die „Einebnung" divergierender Befunde ist jedoch ein Indiz für die Anwendung historischer Deutungsmuster, die ihre Überzeugungskraft eher narrativen Konventionen als empirischer Überprüfung verdanken.' Ein besonders bemerkenswertes Beispiel bietet der Journalist und Historiker Volker Ullrich, der zwar in bilderstürmerischer Diktion den „Mythos vom Augusterlebnis" attackiert. Wendet er sich jedoch dem Feld der deutsch-jüdischen Geschichte zu, so hat er dies vergessen und geht wie selbstverständlich von einem allgemeinen „patriotische[n] Überschwang" aus, der im Judentum einen „begeisterten Widerhall" gefunden habe.'" Dies ist freilich wenig plausibel. Beispielsweise liegt die Vermutung nahe, daß das Landjudentum ähnliche Vorbehalte gegenüber dem Krieg an den Tag legte wie die übrige ländliche Bevölkerung. Die erste Regionalstudie von Richard Mehler bestätigt jedenfalls diese Hypothese. Unter den 280 jüdischen Kriegsteilnehmern aus der bayerischen Rhön befanden sich gerade einmal zwei Freiwillige." Beim Abschiedsgottesdienst in der Synagoge des Städtchens Tann herrschte denn auch alles andere als Jubelstimmung. Statt dessen hielt die Schulchronik die „große Trauer, tiefe Niedergeschlagenheit und Besorgnis" der Gläubigen fest.'^ Gleichwohl sollte man sich davor hüten, das „Kind mit dem Bade auszuschütten" und das Ausmaß von Kriegszustimmung insbesondere im Bürgertum gänzlich zu marginalisieren. Bis zum 11. August 1914 meldePeter Pulzer, „Der Erste Weltkrieg", in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, hg. im Auftrag des Leo-Baeck-Instituts v. Michael A. Meyer unter Mitw. v. Michael Brenner, Bd. 3: Umstrittene Integration 1871-1918, v. Steven M. Lowenstein u.a., München 1997, S. 3 5 5 - 3 8 0 . Erika Hirsch, Jüdisches Vereinsleben in Hamburg bis zum Ersten Weltkrieg. Jüdisches Selbstverständnis zwischen Antisemitismus und Assimilation, Frankfurt am Main usw. 1996, S. 190; Stefanie Schüler-Springorum, Die jüdische Minderheit in Königsberg/Preußen, 1871-1945, Göttingen 1996, S. 193. Vgl. Volker Ullrich, „Die Legende vom Augusterlebnis", in: DIE ZEIT, Nr. 31 vom 29. Juli 1994, S. 12, und Ders., „Dazu hält man für sein Land den Schädel hin!", in: DIE ZEIT, Nr. 42 vom 11. Oktober 1996, S. 46; dort auch die Zitate. Richard Mehler, Juden in der bayerischen Rhön im 19. Jahrhundert, phil. Diss., Würzburg 2001, S. 351; ich danke Richard Mehler herzlich für die Einsichtnahme in das noch ungedruckte Manuskript. Ebd., S. 350.

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Das deutsche Judentum im Weltkrieg

ten sich in Deutschland über 260.000 Männer kriegsfreiwillig, von denen etwa 144.000 rekrutiert wurden. Die Gesamtzahl der Kriegsfreiwilligen betrug bis Monatsende ungefähr 185.000, der überwiegende Teil von ihnen war akademisch gebildet.'^ Viele von ihnen empfanden es als Makel oder persönliche Zurücksetzung, wenn sie nicht für den Frontdienst akzeptiert wurden. Der Jenaer Psychiater Otto Binswanger berichtet sogar über „mehrere Fälle von Schwermut", die er aus diesem Grund in seiner Klinik zu behandeln hatte. Relativierend fügte er freilich hinzu, daß „die tieferen Ursachen" für die Depression „schon vorher bestanden haben".''* Die Druckereien arbeiteten auf Hochtouren, um das Übermaß vaterländischer Publikationen zu vervielfältigen. Die Zeitgenossen sprachen von anderthalb Millionen patriotischen Gedichten in Deutschland allein im August 1914, und schon die Akzeptanz dieser kühnen Schätzung ist ein ideologiehistorischer Befund ersten Ranges.'^ Dabei dürften die Verse ebenso Ausdruck des gestiegenen Sinnbedarfs sein, wie sie - mit unzureichenden Mitteln - Abhilfe zu geben versprachen. Auch an der professoralen Verherriichung des „nationalen Erweckungserlebnisses" gibt es wenig zu deuteln, selbst wenn die Zahl der publizistisch aktiven Professoren geringer war als bislang angenommen wurde.'® Unter den politisch Verantwortlichen scheint es so etwas wie einen „Kriegskonsens" gegeben zu haben, der sich auf die Vertreter von „Besitz und Bildung" stützen konnte.'^ Jedenfalls herrschte in der „Legitimationsliteratur" des August 1914 ein nationalistisches Unisono vor, das die Unterscheidbarkeit der verschiedenen Standpunkte erheblich erschwert. Der Kriegsausbruch löste auch bei vielen deutsch-jüdischen Intellektuellen eine starke Identifikation mit dem Vaterland aus. Unter ihnen befanden sich Angehörige beinahe aller politischen und weltanschaulichen

Zahlenangaben nach: Verhey, Geist, S. 168 fF. Otto Binswanger, Die seelischen Wirkungen des Krieges, Stuttgart u. Berlin 1914, S . 2 1 . Zur Kriegslyrik im August 1914 vgl. Verhey, Geist, S. 195; Klaus Vondung, „Propaganda oder Sinndeutung?", in: Ders. (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980, S. 1 1 ^ 1 , hier S. 13 f., und Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992, S. 299 f. Vgl. Sylvia Paletschek, „Tübinger Hochschullehrer im Ersten Weltkrieg: Kriegserfahrungen an der ,Heimatfront' Universität und im Feld", in: Gerhard Hirschfeld u.a. (Hgg.), „Kriegserfahrungen". Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997, S. 83-106. Dazu ausführlich die komparativ angelegte Untersuchung von Thomas E. Raithel. Das „ Wunder" der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996, S. 504.

August 1914

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Lager.'® Die Allianz der Kriegsbefürworter reichte vom „Dichterfürsten" Julius Bab über den einflußreichen Rabbiner Nehemia Anton Nobel bis zu einem renommierten Psychologen wie William Stern. Jugendbewegte Zionisten wie Moses Calvary und orthodoxe Querdenker wie der Religionsphilosoph Joseph Wohlgemuth stimmten in ihrer Betonung der deutschen Unschuld überein. Zu den bekannten jüdischen Intellektuellen, die dem Krieg einen Sinn abgewannen, gehörte Martin Buber. Dem befreundeten Religionsphilosophen Elijahu Rappeport schrieb er am 10. September 1914 die emphatischen Worte: „Die Zeit ist freilich wunderschön, mit der Gewalt ihrer Wirklichkeit und mit dieser ihrer Forderung an jeden von uns."" Auch in Bubers Umfeld huldigte man in den ersten Kriegsmonaten einer „Philosophie der Tat". Wichtiger als die Analyse der politischen Situation war für Bubers Anhänger die kulturelle Einschätzung der Gegenwart. Da diese als inhaltsleer und materialistisch empfunden wurde, begrüßte man den Krieg als „Aufbruch zu neuen Ufern". Kurt Singer sah etwa das „Wesentliche der Zeit" darin, „dass der Bann von unserem Tun genommen ist, dass die trübe Lauge der Möglichkeiten zur Tat kristallisiert".^® Buber bemühte sich intensiv darum, den Kontakt zu den Angehörigen des Prager „Bar Kochba" aufrechtzuerhalten, deren Militärdienst ihm beneidenswert erschien. Eindringlich beschrieb er Hans Kohn, zu dem er ein besonderes Vertrauensverhältnis unterhielt, die innere Größe der nationalen Erhebung und erinnerte pathetisch an das Wort des JohannesEvangeliums, „,Wer sein Leben liebt, wird es verlieren.'"^' In einem vieldiskutierten Zeitungsartikel für die „Jüdische Rundschau" pries Buber die Tapferkeit der Makkabäer als das eigentliche jüdische Erbe. Die Tatsache, daß Juden für beide Seiten in den Krieg zogen und einander töten mußten, marginalisierte er hingegen mit dem Hinweis darauf, daß sie in ihrem Heroismus gemeinsam „um ihr Judentum" kämpften.^^ Hans Kohn "

"

Dies betonen einhellig: Werner T. Angress, „Das deutsche Militär und die Juden im Ersten Weltkrieg", in: MGM 19 (1976), S. 7 7 - 1 4 6 , hier S. 78; Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800-1923, Madison 1982, S. 142, Saul Friedländer, „Die politischen Veränderungen der Kriegszeit und ihre Auswirkungen auf die Judenfrage", in: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1 9 1 6 1923. Ein Sammelband, hg. v. Werner E. Messe unter Mitw. v. Arnold Paucker, Tübingen 1971, S. 2 7 - 6 5 , hier S. 30, und Pulzer, Jews, S. 195. Brief vom 10. September 1914, Buber, Brießvechsel, Bd. 1, S. 365. Schreiben an Martin Buber vom 15. September 1914; JNUL Jerusalem Ms Var. 350, Nr. 738/3. Buber, Brießvechsel, 1914.

^^

Bd. 1, S. 370 f , hier S. 371; Schreiben vom 30. September

Ders., „Die Tempelweihe. Rede, gehalten bei der Makkabäerfeier der Berliner Zionistischen Vereinigung am 19. Dezember 1914", in: Ders., Die jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen, Berlin 1915, S. 2 3 0 - 2 4 3 [zuerst

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Das deutsche Judentum im Weltkrieg

ging sogar noch einen Schritt weiter und verherrlichte den Krieg als geschichtlich notwendiges Ereignis zur Befreiung des Judentums.^^ Bubers Bejahung des Krieges ist auf den ersten Blick überraschend. Der Protagonist des Kulturzionismus hatte sich vor 1914 für Völkerverständigung eingesetzt und aus diesem Grund den „Forte-Kreis" mit ins Leben gerufen. Seine Mitglieder teilten ähnliche geistesaristokratische Wertvorstellungen und den Drang zur Gesellschaftsreform. Die Gruppe umfaßte so unterschiedliche Gestalten wie den Sozialrevolutionär Gustav Landauer, den norwegischen Dichter Florens Christian Rang, den holländischen Pazifisten Frederik van Eeden und den französischen Schriftsteller Henri Borel; Romain Rolland und Walther Rathenau standen in losem Kontakt. Als dauerhafte Einrichtung erstrebte man einen internationalen „Orden der Genies", dem neben anderen prominenten Denkern Ezra Pound, Rabindranath Tagore und Martin Buber angehören sollten. Allein emotionale Verwerfungen und divergierende Interessen ließen den erlesenen Zirkel den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht lange überdauern.2^

Nüchterne Lagebeurteilungen hatten im deutschen Judentum während der ersten Kriegstage keine Konjunktur. Zu den Ausnahmen gehörte der sozialkritische Autor und Gründer der Zeitschrift „Die Schaubühne" Siegfried Jacobson, der am 4. August 1914 ironisch in sein Tagebuch schrieb: „Nun meine Seele ist im Zweifel, ob sie grade jetzt einen Aufschwung nehmen würde." Die Stimmung der Berliner Bevölkerung brachte er am selben Tag auf die prägnante Formel „,Jubel aus Angst'", und er zögerte nicht, von „Massenhypnose" und „Kriegspsychose" zu sprechen. Hierbei ist allerdings auch mitzubedenken, daß das Kriegstagebuch, das ohne nennenswerte zeitliche Verzögerung in der „Schaubühne" erschien, von vornherein als journalistische Publikation in politischer Absicht konzipiert war.^' Dennoch ist es ein bemerkenswertes Dokument filr JR Nr. 1 vom 1. Januar 1915, S. 2 ff.] hier S. 232; ausführlicher zu Bubers Kriegsmetaphysiic unten Kap. 4.2. Vgl. Kohns ungedruckt gebliebenes Gedicht „Nicht allein fürs Vaterland", dessen erste Strophe mit den Versen endet: „Zu befreien die Juden aller Welten / Soll heute der Entscheidungskampf gelten! Auf, Juden herbeil" (LBI N e w York AR 259, Box 21, Polder 1). Vgl. Christine Holste, Der Forte-Kreis (1910-1915). schen Versuchs, Stuttgart 1992, bes. S. 58-71. 2S

Rekonstruktion

eines

utopi-

Hier wiedergegeben nach der Buchfassung: Siegfried Jacobson, Die ersten Tage, Konstanz 1916; ebd, S. 28 ff., die Zitate vom 4. August. - Vgl. auch Schnitzlers Tagebucheintrag vom 5. August, der die Ratlosigkeit der Menschen nach Englands Kriegserklärung beschreibt und die lakonischen Worte enthält: „Der Weltkrieg. Der Weltruin." (Arthur Schnitzler, Tagebuch 1913-1916, unter Mitw. v. Peter Michael Braunswarth u.a. hg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2. Aufl. Wien 1999, S. 128 f , hierS. 129).

August 1914

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das Ausmaß an Beobachtungsschärfe und innerlicher Distanz, das selbst am Tag der kaiserlichen Thronrede unter dem unmittelbaren Eindruck der Berliner Massenstimmung möglich w a r . Allenthalben herrschte bei Kriegsausbruch ein mißtrauisches Klima und politisch „unzuverlässige Personen" wurden überwacht oder gar prophylaktisch verhaftet. Nur wenige jüdische Intellektuelle bekannten sich wie Albert Einstein zu einem entschiedenen Pazifismus. Bereits am 19. August teilte er Paul Ehrenfels mit, wie sehr er vom barbarischen Charakter der Ereignisse überzeugt sei.^® Ähnlich reagierte der junge Ernst Bloch, der mit bitterem Spott den „Edelmut" der Daheimgebliebenen karikierte: „Weiber wünschten Blut zu sehen und Wunden, um sie engelsrein zu verbinden. Heimsoldaten ohne Ende, rohe Spießer und Dummköpfe, die sich das Gehirn an den Festreden verdorben haben, sind überrascht, ein ,solches' Volk zu sein und wissen nicht genug die Zeit zu preisen, die endlich aus Sozialisten eine Hammelherde machte und aus dem Blitz des Geistes einen Gassenhauer."^' Zur kleinen Gruppe von Zionisten, die leidenschaftlich, aber erfolglos für den Frieden eintrat, gehörte der sechzehnjährige Gershom Scholem. Voller Empörung äußerte er sich am 7. September 1914 gegenüber seinem Bruder Werner über die patriotische Haltung der Sozialdemokratie. Weder die Gewährung der Kriegskredite noch der Tod des jüdischen Reichstagsabgeordneten Ludwig Frank war für ihn in irgendeiner Hinsicht rühmenswert. Vielmehr beurteilte Gershom Scholem die Zeitereignisse als „Massenmord", der zu Unrecht als „Kulturkrieg" hypostasiert werde.^^ Nachdrücklich unterstrich er in seinem Tagebuch die generationsspezifische Dimension des „Kriegseriebnisses", das nur von wenigen als sinnloses Gemetzel entlarvt werde, dem die Jugend Europas zum Opfer falle. „Schickt doch die alten Greise in den Krieg; daß die sich totschlagen, aber raubt uns nicht das junge Blut. Das ist gemein gehandelt gegen die Zukunft des Gemeinwesens. [...] Aber die Jugend. Sie denkt ja, ,man' ,muß', sonst ist man

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Einsteins Haltung skizziert: Rivka Horwitz, „Voices of Opposition to the First World War among Jewish Thinkers", in: LBIYB 33 (1988), S. 2 3 3 - 2 5 9 , hier S. 238. Zu den politisch motivierten Verhaftungen in den ersten Augusttagen vgl. Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000, S. 86. Ernst Bloch, „Der Aufmarsch", in: Ders., Durch die Wüste. Kritische Essays, Frankfurt am Main 1964 [abgef 1914], S. 9 f , hier S. 10. Gershom Scholem, Briefe I: 1914-1947, hg. v. Itta Shedietzky, München 1994, S. 3 - 6 , hier S. 5.

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feige und unwürdig. Dagegen ist dann freilich nicht anzukämpfen."^» Im bitter resignativen Ton spiegelte sich wohl nicht zuletzt Scholems Isolation, dessen nüchterne politische Analyse nur von wenigen Altersgenossen verstanden oder gar geteilt wurde. Gleich Scholem zählten Einstein und Bloch zu den Außenseitern, deren Stimmen im erregten Meinungsklima der ersten Kriegsmonate kaum Gehör fanden. Hinzu kam die Zensur, die es dem anarchistischen Dichter Erich Mühsam nicht mehr ratsam erscheinen ließ, seine „Zeitschrift für Menschlichkeit" mit dem vielsagenden Titel „Kain" weiter herauszugeben. Bereits Anfang August 1914 teilte er in einem offenen Brief den Abonnenten seines Blattes mit: „Die über Länder und Völker hereinbrechende Katastrophe ist nicht mehr aufzuhalten. In diesem Augenblick wäre es müßiges Tun, Kritik zu üben oder Schuld auszuteilen. Die Ereignisse nehmen mir, der ich um der Menschlichkeit willen meine Zeitschrift geschaffen habe, die Feder aus der Hand."^" Für die meisten deutschen Juden war es hingegen eine Selbstverständlichkeit, das Vaterland in der „Stunde der Not" zu verteidigen. Doch rechtfertigt dieser Sachverhalt, von einer „spezifisch jüdischen Kriegsbegeisterung" im August 1914 auszugehen? Zunächst ist festzuhalten, daß die gebildeten Kreise aller kriegführenden Nationen die Aufgabe empfanden, das Verhalten ihres Staates zu legitimieren. Französische Intellektuelle beschworen die Überbrükkung politischer Gegensätze in der „union sacree" und hoben die weltgeschichtliche Bedeutung der „Ideen von 1789" hervor. In England verherrlichte man die parlamentarische Monarchie wie die individuellen Freiheitsrechte, und in Deutschland propagierte man die „Ideen von 1914", die dem deutschen „Staatsorganismus" und der preußischen Pflichtethik eine besondere Weihe verliehen.^' Überall aber drückten die 29

Ders., Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 1. Halbband 1 9 1 3 1917, unter Mitarb. v. Herbert Kopp-Oberstebrink, hg. v. Karlfried Gründer u. Friedrich Niewöhner, Frankfurt am Main 1995, S. 57 ff., Eintragung vom 21. November 1914, hierS. 58. Zit. nach: Paul Raabe, Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus. Repertorium der Zeitschriften, Jahrbücher, Anthologien, Sammelwerke. Schriftenreihen undAlmanache 1910-1921, Stuttgart 1964, S. 38. Vgl. Reinhard Rürup, „Der,Geist von 1914' in Deutschland. Kriegsbegeisterung und Ideologisierung des Krieges im Ersten Weltkrieg", in: Bernd Hüppauf (Hg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, Königstein im Taunus 1984, S. 1-30, sowie die komparativ ausgerichteten Studien von Roland Stromberg, Redemption by War. The Intellec-

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Intellektuellen ihre Empörung darüber aus, daß ihr Land mitten im tiefsten Frieden überfallen worden sei. Spezifisch war der enorme Loyal itätsdruck, der in den kriegführenden Nationen auf den Juden als einer exponierten Minderheit lastete. Für das wirtschaftlich und gesellschaftlich erfolgreiche deutsche Judentum, das viele als Modellfall geglückter Assimilation einschätzten, galt dies in besonderem Maße. Nach den Emanzipationsgesetzen von 1871 bot sich zum ersten Mal die Möglichkeit, die Verbundenheit mit dem Vaterland unter Beweis zu stellen. Dementsprechend entschieden fielen die Erklärungen jüdischer Verbände aus. Der Leitartikel der „K.C.-Blätter", einer Monatsschrift der liberal orientierten Studentenverbände, der am 1. August noch vor Kriegsbeginn erschien, stellte heraus, daß es im „Moment der Gefahr" für alle deutschen Juden nur noch die vaterländische Option gebe. Mit Blick auf die zionistischen Organisationen wurde konstatiert: „Und auch diejenigen unserer Glaubensgenossen, welche durch jene Rassentheorien oder durch die antisemitischen Strömungen verwirrt, selbst an ihrem Deutschtum zu zweifeln begonnen haben, auch sie werden in diesen Tagen klar empfunden haben, wohin sie gehören. Auch sie werden geflihlt haben, wie innig sie mit dem deutschen Volke mit deutscher Kultur und unserer deutschen Heimat verwachsen sind Und in der Tat war es auch unter den Anhängern des „Blau-Weiß" nicht strittig, daß man seine „vaterländische Pflicht" zu erfüllen habe. Adalbert Sachs konnte sich jedenfalls breiter Zustimmung gewiß sein, wenn er seitens der Bundesleitung dazu aufrief, die eigenen Ideale „auch in diesen kriegerischen Zeiten" zu achten.^^ Ähnlich äußerten sich die großen politischen Organisationen des deutschen Judentums. In allen wichtigen liberal-jüdischen Zeitungen erschien ein gemeinsamer Aufruf des CV und des „Verbandes der Deutschen Juden" (VDJ), zu dem man sich am 1. August entschlossen hatte. In feierlicher Sprache forderte er dazu auf, „in schicksalsernster Stunde" dem bedrohten Vaterland „über das Maß der Pflicht hinaus" zu dienen.^'' Kaum anders sah man dies im zionistischen Lager. Am 7. August unterstrich eine gemeinsame Erklärung des „Reichsvereins der deutschen Juden" und

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tuals and 1914, Lawrence 1982, und Robert Wohl, The Generation of 1914, Cambridge, Mass. 1979; ideengeschichtlich nach wie vor zentral: Lübbe, Philosophie. Art. „Krieg oder Frieden?", in: K.C.-Blätter 4 (1913/14), S. 230-235, hier S. 230. Vgl. Hans Tramer, „Jüdischer Wanderbund Blau-Weiß. Ein Beitrag zu seiner äußeren Geschichte", in: BLBI 5 (1962), S. 2 3 ^ 3 , hier S. 32. Siehe auch Hans Kohns Gedicht „,Blau Weiß"'; LBI New York AR 259, Box 21, Folder 1. Hier zit. nach: JP Nr. 32 vom 7. August 1914, S. 321 f.

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der ZVfD, daß der „Adel unserer vieltausendjährigen Geschichte" die deutschen Juden zu besonderer Hingabe verpflichte.^' Seitens des orthodoxen „Israelit" entschied man sich dafür, ein überschwenglich patriotisches Gedicht aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 abzudrucken. Zudem betonte der Leitartikel vom 6. August, daß die ,^anze Weltgeschichte als [...] große Leidensschule'' aufgefaßt werden müsse.^® Neben protestantischen und katholischen Geistlichen spendeten auch Rabbiner am Kriegsbettag, den der Kaiser für den 5. August ausgerufen hatte, den deutschen Waffen ihren Segen. Zwischen der Haltung orthodoxer und liberaler Rabbiner bestand kein substantieller Unterschied, wenn auch die orthodoxe Rhetorik mit ihrer eindringlichen Beschwörung altjüdischer Tugenden etwas volltönender geklungen haben mag. Immer wieder erinnerten jüdische Geistliche freilich auch daran, daß der Krieg den Zusammenbruch der europäischen Kultur bedeute und die beste Garantie für einen deutschen Sieg in der eigenen Unschuld am Kriegsausbruch liege." In christlichen Gottesdiensten überwog hingegen jene Verherrlichung des Vaterlands, die vom Sieg der kaiserlichen Armee eine Ära deutscher Hegemonie erwartete. Auf katholischer Seite nutzte man die Möglichkeit, nationale Loyalität öffentlich unter Beweis zu stellen, während protestantische Prediger sich in ihrem bisherigen Weltbild rundweg bestätigt sahen. Gottes Wirken in der Geschichte sei schon während der Reichseinigung offenkundig geworden und werde sich im Schicksalskampf gegen eine „Welt von Feinden" erneut beweisen.^® Eine Analyse der Reden, die beim Königsberger Gedenkgottesdienst 1914 gehalten wurden, vermag die graduellen Unterschiede in der Rechtfertigung des Krieges zu illustrieren. Der protestantische Geistliche, Generalsuperintendent Schöttler, entschied sich für eine besonders suggestive Rhetorik. Er beschwor nicht nur die Größe des historischen Augenblicks und die Bedeutung der deutschen JR Nr. 32 vom 7. August 1914, S. 343. - Das Ausmaß der zionistischen Solidarität ging sogar soweit, daß eine palästinensische Legion, „ueber den Taurus wanderte", um sich in die deutsche Armee einzugliedern. Vgl. dazu Sammy Gronemanns ungedruckte „Erinnerungen 1875-1918"; LBI N e w York ME 203, S. 243, sowie Michael Brenner, Kultur, S. 42. 36

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Art. „Krieg", in: Der Israelit Nr. 32 vom 6. August 1914, S. 1 f., hier S. 1; vgl. auch Mordechai Breuer, Orthodoxie, S. 342. Ebd., S. 343. Als stimmungsvollen Bericht über die Gottesdienste in den Berliner Synagogen vgl. den Art. „Der allgemeine Bettag", der mit dem immer wieder angeführten Satz, beginnt: „Not lehrt beten!" (IDR 20 [1914], S. 3 4 4 - 3 4 9 , hier S. 344). Vgl. Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie 1870-1918, München 1974, bes. S. 3 7 - 4 8 , und Heinrich Missalla, „Gott mit uns". Die deutsche katholische Kriegspredigt 1914-1918, München 1968. Detailscharf zur katholischen Kriegsfrömmigkeit in den ersten Augusttagen: Ziemann, Front, S. 50 f.

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Tugenden, sondern zeigte zudem eine Vorliebe für apokalyptische Bilder. Nicht nur die Stunde der Vergeltung gegenüber den äußeren Feinden sei gekommen, sondern auch die Stunde der inneren Abrechnung mit jenen, die Gott in Friedenszeiten zu wenig gefürchtet hätten.^' Maßvoller trat Pfarrer Schulz auf, der Wilhelm II. als Friedensfürsten verklärte und die innere Einheit des deutschen Volkes gegen die verhängnisvolle Vergangenheit des Kulturkampfs ausspielte. Doch auch er betrachtete den Krieg als „Strafgericht Gottes" für begangene Sünden.''" Am nachdenklichsten predigte Rabbiner Vogelstein, der an die Einheit der Konfessionen in der Stunde der Not erinnerte. Gleichzeitig wurde der messianische Charakter des Buches „Daniel" betont, demzufolge ein „große[r] Weltenbrand" dem endgültigen Frieden vorangehe. Die apokalyptische Denkfigur entfaltete jedoch keine Eigendynamik: Letztlich ging es Vogelstein um die „sittliche Kultur der Menschheit", deren Bestand durch den Sieg des deutschen Heeres garantiert werde.'" Die „Burgfriedensrede" vom 4. August hatte für das deutsche Judentum eine herausgehobene Bedeutung. Den Satz Wilhelms II. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche" bezog man unmittelbar auf die eigene Lage, die Öffnung der Offiziersränge für jüdische Bewerber wurde weithin begrüßt."*^ Viele Juden hofften, daß individuelle Leistung und kollektive Loyalität jetzt endlich eine höhere Wertschätzung erfahren würden. Und manch einer glaubte gar, die kaiserliche Ansprache habe ein Zeitalter endgültiger jüdischer Akzeptanz eingeläutet. Die Erinnerungsliteratur läßt jedenfalls keinen Zweifel daran, wie tief sich die „Burgfriedensrede" dem Gedächtnis der Beteiligten eingeprägt hat.'*^ Hinzu kam, daß der Zar von alters her und erst recht natürlich nach den Pogromen von 1905 als Hauptfeind der deutschen Juden galt, der Krieg gegen seine Schreckensherrschaft mithin vollständig gerechtfertigt erschien. Heinrich Die Kanzelworte am Kriegsbettage. Ein Erinnerungs- und Erbauungsblatt, hg. v. der „Königsberger Woche", Königsberg o.J. [1914], S. 2 f. - Eine andere Einschätzung des Jtldischen Beitrags zum Kriegsbettag nimmt Magill, Defense, S. 119 f., vor, der freilich christliche Predigten nicht zum Vergleich heranzieht. Generell zur Situation Königsbergs als bedrohter Grenzstadt: Schüler-Springorum, Minderheit, S. 193 f. Kanzelworte am Kriegsbettage, S. 7. BeideZitate,ebd., S. 11. 42

Vgl. Angress, „Militär", S. 138, Anm. 185; allgemein zur Rezeption der kaiserlichen Thronrede: Verhey, Geist, S. 118-128. Aus der Vielzahl der Memoiren seien nur die Erinnerungen von Samuel Jacobs (LEI New York ME 328, S. 2 f.) erwähnt, die belegen, wie selbstverständlich auch für orthodoxe Juden das Bekenntnis zu Volk und Vaterland war; aus der Forschungsliteratur vgl. David Brenner, Marketing Identities, S. 143 f., der den ideologischen Charakter des „Burgfriedens" in den Vordergrund rtickt. Pulzer, „Erster Weltkrieg", S. 366, weist zu Recht daraufhin, daß der „Burgfrieden" lediglich eine „Schönwetter-Konstruktion" war.

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Loewe forderte etwa in der „Jüdischen Rundschau" „Rache für Kischinew" und betrachtete das Zarenreich als Hort der „finstersten Reaiction"/'' Diese Sichtweise konnten auch die Juden Österreich-Ungarns nachvoilziehen, wo die ungelöste nationale Frage zahlreiche in Deutschland unbekannte Probleme aufwarf Demgegenüber verlor es an Wichtigkeit, daß in anderen Armeen - insbesondere in der zaristischen - Juden ihren Wehrdienst ableisteten.''^ Gleichwohl sollte nicht aus den Augen verloren werden, daß es für die deutschen Juden neben patriotischen Pflichten auch die Zugehörigkeit zur internationalen jüdischen Gemeinschaft gab. Die russischen Juden nahmen es beispielsweise äußerst skeptisch auf, daß ihr Land zum „Inbegriff der Barbarei" erklärt wurde. Die Tagebuchaufzeichnungen Simon Dubnows von Anfang August 1914 illustrieren, wie doppelbödig sich die patriotischen Verlautbarungen des deutschen Judentums aus ostjüdischer Perspektive ausnahmen. Der Schlachtruf nach „Rache für Kischinew" erschien dem russisch-jüdischen Historiker angesichts der zu erwartenden Entwicklungen inhuman, ja makaber: „In den russischen Armeen kämpfen doch Tausende von Juden und die deutsche Armee wird sich nicht scheuen, denselben Ansiedlungsrayon zu zerstören, der kurz zuvor Schauplatz vom Pogromen war. Die Tragik der Situation ist unbeschreiblich."'*® Auch das von allen Seiten umworbene amerikanische Judentum war keineswegs mehrheitlich von der Gerechtigkeit der „deutschen Sache" überzeugt. In der Neuen Welt stellte man sich - nach lebhaften innerjüdischen Diskussionen - hinter die strikte Neutralitätspolitik der eigenen Regierung. So erklärte Judah L. Magnes, der spätere Präsident der Jerusalemer Universität, bei einer Versammlung der amerikanischen Zionisten am 13. September 1914 in New York den „Großen Krieg" zu einer rein europäischen Katastrophe. Um den humanitären Verpflichtungen gegenüber den Juden aller kriegführenden Nationen gerecht zu werden, empfahl er folgeHeinrich Loewe, „Feinde ringsum!", in: JRNr. 32 vom 7. August 1914, S. 343 f., hier S. 343. Der Romanist Victor Klemperer notierte am 10. August 1914 den verschlungenen Gedanken in sein Tagebuch: „Ich kann mich manchmal des Gedankens nicht erwehren, daß es keinen Blutstropfen wert ist, ob zwischen Kulturländern die Grenze so oder so verläuft. Nur freilich: Es müssen Kulturländer sein. Rußland ist keines, und Frankreich und England helfen dem Kulturfeind Rußland." (Victor Klemperer, Curriculum Vitae. Erinnerungen 1881-1918, hg. v. Walter Nowojski, 2. Buch: 1912-1918, Berlin 1996, S. 187). Vgl. Aschheim, Brothers and Strangers, S. 142, sowie die „Lebenserinnerungen" von Zeev Wilhelm Cohn, die zeigen, wie schwierig die Verständigung zwischen deutschen und französischen Juden nach Kriegsausbruch war; LBI Jerusalem File 94, S. 98. Simon Dubnow, Mein Leben, hg. v. Elias Hurwicz, Berlin 1937, S. 191.

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richtig, iceinen Zollbreit vom Neutralitätskurs abzuweichen.'" Mit dieser Haltung konnte man sich im liberalen deutschen Judentum aus zwei Gründen nicht anfreunden: zum einen galt Amerika als mächtiger potentieller Verbündeter, und zum anderen glaubte man fest an die Gerechtigkeit des deutschen „Verteidigungskrieges". Der Syndicus des CV, Ludwig Holländer, antichambrierte im Januar 1915 beim Auswärtigen Amt, um Hermann Cohen eine Vortragsreise in die USA zu ermöglichen. Dort sollte der angesehene Gelehrte und „Feuerkopf die „Stimmung der kultivierten amerikanischen Juden" im deutschen Sinne beeinflussen.''® Als Cohen dies zu seinem großen Leidwesen versagt blieb, wandte er sich als philosophischer Publizist unmittelbar an das amerikanische Judentum. In der deutschsprachigen „New Yorker Staats-Zeitung" veröffentlichte er einen Artikel, der in emphatischer Sprache die innere Einheit deutscher und jüdischer Kultur beschwor.'" Eine große Resonanz dürfte diesem Essay jedoch nicht beschieden gewesen sein, spiegelte er doch gerade jenes ausgeprägte Vertrauen in die Überlegenheit deutscher Kultur, das in der angelsächsischen Welt weithin als „hybrid" galt.^" Beim Auswärtigen Amt vertraute man eher auf das Engagement jüdischer Wissenschaftler, welche die Verhältnisse in den USA aus eigener Anschauung kannten.'' Doch auch in diesem Fall konnte es zu bedenkliAJA Cincinnati, Felix M. Warburg Papers, Box 166, Felder 9. Zu den Hilfsleistungen amerikanischer Juden während des Weltkrieges: Daniel Soyer, Jewish Immigrant Associations and American Identity in New York 1880-1939, Cambridge, Mass. u. London 1997, S. 161-172, und passim. Die innerzionistische Diskussion in den USA analysiert: Berkowitz, Western Jewry, S. 18 ff. «

Das Folgende nach: PA Bonn WK Nr. 11 adh. 2, R 20944; ebd., fol. 37r-38r, der Brief Holländers an das Auswärtige Amt vom 28. Januar 1915. Hermann Cohen, „,Du sollst nicht einhergehen als ein Verläumder.' Ein Appell an die Juden Amerikas", in: Ders., Kleinere Schriften V: 1913-1915. Bearb. u. eingel. v. Hartwig Wiedebach, Hildesheim, Zürich u. New York 1997, S. 2 9 9 310 [zuerst Sonntagsblatt der New Yorker Staats-Zeitung vom 31. Januar 1915], - Die Originalfassung dieses Artikels konnte bislang von der Cohen-Forschung nicht nachgewiesen werden; sie findet sich: PA Bonn WK Nr. 11 adh. 2, R 20945, fol. lOOr bzw. lOlr. Zitiert wurde bisher nach dem Nachdruck im „Israelitischen Familienblatt" (Nr. 25 vom 24. Juni 1915, S. 9 f ) .

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Die Bedeutung von Cohens eher randständigen Kriegsschrift wurde in der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung bisweilen übertrieben; Eli Barnavi (Hg.), Universale Geschichte der Juden. Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart. Ein historischer Atlas, Wien 1993, S. 211, läßt Cohen sogar seine Reise in die USA antreten. Damit trug man auch dem Wunsch des kaiserlichen Botschafters in Washington Rechnung, der „wiederholt gebeten [hatte], von der Entsendung weiterer Hilfskräfte für die Propagandaarbeit in Amerika abzusehen" (so das Auswärtige Amt in seinem Schreiben an Ludwig Holländer vom 5. Februar 1915; PA Bonn WK Nr. 11 adh. 2, R 20945, fol. 47r-49r, hier fol. 48r-v).

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chen Formen des Übereifers kommen. So setzte der Berliner Psychologe Hugo Münsterberg, der bei Kriegsausbruch als Austauschprofessor an der Harvard University lehrte, all seine Energie in die Propagierung der deutschen Interessen. Von Erfolg war sein Engagement freilich nicht gekrönt: als er 1916 starb, hinterließ er seiner Frau keinen Pfennig und seinen akademischen Kollegen, die sein patriotisches Engagement mit leichtem Kopfschütteln quittiert hatten, die Aufgabe, für sie zu sorgen." Für die Legitimation des Krieges war die viel beschworene „innere Größe" des „Augusterlebnisses" weniger bedeutsam als der Notwehrgedanke. Dies gilt auch für das deutsche Judentum: in Leitartikeln, Rabbinerpredigten und Gedichten steht die Idee eines gerechten Verteidigungskrieges gleichermaßen im Zentrum." Ihre Überzeugungskraft lag nicht zuletzt darin begründet, daß sie sich mühelos mit jenem überhöhten Pflichtbegriff verbinden ließ, der für das Selbstverständnis des preußischdeutschen Militärs konstitutiv war. Nicht nur für das deutsche Judentum bot der Notwehrgedanke eine moralische Stütze, als die Erinnerung an die ersten Augusttage längst verblaßt war.^'* Freilich sollten die jüdischen Spezifika im August 1914 nicht überbetont werden. Die Hoffnungen und Ängste des deutschen Judentums unterschieden sich nicht substantiell von den Gefühlen der übrigen Bevölkerung. Und natürlich gab es auch hier die große Zahl jener, die der Ausbruch des Ersten Weltkrieges vollständig überrascht hatte. Der Münchener Rechtsanwalt Philipp Loewenfeld erinnerte sich, daß er trotz des verschärften Wettrüstens „nicht emstlich an einen Krieg" geglaubt und sich damit „in völliger Übereinstimmung mit der grossen Masse der jüngeren Akademiker" befunden habe. Ein anderer Zeitzeuge aus dem jüdischen Bildungsbürgertum kolportierte die Ansicht seines Vaters, wonach „solch ein Wahnsinn" wie ein Weltkrieg „im 20. Jahrhundert unmöglich" sei." Und Hans Kohn hielt in seiner Sommerfrische den Gedanken an eiVgl. die Bemühungen um eine Fundraising-Aktion für Münsterbergs Witwe; AJA Cincinnati, Jacob H. Schiff Coliection, Box 454, Folder 14. Vgl. Loewe, „Feinde", S. 343; Arthur Kahn, „Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an!", in: JP 45 (1914), S. 41 f., oder J[oseph] W[ohlgemuth], „Der Weltkrieg", in: Jeschurun 1 (1914), S. 2 5 5 - 2 7 2 , hier S. 262 f. Julius Bab ließ sein August 1914 verfaßtes Gedicht „Deutschland — !" mit den Worten ausklingen: „Dann gürte Herz und Busen dir metallen, / und ohne Haß und doch mit festem Sinn / soll dumpf der Schlachtruf deiner Notwehr schallen." (Julius Bab, Menschenstimme. Gedichte aus der Kriegszeit 1914-1918, Stettin 1920, S. 13). Allgemein zur Bedeutung des „Notwehr"-Topos für die Kriegslegitimation: Geinitz, Kriegsfurcht, S. 100-110. Dazu eindringlich: Walther Rathenau, Von kommenden Dingen, Berlin 1917, S. 275 f . HL Harvard bMS Ger 91 (252), Egon Zeitlin; die Einschätzung Loewenfelds findet sich: LBI N e w York ME 404, S. 155. Generell zum weitgehend unerwarteten Kriegsausbruch: Jean-Jacques Becker, 1914, S. 125-131.

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nen nahen Krieg gar für „lächerlich".^^ Selbst unter den herausragenden Intellektuellen zeigte sich nicht jeder vom Emst der Lage überzeugt. Franz Kafka schrieb nach einer Notiz zur deutschen Kriegserklärung an Rußland die unbeteiligten Worte „Nachmittag Schwimmschule" in sein Tagebuch." Die Einberufenen beschäftigte hingegen zuerst das eigene Schicksal und die Sorgen der Daheimgebliebenen. Viele verfaßten rasch ein Testament oder trafen anderweitige Vorkehrungen. Stefan Zweig fand es beispielsweise ratsam, mit seinem Verleger detailliert die Rechte an seinen Büchern zu regeln.'^ Über die Motive und Empfindungen der Beteiligten geben nicht allzu viele Quellen Auskunft. Ein Großteil der Kriegsrhetorik unterwarf sich schlicht dem Diktat der öffentlichen Meinung. Zu den Verfassern martialischer Kriegsprosa zählten mit Vorliebe ältere Autoren wie Gerhart Hauptmann oder Martin Buber, die einerseits das fehlende „Fronterlebnis" zu kompensieren suchten, andererseits aber auch fern der Schützengräben ohne existentielle Bedrohung ein idealisiertes Bild des Krieges entwerfen konnten. Überdies ist die Kriegsrhetorik häufig derart hermetisch, daß jede psychologische Deutung auf gravierende methodische Probleme stößt. Dennoch verstünde man diese Ausfuhrungen falsch, dächte man, die Bedeutung des „Augusterlebnisses" solle gänzlich nivelliert werden. Es bestehen keine Zweifel daran, daß im jüdischen Bildungsbürgertum kurzfristig eine Kriegsbegeisterung auftrat, die nicht nur Sorgen und Ängste beiseite schob, sondern auch nach dem Sieg deutscher Waffen den Anbruch eines neuen und besseren Zeitalters erwartete. Zudem erfreute sich die Illusion vom kurzen Krieg, vom „Spaziergang nach Paris", auch unter deutschen Juden großer Beliebtheit.^' Ähnliches gilt für Österreich-UnTagebuchnotiz vom 22. September 1914, in der Kohn den Kriegsbeginn rückblickend Revue passieren läßt; LBI New York AR 259, Box 23, Folder 2. "

Franz Kafka, Tagebücher 1910-1923, hg. v. Max Brod, Frankfurt am Main 1986 [zuerst Berlin 1935], S. 305, Eintragung vom 2. August 1914.

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Vgl. das Schreiben an Anton Kippenberg vom 4. August 1914; Stefan Zweig, Briefe 1914-1919. Hg. v. Knut Beck u.a., Frankfurt am Main 1998, S. 13.

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So pointiert der Posener Arzt Friedrich Bilski; LBI New York ME 261, S. 28. Zur Selbstverständlichkeit derartiger Fehleinschätzungen vgl. die Erinnerungen des Breslauer Rechtsanwalts Ernst Marcus; HL Harvard bMS Ger 91 (151), S. 9 f. Ihre literarische Verklärung fanden sie bei: Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt am Main 1947, S. 261 f. Doch sollte auch daran erinnert werden, daß Zweig selbst bei Kriegsausbruch keineswegs in einer euphorischen Stimmung war. Am 4. August 1914 schieb er in sein Tagebuch die desillusionierten Zeilen: „Ich glaube an keinen Sieg gegen die ganze Welt - jetzt nur schlafen können, sechs Monate, nichts mehr wissen, diesen Untergang nur nicht erleben, dieses letzte Grauen." (Stefan Zweig, Tagebücher. Hg., mit Anmerkungen und einer Nachbemerkung versehen v. Knut Beck, Frankfurt am Main 1984, S. 83 f., hier S. 84).

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garn. Selbst ein so hellsichtiger Analytiker wie der bei Kriegsausbruch immerhin schon dreißigjährige Journalist Egon Erwin Kisch ließ jede realistische Situationseinschätzung vermissen. Vor seiner Fahrt an die serbische Front reagierte er auf den Wunsch seiner Mutter, ihm „eine dritte Unterhose und ein Nachthemd" mitzugeben, mit der Bemerkung: „,Du glaubst wohl, daß ich in den Dreißigjährigen Krieg ziehe?!'"®" Die Unterschätzung des militärischen Gegners korrelierte in den ersten Kriegstagen mit einem unrealistischen Bild der bevorstehenden Kämpfe. So schrieb Kisch am 3. August 1914 nach Hause: „Liebste Mama, ich bin direkt glücklich. Mein jetziges Leben ist so voll von Neuem, Abwechslungsreichem, Schönem und Abenteuerlichem."^' Äußerungen dieser Art, die den Krieg als männliche Bewährungsprobe auffaßten, waren keine Seltenheit, auch wenn sie aus heutiger Perspektive naiv und beinahe unglaubwürdig wirken. Es dürfte ein vergebliches Unterfangen sein, ein einheitliches jüdisches „Augusterlebnis" aus derart heterogenen Erfahrungen zu destillieren. Das „Gesetz der großen Stunden", das Emest Hamburger mit Blick auf das patriotische Engagement deutscher Juden 1848 und 1870/71 formulierte, besitzt indes wohl auch für 1914 Gültigkeit." Nur in historischen Ausnahmesituationen erhält eine Minderheit die Gelegenheit, ausdrücklich für ihre gesellschaftliche Akzeptanz zu streiten. Es spricht allerdings wenig dafür, dieses Verhalten nachträglich zu heroisieren und das Moment der Freiwilligkeit überzubetonen. Alle Fraktionen des deutschen Judentums waren sich darüber im klaren, wie intensiv ihr Verhalten von der übrigen Gesellschaft beobachtet wurde. Aus diesem Grund hielt man sich peinlich genau an geltende Sprachregelungen und legte schon früh Aufzeichnungen an, die den eigenen Kriegseinsatz möglichst eindrucksvoll dokumentieren sollten. Vormals gesellschaftskritische jüdische Schriftsteller und Journalisten standen unter einem besonderen Anpassungsdruck, was zu manchem intellektuellen Wendemanöver Anlaß gab.®^ Eine betont vaterländische Gesinnung legten viele Konvertiten, von Fritz Haber bis zu Edmund Husserl, an den Tag. Auch sie fühlten sich zu einem hohen Maß an Loyalität verpflichtet - nicht zuletzt weil sie wußten, wie genau ihre Umwelt ihre jüdische Herkunft registrierte. Doch so unterschiedlich die Motive überzeugter Patrioten im August 1914 auch gewe-

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Egon Erwin Kisch, „Schreib S. 12.

das auf Kisch!" Das Kriegstagebuch,

Berlin 1930,

Zit. nach: Michael Horowitz, Ein Leben für die Zeitung. Der rasende Reporter Erwin Kisch, Wien 1985, S. 39. Hamburger, Juden, S. 558; vgl. auch Maurer, Ostjuden, S. 111 f. Vgl. Sammy Gronemanns feinen Spott auf den „allgemeinen Verbrüderungstaumel" der ersten Augusttage, von dem selbst der distanzierte Berliner Starjournalist Alfred Kerr ergriffen worden sei; LBI N e w York ME 203, S. 246 ff., Zitat S. 246.

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sen sein mögen, mit zunehmender Kriegsdauer und -härte wurde es immer schwieriger, an einem idealisierten Weltbild festzuhalten.

3.2. Patriotismus unter schwierigen Bedingungen In den ersten Kriegswochen setzte man in Deutschland alle Hoffnungen in die rasche Niederwerfung Frankreichs und vertraute auf den Erfolg des Schlieffen-Plans. Die Verletzung der belgischen Neutralität nahmen die meisten billigend in Kauf Gerade im deutschen Bildungsbürgertum hielt man völkerrechtliche Erwägungen für wertlos und vertrat die Maxime „Not kennt kein Gebot". Diese rustikale Form des Machiavellismus erfreute sich ähnlich hoher Beliebtheit wie nationalistische Typisierungen und Feindbilder, die sich gegen die englische „Krämernation", den „Erbfeind" Frankreich oder die „asiatische Despotie" des Zaren richteten. Hinsichtlich des Einmarsches in Belgien legten jüdische Intellektuelle keine besondere Sensibilität an den Tag. Im liberalen „Israelitischen Familienblatt" kommentierte ein unbekannter Autor „Die Neutralität Belgiens im Lichte der Bibel". In Anbetracht der Tatsache, daß schon der Krieg gegen die Amoriter gerechtfertigt gewesen sei, weil sie dem Volk Israel den Durchmarsch nach Kanaan verwehrt hatten, konnte er nichts Verwerfliches an der Verletzung von Belgiens Status erkennen. Flankierend verwies er darauf, daß Gerüchten zufolge eine englische Invasion bevorgestanden habe, mithin der Einmarsch schon aus militärstrategischen Gründen unvermeidlich gewesen sei.^'* Ein so feinfühliger Schriftsteller wie Stefan Zweig haderte mit seinem alten Freund Emile Verhaeren, der die deutsche Besatzungspolitik scharf kritisiert hatte. Wie so viele Intellektuelle hielt sich Zweig für besser informiert, als er es eigentlich war, und die alliierte Berichterstattung für reine Propaganda.^' Der Pazifist Adolf Riesenfeld erinnerte sich, daß er

IFNr. 34 vom 21. August 1914, S. 3; argumentativ sehr ähnlich äußerten sich der Berliner Prediger Joseph Lehmann in seinem Artikel „Kriegslieder in der Bibel" (GJGB Nr. 1 vom 8. Januar 1915, S. 3 ff., hier S. 3) und J[oseph] Wohlgemuth, der in seinem Essay „Der Krieg und die Moral" (Jeschurun 1 [1914], S. 334-350, hier S. 348 f.) zugleich auf die prinzipielle Wahrhaftigkeit des deutschen Charakters hinwies. - Allgemein zur Reaktion der jüdischen Presse in Deutschland auf die Verletzung der belgischen Neutralität: Magill, Defense, S. 123 ff. An Anton Kippenberg schrieb Zweig mit Blick auf die Empörung des belgischen Dichters: „Denn wer die französischen und englischen Zeitungen allein las - wofür muß der uns halten!" (Stefan Zweig, Briefe, S. 27 f , hier S. 27; undatierte Postkarte, vermutlich, vom 4. November 1914). Vgl. ferner den Brief von Georg Brandes an Stefan Zweig vom 26. April 1915, RL Fredonia, Zweig Nr. 25, sowie

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den Angriff auf Belgien ganz selbstverständlich als „Notwehr" betrachtet habe.®^ Der in der Regel zu maßvollen Einschätzungen neigende Victor Klemperer urteilte ähnlich apodiktisch. Nach der Bombardierung Antwerpens durch deutsche Zeppeline schrieb er in sein Tagebuch: „Das Völkerrecht ist eine Vogelscheuche, die selbst der dümmste Spatz nicht ernst nimmt."^' Sogar das viertägige „Strafgericht" über Löwen fand seine Verteidiger, die gegen „Franktireure" jede Maßnahme billigten und den Brand der altehrwürdigen Löwener Universitätsbibliothek herunterspielten oder gar vollständig entschuldigten. Neben dem Notwehrprinzip rekurrierte man gern auf die „Doppelzüngigkeit" der alliierten Propaganda und fragwürdige historische Kontinuitäten, die von der Kanonade Kopenhagens durch englische Schiffe bis zur Zerschneidung der Atlantikkabel reichten. Immerhin bewahrten sich auch überzeugte jüdische Patrioten wie der Berliner Literaturhistoriker Ludwig Geiger ein Gespür für den Verlust, den die Welt durch die Zerstörung der Löwener Bibliothek erlitten hatte.®^ Als humanitäres Fundament für eine künftige Verständigung zwischen den Nationen war dies freilich zu wenig. Der „Krieg der Geister" gewann an Brisanz, als 93 führende Vertreter des deutschen Kulturlebens am 4. Oktober 1914 die Doppelmoral der Gegenseite anprangerten. Mit Entschiedenheit behaupteten sie in ihrer öffentlichen Erklärung, die in allen großen deutschen Zeitungen erschien und alsbald in nicht weniger als zehn Sprachen übersetzt wurde, daß Deutschland weder am Kriegsausbruch schuld gewesen sei noch die belgische Neutralität „freventlich" verletzt habe.®' Ebensowenig sei die bel-

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genereil Donald A. Prater, Stefan Zweig. Das Leben eines Ungeduldigen, München u. Wien 1981, S. III f. LBI N e w York AR 7186, Tagebuch, Bd. 2, S. 231-235, Eintragung vom 14. Mai 1945, hierS. 231. Klemperer, Curriculum Vitae, S. 196 ff., Eintragung vom 28. August 1914, hier S. 198. Ludwig Geiger, Krieg und Kultur, Berlin 1915, S. 5. - Den historischen Kontext skizzieren: Alan Kramer, „.Greueltaten'. Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich", in: Gerhard Hirschfeld u.a. (Hgg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch ... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 85-114, und Wolfgang Schivelbusch, Eine Ruine im Krieg der Geister Die Bibliothek von Löwen August 1914 bis Mai 1940, Frankfurt am Main 1993, S. 11-50. Zum historischen Hintergrund nun monographisch: Jürgen u. Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt!". Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1997. Ungewöhnlich materialreich bereits Bernhard vom Brocke, „,Wissenschaft und Militarismus'. Der Aufruf der 93 ,An die Kulturwelt!' und der Zusammenbruch der internationalen Gelehrtenrepublik im Ersten Weltkrieg", in: William M. Calder III, Helmut Flashar u. Theodor Lindken (Hgg.), Wilamowitz nach 50 Jahren, Darm-

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gische Zivilbevölkerung „angetastet" oder „gegen Löwen gewütet" worden. Eigens würdigte man die Bedeutung des preußischen Militarismus, ohne den „die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt" worden wäre, und beschwor pathetisch die Tradition Goethes, Kants und Beethovens zur Rechtfertigung des deutschen „Verteidigungskriegs". Zu den Unterzeichnern, deren Altersdurchschnitt bei sechzig Jahren lag,'" gehörten prominente Intellektuelle jüdischer Herkunft wie Paul Ehrlich, Fritz Haber, Paul Laband, Max Liebermann, Max Reinhart oder Richard Willstätter. Der Initiator des Aufrufs, der Schriftsteller und Vorsitzende des Berliner „Goethebundes" Ludwig Fulda, bekannte sich zum jüdischen Glauben. Sie alle einte ein gutes patriotisches Gewissen sowie die Empörung über die alliierte Kritik an der deutschen Kriegführung. Politisch war das Manifest jedoch mehr als naiv. Denn zum einen verkannten die erzürnten Honoratioren, daß sie ihr gelehrtes Renommee für Aussagen in Anspruch nahmen, bei denen es ihnen an Sachkompetenz und vor allem an Wissen fehlte. Zum anderen verschätzten sie, wie die - defensiv gemeinte, im Ton aber gleichermaßen schulmeisterliche wie hochtrabende - Erklärung auf das Ausland wirken mußte. Spätestens seit diesem Zeitpunkt verfestigte sich das Stereotyp deutscher Überheblichkeit, das um so verhängnisvoller wirkte, als der Stolz auf das kulturelle Erbe zum integralen Bestandteil der deutschen Weltkriegsideologie gehörte.^' Umgekehrt betonte man in Deutschland die „Schamlosigkeit" der alliierten Propaganda, die von Fairneß und Gerechtigkeit nichts wissen wolle. Henri Bergson, der in den ersten Kriegstagen Deutschlands „Barbarei" wortgewaltig attackiert hatte, galt den meisten deutsch-jüdischen Wissenschaftlern als Inbegriff französischer Dekadenz und Wortbrüchigkeit. Man rekurrierte auf seine ostjüdischen Vorfahren und hob gleichzeitig hervor, wie sehr sich das deutsche vom französischen Judentum unterscheide.^^



Stadt 1985, S. 6 4 9 - 7 1 9 ; ebd., S. 718, der Text des Aufrufs und die Namen der Unterzeichner. Ebd., S. 658. Zur icatastrophalen Wirkungsgeschichte des Manifests: Ebd., S. 664-682, sowie Ungern-Stemberg, Aufruf, S. 80-111. Vgl. Fritz Mauthner, „Wer ist Henri Bergson?", in: BT Nr. 465 vom 13. September 1914, 2. Beiblatt, und den Brief Hermann Cohens an Paul Natorp vom 23. August 1914; Helmut Holzhey, Cohen und Natorp, Bd. 2: Der Marburger Neukantianismus in Quellen [...], Basel u. Stuttgart 1986, S. 429 f , hier S. 429, in dem Cohen Bergson abwertend einen „polnischen Juden" und „eklektische[n] Gaukler" nennt. Victor Klemperer konstatierte am 13. September in seinem Tagebuch: „Wie widerwärtig hat uns Bergson angegeifert, wo er doch der deutschen Philosophie so viel verdankt." (Klemperer, Curriculum vitae, S. 206). Generell zur Stigmatisierung Bergsons in Deutschland: Lübbe, Philosophie, S. 173 ff., und vom Brocke, „Wissenschaft", S. 696.

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Freilich ist auch in diesem Fall lobend auf Ludwig Geiger zu verweisen, der als Herausgeber der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" beträchtlichen Einfluß auf die Meinungsbildung im liberalen Judentum hatte. Geiger beklagte, daß die Gelehrtenrepublik irreparablen Schaden nehme, wenn „mutwillig alle internationalen Bande" zerschnitten werden würden." Wie viel er auch an den Handlungen englischer und französischer Wissenschaftler auszusetzen hatte, fand er es doch unangebracht, daß deutsche Gelehrte ihre im Ausland empfangenen akademischen Würden zurückgaben. Als geradezu lächerlich beurteilte er den Versuch völkischer Kreise, die deutsche Sprache von Fremdwörtern zu reinigen, da hoffentlich auch „in Zukunft die Welt nicht durch chinesische Mauern getrennt sein wird".^'* Dennoch hatten schon in der xenophoben Stimmung der ersten Kriegswochen, in der man Ausländer ohne viel Federlesens internierte, antisemitische Vorstellungen eine gewisse Konjunktur. Der Marburger Altphilologe, populärwissenschaftliche Erfolgsautor und fleißige Kriegspublizist Theodor Birt ließ etwa in der Vertrautheit seines am 31. Juli 1914 begonnenen Tagebuchs seinen antisemitischen Ansichten freien Lauf. Despektierlich bemerkte er anläßlich der anberaumten Einquartierungen in der Universitätsstadt, wie „opferfreudig" doch „das feine humane Judentum" sei.'' Mit der sich verschlechternden Kriegssituation und der immer prekäreren Versorgungslage gewannen antisemitische Organisationen rasch an Einfluß. In einer Vielzahl von Flugblättern und Pamphleten bestritt man, daß die Juden jemals vollwertige Mitglieder der deutschen Nation werden könnten, und schürte Zweifel an ihrer Vaterlandsliebe.'^ Besonders infam war der durch nichts gerechtfertigte Vorw u r f , jüdischer Feigheit vor dem Feind". Den immer lauter und aggressiver verkündeten völkischen Parolen begegnete das liberale Judentum mit Appellen und auflclärerischen Broschüren, die allerdings kaum sichtbare Früchte trugen.

Geiger, Krieg, S. 6. 74

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Ebd., S. 8. Eine ähnliche Haltung legte auch Joseph Wohlgemuth an den Tag, der für gewöhnlich die unverrückbare Vaterlandsliebe des gesetzestreuen Judentums betonte. Mit Nachdruck wandte er sich in seinem Aufsatz „Das große Hassen" (Jeschurun I [1914], S. 4 1 5 - 4 2 6 , hier S. 420) gegen „die Versuche der Herren Professoren, den Engländern jede größere Bedeutung für die Kultur der Menschheit abzusprechen". Andrea Wettmann, „Die Kriegstagebücher Theodor Birts", in: HJL 44 (1994), S. 131-171, hier S. 139; Eintragung vom 17. August 1914. Reiches Material bei Werner Jochmann, „Die Ausbreitung des Antisemitismus", in: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923. Ein Sammelband, hg. V. Werner E. Mosse unter Mitw. v. Arnold Paucker, Tübingen 1971, S. 4 0 9 510; ferner wichtig: Zechlin, Politik, S. 5 1 8 - 5 2 7 .

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Zu den Hauptthemen antisemitischer Agitation gehörten die Jüdischen Kriegsgesellschaften"." Rathenau, der die Organisation der Rohstoffverwaltung übernommen hatte, zog den Haß völkisch-antisemitischer Kreise geradezu magnetisch auf sich. Doch auch höheren Militärs galt es als unschicklich, daß ein Jude eine leitende Stellung im Kriegsministerium übernommen hatte. Am 31. März 1915 trat Rathenau von seinem Amt nach beinahe achtmonatiger erfolgreicher Tätigkeit zurück, weil er die verstärkte planwirtschaftliche Kontrolle der Kriegsgesellschaften nicht mittragen wollte. Weiterhin bemühte er sich, in Büchern, Denkschriften und öffentlichen Erklärungen der „deutschen Sache" zu dienen. Aber seine illusionslose Sicht der Dinge wurde mit zunehmender Kriegsdauer eher noch unpopulärer. Ähnlich unbeliebt wie Rathenau war vermutlich nur noch Reichskanzler Bethmann Hollweg, der sein Möglichstes zur Wahrung gewisser Friedensoptionen tat. Seine Ablehnung allzu kühner Expansionspläne trug ihm den geballten Haß der politischen Rechten ein, die ihn als „Judenkanzler" und „Erfüllungsgehilfen" der Alliierten diffamierte.'® Hingegen besaß er im liberalen deutschen Judentum große Sympathien und sein erzwungener Rücktritt im Juli 1917 wurde weithin bedauert. Franz Rosenzweig äußerte gegenüber Eugen Rosenstock-Huessy pointiert, Deutschland werde nach dem Sturz Bethmann Hollwegs „,eine bloße Hindenburg und ein einziges Ludendorff werden'"." Doch sollte das lässige Wortspiel nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Reichskanzler für Rosenzweig der einzige Hoffnungsträger in der deutschen Politik war. Der junge Gelehrte schätzte Bethmann Hollweg zum einen, weil er für einen „Verständigungsfrieden" eintrat, zum anderen, weil er sich mit ganzer

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Zum Folgenden: Ernst Schulin, Walther Rathenau. Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit, Göttingen 1979, S. 62-75, und Fritz Stern, „Walther Rathenau. Der Weg in die Politik", in: Ders., Verspielte Größe. Essays zur deutschen Geschichte, München 1996, S. 176-213 u. 307 f., hier S. 188-192. Einen guten Überblick über die facettenreiche jüngere Rathenau-Forschung bieten: Tilman Buddensieg u.a., „Ein Mann vieler Eigenschaften" Walther Rathenau und die Kultur der Moderne, Berlin 1990, sowie Hans Wilderotter (Hg.), Die Extreme berühren sich. Walther Rathenau 1867-1922. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institut, New York u. Berlin 1994. Vgl. Konrad H. Jarausch, The Enigmatic Chancellor. Bethmann Hollweg and the Hybris of Imperial Germany, New Häven u. London 1973, S. 308-350, sowie Günter Wollstein, Theobald von Bethmann Hollweg. Letzter Erbe Bismarcks, erstes Opfer der Dolchstoßlegende, Göttingen usw. 1995, S. 133-142.

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Zit. nach: Eugen Rosenstock-Huessy, Dienst auf dem Planeten. Kurzweil und Langeweile im Dritten Jahrtausend. Mit Dokumenten, Stuttgart usw. 1965, S. 104; allgemein zur Beurteilung Bethmann Hollwegs durch Rosenzweig: Meineke, „Life", S. 4 7 2 ^ 7 5 .

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Kraft dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg entgegenstemmte.^" Dementsprechend pejorativ fiel Rosenzweigs Urteil über die alldeutschen Kampagnen aus, die seiner Meinung nach jeden Realitätssinn vermissen ließen. Ihr Erfolg zeige lediglich, daß die Deutschen durch die unerwartete Dauer des Krieges vollständig überfordert seien.®' Die hochgradig politisierte Auseinandersetzung um den U-Boot-Krieg fand ebenso wie die ausufernden Kriegszieldiskussionen weitgehend ohne jüdische Beteiligung statt. Die großen Organisationen des deutschen Judentums und ihre herausragenden Intellektuellen schreckten vor der öffentlichen Erörterung der „Schicksalsfragen des deutschen Volkes" zurück. Angesichts des gestiegenen Antisemitismus und des gereizten Diskussionsklimas war dies verständlich und politisch vernünftig.®^ Immerhin solidarisierte sich das „Israelitische Familienblatt" mit den angegriffenen linksliberalen Journalisten des „Berliner Tageblatts" und der „Frankfurter Zeitung", denen antisemitische Kreise fehlende vaterländische Gesinnung vorwarfen. Nicht ohne Süffisanz hieß es im Leitartikel: „Seit wann ist der Krieg mit Unterseeboten eine jüdische Frage?"®^ Privat nahmen jedoch jüdische Intellektuelle dezidierte Einschätzungen der militärischen und politischen Lage vor. Hellsichtig und pessimistisch zugleich äußerte sich Gustav Landauer am 9. Februar 1917 gegenüber seinem Bruder Hugo: „Die Wahrheit ist, daß Deutschland auf dem Wege ist, besiegt zu werden, und daß es jetzt noch den letzten, nach der Überzeugung aller Einsichtigen vergeblichen Versuch macht, außerhalb des Völkerrechts zu siegen." Dem korrespondierte seine harsche Kritik der politischen Entscheidungsträger, die lieber den Krieg in die Länge zogen, als die Bevölkerung über den Ernst der Lage zu informieren.®'' Dies betont zu Recht: Paul R. Mendes-Flohr, „Franz Rosenzweig and the Crisis of Historicism", in: Ders. (Hg.), The Philosophy of Franz Rosenzweig, Hanover u. London 1987, S. 138-161 u. 2 3 5 - 2 4 2 , hier S. 153 f.; zum politischen Kontext vgl. Pulzer, Jews, S. 200 f. Vgl. Rosenzweigs Schreiben an seine Eltern vom 17. Oktober 1916, worin es heißt: „Daß alles gegen Bethmann geifert, ist eben der Beweis dafür, was für eine Menschensorte der deutsche Durchschnitt ist. Freilich ist das Ganze auch ein Stück Kriegspsychose: ich habe ja die Stimmung in Deutschland gesehen. Das sind die Leute, die auf einen Krieg ä la 66 oder 70 rechneten." (Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, hg. v. Rachel Rosenzweig u. Edith Rosenzweig unter Mitw. v. Bernhard Caspar, 2 Bde., Den Haag 1976 u. 1979, hier Bd. 1, S. 422). Prinzipielle Zurückhaltung in der Erörterung des U-Boot-Kriegs herrschte unter Intellektuellen gewiß nicht, wie bereits Schwabe, Wissenschaft, S. 9 5 - 1 2 4 , nachgewiesen hat. 83 84

Art. „Schützengrabengeist", in: IF Nr. 12 vom 23. Mai 1916, S. 1 f., hier S. 1. Gustav Landauer, Sein Lebensgang in Briefen. Unter Mitw. v. Ina BritschgiSchimmer hg. v. Martin Buber, 2 Bde., Frankfurt am Main 1929, hier Bd. 2, S. 174 ff., Zitats. 1 7 4 f

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Auch Rathenau ließ sich nicht zu einer übertriebenen Einschätzung der Erfolgsaussichten des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs hinreißen. Angesichts der mutmaßlichen Folgen verglich er den forcierten Krieg gegen England mit „dem Sprunge über eine Kluft", der „nur gelingt, wenn er mit 100 Prozent gelingt".^^ Freilich war Rathenaus skeptisch-realistische Sicht der Dinge beileibe nicht allen Verantwortlichen gegeben. Selbst ein so nüchterner Organisator wie der Hamburger Reeder Albert Ballin setzte seine ganzen Hoffnungen in die Zerstörung der englischen Flotte und brach mit Rathenau, der sich dieser Einschätzung nicht anschloß. Max Warburg glaubte so fest an den Erfolg der „deutschen Sache", daß er den befreundeten amerikanischen Bankier Jakob Schiff sogar zum Kauf deutscher Kriegsanleihen zu überreden versuchte.®^ Freilich sind die Einschätzungen von Albert Ballin und Max Warburg für die politischen Entscheidungsträger des deutschen Judentums nicht repräsentativ. Letztlich überwog die Skepsis hinsichtlich allzu kühner Kriegszielvorstellungen, die schon allein dadurch diskreditiert wurden, daß die Alldeutschen zu ihren eifrigsten Propagandisten gehörten.*' Generell wurde die Kriegsrealität immer bedrückender, und es verringerte sich die Zahl der Ereignisse, an die sich begründete Hoffnungen knüpfen ließen. Gewiß schien kurzfristig die Russische Revolution die Kriegslage entscheidend zu bessern, doch änderte letztlich auch der Frieden von Brest-Litowsk nichts an der Tatsache, daß der Krieg im Westen entschieden werden würde. Auch die Balfour-Erklärung am 2. November 1917 eröffnete für das deutsche Judentum vorerst keine neuen Perspektiven. Schließlich war die „Hohe Pforte" Berlins Verbündeter, und die „Jungtürken" genossen schon seit längerem die Sympathien vieler deutscher Zionisten. Überdies stand für die meisten zionistischen Intellektuellen in Deutschland das Bekenntnis zum Vaterland außer Frage.*® Ange''

So Rathenau pointiert in seinem Schreiben an Korvettenkapitän Fritz Brehmer vom 6. Februar 1917; Waither Rathenau, Politische Briefe, Dresden 1929, S. 99; zum Kontext: James Joll, „Prophet ohne Wirkung. Eine biographische Skizze", in: Walther Rathenau, Tagebuch 1907 - 1922, hg. u. kommentiert v. Hartmut Pogge von Strandmann, Düsseldorf 1967, S. 15-53, hier S. 35 f., und Schulin, Rathenau, S. 88-91. Vgl. die Korrespondenz der beiden einflußreichen Bankiers AJA Cincinnati, Jakob H. Schiff Papers, Box 440, Folder 7 u. 8. Zu Ballin: Pulzer, Jews, S. 202, und mit positiverer Akzentuierung: Lamar Cecil, Albert Ballin. Wirtschaft und Politik im deutschen Kaiserreich, Hamburg 1969.

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Pulzer, „Weltkrieg", S. 372.

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Vgl. etwa die wohlwollende Bewertung Kemal Paschas in: Richard Lichtheim, Rückkehr. Lebenserinnerungen aus der Frühzeit des deutschen Zionismus, Stuttgart 1970, S. 181-185; allgemein zur verwickelten Lage im Vorderen Orient: Isaiah Friedmann, Germany, Turkey, and Zionism 1897-1918, Oxford 1977, sowie nach wie vor Leonard Stein, The Balfour Declaration, London 1961; die Handlungsoptionen deutscher Zionisten skizziert: Magill, Defense, S. 340 f

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sichts der ungeklärten Lage in Palästina und der Vielzahl potentieller internationaler Verwicklungen reagierten sie vorsichtiger und zurückhaltender auf die Balfour-Erklärung, als ihre nachträglichen Memoiren vermitteln sollen. Hierbei handelte es sich jedoch eher um ein sorgfältig kalkuliertes Verhalten als um ein „Angstschweigen", wie der expressionistische Dichter Karl Wolfskehl gegenüber Buber mutmaßte.^' Denn auf lange Sicht schien es gewiß, daß der Zionismus durch die BalfourErklärung an politischem Gewicht gewinnen werde. Dem entsprach auch die Mehrzahl der Artikel in der zionistischen Presse. So betonte die „Jüdische Rundschau" am 14. Dezember 1917 nachdrücklich, welche Bedeutung Jerusalem für das jüdische Volk zukomme.^® Für die Mehrzahl der deutschen Juden blieb indes der Ausgang des Weltkrieges entscheidend: ihr Patriotismus galt seit den Augusttagen Armee und Kaiser. In vielen Familien hingen Landkarten an der Wand, auf denen man mit Stecknadeln die Erfolge des deutschen Heeres markierte.®' Ausführlich berichteten die großen jüdischen Zeitungen über die militärische Lage, warben in großformatigen Anzeigen für das Zeichnen der Kriegsanleihen und hielten sich an die Vorgaben der Zensur. Besonders herausgestellt wurden die Leistungen deutscher Juden und die militärischen Auszeichnungen, die sie entgegennahmen. In Ehrentafeln und Nachrufen gedachte man der Gefallenen. Eine Untersuchung des jüdischen Kriegsschrifttums zeigt ebenso stilistische Konventionalität wie inhaltliche Anpassungsbereitschaft. Beispielsweise mied Eugen Tannenbaum in seiner Ausgabe von Kriegsbriefen jüdischer Soldaten jeden Hinweis auf Antisemitismus. Bereits die einleitenden Worte machen aus heutiger Perspektive den hagiographischen Charakter der Edition hinreichend deutlich: „Aus allen Briefen, die die vorliegende Sammlung vereint, spricht der Geist des althebräischen Gebetes, in dem der fromme Jude Gott preist, daß er ihn diese Zeit habe erleben lassen. Es sind Zeugnisse von Helden, die in einem heiligen Kampf stehen."'^

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Schreiben Wolfskehls vom 10. Dezember 1917; Buber, Briefwechsel, Bd. 1, S. 517 f., hier S. 518. Als Kontrast vgl. die glorifizierenden Erinnerungen von Egon Zeitlin, HL Harvard bMS Ger 91 (252), S. 25; Georg Herlitz, Mein Weg nach Jerusalem. Erinnerungen eines zionistischen Beamten, Jerusalem 1964, S. 97, und Lichtheim, Rückkehr, S. 373. Art. „Jerusalem", in: JRNr. 50 vom 14. Dezember 1917, S. 401. Dazu die eindrucksvollen Memoiren von Hans Hamburger (LBI N e w York ME 253, S. 8), und Simon Hayum (LB! New York ME 560, S. 4 5 ^ 8 ) . Dokumentarisches Anschauungsmaterial enthält das „Tagebuch" von Max Nassauer (LBI N e w York AR 4873), in das zahlreiche Zeitungsartikel, Photos und Karikaturen eingeklebt sind. Eugen Tannenbaum (Hg.), Kriegsbriefe Deutscher Berlin 1915, Vorwort [ohne Seitenangabe].

und österreichischer

Juden,

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Die häufig gekürzten und bisweilen anonymisierten Schreiben enthalten sich beinahe jeglicher Kritik an den an der Front herrschenden Zuständen. Lediglich ein Soldat bemängelte die Unzuverlässigkeit der Feldpost, und ein anderer streifte die Schwierigkeit koscherer Ernährung.'^ Generell fühlten sich viele jüdische Akademiker an der „Heimatfront" zu patriotischem Engagement verpflichtet. Vor allem die als untauglich Ausgemusterten suchten ihr „Mißgeschick", das sie häufig als soziale Degradierung erlebten, mit anfeuernden Publikationen auszugleichen. Insbesondere galt es natürlich für die Mitglieder jüdischer Studentenorganisationen, einen schneidigen Stil an den Tag zu legen. In diesem Geist widmete Fritz Hirschfeld von der Leipziger Saxobavaria seiner „Activitas" das Gedicht „Burschen heraus!": „Wenn es gilt fürs Vaterland, Treu die Klingen dann zur Hand; Dann heraus und fragt nicht viel, Wär es auch zum letzten Spiel. Burschen heraus!"''' Der „Kriegsdienst mit der Feder", den jüdische Akademiker leisteten, gah nicht zuletzt der Entkräftung der alliierten Propaganda. Der aus Galizien stammende Publizist Binjamin Segel wagte die Behauptung, daß es in England und Frankreich niemals zu einer nennenswerten Judenemanzipation gekommen sei. Noch weit schlimmer sei es um die Situation der Juden im zaristischen Rußland bestellt, wo der Staat einen „offen eingestandenen Vernichtungskrieg" gegen die Juden führe.'' Im Gegenzug verharmloste Segel den deutschen Antisemitismus und unterstrich die Bedeutung der Bildungsidee für die wilhelminische Gesellschaft. Der Zar strebe hingegen nach vollständiger Abhängigkeit seiner Untertanen und

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Vgl. das undatierte Schreiben von „Baal Milchomo N." an einen unbekannten Empfänger (ebd., S. 11-14, hier S. 11 f.), sowie das Schreiben an „Herrn S." vom 28. September 1914 (ebd., S. 4 9 - 5 7 , hier S. 50 f.). Eine eingehende Analyse jüdischer Soldatenbriefe folgt in Kap. 4.1. Es ist abgedruckt in Hirschfelds Artikel „Der K.C. im Kampfe fiirs Vaterland" (K.C.-Blätter 5 [1914/16], S. 263). - Zugleich erinnerte das Gedicht an die demokratische Tradition der deutschen Studentenschaft. Es lehnte sich eng an die dritte Strophe des bekannten Studentenlieds „Burschen heraus!" an, das Franz von Kobell 1844 verfaßt hatte; vgl. Allgemeines Deutsches Kommersbuch. 1858 begründet von Hermann Schauenburg [...], 160. Aufl. Lahr 1990, S. 189.

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Binjamin Segel, Der Weltkrieg und das Schicksal der Juden. Stimme eines galizischen Juden an seine Glaubensgenossen in den neutralen Ländern insbesondere in Amerika, 3. Aufl. Berlin 1915, S. 20. Die Auflagenhöhe von Segels Kriegsschriflen, die zumeist aus Aufsatzserien fllr die Zeitschrift „Ost und West" hervorgegangen waren, lag zwischen fünf- und zwölftausend; detailliert zu Segels Kriegspublizistik: David Brenner, Marketing Identities, S. 145-158 u. 2 1 3 - 2 1 6 .

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betrachte deshalb Schulen als „Teufelswerk".'® Obwohl England die Hauptschuld am Kriegsausbruch trage, sei Rußland mit besonderer Vehemenz zu bekämpfen. Denn der Aufschwung des Antisemitismus - vom Dreyfus-Skandal bis hin zu den Ausschreitungen in Südwales (!) - werde „durch russisches Geld finanziert". Derlei verschwörungstheoretische Konstrukte bildeten in der jüdischen Kriegsliteratur jedoch die Ausnahme. Viel verbreiteter waren Formen des Wunschdenkens, die sich nicht nur auf die Einschätzung der militärischen Lage, sondern auch auf den Wert der Weltkriegsliteratur bezogen. Der Bonner Rabbiner und Gelehrte Emil Cohn, der mit den veröffentlichten Gedichten der ersten Kriegsmonate nicht viel anzufangen wußte, tröstete sich mit dem Gedanken, daß erst die Nachwelt die bedeutenden Werke der „Namenlosen" erkennen werde. In ungewöhnlichen Bildern wagte er eine Charakterisierung dieser Dichtung: „Es wird die Poesie der Schützengräben sein mit der langen Wacht ihrer Tage und Nächte, die Poesie der Flieger, die übers blaue Weltmeer fliegen, und die Poesie der Unterseeboote, die mit Hai und Rochen um Korallenriffe huschen."'^ Gleichzeitig favorisierten jüdische Autoren eine „argumentative Weltkriegsliteratur", die den Alliierten vorrechnete, wie gering ihre Chancen auf einen erfolgreichen Ausgang der Kämpfe seien. Zum Beweis dieser These bemühte man indes nicht nur harte militärische Fakten, sondern auch deutsche Tugenden wie Tapferkeit und Treue und die preußische militärische Tradition. Ein Kuriosum war die Analyse des langjährigen Schachweltmeisters Emanuel Lasker, der den Feinden Deutschlands riet, die ungleiche Auseinandersetzung beizeiten aufzugeben: für den Verfasser einer „Philosophie des Kampfes" gewiß eine kühne Volte.'® Zu den wichtigsten Multiplikatoren jüdischer Kriegslyrik zählte der Schriftsteller und Literaturkritiker Julius Bab. Bab, der sich darüber im klaren war, daß sich das Niveau der zeitgenössischen Gedichte nicht entfernt mit den Produkten der Befreiungskriege vergleichen ließ, gab verschiedene Anthologien heraus. Am bekanntesten wurde die Sammlung Der Deutsche Krieg im Deutschen Gedicht, an der auch die herausragenden Exponenten der Arbeiterdichtung Karl Bröger und Heinrich Lersch mitwirkten. Mit großer Sorgfalt hatte Bab seine Auswahl vorgenommen,

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Segel, Weltkrieg, S. 48; ebd., 122 f., das folgende Zitat. Emil Cohn, Kriegerische Volkspoesie, Bonn 1915, S. 27. Emanuel Lasker, Die Selbsttäuschungen unserer Feinde, Berlin o.J. [1916], Ausführlich zu Laskers Weltkriegspublizistik: Michael Dreyer, „Zwischen Pragmatismus und Prinzip: Emanuel Laskers politisches Denken", in: Ders. u. Ulrich Sieg (Hgg.), Emanuel Lasker - Schach, Philosophie, Wissenschaft, Berlin u. Wien 2001, S. 187-232, hier S. 207-212.

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die in der Tat wenig ephemere Gedichte enthält." Der Aiczent der Anthologie, die jüdische Dichter bevorzugt zu Wort kommen läßt, liegt auf den ersten Kriegsmonaten. Überschwengliche Begeisterung und heroisches Pathos sucht man zumeist vergeblich, statt dessen schildern eine Vielzahl elegischer Gedichte das Leid, das der Krieg über die Menschen bringt. In Babs eigenen Gedichten überwogen gleichfalls die nachdenklichen Töne. Dem Ausgang der Kämpfe maß er vergleichsweise geringe Bedeutung zu, vielmehr wurde der Krieg als Unglück schlechthin aufgefaßt. So endete das im Mai 1915 verfaßte Gedicht „Der verlorene Frühling" mit den Zeilen: „Es dröhnt der Krieg, der keinen Frühling duldet / verzeih Gott allen, die da Krieg verschuldet!""" Immer wieder scheint in Babs Lyrik das Motiv der „Vergänglichkeit" auf - auch und gerade wenn die Flüchtigkeit menschlicher Existenz mit dem Rhythmus der Natur verglichen wird. Selbst der Schützengraben wird für Bab zum Ort der Besinnung: „Und ich neig mein Gesicht tief in die erdige Kühle: .Gütige Mutter, ich fühle du - du bist feindlich uns nicht! Babs Gedichte handeln ausgesprochen selten von jüdischen Themen. Vielmehr drückt sich in ihnen eine pantheistische und nicht selten fatalistische Haltung aus, die unter den Angehörigen aller Konfessionen im Ersten Weltkrieg verbreitet war.'°^ Die Vergänglichkeit menschlichen Daseins ist auch das Thema des „Österreichischen Reiterlieds" von Hugo Zuckermann, dessen Autor "

1914. Der Deutsche Krieg im Deutschen Gedicht, 12 Hefte, ausgew. v. Julius Bab, Berlin o.J. [1914-1919], Im Nachwort des ersten Heftes, ebd., S. 48, hatte Bab seine Leser angesichts der Flut minderwertiger Literatur dazu aufgefordert, ihm von nun an „recht viel Lesefrüchte und recht wenig Selbstgeschaffenes senden zu wollen". Generell zu Babs Anthologie: Friedrich Wilhelm Kantzenbach, „Religiöse Aspekte der sogenannten Kriegslyrik unter Berücksichtigung des literarischen Expressionismus", in: ZRGG 41 (1989), S. 3 4 0 - 3 6 1 , hier S. 345 f Zu Babs Ansichten über die hohe Bedeutung der Juden für die deutsche Literatur vgl. sein Manuskript aus dem Jahre 1917 „Der Anteil der Juden an der deutschen Dichtung der Gegenwart", LBI N e w York AR 2885, I E 1-3. Den ideengeschichtlichen Kontext betrachtet: Elisabeth Albanis, German-Jewish Cultural Identityfrom 1900 to the aftermath ofthe First World War, phil. Diss., Oxford 1999, S. 181-194. Abgedruckt: Bab, Menschenstimme, S. 30 f , hier S. 31. Eingehend zu Babs Kriegsgedichten: Sylvia Rogge-Gau, Die doppelte Wurzel des Daseins. Julius Bab und der Jüdische Kulturbund Berlin, Berlin 1999, S. 3 2 - 4 0 , die allerdings die elegische Stimmung seiner Lyrik vernachlässigt. Bab, Menschenstimme, S. 34, Gedicht „Beim Aufwerfen eines Schützengrabens". Näheres dazu unten Kap. 4.1.

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gleichsam über Nacht berühmt wurde. Es beginnt mit den melancholischen Versen „Drüben am Wiesenrand / Hocken zwei Dohlen - / Fall ich am Donaustrand? / Sterb' ich in Polen?" und mündete in der Verklärung militärischen Erfolgs und soldatischer Schicksalsergebenheit „Es ist nicht schad'! / Seh' ich nur unsere Fahnen wehen / auf B e i g e r a d D i e ungeheure Beliebtheit dieses Gedichts wurde durch die Tatsache begünstigt, daß sein Verfasser, ein österreichischer Rechtsanwalt und Reserveoffizier, bereits Ende 1914 an den Folgen einer Kriegsverletzung gestorben war.'®' Hier lag scheinbar jene Deckungsgleichheit von Leben und Werk vor, die das bürgerliche Kunstverständnis von jeher favorisierte. Tatsächlich war Zuckermann jedoch nicht, wie vielfach kolportiert, einer Kriegsverletzung erlegen, sondern im Spital an Typhus gestorben. Das „Österreichische Reiterlied" stammte bereits aus dem Jahre 1913 und seine düstere Todessymbolik verdankte sich keineswegs „authentischem K r i e g s e r l e b e n " . E s fehlte allerdings ebenso jene Anbiederung an den heroischen Zeitgeschmack, die den Großteil der Kriegsgedichte künstlerisch wertlos machte. Dies gilt auch für Zuckermanns eigene Verse. So endete sein Gedicht „Makkabäer 5675" mit der sprachlich anspruchslosen Strophe: „Euer Leben, daß nicht sterbe Väterart und Vätererbe. Macht den Tempel wieder rein. Laßt uns Makkabäer sein!"'°^ Weit wichtiger als die gelungene poetische Form war für die Zionisten die heroische Gesinnung Zuckermanns, mußten sie doch immer wieder mit dem Vorurteil kämpfen, es mit der Vaterlandsliebe nicht so genau zu nehmen. Nicht zufällig rückten sie deshalb sein studentisches Engagement für den Zionismus in den Vordergrund. Andererseits bemängelten sie nicht zu Unrecht, daß ,jüdische Organe nichtzionistischer Tendenz" die Weltanschauung Zuckermanns verschwiegen.'"® Die Verehrung blieb jedenfalls ungebrochen: Noch 1927 nannte das „Jüdische Lexikon" Zuk-

Zit. nach: 1914. Der Deutsche Krieg im Deutschen Gedicht, H. 1: „Aufbruch und Anfang", ausgew. v. Julius Bab, Berlin o.J. [1914], S. 15. Dies gilt etwa für Victor Klemperer, den die Nachricht von Zuckermanns Tod in der Auffassung bestätigte, daß „wir ihm [...] das beste Kriegsgedicht verdankten"; Klemperer, Curriculum vitae, S. 252. Aufschlußreich zur Rezeption des „Reiterlieds" ist der Artikel „Eine Perle der Kriegslyrik" (MVAA Nr. 14/15 vom 14. Juli 1915, S. 8 f ) , der sich gegen die antisemitische Verunglimpfung des Gedichts wendet. 106

"" ""

Vgl. Klemperer, Curriculum vitae, S. 283 f Zit. nach JR Nr. 2 vom 8. Januar 1915, S. 11. Art. „Hugo Zuckermann", in: JRNr. 4 vom 22. Januar 1915, S. 34.

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kermanns „Reiterlied" das „schönste deutsche Soldatenlied des Krieges".'«' Paradigmatischen Charakter spricht man bis auf den heutigen Tag Ernst Lissauers „Haßgesang gegen England" zu und verweist auf den überwältigenden Erfolg dieses Gedichts."" Doch so groß die Popularität dieser Zeilen war, so strittig dürfte ihre Repräsentativität für das deutsche Judentum sein. Denn England war keineswegs der Hauptfeind deutscher Juden, die vielmehr in der zaristischen Despotie den großen Unterdrücker des Ostjudentums bekämpften. Außerdem sollte berücksichtigt werden, daß die englandfeindlichen Stereotypen, die auf die materialistische Gesinnung der „Händlernation" abhoben, unverkennbare Verwandtschaft mit antisemitischen Feindbildern aufwiesen. Dementsprechend vorsichtig agierten die Redaktionen jüdischer Zeitschriften. Als beispielsweise der Fürther Gelehrte Adam Feilchenfeld 1916 Englands Politik mit der Skrupellosigkeit des antiken Tyrus verglich, betonte der Herausgeber von „Jeschurun", daß er dem „grassierenden Engländerhaß" keinerlei Sympathien entgegenbringe."'' Der „Fall Lissauer" liegt komplizierter, als gemeinhin angenommen wird."^ Von Haus aus ein sensibler Lyriker, gehören die meisten seiner Publikationen zwischen 1914 und 1918 in den Bereich der künstlerisch wertlosen Kriegsliteratur. Das heißt jedoch keineswegs, daß sie ohne innere Anteilnahme geschrieben wurden. Selbst der so monolithisch wirkende „Haßgesang" ist nicht zuletzt ein persönlicher Ausdruck der Enttäuschung über Englands Kriegseintritt."' Lissauer stammte aus einer Berliner jüdischen Familie, die sich sehr um Akkulturation bemühte. Bei

"" Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in 4 Bänden, begründet v. Georg Herlitz u. Bruno Kirschner, N D Frankfurt am Main 1982 [zuerst Berlin 1927], Bd. 4/2, Sp. 1638. ' Z u l e t z t Erik Lindner, Patriotismus deutscher Juden von der napoleonischen Ära bis zum Kaiserreich. Zwischen korporativem Loyalismus und individueller deutsch-jüdischer Identität, Frankfurt am Main usw. 1997, S. 10. - Der „Haßgesang" erschien als erstes Blatt der Lissauerschen Flugschriften Worte in die Zeit, eine Veröffentlichungsform, die von vornherein eine größere Leserschar anvisierte. A[dam] Feilchenfeld, „Kulturhöhe und Fall einer Weltmacht", in: Jeschurun 3 (1916), S. 2 3 5 - 2 4 2 , hier S. 236, Anm. 1. Nuanciert zu Biographie und Wirkungsgeschichte: Elisabeth Albanis, „Ostracised for Loyality: Ernst Lissauer's Propaganda Writing and its Reception", in: LBIYB 43 (1998), S. 195-224. - Für den Einblick in das seinerzeit noch ungedruckte Manuskript danke ich Elisabeth Albanis, St. John's College Oxford. LBI New York AR 1735, 15. Tagebuch, S. 161 f , Eintragung vom 30. Juli 1914. Ähnlich äußerte sich Lissauer im nachhinein auch öffentlich, vgl. etwa seinen Brief an Reinhard Weer im ,Acht-Uhr-Tageblatt" Nr. 279 vom 8. Dezember 1919, wiedergegeben in: Guido K. Brand, Ernst Lissauer, Stuttgart u. Berlin 1923, S. 66-70.

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Kriegsausbruch empfand er es als Demütigung, daß es ihm nicht gestattet wurde, als Freiwilliger an die Front zu gehen. Äußerlich alles andere als „schneidig", rühmte der dickleibige Lissauer das Preußen Friedrichs II. mit seinen martialischen Tugenden. In seinem Gedicht „Glaube" heißt es etwa apodiktisch: „Gott / Ist mit den stärksten Bataillonen. [...] Er redet im Getöse der Kanonen, [...] Und gibt den Mächtigen die Macht.""'' Andere Gedichte Lissauers sind von einem starken Gefühl der Vergänglichkeit durchdrungen, und seine Tagebücher spiegeln nicht nur den überwältigenden Patriotismus, sondern auch die Trauer und innere Zerrissenheit ihres Autors. Homer, Pindar und die Bibel bestätigten ihm wie die deutschen Klassiker seine Auffassung vom flüchtigen Charakter menschlichen Daseins. Sein synkretistisches Religionsverständnis bemühte sich darum, bei Anerkennung der eigenen jüdischen Wurzeln auch dem Christentum gerecht zu werden. Der mit ihm befreundete protestantische Theologe Heinrich Meyer-Benfey nannte Lissauer einmal wohlwollend, aber nicht unzutreffend, einen „Gottkünder von ausgeprägter Eigenart"."' Allerdings war Lissauer ein Meister darin, seine Empfindsamkeit zu verdecken. Immer wieder stilisierte er rückwirkend die ersten Augusttage, und dieses Bild schob sich vor die einst erlebte Realität. So verfaßte er neben anderen prominenten deutschen Dichtern wie Wedekind und Hauptmann einen Beitrag für die „Berliner Zeitung", der unter dem thematischen Motto „Die tiefsten Eindrücke der zwei Kriegsjahre" stand. Hierin verherrlichte er die ,J.euchtkraft der ersten Wochen nach Ausbruch des Krieges'' und nannte diese Zeit in bewußter Überhöhung einen ,Jahrtausend-Augenblict\^^^ In der linksliberalen „Vossischen Zeitung" rühmte er die „überpersönliche Macht" der Gemeinschaft und den Sinn jeder „organischen Gliederung" der Menschheit.'" Und noch im September 1917 wußte er in einer Soldatenzeitung, die glorreichen Aussichten der Gegenwart hervorzuheben. Freilich legt sein Ratschlag, die „Nähe des Tages" mit der „Weite der Geschichte" einzutauschen, die Vermutung nahe, daß es mit der Stimmung an der Front nicht mehr zum besten bestellt war. Lissauer betonte denn auch die Bedeutung von „Willen, Pflichtge-

Lissauer, Worte in die Zeit. Drittes Blatt; vgl. auch ebd. den propagandistischen Text „Über Friedrich den Großen", der eine Parallele zur Situation Preußens im Siebenjährigen Krieg herstellt. Heinrich Meyer-Benfey, „Emst Lissauer als religiöser Dichter", in: ChW 32 (1918), Sp. 8 6 - 9 1 , hier Sp. 86. BZ am Mittag Nr. 176 vom 29. Juli 1916, 1. Beiblatt. In kühner Diktion heißt es dort weiter: „Auf Minuten voll Ewigkeit weht die Geschichte uns so lebhaft an, wie ein Nordost, der um die Straßenecke rauscht." Ernst Lissauer, „Gefühl der Gesamtheit", in: Vossische Zeitung vom 6. April 1916. Generell zur Bedeutung der „Gemeinschaft" ftir nationalistische Weltkriegsideologien: George Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993, S. 82 f.

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fühl und Disziplin", die längst an die Stelle des „enthusiastischen Rausch[es]" der ersten Kriegstage getreten seien."* Lissauer wußte, daß sein berühmter „Haßgesang" künstlerisch wenig bedeutsam war, doch begrüßte er seine politische Wirkung. Seinen Ruhm freilich konnte er nicht recht genießen, weil die ihm am Herzen liegenden Werke auch weiterhin kaum Leser fanden."' Allenthalben galt Lissauer als der Dichter, der die vernichtenden Worte über England geschrieben hatte und die Sympathie des Kaisers genoß. Von alldeutscher Seite trug ihm dies eine Vielzahl von Angriffen ein, und selbst viele Juden vertraten die Ansicht, daß er seine vaterländischen Gefühle zu plakativ geäußert habe. In gewisser Hinsicht stellte Lissauers „Haßgesang" einen Tabubruch dar, sprach er doch England die Zugehörigkeit zu den europäischen Kulturnationen ab. Dies war unvereinbar mit der in Deutschland vorherrschenden Stilisierung des Krieges, die - in pointierter Abgrenzung zu den „Barbarei-Vorwürfen" der Alliierten - den ritterlichen Charakter des soldatischen Kampfes in den Vordergrund rückte. Selbst ein ausgesprochen distanzierter Betrachter des Weltkrieges wie der Chefredakteur des „Berliner Tageblatts" Theodor Wolff brachte den soldatischen Tugenden beträchtlichen Respekt entgegen und lehnte jegliche Verteufelung des militärischen Gegners kategorisch ab. Am 9. Februar 1915 notierte er in sein Tagebuch: „Ich habe vor einigen Wochen einen Brief von einem Rittmeister in Westflandem bekommen. Ich kannte ihn gar nicht, aber er hatte gelesen, daß ich gegen den Haß geschrieben hatte, und er schrieb mir: ,Wir kennen hier keinen Haß. Wir achten den Feind, der wie wir seine Pflicht erfüllt.'"'^" Im jüdischen Bildungsbürgertum glaubten viele, daß Haßtiraden typisch für die alliierte Propaganda seien, und so fiel am Ende die Zahl jener, die Lissauer gegen seine Kritiker in Schutz nahmen, vergleichsweise gering Ernst Lissauer, „Gedanicen über die Grösse der Zeit", in: Front, Jg. 1, H. 12 vom 23. September 1917, S. 2 ff., alle Zitate S. 3. Vgl. seinen Tagebucheintrag vom 26. Juli 1915, LBl New York AR 1735, 17. Tagebuch, S. 57: „Ich bin in der seltsamen Lage, meinen eigenen Erfolg und Ruhm selbst zu mißbilligen, weil ich weder den .Haßgesang' ftlr ein hervorragendes Gedicht halte noch für einen so wesentlichen Bestandteil meiner Dichtung. Es ist bemerkenswert, daß ein modemer Dichter zur Masse spricht, der sich früher vorgesetzt hatte, nicht zur Masse zu sprechen. Es ist gut, daß ein politischer Ton zur nationalen Stimmung wurde. Aber meine eigentliche Dichtung wird nur langsam um sich greifen." Theodor Wolff, Tagebücher 1914-1919. Der Erste Weltkrieg und die Entstehung der Weimarer Republik in Tagebüchern, Leitartikeln und Briefen [...]. Eingel. u. hg. V. Bernd Sösemann, 2 Tie., Boppard am Rhein 1984, hier T. 1, S. 153-164, Zitats. 158.

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aus. Zwar schlugen ihm die Sympathien der jüngeren Generation entgegen, doch die Protagonisten des liberalen Judentums lehnten seine öffentliche Verteidigung ab. Binjamin Segel befragte nicht weniger als sechzig bekannte Persönlichkeiten des deutschen Judentums, die Lissauers „Haßgesang" übereinstimmend als „unjüdisch" beurteilten.'^' Sie übersahen oder vernachlässigten damit allerdings die politische Dimension der Kampagnen gegen Lissauer. Denn schließlich warfen ihm seine antisemitischen Gegner sprachliche Formulierungen und weltanschauliche Inhalte vor, die unter ihresgleichen gängige Münze waren. Trotz aller Anfeindungen stand für Lissauer sein Bekenntnis zu Preußen und Deutschland außer Frage. Er verherrlichte Hindenburg als „Fels in der Brandung" und unterstrich die mythische Bedeutung, die der Feldmarschall für das deutsche Volk habe.'^^ Nach dem Zusammenbruch der Front und der Flucht des Kaisers teilte Lissauer die Ideen ultrakonservativer Kreise und setzte seine Hoffnungen in eine überragende Führergestalt. Sein Gedicht „Um Deutschland", dessen Druckfassung er am 29. Dezember 1918 an die befreundete Lyrikerin Ina Seidel schickte, belegt, mit welcher Intensität er diese Vision entwickelte.'^^ In jedem Fall erweist sich die Anwendung sozialpsychologischer Kategorien bei Lissauer als hochgradig problematisch. Seine psychische Labilität resultierte keineswegs aus der Größe seines ,jüdischen Selbsthasses", sondern ist eine Folge konkreter sozialer Isolierung, und zwar gerade im liberalen Judentum.'^'* Die polarisierende Wirkung seines „Haßgesanges" war noch nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung" zu spüren. Der Sozialdemokrat Philipp Loewenfeld verstieg sich in seinen Erinnerungen gar zu der Aussage, Lissauer habe den „deutschen

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Segel, Weltkrieg, S. 143. Die einzige nennenswerte Ausnahme war Ludwig Geiger, der Lissauers Gedicht als „wirklich gewaltige[n] und dabei zugleich höchst poetischen Ausdruck der Entrüstung und Empörung gegen das fluchbeladene Albion" rühmte (Geiger, Krieg, S. 13). Allgemein zur innerjüdischen Beurteilung des „Haßgesangs": George L. Mosse, The Jews and the German War Experience 1914-1918, N e w York 1977, S. 14.

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Ernst Lissauer, „Hindenburg", in: Front, Jg. 1, H. 13 vom 30. September 1917, S.2ff. Das in der „Vossischen Zeitung" gleichfalls am 29. Dezember erschienene Gedicht gipfelt in den visionären Versen: „Wacht aufl Deutschland verendet, / Am Rand der Geschichte, ein Aas, - / Kommt kein Retter alsbald, / Von Gram hochgewühlt, / Der aufbirst in Gewalt, / Einer, der fühlt und befiehlt." DLA Marbach, Nachlaß Ina Seidel; zur Einordnung vgl. Albanis, „Lissauer's Propaganda Writing", 8 . 2 1 9 .

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Vielleicht geht deshalb Sandor L. Gilman Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden (Frankfurt am Main 1993) auf Lissauers Schicksal nicht näher ein.

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Namen mit ewiger Schande" bedecict.'^^ Verständnisvoller zeigte sich der Zionist Sammy Gronemann, fiir den der „Haßgesang" zwar auch „patriotischer Kitsch uebelster Sorte" war, der jedoch konzedierte, „daß Lissauer in spaeteren. Jahren viel darum gegeben haette, wenn seine Autorschaft an diesem Lied vergessen worden waere".'^® Jedenfalls sollte der so häufig herausgestellte Unikatcharakter des „Haßgesangs" nicht überbetont werden. Das wenig originelle Gedicht gehörte einem beliebten Genre an, dem sich auch auf alliierter Seite manch ein Schriftsteller verpflichtet fühlte. Aus heutiger Perspektive liegt die Bedeutung des „Haßgesangs" weniger in seiner unmittelbaren Wirkung im Propagandakrieg als in der verschlungenen Rezeptionsgeschichte, welche die diskursbestimmende Kraft antisemitischer Vorstellungen verdeutlicht. Die meisten Darstellungen der deutsch-jüdischen Geschichte im Ersten Weltkrieg leiden an einer allzu simplen Vorstellung vom jüdischen Patriotismus. Zu wenig bedacht wird, wie kompliziert es war, der eigenen Doppelidentität als Deutscher und Jude im „Krieg der Geister" gerecht zu w e r d e n . M i t den heftigen Angriffen gegen Deutschlands „Barbarei" fühlten viele deutsche Juden ihr Selbstverständnis als Mitglied einer alten Kulturnation in Frage gestellt. Gerade die so erfolgreich akkulturierten deutsch-jüdischen Intellektuellen wußten freilich auch, daß ihre Integration in die Mehrheitsgesellschaft unvollständig geblieben war. Dieses Spannungsverhältnis erklärt einen Teil der Gereiztheit und ausladenden Riietorik ihrer politischen Stellungnahmen. Dies gilt gerade für jene Denker, die fest von der kulturellen Mission Deutschlands überzeugt waren. Jakob Wassermann verglich in einem Schreiben an Frederik van Eeden die neutral gebliebenen Länder mit „Aasvögel[n]" und „Hyänen" und sah

LBI N e w York ME 404, S. 163; ähnlich absprechend Stefan Zweig, Welt, S. 268, der sich rückblickend zu dem apodiktischen Urteil hinreißen ließ: „[D]ieser feiste, verblendete kleine Jude Lissauer nahm das Beispiel Hitlers voraus". LBI New York ME 203, S. 249. Vgl. dazu Joachim Utz, „Der Erste Weltkrieg im Spiegel des deutschen und englischen Haßgedichts", in: Jan Assmann u. Dietrich Harth (Hgg.), Kultur und Konflikt, Frankfurt am Main 1990, S. 3 7 3 ^ 1 3 , und Christoph Jahr, „,Das Krämervolk der eitlen Briten'. Das deutsche Englandfeindbild im Ersten Weltkrieg", in: Ders-, Uwe Mai u. Kathrin Roller (Hgg.), Feindbilder in der deutschen Geschichte. Studien zur Vorurteilsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 115-142. In hohem Maße trifft dies zu für Paul R. Mendes-Flohr, „Im Schatten des Weitkrieges", in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, hg. im Auftrag des Leo-Baeck-Instituts v. Michael A. Meyer unter Mitw. v. Michael Brenner, Bd. 4: Aufbruch und Zerstörung 1918-1945, v. Avraham Barkai u. Paul Mendes-Flohr. Mit einem Epilog von Steven M. Lowenstein, München 1997, S. 15-36, der das kulturelle Umfeld deutsch-jüdischer Intellektueller beinahe unberücksichtigt läßt und die Kriegsbegeisterung des deutschen Judentums stark überzeichnet.

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Deutschland als „Opfer einer planvollen Verschwörung".'^' Gleichzeitig überhöhte er den Krieg zu einem apokalyptischen Ereignis, in dem die „Vesten des Planeten wanken". Zu hoher Identifikation mit dem nationalen Wertekanon neigten konvertierte Juden wie Fritz Haber, der seine Forschung am Berliner KaiserWilhelm-Institut ganz in den Dienst des Vaterlandes stellte. So ehrlich wie er den Zusammenbruch der „internationalen Gelehrtenrepublik" bedauerte, so selbstverständlich erschien es ihm, als Wissenschaftsorganisator ausschließlich militärischen Zwecken zu dienen.'^" Der Sprachphilosoph Fritz Mauthner ließ sich in einem Brief an Gustav Landauer vom 15. November 1914 zu dem Urteil hinreißen: „Wenn ich mit einem Fingerdruck England in die Luft sprengen könnte, so täte ich's und wäre glücklich."'^' Gleichwohl sollten Äußerungen wie diese nicht verabsolutiert werden. Im Schonraum privater Korrespondenz fiel während des Ersten Weltkrieges manches Wort, das den „Hypernationalismus" jeder Bevölkerungsgruppe erweisen könnte. Landauer reagierte jedenfalls zumeist gelassen und wies den Freund immer wieder auf die Abgründe seines politischen Weltbilds hin.'^^ Andererseits dürfte es eine aussagekräftige Tatsache sein, daß Mauthners Freundschaft zu dem anarchistischen Feuerkopf Landauer niemals ernsthaft zur Disposition stand. Der Loyalitätsdruck, der bereits im August 1914 das Verhalten der jüdischen Minderheit in Deutschland entscheidend geprägt hatte, nahm im Verlauf des Krieges weiter zu. Bezeichnend fiir die defensive Argumentation, zu der sich das deutsche Judentum genötigt sah, war es, daß man

DLA Marbach, Zeit-Echo; Brief von Anfang Dezember 1914, foi. 2 u. 5; ebd., fol. 9, das nächste Zitat. Dazu differenziert: Fritz Stern, „Freunde im Widerspruch", in: Ders., Verspielte Größe. Essays zur deutschen Geschichte, München 1996, S. 2 1 4 - 2 8 1 u. 3 0 8 315, hier S. 2 4 0 - 2 4 6 . Umfassend und ausgewogen zuletzt: Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868-1934. Eine Biographie, München 1998. Gustav Landauer - Fritz Mauthner Briefwechsel 1890-1919, bearb. v. Hanna Delf, München 1994, S. 294 f., hier S. 295. 132

Vgl. etwa Landauers Reaktion auf Mauthners Bergson-Artikel, in dem der französische Denker als „Schneiderlein der philosophischen Mode" abgetan wurde: „Aber warum in aller Welt wirst Du wütend? Auch Nietzsche und Schopenhauer sind Mode geworden, und sind, was sie sind. Bergson ist kein Philosoph, sondern ein philosophischer Forscher; er dürfte keinem höheren Rang angehören als etwa Hermann Lotze. Aber ist das ein Grund, den Sonntagslesern des ,B[erliner] T[ageblatts]' ein Gaudi zu bereiten." (Brief Landauers an Mauthner vom 29. September 1914, ebd., S. 290 ff., hier S. 291). Generell zu den Konfliktlinien in ihrer Korrespondenz: Hanna Delf, ,„Wie steht es mit dem Sozialist?' Sozialismus, Deutschtum, Judentum im Briefwechsel Gustv Landauers und Fritz Mauthners", in: Ludger Heid u. Arnold Paucker (Hgg.), Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933. Soziale Utopien und religiös-kulturelle Traditionen, Tübingen 1992, S. 115-132.

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immer wieder auf den eigenen „Blutzoll" hinwies. Auch die Vaterlandsliebe der Juden in den anderen kriegführenden Nationen wurde nie emsthaft in Frage gestellt. Ein Leitartikel des „Israelitischen Familienblatts" hielt es sogar für die eigentliche Lehre des Weitkrieges, daß „kein internationales Judentum" existiere.'" Nur wenige jüdische Intellektuelle äußerten sich hingegen öffentlich zu den Loyalitätskonflikten, die der Erste Weltkrieg für das deutsche Judentum beschworen hatte. Einer von ihnen war der pazifistische Sozialdemokrat und leidenschaftliche Kosmopolit Eduard Bernstein. In einem Artikel für die „Friedens-Warte" charakterisierte er jene Gewissensprobleme, die für deutsche Juden daraus erwachsen konnten, daß die demokratischen Nationen England und Frankreich mit der zaristischen Autokratie verbündet waren. Für den im liberalen Judentum vorherrschenden Nationalismus hatte er hingegen angesichts der politischen Verfassung des Kaiserreichs kein Verständnis. Polemisch zitierte er die Definition des englischen Aufklärers Samuel Johnson, wonach Patriotismus „,[d]ie Ausrede jedes Schurken'" sei.'^'* Aliein so sympathisch Bernsteins Plädoyer für universale Werte aus heutiger Perspektive auch erscheinen mag, im Ersten Weltkrieg verhallte es fast ungehört.

3.3. Im Schatten der „Judenzählung" Die Diskriminierung der deutschen Juden beim Militär war vor 1914 zwar eine allgemein bekannte, aber keine öffentlich eingestandene Tatsache. Zu schwer wog der fehlende Zugang zu Offiziersehren in einer satisfaktionsfixierten Gesellschaft, als daß dafür seitens der verantwortlichen Regierungsstellen schlechte Gründe hätten vorgebracht werden können. Diesen Umstand stellte das „Berliner Tageblatt" in Rechnung, als es anläßlich der Debatte um jüdische Reserveoffiziere 1905 ebenso provokant wie richtig schrieb: „Denn an Mut fehlt's, nicht bloß im Kriegsministerium, sondern auch bei der reaktionären Presse. Niemand wagt es, sich offen zur Ungerechtigkeit gegen die jüdischen Mann-

Hermann Becker, „Was lehrt der Weltkrieg?", in: IF Nr. 4 vom 28. Januar 1915, S. 1 f., hier S. 1; vgl. auch David Rothschild, „Erfahrungen und Gedanken über den Weltkrieg", in: LI 6 (1914), S. 2 2 1 - 2 2 6 , hier S. 226, der die Geschichte seiner Familie als „Musterbeispiel für die vollständige Nationalisierung der Juden" in Westeuropa darstellt. Eduard Bernstein, „Vom Patriotismus der Juden", in: Friedens-Warte 18 (1916), S. 2 4 3 - 2 4 8 , hier S. 248.

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Schäften zu bekennen. Selbst die ,Kreuzztg.' spricht nur von

einer ,angeblich' planmäßigen Zurücksetzung der Juden." Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, daß die seit Kriegsausbruch gegebene Öffnung von Offiziersstellen für jüdische Bewerber im deutschen Judentum auf breite Zustimmung stieß. Zwischen 1914 und 1918 erwarben mehr als zweitausend der etwa einhunderttausend jüdischen Kriegsteilnehmer ein Offizierspatent.Freilich war der Weg dahin dornig, und die Offiziersanwärter wußten von mancher Benachteiligung zu berichten. Privat kritisierte man auch im linksliberalen Lager die an der Front übliche Beförderungspraxis. So schrieb der Kasseler Oberbürgermeister Erich Koch-Weser am 16. Dezember 1914 empört in sein Tagebuch: „Es ist unglaublich, daß es in diesem Kriege etwas derartiges noch gibt."'" Dies lag nicht zuletzt daran, daß das Offizierskorps der preußischen Armee unverrückt über das Kooptationsrecht verfügte. Bei der Wahl zum Offizier genügte eine einzige „schwarze Kugel", um das Avancement eines mißliebigen Bewerbers zu verhindern.'^* Der jüdische Patriot Kurt Zadig, der mit 18 Jahren zu den Waffen geeilt war, stellte in einem undatierten Feldpostbrief fest, „daß er - trotz ,Offiziers-Kursus' nur zum Vize-Feldwebel befördert wurde". Wie so viele verarbeitete er die Enttäuschung, indem er sich einredete, daß wirkliche Vaterlandsliebe keines äußeren Lohnes bedürfe.'^' Bei den niederen Dienstgraden war die Situation vermutlich weniger spannungsreich: ca. 35.000 Soldaten wurden kriegsdekoriert und 23.000 überhaupt befördert - Quoten, die in etwa dem Durchschnitt entsprachen. Angesichts der Widerstände, die allerdings auch hier der Anerkennung jüdischer Leistung entgegenstanden. BT Nr. 162 vom 29. März 1905, Art. „Parität!"; weiteres Material zu dieser Debatte findet sich: HStA Stuttgart M 1/3, BU 759. Generell zur jüdischen Benachteiligung beim Militär: Frank Nägler (Bearb.), Deutsche Jüdische Soldaten. Von der Epoche der Emanzipation bis zum Zeitalter der Weltkriege. Eine Ausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamts [...], Hamburg, Berlin u. Bonn 1996. Detailliertes Zahlenmaterial enthält: Jacob Segall, Die deutschen Juden als Soldaten im Kriege 1914-1918. Eine statistische Studie. Mit einem Vorw. v. Heinrich Silbergleit. Berlin 1921, hier S. 35. Walter Mühlhausen u. Gerhard Papke (Hgg.), Kommunalpolitik krieg. Die Tagebücher Erich Koch-Wesers 1914 bis 1918, S. 138-147, hierS. 145.

im Ersten WeltMünchen 1999,

Vgl. Julius Marx, Kriegs-Tagebuch eines Juden, Zürich 1939, S. 138 f., Eintragung vom 3. November 1916, hier S. 139, der insbesondere den Antisemitismus der frontunerfahrenen Offiziere in den Vordergrund rückt, „Vielleicht wird mir doch noch die äußere Anerkennung zuteil, die ich verdient habe. Und wenn nicht, genügt mir das Bewusstsein, meine Pflicht getreu erfüllt und wie ich es gelobt stets treu und wacker zu Kaiser und Reich gestanden zu haben, so, wie es eben einem echten deutschen Juden geziemt" (LBI New York AR 3791). Zeitgenössisch zu dieser Thematik: Josef Baum, „Die jüdischen Akademiker als Soldaten", in: IF Nr. 29 vom 20. Juli 1916, S. 1 f.

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belegen diese Daten nicht zuletzt das Ausmaß jüdischer Pflichterfüllung.'^" Die symbolische Bedeutung, welche die Klassengesellschaft seit jeher und erst recht natürlich seit 1914 militärischen Ehrungen zuerkannte, war ungewöhnlich hoch und hatte einen fühlbaren Einfluß auf das Selbstverständnis des deutschen Judentums. Auch unter den Zionisten, die nur noch gelegentlich auf den internationalen Zusammenhalt des Judentums verwiesen, überwog die Verherrlichung militärischer Leistungen. Vor allem die modernen Waffengattungen schlugen viele zionistische Publizisten in ihren Bann, die gern auf die Realitätstüchtigkeit des „neuen jüdischen Menschen" verwiesen. An erster Stelle ist hier an Felix Theilhaber zu erinnern, der vor dem Krieg den „Untergang des Judentums" beklagt hatte und nun in einer Vielzahl von Artikeln und Broschüren die militärischen Leistungen jüdischer Soldaten und insbesondere der Piloten in den Vordergrund rückte.'"" Das Zentralkomitee der ZVfD ließ es sich nicht nehmen, zionistischen Trägern militärischer Orden individuell zu gratulieren. So erhielt der Zahnarzt Max Laufer am 17. Februar 1916 nach Erhalt des Eisemen Kreuzes eine briefliche Belobigung dafür, daß er „dem Patriotismus der nationalen Juden ein so glänzendes Zeugnis verschaffe".'"^ Die meisten Antisemiten waren hingegen von der Überzeugung durchdrungen, daß das „internationalistische" Judentum unföhig zu wirklich patriotischen Leistungen sei. Unbelehrbar durch faktische Evidenzen insinuierten sie bald nach Kriegsbeginn die Auffassung, die Juden seien überall in der Armee, nur nicht an der Front zu finden. Dies entsprach auch der Sicht des preußischen Offizierskorps, das über das Avancement jüdischer Bewerber erbittert war. Die Unzufriedenheit ging so weit, daß Offiziersorganisationen - trotz des „Burgfriedens" - mit antisemitischen Gruppen Kontakt aufnahmen, um gemeinsam gegen die verhaßte Beförderung von Juden vorzugehen.'"^ Als Reaktion auf die antisemitische Hetzkampagne faßte das Kriegsministerium einen folgenschweren Entschluß und leitete am 11. Oktober 1916 Erhebungen über die jüdische Beteiligung am Militärdienst ein.'"" "•o

Segall, Juden, S. 38; vgl. auch Friedländer, „Veränderungen", S. 37 f., Anm. 38 und das Manuskript von Eugen Netter „Der juedische Frontsoldat. Erinnerungen aus dem 1. Weltkrieg" (LBI N e w York ME 463, S. 4 - 1 1 ) . Aus seiner glorifizierenden Wehkriegspublizistik seien genannt: Felix A. Theilhaber, Die Juden im Weltkriege. Mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse für Deutschland, Berlin 1916; Ders., Schlichte Kriegserlebnisse, Berlin 1916, sowie ders., „Jüdische Flieger im Kriege", in: IDR 23 (1917), S. 397 ff. CZA Jerusalem A 231 2/15/20. Dazu zuletzt: Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, München 1998, S. 87. Grundlegend zum faktischen Hergang der Ereignisse: Angress, „Militär", sowie Ders., „The German Army's „Judenzählung" o f 1916. Genesis - Consequences -

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Die ministerielle Vorgeschichte dieser Maßnahme konnte bislang nicht aufgehellt werden und dürfte angesichts der verlorenen Potsdamer Militärakten auf lange Sicht ungeklärt bleiben. Im Unterschied zu seinem Vorgänger Falkenhayn war Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn zwar vermutlich kein Antisemit, doch ohne sonderliche Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem höheren Offizierskorps, das hinter verschlossenen Türen und zunehmend öffentlich dem steigenden Antisemitismus der Bevölkerung seine Sympathie bekundete.''*' Gleichzeitig ist auf die veränderte Lage im Herbst 1916 zu verweisen, als nach den verlustreichen Kämpfen um Verdun und an der Somme die Mobilisierung militärischer Reserven immer dringlicher w u r d e . S o l l t e Wild von Hohenborn jedenfalls auf die positiven Effekte der „Judenzählung" gesetzt haben, so erwies sich dies als schwerwiegende Fehleinschätzung. Im deutschen Judentum betrachtete man die Konfessionsstatistik als Skandal. Insbesondere der „ehrabschneidende" Aspekt der öffentlichen Überprüfung wurde allgemein als Demütigung empfunden. Ein patriotischer Rabbiner wie Georg Salzberger schrieb in sein Tagebuch die drastischen Sätze: „Die Kluft zwischen Juden und Christen, die überbrückt gewesen war, tut sich von neuem auf Der Jude fühlt sich als Gezeichneter."''" Ähnlich persönlich reagierte ein jüdischer Offizier, der hervorhob, daß einem die „Schamröte" bei dieser öffentlichen Form der Ächtung „ins Gesicht (steigt)".'''^ Und der Vizefeldwebel Julius Marx äußerte ebenso enttäuscht wie wütend, man wolle die Juden „zu Soldaten zweiten Ranges degradieren".''" Der Vorsitzende des „Abwehrvereins", Georg

Significance", in: LBIYB 23 (1980), S. 117-135; vgl. femer Jochmann, „Ausbreitung", S. 4 2 ( M 2 8 ; Magill, Defense, S. 256-286, und Zechlin, Politik, S. 5 2 9 - 5 3 3 . Vgl. Angress, „German Army's .Judenzählung'", S. 123 f.; zu Falkenhayns Antisemitismus: Holger Afflerbach, Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, München 1994, S. 130 ff. Allgemein zu Mentalität und Zusammensetzung des preußischen Offizierskorps: Martin Kitchen, The German Officer Corps 1890-1914, Oxford 1968. '••s Dazu nun: Jay Winter, „All Quiet on the Eastern Front: German Jews, The Eastern Front, and the First World War", in: Fighting for the Fatherland: The Patriotism o f Jews in World War I. An Exhibition of the Leo Baeck Institute N e w York, o.O. [New York ] 1999, S. 3 - 1 0 , hier S. 6 1 Georg Salzberger, Aus meinem Kriegstagebuch. 5. Armee, Frankfurt 1916, S. 31.

Von dem Feldgeistlichen

bei der

Mitgeteilt in: A[dolf] Eckstein, „Aus der Seele unserer jüdischen Kriegsteilnehmer", in: IDR 23 (1917), S. 6 5 - 6 9 , hier S. 67. Marx, Kriegs-Tagebuch, S. 138. Seine Notiz vom 2. November 1916 endete mit den empörten Worten: „Pfui Teufel! Dazu also hält man für sein Land den Schädel hin — " . An desillusionierten Stellungnahmen jüdischer Kriegsteilnehmer herrscht kein Mangel; vgl. etwa Ernst Simon, „Unser Kriegserlebnis", in: Jüdische Jugend 1 (1919), H. 1, S. 3 9 - 4 5 , hier S. 43, sowie den faktenreichen Artikel

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Gothein, reagierte prompt und wandte sich in einem Presseartikei gegen die Diffamierung der Kriegsgesellschaften, in denen sich die Juden angeblich vor der Front „drückten". Entschieden lehnte er es ab, den Unterstellungen mit statistischem Material entgegenzutreten, „weil dies den antisemitischen Verdächtigungen zu viel Ehre antu[e]".'^° Auch von anderen Organisationen und führenden Einzelpersönlichkeiten hagelte es Proteste gegen die „Judenzählung", so daß man sich im Kriegsministerium zur Rücknahme der anberaumten Maßnahme entschloß. Nun schössen aber erst recht die Spekulationen ins Kraut, deren Erfinder nicht mehr die Korrektur durch harte statistische Tatsachen zu fürchten hatten. Rosenzweig hatte dies richtig vorausgesehen und am 4. November 1916 seinen Eltern mitgeteilt, die „Niederschlagung der Konfessionsenquete" werde unheilvoller als die Publikation des Zahlenmaterials sein.''' Gothein hatte jedenfalls alle Hände voll zu tun: Noch am 3. September 1917 sandte er als Mitglied des Reichstags einen geharnischten Beschwerdebrief an den Kriegsminister, der sich gegen die antisemitischen Verunglimpfungen der Kriegsgesellschaften als Folge der abgebrochenen Erhebungen richtete.'" Insbesondere im CV, der mit Abstand größten politischen Organisation des deutschen Judentums, beurteilte man die Gründe für die „Judenzählung" als infam und die zu erwartenden Folgen als verhängnisvoll. Gerade die fiir das jüdische Bürgertum so wichtige Vorstellung einer nationalreligiösen Doppel Identität stand mit der diskriminierenden staatlichen Maßnahme zur Disposition. Der Leitartikel der Zeitschrift „Im deutschen Reich", dem offiziellen Organ des CV, argumentierte freilich noch sehr zurückhaltend. Es sei zu wünschen, daß man die Zählungen mit der nötigen Sorgfalt durchführe, damit nicht Bismarcks prinzipieller Vorbehalt gegenüber Statistiken angebracht sei. Sollte jedoch alles mit rechten Dingen zugehen, habe man keinerlei antisemitische Angriffe zu fürchten.''^ Andere Blätter des liberalen Judentums, die weniger im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen, reagierten nicht so zögerlich und stellten unmißverständlich klar, daß man sich nicht als Bürger zweiter Klasse betrachte. Das Hamburger „Israelitische Familienblatt" konzedierte zwar, daß militärische Rücksichtnahmen unliebsame Entscheidungen erforderten, betonte jedoch gleichfalls, daß die nationale Solidarität nicht gefährdet werden dürfe. Für die Erörterung konfessioneller Fragen sei gegen-

""

„Die Zählung der Juden", in: M V A A Nr. 23 vom 25. November 1916, S. 1 7 0 173. - Die Breitenwirkung der „Judenzählung" unterstreicht; Pulzer, Jews, S. 205; vgl. auch ders., „Erster Weltkrieg", S. 3 6 7 - 3 7 0 . Georg Gothein, „Die Judenzählung in den Kriegsgesellschaften", in: MVAA Nr. 22 vom 1. November 1916, S. 161-164. Rosenzweig, Briefe, Bd. I, S. 2 7 1 - 2 7 4 , hier S. 273. HStA Stuttgart M 738, Bü 46, fol. 19-20. Art. „Die Glaubens-Statistik im Heer", in: IDR 22 (1916). S. 2 4 2 - 2 4 5 .

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wältig nicht die Zeit, und der Antisemitismus, den es mit aller Kraft zu bekämpfen gelte, habe im Krieg erst recht kein Bürgerrecht."'* Oscar Cassel, der seit 1917 als Vorsitzender des Verbandes der Deutschen Juden amtierte und zugleich zum Vorstand der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei gehörte, nutzte die Hauptversammlung des CV am 4. Februar 1917 zu einer unmißverständlichen Rede. Sie gipfelte in dem in der Folgezeit häufig zitierten - Appell, man möge das patriotische Engagement deutscher Juden „,[n]icht zählen, sondern wiegenV"^^^ Auch seitens der zionistischen „Selbstwehr" hob man die Verletzung des Gleichheitsprinzips und der verfassungsmäßig garantierten Rechte als Religionsgemeinschaft hervor. Gleichzeitig machte man auf die außenpolitischen Konsequenzen aufmerksam, „wenn die pro-englischen Zeitungen in Amerika mit den üblichen Uebertreibungen vom Sieg des Antisemitismus im Deutschen Reiche berichten könnten".'^' Dies war ein Argument, das sich innerjüdisch allgemein großer Beliebtheit erfreute, gestattete es doch, den Appell um Gleichbehandlung mit plausiblen Anspielungen auf das außenpolitische Interesse Deutschlands zu verbinden. So hatte bereits Georg Gothein in seinem programmatischen Artikel für die MVAA auf den „schlimmen Eindruck" verwiesen, den die Konfessionsstatistik auf das amerikanische Judentum „machen muß".'^^ Doch trotz der Einhelligkeit und Massivität der Proteste sollte man die Bedeutung der „Judenzählung" flir jüdische Intellektuelle nicht überschätzen. Bereits vor dem Herbst 1916 war die Mehrzahl von ihnen von tiefen Zweifeln an der Sinnhaftigkeit des Krieges und den Zukunftsaussichten der deutsch-jüdischen „Kultursymbiose" erfdUt. Schon kurz nach Kriegsausbruch mußten viele Juden erkennen, daß der „Burgfrieden" lediglich eine erfolgreiche Parole, jedoch keineswegs gesellschaftliche Realität war. Die Vaterlandsliebe, zu der man sich scheinbar unverrückt bekannte, wurde mehr und mehr zu einem Schild vor antisemitischen

Art. „Rückblicke auf 1916", in: IF Nr. 1 vom 8. Januar 1917, S. 1; generell zum innerjüdischen Presseecho auf die anberaumten Zählungen: Magill, Defense, S. 265-268, der das Kompromißhafte im Verhalten des liberalen Judentums betont. Dazu eingehend: Haipersohn, „Nicht zählen, sondern wiegen! Ein Nachw. zur Hauptversammlung des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Berlin am 4. Februar 1917", in: AZJ Nr. 18 vom 30. März 1917, S. 145 ff. Art. „Die Judenzählung von 1916", in: Selbstwehr Nr. 40 vom 3. November 1916, S. 1 f., hier S. 2. - Zur überwiegend strategisch geprägten Reaktion des Prager Blattes auf die „Judenzählung" vgl. Wilhelm Terlau, „Österreichischer Patriotismus und jüdische Solidarität. Die Selbstwehr - eine zionistische Zeitung im Ersten Weltkrieg", in: Jüdischer Almanach, Jg. 1999, S. 42-56, hier S. 52 f Gothein, „Judenzählung", S. 164.

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Angriffen."^ Bis tief in das jüdische Bürgertum hinein lassen sich desillusionierte Äußerungen finden. So schrieb der erfolgreiche Frankfurter Fabrikant Jacob Epstein am 16. Mai 1916 in sein Tagebuch: „Es tritt gerade jetzt auch die flache Gemeinheit, die Roheit und die Lüge so kraß hervor. Auch der lauernde, giftige Antisemitismus."'^' Vor diesem Hintergrund erschien die „Judenzählung" nicht sonderlich überraschend. Walther Rathenau hatte zu Beginn des Krieges noch darauf gehofft, dem Antisemitismus erfolgreich mit Aufklärungsmaterial entgegentreten zu können, und aus diesem Grund das „Büro für Statistik der Juden" mit Geldspenden unterstützt. Die Entwicklungen belehrten ihn jedoch zur Genüge über die Wirksamkeit apologetischer Argumente. Am 28. November 1916 riet er Max Warburg nur noch lakonisch, auf „philanthropische Auseinandersetzungen" zu verzichten und lediglich auf die „politische Notwendigkeit" der Einhaltung des „Burgfriedens" zu verweisen.'^" Ähnlich distanziert reagierte der junge Rosenzweig, wenn er am 16. Februar 1917 seinen Eltern mitteilte: „,Wir Deutschen' kannst Du in Bezug auf Staatsangehörigkeit ruhig sagen, solange dieser vortreffliche Staat dich noch dazu .zählt'."'®' Hermann Cohen, der dem Antisemitismus stets engagiert entgegengetreten war, reagierte empört auf die „Kränkung unserer Söhne, die im Felde stehen". Die Substanz seines Weltbildes hielt er aber nicht für gefährdet; denn das den Juden eigene Gottvertrauen verleihe der Vaterlandsliebe eine Kraft, die von „sittliche[r] Zuversicht" begleitet sei.'®^ Auch im Rahmen seiner öffentlichen Auseinandersetzung mit Gustav Schmoller über die Diskriminierung jüdischer Gelehrter an deutschen Universitäten wies Cohen auf den Zynismus der „Judenzählung" hin. Sie solle die Juden in ihrem Patriotismus erschüttern, damit die

David Engel, „Patriotism as a Shield. The Liberal Jewish Defence against Antisemitism in Germany during the First World War", in: LBIYB 31 (1986), S. 147-171. Zit. nach: Hopp, Bürgertum,

S. 293.

Clemens Picht, ,„Er will der Messias der Juden werden'. Walther Rathenau zwischen Antisemitismus und jüdischer Prophetie", in: Hans Wilderotter (Hg.), Die Extreme berühren sich. Walther Rathenau 1867-1922 [...], N e w York u. Berlin 1994, S. 117-128, hierS. 123. Rosenzweig, Briefe, Bd. 1, S. 349 f., hier S. 349. Hermann Cohen, „Gottvertrauen", in: Ders., Jüdische Schriften, hg. v. Bruno Strauß [...], Bd. 1, Berlin 1924, S. 100-104 [zuerst NJM 1 (1916/17), S. 79-82], hier S. 103. Das Ausmaß von Cohens Enttäuschung zeigt sich deutlicher in seiner privaten Reaktion. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse teilte er Paul Natorp am 6. November 1916 mit: „Die Ehrenkränkung, welche d[ie] Jetzige Judenstatistik den deutschen Juden auferlegt, ist eine tiefe Gefühlskränkung, & da es kaum ein jüdisches Haus gibt, das nicht Kinder oder nahe Verwandte beklagt, so hat diese amtliche Tatsache, welche nur die tausendfachen Erlebnisse bestätigt, ein tiefes Unglücksgefühl über d [ie] deutschen Juden gebracht." (Holzhey, Cohen und Natorp, Bd. 2, S. 455 ff., hier S. 456).

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Antisemiten weiter ungehindert ihren Haß pflegen k ö n n t e n . ' " Gleich Cohen dürften viele jüdische Intellektuelle jegliche Diskussion über den sachlichen Gehalt und die rechtliche Substanz der Konfessionsstatistik als sinnlos betrachtet haben. Zumindest sucht man bei den Protagonisten des liberalen Judentums von Ernst Cassirer bis Stefan Zweig vergeblich nach ausführlichen oder gar intellektuell anspruchsvollen Reaktionen. Der junge Arnold Zweig, der an der Westfront seinen Dienst ableistete, stellte unter den zionistischen Schriftstellern eine Ausnahme dar. Empört über die Doppelmoral der preußischen Offizierskaste, kritisierte er die „Judenzählung" in einer düsteren Parabel, die illustriert, welch eine Kränkung diese Maßnahme für den einfachen jüdischen Soldaten bedeutete. Die Verstorbenen finden keinen „Halt mehr auf dem Grund ihrer Gräber", weil das Zählen eine große Unruhe verbreitet. Doch nach wie vor warte der Messias als „buckliger Bettler" „vor den Toren Roms" auf die existentielle Entscheidung des Menschen für die „Tochter Zions".'^'' Für Zweig, der zu Beginn des Krieges einen beträchtlichen Patriotismus an den Tag gelegt hatte, bedeutete dies zugleich die endgültige Absage an die verlogene Glorifizierung der deutschen Nation in der wilhelminischen „Untertanengesellschaft". In diesem Sinn stellte er in einem Brief an Martin Buber vom 15. Februar 1917 heraus, daß er sich seit der Konfessionsstatistik nicht mehr als Deutscher, sondern als „Zivilgefangene[r] und staatenlose[r] Ausländer" betrachte.'" Weit distanzierter äußerte sich Buber selbst in der kulturzionistischen Zeitschrift „Der Jude", die bald nach ihrer Gründung im April 1916 eine breite Leserschar gewonnen hatte. Nicht mehr als eine Glosse widmete der wortgewaltige Intellektuelle dem Thema, das viele jüdische Soldaten zutiefst erbitterte. Bereits die Anfangsworte zeigten, daß Buber jede Debatte über die Begründbarkeit der „Judenzählung" für sinnlos hielt: „Man sagt mir, ,wir' müßten protestieren. Das ist meine Meinung nicht. - An den aufrechten Deutschen ist es zu protestieren: an allen, die sich ihr Deutschland nicht durch

163 Hermann Cohen, „Betrachtungen über Schmollers Angriff', in: Ders., Jüdische Schriften, hg. v. Bruno Strauß [...], Bd. 2, Berlin 1924, S. 3 8 1 - 3 9 7 [zuerst NJM 1 (1916/17), S. 2 2 2 - 2 3 0 u. 2 5 6 - 2 6 0 ] , hier S. 381 f. IM

Arnold Zweig, „Judenzählung vor Verdun", in: Die Schaubühne Nr. 5 vom 1. Februar 1917, S. 115 ff.. Zitate S. 116 f.

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Georg Wenzel (Hg.), Arnold Zweig 1887-1968. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern. Mit unveröffentlichten Manuskripten und Briefen aus dem Nachlaß, Berlin u. Weimar 1978, S. 73 f., hier S. 74. Zu Zweigs Entwicklung seit August 1914: Helmut Fries, Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter, Bd. 2: Euphorie - Entsetzen - Widerspruch: Die Schriftsteller 1914-1918, Konstanz 1995, S. 114 f.

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den Ungeist, der sich mit diesen Anträgen und Prozeduren anicündigt, verschandeln lassen wollen."'^^ Bubers Argumentation zielte nicht nur auf die moralische Entlastung der diffamierten Minderheit, sondern enthielt zudem die implizite Aufforderung, das Deutsche Kaiserreich an seinem eigenen Anspruch als Kulturund Rechtsstaat zu messen. Ähnliches gilt für die Parallelen, die er zum russischen Schulzensus und zur Diskriminierung jüdischer Arbeiter in Polen zog. Überdies machten seine Ausführungen deutlich, wie sinnlos jedes Eingehen auf die antisemitischen Unterstellungen war, die letztlich zur „Judenzählung" geführt hatten. Allein so unzweideutig Buber dem Antisemitismus auch die moralische Dignität absprach, handlungsleitende Perspektiven erwuchsen daraus nicht. Nicht zufällig endete der Artikel in einer Aporie, der durch den zynischen Appell an die Gegenseite, sich nicht von der Zählung abbringen zu lassen, lediglich notdürftig kaschiert wird."^^ Bubers desillusionierte Beurteilung der Ereignisse, die zumindest den Keim zur Resignation in sich trug, war vermutlich weit verbreitet. So bemühte sich die Leiterin der Frankfurter Rechtsschutzstelle für Frauen, Henriette Fürth, zwar um eine positivere Bewertung der Konfessionsstatistik, doch auch in ihrem Gedicht „Jüdenzählung" findet sich die düstere Strophe: „Geht doch und zählt sie. Zählt auch die begraben Und die verkrüppelt dieser grause Krieg. Geht hin und zählt. Sollt unsre Hilfe haben Zum Zählen auch der jüd'schen milden Gaben Und jüd'schen Streiter für den innern Sieg."'^^ An der Unbelehrbarkeit und Bösartigkeit der Antisemiten gab es spätestens seit dem Herbst 1916 nichts mehr zu deuteln, und dies gab dem jüdischen Patriotismus der ersten beiden Kriegsjahre rückblickend einen illusionären Anstrich. Noch wichtiger als die unmittelbaren Reaktionen auf die „Judenzählung" war ihre langfristige Wirkung. Immer wieder sahen sich jüdische Politiker in der Weimarer Republik veranlaßt, dem Vorurteil der „Feigheit vor dem Feind" öffentlich entgegenzutreten. Jüdische Gelehrte fühlten sich verpflichtet, sie mit detailliertem Zahlenmaterial zu unterstützen. Zu ihnen zählte der Soziologe Franz Oppenheimer, dessen Streitschrift M[artin] B[uber], „Judenzählung", in: Der Jude 1 (1916/17), S. 564. Ausführlich zu Bubers im April 1916 gegründeter Zeitschrift „Der Jude" und seiner Redaktionspolitik unten Kap. 5.4. „Völker Europas, in deren Heeresverbänden achthunderttausend Juden für das kämpfen, was jedes von euch seine Sache nennt, zählt, wie viele von ihnen für diese Sache ihr Blut, wie viele für sie nur ihre Kraft hergeben. Zählt!" L J 9 ( 1 9 1 7 ) , S . 12.

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sich ausdrücklich gegen die antisemitische Unterstellung wandte, es hätten sich elf Prozent der jüdischen Kriegsteilnehmer in der „Etappe" befunden. Vernünftigerweise ließ sich Oppenheimer nicht auf die Haarspaltereien der Gegenseite ein, sondern argumentierte primär methodisch: „Wenn die Gesamtzahl der im Felde stehenden Juden während des ganzen Krieges ungefähr dem Durchschnitt der Nichtjuden entsprochen hat, dann ist es mehr als merkwürdig, dann ist es schlechterdings unmöglich, daß in einem bestimmten Zeitpunkte das Verhältnis so viel ungünstiger gewesen sein sollte. Jeder besonnene Statistiker wird in diesem Falle die Abweichung auf die Fehlerquellen der Erhebung zurückführen."'®' In Anbetracht der ungesicherten Datenbasis war dies ein kluges, letztlich unwiderlegbares Argument. Oppenheimer wußte freilich, daß er damit Menschen, die den Teil fürs Ganze nehmen wollten, nicht überzeugen konnte. Halb trotzig und halb resigniert zitierte er im Fazit seiner Broschüre die bekannten Worte aus Lessings Nathan „Hilft nichts, der Jude wird verbrannt" und verband dies mit spöttischen Bemerkungen über die „Herren vom Hakenkreuz".'™ Angesichts des verlorenen Krieges und der zwölftausend jüdischen Gefallenen war dies eine bittere Bilanz.

3.4. Kriegsende und Revolution Der Zusammenbruch der Westfront kam für den, der sehen wollte, nicht sonderlich überraschend. Seit Juli 1918 warfen die Alliierten immer neue Streitkräfte in die Schlacht, während Versorgungslage und Kampfinoral der deutschen Armee seit dem Scheitern der Frühjahrsoffensive desolat waren. Zwar verhinderte die Zensur ausgiebige politische Diskussionen, doch herrschte unter den Entscheidungsträgem im Spätsommer 1918 weitgehend Einigkeit in der Beurteilung der militärischen Situation. Zu den Wohl informierten Kreisen des deutschen Judentums zählte neben Albert Ballin und Walther Rathenau auch Theodor W o l f f J ü d i s c h e Intel-

"0

Franz Oppenheimer, Die Judenstatistik München 1922, S. 12. Ebd., S. 48.

des preußischen

Kriegsministeriums,

Vgl. Cecil, Ballin, S. 2 1 5 - 2 2 1 ; Schulin, Rathenau, S. 20 f., und Bernd Sösemann, Einleitung, in: Theodor Wolff, Tagebücher 1914-1919. Der Erste Weltkrieg und die Entstehung der Weimarer Republik in Tagebüchern, Leitartikeln und Briefen [...]. Eingel. u. hg. v. dems., Tl. 1, Boppard am Rhein 1984, S. 1 - 5 8 , hier S. 40 ff. Diese Tatsache schuf im übrigen ein weitreichendes Zusammengehörigkeitsgefühl. So konnte Ballin auf die innere Zustimmung Wolffs rechnen, wenn er ihm

Kriegsende und Revolution

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lektuelle in der Habsburgermonarchie profitierten nicht selten von ihrer kritischen Außenperspektive auf das Deutsche Kaiserreich. So teilte Stefan Zweig am 23. Oktober 1918 Julius Bab mit, für wie töricht er den uneingeschränkten U-Boot-Krieg gehalten hatte, der den Kriegseintritt der USA provozieren mußte. Doch habe die Zensur leider verhindert, daß seine Ansichten irgendeine Wirkung entfaltet h ä t t e n . G e w i ß trägt diese Erinnerung stilisierte Züge, doch auch für Zweig hatte sich der Kriegsausgang seit längerem abgezeichnet. Angesichts der immer schlechter werdenden Kriegslage griff im deutschen Judentum ein Gefühl der Ernüchterung um sich. Hinzu kam, daß sich die Situation der Juden durch den Weltkrieg keineswegs gebessert hatte. Der Breslauer Studienrat Willy Cohn notierte im Spätsommer 1918 in sein Tagebuch: „Im Chaos wird dieser Krieg endigen! - In Jerusalem wird von englischer Seite eine jüdische Universität gegründet, aber in Deutschland bleibt der Jude Mensch zweiter Klasse!— Schmutz, überall Schmutz."'" Dies waren die verbitterten Worte eines akkulturierten jüdischen Bildungsbürgers, der allzu lange seine Hoffnungen auf einen Sieg der deutschen Armee gesetzt hatte. Wenig anders äußerte sich die junge Dichterin Margarete Susman am 9. August 1918 in der Frankfurter Zeitung: „Was ist zu tun? Nur Eines! Nur schreien können wir - schreien mit aller Kraft unserer armen, erstickten Menschenstimme - schreien, daß wir den grauenhaften Lärm des Geschehens übertönen Ambivalente Gefühle, gespannte Erwartungen und tiefgehende Enttäuschungen charakterisierten allgemein die Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges durch deutsch-jüdische Intellektuelle. Eine starke Desillusionierung erlebte beispielsweise der junge Franz Rosenzweig. Lange Zeit hatte er aufmerksam die Entwicklung der Kriegsereignisse beobachtet und die Erfolge der deutschen Armee begrüßt. Seine besonderen Sympathien galten Naumanns MitteleuropaKonzept, das ihm als künftige Friedensordnung durchaus geeignet erschien."^ Doch fehlten schon früh die kritischen Töne nicht. Rosenzweig beurteilte es als fatal, daß die OHL nach dem Sturz Bethmann Hollwegs am 16. Juli 1915 mitteilte, es sei nun einmal sein Schicksal, „in Überzeugtester innerer Opposition zu allem zu stehen, was ,man' allgemein über den Krieg, seine Entstehung, seinen Verlauf und seine voraussehbaren Folgen denkt" (BA Koblenz N 1207, Bd. 5). Stefan Zweig, Briefe, S. 242. CAHJP Jerusalem P 88, Nr. 4, Eintragung vom 9. August 1918. Zit. nach: Hans Tramer, „Der Beitrag der Juden zu Geist und Kultur", in: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923. Ein Sammelband, hg. v. Werner E. Mosse unter Mitw. v. Arnold Paucker, Tübingen 1971, S. 317-385, hier S. 347. Pointiert zur Bedeutung von Naumanns „Mitteleuropa"-Buch aus dem Jahre 1915: Nipperdey, Geschichte, Bd. 2, S. 809; zum Folgenden vgl. Meineke, „Life", S. 470-483.

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in politischen Fragen tonangebend wurde, und nach dem Scheitern Michaelis' sah er „Deutschland auf dem Weg zur Revolution"."^ Dennoch blieb Rosenzweigs Identifikation mit der Wertewelt des Kaiserreichs ausgesprochen hoch. Die Niederlage der deutschen Armee kam für ihn vollständig überraschend und änderte nichts an seiner Sympathie für Wilhelm II. Im November 1918 erwog der Philosoph emsthaft, in die konservativ ausgerichtete Nationalliberale Partei einzutreten, die sich jedoch auflöste, bevor er seinen Vorsatz realisieren konnte. Bezeichnend für die kulturpessimistische Zeitdiagnose des ehemaligen MeineckeSchülers war es, daß er Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes als vermutlich „größte[s] Geschichtsphilosophem [...] seit Hegel" pries.'^^ Das Ausmaß von Rosenzweigs Enttäuschung über den Kriegsausgang spiegelt sich in der Aussage, die er im November 1918 gegenüber dem Historiker Siegfried August Kaehler machte: „,Wir glaubten an einem Anfang zu stehen und haben in einem Ancien Regime gelebt.'"'^^ Den Revolutionsereignissen stand Rosenzweig desillusioniert und ablehnend gegenüber. Bezeichnenderweise verzichtete er auf die Zeitungslektüre, die für ihn bis dato eine Selbstverständlichkeit gewesen war.'^' Rosenzweig gehörte zu jenen Angehörigen des jüdischen Bürgertums, die bis zum letzten Moment an der Hoffnung auf einen deutschen Sieg festhielten. Noch am 29. September erschien Alfreds Kerrs Gedicht „Die Wende hat begonnen ...", das einem Wunschdenken Ausdruck verlieh, welches militärische und politische Gegebenheiten sträflich vernachlässigte. Es endet mit der Strophe: „Laßt uns das Letzte geben. Ein Wunder muß geschehen. Deutschland kämpft um sein Leben. Es darf nicht untergehn."'*" Schreiben Rosenzweigs an Ernst Baumann vom 25. Oktober 1917; Rosenzweig, Briefe, Bd. 1, S. 477 f.. Zitat S. 477. Schreiben Rosenzweigs an Rudolf Ehrenberg vom 5. Mai 1919; ebd., Bd. 2, S. 628 f., hier S. 629. Nähere Ausführungen zur Veränderung von Rosenzweigs Geschichtsphilosophie unten Kap. 6.3. Dies teilte Kaehler seinerseits Rosenzweigs Doktorvater, Friedrich Meinecke, am 22. Januar 1919 mit; Friedrich Meinecke, Ausgewählter Briefwechsel, hg. u. eingel. V. Ludwig Dehio u. Peter Classen, Stuttgart 1962, S. 328-334, hier S. 329. Zu Rosenzweigs Beurteilung des Kriegsendes: Meineke, „Life", S. 488. 179 Vgl. sein undatiertes Schreiben an Kaehler; StUB Göttingen Cod. Ms S. A. Kaehler 1,142. Generell zum distanziert-freundlichen Kontakt der beiden Meinecke-Schüler: Ina Lorenz, .„Erkennen als Dienst am Menschen'. Einige unveröffentlichte Briefe von Franz Rosenzweig an den Historiker Siegfried A. Kaehler", in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929). Internationaler Kongreß Kassel 1986, Bd. 1: Die Herausforderung jüdischen Lernens, Freiburg u. München 1988, S. 187-209. Zit. nach: 1914. Der Deutsche Krieg im Deutschen Gedicht, H. 12: „Das Ende", ausgew. V. Julius Bab, Berlin o.J. [1920], S. 40.

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Auch die Protagonisten der älteren Generation, Hermann Cohen, Eugen Fuchs und Ludwig Geiger, folgerten unverdrossen aus ihrer Wertschätzung des Deutschtums auf einen günstigen Kriegsausgang. Das Ausmaß der Verblendung belegt Cohens Kommentierung des amerikanischen Kriegseintritts, demzufolge die „letzten Reserven der Entente" den deutschen „Siegesmarsch nicht aufhalten werden".'®' Der Marburger Philosoph starb im April 1918; den beiden anderen fuhrenden Vertretern des liberalen Judentums blieb es jedoch nicht erspart, das Scheitern ihrer hochfliegenden Hoffnungen miterleben zu müssen. Ähnlich erging es Walther Rathenau, der in den letzten Kriegstagen von einer ausgeprägten Zukunftsfurcht beherrscht wurde. Sonst eher ein kühler Analytiker, gab er sich beim Gedanken an die bevorstehenden Veränderungen düsteren Visionen hin. Am 8. Oktober 1918 schrieb er an Maximilian Harden: „Nach meiner Überzeugung (obwohl ich nicht katastrophal zu denken gewohnt bin) treiben wir dem Bürgerkrieg, der Militärrevolte, dem Emährungsstreik entgegen, besiegelt durch die regellose Auflösung der Front."'®^ So pessimistisch wie die Einschätzung der politischen Situation, so gewagt fiel auch das gewählte „Heilmittel" aus. Unter Vernachlässigung der realen Kräfteverhältnisse propagierte er eine allgemeine Volkserhebung, um die Soldaten der Entente von deutschem Boden fernzuhalten.'*' Für die meisten jüdischen Soldaten stand im November 1918 jedoch schlicht die Freude über das Kriegsende im Mittelpunkt. Ein eindrucksvoller Erfahrungsbericht schildert, in welchem Ausmaß es zu Verbrüderungen zwischen deutschen und französischen Soldaten kam. Leuchtkugeln wurden in den Himmel geschossen, man umarmte und küßte einander und sang vaterländische Lieder. Von einem Idyll läßt sich jedoch angesichts der Spannungen zwischen Offizieren und Mannschaften nicht sprechen: Mißliebige Offiziere liefen davon, weil sie die Rache ihrer Soldaten fürchteten, und gelegentlich kam es zu ernsten Ausschreitungen.'®" Auch für jüdische Militärangehörige galt im November 1918,

Brief Cohens an Paul Natorp vom 4. November 1917, Holzhey, Cohen und Natorp, Bd. 2, S. 488 ff., hier S. 489. Allgemein zur realitätsfemen Lagebeurteilung des liberalen Judentums: Magill, Defense, S. 369 f., und Moshe Zimmermann, „Zukunftserwartungen der deutschen Juden im ersten Jahr der Weimarer Republik", in: AfS 37 (1997), S. 55-72, hier S. 57 f. Rathenau, Politische Briefe, S. 186 f., hier S. 186; zu Rathenaus Haltung im Oktober 1918: Schulin, Rathenau, S. 92 ff. Dazu plastisch: Harry Graf Kessler, Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk, Berlin 1928, S. 265 ff.; als Analyse vortrefflich: Joll, „Prophet", S. 41 f „Selbst dabei gewesen", rückblickender Bericht Willi Wertheimers über die Ereignisse des 11. November 1918, verfaßt 1942; BAMA Freiburg MSG 2/2011, Dok. 21. Für Wertheimer wurde der Erste Weltkrieg eine febensbestimmende Erfahrung, noch 1969/70 setzte er sich für die Schaffung eines Waldhaines bei Hai-

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daß das Ausmaß der Enttäuschung über den verlorenen Krieg mit der Höhe des militärischen Rangs stieg. Langgehegte Ehrbegriffe erschienen im Herbst 1918 vielen jüdischen Offizieren bedeutungslos. Detailliert beschreibt Philipp Flesch, ein akkulturierter Wiener Jude, der gleich nach seinem Abitur an der italienischen Front zum Einsatz kam, wie sich bei Kriegsende bisherige politische und moralische Wertvorstellungen verflüchtigten. Das militärische und organisatorische Chaos in Bozen rief in ihm einen „entsetzliche[n] Ekel" hervor, und die Leiden und Opfer des Krieges erschienen ihm nun vollständig sinnlos: „Ich sah die Geister der Gefallenen aufsteigen und mich trauernd anblicken. Krank an Seele und Körper kam ich nach Wien zurück."'^' Gleichzeitig verdeutlicht der Bericht, wie schlecht Fleschs jugendlicher Enthusiasmus mit den Auflösungserscheinungen einer geschlagenen Armee zurechtkam.'®^ Die unverhüllte Infragestellung der „alten Mächte", die aus den meisten Quellen spricht, ist eine bemerkenswerte Tatsache. Sie läßt Rückschlüsse darauf zu, in welchem Ausmaß die Kritik an den - vor 1914 verneinten oder schönfärberisch dargestellten - Schattenlinien des Deutschen Kaiserreichs auf innerjüdische Zustimmung rechnen konnte. Ein Zeitzeuge konstatierte rückblickend, daß „der Kaiser mit seiner Flucht aus dem Hauptquartier" für das Nachlassen der Kampfmoral verantwortlich gewesen sei.'®^ Der Münchener Rechtsanwalt Max Hirschberg sprach eine gängige Auffassung aus, wenn er die Informationspolitik der OHL kritisierte, welche die Kämpfenden bis zum letzten Moment über den Ernst der militärischen Lage im unklaren gelassen hatte: „Ich erinnere mich noch genau des letzten Heeresbefehls der Heeresgruppe C, der ich damals mit einer Batterie zugeteilt war; er war von Anfang November 1918 und enthielt einen Satz der mir wörtlich im Gedächtnis geblieben ist: ,Der Feind erschöpft sich in blutigem erfolglosem Nachdrängen.' Man muss gerechterweise zugeben, dass es militärisch nicht möglich war, die Truppe über die verzweifelte Lage zu informieren. Aber sie noch in diesem Zeitpunkt in dieser Weise zu belügen, war sinnlos und musste den letzten Rest des Vertrauens vernichten.""' fa ein, der an die 12.000 gefallenen jüdischen Soldaten erinnern sollte (ebd., Dok. 19). 185 HL Harvard bMS Ger 91 (64), Philipp Flesch, S. 2 f . Generell zur „Gegenwärtigkeit" der verstorbenen Kameraden: Winter, Sites, S. 71-76. 186 Hierzu nun anschauungsgesättigt: Ziemann, Front, S. 224-228. 187 HL Harvard bMS Ger 91 (28), Rudolf Bing, S. 25. Vergleichbar äußerte sich ein Breslauer Rechtsanwalt und Notar, der detailscharf die Kriegsmüdigkeit an der Westfront beschreibt; HL Harvard bMS Ger (151), Ernst Marcus, S. 16. HL Harvard bMS Ger 91 (97), Max Hirschberg, S. 9; ähnlich im Tenor: LBI New York ME 133, Fritz Frank, Das Stahlbad, Aufzeichnungen eines Arztes, S. 1 8 8 -

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Obwohl die militärische Niederlage schon lange ihre Schatten vorausgeworfen hatte, verdüsterte sie den Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik entscheidend. Die Unterzeichnung des Waffenstillstands im Wald von Compiegne am 11. November 1918, der einer Kapitulation gleichkam, war für viele eine schier unfaßbare Tatsache. Insbesondere seitens der politischen Rechten attackierte man die Vertreter der jungen Republik für die Konsequenzen einer Entwicklung, die sie nicht zu verantworten hatten.'®' Selbst denjenigen, welche die aussichtslose militärischen Lage in Rechnung stellten, schien es, als ob ihr Vaterland einen gerechteren Kriegsausgang verdient hätte. Auch unter den deutschjüdischen Intellektuellen bevorzugte man kompensatorische Erklärungsmuster, welche die eigenen idealistischen Tugenden mit der „materiellen" Übermacht der Alliierten kontrastierten. Pars pro toto sei die Auffassung Isaak Heinemanns wiedergegeben, der seit 1920 die „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums" leiten sollte. Der angesehene Altphilologe hielt es im Dezember I9I8 für erwiesen, daß nur „überlegene Feindesmacht den Heldenmut unserer Verteidigung" gebrochen habe.'®" Wie allgemein in Deutschland konzentrierte sich auch der jüdische Unmut auf Wilson und die als überhart empfundenen Waffenstillstandsbedingungen. Der stets eine kräftige Sprache bevorzugende Joseph Wohlgemuth nannte den amerikanischen Präsidenten einen „Heuchler oder Narr", der keinerlei Verständnis für Deutschland aufbringe.'" Im Leitartikel der Novemberausgabe von „Im deutschen Reich" hieß es moderater, aber gleichwohl unmißverständlich: „Wir alle haben das Aufhören des Blutvergießens mit ständig wachsender Sehnsucht erfleht, und nun vermochten wir uns über den nahenden Frieden nicht zu freuen.""^ 208. Vgl. auch Victor Klemperers summarische Beurteilung seiner Kriegserfahrungen: „Ich für meinen Teil habe nur den Zweifel heimgebracht, den absoluten Zweifel an jeder Position." (Klemperer, Curriculum vitae, S. 333). Aus der reichen Literatur seien lediglich einige einschlägige Überblicksdarstellungen erwähnt: Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, 3. Überarb. u. erw. Aufl. München 1993, S. 1 - 2 2 u. 157-168; Hans Mommsen, Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang, 1918 bis 1933, Frankfurt am Main 1989, S. 13-62, sowie Heinrich August Winkler, Weimar 19181933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 1 3 86. ""

I[saak] Heinemann, „Der Völkerbund im Lichte des Judentums", in: Jeschurun 5 (1918), S. 6 0 9 - 6 5 7 , hier S. 609. Generell zur Einschätzung der Niederlage durch die Orthodoxie: Reichmann, „Bewußtseinswandel", S. 552 ff. J[oseph] W[ohlgemuth], „Vier Jahre Weltkrieg", in: Jeschurun 5 (1918), S. 4 3 0 434, hier S. 432. j[akob] Sch[erek], „Umwälzung und Kriegsende", in: IDR 24 (1918), S. 4 1 7 427, hier S. 425. Auch die .Allgemeine Zeitung des Judentums" insistierte darauf, „daß es eine in der Weltgeschichte unerhörte Zumutung ist, daß fremde Na-

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Und einen Monat später glaubte der Heilbronner Rabbiner Max Beermann, mit dem Satz „Im Geiste liegt das Heil, nicht in der Faust!" die Alliierten an die „Erbschaft" des Propheten Jeremias erinnern zu müssen."^ Ein überzeugter Linksiiberaler wie Theodor Wolff hielt hingegen mit Selbstverständlichkeit an seinen politischen Reform Vorstellungen fest. Die Ausrufung der Weimarer Republik am 9. November 1918 begrüßte er in einem programmatischen Artikel, der das Geschehen als „größte aller Revolutionen" feierte und zugleich friedliche Veränderungen im Geist der „Glorious Revolution" anmahnte."'* Ähnliches gilt für den „Vater der Weimarer Reichsverfassung" Hugo Preuß, der die politische Entwicklung am 14. November unter das Motto „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitstaat?" stellte."^ Seiner Forderung nach demokratischer Mitgestaltung folgten viele Juden, die das neue Staatswesen nach Kräften unterstützten und politische Verantwortung übernahmen. Allein in der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung saßen 24 Abgeordnete jüdischer Herkunft, von denen sich zwei Drittel zum Judentum bekannten."^ Sie nutzten die Chance zur politischen Betätigung und ließen sich nicht von jener Furcht anstecken, die weite Teile des jüdischen Bürgertums paralysierte. In Österreich, wo der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie das Judentum direkt mit einem gewalttätigen Nationalismus konfrontierte, stellte sich die Situation prekärer dar. Auch Stefan Zweig, der ansonsten zu den nüchternen Beobachtern der politischen Entwicklung gehörte, behielt keinen klaren Kopf. Am 23. Oktober 1918 teilte er Julius Bab aufgeregt mit: „Es darf nicht noch einmal eine Vergewaltigung geschehen, es darf in Deutschland keine Commune von 1871 geschehen, ich fürchte nichts so sehr und hasse nichts so sehr als Bewegungen ohne geistige Be-

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tionen es wagen, sich in die inneren Angelegenheiten eines Volkes zu mischen". Immerhin fügte sie klugerweise hinzu, daß „das grausame Wort", wonach das Recht beim Sieger liege, wohl „auch in diesem Falle seine Geltung behalte" (AZJ 82 [1918], Kolumne „Die Woche", S. 5 1 8 - 5 2 1 , hier S. 519). M[ax] Beermann, „Unsere Propheten und der Völkerbund", in: IDR 24 (1918), S. 449 ff., hier S. 450. Theodor Wolff, „Der Erfolg der Revolution", in: BT Nr. 576 vom 10. November 1918. Anschaulich zum historischen Kontext: Bernd Sösemann, Theodor Wolff. Ein Leben mit der Zeitung, München 2000, S. 184 ff. BT Nr. 583 vom 14. November 1918. - Die dringend benötigte Studie zu Hugo Preuß' politischer Wirksamkeit ist demnächst von Michael Dreyer, Jena, zu erwarten. Grundlegend zum Folgenden: Werner T. Angress, „Juden im politischen Leben der Revolutionszeit", in: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1 9 1 6 1923. Ein Sammelband, hg. v. Werner E. Mosse unter Mitw. v. Arnold Paucker, Tübingen 1971, S. 137-315, hier S. 153, Anm. 41. Vgl. ferner Donald L. Niewyk, „The German Jews in Revolution and Revolt, 1918-19", in: Studies in Contemporary Jewry 4 (1988), S. 4 1 - 6 6 , und Pulzer, State, S. 2 0 7 - 2 1 4 .

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Strebung, die nur nivellieren wollen." Und er befand: „Genug ist zerstört. Schon jetzt muß mit dem Aufbau begonnen werden. Mäßigung ist überall das wesentlichste Wort.""' Zweigs Ablehnung der Revolution ging so weit, daß er Sprachwendungen und Einschätzungen übernahm, die in antisemitischen Kreisen gängige Münze waren. Anton Kippenberg teilte er am 6. Januar 1919 mit, er schäme sich „als Intellectueller für diese Intellectuellen, als Jude für diese vordringlichen Juden, als Democrat für diese Revolutionäre"."' Dies war gewiß überzogen formuliert, doch traf es eine weitverbreitete Stimmungslage. Die in München erscheinende „Deutsche Israelitische Zeitung" verwies am 31. Oktober 1918 auf die monarchische Gesinnung der bayerischen Juden und mahnte Kurt Eisner zur „,Zurüclchaltung'". Am 12. Dezember kritisierte das Blatt die hohe Zahl von Juden in politischen Ämtern, weil dies der antisemitischen Agitation Vorschub leiste."' Fünf Tage später veröffentlichte der Geschäftsführer des „Abwehrvereins" Curt Bürger einen Artikel mit dem ebenso plakativen wie provokanten Titel „Etwas mehr Selbstzucht und Würde". Er forderte in schulmeisterlicher Diktion neben Eisner auch die Anarchisten Erich Mühsam und Josef Sontheimer zu politischer Enthaltsamkeit auf Gewiß wurde Bürgers Argumentation durch seine Angst vor einer „neuen antisemitischen Hochflut" bestimmt, doch zeigte gerade die fehlende Solidarität mit den angegriffenen Politikern, wie überfordert die bürgerliche „Abwehrpolitik" in den Tagen der Revolution war.^®° Einige jüdische Intellektuelle am linken Flügel des politischen Spektrums begrüßten hingegen die Weltkriegsniederlage als Vorbedingung radikaler gesellschaftlicher Umwälzungen. Die „Geistigenräte", die im November 1918 in verschiedenen deutschen Großstädten gegründet wurStefan Zweig, Briefe, S. 242. Zur Situation in Österreich knapp und konzis: Pulzer, „Erster Weltkrieg", S. 379 f. Stefan Zweig, Briefe, S. 256 f , hier S. 257. Statt dessen glaubte Zweig, daß es „Zeit zu einem neuen Idealismus" sei, der im Geiste Goethes nationale Beschränktheiten überwinde, wie er bereits am 15. November 1918 seinem Verleger mitgeteilt hatte; ebd., S. 242 ff., hier S. 243. Eingehender zu Zweigs Anfälligkeit für antisemitische Topoi unten Kap. 5.1. Vgl. Reichmann, „Bewußtseinswandel", S. 554 f ; ebd., S. 554, das Zitat. ™

C[urt] B[ürger], „Etwas mehr Selbstzucht und Würde", in: M V A A Nr. 24/25 vom 17. Dezember 1918, S. 120 f , hier S. 121. Die Hilflosigkeit von Bürgers politischer Position zeigt sich in der häufigen Anwendung ästhetisch-moralisierender Kategorien - von „stilwidrig", über „Geschmacklosigkeit" bis hin zu „Taktlosigkeiten" und „Ungezogenheiten" die ihre Herkunft aus der Rüstkammer des antisemitischen Gegners nicht verleugnen können. Allgemein zur passiven Reaktion des liberalen Judentums auf die antisemitische Propaganda: Werner T. Angress, „Revolution und Demokratie: Jüdische Politiker in Berlin 1918/19", in: Reinhard Rürup (Hg.), Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien, Berlin 1995, S. 181-196, hier S. 194 f.

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den, blieben freilich Episode. Unfähig zur politischen Zusammenarbeit, fehlte es ihnen vor allem an Akzeptanz in der Bevölkerung, um zu einem dauerhaften politischen Machtfaktor zu werden. So mußte der „Rat geistiger Arbeiter" um Kurt Hiller bereits nach wenigen Tagen den Berliner Reichstag wieder verlassen.^"' Die Mitglieder des „Spartacusbundes", aus dem zum Jahreswechsel 1918/19 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hervorging, waren erheblich gewaltbereiter. Ihre jüdische Herkunft behandelten sie als Quantite negligeable: wenn sie überhaupt darauf rekurrierten, dann im Zusammenhang mit dem „konsequenten Internationalismus" ihres Weltbilds. Im deutschen Judentum wiederum bestanden nur äußerst geringe Sympathien für die KPD. Noch vor Beginn der Straßenkämpfe in der Republikhauptstadt warnte der Essener Rabbiner Salomen Samuel eindringlich vor den Folgen eines gewaltsamen Putschversuchs.^"^ Der Einfluß der „Spartacus-Gruppe" auf jüdische Kreise blieb selbst in Berlin gering. Eine Ausnahme bildete der Schriftsteller Wieland Herzfelde, der im Sommer 1916 die Monatsschrift „Neue Jugend" gegründet hatte und zu den Leitern des sozialistisch ausgerichteten Malik-Verlags gehörte. Am 18. Januar 1919 schilderte Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch, wie Herzfelde trotz des mißglückten Aufstands an seinen revolutionären Idealen festhielt und die Herrschaft des Terrors unverdrossen als gerechtfertigt empfand.^"^ Einer der bekanntesten undogmatischen Sozialisten war Gustav Landauer. Schon am 16. April 1917 hatte er mit dem Gedanken an eine umfassende Revolution gespielt und dies Buber schriftlich mitgeteilt.^"'* Obwohl Landauer den Krieg als kämpferischer Pazifist grundsätzlich Zu den ideologiegeschichtlichen Folgen dieses politischen Mißerfolgs: Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfworts, Stuttgart 1978, S. 8 2 88. [Salomon] Samuel, „Spartacus", in: IF Nr. 1 vom 3. Januar 1919, S. 1 f. Den historischen Kontext analysieren: Angress, „Juden", S. 2 2 5 - 2 3 4 ; Ders., „Revolution", S. 192 ff.; Niewyk, „German Jews", S. 42 f., und Zimmermann, „Zukunftserwartungen", S. 59 ff. Zu Herzfelde vgl. Tramer, „Beitrag", S. 342 f., und passim. - Für die Einsicht in die Tagebücher von Harry Graf Kessler, die gegenwärtig für den Druck vorbereitet werden, danke ich Frau Dr. Ingrid Belke und Frau Heike Schiller vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach. 204

Buber, Briefwechsel, Bd. 1, S. 490 f Vgl. allerdings auch Landauers Schreiben an Margarete Susman vom 16. April 1917, in dem er die Aussichten einer deutschen Revolution wesentlich skeptischer einschätzt: „Ich glaube an eine Revolution auch in Deutschland, aber nicht während dieses Krieges und nicht in den ersten Jahren nachher. [...] [W]ir haben kein Bürgertum, das an der Neugestaltung der Verhältnisse teilnimmt; [...]. Die Geistigen, die sich jetzt, während des Kriegs, der Politik zugewandt haben, sind noch viel zu schwach und verworren." (Landauer, Lebensgang, Bd. 2, S. 176 ff., hier S. 176 f.).

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ablehnte, deutete er ihn doch in apokalyptischen Denkfiguren, die dem Geschehen einen geschichtsphilosophischen Sinn unterlegten. Keinerlei Sympathie hegte er für die „Spartakisten", deren Geschichtsdeterminismus und Gewaltbereitschaft er als gleichermaßen unheilvoll betrachtete. Andererseits übte er scharfe Kritik an der bürgerlichen Einstellung zur Novemberrevolution. Am 3. November 1918 schrieb er an Fritz Mauthner: „Wenn ich einen Wunsch an eine Fee frei hätte, wäre es kein anderer als dieser: Deutschlands Zustände heute und in den nächsten 14 Tagen zu sehen, wie sie ohne diese Revolution gewesen wären! Es war nichts, absolut nichts für den Fall dieser Niederlage und dieser Demobilisation vorbereitet!"^"' Im Dezember 1918 bot sich Landauer bei den Münchener Revolutionswirren die Gelegenheit, für die Verwirklichung seiner Ideale zu kämpfen. Trotz seiner scheinbaren Weltfremdheit wurde Landauer alsbald eine wichtige Stütze von Kurt Eisner, mit dem er neben der jüdischen Herkunft das Vertrauen in die universale Gültigkeit humaner Werte teilte. Ihr Politikverständnis konvergierte in der Bedeutung, die sie utopischen Entwürfen für die Gesellschaftsgestaltung beimaßen. Dies war freilich nicht ohne tiefgehende Ambiguität, weil jede politische Analyse der Gegenwart gleichsam im Schatten der Zukunft stand und deshalb die - in diesen bewegten Tagen so wichtige - Beurteilung der realen Kräfteverhältnisse von nachgeordneter Bedeutung erscheinen mußte.^"® Mit rastlosem Eifer stürzte sich Landauer in seine Aufgaben als Unterrichtsminister der Münchener Revolutionsregierung. Knapp einen Monat nach der Ermordung Eisners schrieb er seinem Bruder Hugo am 19. März 1919: „Man muß überall zugleich ansetzen, das eine tun und das andere nicht lassen: die Bauern mit neuem Geist befruchten, ihre Kinder anders unterrichten, durch Wanderredner, Vorleser und Wanderbühnen etwas für ihre Erweckung tun; selbst in den Kirchen unkirchlich die Lehren Christi und Landauer - Mauthner, S. 350 f., hier S. 350. Nähere Ausführungen zu Landauers Ablehnung des Weltkrieges unten Kap. 4.2. Vgl. Angress, „Juden", S. 2 3 4 - 2 6 7 , und Ruth Link-Salinger, Prophet of Community. The Romantic Socialism of Gustav Landauer, Berkeley 1973, S. 8 2 - 8 8 ; allgemein zur politischen Entwicklung in Bayern: Allan D. Mitchell, Revolution in ßavaria 1918-1919. The Eisner Regime and the Soviel Republic, N e w Jersey 1965. Zu Eisners neukantianisch gefärbtem politischen Weltbild: Freya Eisner, „Kurt Eisners Ort in der sozialistischen Bewegung", in: VfZG 43 (1995), S. 4 0 7 435, bes. S. 4 1 6 - 4 2 0 , sowie Bernhard Grau, Kurt Eisner 1867-1919. Eine Biographie, München 2001, S. 105-129 u. 508-516.

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Buddhas verkündigen; die Großgrundbesitze aufteilen und für Gemeindeland und neue Bauemsiedlungen aus früheren Industriearbeiten sorgen."^"' Der Brief zeigt nicht nur Landauers revolutionären Enthusiasmus, sondern auch - ungeachtet der weihevollen, nachgerade prophetischen Sprache - eine recht nüchterne Situationseinschätzung. Allzu rasch verloren aus seiner Perspektive die Arbeiter- und Bauernräte an politischer Macht, allzu rasch stabilisierte Friedrich Ebert seine Position, allzu rasch wurde das Versagen der konservativen Eliten im Weltkrieg vergessen.^"® Eine Lösung für die Vielzahl von Problemen, vor denen die Revolution stand, fand Landauer nicht; seine Ermordung am 2. Mai 1919 markierte zugleich das Ende der Münchener Räterepublik. In den ersten Monaten der Weimarer Republik überwog im deutschen Judentum die Zukunftsskepsis. Dies gilt auch ftir die Zionisten, die im November 1918 der mißlichen Lage des osteuropäischen Judentums ebenso viel Aufmerksamkeit schenkten wie dem Wandel des politischen Systems.^"' Lediglich die Balfour-Erklärung nahm man rückblickend zum Anlaß, um gestiegenes Selbstvertrauen zu demonstrieren. So legte Robert Weltsch zwar große Skepsis gegenüber den politischen Systemen in Deutschland und Österreich an den Tag, sah aber deutliche Anzeichen dafür, „daß ein unerhörter, ungeahnter Aufljruch des [jüdischen; U.S.] Volkes bevorsteht".^'" Bei Licht besehen erweist sich die Palästina-Zentriertheit der deutschen Zionisten freilich als Chimäre. Nicht mehr als etwa 2.000 deutsche Zionisten nahmen zwischen 1920 und 1933 das Posener Bekenntnis ernst und wanderten nach Palästina aus. Für diese Aufgabe schien ihnen das osteuropäische Judentum geeigneter, das angesichts der steigenden Gefährdung durch Pogrome und antisemitische Ausschreitungen aller Art dringend einer Heimstätte bedürfe.^"

Landauer, Lebemgang,

Bd. 2, S. 398 ff., hier S. 399.

Bereits am 4. Februar 1919 hatte er der Malerin Julie Wolfthom wütend und desillusioniert geschrieben: „Ihr starrt nach den Friedensbedingungen, - so elend sie sein werden, sie werden in jedem Fall besser sein als ihr sie verdient. Ein Volk, das erst den Zusammenbruch besorgt, und dann in der alten Weise mit Krieg, Lüge und sentimentalem Gewinsel weitermacht! Es ist alles, alles verdorben, was die paar Kühnen in den ersten Novembertagen begonnen haben." (Ebd., S. 375 ff., hier S. 376).

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So finden sich auf der Titelseite der „Jüdischen Rundschau" vom 15. November 1918 die Artikel „Revolution" und „Grosse Judenpogrome in Westgalizien" (JR Nr. 46, S. 357) gleichberechtigt nebeneinander; vgl. auch Zimmermann, „Zukunftserwartungen", S. 69 ff. Schreiben Robert Weltschs an Buber vom 17. November 1918; Buber, Briefwechsel, Bd. 2, S. 11 f , hier S. 12. Vgl. Reinharz, Fatherland, S. 141 f , und Zimmermann, „Zukunftserwartungen", S. 6 1 - 6 6 .

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Daß die durch den Kriegsausbruch ausgelösten Hoffnungen einem Gefühl umfassender Enttäuschung Platz gemacht hatten, scheint nicht nur für das jüdische Bildungsbürgertum zu gelten. Zumindest ist die erheblich gestiegene jüdische Selbstmordrate in Frankfurt am Main ein wichtiger Hinweis auf das Ausmaß des zeitgenössischen Krisenbewußtseins, das gewiß auch mit dem Verlust gesellschaftlicher Sekurität angesichts des rasch wachsenden Antisemitismus zusammenhing. Überdies sollte man die Fülle von Alltagsproblemen im Blick behalten, welche die Rückkehr der Soldaten und die Veränderung des Wirtschaftslebens flir die jüdischen Gemeinden mit sich brachten.^'^ Diejenigen jüdischen Intellektuellen, die den Krieg in apokalyptischen Denkfiguren verherrlicht hatten, erlebten die triste Nachkriegsrealität als besonders desillusionierend. In einem subjektiv gefärbten Artikel für die Zeitschrift „Der Jude" charakterisierte Hans Kohn eindrucksvoll das geistige Klima: „Die Ernüchterung ergreift alle Welt. Man beginnt zu sehen, daß keine neue Zeit begonnen hat. Das Alte lebt fort und es ist durch die Jahre des Wahnsinns und des Blutes, die dazwischen liegen, nicht ehrwürdiger geworden."^'^ Doch so prägnant diese Formulierungen auch waren, sie rückten die alles entscheidende Tatsache in den Hintergrund, daß die vorherrschende Bewertung des Krieges in Deutschland und Österreich eine direkte Folge der Niederlage war. Insbesondere bei der Erörterung der „Kriegsschuldfrage" spielten antisemitische Motive schon zu Beginn der Weimarer Republik eine Schlüsselrolle. Auf dem rechten politischen Flügel verband sich die Entstehung und Pflege der „Dolchstoßlegende" mit antisemitischen Unterstellungen von großer Schärfe. Kurt Eisners Aktenpublikation für das Auswärtige Amt wurde nachgesagt, daß sie das deutsche Verhalten bei Kriegsausbruch absichtlich in negativem Licht erscheinen lasse.^'"* Allenthalben stellte man die Juden als die eigentlichen Nutznießer des Zusammenbruchs und als Teil einer weltumspannenden Verschwörung dar. Auch rein quantitativ erreichte die judenfeindliche Hetze neue Dimensionen. Allein die mitgliederschwache „Deutsche Erneuerungsgemeinde"

Niewyk, „German Jews", S. 51. Anschaulich zu den Demobilisierungsproblemen am Beispiel Berlins ist Ismar Freunds „Denkschrift betr. die Unterbringung der Heimkehrer aus dem ersten Weltkrieg"; CAHJP Jerusalem P 2, D 1. Hans Kohn, „Der Augenblick", in: Der Jude 5 (1920/21), S. 437 ff., hier S. 437; zum ideengeschichtlichen Kontext: Blom, Buber, S. 175 f Vgl. Michael Dreyer u. Oliver Lembcke, Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19, Berlin 1993, S. 6 3 - 7 7 ; allgemein: Peter Krüger, Deutschland und die Reparationen 1918/19. Die Genesis des Reparationsproblems in Deutschland zwischen Waffenstillstand und Versailler Friedensschluß, Stuttgart 1973, S. 6 6 - 7 5 .

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des fanatischen Antisemiten Theodor Fritsch verteilte zwischen November 1918 und März 1919 ca. zwei Millionen Flugblätter.^'^ Abgestempelt als „Sündenbock" für die Niederlage, erschienen den meisten deutschen Juden die im Krieg erbrachten Opfer als vergeblich. Doch gerade diese Stigmatisierung erleichterte es ihnen, sich mit der Weimarer Republik zu arrangieren. In hohem Maße trifft diese Einschätzung auf das liberale Judentum zu, deren politische Leitfiguren und weltanschauliche Vordenker das Kaiserreich nun als endgültig desavouiert betrachteten.^'^ Mit plastischen Erinnerungen an die grausame Kriegsreaiität vermochte man freilich ebensowenig wie die übrige Gesellschaft zu leben. Alsbald bildeten sich Veteranenorganisationen, die in einer Vielzahl von Druckschriften und Veranstaltungen die militärische Leistung der deutschen Juden herausstellten und ein heroisches Bild der Kriegsereignisse entwarfen. Nicht zufällig wurde der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" eine der erfolgreichsten jüdischen Organisationen der Weimarer Republik.^" Seine verklärende Darstellung des jüdischen Patriotismus hat allerdings bis auf den heutigen Tag den Blick auf die deprimierenden Kriegserfahrungen und deren Vielschichtigkeit verstellt.

Jochmann, „Ausbreitung", S. 451, Anm. 146. Vgl. Puizer, Jews, S. 207. Dazu monographisch: Ulrich Dunker, Der Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten 1919-1938. Geschichte eines jüdischen Abwehrvereins, Düsseldorf 1977.

4. Jüdisches „Kriegserlebnis"

Die Frage, ob es ein spezifisch jüdisches „Kriegserlebnis" gab, fand bislang wenig Beachtung, obwohl ihre Relevanz kaum zu bestreiten ist.' Es handelt sich um eine ungewöhnlich schwierige Thematik, weil das reichhaltige und aussagekräftige Quellenmaterial eine Vielzahl von Kriegserfahrungen umfaßt. Jüdische Intellektuelle erlebten und deuteten den Krieg unterschiedlich, je nachdem ob sie sich an der Front, in der Etappe oder in der Heimat aufhielten, in Galizien oder Frankreich ihren Dienst taten, zum Offizierskorps oder zu den einfachen Soldaten gehörten. Dies ist wenig überraschend, hat doch die jüngere Forschung die Vielschichtigkeit der Kriegserfahrungen und die Komplexität ihrer psychischen wie kulturellen Verarbeitung erwiesen. Dabei wurde die analytische Unscharfe des affirmativen Begriffs „Kriegserlebnis" immer deutlicher, der insbesondere dazu tendiert, heterogene Phänomene zu einer „mentalitätshistorischen Entität" zu runden.^ Aus diesem Grund erscheint es angebracht, die empirische Aufschlüsselung des Gegenstands unter dem flexiblen und normativ weniger aufgeladenen Terminus „Kriegserfahrungen" vorzunehmen. Bezeichnenderweise betrachteten Historiker die deutschen Juden im Weltkrieg eher als Objekte der Politik, denn als aktiv Handelnde. Galt es ihr subjektives Erleben zu beschreiben, so behalf man sich mit Gemeinplätzen, welche die Intensität des jüdischen Patriotismus herausstellten. Dies war nicht zuletzt eine Konsequenz aus der einseitigen und zudem Eigentlich ist iiier nur George Mosse, Jews, zu nennen, dessen umsiclitige Slcizze freilich vollständig auf die Auswertung archivalischer Quellen verzichtet. Vgl. etwa Hirschfeld, Kriegserfahrungen, oder Bernd Ulrich u. Benjamin Ziemann (Hgg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1994. Wertvolle Anregungen vermittelten bereits die Sammelbände von Klaus Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980, sowie von Bernd Hüppauf (Hg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, Königstein im Taunus 1984. - Grundlegend für die frühe Hinwendung der angelsächsischen Literatur zur psychischen und symbolischen Verarbeitung des Krieges: Fussel, Great War, und Eric J. Leed, No Man 's Land. Combat and Identity in World War I, Cambridge usw. 1979.

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quelienkritisch unterreflektierten Interpretation von Zeitungen und Zeitschriften, die zu wenig den Loyalitätsdruck berücksichtigte, der auf den deutschen Juden lastete.^ Femer studierte man die jüdische Memoirenliteratur, deren Großteil erst nach 1933 verfaßt wurde und zur Idealisierung des Kaiserreichs oder besonders schroffer Herausstellung antisemitischer Kontinuitätslinien neigt, nicht immer mit der nötigen methodischen Sorgfalt. Im Resultat entstand ein holzschnittartiges Bild des jüdischen „Kriegserlebnisses", das der Komplexität des historischen Phänomens nicht angemessen ist und dazu tendiert, die Belastungen des Kriegsalltags in den Hintergrund zu rücken.'' Die jüngere Weltkriegsforschung steht der isolierten Behandlung einzelner Quellengattungen skeptisch gegenüber, weil sich die scheinbare Faktizität des „Kriegserlebnisses" als hochgradig „kontextabhängig" erwiesen hat. Sogar eine selbstverständlich herangezogene Quelle wie die Feldpostbriefe erschließt sich erst im kulturellen Medium ihrer Entstehungszeit, und ihre Deutung hat die Ebene politischer Indienstnahme stets mit zu berücksichtigen.' Ferner sollte bedacht werden, daß die zur Verfügung stehenden Zeugnisse nicht nur Tatsächliches mitteilen, sondern auch der Ausdruck symbolischer Aneignung und Verarbeitung individueller Kriegserfahrungen sind. „Authentisches Kriegserleben" ist für den Historiker nicht zu haben, so häufig einem auch die Quellen unmittelbare Anschauungsnähe suggerieren. Es dürfte schwerlich zufällig sein, daß im Ersten Weltkrieg die Institution des Augenzeugen einen gravierenden

Besonders häufig finden sich derlei Einschätzungen in epochenübergreifenden Werken, die aufgrund der Fülle der zu bearbeitenden Probleme und der notwendigerweise synthetischen Vorgehensweise den Weg zu den Originalquellen nur selten finden. Exemplarisch seien für das konventionelle Bild .Jüdischer Kriegsbegeisterung" Friedrich Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. 2: Von 1650 bis 1945, Darmstadt 1990, S. 244 ff., sowie die jüngste geisteshistorische Studie von Paul R. Mendes-Flohr, „The Kriegserlebnis and Jewish Consciousness", in: Wolfgang Benz (Hg.), Jüdisches Leben in der Weimarer Republik = Jews in the Weimar Republic, Tübingen 1998, S. 225-237, genannt. Bezeichnend ist, daß der Vortrag von Reinhold Lewin „Der Krieg als jüdisches Erlebnis" (abgedr.: MGWJ N.F. 27 [1919], S. 1 - 1 4 ) ein vielzitierter Schlüsseltext der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung geblieben ist. Dabei diente das eigentümliche Amalgam aus Kriegsromantik und zionistischem Männlichkeitskult in erster Linie dem „Ruhmestitel der deutschen Front" (ebd., S. 4), mithin der Verklärung der Weltkriegsniederlage. Ähnliches gilt für Simon, „Kriegserlebnis", der das Loblied jüdischer Tapferkeit mit scharfen Angriffen auf das allzu liberale „Assimilationsjudentum" der Vorkriegszeit verbindet. So die Kernthese der Maßstäbe setzenden Studie von Bernd Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933, Essen 1997.

III Bedeutungsverlust erlitt.® Zum einen ließ sich aus der „Froschperspektive" des Grabenkrieges kein zureichendes Gesamtbild des Geschehens mehr entwickeln. Zum anderen überforderten Materialeinsatz und Kampfintensität an der Westfront die menschliche Vorstellungskraft in bislang nicht gekanntem Ausmaß und führten zu einer Fragmentierung der Wahrnehmung, die ihrerseits jede weitere Vorstellung des Ersten Weltkrieges geprägt hat.'' Die Kriegslandschaft entwickelte gleichsam ein Eigenleben, das die Phantasie des Betrachters in ihren Bann schlug und rationale Erklärungen des „Kriegserlebnisses" erheblich erschwerte. Die zeitgenössischen Versuche, den „entmenschlichten Krieg" zu beschreiben, spiegeln jedenfalls zumeist die Schwierigkeit dieser Aufgabe und die Inadäquatheit der gewählten Terminologie.® Bedenkt man die generellen methodischen Probleme deutsch-jüdischer Kulturgeschichtsschreibung, wird man kaum dazu neigen, die Vielzahl von Kriegserfahrungen auf eine einfache Formel zu bringen. Überdies erscheint angesichts der Komplexität des Themas die Konzentration auf wenige Aspekte des jüdischen „Kriegserlebnisses" ratsam. Auf diese Weise ist es möglich, einen Eindruck davon zu vermitteln, mit welchen Erfahrungen jüdische Intellektuelle während des Ersten Weltkrieges konfrontiert waren. Hinter der Entscheidung für die Analyse der synchronen Faktoren, die von Reinhart Koselleck in die Weltkriegsforschung eingeführt wurde, steckt nicht zuletzt die skeptische Beurteilung jener teleologischen Geschichtskonstruktionen, die nach 1918 in Blüte standen. Gerade in Deutschland war der Bedarf an Sinngebung so groß, daß ein mythisches Geschichtsverständnis an die Stelle des konkreten Kriegsgedächtnisses trat.' Das Bild des deutschen Judentums im Krieg gewann in diesem Zusammenhang zwar seine „heroische Größe", aber es verlor jene Dies hob als erster Marc Bloch hervor. Zu seiner Sicht des Ersten Weltkrieges, die in den letzten Jahren eine Vielzahl von Studien inspiriert hat: Raulff, Historiker, S. 66-81, sowie Fritz Stern, „Die Historiker und der Erste Weltkrieg. Eigenes Erleben und öffentliche Deutung", in: Ders., Verspielte Größe. Essays zur deutschen Geschichte, München 1996, S. 37-68 u. 297 ff, hier S. 42 f. u. 47 f. Dazu komprimiert: Wolfgang Kruse, „Krieg und Kultur: Die Zivilisationskrise", in: Ders. (Hg.), Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914-1918. Mit Beiträgen von Christoph Comelißen u.a., Frankfurt am Main 1997, S. 183-195. Nennenswerte Ausnahme: Kurt Lewin, „Kriegslandschaft", in: Zeitschrift für angewandte Psychologie 12 (1917), S. 440-447. Dies betont zu Recht: George L. Mosse, „Über Kriegserinnerung und Kriegsbegeisterung", in: Marcel van der Linden u. Gottfried Mergner (Hgg.), Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Bonn 1991, S. 27-36. Generell zu den methodischen Problemen, die sich einer Geschichte der soldatischen Kriegswahmehmung stellen: Reinhart Koselleck, „Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein", in: Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes, München 1992, S. 324-343, bes. S. 325333.

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plastische Heterogenität, die für historisches Wissen stets charakteristisch ist.

4.1. Kriegserfahrungen jüdischer Intellektueller Der Alltag jüdischer Soldaten unterschied sich zum Teil erheblich von dem anderer Soldaten. Trotz aller Akkulturation an die christliche Umgebung und ihren Wertekanon hatte sich das deutsche Judentum nicht vollends assimiliert. Aus seiner religiös-kulturellen Identität erwuchsen im Krieg eine Vielzahl von Aufgaben und Problemen. Insbesondere orthodoxe Juden standen vor großen Schwierigkeiten, wenn sie religiös observant leben wollten. Obwohl seitens der Armeeführung einige Anstrengungen zur Gewährleistung koscherer Ernährung unternommen wurden, stellten sich vor Ort immer wieder gravierende Probleme. Nicht zufällig betrafen viele Verlautbarungen des VDJ die Probleme des Schächtens. Jüdischerseits galt es, dem Doppelvorwurf der Bevorzugung und bewußten Absonderung entgegenzuwirken, der nicht selten bei erfolgreicher Einhaltung der rituellen Speisevorschriften erhoben wurde. In einer zeitgenössischen Abhandlung hieß es appellativ: „Es kommt nun darauf an, unserer Umgebung immer wieder klar zu machen, daß wir nicht deshalb auf das Essen aus der Feldküche verzichten, weil es uns etwa nicht fein und schmackhaft genug ist, sondern einzig und allein in Befolgung einer religiösen Vorschrift."" Die begrenzte Politizität der Argumentation zeigte sich nicht nur darin, daß die Ansprüche der christlichen Mehrheitsgesellschaft nicht hinterfragt wurden. Noch bezeichnender war der Hinweis auf die jüdische Fähigkeit, körperliche Strapazen zu ertragen, welche die antisemitischen Vorurteile in Grenzen halten sollte.'^ Ähnlich schwierig wie um die Einhaltung der Speisegebote war es um die Wahrung der jüdischen Feiertage bestellt. Nicht zuletzt traten immenDie einschlägigen Unterlagen finden sich: CAHJP Jerusalem M 21 / 3a; vgl. ferner David Brenner, Marketing Identities, S. 147 f , und Mordechai Breuer, Orthodoxie, S. 345 f. Moses Jacobson, „Wie können wir im Felde die Ehre des Judentums Vk'ahren und heben?", in: Jeschurun 2 (1915), S. 3 7 3 - 3 8 1 , hier S. 379. Ebd., S. 380. Generell bemühte man sich in der Zeitschrift „Jeschurun" darum, den soldatischen Antisemitismus als „schlechte[n] Bierwitz" und „geschmacklose Neckerei" abzutun; vgl. etwa Harry Levy, „Als Jude im Feld", in: Jeschurun 2 (1915), S. 152-161, hier S. 155.

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se praktische Probleme auf, weil die vergleichsweise geringe Zahl jüdischer Soldaten, die sich über das ganze Kriegsgebiet verteilten, flächendeckenden Maßnahmen im Wege stand. Häufig gab es für gläubige Juden keinen anderen Ausweg, als die wenigen kostbaren Urlaubstage auf die hohen Jüdischen Feste zu legen - und selbst in diesem Fall war die Gewährung einer Heimatreise ungewiß. So erinnerte sich der vor Verdun stationierte Felix Kaufmann, daß im Sommer 1916 zwar jüdische Soldaten an den hohen Feiertagen eine Dienstbefreiung zum Feldgottesdienst erhalten sollten. Doch mußte vorab die Frage geklärt werden, wer von ihnen denn zu den Kriegsfreiwilligen gehört habe.'^ Zumutungen dieser Art scheinen an der Tagesordnung gewesen zu sein. Hingegen wissen die zeitnahen Quellen relativ wenig von direkten Schikanen zu berichten, deren Darlegung für den Betroffenen freilich auch mit nicht unerheblichen persönlichen Risiken verbunden war.''* Ansprechpartner bei Beschwerden waren die Armeerabbiner, denen die jüdischen Soldaten mehr Vertrauen als ihren Vorgesetzten entgegenbrachten. Der Schweizer Kraftfahrer und ehemalige Architekt Emst Prühli'^ schrieb am 29. Dezember 1916 dem Feldrabbiner Arnold Tänzer, ihm sei nach 27 Monaten ununterbrochenen Dienstes zu Pessach kein Urlaub gewährt worden. Der abschlägige Bescheid habe schlicht ,„aus politischen Gründen nicht zulässig'" gelautet und ein ,jugendlicher Leutnant" habe ihm lakonisch mitgeteilt, „Sie sind Ausländer + auf die jüdischen Feiertage können wir nicht Rücksicht nehmen". Statt dessen habe er die ersehnte Dienstbefreiung an den „christlichen Osterfeiertage[n]" erhalten. Prühli verband seine Bitte um eine „energische Beschwerde" mit dem Hinweis, daß seiner Auffassung nach „in Preussen + speziell in Berlin eine geheime und auch offene antisemitische Strömung der Dank an jüdische Soldaten für ,Ihre Dienste zu sein' (scheint)". Um die Sorgen und Nöte jüdischer Soldaten kümmerten sich ca. dreißig Feldrabbiner, von denen jeder für eine ganze Armee zuständig war. Sie wußten, welche Schwierigkeiten und Vorbehalte dem Besuch der Gottesdienste an der Front entgegenstanden. So war Prühlis Beschwerde die Reaktion auf eine Anfrage Tänzers, die „den mangelhaften Besuch Schreiben Kaufmanns an Fred Mecklenburg vom Juni 1986; LBI N e w York ME 233. Zeitgenössisch zu diesem Problemfeld: J[oseph] Wohlgemuth, „Der gesetzestreue Jude und der Krieg", in: Jeschurun 1 0 9 1 4 ) , S. 375-390, bes. S. 383 f Breites Archivmaterial zu den organisatorischen Schwierigkeiten, die sich bei der Dienstbefreiung jüdischer Soldaten stellten, enthält: CAHJP Jerusalem M 21 / 4b. Aus der modernen Forschungsliteratur vgl. Berkowitz, Western Jewry, S. 16. Dies bestätigt fllr die Soldaten der bayerischen Armee: Ziemann, Front, S. 268 f . Ausführlich und detailscharf zu den Problemen, welche die postalische Schilderung von Mißständen für die Soldaten heraufbeschwören konnte: Ulrich, Augenzeugen, S. 7 8 - 1 0 5 . Name nicht einwandfrei entzifferbar, CAHJP Jerusalem P 24, Nr. 4b; ebd. die folgenden Zitate.

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der Synagoge durch jüdische Soldaten" betraf.'® Die couragiert auftretenden Rabbiner genossen im deutschen Judentum beträchtliches Ansehen. Ihre komplette Entlohnung hatte bei Kriegsbeginn der VDJ übernommen, der sich von der Einrichtung des Armeerabbinats eine vermehrte Anerkennung der jüdischen Religion erhoffte." Es dauerte bis zum September 1915, ehe das preußische Kriegsministerium monatliche Aufwandsentschädigungen gewährte, die allerdings längst nicht alle anfallenden Kosten deckten.'® Seitens der Berliner Jüdischen Gemeinde bemühte man sich um die Vermittlung von Hilfspredigern, die man aus den Hörem der „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums" oder des örtlichen Rabbinerseminars rekrutierte." Die großen jüdischen Zeitungen stellten die Feldrabbiner in ausführlichen und gern mit einem persönlichen Foto versehenen Artikeln ihren Lesern vor. Ihre Berichte über den Kriegsalltag waren wiederum so begehrt, daß sie nicht selten von melireren Blättern gedruckt wurden. Eine der zentralen Aufgaben der Armeerabbiner bestand in der Bekämpfung antisemitischer Agitation. Während ihre Schilderungen der Kriegsereignisse in den jüdischen Zeitungen meist recht harmonisch gerieten, nahmen sie untereinander kein Blatt vor den Mund. So beschlossen sie auf der Feldrabbiner-Konferenz in Wilna am 6. bzw. 7. März 1916 auf „[ajntisemitische Flugschriften [...] in den Schützengräben" zu achten.^" Zumeist vermieden sie aber den offenen Konflikt und wirkten so entschlossen wie tatkräftig hinter den Kulissen. Der ohnehin stark ausgeprägte Korpsgeist der Offiziere wurde durch die Vielfalt gemeinsamer Aufgaben und die Kluft zur soldatischen Lebenswelt noch verstärkt. In aller Regel neigten jüdische Offiziere zu einer besonders ernsten Pflichtauffassung. Sie waren sich nicht nur über ihre privilegierte Stellung im klaren, sondern wußten auch um die Vielzahl kritischer Blicke. Gelegentlich kam es zu bedenklichen Formen von Überidentifikation. Der Berliner Germanistikstudent Emst Loewenberg Zit. nach dem Brief Prohlis vom 29. Dezember 1917, ebd.; die Anfrage Tänzers ist in den Akten nicht enthalten. Breites Material dazu findet sich: CAJ Berlin 75 C Ve 1 Nr. 3, und BHStA München Abt. IV MKr 13846. Die Institutionalisierung der Feldrabbiner analysiert: Arnold Vogt, Religion im Militär. Seelsorge zwischen Kriegsverherrlichung und Humanität. Eine militärgeschichtliche Studie, Frankfurt am Main, Bern u. N e w York 1984, S. 5 7 8 - 6 1 4 . Vgl. die „Autobiographische Skizze" des Frankfurter Rabbiners Georg Salzberger (LBI N e w York ME 542, S. 4 f ) , sowie Oers., Leben und Lehre, hg. u. eingel. V. Albert H. Friedlander, Frankfurt am Main 1982, S. 73; ferner ergiebig die „Kriegserinnerungen" von Arnold Tänzer (LBI N e w York ME 640, S. 5 - 8 ) . Vgl. die Unterlagen CAHJP Jerusalem GA II / 79. CJA Berlin Ve 1 Nr. 377, fol. 3 3 - 3 8 , hier fol. 35. Für den Hinweis auf das aufschlußreiche Dokument danke ich Fritz Backhaus vom Jüdischen Museum in Frankfurt am Main.

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berichtete von einem jüdischen Stabsarzt, der sich gegen den Vorwurf übergroßer Müde dadurch schützte, daß er alle Soldaten für kriegstauglich erklärte.^' Victor Klemperer entfremdete sich bei seinem Lazarettaufenthalt von seinem älteren Bruder Georg, weil er dessen markige Durchhalteparolen nicht mehr hören konnte. Dieser war als „Universitätsprofessor und beratender Arzt des Gardekorps" so sehr Patriot, daß er keinerlei Kritik an militärischen Mißständen hören mochte und „fremdländische Namen, wie es ein strenger Nationalismus forderte, deutsch aussprach".^^ Obwohl jüdische Offiziere gern die Selbstverständlichkeit ihres Amtes herausstellten, blieb dies doch eine Wunschvorstellung, die den asymmetrischen Charakter des Verhältnisses zu ihren christlichen Kollegen nur unterstrich.^^ Jüdische Intellektuelle wurden aufgrund ihrer guten Schulbildung und vor allem wegen ihrer Sprachkenntnisse bevorzugt in Stabsfunktionen eingesetzt. Hoch war die Anzahl derer, die an der Front oder in Strafgefangenenlagern als Dolmetscher ihren Dienst versahen. Viele Juden im Offiziersrang wirkten als Arzt oder Mitarbeiter der Armeezeitungen. Gleichzeitig fanden jüdische Intellektuelle ein Unterkommen in den Stäben oder bei den neu eingerichteten Zensurabteilungen. Im Wiener Kriegsarchiv arbeiteten mehrere österreichisch-jüdische Schriftsteller, von denen Franz Werfel, der freilich 1916 an die galizische Front mußte, und Stefan Zweig die bekanntesten waren. Emst Cassirer widmete sich beim Berliner Kriegspresseamt der Bekämpfung der französischen Propaganda. Der instrumenteile Umgang mit Nachrichten, der bis zur gezielten Verbreitung von Lügen gehen konnte, behagte dem sensiblen Philosophen keineswegs. Doch war sich Cassirer darüber im klaren, daß ihn seine Tätigkeit immerhin vor den Gefahren des Fronteinsatzes bewahrte.^'' Generell sollte man sich von den ostentativen Klagen über das untätige Leben bei den militärischen Behörden nicht irritieren lassen: Stellen wie beim Wiener Kriegsarchiv waren hochbegehrt. Max Brod antichambrierte nach Kräften bei Stefan Zweig, um dem befreundeten Journalisten Egon Erwin Kisch, der,schwer verwundet" worden war, die Rückkehr an die Front zu ersparen.^^ Zwar schätzte Brod, der den eigenen Zionismus

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HL Harvard bMS Ger 91 (145), S. 5. Klemperer, Curriculum vitae, S. 452. Dies läßt sich selbst anhand der pastellfarbenen Erinnerungsliteratur nachweisen. So beschreibt der spätere Breslauer „Schiffsbesitzer" Arnold Bernstein zwar, wie sehr er den Krieg als Befreiung aus dem jüdischen „Ghetto" erlebte, aber seine Memoiren weisen nicht darauf hin, daß christliche Offiziere ein ähnliches Interesse am Judentum entwickelten; LBI New York ME 55. Vgl. Toni Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hildesheim 1981, S. 1 1 3 120. Vgl. das Schreiben Max Brods an Stefan Zweig vom 9. Oktober 1915, in dem Brod sein Engagement für Kisch zur „Herzenssache" erklärte und nachdrücklich

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in den Vordergrund rückte, Zweig politisch falsch ein, doch war sein Einsatz letztlich von Erfolg gekrönt; denn Kisch wurde Presseoffizier beim österreichischen Oberkommando.^^ An der Front hatten Intellektuelle - und jüdische zumal - mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Natürlich hing es auch hier davon ab, wohin es den Betreffenden verschlug. Franz Rosenzweig etwa scheint in Makedonien ein vergleichsweise angenehmes Leben gefuhrt zu haben. In einer Vielzahl präziser und wirklichkeitsnaher Skizzen beschrieb er den Kriegsschauplatz auf dem Balkan. Zugleich fand er die Zeit, den Stern der Erlösung zu konzipieren, sein philosophisches Hauptwerk, das er nach dem Krieg fertigstellte.^' Häufiger sind allerdings Berichte wie der von Paul Amann, der wegen seines Doktortitels und seiner täppischen Art manchen Spott ertragen mußte. Wie andere Akademiker litt er vornehmlich in der Grundausbildung, in der die Vorgesetzten ihrer Intellektuellenfeindschaft freien Lauf ließen.^® Ein besonders drastisches Beispiel findet sich in den Erinnerungen des zionistischen Schriftstellers Sammy Gronemann. Während seiner zweimonatigen Grundausbildung wurde er nicht nur nach allen Regeln der Kunst „.geschliffen"', sondern bisweilen sogar regelrecht gedemütigt, wenn auch „nie ein antisemitisches Wort (fiel)".^' So forderte ihn ein Leutnant bei einer Marschruhepause dazu auf, „mit blossen Haenden, also ohne Zuhilfenahme einer Schaufel, einen Duengerhaufen von der einen Seite der Landstrasse auf die andere zu transportieren". Gronemann bemühte sich, die Aufgabe möglichst gleichmütig auszuführen, wenn auch Zweifel hinsichtlich seiner optimistischen Einschätzung angebracht sind, daß der Offizier „seine moralische Niederlage (begriff)". Jüdische Offiziere lassen in der Darstellung ihrer Militärzeit den Antisemitismus gelegentlich zurücktreten. Beispielsweise stellte der Münchener Rechtsanwalt und Leutnant der Fliegerabwehr Alfred Hirschberg ausdrücklich fest: „Weder bei den Soldaten noch bei den Offizieren hatte ich

die militärischen Verdienste Kischs, der zwei Tapferkeitsmedaillen erhalten hatte, in den Vordergrund rückte; RL Fredonia, Zweig, Nr. 15:5. Ebd., Nr. 15:6, Brief Max Brods an Stefan Zweig vom 14. Oktober 1915. Unter die Briefmarke, die Herzl bei einer Rede in Jerusalem zeigt, schrieb Brod den pathetischen Satz: „Dies das Einzige, was mich aufrecht erhält". - Die etwas peinliche Episode fehlt bei Horowitz, Leben, und Emil Utitz, Egon Erwin Kisch. Der klassische Journalist, Berlin 1956. "

Vgl. unten Kap. 6.3.

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LBl N e w York AR 7157; gleichfalls eindrucksvoll die Schilderungen von Victor Klemperer, Curriculum vitae, S. 3 0 8 - 3 1 2 , und Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht Mit einer Vorbemerkung von Reinhart Koselleck und einer Nachbemerkung von Ada Löwith, Frankfurt am Main 1989, S. 1 f . LEI N e w York ME 203, S. 258; ebd., die beiden nächsten Zitate.

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unter den geringsten antisemitischen Angriffen zu leiden."^" Doch bei allem Stolz auf das Eneichte, eskamotierte auch die Mehrzahl der jüdischen Offiziere den militärischen Antisemitismus nicht vollständig. Rudolf Bing erinnerte sich noch nach seiner Ernennung zum Leutnant, daß sie gegen den ausdrücklichen Widerstand eines antisemitischen Vorgesetzten erfolgt sei.^' Und der Darmstädter Philosoph Julius Goldstein, der Weihnachten 1914 zum ,jüngsten Offizier S[einer] M[ajestät]" avancierte, vergaß selbst im Jubelbrief an seine Frau Margarete nicht den Hinweis auf die Schwierigkeiten bei der Beförderung. Vor allem bedeutete es ihm eine innere Genugtuung, „als Jude das erreicht zu haben, was sonst ihm vorenthalten wird und an meinem Teile zum Niederbruch eines schmählichen Unrechts und Vorurteils beigetragen zu haben".^^ Für die meisten jüdischen Rekruten waren die antisemitischen Ressentiments ihrer Vorgesetzten ohnehin alltägliche Realität. Die Lebenswelt jüdischer Soldaten zu beschreiben ist eine ebenso schwierige wie heikle Aufgabe. Zwar fehlt es nicht an zeitnahen Dokumenten, doch entzieht sich etwa die Unmenge von Kriegspostkarten zumeist dem interpretatorischen Zugriff. Allzu häufig enthalten sie lediglich ein Minimum von Informationen, aus denen sich der historische Kontext und die Motive ihrer Verfasser nicht ermitteln lassen. Auch fallen die idyllischen Postkartenmotive, für die sich jüdische Soldaten entschieden, nicht aus dem Rahmen des Üblichen. Im Unterschied dazu zeigen die überlieferten Fotos jüdischer Kriegsteilnehmer vor allem die Verwüstungen, die der Krieg hinterließ." Den Weg zu „spezifisch jüdischen" Erfahrungen und Deutungen bahnen diese Quellen jedoch nur selten. Beim gegenwärtigen Kenntnisstand scheint es deshalb ratsam, sich auf solche Zeugnisse zu konzentrieren, die eine eingehende Interpretation gestatten: Feldpostbriefe und Tagebücher. Für das vorliegende Thema bietet diese Entscheidung überdies den Vorteil, jüdischen Intellektuellen des öfteren das Wort geben zu können. Dies hat gleichermaßen methodische wie inhaltliche Konsequenzen. Denn selbst ein so versierter Historiker wie BenHL Harvard bMS Ger 91 (97), S. 8. Im Tenor ähnlich sind die Erinnerungen des Breslauer Theaterdirektors Paul Bamay (LBI N e w York ME 33, S. 134), der allerdings allgemein zu einer schematischen und apologetischen Darstellung des „Burgfriedens" neigt. ''

HL Harvard bMS Ger 91 (28), S. 23. Noch weiter ging Emst Loewenberg, der betonte, daß viele „Offiziersaspiranten" einen schneidigen Antisemitismus an den Tag legten, weil sie glaubten, daß dies für ihre Beförderung hilfreich sei; HL Harvard bMS Ger 91 (145), S. 6.

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Undatiertes Schreiben vom Dezember 1914, LBI N e w York AR 7167; ebd. auch das vorige Zitat.

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Beispielsweise gilt dies für die achtzig Fotos, die der junge Dortmunder Soldat Wilhelm Buchheim zwischen 1915 und 1917 an der Westfront machte; LBI N e w York AR 2078. - Zur Trivialisierung des Krieges auf Ansichtskarten vgl. George Mosse, Vaterland, S. 57-68.

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jamin Ziemann betont unkritisch die hohe Opferbereitschaft „vieie[r] junge[r] Soldaten aus den gebildeten Schichten",^'' und es liegt nahe, diese Aussage umstandslos auf jüdische Intellektuelle zu übertragen. Zieht man allerdings in höherem Umfang private Dokumente heran - wie Ziemann dies ja für die katholischen Soldaten aus dem ländlichen Südbayem getan hat - so bleibt von einem hochgestimmten bürgerlichen „Frontgeist" nicht mehr allzu viel übrig. Angesichts der deprimierenden Kriegsrealitäten und der nivellierenden Kraft des militärischen Alltags spricht wenig für die häufig beschworene „Kriegsbegeisterung" jüdischer Intellektueller. Feldpostbriefe sind die Massenquelle schlechthin für soldatische Kriegserfahrungen. Nach einer weithin akzeptierten Schätzung geht man davon aus, daß mehr als sechs Millionen Briefe täglich von der Front in die Heimat geschickt wurden.^' Weil die portofreie Post vom Kriegsschauplatz die Sorgen der Daheimgebliebenen zerstreuen sollte, tendiert sie zu beschönigender Darstellung und nichtssagenden Allgemeinplätzen. Dies heißt jedoch nicht, daß der Inhalt der Feldpostbriefe für den Historiker irrelevant wäre. Denn insbesondere die für den Druck ausgewählten vorliegenden Zeugnisse zeigen deutlich, welche Wahrnehmungen des Frontalltags in der Kriegsgesellschaft als vorbildlich, selbstverständlich oder zumindest akzeptabel galten. Beispielhaft spiegeln sie den „Erlebnisdruck", der auf den Soldaten lastete und dazu führte, daß die Schilderung individueller Erfahrungen sich an den bestehenden Erwartungen orientierte.^^ Beinahe jede gesellschaftliche Gruppe hatte ihre Edition von Feldpostbriefen. Im deutschen Judentum war die Sammlung von Eugen Tannenbaum am beliebtesten, die auch Briefe österreichischer Kriegsteilnehmer umfaßte.^^ Wie viele Briefausgaben bemühte sie sich um eine Synthese von Anschauungsnähe und idealistischem Pathos. Zum einen sollte sie den „vorurteilsfreien Geist" der Armeeführung und die Festigkeit des „Burgfriedens", zum anderen die Tapferkeit ihrer Verfasser, ja generell die patriotische Haltung des Judentums bekunden. Jedenfalls spielte Tannenbaum nach Kräften die Probleme herunter, mit denen jüdische Soldaten konfrontiert waren.^® Erst recht gilt dies für jene Edition, die bis in die jüngste Zeit für das Bild der Geschichtswissenschaft vom jüdischen Kriegsalltag bestimmend geblieben ist.

Ziemann, Front, S. 165.

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Zahlenangaben nach: Ulrich, Augenzeugen, S. 40; ebd., S. 3 9 - 1 0 5 , ausführliche Informationen zur Kriegskorrespondenz. Komprimiert: Ders., „Feldpostbriefe des Ersten Weltkrieges - Möglichkeiten und Grenzen einer alltagsgeschichtlichen Quelle", in: MGM 53 (1994), S. 7 3 - 8 3 , sowie Ziemann, Front, S. 2 9 - 3 2 . Vgl. Ulrich, Augenzeugen, S. 112. Hinsichtlich der umfangreichen Werbemaßnahmen vgl. den Artikel „Kriegsbriefe deutscher und österreichischer Juden" (JR Nr. 12 vom 19. März 1915, S. 95). S. oben Kap. 3.2.

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1935 gab der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" eine Briefsammlung heraus, welche die selbstlose Pflichterfüllung des deutschen Judentums im Ersten Weltkrieg unterstreichen sollte. Bereits der Titel Gefallene deutsche Juden 1914-1918 verwies energisch auf den „Blutzoll", der für das Vaterland entrichtet worden war. Wiederum 26 Jahre später erschien eine nur wenig veränderte Neuauflage, für die der amtierende Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß ein Begleitwort beisteuerte. Nach wie vor ersetzte die existentielle Geste die editorisch-philologische Genauigkeit. Der Leser erfährt kaum etwas über den historischen Kontext der Dokumente oder über die Herkunft ihrer Verfasser. Bezeichnenderweise bleibt der Adressat stets ungenannt, womit die Hauptfunktion der Feldpostbriefe, den labilen Kontakt zwischen „Front" und „Heimat" zu stabilisieren, verschleiert wird und die soldatische Welt einen gleichsam autarken Charakter erhält.^' Vorangestellt sind der Edition nun einige persönliche Schriftstücke von Julius Holz, die sein Bruder 1961 an Strauß geschickt hatte. Die Briefe des 23jährigen Leutnants, der am 13. Juni 1918 in Frankreich fiel, enthalten beinahe alle Elemente, die für die Sammlung generell charakteristisch sind. Sie sprechen von seinem Ehrgeiz, Offizier zu werden, zeigen die gebotene Pietät vor den Eltern und betonen die Selbstverständlichkeit vaterländischer Pflichterfüllung. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: „.Grüßt mir meine Eltern und schreibt ihnen, ich hätte meine Pflicht als Soldat getan wie jeder andere auch und ich sterbe gem.'"'"' Jüdische „Kriegshelden" wie der Königsberger Dichter Walter Heymann oder der mehrfach dekorierte Leutnant der Reserve Gottfried Sender kommen ausführlich zu Wort. Ihre patriotische Weltanschauung wird anhand besonders drastischer Dokumente vorgestellt. So legt Walter Heymanns Brief vom 12. September 1914 nahe, daß er das Schicksal „als ,Kanonenfutter'" von innen her bejaht habe.^' Dem Tod fürs Vaterland messen die zitierten Dokumente Letztwertcharakter zu, während die Bedeutung der jüdischen Religion nur selten zur Sprache kommt. Generell wird die kulturelle Dimension jüdischer Identität stark in den Hintergrund gerückt. Selbst eine Beerdigung nach dem Herkommen wurde als inop-

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Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden. Mit einem Geleitwort von Franz Josef Strauß, Stuttgart 1961; zuerst weniger umfangreich u.d.T. Gefallene deutsche Juden 1914-1918, hg. vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten e.V., Berlin 1935. Ebd., S. 18. Ebd., S. 21 f , hier S. 22. Gewiß stellte der Tod fürs Vaterland ein Schlüsselmotiv der zeitgenössisch viel gepriesenen Lyrik Heymanns dar. Doch changierte seine Bewertung zwischen elegischer Trauer und trotziger Heldenverklärung. Beispielsweise endete das Gedicht „Den Hinterbliebenen" mit den schillernden Versen: „Heldentod / hat eine sanfte Hand. / Kinder - / werdet wie er, / macht ihm nicht Schand!" (Walter Heymann, Kriegsgedichte und Feldpostbriefe. [Aus dem Nachlaß des Dichters], München 1915, S. 38).

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portun betrachtet: noch rasch spricht der jüdische Soldat Fritz Mayer ein Vaterunser, um seine christlichen „Kameraden" durch das traditionelle Begräbnis nicht zu brüskieren.''^ Immer wieder wird die integrative Wirkung des „Burgfriedens" beschworen und der grassierende Antisemitismus kritisiert. Freilich ist zugleich sorgfältig beachtet, daß Haß und Verbitterung nicht überhand nehmen. Fritz Mayer äußerte zwar desillusioniert: „Was wollen Sie denn mehr als unser Blut? - Mögen sie doch an dem vergossenen unserer Glaubensbrüder weitere Rassenstudien treiben." Doch auch sein innerer Monolog impliziert, daß jüdische Soldaten für ihren aufopferungsvollen Dienst keinen Dank erwarten.^^ Immerhin vermitteln einige Schreiben etwas von der Härte des Kampfes und den psychischen Belastungen an der Front. Gerade die „Perspektive von unten", welche die Authentizität des Kriegserlebens verbürgen sollte, wurde jedoch der Edition zum Verhängnis. Mangels biographischer, gesellschaftlicher oder politischer Bezüge klang das idealistische Pathos allzu hochtrabend, während der nur unzureichend legitimierte Kampf zum Selbstzweck wurde.^^ Auch lassen die Dokumente vergessen, wie rasch die soldatische Abneigung wuchs, überhaupt über das Elend in den Schützengräben zu berichten. Erst recht vermißt man Zeugnisse aus den Wochen des militärischen Zusammenbruchs, welche die Fragilität der „Frontgemeinschaft" hätten erweisen können. Natürlich stellten heroisierende Ausgaben von Feldpostbriefen kein jüdisches Spezifikum dar. So verherrlichte die berühmteste Sammlung, die von Philipp Witkop herausgegebenen Kriegsbriefe gefallener Studenten, massiv den Tod fürs Vaterland. Im Licht seiner äußerst selektiv ausgewählten Dokumente wurde der Krieg zu einer „moralischen Herausforderung", deren Bestehen die Lebensintensität gewaltig erhöhen sollte und damit gleichsam „ein Äquivalent für den drohenden Tod bot"."*^ Ge«

Kriegsbriefe, S. 8 7 - 9 0 , hier S. 89, Brief vom 28. April 1915. Vgl. auch ebd., S. 129 f., hier S. 130, das Schreiben des bayerischen Vizefeidwebels Robert Ziegel vom 1. Dezember 1914: „Ich glaube aber, daß ich Chanukka nur innerlich diesmal feiern werde, sonst aber Weihnachten mit den Kameraden, nicht als christliches, sondern als deutsches Fest."

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Ebd., S. 87, Brief vom 21. November 1914. Generell zu diesem Zusammenhang: Herfried Münkler, „Schlachtbeschreibung: Der Krieg in Wahrnehmung und Erinnerung. Über .Kriegsberichterstattung"', in: Ders., Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken, Frankfurt am Main 1992, S. 176-207 u. 2 3 1 - 2 3 4 , bes. S. 191 f So treffend: Manfred Kettling u. Michael Jeismann, „Der Weltkrieg als Epos. Philipp Witkops ,Kriegsbriefe gefallener Studenten"', in: Gerhard Hirschfeld u.a. (Hgg.), Keiner filhlt sich hier mehr als Mensch ... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S, 175-198, hier S. 185. Zur wechselvollen Geschichte der Instrumentalisierung von Witkops Edition vgl. zudem Ulrich, Feldpostbriefe, S. 77.

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Kriegserfahrungen jüdischer Intellektueller

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nerell entschieden sich die Herausgeber für Briefeschreiber, die ihren Erlebnissen in religiöser Diktion gleichsam eine eigene Weihe gaben. Ihre Stimme gewann zusätzlich an Gewicht, wenn ihre Tapferkeit durch Tod oder Verwundung bezeugt war, worauf nach Möglichkeit hingewiesen wurde/' Auch die in den zeitgenössischen jüdischen Zeitungen erschienenen Feldpostbriefe besaßen vornehmlich affirmative Funktionen. Sie stellten die Tapferkeit des deutschen Judentums in den Vordergrund und verzichteten weitgehend auf ambivalente oder kritische Töne. Überdies sollten diese Dokumente, je nach politisch-weltanschaulicher Couleur, die Vereinbarkeit des liberal-jüdischen, zionistischen oder orthodoxen Weltbilds mit den Forderungen des Vaterlands demonstrieren. Gelegentlich unterstrichen die Überschriften der Zeitungsredaktionen die patriotische Leserlenkung. So veröffentlichte die „Jüdische Rundschau" einen hochgestimmten Feldpostbrief unter dem Titel „Chanukah in der Feuerstellung".^^ Viele jüdische Blätter richteten regelrechte Rubriken für die Post vom Kriegsschauplatz ein. Meist erschienen die Dokumente in einer redaktionell gekürzten Fassung, die ihren vaterländischen Inhalt hervorheben sollte. Beispielsweise druckte die Zeitschrift „Im deutschen Reich" im Herbst 1914 einen Brief des Münchener Feldrabbiners Baerwald, der mit den plakativen Worten endete: „Vor 44 Jahren haben unsere Truppen Jom Kippur vor Metz gefeiert. Es war auch ein Erfolg ihrer Tapferkeit, daß wir diesmal Rosch haschono in Metz feiern konnten."^* Daneben erschienen wohlfeile Briefausgaben, in denen sich Fiktionen und Fakten in gefälliger Weise miteinander verbanden. Narrative Ausschmückungen ergänzten die Dokumente, die ohnehin zumeist mit Blick auf ein breiteres Publikum verfaßt waren. Besonders rührig agierte Adolf Plessner in Berlin, der im Herbst 1914 drei Bändchen mit Feldpostbriefen herausgab. Schon ihre Titel waren sprechend. Sie behandelten „Wie es Joseph Kraft in der .feindlichen' Synagoge erging", schilderten „Roschhaschonosch in den Vogesen" und verherrlichten „Die Heldentaten Gottfried Senders".^' Die Sammlung vermittelte ein geradezu idyllisches Bild jüdischer Kriegserfahrungen und betonte, wie selbstverständlich religiöser Gemeinschaftsgeist und patriotische Pflichterfüllung im Frontalltag zusammengehörten.

Vgl. Ders., Augenzeugen,

S. 33 f.

JRNr. 4 vom 22. Januar 1915, S. 27; Schreiben von Isaac Meyer. IDR 20 (1914), S. 3 8 9 - 3 9 2 , hier S. 391 f.; nähere Angaben zu Baerwalds Schreiben fehlen. Adolf Plessner, Jüdische Feldpostbriefe aus dem grossen Weltkrieg, 3 Bde., Bd. 1: Wie es Joseph Kraft in der „feindlichen" Synagoge erging; Bd. 2: Roschhaschonosch in den Vogesen [...]; Bd. 3: Die Heldentaten Gottfried Senders und wie er das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse erwarb, Berlin 1914.

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Jüdisches „Kriegserlebnis"

Die nicht zur Publikation vorgesehenen Briefe jüdischer Soldaten geben der Kritik an der militärischen Situation breiteren Raum und enthalten mehr rein private Informationen. Nur wenige Dokumente sind freilich dem Schrecken des Krieges und dem massenhaften Sterben gewidmet. Wie sich eindringlich an den 745 Feldpostbriefen demonstrieren läßt, welche die Angehörigen des Reichenheimer Waisenhauses in Berlin an dessen Direktor Sigmund Feist schickten, überwog der Wunsch, die Erinnerung an die Heimat intakt zu halten.^" Dennoch spürt man auch in der konventionellen Sprache wenig geübter Schreiber, die zu plaudernder Verharmlosung tendiert, wie schwierig Einsamkeit und mangelhafte Ernährung oder die enervierende Wirkung des Trommelfeuers zu ertragen waren. Gelegentlich finden sich kritische Äußerungen von unmittelbarer Eindringlichkeit. So schrieb der Krankenpfleger Faul Wohlgemuth am 14. August 1918 voller Enttäuschung und Bitternis: „Es heißt immer, die Menschheit steht auf einer hohen Kulturstufe. Ja die Kulturstufe ist so hoch, daß alles, was Menschenhand geschaffen hat, an der ganzen Front von Flandern bis zum Elsaß, in Grund und Boden geschossen wird."^' Jedenfalls sollte aus der Vielzahl „leichtfertiger Floskeln", welche die Soldaten verwandten, nicht voreilig geschlossen werden, daß sich mittels sprachlicher Regelungen die „moderne Realität des Krieges" erfolgreich verdrängen ließ.^^ Allerdings verweist die standardisierte Sprache der Kriegspost darauf, daß es sich zumindest partiell um einen öffentlichen Diskurs über den Sinn des Krieges handelte, der stark normativ konnotiert war. Hingegen enthalten die an der Front verfaßten Tagebücher, die in erster Linie für den persönlichen Gebrauch des Autors bestimmt waren, mehr individuelle Stellungnahmen. Überdies boten sie einen „Schonraum" für scharfe Kritik an den bestehenden Zuständen, die öffentlich nicht geäußert werden konnte. Kriegstagebücher sind eine ebenso fesselnde wie schwierige Quellengattung. Sie enthalten zwar eine Fülle von Beobachtungen, Erlebnissen und Gedanken, doch fehlen häufig Informationen, mit denen sich die Notizen in einen größeren Zusammenhang stellen lassen. Angesichts der wenigen echten Ruhepausen sind die Lücken zwischen den Aufzeichnun-

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Die Sammlung, die im Rahmen dieser Studie nicht detailliert betrachtet werden kann, ist eine mentalitätsgeschichtlich erstrangige Quelle; sie findet sich: CJA Berlin, Feist. - Den Stellenwert der „Entlastungsdiskurse" für die Feldpostbriefe unterstreicht: Aribert Reimann, „Die heile Welt in Stahlgewittem: Deutsche und englische Feldpost aus dem Ersten Weltkrieg", in: Gerhard Hirschfeld u.a. (Hgg.), „Kriegserfahrungen". Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997, S. 129-145, hier S. 131 f. CJA Berlin, Feist, Nr. 692 a. Dies ist gegen Reimann, „Welt", S. 134, einzuwenden, dessen Ansatz, die sprachliche Konventionalität der Feldpostbriefe zum wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstand zu machen, gleichwohl vielversprechend erscheint.

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