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German Pages 263 [270] Year 2014
Jahrbuch für Politik und Geschichte Geschichte Franz Steiner Verlag
Band 4 | 2013 | Geschichte ausstellen Herausgegeben von Claudia Fröhlich Harald Schmid Birgit Schwelling
Jahrbuch für Politik und Geschichte Band 4
JahrBuch für Politik und Geschichte schwerpunkt: Geschichte ausstellen JPG 4 (2013)
franz steiner Verlag
jahrbuch für politik und geschichte herausgegeben von dr. claudia fröhlich, dr. harald schmid, dr. habil. Birgit schwelling Wissenschaftlicher Beirat: Prof. dr. aleida assmann, Prof. dr. horst-alfred heinrich, Prof. dr. helmut könig, Prof. dr. Bill niven, Prof. dr. Peter reichel, Prof. dr. Peter steinbach, Prof. dr. edgar Wolfrum
umschlagabbildung: Besucher/innen in der dauerausstellung im „ort der information“ unter dem denkmal für die ermordeten Juden europas, Berlin, 2013. © harald schmid Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: die deutsche nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. dieses Werk einschließlich aller seiner teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © franz steiner Verlag, stuttgart 2014 druck: aZ druck und datentechnik, kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. issn 2191-2289 isBn 978-3-515-10676-4
JAHRBUCH FÜR POLITIK UND GESCHICHTE 4 (2013) __________________________________________________
INHALT
Claudia Fröhlich, Harald Schmid, Birgit Schwelling Editorial ...............................................................................................................5 Schwerpunkt: Geschichte ausstellen Thomas Thiemeyer Evidenzmaschine der Erlebnisgesellschaft. Die Museumsausstellung als Hort und Ort der Geschichte..................................13 Stefan Krankenhagen Die Sache Europa. Das Musée de l’Europe: Von dem (vorerst) gescheiterten Versuch, die europäische Integration zum Subjekt der Geschichte zu machen ...................31 Thorsten Heese Museum 2.0 und Migration. Das Virtuelle Osnabrücker Migrationsmuseum als Instrument partizipativer Museumsarbeit.......................................................45 Britta Lange Geschichte als Argument. Deutsche Kolonien und deutsche ‚Heimat‘ in der Berliner Gewerbeausstellung 1896 und in der Retrospektive von 1996/2007....................67 Martin Große Burlage Die Stauferausstellungen von 1977 und 2010/11. Zur Motivik und Entwicklung historischer Groß- und Landesausstellungen........87 Silvio Peritore Die Präsentation des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma in Ausstellungen...........................................................101 Bert Pampel Nivellierendes Erinnern. Besucherreaktionen an historischen Orten aufeinanderfolgenden nationalsozialistischen und kommunistischen Unrechts ....................................119
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Inhalt
Irmgard Zündorf DDR-Geschichte – ausgestellt in Berlin............................................................139 Atelier & Galerie Félix Krawatzek, Rieke Trimçev Eine Kritik des Gedächtnisbegriffes als soziale Kategorie ................................159 Sebastian Haak History in the Best Interest of National Defense: Das US-amerikanische Militär und The Good War ...........................................177 Aktuelles Forum: Zukunft der Erinnerung Bill Niven Multidirectional or Multidimensional? The Future of German Memory.........................................................................195 Thomas Großbölting Die Zukunft der Erinnerung? Das sich wandelnde Verhältnis von öffentlicher Geschichtsthematisierung und Geschichtswissenschaft als Herausforderung .............................................203 Fundstück Sophie Oliver Oscar Muñoz: Colombia’s Desaparecidos, Contemporary Art and the Spectres of Remembrance ....................................................................217 Forschungsbericht Anne K. Krüger Transitional Justice...........................................................................................237 Autorinnen und Autoren ..................................................................................259
EDITORIAL Claudia Fröhlich, Harald Schmid, Birgit Schwelling
Geschichte ausstellen „Geschichte ausstellen“, „Zeitgeschichte ausstellen“, „Hitler ausstellen“, „Vertreibungen ausstellen. Aber wie?“, „Migration ausstellen“, „Jüdisches ausstellen“ – allein die Titel jüngerer Bücher und Aufsätze, Konferenzen und Vorträge lassen vermuten, dass eine neue Nachdenklichkeit in die mit solchen Fragen befassten Disziplinen Einzug gehalten hat. Historische Ausstellungen scheinen im besten Sinne fragwürdig geworden zu sein, indem geschichts- und museumsdidaktische Grundlagen, die Besucher/innen und aktuelle Bedingungen der Vermittlung von Geschichte in dieser charakteristisch modernen Form in den Fokus rücken.1 Dabei sind Ausstellungen nur eines unter zahlreichen Medien der Vermittlung von und Auseinandersetzung mit Geschichte – freilich eines mit Spezifika.2 Anders als etwa Gerichtsverfahren, wissenschaftliche Untersuchungen oder literarisch-künstlerische Werke zielt die Thematisierung von Geschichte in Ausstellungen auf die ästhetisierend-veranschaulichende Popularisierung von Geschichtsbildern, im materiellen wie im metaphorischen Sinne. Ihre didaktischen Vorzüge liegen in der Kombination visueller, akustischer und haptischer Zugänge zum präsentierten Thema. Gewiss gibt es dabei Überschneidungen etwa mit modernen Massenmedien, doch die narrativ-szenische Kombination der Elemente, insbesondere mit konkret-handgreiflicher Materialität in Form von Quellen und Überresten sowie einer gewissermaßen begehbaren Erzählung, verleiht dem Ausstellen von Geschichte eine besondere Attraktivität, die mit jener „Ästhetik der Anwesenheit“
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Vgl. bspw. Vanessa Schröder: Geschichte ausstellen – Geschichte verstehen. Wie Besucher im Museum Geschichte und historische Zeit deuten, Bielefeld 2013 (i.E.); Wolfram Kaiser, Stefan Krankenhagen, Kerstin Poehls (Hrsg.): Europa ausstellen. Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung, Köln u.a. 2012; Dirk Rupnow, Heidemarie Uhl (Hrsg.): Zeitgeschichte ausstellen in Österreich. Museen, Gedenkstätten, Ausstellungen, Wien u.a. 2011; siehe z.B. auch den Schwerpunkt „Historische Ausstellungen – neue Herausforderungen“ in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012) 11–12. Zum Folgenden vgl. Harald Schmid: „Die Vergangenheit mahnt“. Genese und Rezeption einer Wanderausstellung zur nationalsozialistischen Judenverfolgung (1960–1962), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60 (2012) 4, S. 331–348, hier S. 332f.
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verbunden ist, die Gottfried Korff beschrieben hat.3 Dabei hat die öffentliche Präsentation ausgewählter Objekte und Zeugnisse im Rahmen moderner Gesellschaften eine spezifische Funktion. Durch das ‚greifbare‘ Herausstellen und das Visualisieren einer Perspektive oder eines Aspekts, eines Themas, einer Person oder eines Problems wird ein Zusammenhang, dem aus der Sicht der Ausstellungsmacher/innen Bedeutung zugeschrieben wird, ebenso betont wie gleichzeitig konstruiert und durch unmittelbare Anschauung der Quellen möglich.4 In erster Linie auf Wirksamkeit bedacht, erfordern Ausstellungen als „kaltes Medium“ (Marshall McLuhan) von den Besucherinnen und Besuchern aktive Aneignungsarbeit. Dergestalt sind sie „Teil der kulturellen Praktiken, in denen sich Repräsentationsbedürfnisse, individuelle und kollektive Narrationen sowie gesellschaftliche Diskurse und Wissensformen manifestieren“.5 Berücksichtigt man dabei, dass Ausstellungen stets „ephemere Ereignisse“ sind, „die ganz selten dokumentiert werden“,6 so wird ihre potenzielle temporäre und eben auch gleichsam fluide Impuls-Funktion für den öffentlichen Umgang mit Geschichte und für die Konstruktion von Geschichtsbildern deutlich. Insofern können historische Ausstellungen als Indikatoren einer Geschichtskultur verstanden werden, geben sie doch darüber Aufschluss, welche Themen für ausstellungswürdig erachtet, wie diese erzählt, präsentiert und inszeniert werden, von wem sie erarbeitet wurden und welche öffentliche Reaktion sie auszulösen imstande waren. Geschichtsausschnitt, ästhetisch-didaktische und narrative Aufbereitung, Ausstellungsmacher/innen und Öffentlichkeit markieren so eine Art analytisches Viereck jeder näheren Beschäftigung mit diesem Sujet. Historische Ausstellungen sind von geschichtspolitischer Bedeutung, indem sie das öffentlich relevante Geschichtsbewusstsein avisieren und so die historischpolitische Identität des Bezugskollektivs und dessen Gedächtnis prägen. Insbesondere zeithistorische Ausstellungen sind durch eine spezifische Konstellation gekennzeichnet: die Spannung zwischen Nähe und Distanz zur Vergangenheit und
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Gottfried Korff: Zielpunkt: Neue Prächtigkeit? Notizen zur Geschichte kulturhistorischer Ausstellungen in der „alten“ Bundesrepublik (1996), in: Landschaftsverband Rheinland, Rheinisches Museumsamt (Hrsg.): Vom Elfenbeinturm zur Fußgängerzone. Drei Jahrzehnte deutsche Museumsentwicklung – Versuch einer Bilanz und Standortbestimmung, Opladen 1996, S. 53–84, hier S. 80. Vgl. etwa Roswitha Muttenthaler, Regina Wonisch: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld 2007. Muttenthaler, Wonisch: Gesten des Zeigens, 2007, S. 9; zum Folgenden vgl. Gottfried Korff: Ausgestellte Geschichte, in: Saeculum 43 (1992), S. 21–35; Heinrich Theodor Grütter: Die historische Ausstellung, in: Klaus Bergmann u.a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5., überarb. Aufl., Seelze 1997, S. 668–674; ders.: Zur Theorie historischer Museen und Ausstellungen, in: Horst Walter Blanke, Friedrich Jaeger, Thomas Sandkühler (Hrsg.): Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute, Köln u.a. 1998, S. 179–193. Monika Flacke: Geschichtsausstellungen. Zum „Elend der Illustration“, in: Philine Helas u.a. (Hrsg.): Bild/Geschichte, Berlin 2007, S. 481–490, hier S. 481f.
Editorial
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die dadurch vermittelte besondere Emotionalität.7 Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass – auf der allgemeinen Ebene kulturhistorischer Ausstellungen – der öffentliche Präsentations- und Aneignungsmodus von Ausstellungen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg generell langsam von Leitideen im Sinne von „Schatzkammer“ und „Meisterwerke“ Abstand nahm und hingegen den Schwerpunkt in „historisch-politischer Deutungs- und Präsentationsabsicht“8 gefunden hat. Insofern sind geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Entwicklungen zumindest in den vergangenen fünf Jahrzehnten auch eng mit historischen Ausstellungen verwoben – sei es, dass letztere Skandale und Kontroversen auslösen, sei es, dass sie eine breite öffentliche Rezeption entfalten, sei es, dass sie thematische oder formale Impulse liefern. In der Konsequenz dieser Entwicklung liegen die jüngeren Forschungsinteressen, die bestimmt sind von generellen geschichtsund museumsdidaktischen Ansätzen, der Frage nach adäquater Darstellung aktueller gesellschaftspolitischer Umbrüche (Europa, Migration) und der empirischen Wirkungs- respektive Vermittlungs- und Besucherforschung.
Zu dieser Ausgabe Der konzeptionelle Ansatz des Schwerpunkts „Geschichte ausstellen“ ist multiperspektivisch angelegt: Im Fokus unseres Interesses stehen sowohl externe als auch interne Zugänge zum Thema – Beiträge, die sich dem Blick von außen auf historische Ausstellungen oder deren Wirkungsformen widmen, ebenso wie Aufsätze, die gleichsam das Innenleben von Ausstellungen (Konzeption, Architektur, Inszenierung) untersuchen. Dadurch vereint der Schwerpunkt dieser Ausgabe des JPG Texte von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener historisch arbeitender Disziplinen, aber auch Aufsätze von Experten aus der Praxis wie Ausstellungskuratoren und -gestaltern sowie Museumsleitern. Thematisch geht es um deutsche, europäische und transnationale Geschichtsausstellungen, sei es inoder außerhalb von Museen. Ins Zentrum rücken wir jene Fragen, die sich der Bedeutung und Funktion historischer Ausstellungen in Erinnerungskulturen und politischen Gedächtnisbildungen und -kämpfen widmen. Welche Bedeutung haben Ausstellungen für den öffentlichen Umgang mit Geschichte? Von welchen Akteuren werden sie initiiert, realisiert und präsentiert? Welchen Stellenwert haben die konkreten Besucher/innen und die breitere Rezeption einer Ausstellung? Wie wirken Geschichtsausstellungen in Erinnerungskulturen? Wie problematisieren, überwinden oder übergehen sie das Spannungsfeld von fragmentarischem (Quellenüberlieferung) und aktuellem Geschichtsbedarf (Erzählung)? Wie wird mit ihnen Geschichtspoli7
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Hans-Ulrich Thamer: Sonderfall Zeitgeschichte? Die Geschichte des 20. Jahrhunderts in historischen Ausstellungen und Museen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007) 1–2, S. 167–176. Korff: Zielpunkt: Neue Prächtigkeit?, 1996, S. 60.
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tik betrieben? Welchen Beitrag leisten Geschichtsmuseen und -ausstellungen zum Verständnis von, der Identifikation mit Vergangenheit und zur kritischen Auseinandersetzung mit ihr? Kurzum, es geht um eine möglichst facettenreiche analytische Bestandsaufnahme des ‚Ortes‘ historischer Ausstellungen am Schnittfeld erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Handelns. Thomas Thiemeyer führt mit einer historisch angelegten Analyse in das Phänomen Geschichtsausstellung ein und verortet sie als „Evidenzmaschine“ in der gegenwärtigen Erlebnisgesellschaft. Am Beispiel der breit rezipierten und wirkungsvollen Staufer-Ausstellungen aus den Jahren 1977 und 2010 entfaltet Martin Große Burlage Motive und Entwicklungsgeschichte von historischen Landesausstellungen. Mit der Wirkung und Bedeutung von lang zurückliegenden Repräsentationen von Geschichte in Ausstellungen in neuen Präsentationen beschäftigt sich auch Britta Lange in ihrer Untersuchung der Darstellung von Kolonialismus und „Heimat“ in der Berliner Gewerbeausstellung 1896 und deren Repräsentation in Retrospektiven 1996 und 2007. Stefan Krankenhagen und Silvio Peritore rekonstruieren jeweils Hintergründe und Kontexte von konfliktreichen Aneignungen von Geschichte in Ausstellungen. Krankenhagen betrachtet „Die Sache Europa“ mit Blick auf das Projekt eines Musée de l’Europe „als (vorerst) gescheiterten Versuch, die europäische Integration zum Subjekt der Geschichte zu machen“, Peritore zeichnet die Entwicklung der Darstellung des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma in Ausstellungen nach. Mit Berlin als umkämpftem Ort von Geschichtsausstellungen beschäftigt sich Irmgard Zündorf. Zündorf hat Ausstellungen in der Hauptstadt besucht, die die Geschichte der DDR erzählen und hat dabei festgestellt, dass privat finanzierte Institutionen eine besondere Rolle bei der Repräsentation der Diktaturgeschichte spielen. Zwei Beiträge des Themenschwerpunktes „Geschichte ausstellen“ beschäftigen sich schließlich – aus ganz unterschiedlichen Perspektiven – mit der Rolle von Besucher/innen und mit dem Publikum von Geschichtsausstellungen. Bert Pampel betritt mit seinem Beitrag das noch wenig bearbeitete Feld der Besucherforschung, dessen methodische Herausforderungen er sowohl für die Wissenschaft wie für die Ausstellungsmacher/innen ausleuchtet. Am Beispiel von historischen Orten, die an nationalsozialistisches und kommunistisches Unrecht erinnern, beschreibt Pampel daneben die Herausforderung eines bei den Besucher/innen zu beobachtenden „nivellierenden Erinnerns“ für diese historischen Orte. Als Initiator und Betreuer des Virtuellen Osnabrücker Migrationsmuseums diskutiert Thorsten Heese die Chancen einer virtuell repräsentierten Geschichte für die partizipative Museumsarbeit. In der Rubrik Atelier & Galerie fragt Sebastian Haak nach den Motiven und Kontexten des in den USA bis heute gefestigten Geschichtsbildes vom Zweiten Weltkrieg als dem Good War. Félix Krawatzek und Rieke Trimçev entwickeln eine „Kritik des Gedächtnisbegriffs als soziale Kategorie“, mit der sie eine neu akzentuierte Lesart des Konzepts der mémoire collective von Maurice Halbwachs vorschlagen.
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Bill Niven und Thomas Großbölting denken im Aktuellen Forum über die Zukunft der Erinnerung nach und Anne Krügers Forschungsbericht zum Thema Transitional Justice bietet einen breiten Überblick über jüngere Veröffentlichungen und die gegenwärtigen Debatten in diesem Forschungsfeld, das sich mit Fragen des Umgangs mit Menschenrechtsverbrechen (häufig) im Kontext von Systemwechseln befasst. Mit dem Fundstück „Oscar Munoz’s Aliento: Colombia’s Desapareciodos, Contemporary Art and the Politics of Remembrance“ lenken wir den Blick auf den Zusammenhang von Kunst und Erinnerungskultur. Sophie Oliver stellt einen Künstler vor, der sich in seinen Arbeiten mit dem Verbrechen des VerschwindenLassens von Regimegegnern in Kolumbien auseinandersetzt und auf diese Weise die Problematik des Suchens und die Folgen des Nicht-Findens thematisiert.
Personalia: Herausgeber/innen und Wissenschaftlicher Beirat Der vorliegende vierte Band des Jahrbuchs wird wieder von einem dreiköpfigen Herausgeber- und Redaktionsteam verantwortet. Nachdem Horst-Alfred Heinrich, Mitgründer des JPG, aus dem Herausgeberkreis ausschied, konnten wir als Nachfolgerin die Politikwissenschaftlerin und Zeithistorikerin Birgit Schwelling gewinnen. Die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates des JPG haben dessen Gründung und Entwicklung aktiv und konstruktiv begleitet – dafür danken wir an dieser Stelle sehr herzlich Prof. Dr. Aleida Assmann (Konstanz), Prof. Dr. Helmut König (Aachen), Prof. Dr. Bill Niven (Nottingham), Prof. Dr. Peter Steinbach (Mannheim) und Prof. Dr. Edgar Wolfrum (Heidelberg). Das Gremium ist inzwischen erweitert worden und umfasst nun sieben Kollegen. Mit Band 4 neu in das Gremium aufgenommen sind Prof. Dr. Horst-Alfred Heinrich (Universität Passau) und Prof. Dr. Peter Reichel (Universität Hamburg). Beide haben bereits an dieser Ausgabe mitgewirkt. Wir begrüßen sie sehr herzlich und freuen uns sehr auf die weitere Zusammenarbeit.
Dank „Es handelt sich bei dem JPG um ein interessantes, innovatives und vor allem couragiertes Projekt, dem viele Leser und Abonnenten – sowie der sprichwörtliche ‚lange Atem‘ – zu wünschen sind“ (Neue Politische Literatur, 3/2011). „Den Herausgebern des Jahrbuches für Politik und Geschichte ist mit der zweiten Ausgabe des Heftes der eindrucksvolle Beweis gelungen, dass für eine neue Zeitschrift durchaus Notwendigkeit besteht“ (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 12/2012). Die ersten Ausgaben des JPG fanden eine erfreulich breite und positive Aufnahme. Auch die Buchpräsentationen in der Topographie des Terrors in Berlin und im Einstein-Forum in Potsdam trafen auf großes Interesse. Dies hat die
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Herausgeber/innen und den Verlag in ihrer Motivation, dem JPG einen langen Atem zu verleihen, zusätzlich gestärkt. Zu diesem vierten Band hat eine Vielzahl von Personen durch ihre Mitarbeit beigetragen. Wir danken zuvorderst allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und kollegial-engagierte Kooperation. Einen besonderen Dank richten wir an unsere Gutachter/innen, die durch ihre fachwissenschaftlichen Stellungnahmen zu den Beiträgen der Rubriken „Schwerpunkt“ und „Atelier & Galerie“ erheblich zur Qualitätssicherung des JPG beigetragen haben: Aleida Assmann (Konstanz), Rosmarie Beier-de Haan (Berlin), Petra Bopp (Hamburg), Olaf Hartung (Gießen), Horst-Alfred Heinrich (Passau), Helmut König (Aachen), Hans Lochmann (Hannover), Peter Reichel (Hamburg/Berlin), Hans-Ulrich Thamer (Münster), Ute Wrocklage (Hamburg) und Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover). Schließlich danken wir dem Franz-Steiner-Verlag, namentlich und stellvertretend dessen Leiter Thomas Schaber, für die kontinuierliche und engagierte Unterstützung des ‚Projekts‘ JPG. Wir freuen uns über Reaktionen jeder Art sowie über Beitragsangebote.
S C H W E R P U N K T: GESCHICHTE AUSGESTELLT
EVIDENZMASCHINE DER ERLEBNISGESELLSCHAFT. DIE MUSEUMSAUSSTELLUNG ALS HORT UND ORT DER GESCHICHTE Thomas Thiemeyer
Zusammenfassung: Ausgehend vom Konzept der Geschichtskultur bietet der Beitrag einen Überblick über die historische Entwicklung des Phänomens Geschichtsausstellung im Museum. Er resümiert wichtige Theorien zum Museum. Zudem nimmt er neuere Kontroversen der Museumsforschung um das kulturhistorische Museum und seine Objekte in den Blick, wie sie sich beispielsweise über die auratische Wirkung der Dinge und die museumsadäquaten Darstellungsstrategien entsponnen haben. Dabei vertritt der Autor die These, dass historische Ausstellungen aufgrund der Evidenz ihrer Präsentationen ein ganz eigenes epistemisches und emotionales Potenzial besitzen, das durch die Wirkung der Objekte und ihre Inszenierung im Raum freigesetzt wird. Abstract: Based on the concept of ‚Geschichtskultur‘ (Jörn Rüsen) the article gives an overview of the historical development of history exhibitions in museums. Summarizing important theories about the museum and its objects it reflects recent controversies in museum studies around the history museum. Especially modes of display and questions about museum objects are discussed, for example about the auratic effects of things and the appropriateness of different strategies of display. The author puts up the thesis, that historical exhibitions have a genuine epistemic and emotional potential due to the evidence of their staged objects – a potential that grounds in the authenticating effects of objects and their presentation in space.
Ausgestellte Geschichte findet sich an vielen Orten: in Gedenkstätten und Disneyland, in Archiven, Bibliotheken, Autohäusern und Museen. Denn die Ausstellung ist ein Format, dessen sich unterschiedliche Institutionen bedienen. Sie ist eine zeitlich begrenzte Präsentation von Objekten im Raum zu Demonstrationszwecken. Ausstellungen beruhen auf dem Prinzip der Inszenierung,1 verstanden als einer ästhetischen Praxis, die Gegenstände arrangiert, um Deutungen nahezulegen und Wahrnehmung zu lenken. Sie sind Schauzusammenhänge, die auf sinnliche Erfahrungen zielen und bestrebt sind, das Publikum zu unterhalten, zu berühren und Wissen zu vermitteln. Ihr Ursprung ist ein dreifacher: Kunst-Salon, Gewerbe-
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Vgl. dazu ausführlich Thomas Thiemeyer: Inszenierung und Szenografie. Auf den Spuren eines Grundbegriffs des Museums und seines Herausforderers, in: Zeitschrift für Volkskunde 108 (2012) 2, S. 199–214.
Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 13–29
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Thomas Thiemeyer
schau und Museum sind die Entstehungsorte der modernen Ausstellung als ästhetischer, ökonomischer und epistemischer Praxis.2 Der folgende Beitrag konzentriert sich auf die Geschichtsausstellung im Museum, die neben Sammeln, Bewahren und Erforschen nur eine von vier musealen Aufgaben darstellt. Nach einer begrifflichen Abgrenzung von Geschichte, Vergangenheit und Tradition spürt der Beitrag zunächst der historischen Entwicklung des Formats Geschichtsausstellung nach, bevor er sich im dritten Teil mit dem Aufschwung der Geschichtsausstellung seit den 1970er-Jahren beschäftigt, der bis in die Gegenwart anhält. Abschließend nimmt er zentrale Kontroversen um die Geschichtsdarstellung im Museum in den Blick.
Geschichte, Vergangenheit und Tradition „Geschichte ist Sinnbildung über Zeiterfahrung.“3 Sie ist eine kulturelle Praxis, mit der Menschen ihre Vergangenheit deuten, um ihre Gegenwart zu verstehen und ihre Zukunft zu planen. „Geschichte im Singular“ ist eine Abstraktion, die aus vielen Geschichten ein kohärentes Narrativ erzeugt,4 mit dem Ziel, vergangene Ereignisse so zu interpretieren, dass heutiges Handeln sich auf sie beziehen kann, anschlussfähig wird.5 Geschichte ist also immer ein Produkt der Gegenwart, eine aktuelle Deutung von Vergangenheit und von dieser zu unterscheiden. Vergangenheit ist unwiederbringlich verloren und allenfalls als individuelle Erinnerung im Bewusstsein des Zeitzeugen lebendig. Sie ist – außer für den Zeitzeugen – nur als „Kunde von fremder Erfahrung“,6 nicht als eigene Erfahrung oder eigenes Erlebnis zu haben. Diese Kunde von fremder Erfahrung transportieren Medien wie die Ausstellung, und sie besteht aus zwei unterschiedlichen Kategorien: Vergangenheit als Inhalt und Geschichte als Ausdruck. Geschichtsdarstellungen vermitteln vergangene Ereignisse in bestimmten Narrativen (beispielsweise in Form einer Ausstellung). Das heißt, sie kommunizieren Ereignisse aus der Vergangenheit mithilfe von Relikten, Texten, Gemälden oder Fotografien. Nicht das Ereignis und die damalige Situation können sie einfangen, sondern diese nur mit Abbildungen, Worten und Relikten nachbilden (repräsentieren). Kurz: Geschichte ist nicht
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Anke te Heesen: Theorien des Museums. Zur Einführung, Hamburg 2012; Georg Friedrich Koch: Die Kunstausstellung. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Berlin 1967. Jörn Rüsen: Kann gestern besser werden? Zum Bedenken der Geschichte, Berlin 2003, S. 110. Vgl. Reinhart Koselleck et al.: Artikel „Geschichte“, in: Otto Brunner u.a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 2004, S. 593–717, hier S. 648–676. Jörn Rüsen: Was heißt: Sinn der Geschichte?, in: Klaus Müller, Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997, S. 17–47. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1989, S. 354.
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gleich Vergangenheit, sondern Vergangenheit wird als Geschichte konstruiert.7 Insofern kann die Ausstellung weder durch Rekurs auf die Aussagen der Zeitzeugen noch durch realistische Nachbildung historischer Milieus oder Situationen in Form von Kulissen oder Inszenierungen Vergangenheit lebendig machen. Sie kann Geschichtserlebnisse und Geschichtserfahrungen nur neu erzeugen.8 Ausgestellte Geschichte ist also stets Repräsentation von Vergangenheit oder Neuproduktion von Geschichtsbildern. Sie ist kein bloßes Rückrufen vergangener Erfahrungen, sondern ein Prozess ständigen Verlierens und Kreierens.9 Geschichte ist nicht nur von Vergangenheit zu unterscheiden, sondern auch von Tradition. Tradition10 ist ein politischer Akt der Auswahl, der traditionswürdige Vergangenheit von anderer Vergangenheit scheidet. Tradition vermittelt Werte, aus denen sich Handlungsnormen und Identität ableiten lassen. Sie schafft emotionale Nähe zur Vergangenheit, verwebt diese mit Gegenwart und Zukunft. Geschichte trennt Vergangenheit von Gegenwart und Zukunft, markiert die Entfernung zwischen beiden deutlich, wenngleich klar ist, dass der Blick auf die Vergangenheit immer von der Gegenwart bestimmt ist und die Leitfragen, die an die Vergangenheit gerichtet werden, aktuellen (Erkenntnis-)Interessen folgen.11 Geschichte ist also nicht Tradition und nicht Vergangenheit. Was aber kennzeichnet Geschichte, und zwar insbesondere Geschichte im Museum? Auf diese Frage ließen sich viele Antworten geben. Einflussreich war im deutschen Sprachraum, vor allem in der Geschichtsdidaktik,12 das Konzept der Geschichtskultur des Historikers Jörn Rüsen. Er versteht darunter die „praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft“, also ihren Einfluss auf aktuelle Handlungen und Überzeugungen. 13 Drei Dimensionen bestimmen die Geschichtskultur: Ästhetik, Politik und Wissenschaft. Ästhetik ist Voraussetzung jeder Geschichtsvermittlung, da Geschichte nur ins Bewusstsein vordringen kann, wenn sie erzählt wird (ob in Form des Textes, des Films oder der Ausstellungsinszenierung). Nur ästhetisch aufbereitet erzeugt Geschichte Imagination, 7
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Alun Munslow: Narrative and history, Hampshire, New York 2007; Rüsen: Kann gestern besser werden?, 2003; Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1991. Gottfried Korff: Museumsdinge. Deponieren – exponieren, hrsg. von Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König, Bernhard Tschofen, 2. Aufl., Köln u.a. 2007, S. 13f. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003, S. 106. Hier verstanden als normativer Traditionsbegriff, nicht als Begriff der Quellenkunde in Abgrenzung zum „Überrest“. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11–13; Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 131–142. Vgl. Olaf Hartung (Hrsg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft, Bielefeld 2006; Bernd Mütter, Bernd Schönemann, Uwe Uffelmann (Hrsg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik, Weinheim 2000. Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann, Theo Grütter, Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Weimar u.a. 1994, S. 3–26, hier S. 5.
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Thomas Thiemeyer
kann ihren Sinn vermitteln und erzeugt dabei eigenen Sinn, der allein der Art der Erzählung und nicht den Informationen aus den Quellen geschuldet ist. Politisch ist Geschichtskultur, weil sie bestehende Ordnungen stützen oder unterminieren kann, Traditionslinien zulässt oder Anknüpfungspunkte verweigert. Sie erzeugt historisches Bewusstsein und kollektive Identität und beeinflusst so das aktuelle Handeln in einer Gesellschaft. Die Wissenschaft (Rüsen nennt sie „Kognition“) schließlich ermittelt auf Quellenbasis, was sich einst zutrug und interpretiert die Vergangenheit. Ihre Methoden und die Nachvollziehbarkeit ihrer Argumente machen Geschichte glaubwürdig und geben ihr so überhaupt erst die Möglichkeit, Teil der Identität von Gruppen zu werden.14
Geschichte im Museum Die museale Geschichtsdarstellung nimmt ihren Ausgang bei den Humanisten. Sie entdeckten seit dem 14. Jahrhundert die Sachzeugen der Antike als wissenschaftliche Objekte, die ihnen helfen sollten, die Welt der bewunderten Griechen und Römer besser zu verstehen. Skulpturen und Fresken, Gemmen und Medaillen aus Rom oder Florenz galten ihnen als direktester Weg in die Geschichte, weshalb sich die Gelehrten der Renaissance mit allerlei Kunst und Krempel antiker Provenienz umgaben.15 Die Sachzeugen versprachen ganz unmittelbar Zeugnis abzulegen von einer Welt, die nicht nur durch die Eloquenz von Interpreten vermittelt, sondern direkt aus Relikten ermittelt werden konnte. Die Kunst- und Wunderkammern der Renaissance sind Folge dieses Glaubens an die Macht der Dinge als Wissensspeicher, die immer auch tiefstmögliche Einfühlung in die Vergangenheit versprachen, nicht nur Dokument, sondern auch „Reizobjekt“16 waren. Von diesen frühen Sammlungen der Renaissance, die poetisch und kosmologisch organisiert waren, führt keine direkte Linie zu den modernen Museen, wie sie sich vor allem seit dem 18. Jahrhundert etablierten. Aber sie verstanden sich bereits als Orte, an denen Dinge zur Schau gestellt wurden, als theatrum mundi, Theater der Welt, oder theatrum sapientiae, Theater der Weisheit. Das Theater diente als räumliche Metapher, als Synonym für die Schaustellung der Dinge in einem räumlichen Arrangement zum Wohlgefallen ihres Besitzers und als Gedächtnishilfe (nach dem Vorbild antiker Mnemotechniken). Viele Kunst- und Wunderkammern waren Privatgemächer und nur in Begleitung und auf Einladung des Hausherrn zu betreten.17
14 Ebd., S. 11–17 15 Vgl. dazu umfassend Krzysztof Pomian: Collectionneurs, amateurs et curieux. Paris: Venise, XVIe-XVIIIe siècle, Paris 1987. 16 Korff: Museumsdinge, 2007, S. 356. 17 Zu den Wunderkammern umfassend Arthur MacGregor: Curiosity and enlightenment. Collectors and collections from the sixteenth to the nineteenth century, New Haven, London 2007; Andreas Grote (Hrsg.): Macrocosmos in Microcosmos. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450–1800, Opladen 1994; Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und
Evidenzmaschine der Erlebnisgesellschaft
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Das moderne Museum hingegen war der Öffentlichkeit zugänglich, zu der man lange Zeit nur Adelige, Reiche, ausgewählte Künstler und Gelehrte zählte. Das 1759 eröffnete British Museum stand „all studious and curious Persons“ offen, die im Dienst der Wissensmehrung die Sammlungsbestände betrachten wollten. Aufbauend auf dem Nachlass des Physikers und Naturforschers Hans Sloane verfügte es über eine Universal-Sammlung mit Kunstwerken, naturhistorischen und historischen Objekten, die „all Arts and Sciences“ repräsentieren und einem breiten Publikum zugänglich machen sollte. Bei aller Offenheit verstand sich das British Museum zuallererst als Ort der Forschung, an dem Gelehrte wie der Fossiliensammler Mendes da Costas Belegexemplare von Pflanzen studieren konnten, um eigene Funde einzuordnen und abzugleichen. Besucher störten diese Forscher nur.18 Im 19. Jahrhundert spitzte sich der Konflikt zwischen dem Museum als Erkenntnisort, an dem der Forscher in Ruhe Bestände studieren und mit ihnen arbeiten kann, und dem Museum als Bildungsstätte vor allem an den naturhistorischen Museen zu und führte mittelfristig dazu, dass Museen wie das British Museum ihre Bestände in eine öffentlich zugängliche Schau- und eine dem Experten vorbehaltene Studiensammlung aufteilten und räumlich trennten.19 Damit emanzipierte sich die Ausstellung von der Sammlung und folgte einer anderen Logik und Ordnung als die im Depot verwahrten Bestände. Die große Zeit der Geschichtsausstellungen begann in der Französischen Revolution. Der Volkszorn des Dritten Standes, der in der levée en masse als zerstörerischer Furor wütete, Fürsten enteignete, Kunst raubte und Kirchen plünderte, tobte sich an den Symbolen des Ancien Régime aus: Die Revolutionäre stürzten Denkmäler, zerstörten Bilder, verscherbelten Gemälde und Skulpturen und brandschatzten Bibliotheken und Archive. Den Bilderstürmern folgten die Museumsgründer:20 Der Nationalkonvent fürchtete den totalen Erinnerungsverlust der Nation und versuchte, die wichtigsten Zeugnisse des nationalen Erbes zu retten. 1791 setzte er ein Comité d'instruction publique ein, das das nationale kulturelle Erbe schützen sollte und bald von einer Commission temporaire des arts ersetzt wurde. Diese erließ 1793 eine Generalinstruktion mit verbindlichen Archivierungsstandards an alle Direktoren von Kunstsammlungen. Das Wort der Stunde lautete: Patrimoine, Kulturerbe, und bezeichnete die Idee eines Kanons ideeller und materieller Werte, die für die nationale Geschichte und Kultur Frankreichs unverzicht-
Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993. 18 Stefan Siemer: Geselligkeit und Methode. Naturgeschichtliches Sammeln im 18. Jahrhundert, Mainz 2004, S. 210–216, hier S. 211. 19 Vgl. Susanne Köstering: Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs 1871–1914, Köln 2003; Alexis Joachimides: Die Museumsreformbewegung in Deutschland und die Entstehung des modernen Museums 1880–1940, Dresden 2001. 20 So die schöne Parallele, die Walter Grasskamp zieht; Walter Grasskamp: Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums, München 1981.
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bar seien. Dieses Patrimoine, und das war neu, war kollektiver Besitz der Nation und nicht mehr Privateigentum des Adels oder Klerus.21 Den Dingen kamen zu dieser Zeit nicht nur ihre Besitzer abhanden, auch die Räume, in denen sie bis dato bewahrt und exponiert wurden, die Paläste, Residenzen und Klöster, standen – mit wenigen Ausnahmen – als Museen nicht mehr zur Verfügung. Die Revolutionsregierung musste neue Museen schaffen, und zwischen ihnen entstand mit dem Musée de France im Pariser Louvre 1793 jenes Museum für die neue französische Nation, das europaweit Maßstäbe setzen sollte.22 Mehr noch: Die politische Elite erkannte Museen als „the fundamental institutions of the modern state“,23 eminent politische Institutionen, die mit Autorität Geschichte deuten und Macht legitimieren konnten. Allen voran Napoleon nutzte Museen als politische Schaubühnen, auf denen er Beutekunst seiner Feldzüge zeigte24 und sie zu Monumenten der eigenen Herrlichkeit machte: Das Musée de France hieß nach seiner Kaiserkrönung Musée Napoléon. Im Louvre deutete sich bereits jene Verschiebung an, die für das Museum des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts kennzeichnend ist: Die Ausstellung als Medium, das Geschichte interpretiert und kollektive Identität stiften kann, drängte sich in den Vordergrund zulasten der Sammlung. Der Soziologe Tony Bennett spricht in diesem Zusammenhang von einem exhibitionary complex, den für ihn unterschiedliche Institutionen des 19. Jahrhunderts bilden, die ältere Arten des Sehens und Zeigens überwinden: Museen, aber auch Weltausstellungen, Dio- und Panoramen, Arkaden und Department Stores.25 Analog zu Foucaults Analysen der Disziplinarmacht26 begreift Bennett das Museum als Disziplinierungsanstalt, die Machtverhältnisse öffentlich abbildet. Das Museum als politisches Schauwerkzeug ist für Bennett Folge der neuen Nationalstaaten, in denen immer öfter nicht mehr der Monarch, sondern eine dezentral organisierte Macht agiert. Diese Disziplinarmacht greift nicht mehr nur direkt auf ihre Untertanen zu, indem sie sie mithilfe von Erlassen oder Gesetzen zu etwas zwingt, sondern bedient sich unterschiedlicher Disziplinierungstechnologien, die das Verhalten verändern, und zwar ohne ihr Ziel direkt offenlegen zu müssen. Im Museum verändert diese Politik der subtilen Einflussnahme beispielsweise die Funktion der Kunst, die nicht mehr nur der direkten Herrscherrepräsentation via Portrait und Prunk dient, sondern nun auch als Mittel fungiert, das Geschmack, Einstellungen und Verhalten modellie21 Germain Bazin: The Museum Age, New York 1967, S. 169–175; Dominique Poulot: Patrimoine et musées. L’institution de la culture, Paris 2001, S. 50–76. 22 Bazin: The Museum Age, 1967, S. 169–175; Poulot: Patrimoine et musées, 2001; Gottfried Fliedl (Hrsg.): Die Erfindung des Museums. Anfänge der bürgerlichen Museumsidee in der Französischen Revolution, Wien 1996; James Sheehan: Geschichte der deutschen Kunstmuseen. Von der fürstlichen Kunstkammer zur modernen Sammlung, München 2002, S. 72–82. 23 Bazin: The Museum Age, 1967, S. 169. 24 Vgl. dazu ausführlich Bénédicte Savoy: Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen, Wien u.a. 2011. 25 Tony Bennett: The birth of the museum. History, theory, politics, London 2005. 26 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1977.
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ren hilft. Diese Kultur mit ihrer „new ‚governmental‘ relation to culture in which works of high culture were treated as instruments“27 zielte darauf, Normen zu stabilisieren und zu begründen und Verhaltensroutinen als „regimes of selfmanagement“ zu etablieren. Der Rezipient war jetzt nicht mehr bloßer Bewunderer, vor dem der Herrscher seine Macht entfalten konnte, sondern wurde durch kulturelle Institutionen im Sinne der Disziplinarmacht „verbessert“, in seinem Verhalten umerzogen und normiert.28 Für Bennett prägt diese Form der Machtausübung vor allem die bürgerlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts, die sich mithilfe eines neuen „Regime des Sehens“ definierten. Ein Regime, das festlegte, wie etwas gezeigt wurde, und das den Kontext vorgab, in dem es erscheinen durfte. Es prägte den „bürgerlichen Blick, der die in dieser Darbietung verkörperten bürgerlichen Lehren für die Museumsbesucher sichtbar, verständlich und auf das eigene Leben übertragbar macht“.29 In Bennetts Deutung fungiert das Museum des 19. Jahrhunderts als Schule des Sehens und visuellen Verführens, das seinen Besuchern die Welt ordnete und interpretierte und sie so für oder gegen bestimmte Positionen einnahm. Es sollte den Menschen visuell erziehen, indem es seine Themen und Objekte für die Gegenwart anschlussfähig und verhaltensleitend machte. Die Ausstellungen standen im Dienste der Geschichtskultur. Der exhibitionary complex ist ein Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft und der Nationalstaatsbildung in Europa, und auf dem Territorium des späteren Deutschen Reichs zeigt sich diese Idee der politischen Indienstnahme verschiedener Institutionen des Zeigens eindrucksvoll im Germanischen Nationalmuseum, das 1852 in Nürnberg entstand. Das Germanische Nationalmuseum steht exemplarisch für eine Epoche, in der Johann Joachim Winckelmann mit seinen Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst30 ein wirkmächtiges Plädoyer für die Sammlung historischer Überreste vorlegte, in der Freiherr von Stein nach dem Wiener Kongress 1815 die Idee zu einer Monumenta Germaniae Historica vorbrachte, die alle wesentlichen Geschichtsquellen zur „deutschen“ Vergangenheit edieren sollte und zahlreiche Heimat- und Altertumsvereine entstanden. Das Ende der napoleonischen Fremdherrschaft befeuerte die Idee nationaler Erinnerungsorte und Institutionen, die dem ersehnten Nationalstaat den Weg ebnen sollten. Aus diesem Geist und als Folge der gescheiterten Revolution von 1848/49 entstand 1852 das Gründungsmanifest zur Errichtung eines deutschen Nationalmuseums, das als „ein Centralrepertorium für die sämtlichen in Deutschland bestehenden zerstreuten Staatsund öffentlichen Sammlungen angelegt werden [soll], um daraus zu ersehen, was an Quellen
27 Bennett: The birth of the museum, 2006, S. 6. 28 Ebd., S. 23. 29 Tony Bennett: Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens, in: Dorothea von Hantelmann, Carolin Meister (Hrsg.): Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich 2010, S. 47–77, hier S. 47. 30 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, Dresden 1755.
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Thomas Thiemeyer und Denkmälern der Geschichte, Literatur und Kunst deutscher Vorzeit (...) existirt und wo es zu finden sei (...)“.31
Das Germanische Nationalmuseum konkretisierte sein politisches Programm 1869, als es sich als „Nationalanstalt für alle Deutschen“ definierte mit dem „Zweck, die Kenntnis der deutschen Vorzeit zu erhalten und zu mehren, namentlich die bedeutsamen Denkmale der deutschen Geschichte, Kunst und Literatur vor der Vergessenheit zu bewahren und ihr Verständnis auf alle Weise zu fördern“.32 Die politische Richtung war klar: Dieses Museum sollte der deutschen Kulturnation als Sprach- und Abstammungsgemeinschaft ein materielles und intellektuelles Fundament liefern, und es visierte eine großdeutsche Lösung an, worauf der Name hinweist, der auf den germanischen Sprachraum anspielt und in der zeitgleich entstehenden Germanistik seine Gewährsdisziplin fand. Das Germanische Nationalmuseum wies den (kultur-)historischen Museen im Deutschen Reich den Weg, die jetzt, im Zeitalter des Historismus, allenthalben entstanden. Doch es war nicht die Geschichtswissenschaft, die mit den dinglichen Überlieferungen etwas anzufangen wusste, sondern es waren Kunstgeschichte, Archäologie, Volks- und Völkerkunde, die sich der Bild- und Sachkultur in den Museen bemächtigten und mit ihnen arbeiteten. Geschichtswissenschaft und kulturhistorische Museen entfernten sich Ende des 19. Jahrhunderts voneinander. Stattdessen wurde die Volkskunde „zur wichtigsten Bezugsdisziplin für die zahlreichen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegründeten kulturgeschichtlichen (Heimat-)Museen“.33 Die Historiker schrieben politische Geschichte, und deren Quellen fanden Sie in den Akten und Dokumenten der Archive, nicht aber auf Speichern und in Museumsdepots. „Die Folgen für das Museum waren gravierend, denn nunmehr verlor Geschichte die Bindung an jene ‚Geschichte‘, die sich als Potenzial in den gegenständlichen Sammlungen der historischen Museen objektiviert hat.“34 Diese Dingvergessenheit überwanden die (Zeitgeschichts-)Historiker erst in den 1980er-Jahren, als im Zuge der Alltags- und Neuen Kulturgeschichte Dinge und Quellen der Populärkultur Grundlage historischer Analysen wurden. Voraussetzung dafür war die Wende von den 1960er- zu den 1970er-Jahren, die mit Bildungsreform und weitem Kulturbegriff die Geschichtsausstellung im Museum vom „Pathos einer heroisch-abendländischen Weltanschauung und eines ungetrübten Bildungshumanismus“ befreite, der „Kunstwerke nicht primär als historische Zeugnisse, sondern als Emanationen des Wahren, Guten und Schönen darzu-
31 Zit. nach Peter Burian: Die Idee der Nationalanstalt, in: Bernward Deneke, Rainer Kahsnitz (Hrsg.): Das kunst- und kulturgeschichtliche Museum im 19. Jahrhundert. Vorträge des Symposions im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, München 1977, S. 11–18, hier S. 14f. Dieses Generalrepertorium basierte zunächst auf den Sammlungen des Freiherrn Hans von und zu Aufseß. 32 Zit. nach Burian: Die Idee der Nationalanstalt, 1977, S. 15. 33 Olaf Hartung: Kleine deutsche Museumsgeschichte. Von der Aufklärung bis zum frühen 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2010, S. 21. 34 Katharina Flügel: Einführung in die Museologie, Darmstadt 2005, S. 143.
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bieten“ begriffen hatte.35 Zu dieser Zeit entdeckten die Museen die Wechselausstellung als wichtiges Format,36 und die Museumspädagogik etablierte sich und versuchte, das Museum menschennäher und weniger elitär zu gestalten. Dem Museum als „Musentempel“ sollte das Museum als „Lernort“ folgen.37 Die Kontroversen der 1970er-Jahre entzündeten sich an der textlastigen Lese-Ausstellung des Historischen Museums Frankfurt38 und – als Gegensatz dazu – an der als Schauarrangement gestalteten Dauerausstellung im Römisch-Germanischen Museum Köln.39 Sie gehen jenen Debatten um Chancen und Risiken der Geschichtsdarstellung im Museum voraus, die schließlich in den großen historischen (Landes)Ausstellungen von 1977 an und in zwei projektierten Geschichtsmuseen ihren Resonanzraum finden: dem Deutschen Historischen Museum in Berlin und dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (HdG) in Bonn.
Geschichtsausstellung und Geschichtspolitik Als das Württembergische Landesmuseum Stuttgart 1977 die Ausstellung Die Zeit der Staufer40 eröffnete, standen lange Besucherschlangen quer über den Schillerplatz. Mit 671.000 Besuchern war diese Ausstellung die bis dato mit Abstand erfolgreichste historische Ausstellung der Bundesrepublik, zog deutlich mehr Besucher an als die Großausstellungen Karl der Große – Werk und Wirkung 1965 in Aachen41 oder Bayern – Kunst und Kultur 1972 in München42 mit jeweils rund 220.000 Besuchern oder andere historische Schauen.43 Sie gilt heute als Auf-
35 Korff: Museumsdinge, 2007, S. 28. 36 Zwischen 1960 und 1965 zählt Martin Große Burlage 70 Wechselausstellungen im deutschsprachigen Raum, zwischen 1975 und 1980 bereits 600, zwischen 1985 und 1990 dann 1.400. Vgl. Martin Große Burlage: Große historische Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland 1960–2000, Münster 2005, S. 88. 37 Ellen Spickernagel, Brigitte Walbe (Hrsg.): Das Museum. Lernort contra Musentempel, Gießen 1976. 38 Vgl. Detlef Hoffmann, Almut Junker, Peter Schirmbeck (Hrsg.): geschichte als öffentliches ärgernis, oder: ein museum für die demokratische gesellschaft. das historische museum in frankfurt am main und der streit um seine konzeption, Wißmar 1974. 39 Vgl. Hugo Borger: Das Römisch-Germanische Museum Köln, München 1977. 40 Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hrsg.): Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur, 4 Bde., Stuttgart 1977. 41 Wolfgang Braunfels (Hrsg.): Karl der Große. Werk und Wirkung. Katalog der Ausstellung in Aachen vom 26. Juni–19. September 1965, Aachen 1965. 42 Michael Petzet (Hrsg.): Bayern. Kunst und Kultur. Ausstellung des Freistaates Bayern und der Landeshauptstadt München, München 1972. 43 Vgl. dazu im Überblick Große Burlage: Historische Ausstellungen, 2005, Zahlen S. 195, 184, 191. Für Große Burlage ist die Ausstellung Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr, die 1956 in der Villa Hügel in Essen zu sehen war, „die erste überregional bedeutende Großausstellung der Bundesrepublik. Erstmals in der Nachkriegszeit war es einer deutschen Ausstellung gelungen, Museen und Bibliotheken aus fast ganz Westeuropa zur Überlassung von kostbaren Leihgaben zu bewegen.“ Ebd., S. 20.
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takt zur Ära der kulturhistorischen „Blockbusterausstellungen“,44 die eng mit der Erfindung des Formats der Landesausstellung einherging. Die Landesausstellungen haben die Aufgabe, Themen der Landesgeschichte für eine breite Öffentlichkeit aufzubereiten, und sie standen nicht selten im Dienste einer Geschichtspolitik, wie sie Ende der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik salonfähig wurde. Die Staufer-Ausstellung hatte Ministerpräsident Hans Filbinger als identitätsstiftendes Geschichtsereignis für Baden-Württemberg ins Werk setzen lassen, das allerdings eher zufällig mit dem Jubiläum zum 25. Bestehen des Bindestrichlandes zusammenfiel. 45 Der große Ausstellungsetat von rund neun Millionen Mark, das enorme Medienecho und der ungeheure Werbeaufwand – die Marketingstrategen hatten unter anderem zahlreiche Veranstaltungen in den einstigen Stauferstädten ausgerichtet und die Ausstellung als Touristenangebot mit der zeitgleich in Stuttgart stattfindenden Bundesgartenschau verknüpft – machten die Schau zum Ereignis und inspirierten andere Bundesländer, ebenfalls große Landes- beziehungsweise Geschichtsausstellungen zu organisieren.46 1980 folgten in Bayern die Ausstellung Wittelsbach und Bayern,47 1981 in Berlin die Schau Preußen – Versuch einer Bilanz.48 Allen voran die Preußen-Ausstellung setzte nicht allein auf den Reiz kunsthistorischer Preziosen, sondern wollte statt „Glanz und Gloria“ „Land und Leute“ zeigen. 49 Gemeinsam mit Bühnenbildnern der Berliner Schaubühne arrangierten die Ausstellungsmacher dazu unter anderem Objekte der Alltagskultur zu großen und nur spärlich kommentierten Raumbildern, die man so in deutschen Ausstellungen nicht kannte. Sie wiesen den Weg in die Ära der inszenierten Geschichtsausstellung und trugen wesentlich dazu bei, Alltagsgeschichte als Sujet großer Museumsausstellungen zu entdecken. 50 Der Beginn der „Blockbusterausstellungen“ fällt in der Bundesrepublik zeitlich zusammen mit einer neuen offensiven Geschichtspolitik, die – angeheizt
44 Vgl. etwa Hans Ulrich Thamer: Vom Heimatmuseum zur Geschichtsschau. Museen und Landesausstellungen als Ort der Erinnerung und Identitätsstiftung, in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 429–448, hier S. 438. 45 Dieser Zusammenhang wurde erst nachträglich hergestellt. Ursprünglich war die Ausstellung für 1975 geplant, was an der zu kurzen Vorbereitungszeit scheiterte. Vgl. Große Burlage: Historische Ausstellungen, 2005, S. 30f. 46 Vgl. zur Staufer-Ausstellung Ebd., S. 20–91 sowie die (Diskussions-)Beiträge von Cornelia Ewigleben, Harald Siebenmorgen und Matthias Puhle bei der Tagung „Land und Geschichte. Die großen kulturhistorischen Ausstellungen der Länder im Vergleich“ am 8./9. November 2012 in den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim. 47 Hubert Glaser (Hrsg.): Wittelsbach und Bayern, 6 Bde., München 1980. 48 Gottfried Korff (Hrsg.): Preußen. Versuch einer Bilanz. Eine Ausstellung der Berliner Festspiele GmbH, 15. August–15. November 1981, Gropius-Bau (ehemaliges Kunstgewerbemuseum), Reinbek 1981. 49 Gottfried Korff zit. nach Bodo Baumunk: Bilanz einer Bilanz, in: Korff: Museumsdinge, 2007, S. 241–243, hier S. 241. 50 Vgl. Thiemeyer: Inszenierung und Szenografie, 2012.
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durch den Erfolg der Großausstellungen und der Fernsehserie Holocaust (1979)51 – in der Regierungszeit des Historikers Helmut Kohl mit Geschichte Identität stiften wollte und sich dafür nationale Geschichtsmuseen einrichtete.52 Bereits in seiner Regierungserklärung hatte Kohl 1983 die Gründung eines Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin für das Jahr 1987, dem 750. Geburtstag der Stadt, avisiert und zusätzlich ein Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn in Aussicht gestellt. In der Folge entwickelte sich eine Debatte um den genauen Standort (Zitadelle Spandau, Gropius-Bau, Spreebogen), die Form (Museum oder Forum für Geschichte und Gegenwart) und die inhaltliche Konzeption des DHM, zumal es über keine Sammlung verfügte. Die Gründungsphase des Museums war begleitet von Diskussionen über Chancen und Grenzen der Geschichtsdarstellung im Museum, die bis heute die deutsche Museumsdiskussion prägen.53 Die projektierten Nationalmuseen in Bonn und Berlin zwangen die Öffentlichkeit, sich grundsätzlich darüber zu verständigen, inwiefern ein Museum Geschichte angemessen repräsentieren kann und wie mit der deutschen Geschichte in der Erinnerungspolitik umzugehen sei. Am 24. Juni 1987 legte eine von der Bundesregierung und dem Berliner Senat bestellte Sachverständigenkommission eine nach breiter öffentlicher Debatte überarbeitete Grundkonzeption vor, die der heutigen (2006 eröffneten) Schau als Grundlage diente. Dass die Konzeption just in dem Moment in die entscheidende Phase eintrat, als in Deutschland der Historikerstreit ausgetragen wurde, ließ das ganze Unternehmen zeitweilig unter Revisionismusverdacht geraten, verhinderte die Gründung des DHM am 27. Oktober 1987 aber nicht.54 In den 1980er-Jahren begannen die Zeitgeschichtshistoriker, sich erstmals intensiv für das Museum und die Ausstellung als Geschichtsmedium zu interessieren und den Diskurs zu prägen. Unter dem Schlagwort „Geschichtskultur“ entwirft der Historiker Jörn Rüsen ein Konzept, das die ästhetische Dimension von Geschichte (wenngleich rein funktional verstanden als Möglichkeit, Geschichte sinnlich wahrzunehmen)55 ernst nimmt und das sinnliche Potenzial der Museums51 Zur deutschen Rezeption des Serie vgl. Jürgen Wilke: Die Fernsehserie „Holocaust“ als Medienereignis, in: Zeitgeschichte-online, März 2004, URL: www.zeitgeschichte-online.de/md= FSHolocaust-Wilke; letzter Zugriff: 5.12.2012. 52 Zu dieser Zeit entsteht auch das Haus der Bayerischen Geschichte, das seit 1978 geplant und 1983 als Behörde der Bayerischen Staatskanzlei eingerichtet wurde. 53 Vgl. u.a. Jörn Rüsen, Wolfgang Ernst, Theo Grütter (Hrsg.): Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen, Pfaffenweiler 1988; Jürgen Kocka: Die deutsche Geschichte soll ins Museum, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 59–66; Hartmut Boockmann: Zwischen Lehrbuch und Panoptikum. Polemische Bemerkungen zu historischen Museen und Ausstellungen, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 67–79; Gottfried Korff, Martin Roth (Hrsg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt, New York 1990; Michael Fehr, Stefan Grohé (Hrsg.): Geschichte – Bild – Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989. 54 Vgl. hierzu die Dokumentation Christoph Stölzl (Hrsg.): Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Frankfurt am Main, Berlin 1988. 55 Vgl. dazu die Kontroverse mit Gottfried Korff: Bildwelt Ausstellung. Die Darstellung von Geschichte im Museum, in: Ulrich Borsdorf, Heinrich Theodor Grütter (Hrsg.): Orte der Er-
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dinge in Rechnung stellt. Zeitgleich diagnostizieren Theoretiker wie Jean Baudrillard56 und Wolfgang Zacharias ein „Zeitphänomen Musealisierung“ (beziehungsweise „Muséification“) als „eine allgemeine Signatur der Zeit und der aktuellen Verläufe, mit dem Museum als einem exemplarischen Ort, eher der Zukunft als der Gegenwart, was seine potenzielle Produktivität über sich selbst hinaus betrifft“.57 Sie verstehen das Museum als Ort, der die Konfrontation mit Dingen und damit eine elementare Seinserfahrung ermöglicht, der die Sinne stimuliert und an dem die Menschen ihre Beziehung zur Geschichte stets neu verhandeln können. Musealisierung ist eine spezifische Art der Welterfahrung mit alltagspraktischer Relevanz und ist darin der Rüsenschen Geschichtskultur als „praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft“ verwandt. Dass der Philosoph Hermann Lübbe 1981 seine Kompensationstheorie lancierte, die auf der Idee basiert, dass das Museum Dinge rettet und sichert, die uns im Alltag fehlen, mithin Orientierung in vertrauter Umgebung bietet, wo die Moderne längst alle stabilen Orientierungspunkte aufgelöst hat („änderungstempobedingter kultureller Vertrautheitsschwund“),58 passte in eine Zeit, die ein Jahrhundert nach Nietzsche wieder vom Nutzen der Historie für das Leben überzeugt war und in den realen Dingen des Museums und der Geschichtsausstellung verlässliche Pfeiler von Identitätsgebäuden sah. 59
Kontroversen Diese Interpretamente blieben nicht ohne Widerspruch. Peter Sloterdijk konterkarierte die Idee des Museums als Identitätsanstalt, indem er ihr die Idee des Museums als „xenologische Institution“ entgegenstellte, in der man nicht das Eigene sucht, sondern das Fremde findet. Für Sloterdijk war das Museum nicht interessant, weil es Identität stabilisiert und erzeugt, sondern weil es Fremdheitserfahrungen zulässt, weil es einen mit Unerwartetem und so noch nie Erlebtem konfrontiert. Das Museum als „Ort der Alteritätserfahrung“, das mit seinen Bildern verunsichert und nicht nur bestätigt, lehre den Betrachter, sich in einer Welt zurechtzufinden, die keine letzten Wahrheiten mehr kenne, biete „Information ohne
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innerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt am Main, New York 1999, S. 319– 335. Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978. Wolfgang Zacharias: Zur Einführung. Zeitphänomen Musealisierung, in: Ders. (Hrsg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990, S. 9–30, hier S. 14. Hermann Lübbe: Der Fortschritt und das Museum. Über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen. The 1981 Bithell Memorial Lecture, London 1982, S. 18. Zu dieser Zeit, 1984, erschienen auch Pierre Noras Lieux de mémoire in Frankreich, die den Erinnerungsort als Konzept in die Geschichtswissenschaft einführten, identitätsstiftend wirkten und das Interesse der Historiker an (dinglichen) Überbleibseln stimulierten.
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Identifikation“.60 Damit stellte Sloterdijk Lübbes Kompensationstheorie vom Kopf auf die Füße und lag ganz auf der Linie einer volkskundlichkulturwissenschaftlichen Lesart des Museums, die mit Gottfried Korff den Eigenwert der Dinge betonte. In dieser Perspektive haben Museumsdinge eine rationale und eine emotionale Seite: sie speichern Wissen und berühren die Sinne. Die Dinge sind also nicht allein Dokumente, Informationsträger, sondern besitzen eine spezifische Anmutungsqualität.61 Stephen Greenblatt hat diese doppelte Potenz der Museumdinge „resonance and wonder“ genannt. „Wonder“ bezeichnet das Staunen des Rezipienten und bezieht sich auf die emotionale Wirkung eines Objekts. „Resonance“ kennzeichnet das Objekt als Repräsentanten einer fernen Kultur oder Zeit, als Spur in die Fremde oder Vergangenheit, in die es den Besucher hineinzieht und ihm so neue Erkenntnisse ermöglicht.62 Museumsdinge sind also mehr als bloß materielle Belege eines vergangenen Zustands. In einer Ausstellung repräsentieren sie nicht nur Vergangenheit, sondern produzieren ein bestimmtes Verhältnis der Besucher zur Vergangenheit. Sie wirken performativ, machen etwas durch ihre bloße Anwesenheit und Inszenierung.63 Ein schönes Beispiel für die emotionale und zugleich epistemische Kraft der Objekte war 2004/2005 die Ausstellung Die Gegenwart der Dinge, die das Essener Ruhrlandmuseum zu seinem 100. Geburtstag zeigte. Hundert ausgewählte Dinge aus seinen Sammlungen stellte das Museum auf Sockel und präsentierte jedes mit einer Geschichte oder Anekdote. Ein Objekt löste dabei besondere Emotionen aus: ein mit Wasser gefülltes Einmachglas aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Essener Mutter hatte in solchen Gläsern abgekochtes Wasser für die Zeit im Bunker abgefüllt, um den Brei für ihre Zwillinge mit sauberen Zutaten anrühren zu können. Die Wirkung, die dieses Objekt in der Ausstellung zeitigte, ging weit über eine bloße Wissensvermittlung hinaus und war untrennbar an das echte Objekt mit seiner Geschichte gebunden.64 Dinge als Reizobjekte zu begreifen bedeutet freilich, dass man sie nur partiell auf eindeutige Aussagen festlegen kann beziehungsweise dass, wer dies tut, das Potenzial der Dinge verkennt. Hier liegt der Kern zahlreicher Konflikte zwischen Fachhistorikern, die Fragen aus schriftlichen Quellen gewinnen und mit ihnen an die Objekte herantreten, um eine These bestätigt oder konkretisiert zu bekommen, und Objektwissenschaftlern, die erst die Arbeit mit Dingen – etwa beim Klassifizieren oder Dokumentieren – zu Fragen führt, die aus anderen Quellen beantwor60 Peter Sloterdijk: Museum. Schule des Befremdens, in: Frankfurter Allgemeine Magazin, 17.3.1989, S. 57–66. 61 Korff: Museumsdinge, 2007, S. 146–154, S. 167–178. 62 Stephen Greenblatt: Resonance and wonder, in: Bettina Carbonell (Hrsg.): Museum studies. An anthology of contexts, Oxford 2004, S. 541–555. 63 Vgl. dazu etwa das Atmosphären-Konzept von Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995. Ausführlich und am tiefsten ausgearbeitet sind zu diesem Thema die Überlegungen von Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002. 64 Vgl. Mathilde Jamin, Frank Kerner (Hrsg.): Die Gegenwart der Dinge. 100 Jahre Ruhrlandmuseum, Essen, Bottrop 2004, insb. S. 152f.
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tet werden müssen.65 Um den Kern dieser Auseinandersetzung zu verstehen, ist eine Anleihe bei dem Kunsthistoriker Dagobert Frey nützlich, der in den 1970erJahren einen Konflikt zwischen wissenschaftlicher Formalisierung und Autonomie der Kunst konstatiert hat. Verwissenschaftlichung, so Frey, bedeute die Übersetzung von Formen (also sinnlich wahrnehmbaren Attributen) in Gesetze (ins Begrifflich-Logische). Bei dieser Transformation nehmen die Wissenschaften den Verlust an Sinnlichkeit zugunsten der Exaktheit ihrer Aussagen in Kauf. Für die Kunst hingegen gelte, dass sie das Sinnliche immer mitdenken muss und sich nicht in ein System pressen lässt, weil jedes Kunstwerk „sein eigenes Ordnungssystem in sich“ trage.66 Die (kultur-)historische Ausstellung als Ort wissenschaftlicher Erkenntnis mit ästhetischen Mitteln kombiniert beide Seiten – die sinnliche und die wissenschaftliche – zu einer einzigartigen Erfahrungswelt, kann aber umgekehrt keiner Seite vollständig gerecht werden. Auf der einen Seite verändert sie den Prozess der Verwissenschaftlichung, weil sie als sinnliches Medium wissenschaftliche Aussagen nicht (primär) in der diskursiven Logik der Begründung weitergibt, sondern im visuellen Modus der Evidenz, der sichtbaren Einsicht.67 Sie lässt immer einen mehr oder weniger großen Interpretationsspielraum, weil sie auf ästhetischer Wirkung ihrer Objekte aufbaut und so die Kontrolle über ihren Gegenstand mit dem Betrachter teilt. Das mehrdeutige Bild ersetzt den vermeintlich eindeutigen Text.68 Auf der anderen Seite lässt kaum eine kulturhistorische Ausstellung die Dinge „autonom“ (also als Kunstwerk) wirken, weil sie sie mit anderen Dingen in Beziehung setzt oder als Beleg für eine Geschichte nutzt. Auf dieses Spiel mit den unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen verstehen sich Ausstellungen wie Georges Henri Rivières Schauen im Musée des Arts et Traditions populaire im Paris der 1970er-Jahre oder die aktuelle Dauerausstellung nexus im Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar. Rivière nutzte für seine Präsentation von volkskundlichen Themen eine stark ästhetisierende Nylonfaden-Inszenierung, die darin bestand, Objekte an dünnen, kaum sichtbaren Schnüren in eine Vitrine mit dunklem Hintergrund zu hängen und so auszuleuchten, dass die Objekte gleichsam schwebten und als Ensembles inhaltliche Bezüge deutlich machten. Denselben Eindruck ästhetischer Erhabenheit und Exklusivität erzeugt die Marbacher Dauerausstellung, indem sie Manuskripte, Bücher und Lebenszeugnisse zur Literaturgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts auf Glastabla65 Vgl. dazu Gudrun König: Auf dem Rücken der Dinge. Materielle Kultur und Kulturwissenschaft, in: Kaspar Maase, Bernd Jürgen Warneken (Hrsg.): Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft, Köln u.a. 2003, S. 95–118, hier S. 116. 66 Dagobert Frey: Bausteine zu einer Philosophie der Kunst, hrsg. von Gerhard Frey, Darmstadt 1976, S. 236–238, hier S. 238. 67 Dazu ausführlich Dieter Mersch: Das Bild als Argument. Visualisierungsstrategien in der Naturwissenschaft, URL: http://www.dieter-mersch.de/download/mersch.bild.als.argument.pdf., letzter Zugriff: 5.12.2012. 68 Zur Kritik an der vermeintlichen Eindeutigkeit des Textes vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt am Main 1983.
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ren exponiert. Die Objekte sind chronologisch sortiert und nur mit einer Jahreszahl und dem Nachnamen des Besitzers beziehungsweise Autors versehen, so dass sie komplett aus den gängigen literaturhistorischen Kategorisierungen (literaturhistorische Epoche, literarische Gattung oder ähnlichem) herausgelöst sind. „1915 Kafka“ ist die zunächst einzige Information (weitere können im audiovisuellen Ausstellungsführer abgerufen werden) am berühmtesten Exponat des Museums – dem Manuskript zu Franz Kafkas Der Process –, das sich ganz bescheiden zwischen die anderen Objekte des Jahres 1915 einreiht. Diese Art der Präsentation soll den Blick auf die sichtbaren Spuren am Material freigeben und durch das Nebeneinanderlegen der Dinge neue Zusammenhänge auf einen Blick sichtbar machen. Die Objekte sollen nicht primär Literaturgeschichte dokumentieren, sondern in ihrer ganzen Materialität und Rätselhaftigkeit und mit ihren versteckten Reizen wahrnehmbar werden.69 Betraf die Diskussion um das Ding als Dokument und Reizobjekt den Umgang mit originalen Objekten und war so innerhalb des Museums verortet, so berührte die Diskussion um Authentizität und Szenografie, wie sie etwa um das HdG in Bonn geführt wurde, die Frage nach den Grenzen musealer Geschichtsdarstellung. Anders als das DHM, das sich auf die Geschichte der Deutschen bis 1945 konzentriert, widmet sich das HdG der Geschichte der Bundesrepublik und des geteilten Deutschland. Seit 1992 hat es ein „Archiv der deutschen Einheit“ in Leipzig aufgebaut, wo 1999 das Zeitgeschichtliche Forum als Außenstelle öffnete. Seit 2011 zeigt das HdG in Berlin im ehemaligen Tränenpalast, der Grenzübergangsstelle am Bahnhof Friedrichstraße, eine Ausstellung zum Alltag unter deutscher Teilung.70 Der Fokus auf (Alltags-)Geschichte der Gegenwart verlangt andere Wertmaßstäbe als das Exponieren von mittelalterlichen Objekten. Können letztere mit kunsthandwerklich außergewöhnlichen Inkunabeln arbeiten, die oftmals Unikate mit langer Geschichte und zuweilen Grundlage ganzer Epochendarstellungen sind und dem Publikum zudem fremd anmuten, so erscheinen Alltagsobjekte der Gegenwart dem Betrachter in der Regel banal, da sie bekannt und massenhaft verfügbar sind. Das HdG entschied sich denn auch für einen szenografischen Ansatz für seine Ausstellungen, die neben originalen Objekten wie dem Dienst-Mercedes von Konrad Adenauer aufwendige Kulissenbauten nutzen, um Geschichte zu visualisieren und die Distanz zum Betrachter möglichst klein zu halten. Das „authentische Objekt“ – was immer das im Einzelnen auch heißt71 – alleine trägt diese Ausstellungen nicht, weil es oftmals zu unspektakulär ist, um das breite Publikum zu begeistern. Damit emanzipiert sich die Ausstellung von der klassischen Museumsidee: War es einst einziger Zweck des Museums, Objekte zu sammeln
69 Heike Gfrereis: Didaktik des Schweigens. Das Literaturmuseum der Moderne des Deutschen Literaturarchivs Marbach, in: Der Deutschunterricht 61 (2009) 2, S. 20–29. 70 URL: http://www.hdg.de/stiftung/geschichte-und-organisation/entstehung, letzter Zugriff: 5.12.2012. 71 Vgl. dazu etwa Zbynek Stránský: Originals versus substitutes. In: ICOM (Hg.): Symposium. Originals and substitutes in museums. Originaux et objets substitutifs dans les musees. Comments and views – Commentaires et points de vue, Zagreb 1985, S. 95–102
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und auszustellen, so ist das Exponat heute bestenfalls eines von mehreren Mitteln, mit denen ein Museum sein Publikum erreichen kann.72 Die Kritik an diesem „narrativen“ Ansatz73 spielt gerne wissenschaftliche Genauigkeit gegen Unterhaltung aus.74 Ihr Angriffspunkt ist der Versuch der Ausstellung, die Darstellungslücken der klassischen Objektschau durch Nachbauten zu schließen. Diese Schauen unterwerfen sich nicht mehr dem Diktat von „Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall“,75 indem sie Geschichte als Summe von vorhandenen Fragmenten zeigen, sondern ergänzen oder ersetzen die originalen Relikte aus der Vergangenheit durch Kulissen, Medienstationen und faksimilierte Exponate. Nicht Überlieferung mit Originalobjekten, sondern Kohärenz der Darstellung ist das Ziel, also der möglichst dichte Zusammenhang der Elemente einer Erzählung, um viele wichtige Handlungen und Ereignisse darstellen zu können. Einem solchen Ansatz folgt das Mémorial pour la Paix in Caen, ein Friedensmuseum an der französischen Atlantikküste. Als eines der ersten Museen, das den Krieg szenografisch aufbereitete, lebt das Mémorial von seinen Kulissen und Ideen, nicht von den Objekten. Grundidee der Ausstellung ist es, den Besucher auf eine erlebnisnahe Zeitreise mitzunehmen. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs erzählt dieses Haus in chronologischer Abfolge und leitet den Besucher auf klar definierten Wegen. Er betritt die Schau über eine 75 Meter lange Rampe, die sich als Spirale in die Tiefe schraubt und um eine große Weltkugel in der Raummitte windet. An der Außenwand illustrieren auf die Wand gedruckte Fotografien, Grafiken und Plakate unter dem Titel „La faillite de la paix“ die Geschichte der Zwischenkriegszeit und den Aufstieg des Nationalsozialismus. An die Rampe, die ins Dunkel hinabführt, schließt sich ein blau ausgeleuchteter Hallraum an, der die Stimmen der Besucher verstärkt, sodass diese von ihren eigenen Worten beschallt und erschreckt werden – überwölbt von einer Großprojektion von Aufmärschen der Nationalsozialisten. Es folgen weitere Räume, die sich Kollaboration und Widerstand, Deportation und Genozid, dem Krieg im Osten und dem totalen Krieg widmen. Jedes Thema besitzt ein eigenes Raumbild. Die Ausstellungseinheit zum Holocaust beispielsweise ist mit Fliesen an den Wänden und in schummriges Licht getaucht einer Leichenhalle nachempfunden. Dieser Ausstellungsansatz will Geschichte möglichst detailliert vor Augen führen und birgt die Gefahr der Teleologie, das heißt die Geschichte läuft auf ein vorab definiertes Ziel zu. Die Dinge sind dabei nicht länger fremd und zuweilen widerständig, weil nicht sie die Fantasie bedienen, sondern Elemente des Bühnen72 Stephen Weil: Collecting then, collecting today. What’s the difference?, in: Gail Anderson (Hrsg.): Reinventing the Museum. Historical and Contemporary Perspectives on the Paradigm Shift, Oxford u.a. 2004, S. 284–291. 73 Thomas Thiemeyer: Simultane Narration: Erzählen im Museum, in: Alexandra Strohmaier (Hrsg.): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld 2013, S. 479–488. 74 Vgl. dazu in anderem Zusammenhang auch Korff: Bildwelt Ausstellung, 1999, S. 320. 75 Arnold Esch: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 529–570.
Evidenzmaschine der Erlebnisgesellschaft
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baus, der Innenarchitektur und Medieninstallationen die Erzählung bestimmen. Nur durch diese Substitute kann die Narration ihren intendierten Verlauf nehmen. Problematisch ist dabei, was Mieke Bal als „epistemologische Verführung“76 durch museale Inszenierung bezeichnet, nämlich dass diese den Besucher von der Richtigkeit des Dargestellten durch visuelle Dichte überzeugen will: „Es geht um (...) eine Beschreibung der Welt, die so lebensecht ist, dass Auslassungen unbemerkt bleiben, Lücken mitgetragen werden und unterdrücktes Material dem Bemerktwerden entgeht.“77 Der Besucher soll in die Geschichte eintauchen, sich mit ihr identifizieren, emotional Anteil nehmen können und nicht kritische Distanz wahren.
Fazit Ganz gleich, ob sie Originale oder Kopien nutzen, abstrakte Umgebungen wählen, um alle Konzentration auf die Dinge zu lenken, oder mit realitätsnahen Kulissenbauten arbeiten: Historische Ausstellungen haben es stets mit Dingen als Zeugen zu tun, die Kunde von vergangenen Zeiten geben. Diese materiellen Belege, Verweise oder Werke verleihen der historischen Ausstellung ihren spezifischen Sound im Konzert der Geschichtsmedien. Nur sie kann mit Dingen, die sie im Raum inszeniert, um Deutungen nahezulegen und die Wahrnehmung zu lenken, ein synästhetisches Geschichtserlebnis in drei Dimensionen bieten. Mit materiellen Überresten kann sie die Geschichte einer Kultur sinnlich zugänglich machen, sie mit Objekten belegen und ihre Geschichtsdeutung so physisch beglaubigen und emotional verabreichen. Die Geschichtsausstellung verfügt über die Macht des Bildersetzens, ist eine Evidenzmaschine, die visuell etwas suggerieren kann, ohne es zwingend erklären zu müssen. Das ist kein geringer Vorteil in einer Erlebnisgesellschaft.78
76 Mieke Bal: Kulturanalyse, Frankfurt am Main 2002, S. 96. 77 Ebd., S. 97. 78 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main, New York 1992.
DIE SACHE EUROPA. DAS MUSÉE DE L’EUROPE: VON DEM (VORERST) GESCHEITERTEN VERSUCH, DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION ZUM SUBJEKT DER GESCHICHTE ZU MACHEN Stefan Krankenhagen
Zusammenfassung: Europa ist im Laufe der letzten zwanzig Jahre im zweifachen Sinne zur res Europa geworden: zu einer politischen Verhandlungssache und zu einer historischen Ausstellungssache. Dem politischen und ökonomischen Integrationsprozess folgte seit dem Vertrag von Maastricht zu Beginn der 1990er-Jahre die Kulturalisierung Europas als einer gemeinsamen Geschichte, die es wert sei, ausgestellt zu werden. Weil jenes Geschichtssubjekt Europa der öffentlichen Legitimierung bedarf, spielt die Figur des Zeitzeugen in der musealen Inszenierung eine wichtige Rolle. Der Aufsatz zeigt am Beispiel des Musée de l’Europe in Brüssel die ästhetischen Formen, die jene Praxis des Bezeugens annehmen kann: als Erwartung auf Geschichte, als Erfahrung in der Geschichte und als Blick der Geschichte. Abstract: During the last two decades, Europe has become more than just a topic of political and economic negotiations. Since the 1990s and the Maastricht treaty, Europe has undergone an extensive culturalisation, using museums, exhibitions and collections to legitimatize a common history of Europe. Because this specific history subject ‚Europe‘ needs public legitimacy, the figure of the contemporary witness plays an essential role in the museum staging. This paper aims to illuminate the role the witness plays in testifying to a common European history exhibited in the museum. Taking the Musée de l’Europe in Brussels as an example, the use of video testimonies as a European history from below will be critically examined.
„In welche Stadt muss ich reisen für ein Museum der europäischen Kultur und Geschichte: von der Urzeit bis zum Lissabon Vertrag?“
Museum Europa Es besteht wenig Zweifel daran, dass das moderne Museum ideengeschichtlich eine europäische Erfindung ist.1 Norbert Bolz‘ These vom Happy End der Ge-
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Arno Victor Nielsen (Hrsg.): Museum Europa. Om tingenes orden, Århus 1993; Krzysztof Pomian: Collectionneurs, amateurs et curieux. Paris, Venise: XVIe-XVIIIe siècle, Paris 1987; Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, London 1983. Als transnationaler Blick auf die Gründung und Institutionalisierung
Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 31–43
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schichte denkt die historische Liaison zwischen Europa und dem Museum noch einen Schritt weiter. Für ihn „verwandelt sich Europa heute, nach dem Ende der Geschichte im emphatischen, also Hegelschen Sinn in ein Museum“.2 Geschichte nach ihrem Ende kann und muss nur mehr bewahrt werden. Und so kommen die „Touristen aus Japan und Amerika“ heute als „postmoderne Beobachter der Moderne“ zu Besuch nach Europa.3 Asien und Amerika erscheinen in diesem Bild als gesellschaftliche Gegenwart und Zukunft, Europa als höchstens noch denkmalgeschützte Vergangenheit. Europa scheint tatsächlich ‚das alte Europa‘ zu werden, auch selber bereit, sich als Geschichte auszustellen. Europa wird im zweifachen Sinne zur res Europa: zu einer politischen Verhandlungssache und zu einer historischen Ausstellungssache. Weil sich die Wirklichkeit der Geschichte aber in einem ersten Schritt rhetorisch vollzieht – es „genügt, neue Namen (…) zu schaffen, um auf die Länge hin neue ‚Dinge‘ zu schaffen“4 – muss der Name Europa als Geschichte begreifbar werden. Nicht anders als die Nationalstaaten im 19. Jahrhundert,5 muss Europa als eine Antwort auf Geschehenes, wie ein Vorgriff auf Zukünftiges erzählt werden können. Noch in der aktuellen ökonomischen Krise formuliert sich die Forderung nach ‚einer neuen Erzählung für Europa‘ (Peer Steinbrück) als ein Wille zur historischen Erzählung: „Man hört in den letzten Monaten den Rat, nicht länger ‚normativ‘ über Europa zu reden. Da bin ich völlig anderer Ansicht: Wir haben noch gar nicht genug von den großen Ideen gesprochen, die in der zweieinhalbtausendjährigen Krisengeschichte Europas entstanden sind und die wir jetzt in einer bedrohlichen, aber mit Entschlossenheit leicht zu bewältigenden Finanzkrise nicht vergessen dürfen.“6
Weil und insofern Europa als gemeinsame Geschichte erzählt werden kann, ist Europa es wert, als Geschichte ausgestellt zu werden. Europa im Museum: das ist
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europäischer Museen siehe aktuell Simon J. Knell et al. (Hrsg.): National Museums: New Studies from Around the World, London, New York 2010. Norbert Bolz: Das Happy End der Geschichte, in: Rosmarie Beier-de Haan (Hrsg.): Geschichtskultur in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main, New York 2000, S. 53–69, hier S. 55. Ebd. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, München 1954, S. 78; Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel: Geschichte Ereignis und Erzählung, München 1973. Ernest Renan: Was ist eine Nation? (1882), in: Hagen Schulze, Ina Ulrike Paul (Hrsg.): Europäische Geschichte. Quellen und Materialien, München 1994, S. 1173–1176; Anderson: Imagined Communities, 1983; Eric Hobsbawm, Terence Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983. Volker Gerhardt (im Gespräch mit Peer Steinbrück, Paul Kirchhoff und Karl Schlögel), zit. n. URL: http://www.welt.de/politik/deutschland/article109855791/Wir-muessen-dumpfbackigen -Parolen-widerstehen.html; letzter Zugriff: 31.1.2013.
Das Musée de l’Europe
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der Versuch, ein neues Subjekt der Geschichte zu inthronisieren: „Die Realität der Geschichte ist die jeweilige Umbesetzung, die sich rhetorisch vollzieht.“7 Der Versuch, Europa auf diese Weise zu einer historischen Sache zu machen, wird vorrangig, aber nicht ausschließlich, von den politischen Institutionen der heutigen Europäischen Union (EU) unternommen. Seit Mitte der 1980er-Jahre wurden von jenen Förderprogramme und Ansätze einer supranationalen politischen Symbolik entwickelt. Dass Europatag, Europaflagge und Europahymne – um hier nur die prominentesten kulturpolitischen Initiativen zu nennen8 – nationalstaatliche Strategien des 19. Jahrhunderts ideenlos reproduzieren,9 ist eine inhärente Schwäche des eigenen Willens zur Geschichte, die sich in vielen Momenten zwischen EU-Kulturförderprogrammen und White-paper-Verlautbarungen ausdrückt: wie etwa im Bericht zur Zukunft des Digitalisierungsprojekts Europeana, der unter dem bescheidenen Titel The New Renaissance10 firmiert. Selbst die oft kolportierte, aber nicht nachzuweisende Behauptung, Jean Monnet, der erste Präsident der Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), hätte eigentlich ein europäisches Kulturprojekt vor Augen gehabt – „If I could start again, I would start with culture“ –, erzählt eine neue Geschichte des, gerade durch das Wirken Monnets, strikt funktionalistisch und eben nicht kulturalistisch angelegten Integrationsprozesses.11 Die Vorstellung, Europa verlange nach einer kohärenten und kohäsiven Erzählung seiner selbst, die im Ort des Museums ihren natürlichen Platz einnehmen müsse, entwickelte sich jedenfalls sukzessiv als Folge der Kulturalisierung des Integrationsprozesses seit dem Maastrichter Vertrag von 1992. Im seitdem kaum veränderten Kulturartikel 128 (ab dem Lissabonner Vertrag Artikel 167) wird erstmals von einem „gemeinsamen kulturellen Erbe“ in Europa gesprochen, in dem die ideengeschichtlichen Vergangenheiten des Kontinents und die politischen, ökonomischen und sozialen Realitäten der Gegenwart zusammenfallen. Somit kann der Name Europa heute so wenig abseits der ökonomischen und politischen Integration Europas seit dem Zweiten Weltkrieg gedacht werden wie er vollständig in diesen Prozessen aufgeht. In allen Ausformungen findet stattdessen kontinuierlich die „Verschmelzung einer ‚Idee Europas‘ mit dem kulturpoliti-
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Bolz: Happy End der Geschichte, 2000, S. 53, im Original kursiv. Siehe zu einer Übersicht über europäische Kulturpolitik Annabelle Littoz-Monnet: The European Union and Culture. Between Economic Regulation and European Cultural Policy, Manchester 2007. Schlüsseldokumente finden sich in Olaf Schwenke (Hrsg.): Das Europa der Kulturen – Kulturpolitik in Europa. Dokumente, Analysen und Perspektiven von den Anfängen bis zum Vertrag von Lissabon, 3. Aufl., Essen 2010. 9 Cris Shore: Building Europe. The Cultural Politics of European Integration, London, New York 2000. 10 Comité des Sages: The New Renaissance. Report of the Comité des Sages, Reflection Group on bringing Europe’s Cultural Heritage Online, Brüssel 2011, URL: http://ec.europa.eu/information_ society/activities/digital_libraries/doc/refgroup/final_report_cds.pdf; letzter Zugriff: 28.1.2013. 11 Wolfram Kaiser, Stefan Krankenhagen, Kerstin Poehls: Europa ausstellen. Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung, Köln, Weimar, Wien 2012, S. 46.
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schen Projekt EU“ statt.12 Doch auch wenn es Beispiele gibt, die jene „Idee Europa“13 zu einem museal aufbereiteten Thema gemacht haben, ein Museum, wie es sich die Nutzerin eines Reiseforums wünscht – europäische Geschichte von der Urzeit bis zum Lissabon Vertrag14 – gibt es bisher nicht. Ein solches müsste es unternehmen, das neue Geschichtssubjekt Europa im Medium der Ausstellung zu benennen.
Europa im Museum Hierzu gab es allerdings Versuche. Der bekannteste davon, das Musée de l’Europe (Musée), hat sich bereits mit seinem Namen in eine Reihe mit dem ersten modernen Museum in Europa gestellt: dem Muséum Français, das heute Palais du Louvre heißt.15 Die Anknüpfung an das 18. und 19. Jahrhundert ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer Paradoxie, die die Europäische Kulturpolitik nach 1945 im Ganzen betrifft, indem sie eine postnationale Identitätspolitik (Einheit in Vielfalt)16 mit nationalen Gesten (Hymne, Flagge, gemeinsame Geschichte)17 betreibt. Der Kurzschluss zwischen 19. und 21. Jahrhundert steht allerdings in Gefahr (oder ist dazu gedacht), das 20. Jahrhundert und dessen totalisierende Identitäts-Exzesse gewollt oder ungewollt zu übersehen, wie Boris Groys bemerkt: „Damit [mit dem Rückgriff auf das 19. Jahrhundert; S.K.] wird der Versuch unternommen, jene Zeiten zu überspringen und zu vergessen, in denen diesen kulturellen Identitäten Gewalt angetan wurde, die diese Identitäten unterdrückt, beschädigt oder sogar ausgelöscht haben.“18
Wenn es in der vielbeschworenen Vielfalt weniger Einheit denn Krieg und Vernichtung gegeben hat – was macht das mit der Sache Europa im Museum heute? Das Musée allerdings ist nie ein Museum gewesen. Es handelte sich dabei zunächst um einen gemeinnützigen Verein, der seit seiner Gründung im Jahr 1997 mit dem Brüsseler Ausstellungsbüro Tempora vier Ausstellungen verwirklicht
12 Kerstin Poehls: Europa backstage. Expertenwissen, Habitus und kulturelle Codes im Machtfeld der EU, Bielefeld 2009, S. 10. 13 Marie-Louise von Plessen (Hrsg.): Idee Europa – Entwürfe zum ‚Ewigen Frieden‘. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union, Berlin 2003. 14 URL: http://www.reisefrage.net/frage/wo-finde-ich-ein-museum-der-europaeischen-geschichte; letzter Zugriff: 28.1.2013. 15 Andrew McClellan: Inventing the Louvre: Art, Politics, and the Origins of the Modern Museum in Eighteenth-Century Paris, Cambridge 1994. 16 Ulrich Beck, Edgar Grande: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main 2004. 17 Siehe zu den Parallelen zwischen nationalstaatlicher und europäischer Symbolpolitik Pietro Costa: From National to European Citizenship: A Historical Comparison, in: Richard Bellamy, Dario Castiglione (Hrsg.): Lineages of European Citizenship. Rights, Belonging and Participation in Eleven Nation-States, New York 2004, S. 207–226. 18 Boris Groys: Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters, München 1997, S. 52.
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hat. Die ersten beiden kulturhistorisch geprägten Ausstellungen widmeten sich 2001 dem Europa des 19. Jahrhunderts und der Weltausstellungen (La Belle Europe. Le temps des expositions universelles, 1851-1913) und 2006 der Religionsvielfalt Europas (Dieu(x), modes d’emploi). Die dritte Ausstellung (C’est notre histoire!) wurde 2007/08 in Brüssel und 2009 in Wrocław (Breslau) gezeigt und die vierte (America – It’s also our history!) 2010/11 in Brüssel. Das Musée wurde von prominenten Mitgliedern der politischen und gesellschaftlichen Eliten Belgiens und der EU inthronisiert. Zu den Gründungsmitgliedern zählten der inzwischen verstorbene Sozialist Karel van Miert, damals Wettbewerbskommissar in der Europäischen Kommission, und die liberale Abgeordnete des Europäischen Parlaments (EP), Antoinette Spaak, die Tochter eines der sogenannten Gründerväter der heutigen EU, Paul-Henri Spaak. Geplant hat der Musée-Verein ein Museum in und für Brüssel als der informellen Hauptstadt Europas. „Wir wollen unsere Absicht unverhohlen bekennen: unser Ziel ist es, ein identitätsstiftendes Museum zu schaffen“, verkündete Benoît Rémiche, der Generalsekretär des Musée 2001 auf einer Tagung in Turin.19 Rémiche gab drei Gründe für die Konzeption des Museums an: erstens das fehlende Interesse an einer gemeinsamen demokratischen Debatte in Europa; zweitens die Begrenzungen des politisch gedachten Europas im Rahmen der EU; und drittens die steigende Bedeutung des Tourismus für Brüssel.20 Schon aus den Zielsetzungen der Museumsplaner wird deutlich, dass hier auf kulturellem Feld politische Krisenerfahrungen der europäischen Integration verhandelt und möglicherweise kompensiert werden sollten. Neben privaten Sponsoren sind bis heute sowohl der belgische Staat als auch die Stadt Brüssel an der Finanzierung des Vereins und seiner Ausstellungen beteiligt. Die Europäische Kommission unterstützte den Museumsplan finanziell nie direkt. Tempora hat sich jedoch an EU-Ausschreibungen beteiligt und auf diesem Weg EU-Mittel akquiriert.21 Seit 2000 ist das Musée außerdem in das Netzwerk Museums of Europe mit mehr als zwanzig nationalen Museen eingebunden, die sich gegenseitig über Ausstellungsthemen und -formen in europäischer Perspektive verständigen. Dieses Netzwerk ist jedoch weitgehend wirkungslos geblieben und hat, ohne sich aufzulösen, die sichtbare Arbeit eingestellt. Die Planung des Museums und seiner Ausstellungen wird von einem wissenschaftlichen Beirat koordiniert, der von dem polnisch-französischen Historiker und Museumswissenschaftler Krzysztof Pomian geleitet wird.
19 Zit. nach Camille Mazé: Von Nationalmuseen zu Museen der europäischen Kulturen. Eine sozio-historische und ethnographische Annäherung an den Prozess einer ‚Europäisierung‘ der ethnologischen und historischen Nationalmuseen, in: Museumskunde 73 (2008) 1, S. 110– 126, hier S. 119. 20 Benoît Rémiche: Un musée d’histoire européenne à Bruxelles..., in: Laura Salvai (Hrsg.): Europa e musei. Identità e rappresentazioni, Turin 2001, S. 129–132. 21 Interview mit Dr. Isabelle Benoit, Leiterin des Ausstellungsbüros Tempora, am 14.10.2009 in Brüssel.
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Das Musée geht offensiv mit seiner pro-europäischen Haltung um, die sich in der Zusammensetzung seiner Gründungsmitglieder, der Verschränkung von privatwirtschaftlichen, nationalen und europäischen Finanzmitteln, dem vom Musée mit initiierten Netzwerk Museums of Europe sowie seiner ideengeschichtlichen Perspektive widerspiegelt. Das geplante Museum soll zu einem europäischen „place of memory“ werden, wie es im Rahmen der Ausstellung C’est notre histoire! hieß, die, von der Kuratorin Marie-Louise von Plessen unterstützt, zum fünfzigjährigen Jubiläum der Römischen Verträge im Oktober 2007 in Brüssel eröffnet wurde. Diese Ausstellung zur Geschichte der Integration sollte der Kern des geplanten Museums werden. Das Museum wiederum sollte die Geschichte Europas als einen übergreifenden Integrationsprozess darstellen, der sowohl durch „Perioden der Einheit“ (Jahrhunderte des gemeinsamen Glaubens, Epoche des Humanismus und der Aufklärung, politische Integration nach 1945) als auch durch „Perioden der Brüche“ (Reformation und Glaubenskriege, Nationalismus, Totalitarismus und Weltkriege) charakterisiert ist.22 Aus Sicht der Kuratoren ist entscheidend, dass sowohl die positiven als auch die negativen Erfahrungen in der Geschichte des Kontinents zur Ausbildung einer gemeinsamen Kultur geführt haben. Nach Pomians Überzeugung geht der Gedanke einer kulturellen Einheit Europas seit der Aufklärung der ökonomischen und politischen Integration des 20. Jahrhunderts geradezu voraus: „Moreover, among the lasting results of the second cultural unification was the idea of Europe as a cultural reality, shared since the eighteenth century by a significant part of the elites of a majority of European nations. These elites became more and more convinced that this cultural reality had to be completed by an economic and even a political one.“23
Der Plan für ein Museum in Brüssel präsentiert damit die Geschichte Europas als eine teleologische Erzählung in guter Hegelscher Tradition. Nicht nur die gemeinsame Ideengeschichte und die humanistische Tradition Europas, auch die Konflikte und Kriege bilden die Wurzeln eines kohärenten kulturellen Erbes, das in dem ökonomischen und politischen Integrationsprozess nach 1945 kulminiert: „For the first time in the history of Europe, the culture of war has given way to a culture of peace“,24 heißt es über die Zeit nach den Römischen Verträgen. Der Musée-Verein ist für diese geplante essentialistische und tendenziell verklärende Darstellung Europas kritisiert worden.25 Gleichzeitig bietet das Projekt damit eine Definition
22 Krzysztof Pomian: European identity: Historical fact and political problem, in: Eurozine, 24.8.2009, URL: http://www.eurozine.com/pdf/2009-08-24-pomian-en.pdf. 23 Ebd., S. 8. 24 Musée de l’Europe (Hrsg.): Europa – to nasza historia. Europe – It’s our history!, Brüssel 2009 (Ausstellungskatalog), S. 17. 25 Wolfram Kaiser, Stefan Krankenhagen: Europa ausstellen. Zur Konstruktion europäischer Integration und Identität im geplanten Musée de l’Europe in Brüssel, in: Michael Gehler, Silvio Vietta (Hrsg.): Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, Köln et al. 2010, S. 181–196; Mazé: Von Nationalmuseen zu Museen der europäischen Kulturen, 2008.
Das Musée de l’Europe
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Europas an, die für die Antwort auf die Frage nach Wesen und Identität des Kontinents feste Koordinaten vorgibt. Im Gegensatz zur Rhetorik der EU-Eliten beschreibt und definiert der Musée-Verein in seinen Ausstellungen, welche kulturelle Einheit in welcher Vielfalt gemeint ist: eine Einheit, die ihren ideengeschichtlichen Ausgang in einem Europa des Hellenismus und des Christentums findet, in der europäischen Aufklärung ihre entscheidende kulturelle Dynamisierung26 und in ihrer heutigen politischen Verfassung ihr Telos erfährt: „Against all predictions, the millennium-long trajectory of European self-searching seems finally to be reaching equilibrium in the form of the European Union.“27 Das Musée entwirft damit sukzessive eine Meistererzählung europäischer Geschichte, die als solche seit langem einer fundierten Kritik in Philosophie28 und Geschichtswissenschaften29 ausgesetzt ist und auch in den Ausstellungen des Musée nicht ungebrochen zum Ausdruck kommt. Gleichwohl wird die „Identitätsfabrik“ Museum, 30 wie hier behauptet wird, in den Dienst genommen, um Europa als kohärente Sache zeigen zu können. Wie also, mit welchen inszenatorischen Mitteln, entwirft die Ausstellung eine Meistererzählung europäischer Geschichte, die sich gleichzeitig selbst dekonstruiert?31
Europa bezeugen Zwei inszenatorische Strategien stechen heraus, sieht man sich die Ausstellung C’est notre histoire! als einen Versuch an, die Gegenwart Europas zum Geschichtssubjekt zu machen. Zum einen fällt der dramaturgische Einsatz von Kunstproduktionen der Gegenwart auf. Anders als in der bekannten Sammlung des Imperial War Museum in London oder wie für das In Flanders FieldsMuseum und das Bayerische Armeemuseum beschrieben, findet in den Ausstel-
26 Siehe Pomian: European identity, 2009. 27 Peter Burgess (Hrsg.): Museum Europa. The European Cultural Heritage between Economics and Politics, Kristiansand 2003, S. 9. 28 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986. 29 Konrad Jarausch, Martin Sabrow (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002; Alan Megill: Grand Narrative and the Discipline of History, in: Frank Ankersmit, Hans Kellner (Hrsg.): A New Philosophy of History, Chicago 1995, S. 151–173. 30 Gottfried Korff, Martin Roth (Hrsg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt am Main, New York 1990. 31 Ungeachtet der überzeugenden Argumentation Heinz-Dieter Kittsteiners, dass sich „in der Form der Teleologie ein nach wie vor ungelöstes Problem verbirgt“, ist der radikale Dekonstruktivismus Foucaults und Lyotards nicht ohne Wirkung geblieben und hat Kuratoren europaweit zu Ausstellungskonzepten inspiriert, die ihre historiografischen Bedingungen selbstkritisch reflektieren. Heinz Dieter Kittsteiner: Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren, in: Ders. (Hrsg.): Geschichtszeichen, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 81–115, hier S. 114 (im Original kursiv).
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lungen des Musée keine „Umwertung der Kunst zur Illustration“32 statt. Stattdessen wird in der Ausstellung zeitgenössische Kunst als eine narrative Leerstelle eingesetzt, um die massiven Bruchstellen in der europäischen Erinnerungslandschaft zu überspielen. Gegenwartskunst wird hier eingesetzt um Krieg und Holocaust, totalitären Nationalismus und Vertreibung in der Geschichte Europas visuell zu be-deuten, ohne dabei etwas über die genannten Themen sagen zu müssen; ohne im Entferntesten historisch Stellung zu beziehen. Wie dies im Detail geschieht, ist an anderer Stelle beschrieben worden.33 Im Folgenden soll stattdessen ein Objekt in der musealen Inszenierung34 von Geschichte betrachtet werden, die in den letzten Jahren in das Zentrum vieler Sonder- und einiger Dauerausstellungen gerückt ist: das Objekt des Video-Zeitzeugen. Videos von Zeitzeugen nehmen eine dezidierte Zwischenposition in der musealen Darstellung von Geschichte ein: historiografisch zwischen Erinnerung und Geschichte verortet, narratologisch zwischen Meistererzählung und Mikroerzählung und ästhetisch zwischen musealem Objekt und medialer Repräsentation. Videos von Zeitzeugen haben ihren Eingang in die museale Inszenierung über Holocaust-Gedenkstätten und so genannte Weltkriegsmuseen wie etwa das Imperial War Museum in London gefunden.35 Sie sind gleichzeitig Ausdruck und Bedingung einer „era of the witness“,36 die sich zwischen dem Eichmann-Prozess von 1961 und vielfältigen aktuellen Zeitzeugenprojekten im Internet und der Tagespresse aufspannt.37 In Ausstellungen werden Zeitzeugen-Videos nicht ausschließlich, aber bis heute vorrangig eingesetzt, um gezeigte Inhalte zu illustrieren, zu authentifizieren und zu legitimieren. In diesem Sinne reagiert auch die wissenschaftliche Forschung, die die Figur des Zeitzeugen in der Genealogie, aber auch Verschränkung von juridischem, historischem, religiösem und moralischem
32 Thomas Thiemeyer: Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Die beiden Weltkriege im Museum, Paderborn u.a. 2010, S. 288. 33 Siehe Kaiser, Krankenhagen, Poehls: Europa ausstellen, 2012, S. 126–133; Stefan Krankenhagen: Versuch, Kunst und Geschichte zusammenzudenken. Das Beispiel der Brüsseler Ausstellung ‚C’est notre histoire!‘, in: Museumskunde 76 (2008) 1, S. 127–132. 34 Thomas Thiemeyer ist diesem „Grundbegriff des Museums“ nachgegangen und hat seine offensichtliche Abhängigkeit vom Theaterdiskurs luzide herausgearbeitet. Für die vorliegenden Überlegungen gehe ich mit Thiemeyer von einem Inszenierungsbegriff aus, der „eine medienübergreifende ästhetische Praxis“ im Rahmen der historischen Koordinaten des Museums bezeichnet. Thomas Thiemeyer: Inszenierung und Szenografie. Auf den Spuren eines Grundbegriffs des Museums und seines Herausforderers, in: Zeitschrift für Volkskunde 108 (2012) 2, S. 199–214, hier S. 200. 35 Steffi de Jong: Bewegte Objekte. Zur Musealisierung des Zeitzeugen, in: Sibylle Schmidt, Sibylle Krämer, Ramon Voges (Hrsg.): Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis, Bielefeld 2011, S. 243–264. 36 Annette Wieviorka: L’ère du témoin, Paris 1998. 37 Siehe zum Beispiel www.zeitzeugenboerse.de oder die Sendereihe des Bayerischen Rundfunks, ebenfalls digital zugänglich unter www.die-quellen-sprechen.de; letzter Zugriff: 28.1.2013.
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Zeugen sieht. Sie analysiert den Moment der „Identifizierung“38 und der „Illustrierung“39 spezifischer Sachverhalte durch den Zeitzeugen, wie sie übergreifend den Anspruch auf „Authentizität“40 und der damit erwirkten „epistemischen Autorität“41 des Zeugen hervorhebt, beziehungsweise in einem nächsten Schritt als kulturelle Konventionen und Konstruktionen dekonstruiert. Diese Ansätze sind offensichtlich relevant für die Analyse des Zeitzeugen als kulturelle Figur des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus aber sehe ich Funktion und Wirkung von Zeitzeugen-Videos im Museum darin, dass sie ganz grundsätzlich den Moment und die Praxis des Bezeugens sichtbar machen. Die Autorität der Zeitzeugen liegt weniger – oder nicht ausschließlich – darin begründet, was sie bezeugen, sondern dass und wie sie den Moment des Bezeugens performativ sichtbar machen. Dieses wiederum öffnet den Blick für die Mikro-Inszenierung des Bezeugens wie sie im Zeitzeugen-Video im Museum praktiziert wird. Die Erzählungen in den Zeitzeugen-Videos der Ausstellung C’est notre histoire! können in zwei Gruppen unterschieden werden. Etwas mehr als die Hälfte der 27 Zeitzeugen berichtet von Alltagserfahrungen, oft sind diese beruflich bedingt, die von den gezeigten Personen als neue europäische Gegenwart beschrieben werden. Jene sind entweder durch europäische Institutionen gerahmt oder in Situationen gemacht worden, die durch inter- und transnationalen Austausch ermöglicht beziehungsweise notwendig wurden. So behauptet der österreichische Gründer einer Fluggesellschaft, dass für den Erfolg seines Unternehmens der gemeinsame europäische Markt eine Grundvoraussetzung sei; eine Erasmus-Studentin aus Dänemark berichtet Positives über ihre Erfahrungen in Brüssel; das Schengen-Abkommen, das Europäische Parlament oder transnationale Forschergruppen werden als Makrobedingungen für den beruflichen und privaten Alltag der Bürger skizziert, die allesamt Frieden, Wohlstand und technischen Fortschritt bringen. Die Aussagen der ersten Gruppe an Zeitzeugen sind in einem hohen Maße plakativ, an einzelnen Stellen wirken sie wie aufgesagt. Was die Zeitzeugen einer europäischen Gegenwart sagen, führt sich selbst ad absurdum, da noch der Anflug einer möglichen kritischen Position zum Prozess der europäischen Integration beziehungsweise zur Geschichte der europäischen Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Teil einer historischen Erfolgsgeschichte gewertet wird. Doch sind alle diese Zeugen einer europäischen Gegenwart in ihrem jeweiligen Wirkungszusammenhang gefilmt: als aktiv handelnde Personen einer europäi-
38 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn 2007, S. 85; hier von Tätern und Opfern. 39 Alexander von Plato: Lebensgeschichtliche Erinnerungszeugnisse in Museen und Ausstellungen, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 5 (1992) 2, S. 213–230, hier S. 223. 40 Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, 2007, S. 90. 41 Sibylle Schmidt, Ramon Voges: Einleitung, in: Schmidt, Krämer, Voges (Hrsg.): Politik der Zeugenschaft, 2011, S. 7–20, hier S. 11.
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schen Gegenwart, nicht als talking heads vor einem grau monochromen Hintergrund, wie er die Mehrzahl der Fernsehproduktionen prägt – und so die Sehgewohnheiten der Betrachter steuert –, die seit den späten 1990er-Jahren die Figur des Zeitzeugen populär machte.42 Bezeugt wird die gemeinsame europäische Geschichte gleichsam nebenbei; im Kontext der sich vollziehenden Zeit, der Gegenwart des Lebens. Gezeigt werden nicht Personen, die sich an Europa erinnern, sondern Personen, die Europa machen und die Europa erwarten. In weiteren neun bis zehn Videos sind jene Personen zu sehen, die sich erinnernd mit ihrer eigenen Vergangenheit beschäftigen. Eine Vergangenheit, die jeweils mit historischen Umbrüchen in den europäischen Staaten der Nachkriegszeit korreliert. In dieser Gruppe von Zeugen einer europäischen Vergangenheit scheint der „homme-mémoire“43 durch, jener gesellschaftlich legitimierte Erzähler von Geschichte, dem sich die Geschichte gleichsam in den Körper eingeschrieben hat. Während sich ein älteres deutsches Ehepaar an seine spektakuläre Flucht aus der DDR erinnert, haben andere Personen, die in der Ausstellung zu Wort kommen, aktiv für politische Veränderungen in ihren Staaten gekämpft oder erinnern sich an ihre Kindheit unter einem diktatorischen Regime. In den Videos dieser Personengruppe findet der inszenatorische still statt: die Zeitzeugen bleiben an einem Ort, meist ein geschlossener Studio- oder Wohnzimmer-Ort, sie stehen oder sitzen ruhig da, um ihre Erinnerung zu konturieren, denn sie sollen nicht die Erwartung auf Neues ausdrücken, sondern die Erfahrung der Vergangenheit bezeugen. Alle Videos der Zeitzeugen sind in monochromen Stelen eingelassen – ästhetisch wird damit der geläufigen Seherfahrung auf einer übergeordneten Ebene entsprochen –, mit biografischen Anmerkungen versehen und sie werden durch eine zweite, beigeordnete Stele ergänzt, die ein Vollporträt des Zeugen sowie ein persönliches Objekt zeigt: eine Brille, einen Kugelschreiber, einen Brief. Diese Objekte erzählen jeweils ihre eigene Geschichte und illustrieren gleichzeitig jene des Zeugen. Porträt, Objekt und Video bilden eine responsiv authentifizierende Einheit, die keinen Raum für Geschichten jenseits der dominanten Erzählung eines vereinten Europa bieten: „It is because we share a common history dating back more than 2000 years that a European Union could be built in 50 years“, wie es auf einer der einleitenden Texttafeln der Ausstellung in Wrocław heißt. In der Inszenierung der Zeitzeugen werden jene 50 Jahre als eine europäische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erinnert. Herausgehoben aus dieser Form, die Europa als gemeinsame Geschichte bezeugen soll, ist ein 28. Video der Zeitzeugen, auf das hier abschließend geblickt werden soll. Dass die Perspektive der Zeitzeugen das dominante Rezeptionsangebot in einer ansonsten inszenatorischen Überfülle in C’est notre histoire! darstellt,
42 Siehe Judith Keilbach: Zeugen der Vernichtung. Zur Inszenierung von Zeitzeugen in bundesdeutschen Fernsehdokumentationen, in: Eva Hohenberger, Dies. (Hrsg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003, S. 155–174. 43 Annette Wieviorka: The Witness in History, in: Poetics Today 27 (2006) 2, S. 385–397, hier S. 391.
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wird nicht nur durch den Titel, sondern auch durch jenes erste Zeitzeugen-Video deutlich, das die Museumsbesucher zu sehen bekommen. Es ist – sowohl in Brüssel als auch in Wrocław – das erste auffällige Exponat der Ausstellung überhaupt; mit ihm beginnt unsere Geschichte. Dieses erste Video legitimiert die museale Darstellung von Geschichte anhand der Erinnerung ausgewählter, aber durchschnittlicher Personen, die entsprechend auch in ihren persönlichen Kleidern abgebildet werden: „These 27 people are ordinary citizens from the 27 countries of the European Union.“44 Das Musée reiht sich damit in einen sozialhistorischen Ansatz ein, wie er in Europa in den frühen 1970er-Jahren als eine Geschichtsschreibung ‚von unten‘ entwickelt wurde. Die textliche Rahmung bereitet diese Lesart dezidiert vor: „For the history of Europe is not only the history of institutions, famous people and highly-publicised events. It is also the history of the men and women who make up Europe every day in the many areas where it is built.“45 Die Besucher werden auf biografische Geschichten eingestimmt und sehen dann: ein Standbild der 27 Personen, gleichsam ein Gruppenporträt; und sie hören: erst einmal nichts. Deutlich abgehoben von den illustrativ operierenden Einzel-Videos, arbeitet das einleitende Video ästhetisch gekonnt im Modus zwischen musealem Objekt und medialer Repräsentation. Die Besucher erkennen sukzessive, dass sie kein Standbild betrachten – gleichsam ein Double des in der politischen Ikonografie fest verankerten Gruppenbilds –, sondern ein Video. Fast unmerklich bewegen sich einige der Personen. Erst im Prozess der Betrachtung wird deutlich, dass diese 27 Personen gefilmt und nicht fotografiert wurden. Manche ihrer Bewegungen sind hörbar, das Rascheln, wenn die Sitzstellung leicht verändert wird, ein Räuspern oder Atmen hier und da. Erzählt, berichtet, geredet aber wird nicht. Die Praxis des Bezeugens stellt sich hier paradoxerweise als ein Moment des Schweigens dar. Identifizierung, Illustrierung und Authentifizierung von Geschichte werden gerade nicht sprachlich vorgenommen, wodurch der fehlende Sprechakt wie eine bewusste Verweigerung heraussticht. An seine Stelle tritt der Blick. Die Blicke der 27 gefilmten Personen etablieren am Beginn der Ausstellung den Zeitzeugen als einen Gerichtszeugen: „In diesem Kontext ist der Zeuge (lat. ‚testis‘) derjenige, der sehend oder hörend am Tatort anwesend war.“46 Jene 27 alltäglich gekleideten Personen, das macht ihr endlos geloopter Blick deutlich, haben einen Sachverhalt gesehen. Im Modus des Blicks wird die konstituierende Beziehung zwischen den medial inszenierten Zeitzeugen und ihrem anwesenden Publikum evident: Der Blick jener 27 Personen richtet sich auf den einzelnen Besucher – der Blick zurück legitimiert ihre Autorität als Zeugen von Geschichte. Der Blick ordnet damit sämtliche museale Inszenierungsstrategien der Ausstellung vor; er fun-
44 Musée de l’Europe: Europa – to nasza historia, 2009, S. 24. 45 Ebd. 46 Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, 2007, S. 85.
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giert sowohl als narrative Vermittlungsinstanz, wie auch als „Einrahmung“47 unserer Geschichte. Entscheidend dafür, dass die Zeitzeugen-Videos in dieser Ausstellung als eine Legitimierung einer gemeinsamen europäischen Geschichte gelesen werden können, ist die Tatsache, dass der Figur des Zeitzeugen heute eine Deutungshoheit ex ante zugesprochen wird: Nicht die Zeitzeugen müssen die Nachgeborenen überzeugen, dass ihre Sicht der Dinge wahr ist, sondern die medial erlebten historischen Ereignisse werden durch die Darstellung von Zeitzeugen erst zu historischen Ereignissen gemacht. Die Figur des Zeitzeugen entstand mit dem Eichmann-Prozess als eine medial vermittelte und medial erlebte Figur.48 Als Referenz dient ihr nicht das historische Ereignis, sondern die mediale Inszenierung historischer Ereignisse aus der Perspektive des einzelnen Individuums, wie sie als Gesten in C’est notre histoire! zur Anwendung kommen: als Erwartung auf Geschichte, als Erfahrung in der Geschichte und als Blick der Geschichte.
Das Haus Europa Die Inszenierung einer gemeinsamen europäischen Geschichte im Blick des ordinary men49 hat nicht verhindert, dass das Musée hier als ein Beispiel für den vorerst gescheiterten Versuch gesehen wird, die europäische Integration zum Subjekt der Geschichte zu machen. Denn seit das EP im Jahr 2007 die Idee eines House of European History (HEH) lanciert hat, ist die Verwirklichung des Musée-Projektes unrealistisch geworden.50 Für Mazé zeugen die vielen Hindernisse von der „Kluft zwischen den kulturpolitischen Rahmenbedingungen der EU sowie der Kulturpolitik der einzelnen Mitgliedstaaten einerseits und dem Vorstoß der Museumsleute zur Gründung von ‚Europamuseen‘ andererseits“.51 Die nur subsidiären kulturpolitischen Kompetenzen der EU verbieten direkte Eingriffe in die Kulturhoheit der Mitgliedstaaten. Gleichzeitig haben die Initiatoren des Musée-Plans von Anfang an unterschiedliche politische, nationale und gesellschaftliche Akteure in ihr Projekt eingebunden und somit eigentlich eine wichtige Anforderung an europäische Kulturprojekte erfüllt. Entscheidend für das Scheitern könnten andere Momente in der Entwicklung des Musée-Projektes sein: Das Musée hat – sowohl in seiner Außendarstellung52 47 Mieke Bal: Kulturanalyse, Frankfurt am Main 2002, S. 16. 48 Wieviorka: L’ère du témoin, 1998. 49 Tatsächlich sind es zehn Frauen und 17 Männer, die hier die europäischen Mitgliedstaaten vertreten, allesamt weißer Hautfarbe. 50 Kaiser, Krankenhagen, Poehls: Europa ausstellen, 2012, S. 80–83, 147–151. 51 Mazé: Von Nationalmuseen zu Museen der europäischen Kulturen, 2008, S. 119. 52 Eryck de Rubercy, Un musée pour l’Europe. Un entretien avec Marie-Louise von Plessen et Krzysztof Pomian, Revue Études européennes – dossier no. 5, 2004, URL: http://www.etudeseuropeennes.eu/images/stories/Archives/5-6_Muse_Europe_E_de_Rubercy.pdf; letzter Zugriff 28.1.2013; Rémiche: Un musée d’histoire européenne à Bruxelles, 2001.
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als auch in den oben genannten Ausstellungen – das teleologische Muster der EURhetorik beinahe ungebrochen übernommen, ohne dabei selbst einen offiziellen Vertretungsanspruch zu besitzen; schon, weil man nie „ein EU-Projekt“ sein wollte.53 Das Musée ist in seinem Anspruch, eine gemeinsame europäische Erfahrungsgeschichte zu repräsentieren, weitergegangen als andere europäisch zentrierte Museumsprojekte, wie etwa das Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée (MuCEM) in Marseilles.54 Möglicherweise hat das dazu geführt, dass das Projekt von den politischen Eliten der EU zwar wahrgenommen, aber nicht nachdrücklich genug unterstützt wurde, bis schließlich die Zeit für ein eigenes Museumsprojekt reif erschien. Als Ersatznarrativ für die fehlende soziale Aushandlung der Zwecke und Ziele der EU war das Musée nicht geeignet, obwohl es auch darauf vorausschauend reagierte: Die Ausstellung C’est notre histoire! reklamierte – und imitierte – einen sozialhistorischen Ansatz einer Geschichtsschreibung von unten, der sich in der Einbindung der verschiedenen Zeitzeugen Europas manifestieren sollte. Weil aber diese 27 Geschichten fast ausschließlich Erfolgsgeschichten der EU-Institutionen widerspiegeln, bleibt das Versprechen eines eigenen europäischen Narratives hohl. Das Musée hat weder eine Stimme entwickelt, die sich deutlich genug von der Integrationsrhetorik der EU unterscheidet, noch hat es überzeugend zu den Ambivalenzen und Aporien einer europäischen Geschichtsschreibung im Museum Stellung bezogen.
53 Interview Benoit 2009. 54 Bjarne Rogan: Towards a Post-colonial and a Post-national Museum. The Transformation of a French Museum Landscape, in: Ethnologia Europaea 33 (2003) 1, S. 37–50.
MUSEUM 2.0 UND MIGRATION. DAS VIRTUELLE OSNABRÜCKER MIGRATIONSMUSEUM ALS INSTRUMENT PARTIZIPATIVER MUSEUMSARBEIT Thorsten Heese
Zusammenfassung: In der Museumsdebatte stellen sich aktuell drei wichtige Fragen: 1. Wie wirken sich die neuen technischen Herausforderungen von Internet und ‚Social Media‘ auf die Museumsarbeit aus? 2. Inwieweit kann sich das Museum durch eine forcierte Partizipation seinem Publikum weiter öffnen? 3. Wie sollte das ‚System Museum‘ in einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft konditioniert sein? Anhand des Virtuellen Osnabrücker Migrationsmuseums spielt der Autor die mit ‚Museum 2.0‘, ‚Partizipation‘ und ‚Migration‘ umrissene Debatte exemplarisch durch. Dabei wird als Zukunftsperspektive insbesondere die zentrale Rolle der Institution ‚Museum‘ als Ort des kulturellen und gesellschaftlichen Dialogs herausgestellt. Abstract: In the museum debate three main topics are being discussed: 1. How do the new technical innovations like the internet and the social media influence the work in museums? 2. How far can museums open themselves towards their guests by propagating participation? 3. How should the system ‚museum‘ be shaped in a multicultural immigration society? The author exemplifies the work with the Virtual Osnabrück Migration Museum by focussing on ‚museum 2.0‘, ‚participation‘ and ‚migration‘. As a result, he sees the main perspective in the role of the institution ‚museum‘ as a place of cultural and social dialogue.
In der aktuellen museologischen Debatte um die gegenwärtig und künftig an die Institution Museum gestellten Herausforderungen spielen drei Aspekte eine wichtige Rolle. Zunächst wird derzeit diskutiert, wie sich die neuen technischen Herausforderungen des Internets und der ‚Social Media‘ auf die Museumsarbeit auswirken. Ferner stellt sich die Frage, inwieweit das Museum durch eine verstärkte Einbindung von AkteurInnen außerhalb des Museums die bekannten Hemmschwellen senken und offener für sein Publikum werden kann. Schließlich wird nach dem Museum gesucht, das den gesellschaftlichen Gegebenheiten einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft am besten entspricht und deren Anforderungen erfüllen kann. Diese mit den Schlagworten ‚Museum 2.0‘, ‚Partizipation‘ und ‚Migration‘ kurz umrissene Museumsdebatte soll im Folgenden am Beispiel eines musealen Ansatzes, der diese drei Aspekte miteinander verbindet, näher diskutiert werden. Es handelt sich dabei um das Virtuelle Osnabrücker Migrationsmuseum (VOM), das vom Autor initiiert wurde und von ihm betreut wird.
Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 45–66
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Partizipation Das VOM entstand im Rahmen des ‚Forums Migration‘, das Ende 2010 am Kulturgeschichtlichen Museum in Osnabrück mit dem Ziel etabliert wurde, am Museum für die Osnabrücker Bevölkerung erweiterte partizipative Spielräume zu schaffen. Die Zielgruppe des Forums ist ein aktives Publikum. Anstöße für Konzepte dieser Art verdankt die deutsche Museumsdebatte der ‚New Museology‘, die sich zunächst insbesondere in Großbritannien und den Niederlanden entwickelt hat. Ihr Ziel ist es, jüngere gesellschaftliche Emanzipationsbewegungen und politische Ansätze wie die der ‚social inclusion‘ auch im Museum umzusetzen, um beispielsweise museumsferne soziale Gruppen an die Institution heranzuführen. Diese neue Öffnung des Museums zeigt sich in einer sich zunehmend verstärkenden Beteiligung des Publikums an der eigentlichen musealen Arbeit. Das „partizipative“ oder „offene Museum“1 weist dem Publikum den Weg vom Konsum zur Aktion innerhalb einer bestimmten Öffentlichkeit. Das Museum als Institution ist schon strukturell der unmittelbaren Öffentlichkeit dieses Publikums zuzurechnen. Als Ort gesellschaftlicher Kommunikation entspricht es der ursprünglichen Bedeutung des Begriffes publicum, 2 der mehr umfasst als nur eine Personengruppe im öffentlichen Raum. Die Gruppe selbst ist Bestandteil dieses öffentlichen Raumes; sie ist Teil des Gemeinwesens. Das Publikum ist ein gesellschaftlicher Akteur, das Museum eine seiner potenziellen Aktionsbühnen. Diese Begegnungsstätte dient konkret der Auseinandersetzung mit den kulturellen, historischen und gesellschaftspolitischen Grundbedingungen der Gemeinschaft, der das an der Museumsarbeit teilhabende Publikum entstammt. Im Wandel „vom Besucher zum Benutzer“3 ist das Museumspublikum als aktives Element stärker mit ‚seinem‘ Museum und der dort stattfindenden Arbeit verbunden, als wenn es nur passiv die Angebote der Institution konsumieren würde. Die Bindung einzelner Communities – in diesem Fall der NeubürgerInnen – an das Museum kann über partizipative Arbeitsformen gestärkt werden. Publikumsnahe Themen aus der Alltags- oder Zeitgeschichte, die geschichtliche Anbindung von Gegenwarts- oder Zukunftsproblemen wie der Weiterentwicklung der Stadt oder des eigenen Wohnviertels, aber auch die Einbindung von persönlichen Biografien oder Familiengeschichte(n) eröffnen schon seit geraumer Zeit neue museologische und damit museumspädagogische Handlungsspielräume.4 Die Geschichte der Migration ist eines der Themenfelder, die Raum für eine solche produktive partizipative Museumsarbeit bieten. Der partizipative Ansatz in 1 2 3 4
Matthias Dreyer, Rolf Wiese (Hrsg.): Das offene Museum. Rolle und Chancen von Museen in der Bürgergesellschaft, Ehestorf 2010. Lat.: Staat, Gemeinwesen, öffentlicher Platz, Öffentlichkeit. Léontine Meijer-van Mensch: Vom Besucher zum Benutzer, in: Museumskunde 74 (2009), S. 20–26. Zum Gedanken des partizipativen Museums siehe auch Susanne Gesser, Martin Handschin, Angela Jannelli, Sibylle Lichtensteiger: Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld 2012.
Das Virtuelle Osnabrücker Migrationsmuseum als Instrument partizipativer Museumsarbeit
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der Museumsarbeit wird deshalb auch von dem 2010 gegründeten „Arbeitskreis Migration“ im Deutschen Museumsbund verfolgt.5 In Osnabrück wurde das ‚Forum Migration‘ als Museumswerkstatt entworfen, um unter wissenschaftlicher Anleitung einen öffentlichen Raum zur Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Migrationsgeschichte‘ zu bieten. Der bewusst regionalgeschichtlich gewählte Zugang soll es erleichtern, die Interessierten an dieser Form von Museumsarbeit selbst partizipieren zu lassen. Der mutmaßlichen Hemmschwelle ‚großer Politik‘ soll mit individuellen Erzählungen ein vertrauteres Umfeld entgegengestellt und dadurch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der (eigenen) Geschichte erleichtert werden. Gleichwohl spielen die allgemeinen historischen und politischen Entwicklungen eine wichtige Rolle, da sie über die im VOM als dem virtuellen Werkzeug des Forums veröffentlichten biografischen Narrationen eingeführt und so in ihrer lebensweltlichen Ausprägung sichtbar gemacht werden. In der migrationsgeschichtlichen Erzählung werden die Auswirkungen und Konsequenzen allgemeiner Politik auf die Lebenswelten einzelner Menschen – fast möchte man sagen: ‚beiläufig‘ – verständlich. Damit werden zugleich gesellschaftliche Entwicklungen in Geschichte und Gegenwart nachvollziehbarer. Das Publikum kann sich in den Arbeitsprozess des Virtuellen Osnabrücker Migrationsmuseums einbringen, indem es sich fragen lässt: „Ist die Migrationsgeschichte Osnabrücks auch Ihre Geschichte?“6 Es kann also selbst aktiv werden und unmittelbar dazu beitragen, die Osnabrücker Migrationsgeschichte fortzuschreiben. Wer eine eigene Geschichte einbringen möchte, kann dem VOM Fotos von Objekten und die damit verknüpften Migrationsgeschichten per Email zusenden. Der Autor als Betreuer und Moderator des in dieser Weise für neue Geschichten offenen virtuellen Museums passt die eingesandte Erzählung sowie das damit verbundene virtuelle – oder im Idealfall reale – Objekt in den musealen Kontext ein. Dies erfolgt je nach Form und Qualität der Erzählung in unterschiedlicher Form, in jedem Fall jedoch in Abstimmung mit den Personen, die ihre Erzählung einstellen möchten. Eingriffe sind gegebenenfalls notwendig, um den einheitlichen Charakter der Gesamtnarration des VOM gewährleisten zu können. Das Internetportal kann von Einzelpersonen genutzt werden, es kann aber auch für die Arbeit von Schulen und im Rahmen von Integrations- und Orientierungskursen für ZuwanderInnen eingesetzt werden. Wenn beispielsweise SchülerInnen einer Osnabrücker Klasse in einer Unterrichtseinheit ihre unterschiedlichen Familiengeschichten erforschen und sich ihre recherchierten Migrationsgeschichten gegenseitig vorstellen, können diese nach Abschluss des Projektes im VOM präsentiert und damit nachhaltig gesichert werden.
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Die konstituierende Sitzung des Arbeitskreises fand am 5. Mai 2010 im Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund statt (Mira Höschler: Protokoll zur Konstituierenden Sitzung des Arbeitskreises zum Thema „Museum – Migration – Kultur – Integration“ beim deutschen Museumsbund am 5. Mai 2010). Das Kulturgeschichtliche Museum Osnabrück ist seit Herbst 2010 Mitglied des Arbeitskreises. VOM, URL: http://www.osnabrueck.de/vom; letzter Zugriff: 9.8.2013.
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Eine solche aktive Teilhabe an der Osnabrücker Migrationsgeschichte übten beispielsweise SchülerInnen der Osnabrücker ‚Stüveschule‘. Zweitklässler der Grundschule, die einen überdurchschnittlich hohen Anteil an MigrantInnen hat, bastelten aus Maschendraht und bunt bemaltem Papier einen ‚Baum der Kulturen‘, der mit Fähnchen unterschiedlicher Herkunftsländer geschmückt ist. Auf den Wurzeln des Baumes sind außerdem die Ländernamen notiert, denen die Kinder, ihre Eltern und Großeltern entstammen. Am 22. Februar 2011 wurde der Baum in ihrer Schule offiziell eingeweiht als Symbol dafür, dass alle Kinder zusammen eine Schule darstellen und dort gemeinsam lernen. Dazu sangen die Kinder das Lied ‚Ein Baum‘, das Schulleiter Igelmann im Herbst 2010 für seine SchülerInnen geschrieben hatte. Baum (als Foto) und Lied (als Text und Download zum Anhören) sind heute im VOM archiviert – als ein Narrativ über die jüngste Generation der Osnabrücker Einwanderungsgesellschaft.7 Ferner beruht eine Reihe von Beiträgen auf den Ergebnissen der Übung „Museum und Migration“, die im Wintersemester 2011/12 von der Universität Osnabrück am Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück durchgeführt wurde. Die Beiträge wurden von Studierenden des Masterstudienganges „Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen (IMIB)“8 erarbeitet. Dafür wurden Interviews mit ZeitzeugInnen der jüngeren Migrationsgeschichte durchgeführt.9 Die Arbeit im ‚Forum Migration‘ und die freiwillige Visualisierung der eigenen Geschichte im VOM sollen dazu beitragen, dass die betreffenden Personen ihre persönliche Identität in das Geschichtsnarrativ der Stadt und der Region einbringen. Das Museum wird so zu einem Ort ihres eigenen individuellen Geschichtsnarrativs. Es soll bei ihnen das Bewusstsein dafür geweckt und gestärkt werden, dass ihre zeitgeschichtlichen Erfahrungen einen Teil des gesamthistorischen Kontextes bilden, der Achtung verdient und auch für andere interessant ist. Jede so gewonnene neue Narration zur Osnabrücker Migrationsgeschichte kann als kleiner, aber wichtiger Schritt zur Weiterentwicklung der Osnabrücker Gesellschaft und damit der bundesdeutschen ebenso wie der europäischen Gesellschaft insgesamt verstanden werden. Denn hierbei geht es um die Verortung in einer gemeinsamen Geschichte. Die Erfahrung im ‚Forum Migration‘ des Kulturgeschichtlichen Museums zeigt, dass viele betroffene Personen denken, ihre Geschichte habe in einem geschichtlichen Museum im Grunde nichts zu suchen, weil sie oder ihre Familien erst in der jüngeren Vergangenheit zugewandert sind und noch nicht so lange in der Stadt leben. Sie begreifen das örtliche Museum noch nicht als ‚ihr Museum‘ und als ‚Ort ihrer Geschichte‘. Dabei ist dort auch dieser Teil der Osnabrücker Geschichte längst Gegenstand der Arbeit.
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Henning Müller-Detert: Osnabrücks Kinder haben Wurzeln in aller Welt, in: VOM, URL: http://www.osnabrueck.de/72702.asp, VOM 7; letzter Zugriff: 9.8.2013. Osnabrück ist Sitz des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück. Konkret handelt es sich um die Beiträge VOM 16–27, URL: http://www.osnabrueck.de/vom; letzter Zugriff: 9.8.2013.
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Migration Tatsächlich ist die Diskussion, wie sich die Realität der bundesdeutschen Einwanderungsgesellschaft auch museal niederschlagen soll, derzeit in vollem Gang.10 Seit 1988 sammelt etwa das Dokumentationszentrum und Museum für die Migration in Deutschland (DOMiD) in Köln Relikte zur Geschichte der GastarbeiterInnen in Deutschland mit dem Ziel, diese museal zu präsentieren. Die vier Gründungsmitglieder wurden aus dem Gefühl heraus aktiv, dass der jüngeren Einwanderung weder in der Geschichtswissenschaft noch in Museen oder Archiven genügend Aufmerksamkeit geschenkt würde. Bislang lag der Schwerpunkt der Sammeltätigkeit, bedingt durch den Kreis seiner Initiatoren, auf der Geschichte der türkischen Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Seitdem sich der als Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei (DOMiT) gestartete Verein 2007 mit dem Verein „Migrationsmuseum in Deutschland e.V.“ zum DOMiD zusammengeschlossen hat, findet ein Paradigmenwechsel hin zu einer breiteren Repräsentation der sogenannten GastarbeiterInnen statt, um bei der geplanten künftigen Etablierung als Museum die Geschichte der Einwanderung in die BRD vollständig repräsentieren zu können.11 Derweil hat sich mit dem Deutschen Einwandererhaus (DAH) in Bremerhaven eine Institution etabliert, die sich zunächst thematisch mit der Auswanderung von Deutschland nach Übersee zwischen 1830 und 1974 beschäftigte. Nicht erst seit der jüngst vollzogenen Erweiterung um die Geschichte der Einwanderung nach Deutschland nach 1945 erhebt sie den Anspruch, das „erste deutsche Migrationsmuseum“12 zu sein. Ob dies tatsächlich der Fall ist, bleibt zu diskutieren. Abseits der Bestrebungen von DOMiD wäre dabei zum Beispiel an ältere Einrichtungen wie das 2000 eröffnete Donauschwäbische Zentralmuseum in Ulm zu denken, wenngleich dort mit den Donauschwaben eine spezielle Migrationsgeschichte thematisiert wird. Die Überlegung, wer zuerst da war, ist aber eher zweitrangig. Der Grund, warum das DAH dagegen gerade in der deutschen Museumsszene so intensiv diskutiert wurde und wird, ist seine inszenatorische Präsentation von Geschichte weitgehend ohne Originale und damit die Frage, ob es sich bei dieser Institution überhaupt um ein Museum handelt. Gerade in der Debatte um die Vergabe des Qualitätssiegels ‚Museum‘ wurde über Einrichtungen wie das ‚Erleb-
10 Zum Stand der Debatte siehe u.a. Lorraine Bluche, Christine Gerbich, Susan Kamel, Susanne Lanwerd, Frauke Miera (Hrsg.): NeuZugänge. Museen, Sammlungen und Migration. Eine Laborausstellung, Bielefeld 2013; Patricia Deuser: Migration im Museum. Zum aktuellen Stand der Auseinandersetzung mit den Themen Migration und kultureller Vielfalt in deutschen Museen. Studie im Auftrag des Deutschen Museumsbundes e.V., Berlin 2012, URL: http://www.museumsbund.de/fileadmin/geschaefts/dokumente/Wir-Projekte/migration_im_museum_p.deuser.pdf; letzter Zugriff: 17.6.2013; Martin Schlutow: Das Migrationsmuseum. Geschichtskulturelle Analyse eines neuen Museumstyps, Berlin, Münster 2012. 11 URL: http://www.domid.org; letzter Zugriff: 9.8.2013. 12 Martin Schlutow: Das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven. Abenteuer und Erlebnis als geschichtskulturelles Programm, Berlin-Münster 2008, S. 49.
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nismuseum‘ in Bremerhaven leidenschaftlich diskutiert. Nicht umsonst vermeidet das DAH seit seiner Gründung bewusst die Bezeichnung ‚Museum‘. Für die deutsche Museumslandschaft ist zu erörtern, ob das Thema ‚Migration‘ in einem zentralen Museum bedient werden kann, oder ob es sich um ein historisch so zentrales Phänomen handelt, dass es generell als allgemeingültiges Strukturelement Eingang in national-, regional- und stadtgeschichtliche Häuser finden könnte und sollte. Angesichts der Realität der deutschen Einwanderungsgesellschaft halten die Mitglieder des Arbeitskreises ‚Migration‘ im Deutschen Museumsbund einen entsprechenden Paradigmenwechsel in der musealen Arbeit für unabdingbar. Sie versprechen sich davon eine verbesserte Teilhabe der entsprechenden gesellschaftlichen Gruppierungen und damit eine positive inkludierende Wirkung. Dieser Ansatz verlangt allerdings auch von allen Beteiligten erweiterte Fähigkeiten: „Notwendig für diesen Prozess ist die Entwicklung der interkulturellen Kompetenz – bei den BesucherInnen wie auch in der Mitarbeiterschaft der Museen.“13 Der inhaltliche Schwerpunkt liegt bei einem solchen partizipativen Ansatz zwangsläufig auf der jüngeren Geschichte der Arbeitsmigration in die BRD, die sich bislang in den Museumsbeständen noch gar nicht, oder wenn, dann nur unzureichend widerspiegelt. Thomas Brehm, Leiter des Kunst- und kulturpädagogischen Zentrums in Nürnberg (KPZ), hat nicht ohne Grund bemängelt, dass die Geschichte der Migration gerade der vergangenen Jahrzehnte in deutschen Museen noch unterrepräsentiert sei. Museen besäßen keine entsprechenden Sammlungsbestände. Sie müssten dringend mit dem Sammeln beginnen, da die erste Generation der „Gastarbeiter“ bereits ein hohes Alter erreicht habe und nur noch kurze Zeit zu ihrer Geschichte befragt werden könne. Nicht nur nach Brehms Deutung ist Migrationsgeschichte immer noch eine „museale Bildungslücke“.14 Die ZeugInnen dieser Zeit sind daher auch eine wichtige Zielgruppe der Osnabrücker Museumswerkstatt. Gleichwohl wird in Osnabrück Migration bewusst als allgemeines historisches Phänomen mit all seinen unterschiedlichen Facetten in den Mittelpunkt des VOM gerückt, da die Aspekte von räumlicher Mobilität und den damit verbundenen Begegnungen zwischen unterschiedlichen Kulturen in Geschichte und Gegenwart weit umfassender sind (Abb. 1). Menschheitsgeschichtlich waren Wanderungsbewegungen schon immer von elementarer Bedeutung, damit sich Menschen an veränderte Umweltbedingungen sowie an soziale, politische und ökonomische Herausforderungen anpassen konnten. Durch diese Bewegungen von Menschen im Raum hat sich die Welt in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder verändert. Die Motive, die Menschen zur Migration bewegen, sind so vielfältig wie situationsbedingt: Arbeitswanderung, Zwangswanderung aufgrund von Flucht, Vertreibung, Deportation oder Umsiedlung, Liebesund Heiratswanderung sind nur einige Impulse von vielen, die Menschen zum 13 Arbeitskreis Migration: Erstes Herbsttreffen des Arbeitskreises Migration, in: Bulletin – Deutscher Museumsbund e.V. 4 (2010), S. 10–11; hier S. 11. 14 Dpa: Experte: Migration ist eine museale Bildungslücke, in: Neue Osnabrücker Zeitung, 27.4.2011, S. 28.
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Ein- oder zum Auswandern bewegen. Manche Wanderungsbewegung ist nur saisonal wie etwa bei Arbeitskräften in der Landwirtschaft; andere ist strukturell wie der Nomadismus von Viehzüchtern oder Gewerbetreibenden.15
Abb. 1: Das „Virtuelle Osnabrücker Migrationsmuseum“ – Einstiegspräsentation der Medienstation im Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück, Gestaltung: Joscha Sisnowksi, Osnabrück. © Felix-Nussbaum-Haus/Kulturgeschichtliches Museum Osnabrück: VOM
Die hier anklingende Vielfalt von ‚Migration‘ soll im kontinuierlich wachsenden VOM durch kontextualisierte biografische Skizzen narrativ erfahrbar werden. Diese reichen bislang zeitlich vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Die Geschichten stehen exemplarisch für bestimmte Teilphänomene der Migrationsgeschichte, die in eingängiger narrativer Form vermittelt werden. Um dieses Konzept besser zu veranschaulichen, sollen im Folgenden einige Beispiele näher vorgestellt werden. Zu den wichtigen Wanderungsbewegungen der Osnabrücker Region gehört die deutsche Amerikaauswanderung des 19. Jahrhunderts. Sie wird im VOM über das Geschäftsbuch des Auswandereragenten Heinrich Wehberg sichtbar. Dieser vermittelte im Raum Neuenkirchen-Vörden Schiffspassagen über Bremen/Bremer15 Jochen Oltmer: Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, München 2012, S. 18–21.
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haven in die USA. Die nüchterne buchhalterische Auflistung verkaufter Fahrkarten aus den Jahren 1865–1893, die das aufgeschlagene handgeschriebene Geschäftsbuch zeigt, vermittelt nicht nur, dass Auswanderung für die einen teuer und für andere ein Geschäft war. Hinter den namentlich genannten Passagieren in spe verbergen sich menschliche Schicksale. Anhand der häufig untereinander wiederkehrenden Namen wird das Ausmaß der Auswanderung sichtbar, bei der gleich ganze Familien migrierten und viele Ortschaften förmlich entvölkert wurden. Die Narration im VOM kommentiert die Situation vor der Auswanderung wie folgt: „Sie brachen aus wirtschaftlicher Not ihre Zelte in der Region ab, um in den USA ‚ihr Glück‘ zu versuchen. Ausgewanderte Verwandte oder Bekannte hatten ihnen vielleicht vom ‚Land der unbegrenzten Möglichkeiten‘ vorgeschwärmt. Doch was sie dort wirklich zu erwarten hatten, wussten sie nicht, als sie ihr Schiff in Bremerhaven bestiegen. Die Auswanderung war ein großes Wagnis.“16
Die Aspekte, die mit der Narration verdeutlicht werden, sind vielschichtig. So veranschaulichen beispielsweise die in dem Geschäftsbuch dokumentierten Segelund Dampfschiffe, die New York, Baltimore und New Orleans anliefen, auch die technische Entwicklung der Zeit. Der Fortschritt von der Segel- hin zur Dampfschifffahrt machte die Fahrten über den Atlantik für alle Beteiligten kürzer und planbarer, was wiederum Rückwirkungen auf die Auswanderung hatte. Die Passagen wurden sicherer, die Entscheidung für die Auswanderung war nicht mehr so riskant wie zuvor. Als Schiffe dagegen noch ausschließlich vom Wind abhängig waren, konnte sich die Überfahrt bei Flauten wesentlich verzögern. Dann drohte an Bord sogar der Ausbruch von Krankheiten, die die Auswanderung zu einem lebensgefährlichen Abenteuer machten. Ein individuelles Beispiel zur Amerikaauswanderung erzählt von der Geschichte des Osnabrücker Goldschmiedes Johann Anton Gunzenhauser, der vermutlich aus Liebe 1845 mit seinen Kindern aus erster Ehe in die USA auswanderte. Die neue Partnerin des Witwers mit Namen Vornholt war bereits zuvor dorthin ausgereist. Die Geschichte, erzählt anhand eines Silberpokals, gewährt Einblick in die unmittelbaren sozialen Umstände, die mit der Wanderung verbunden sind. Wie aus behördlichen Akten zu ersehen ist, wurde ob des bevorstehenden Verlustes einer gut situierten ‚Fachkraft‘ über den ‚ehrbaren Handwerker‘ gelästert, weil er „der Vornholt“, die in der Stadt offenbar einen schlechten Ruf hatte, nicht nur bereits ihre Passage in die USA finanziert hatte, sondern ihr dann auch selbst folgte. Im Originalton des Beamten, der die Auswanderung Gunzenhausers aktenkundig machte, heißt es dazu: „Ein in seinem Fache geschickter Mann, der während seines Etablissments hieselbst seine Vermögensumstände sehr verbessert hatte, leider aber die Thorheit beging, mit einer Vornholt einen Umgang zu hegen, weshalb er sich manche unangenehme Berührung zuzog, und die ihn
16 „Die letzte Chance: auswandern nach Amerika!“ in: VOM, URL: http://www.osnabrueck.de/ 72255.asp, VOM 3; letzter Zugriff: 9.8.2013.
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am Ende dahin stimmte, der Vornholt, welche bereits 1844 auf seine Kosten ausgewandert war, zu folgen, und sein Geschäft dort fortzuführen.“17
An dieser Erzählung werden die unterschiedlichen sozialen Ebenen, die mit Migrationsprozessen verbunden sind, sehr deutlich. Ein anderes Beispiel berichtet von dem Phänomen der Zwangsmigration, die anhand des Osnabrücker Künstlers Friedrich Vordemberge-Gildewart (1899–1962) vorgestellt wird. Die abstrakte Kunstauffassung des Konstruktivisten wurde in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland trotz ihrer internationalen Wertschätzung diffamiert. 1937 wurde sein Gemälde „Komposition K 33“, das er der Stadt als Dauerleihgabe überlassen hatte, aus dem Osnabrücker Museum entfernt. Im Inventarbuch findet sich dazu der Vermerk: „Als ungeeignet ausgeschaltet auf Grund Beurteilung in Berlin.“ Das Gemälde ist bis heute verschollen. Über Vordemberge-Gildewarts niederländisches Exil und die Zeit danach heißt es im VOM: „Nachdem seine Kunst in Deutschland keine Anerkennung mehr fand und seine Arbeiten 1938 in der Propagandaausstellung ‚Entartete Kunst‘ in Berlin gezeigt wurden, entschloss sich VG zur Auswanderung und emigrierte 1938 in die Niederlande. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges konnte er noch in Den Haag, Zürich, Amsterdam, London, Baltimore, New York und Paris ausstellen und dort seine Position als Künstler der Moderne weiter festigen. Nach 1945 setzte er seinen Weg fort und vergrößerte weiterhin sein internationales Renommee. Nach Deutschland kehrte er erst in den 1950er Jahren zurück. 1954 nahm er die Berufung an die Hochschule für Gestaltung in Ulm an und leitete dort die Abteilung für visuelle Kommunikation. Osnabrück ehrte VG 1955 mit der Verleihung der Justus-Möser-Medaille als höchster Auszeichnung der Stadt.“18
Vordemberge-Gildewarts Schicksal stellt Fragen individueller Identität und Verortung im Zeichen der Migration heraus, die bei vielen Geschichten eine zentrale Rolle spielen. Das häufig festzustellende Gefühl der Zerrissenheit zwischen Herkunftsort und Zielort zeigt sich auch bei einer in der Sowjetunion aufgewachsenen Frau mit deutschen Wurzeln (Abb. 2). Sie entdeckte erst sehr spät ihre ‚deutsche‘ Familiengeschichte, wanderte schließlich aus und konnte doch ihre sowjetische Sozialisation weder leugnen noch abschütteln. Symbolisch für diese Gespaltenheit steht ihr Objekt: die Geburtsurkunde ihrer Mutter, die in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen aufwuchs. Das Formular ist in deutscher Sprache vorgedruckt, jedoch handschriftlich in kyrillischer Schrift ausgefüllt. Das Dokument spiegelt dieselbe doppelte Identität wie ihr Name Ludmila Wilhelm: „Ihr Vorname ist russisch, ihr Nachname deutsch.“19
17 Emil Schoppmann: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ in: VOM, URL: http://www.osnabrueck. de/76694.asp, VOM 16; letzter Zugriff: 9.8.2013. 18 VG – die erzwungene Emigration eines Osnabrücker Künstlers, in: VOM, URL: http://www. osnabrueck.de/72825.asp, VOM 11; letzter Zugriff: 9.8.2013. 19 Ludmila Wilhelm: „Wie von einer langen Reise zurückgekehrt“, in: VOM, URL: http://www. osnabrueck.de/73391.asp, VOM 9; letzter Zugriff: 9.8.2013.
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Abb. 2: Ludmila Wilhelm mit der Geburtsurkunde ihrer Mutter aus der Sowjetunion. © Felix-Nussbaum-Haus/Kulturgeschichtliches Museum Osnabrück, VOM 9
Neben der thematischen Information verfolgt das VOM als museales Instrument zudem das Ziel, das Publikum in seiner bildlichen Wahrnehmung zu sensibilisieren und seine visuelle Kompetenz zu entwickeln. ‚Sprechende‘ Objekte wie das mit dem Stempel ‚Ausländer‘ versehene Dokument der Ausländerbehörde gehören ebenso dazu wie die Gemälde des aus dem sonnendurchfluteten Irak geflohenen Künstlers A. Er nutzt seine Bilder, um sich und seine Gefühle besser auszudrücken: „In Deutschland malt er andere Bilder als im Irak. Wichtige Bestandteile sind jetzt die Sonne und die Farben, die die Sonne hervorruft. Er malt gerne Frauen in ‚romantischen Farben‘. Mit Schwarz malt er nicht mehr. Das passe nicht in seine Bilder. Diese Farbe repräsentiert nicht die Sehnsucht und Heiterkeit, die seine Bilder ausdrücken sollen. Dazu erzählt er auch von seinen ersten Eindrücken in Osnabrück. Hier nahm er viele Menschen ohne Schatten wahr. Aus seiner Künstlerperspektive fiel ihm das besonders auf. Es sei vielleicht eine andere Sonne hier. Außerdem hatte er den Eindruck, dass viele Menschen sich wie Roboter bewegen. Das öffentliche Leben sei anders und die Leute sind weniger an neuen Kontakten interessiert. Irgendwie fehlten die Farbe und die Wärme im Alltag. Im Laufe der Zeit hat sich seine
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Wahrnehmung allerdings verändert. Er hat Freunde gefunden und bunte Orte entdeckt, die ihm Wärme schenken.“20
In der Erzählung über den irakischen Maler verbinden sich mithin migrationsgeschichtliche und museale Aspekte auf ideale Weise, weil das Publikum über eine Narration ein Interpretationsangebot für das präsentierte Objekt erhält. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu sehen, dass auch die jüngere Migrationsgeschichte bereits bestimmte ‚Anker‘ in unserem kollektiven Bewusstsein hinterlassen hat. Dies manifestiert sich zum Beispiel in der Repräsentanz bestimmter Bildikonen, die von einer breiten Öffentlichkeit sofort mit dem Thema in Verbindung gebracht werden können. Dazu gehört etwa der ‚Mann mit dem Moped‘. Das Bild (Abb. 3) zeigt, wie der aus dem nordportugiesischen Ort Nelas stammende Armando Rodriguez de Sá (1926–1979) am 10. September 1964 auf dem Bahnhof Köln-Deutz von einer Delegation der Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände offiziell empfangen wird und als „millionster Gastarbeiter“ ein Moped vom Typ Zündapp „Sport Combinette“ sowie einen Blumenstrauß erhält.21 Das Motiv symbolisiert wie kaum etwas anderes die Geschichte der bundesdeutschen Arbeitspolitik der 1950er- und 1960er-Jahre, die auf Arbeitsmigration aus Südeuropa setzte und von ihren ‚Gast‘-Arbeitern erwartete, dass sie – wie Rodriguez de Sá ab 1970 – nach einigen Jahren wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehrten. Das Foto ist nicht nur ExpertInnen der deutschen Migrationsgeschichte bestens vertraut, sondern hat längst durch die Verarbeitung in „Almanya – Willkommen in Deutschland“22 Eingang in die Populärkultur gefunden. In dem Film, der 2011 mit 1,4 Millionen BesucherInnen der vierterfolgreichste deutsche Kinofilm war und mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde, tritt der Türke Hüseyin Yilmaz als 1.000.001. Gastarbeiter auf, der nur durch einen Zufall erst nach Armando Rodriguez seine neue Arbeitswelt betritt und durch diesen cineastischen Clou im Film zur repräsentativen Figur des Gros der ausländischen Arbeitskräfte avanciert. Aus Museumsperspektive ist übrigens interessant, dass sich das Potenzial der Bildikone im musealen Kontext auf das Objekt übertragen lässt. Das erhaltene originale Moped von Armando Rodriguez de Sá gehört zur Sammlung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und wird in der historischen Dauerausstellung gezeigt. Dort symbolisiert es „das rasante Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik Deutschland und den Anteil ausländischer Arbeitnehmer an dieser Erfolgsgeschichte“.23
20 Tore Süßenguth: „Licht und Schatten“, in: VOM, URL: http://www.osnabrueck.de/76736.asp, VOM 24; letzter Zugriff: 9.8.2013. 21 Veit Didczuneit: Der „Vorzeigegastarbeiter“. Die Begrüßung des millionsten Gastarbeiters als Medienereignis, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2: 1949 bis heute, Göttingen 2008, S. 306–313. 22 Almanya – Willkommen in Deutschland, Bundesrepublik Deutschland 2011, Regie: Yasemin Şamdereli, Drehbuch: Nesrin Şamdereli. 23 Didczuneit: „Vorzeigegastarbeiter“, 2008, S. 312.
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Abb. 3: „Empfang des einmillionsten Gastarbeiters, Armando Rodriguez de Sá, durch Vertreter der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände auf dem Bahnhof Köln-Deutz am 10.9.1964.“ Foto: Horst Ossinger, Köln, 10.9.1964.24 © picture alliance/dpa
Zur Vermittlung von Migrationsgeschichte muss man nicht immer wieder auf die gleichen bekannten Bilder zurückgreifen. Auf der – dem breiten Publikum näheren – regionalgeschichtlichen Ebene lassen sich vergleichbare Medien finden, die die nationale Narration auf einem vertrauten Niveau illustrieren und damit zugleich die Wechselwirkung zwischen nationaler und regionaler Geschichte versinnbildlichen. Für Osnabrück existiert zum Beispiel eine Schwarz-WeißFotografie aus den 1950er-Jahren (Abb. 4), die eine ganz ähnliche Symbolkraft besitzt wie „der millionste Gastarbeiter“. Ein junger Mann in dunklem Anzug, den Kragen des weißen Hemdes leicht geöffnet, passiert hoch konzentriert und mit eiligem Schritt eine Bahnsteigkontrolle. In seiner linken Hand trägt er – das Sym24 Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2, 2008, S. 307.
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bol für Migration – einen Koffer, in seiner rechten hält er eine Chiantiflasche. Am linken Bildrand ist ein deutscher Beamter in Uniform zu erkennen, der von seinem Kontrollhäuschen aus aufmerksam die Ankunft des Reisenden und der ihm folgenden Personen beobachtet.
Abb. 4: Osnabrücks erster italienischer sogenannter Gastarbeiter.25 © Felix-NussbaumHaus/Kulturgeschichtliches Museum Osnabrück, A 5470/VOM 2
Während der reale Arbeiter Rodriguez de Sá durch die Geschichte seines Fotos eine gewisse Popularität gewinnen konnte, blieben und bleiben die meisten vergleichbaren Schicksale anonym und sind doch Teil der Geschichte des Einwanderungslandes Deutschland. Das betraf bislang auch die Geschichte des Mannes mit Koffer und Chiantiflasche. Er gehörte nach Abschluss des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik und Italien im Jahre 1955 zu den ersten Italienern, die im Oktober 1959 nach Osnabrück reisten, um bei dem Autohersteller Wilhelm Karmann GmbH zu arbeiten. Im Zuge der Arbeit des Osnabrücker „Forums Migration“ entstand ein Kontakt zu seiner Witwe, durch den seine Identität geklärt werden konnte. Es handelt sich um Filipo Ercolani (1938–2011) aus dem nord25 Firma Wilhelm Karmann GmbH Osnabrück (Hrsg.): Karmann-Post, Dezember 1959, Heft 13, S. 10.
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westlich von Rom am Lago di Bolzena gelegenen Dorf Gradoli. 2011 verstarb er vermutlich an den Folgen seiner Arbeit als Autolackierer. Geklärt werden konnte zudem die Identität der Person, die hinter ihm die Bahnsteigkontrolle passierte. Beide hatten gemeinsam ihren Heimatort verlassen. Bis zu Ercolanis Tod verband sie eine enge Freundschaft.26 Neben der persönlichen biografischen Bedeutung ist der Kontext von Bedeutung, in dem das Foto verwendet worden ist. Es wurde im Dezember 1959 in der betriebseigenen Zeitschrift Karmann-Post veröffentlicht. Es entstammt einer Reportage mit dem Titel „Ausländer im Betrieb ...“, die unter anderem Fotos der komfortabel eingerichteten Unterkünfte im Arbeiterwohnheim am Hesselkamp für die neuen Kollegen aus dem Ausland zeigt.27 Zeitzeugenberichten zufolge waren die meisten vorbereiteten Wohnunterkünfte allerdings wesentlich schlichter eingerichtet. Oft befanden sich diese Sammelunterkünfte mit Hochbetten in größeren Werkshallen.28 Ercolani bewohnte das Wohnheim am Hesselkamp übrigens tatsächlich. Er blieb dort allerdings nur für kurze Zeit und suchte sich schnell eine private Unterkunft. Mit seiner Bildunterschrift „Die Chiantiflasche muß mit dabei sein“29 versuchte der Redakteur der Betriebszeitschrift offenbar, der Szene eine gewisse journalistische Lockerheit zu verleihen, dabei das zeittypische Stereotyp des ‚lebensfrohen Südländers‘ bedienend. Gesteigert wurde diese stereotype Vorstellung noch in der Unterschrift, die dem Foto 1961 bei einer späteren Veröffentlichung beigegeben wurde: „Durch die Sperre mit einer bauchigen Flasche Chiantiwein. Der Italiener liebt nun mal seinen Heimattrunk.“30 Im Forum konnte der nähere Hintergrund zu der konkreten Chiantiflasche geklärt werden. Diese hatten ihm die Eltern mit auf die Reise gegeben. Mit ihr verband sich somit ein Stück Vertrautheit, das Filipo Ercolani mit nach Deutschland brachte, um mit der bevorstehenden langen Trennung von der Familie und der gewohnten Umgebung besser zurechtzukommen. Beide Redakteure konnten damals nicht ahnen, dass die Chiantiflasche mit ihrem Korbgeflecht in den zahlreichen italienischen Restaurants und Pizzerien, die in der Folge der durch das deutsch-italienische Anwerbeabkommen nach Westdeutschland ziehenden italienischen Menschen entstanden, als weit verbreitete Dekoration einmal zu einem Symbol des italienisch-deutschen Kultur-
26 Auskunft Helga Ercolani, Forum Migration, Kulturgeschichtliches Museum Osnabrück, 18.10.2012. 27 Dazu heißt es in der Bildbeschriftung: „Blick in eines der hellen, modern eingerichteten Dreibett-Zimmer mit Balkon im Arbeiterwohnheim am Hesselkamp. Hier können sich unsere italienischen Mitarbeiter wohlfühlen.“ Karmann-Post, Dezember 1959, Heft 13, S. 10. 28 „Die Chiantiflasche muß mit dabei sein…“ in: VOM, URL: http://www.osnabrueck.de/ 72253.asp, VOM 2; letzter Zugriff: 9.8.2013. 29 Der Gesamttext der Bildunterschrift lautet: „Am nächtlichen Hauptbahnhof: Der erste Italiener geht durch die Sperre ... Die Chiantiflasche muß mit dabei sein.“ Ebd. 30 Wes.: Ausländer in unseren Betrieben, in: Osnabrücker Tageblatt, 25.3.1961, S. 3.
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transfers werden sollte.31 Im VOM repräsentiert das Foto der mit der Eisenbahn eintreffenden Italiener den Beginn der ‚Gastarbeiterpolitik‘ in Osnabrück. Am lokalen, lebensgeschichtlichen Beispiel werden mithin allgemeine geschichtliche Ereignisse vermittelt.32 Die hier genannten Beispiele verdeutlichen, das die thematisch breite Ausrichtung des VOM zum Thema Migration, verbunden mit der ‚Normalität‘ der erzählten Geschichten, auch darauf abzielt, den meist irrationalen Ängsten, die in der gesellschaftlichen Debatte häufig mit dem Begriff ‚Migration‘ verbunden sind – beispielsweise aus Sorge vor ‚Überfremdung‘, vor kulturellen Konflikten oder ähnlichem – und die die aktuelle politische Diskussion belasten, ein Korrektiv entgegenzustellen. Durch das Gesamtbild unterschiedlichster Migrationsgeschichten kann sichtbar gemacht werden, dass Wanderungsbewegungen ein historisches Strukturelement sind, das die gesamte Geschichte durchzieht, somit kein ausschließliches Phänomen der Gegenwart oder Zeitgeschichte sind und schon dadurch weniger ‚bedrohlich‘ erscheinen. Es kann dadurch sichtbar gemacht werden, dass die durch Wanderungsbewegungen ausgelöste Begegnung von Menschen keinesfalls immer nur mit Konflikten verbunden ist, sondern auch zu produktivem kulturellem Austausch führt, der in der Geschichte Fortschritt vielfach erst ermöglicht hat. Anhand der Erzählungen wird zudem deutlich, dass Migration kein abstraktes Phänomen ist, sondern dass es um Menschen ‚aus Fleisch und Blut‘ geht, die wie alle Menschen Wünsche und Träume haben und sehr viel Mut aufbringen, um diese für sich und ihre Familien zu realisieren. Und es geht um Widerstände, Bürokratie, Identität, Brüche, Hilfe, Gefühle, Verortung, Suche und vieles mehr.
Museum 2.0 Dem rasanten Vormarsch des World Wide Web standen die Museen zunächst generell eher skeptisch gegenüber. Dabei paarte sich der vorgebliche Zwang, sich darin präsentieren zu müssen, um up to date zu bleiben, mit einer diffusen Angst, dass das ‚virtuelle Museum‘ das analoge bald überflüssig machen würde. Mittlerweile ist diese Skepsis der nüchternen Erkenntnis gewichen, dass die neue Technologie eher ein anderes Publikum bedient und auf die eigenen Sammlungen und Präsentationen aufmerksam macht. Die erweiterten Möglichkeiten – nicht nur der Werbung, sondern auch des Informationsaustausches – führen zu neuen Arbeitsmethoden und Angeboten, ohne dass die Wirkung des realen Museums und der darin präsentierten Objektwelt dadurch geschmälert würde. Es fragt sich, ob das ‚Museum 2.0‘ auch im Bereich der musealen Vermittlung von Migrationsgeschichte interessante Potenziale besitzt. Das Angebot ist 31 Siehe dazu das Kapitel: Die Inszenierung von italianità. Raumgestaltung und ethnic performance in italienischen Lokalen, in: Maren Möhring: Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012, S. 253–258. 32 VOM, URL: http://www.osnabrueck.de/72253.asp, VOM 2; letzter Zugriff: 9.8.2013.
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diesbezüglich überraschenderweise bislang noch sehr überschaubar. In Deutschland existiert das Online-Migrationsmuseum Lebenswege. 33 Es wurde von den rheinlandpfälzischen Ministerien für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen sowie für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur mit Unterstützung der Multimediainitiative des Ministeriums des Innern, für Sport und Infrastruktur als rein virtuelle Einrichtung installiert und am 16. Dezember 2009 ‚virtuell‘ geöffnet. Das Onlinemuseum beschreibt die Geschichte der Arbeitsmigration in Rheinland-Pfalz zwischen 1955 und 1973, also vom Beginn der Abkommen zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte bis zum sogenannten Anwerbestopp im Jahre 1973.34 Neben der virtuellen Dauerpräsentation, die thematisch gegliedert die verschiedenen Etappen dieser Arbeitswanderung thematisiert, vertiefen Sonderausstellungen die dort angerissenen Themenfelder. Anlass dazu gaben beispielsweise die jüngsten Jubiläen der Anwerbeabkommen, deren Abschluss sich in den vergangenen Jahren jeweils zum 50. Mal jährte.35 Ein weiteres wichtiges Element sind gefilmte Interviews mit ZeitzeugInnen, die von ihren Erfahrungen berichten. Hier kommt also auch ein biografisches, lebensgeschichtliches Element zum Tragen. In einem weiteren Bereich, der „Projekt-Werkstatt“, bietet das Online Migrationsmuseum Rheinland Pfalz insbesondere jungen Menschen die Möglichkeit, die in Schul- oder Hochschulprojekten entstandenen Zeitzeugenporträts, Ausstellungen und ähnliches virtuell zu präsentieren. Zudem werden Lernangebote gemacht.36 Als Museumsdepot zur Migrationsgeschichte definiert sich mit „migrationsgeschichte.de“ ein weiteres virtuelles Museumsprojekt. Das auf Zuwachs angelegte Angebot wird vom Stadtmuseum Stuttgart, dem Netzwerk Migration sowie dem Industriemuseum Zeche Hannover des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe betrieben und umfasst bislang Objekte insbesondere des 20. Jahrhunderts. Diese werden mit kurzen Begleittexten erläutert.37 In Großbritannien arbeitet ein Kreis um die ehemalige Ministerin für Einwanderung, Barbara Roche, daran, mittelfristig auf nationaler Ebene das erste britische Migrationsmuseum zu etablieren.38 Dabei messen sich die Akteure an großen nationalen Migrationsnarrativen wie dem der USA: „The US has Ellis Island and
33 Petra Schraml: „Jeden Morgen, wenn er aufwacht, denkt er an Damaskus.“ Das Online-Migrationsmuseum „Lebenswege, in: bildungsserver. innovationsPORTAL, 26.1.2012, URL: http://www.bildungsserver.de/innovationsportal/bildungplus.html?artid=817; letzter Zugriff: 9.8.2013. 34 Foyer, in: Lebenswege, URL: http://lebenswege.rlp.de/foyer; letzter Zugriff: 9.8.2013. 35 Vorgestellt wurden bislang die Anwerbeabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit Spanien, Griechenland und der Türkei. 36 So entstand 2010 an der Fachhochschule Koblenz das Projekt „LebensGESCHICHTEn ehemaliger GastarbeiterInnen in Höhr-Grenzhausen“, in: URL: http://lebenswege.rlp.de/projektwerkstatt/fachhochschule-koblenz; letzter Zugriff: 9.8.2013. 37 Deuser: Migration, 2012, S. 10. 38 Migration Museum Project. Bericht vom Juli 2012, in: Migration Museum Project, 2013, URL: http://www.migrationmuseum.org; letzter Zugriff: 9.8.2013.
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Britain needs something similar“.39 Im Rahmen seiner Internetpräsentation www.migrationmuseum.org, die dem Migration Museum Project derzeit als wichtigste öffentliche Plattform dient, fand auch ein Fotowettbewerb statt, der Mitte 2011 in Kooperation mit der britischen Tageszeitung The Guardian ausgerufen wurde.40 Der Wettbewerb zielte in etwa in eine vergleichbare Richtung wie das VOM. Dabei sollten 100 Digitalfotos gesammelt, im Internet präsentiert und mit kurzen eigenen Kommentaren versehen werden, um unterschiedliche Eindrücke von Ein- oder Auswanderung zu vermitteln. Die Fotos sollten mit den darauf zu sehenden Personen oder Objekten von Migration erzählen.41 Hier wird die virtuelle Plattform mithin dazu benutzt, einem einst realen Museumsprojekt zuzuarbeiten. Ein anderes Projekt ist jüngst in der Schweiz entstanden. Das Musée Imaginaire des Migrations ist ein virtuelles „Museum über Migranten in der Schweiz“.42 Seine Homepage www.mimsuisse.ch ist seit Frühjahr 2012 für die Zusendung von Beiträgen geöffnet. Das „Museum ohne Wände“ bietet „eine Plattform für Migrationsgeschichten“, die mit der Geschichte der Schweiz verbunden sind.43 Ziel ist es, ebenfalls 100 Geschichten zu sammeln. Abseits der virtuellen Präsentation im Internet ist dabei auch an einen analogen Zugang gedacht, weshalb das Projekt eng mit Schweizer Museen zusammenarbeitet. Zu jeder der im Internet abrufbaren Schweizer Migrationsgeschichten soll es in einem der beteiligten Schweizer Museen eine Vitrine geben, in der jeweils ein Objekt zu der Geschichte ausgestellt sein soll. Bei diesem Modell wird also die virtuelle museale Welt mit der analogen Museumswelt unmittelbar verbunden. Wie ist das VOM als das erste virtuelle Migrationsmuseum im Norden Deutschlands44 hier einzuordnen? Es verbindet die technische Flexibilität des Mediums Internet mit den musealen Aufgaben. Vergleichbar dem Schweizer Beispiel 39 Introduction, in: Migration Museum Project, 2013, URL: http://www.migrationmuseum.org; letzter Zugriff: 9.8.2013. 40 Migration Museum Project: 100 Images of Migration Competition, in: The Guardian, 4. Mai 2011, URL: http://www.guardian.co.uk/society/2011/may/04/migration-museum-photography-competition; letzter Zugriff: 17.6.2013. 41 „Participants are invited to upload images resonant of migration with a short explanation of what the image means to them. Images can feature something very personal like an object brought to the UK or something in the public domain like a bank note printed on Huguenot Portal family paper. Or anything else that speaks of migration“; in: Migration Museum Project: 100 Images of Migration Competition, 12. Juni 2011, URL: http://www.refugeeeducation.com/migrationmuseum; letzter Zugriff: 27.1.2013. 42 Alexander Grass: Das Museum über Migranten in der Schweiz, in: DRS 2 aktuell, 31.7.2012, URL: http://www.drs.srf.ch/www/de/drs2/sendungen/drs2aktuell/2643.bt10235415.html; letzter Zugriff: 27.1.2013. 43 Ein Museum ohne Wände. Geschichten zur Migration, in: Musée Imaginaire des Migrations, URL: http://www.mimsuisse.ch; letzter Zugriff: 9.8.2013. 44 Anja Todt: „Der Fremde“ im Internet. Osnabrücker Arbeitskreis baut das erste virtuelle Migrationsmuseum in Norddeutschland auf, in: Kirchenbote. Wochenzeitung für das Bistum Osnabrück 25/2011, S. 17; Stefanie Hiekmann: Mit der Chianti-Flasche ins Neue Leben. Migrationsgeschichten haben eine neue Plattform: das Virtuelle Osnabrücker Migrationsmuseum, in: Neue Osnabrücker Zeitung, 20.8.2011, S. 25.
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verknüpft das VOM Migrationsgeschichten mit real existierenden Objekten, die sich entweder im Museum selbst befinden oder im Eigentum privater Personen. Da es langfristig darauf abzielt, die in das VOM eingestellten Objekte auch real zu sammeln, erfüllt es ebenfalls die Aufgabe der Sicherung materieller kultureller Hinterlassenschaft. Der Zeitpunkt des konkreten Sammelns ist dabei noch offen, während die Museumswürdigkeit des jeweiligen Objektes bereits durch die virtuelle Musealisierung definiert ist. Wie die Praxis zeigt, können bestimmte Objekte jedoch nicht in jedem Fall unmittelbar dem Museum, in diesem Fall dem Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück, überlassen werden. Die Arbeitsform des virtuellen Museums wurde auch deshalb gewählt, weil der Kontakt mit den beteiligten Personen im Forum ergab, dass die persönlichen Geschichten, die um Objekte herum erzählt werden, häufig sehr emotional sind. Deshalb sind auch die damit verknüpften Objekte meist mit starken Gefühlen behaftet. Zumal dann, wenn die individuelle Migrationsgeschichte mit Komplikationen wie etwa Verfolgung, Verlusten, Exilerfahrungen oder Traumatisierungen verbunden ist. Dadurch kann die Bereitschaft, solche Objekte an das Museum abzugeben, erschwert oder sogar verhindert werden. Das ‚Museum 2.0‘ bietet deshalb einen musealen Zwischenraum an, der das reale, in Privateigentum verbleibende Objekt mit dem in die Zukunft gerichteten materiellen Wissensspeicher des Museums verknüpft. Es gibt ein – virtuelles – Exponat, das zunächst in einer virtuellen Sammlung archiviert wird. Die fortlaufende Ordnung der Objekte nach den Inventarnummern „VOM 1 und folgende“ spiegelt die kontextgebundene Sammlung zur Osnabrücker Migrationsgeschichte wider. Es gibt ferner den wie eine Inventarkarte aufgebauten „Steckbrief“, auf dem das Objekt dokumentiert und seine Geschichte bewahrt, sein Standort angegeben und damit seine materielle Position festgehalten wird. Das Erforschte wird schließlich über eine visuell-textliche Narration einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Das VOM erfüllt mithin alle Aufgaben eines Museums, das die materiellen Überreste gelebter geschichtlicher Wirklichkeit sammelt, bewahrt, erforscht und präsentiert. Das VOM weist keine chronologische oder thematische Ordnung auf. Vielmehr bieten sich dem virtuellen Publikum die Objekte in der Reihenfolge, in der sie in das Archiv eingestellt werden. Im Vordergrund steht beim VOM weniger eine chronologische Narration. Es soll dem Gast, der das virtuelle Museum besucht, vielmehr die Option überlassen bleiben, selbst zu entscheiden, wo er einhaken möchte. Er soll autonom bestimmen, welche Geschichte er wann lesen, über welches Objekt er zunächst etwas erfahren, welche Person er näher kennenlernen möchte. Da die Geschichten datiert sind, ist es ihm dennoch möglich, die Reihe betrachteter Narrationen nach und nach selbstständig beispielsweise in eine chronologische Ordnung zu bringen. Das Publikum wird demnach dazu befähigt, seine eigene ‚Ausstellung‘ zu entwerfen, die es zum Nachdenken und zu eigenen Schlussfolgerungen anregt. Es kann auf diese Weise selbstständig museale Kompetenzen entwickeln.
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Zudem lässt diese Strategie dem Publikum den nötigen Freiraum, um sich auf die einzelnen Erzählungen zu konzentrieren und dadurch die unterschiedlichen Aspekte von Migration und Migrationsgeschichte besser für sich zu erschließen. Es kann dadurch einfacher die subjektive Perspektive der wandernden Menschen einnehmen, über die es sich gerade informiert. Es ist also weniger durch eine vorgegebene Außenperspektive abgelenkt und kann sich auf diese Weise intensiver mit der Geschichte der jeweiligen Person beschäftigen oder gar identifizieren. Gleichwohl erhält das Publikum zugleich Begleitinformationen, um die Erzählung in den jeweiligen historischen Kontext einordnen zu können. Das Konzept des VOM ist bewusst offen angelegt und kann dynamisch verändert und erweitert werden. Hierbei sind die technischen Möglichkeiten des ‚Museums 2.0‘ besonders hilfreich. Es erfüllt derzeit neben der Rolle einer – über individuelle, objektgebundene Erzählungen entworfenen – Narration der Osnabrücker Migrationsgeschichte zugleich die Funktion eines Archivs, einer Sammlung. Das Konzept kann je nach Umfang der Sammlung zu einem späteren Zeitpunkt verändert werden, indem zum Beispiel durch die Bildung von Objektgruppen bestimmte Aspekte der Migrationsgeschichte vertieft oder in andere Zusammenhänge gestellt werden können. Das VOM ist in diesem Sinne auch als eine offene Arbeitsform zu verstehen. Zudem ist es durchaus ein Ziel des VOM, für das Kulturgeschichtliche Museum konkrete Museumsobjekte zu sammeln. Ihre materielle Gegenwart im Museum soll über das VOM gewissermaßen virtuell angebahnt werden. Für die inhaltliche Ausrichtung des VOM als solche ist die reale Präsenz der Objekte nicht zwingend erforderlich. Es geht um eine Präsentationsform, die die individuelle Verortung, die sich in den Gegenständen widerspiegelt, mit ihrer historischen und gesellschaftspolitischen Relevanz verknüpft. Diese sollen im Museum, dem sozialen Gedächtnis der Stadt,45 gespeichert werden; und das ist vorerst auch virtuell möglich. In einem zweiten Schritt kann dies gegebenenfalls auch zu einer materiellen Hinterlassenschaft führen.
Virtuelle Migrationsmuseen – ein Konzept mit Zukunft? Die überschaubare Zahl virtueller Migrationsmuseen, die an dieser Stelle angeführt werden konnte, erinnert an die Erfahrungen, die das Kulturgeschichtliche Museum Osnabrück bislang mit seinem ‚Forum Migration‘ gemacht hat. Neugierde und Interesse ist von unterschiedlicher Seite durchaus zu registrieren, und die bislang vorweisbaren Arbeitsergebnisse machen durchaus Mut, diese Arbeit nicht nur fortzusetzen, sondern künftig auch auszubauen. So sollen die vorhandenen Sammlungsbestände des Kulturgeschichtlichen Museums in Osnabrück unter migrationsgeschichtlichen Fragestellungen neu gesichtet werden, um Objekte und damit Material für die Präsentation von Migrationsgeschichte im Museum sowie im Internet zu generieren. 45 Gottfried Fliedl: Museum als soziales Gedächtnis. Kritische Beiträge zu Museumswissenschaft und Museumspädagogik, Klagenfurt 1988.
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Weitaus schwieriger ist es dagegen, Menschen mit Migrationserfahrung dazu zu bewegen, ihre interessanten Geschichten auch öffentlich zu machen. Nicht selten sind es die verbreiteten sperrigen oder negativ belegten Begrifflichkeiten, die die ‚Gastarbeiter‘ oder ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ offensichtlich immer noch davon abhalten, sich als Teil einer gemeinsamen Gesellschaft zu begreifen und deshalb auch die Einrichtungen dieser Gesellschaft wie die Museen in stärkerem Maße aufzusuchen und aktiv für sich zu nutzen. Dabei ist eine Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte der bundesrepublikanischen Gesellschaft und den gesellschaftspolitischen Entwicklungen, die damit verbunden sind, wünschenswert. Ein solcher Dialog ist aber nur zwischen Menschen möglich, und einem solchen Dialog möchten Projekte wie das VOM des Kulturgeschichtlichen Museums Osnabrück ein Forum bieten. Es geht um einen gegenseitigen Erfahrungsaustausch. Es geht ums Zuhören und Verstehen, ums Diskutieren und Weiterdenken. Und es geht um Objekte, die für individuelle Schicksale stehen und die die gewandelte Zeitgeschichte in sich verkörpern. Dabei sind den Beobachtungen nach die sprachlichen Probleme weniger hinderlich als die genannte intensive Emotionalität, die mit diesen sehr persönlichen Geschichten verbunden ist und es erschwert, dass die ‚Objekte mit Migrationshintergrund‘, die für das Museum auch als Realien mittelfristig von großem Interesse wären, von den betreffenden Personen schon ‚losgelassen‘ werden können. Dies waren – über die Möglichkeit der Anonymisierung hinaus – entscheidende Kriterien dafür, das VOM als virtuelles Werkzeug einzurichten. So ist ein musealer Zwischenraum entstanden, der für die Präsentation von Migrationsgeschichte(n) flexibler ist als ein realer dreidimensionaler Museumsraum, dessen hohe Hemmschwellen bis heute nicht überwunden sind. Darüber hinaus bleibt die Frage, inwieweit das Thema ‚Migration im Museum‘, das heißt die museale Präsentation von Wanderungsbewegungen, tatsächlich schon Eingang in die betreffenden Communities gefunden hat oder ob nicht das Museum immer noch als Institution ‚der Anderen‘ – also der Gemeinschaft, die Zuwanderung erfährt – wahrgenommen wird. Dann könnte aller guter Wille, eben diese Institution Museum auch für die neu zugewanderten BürgerInnen zu öffnen und ihre Geschichte als festen Teil der Geschichte der Zuwanderungsgesellschaft sicht- und erlebbar zu machen, wenn nicht vergeblich sein, so doch vielleicht aktuell noch von falschen Voraussetzungen ausgehen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Ängste, die im Rahmen der politischen Debatte um das ‚Einwanderungsland Deutschland‘, durch ausländerfeindliche Exzesse wie die in Hoyerswerda (17. und 23. September 1991), RostockLichtenhagen (August 1992), Mölln (23. November 1992) und Solingen (29. Mai 1993) oder jüngst durch die Taten des ‚Nationalsozialistischen Untergrundes‘ geschürt worden sind, bis in die Gegenwart eine latente Unsicherheit verursachen, die MigrantInnen immer noch eher zurückhaltend reagieren lassen. Damit setzen sie Mechanismen der Distanzierung und Vorsicht fort, die ihnen eine nicht weltoffene bundesdeutsche Gesellschaft von ‚Menschen ohne Migrationshintergrund‘ schon in den Jahren zuvor vielfach gelehrt hat. Die offenen Angebote der mit eher kulturübergreifendem Impetus verbundenen Projekte haben es vielleicht auch
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deshalb zurzeit immer noch schwerer als erwartet. Es kann demnach sein, dass von den InitiatorInnen entsprechender Projekte trotz aller Bemühungen eher mittelfristig gedacht und geplant werden muss. Gerade die partizipative Einbindung des Museumspublikums in die konkrete Arbeit der verschiedenen Häuser, das belegt die Praxis, hat sehr viel mit Vertrauen zu tun, gerade wenn es um individuelle Lebensgeschichten geht. Und der Bedarf an Vertrauensbildung mag beim Thema ‚Migrationsgeschichte‘ aufgrund der jüngsten Vorgeschichte noch wichtiger sein als in anderen Kontexten. Zudem wird, was die Bedeutung der neuen ‚Social Media‘ für die Arbeit der Museen betrifft, von anderer Stelle eine gewisse Zurückhaltung empfohlen. Übertriebene Erwartungen scheinen auch hier unangebracht, weil die Bereitschaft zur Partizipation, selbst bei jüngeren Menschen, nicht zwangsläufig von der Modernität des Mediums abhängt. „Auch in den Social Media ist die Anzahl der passiven Zuschauer und Leser wesentlich höher als die der Menschen, die aktiv durch das Hochladen von Daten oder das Schreiben von Texten und Kommentaren teilnehmen.“46 Der Fokus sollte daher weniger auf das Medium gerichtet werden als auf die Qualität der konkreten Museumsarbeit vor Ort. Dennoch besteht kein Grund zu übertriebenem Pessimismus. Es ist zu erwarten, dass sich in dieser Richtung in naher Zukunft einiges verändern wird. Symptomatisch dafür steht vielleicht die Internetdomain www.migrationmuseum.com, 47 die bereits für die künftige Arbeit reserviert worden ist; der migrationsgeschichtliche Inhalt, den die Homepage einmal füllen soll, wird sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen. Migration ist nicht nur aufgrund ihrer historischen Bedeutung ein Thema von zentraler Bedeutung. Auch künftig werden die Wanderungsbewegungen sich global auf die Gesellschaften auswirken. Das verdeutlichen beispielsweise die aktuellen Debatten über die Folgen des weiteren Anstiegs der Weltbevölkerung, der Alterung der Gesellschaften des sogenannten reichen Nordens, des Klimawandels oder des Fachkräftemangels in den zunehmend komplexer werdenden international eng vernetzten „Wissensgesellschaften“.48 Insofern ist auch die individuelle Beteiligung an Diskussionsprozessen gerade von Personen in unserer Gesellschaft, die aus eigener Anschauung und Erfahrung wissen, was Migration konkret bedeutet, eminent wichtig. Für diese notwendigen Debatten, die gerade auf unmittelbarer, persönlicher Ebene stattfinden müssen, bedarf es zahlreicher Orte der Kommunikation und des Dialogs. Nur im gegenseitigen Wissen voneinander und übereinander kann es gelingen, eine „zivilisierte Kultur“ zu entwerfen, „die Fähigkeiten zu einem gemeinsamen Leben weckt und fördert“.49 Einen ebensolchen frei zugänglichen Ort des zivilisierten Dialoges möchte das Virtuelle Osnabrücker Migrationsmuseum 46 Axel Vogelsang: The Revolution Will Be Televised. Social Media und das partizipative Museum, in: Museumskunde 77 (2012) 1, S. 33–38; hier S. 37. 47 URL: http://www.migrationmuseum.com; letzter Zugriff: 9.8.2013. 48 Oltmer: Globale Migration, 2012, S. 7. 49 Eduard Kaeser: Multikulturalismus revisited. Ein philosophischer Essay, Basel 2012, S. 29.
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bieten. Als ‚Museum 2.0‘ unterstützt es auf einfache, moderne, leicht zugängliche Weise den Trend zur konkreten Beteiligung an der Museumsarbeit. Sein partizipativer Charakter erweitert die herkömmliche Institution Museum zu einem modernen Gesellschaftslabor. Beides zusammen schafft Raum für eine Begegnung, in der wir für einen Moment selbst zur/m Fremden werden können, um unser Gegenüber besser wahrzunehmen – und damit auch uns selbst.
GESCHICHTE ALS ARGUMENT. DEUTSCHE KOLONIEN UND DEUTSCHE ‚HEIMAT‘ IN DER BERLINER GEWERBEAUSSTELLUNG 1896 UND IN DER RETROSPEKTIVE VON 1996/2007 Britta Lange
Zusammenfassung: Dieser Beitrag untersucht, welches Geschichtsbild in der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 entworfen wurde, die die ‚erste deutsche Kolonialausstellung‘ umfasste. Die dort präsentierten ,Eingeborenen‘ aus Afrika und Neuguinea wurden zwar über Strategien des Othering als Andere der deutschen Identität konstruiert, doch in ethnografischen Dörfern als lebende Erfolgsbeispiele der deutschen ‚Zivilisierung‘ vorgestellt sowie diskursiv als ‚unsere Landsleute‘ in die deutsche ,Heimat‘ inkorporiert. Retrospektiven auf die Gewerbeausstellung von 1996 und 2007 im Heimatmuseum Treptow thematisierten die historische Kolonialausstellung vor allem unter dem Aspekt der Lokalgeschichte als Standortfaktor für die gegenwärtige ,Heimat‘. Abstract: This article tackles the concept of history provided by the Berlin trade exhibition in 1896 which included the ,first German colonial exhibition‘. ,Natives‘ from Africa and New Guinea were displayed as Others of the German identity by strategies of othering. But at the same time they were presented as examples of the successful German efforts to ,civilize‘ them and integrated in the German ,Heimat‘ by dicourses on ,our countrymen‘. 1996 and 2007 retrospectives on the trade exhibition in the Heimatmuseum Treptow referred to the colonial show under the focus of local history which served as a location factor for the actual ,Heimat‘.
Das Heimatmuseum Treptow in Berlin hat in seiner Dauerausstellung seit 2007 einen Raum für die Erinnerung an die Berliner Gewerbeausstellung von 1896 reserviert. Unter dem Titel Die verhinderte Weltausstellung informiert eine einführende Texttafel darüber, dass ihre Sonderteile, „die Kolonialausstellung, die Marineschauspiele und der ausgedehnte Vergnügungssektor“, vorangegangene Weltausstellungen wie etwa in Paris 1889 übertroffen hätten. Die heutige Ausstellung liefert jedoch keinen weiteren Hinweis auf die erwähnte Kolonialausstellung, solange das installierte DVD-Gerät ausgeschaltet bleibt. Dies wirft die Frage auf, mit welcher Motivation und mit welchen Mitteln eine historische Kolonialausstellung in einem heutigen Heimatmuseum repräsentiert ist. Wie wird die deutsche Kolonialära in dieser Ausstellung erinnert? Welche Beziehung besteht zwischen den Komplexen der deutschen Kolonien und der deutschen ‚Heimat‘ heute, und welche Beziehung bestand 1896?
Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 67–86
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Im Gegensatz zu der seit einigen Jahren stetig zunehmenden Literatur zum historischen Kolonialismus des Deutschen Reiches sind kritische Ausstellungen dazu in Deutschland immer noch relativ selten. Als Beispiele seien die Ausstellung Namibia – Deutschland. Eine geteilte Geschichte genannt, die im Rückblick auf den Beginn des Kolonialkrieges und schließlich des Genozids der Deutschen an den Einwohner/innen von Namibia 2004/05 in Köln und Berlin ausgerichtet wurde,1 des Weiteren eine Stereotypen analysierende Ausstellung von Kolonialpostkarten unter dem Titel Bilder verkehren 2004/05 im Kunsthaus Hamburg2 und die Ausstellung Das koloniale Auge im Berliner Museum für Fotografie 2012, die spezifisch europäische Blickweisen in der Porträtfotografie untersuchte.3 In manchen deutschen Geschichtsmuseen und Geschichtsausstellungen finden sich inzwischen Hinweise auf die Kolonialära als ein Kapitel deutscher Geschichte, wenn diese auch oft lückenhaft sind.4 In diesem Beitrag möchte ich weniger allgemeinen Beobachtungen dazu nachgehen, wie heute deutsche Kolonialgeschichte ausgestellt wird, sondern das genannte konkrete Beispiel untersuchen: Welches Geschichtsbild wurde mit der Berliner Gewerbeausstellung von 1896, die die ‚erste deutsche Kolonialausstellung‘ umfasste, entworfen? Inwiefern arbeitete sie als zeitgenössische kolonialpropagandistische Schau bereits mit Erinnerungen an die Vergangenheit? Welchen Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte vermittelte demgegenüber die umfangreiche Retrospektive auf die historische Ausstellung, die 100 Jahre später, 1996, im Heimatmuseum in Treptow stattfand? Haben sich die geschichtspolitischen Ziele noch einmal verändert, als 2007 der Raum in der heutigen Dauerausstellung des Heimatmuseums eingerichtet wurde? Zu fragen ist dabei auch, inwiefern das Verhältnis von deutscher ‚Heimat‘ und deutschen Kolonien in den Retrospektiven von 1996 und 2007 reflektiert wird.
1896: Die Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park Vom 1. Mai bis zum 15. Oktober 1896 fand die Berliner Gewerbeausstellung, eine ambitionierte Leistungsschau der Berliner Unternehmer, vor den Toren Berlins statt: Der Treptower Park gehörte dem Magistrat der Stadt Berlin, lag jedoch in der Landgemeinde Treptow. Die Berliner Gewerbeausstellung nannte sich zwar eine lokale und metropolitane Ausstellung, transportierte aber zugleich nationale 1 2 3 4
Namibia – Deutschland. Eine geteilte Geschichte, Ausstellung im Rautenstrauch-JoestMuseum in Köln und im Deutschen Historischen Museum in Berlin 2004/05. Bilder verkehren. Postkarten in der visuellen Kultur des Kolonialismus, Ausstellung im Kunsthaus Hamburg 2004/05 sowie an weiteren Orten. Das koloniale Auge. Frühe Porträtfotografie in Indien, Ausstellung im Museum für Fotografie in Berlin 2012. Vgl. etwa Debora Gerstenberger: Kolonialismus im Kasten? Eine Gruppe von Historikerinnen organisiert kritische Rundgänge zur deutschen Kolonialgeschichte in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums, in: H-Soz-u-Kult, 26.11.2010, URL: http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/forum/id_1427&type=diskussionen; letzter Zugriff: 24.7.2013.
Deutsche Kolonien und deutsche ‚Heimat‘ in der Berliner Gewerbeausstellung 1896
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Ansprüche. Zunächst als Weltausstellung geplant, wurde sie nach einer komplizierten und von politischen Interessenkonflikten geprägten Vorgeschichte schließlich als Leistungsschau der Berliner Unternehmer mit 3.780 ausstellenden Unternehmen, Vereinen, Institutionen und Personen realisiert.5 Sie erstreckte sich über ein Areal von mehr als 900.000 Quadratmetern und bestand aus 22 Fachgruppen, die unter anderem der Berliner Textil- und Bekleidungsindustrie, der Metall-, Glas-, Elektro- und Chemieindustrie, der Land- und Fischereiwirtschaft, dem Buchgewerbe sowie weiteren Gewerbezweigen gewidmet waren.6 Repräsentiert waren hauptsächlich einzelne Firmen und Trägerschaften mit ihren Produkten. Soziale Aspekte wurden durch ein eigenes Gebäude für Gesundheitspflege, Wohlfahrt, Erziehung und Bildung aufgerufen. Das von Ludwig Sütterlin gestaltete Plakat zeigte zwar die Arbeiterfaust, die einen Hammer hochhielt. Doch wurden in der Ausstellung die eigentlichen Produktivkräfte nicht thematisiert, wie der liberale Politiker Friedrich Naumann kritisierte: „Ein Haus fehlt in der Ausstellung, das ‚Haus der Arbeit‘. (…) Hin und wieder steht ein Arbeiter und bedient vor dem Publikum seine Maschine, aber der Arbeiter im ganzen ist – glänzend vergessen! (...) Man hat Augen für alles, aber nicht für die Menschen. In dieser Hinsicht ist die Berliner Ausstellung grausam wie der ganze Kapitalismus.“7
Das bürgerliche und kaiserliche Berlin stellte sich zum 25-jährigen Jubiläum der Reichsgründung von 1871 als Weltstadt dar – in den Worten Georg Simmels als „eine Stadt, die der ganzen Welt die Stoffe ihres Arbeitens liefert und die diese zu allen wesentlichen Formen gestaltet, die irgendwo in der gegenwärtigen Culturwelt erscheinen“8 –, ohne jedoch eine Weltausstellung zu bieten. Ihr fehlten die internationalen Aussteller, die eine Weltausstellung prägten, ganz gleich, welche Stadt oder Weltstadt sie ausrichtete.9 Dennoch weisen nicht nur das Ausmaß der Berliner Gewerbeausstellung, sondern auch ihre zusätzlichen Attraktionen auf einen höheren Anspruch hin: Themenparks, zu denen auch Nicht-Berliner Aus-
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Vgl. dazu u.a. Erhard Crome: Berliner Gewerbeausstellung 1896. Betrachtung eines Jahrhundertstücks, in: Hella Kaeselitz (Red.): Die verhinderte Weltausstellung. Beiträge zur Berliner Gewerbeausstellung 1896, hrsg. vom Bezirksamt Treptow von Berlin, 1996, S. 11–27. Vgl. dazu: Illustrierter Amtlicher Führer durch die Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896, Berlin 1896. Friedrich Naumann: Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896, in: Ders.: Ausstellungsbriefe Berlin/Paris/Dresden/Düsseldorf 1896-1906, Basel 2007, S. 15–45, hier S. 41–43. Georg Simmel: Berliner Gewerbe-Ausstellung [25.7.1896], in: Ders.: Gesamtausgabe, hrsg. von Otthein Rammstedt, Bd. 17, Frankfurt am Main 2004, S. 33–38, hier S. 35. Nana Badenberg hat darauf hingewiesen, dass die Berliner Gewerbeausstellung zwar an der Ästhetik der Weltausstellungen orientiert war, jedoch auf Protektionismus und Expansion ausgerichtet war und vor allem die deutschen Geschäftsinteressen im globalen Rahmen garantieren sollte, indem sie nur deutsche Waren und (koloniale) Handelsbeziehungen vertrat. Vgl. Nana Badenberg: Zwischen Kairo und Alt-Berlin. Sommer 1896: Die deutschen Kolonien als Ware auf der Gewerbe-Ausstellung in Treptow, in: Klaus Scherpe, Alexander Honold (Hrsg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart, Weimar 2004, S. 190–199, hier S. 192.
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steller zugelassen waren. Die auf Verlangen des Reichskanzlers10 zuletzt in die Planung aufgenommene Gruppe 23, die „Deutsche Kolonial-Ausstellung“,11 wurde oft als „1. Deutsche Kolonialausstellung“ bezeichnet. Sie umfasste unter anderem nachgebaute Dörfer aus deutschen ‚Schutzgebieten‘, in denen für die Ausstellungsdauer über 100 Menschen aus Afrika und Papua-Neuguinea lebten. Zu den Sonderteilen gehörten außerdem Marineschauspiele, die das Deutsche Reich als potente Seemacht vorstellten und damit nicht zuletzt den Anspruch auf Kolonien zementierten. Ein Alpenpanorama, ein historisches Stadtbild von „Alt-Berlin“ und ein Vergnügungspark erinnerten an die vorangegangene Weltausstellung von 1893 in Chicago, die eine ganze Galerie von Länderpavillons und ethnografischen Dörfern umfasst hatte. Die Abteilung „Kairo“ schließlich, die die im Deutschen Reich herrschende Ägyptomanie bediente und auf die deutschen archäologischen Ausgrabungen in Ägypten verwies, übertraf an Größe und mit der neuen Attraktion von künstlichen Pyramiden den Ausstellungsteil „Kairo“ der Pariser Weltausstellung von 1889,12 die ebenfalls eine Kolonialausstellung umfasst hatte und mit der die aufgewertete Berliner Gewerbeausstellung mehr oder weniger offen konkurrierte. Als Weltstadt ohne Weltausstellung, aber mit dem Anspruch auf Geltung in der Welt positionierte sich Berlin mit seiner industriellen Leistungsschau als Hauptstadt des Deutschen Reiches im ökonomischen, aber auch politischen Wettbewerb. Jene Themenparks, die über ihre Spektakularität vor allem auch Besuchermassen anlocken und Geld in die Kassen bringen sollten,13 verhandelten im Medium der Ausstellung, aber auch begleitet von rhetorischen Strategien, das Verhältnis von Deutschem zu seinem ‚Anderen‘. Das ‚Andere‘, im Rahmen von Identitätskonstruktionen verstanden als ein Reflex der eigenen Identität ex negativo, erschien in verschiedenen Varianten. Nach Edward Said, der den europäischen Diskurs des Orientalismus als jene Denkweise definiert hat, „die sich auf eine ontologische und epistemologische Unterscheidung zwischen ‚dem Orient‘ und
10 In einem Rundschreiben an die kaiserlichen Gouverneure vom 28.11.1894 forderte der Reichskanzler dazu auf, in der Gewerbeausstellung auch die seit 1884 erworbenen deutschen „Schutzgebiete“ zu präsentieren. Vgl. dazu Daniela Schnitter: Zur ersten deutschen Kolonialausstellung im Rahmen der Berliner Gewerbeausstellung 1896, in: Kaeselitz: Die verhinderte Weltausstellung, 1996, S. 115–124, hier S. 117. Deutsche Kolonien waren im Jahr 1896: Kamerun (1884), Togo (1884), Deutsch-Ostafrika (1885, heute: Tansania, Rwanda, Burundi), DeutschSüdwestafrika (1885, heute: Namibia) sowie Kaiser-Wilhelmsland und Bismarckarchipel (1885, heute: Papua-Neuguinea). 11 Vgl. Deutsche Kolonialausstellung. Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896, Gruppe XXIII. Officieller Katalog und Führer, Berlin 1896. 12 Die „Rue de Caire“ war seit der Weltausstellung in Paris 1867 ein Standard auf Weltausstellungen. 13 Dies gelang vor allem mit „Alt-Berlin“ (über 1,7 Millionen Besucher/innen), „Kairo“ und der Kolonialausstellung (jeweils über 2 Millionen Besucher/innen): Diese Abteilungen schlossen jeweils mit Gewinn, während die Gewerbe-Ausstellung als Ganze über 7,4 Millionen Besucher/innen zählte, jedoch einen Verlust verbuchte.
Deutsche Kolonien und deutsche ‚Heimat‘ in der Berliner Gewerbeausstellung 1896
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(in den meisten Fällen zumindest) ‚dem Okzident‘ stützt“,14 ist es sinnvoll, die von kolonialer Seite beanspruchte Autorität über den Orient im Diskurs, in Stil, Redefiguren, Szenario, Erzählformen, historischen und gesellschaftlichen Umstände zu untersuchen15 – und in Ausstellungsdisplays als begehbaren Erzählungen, so lässt sich hinzufügen. Denn um die Darstellung des Orients – statt den „Orient“ selbst – offenzulegen, geht es nach Said „nicht um die Analyse verborgener Schichten orientalistischer Texte (...), sondern um die Oberfläche, das Aufgedeckte“.16 Das Andere des Deutschen in Gestalt des arabischen Orients erschien auf der Gewerbeausstellung von 1896 als das geografisch und kulturell Andere sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart: in nachgebauten Straßenzügen aus dem historischen und gegenwärtigen Kairo, das bildliche, räumliche und rhetorische Stereotypen verwendete. Die Kolonialausstellung präsentierte ebenfalls andere Weltgegenden mit ihren anderen Bewohner/innen, die jedoch durch ‚Schutzbriefe‘ zu deutschen Gebieten erklärt worden waren. Auf die Verschachtelung des Deutschen mit seinem Anderen als Kolonialisiertem werde ich gleich zurückkommen. Zur Eroberung und Verteidigung von Kolonien war nach der Auffassung Wilhelms II. eine starke Seemacht vonnöten, die er in der Ausstellung über die Marineschauspiele inszenieren ließ: etwa vier Meter große Reproduktionen von Kriegsschiffen, die auf einem künstlichen See miteinander kämpften und Torpedos abfeuerten. Dieses Spektakel führte zwar nur die deutsche Marine vor, imaginierte jedoch über die Rüstungspotenz die Anderen als unterlegene militärische Gegner, wobei in erster Linie die europäischen Mächte adressiert wurden. „Alt-Berlin“ wiederum stellte ein Kapitel der Geschichte Berlins, der deutschen Vergangenheit aus und schloss damit an eine junge Tradition der Welt- wie auch der Landes- und Regional- sowie Gewerbeausstellungen an, bei denen die ausrichtende geografische Einheit sich im historischen Kostüm präsentierte.17 Während also die eigentliche Gewerbeausstellung als Ausweis des Deutschen stehen und deutsche Identität vorstellen sollte, inszenierten die Sonderteile das komplexe Verhältnis dieses Deutschen zu seinen verschiedenen Anderen, wobei sie eine Ausdehnung des Eigenen in den Raum und in die Zeit einschlossen. Die Spannweite der Entwürfe des „Anderen“ zum Deutschen zeigt, dass es sich um eine vielschichtige gesellschaftliche Problematik handelt, die den politischen und inhaltlichen Motiven entsprechend unterschiedlich beantwortet wurde. Im Folgenden soll daher nicht die Frage vertieft werden, was als Anderes definiert wurde, sondern vielmehr, wie mit diesen Differenzen diskursiv und im Medium der Ausstellung umgegangen wurde. Erläutert werden soll dies an der Gegenüberstellung von ‚Heimat‘ (in Gestalt des Sonder-
14 Vgl. Edward W. Said: Orientalismus, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2010, S. 11 (engl. Orig.: Orientalism, New York 1978). 15 Vgl. ebd., S. 32. 16 Ebd., S. 31. 17 So hatte die Pariser Weltausstellung von 1889 einen historischen Straßenzug von Paris präsentiert. Vgl. Gaby Huch: „Alt-Berlin“ – eine mittelalterliche Stadt wird lebendig, in: Kaeselitz: Die verhinderte Weltausstellung, 1996, S. 125.
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teils „Alt-Berlin“) und den Kolonien (wie sie in der Kolonialausstellung von 1896 inszeniert wurden).
Abb. 1: „Alt-Berlin: Künstlerfest am 9. Mai – Gerichtslaube und Rathaus“18
Zeitgleich mit „Alt-Berlin“ entstanden im Jahr 1896 im Deutschen Reich mehrere historische Stadtbilder, die die jeweils ausrichtende Stadt einer Ausstellung zeigten: so etwa auf der bayrischen Landesausstellung in Nürnberg oder der Ausstellung des sächsischen Handwerks und Kunstgewerbe in Dresden.19 Im Zusammenhang mit der Heimatbewegung des 19. Jahrhunderts, der Industrialisierung und Verstädterung, dienten die historischen Stadtbilder dazu, Orten eine Geschichte zu geben, der horizontalen Position der Orte in der Geografie und auf den Landkarten eine vertikale Position, eine Verortung auf der Zeitachse hinzuzufügen. Zugleich sollten sie, durchaus nostalgisch verklärt, an die vorindustriellen Dörfer und Städtchen mit handwerklichen und agrarischen Produktionsweisen erinnern und eine Tradition der ‚einfacheren‘ Vergangenheit schaffen, die als ‚gute alte 18 Pracht-Album photographischer Aufnahmen der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896 und der Sehenswürdigkeiten Berlins und des Treptower Parks. Text von Paul Lindenberg, Berlin 1896, S. 46. 19 Vgl. dazu: Sehenswürdigkeiten der Ausstellungen 1896, in: Die Gartenlaube, 1896, S. 433– 438.
Deutsche Kolonien und deutsche ‚Heimat‘ in der Berliner Gewerbeausstellung 1896
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Zeit‘ verstanden wurde. Die inszenierte eigene Vergangenheit diente zudem als Vergnügungskulisse: Lokalgeschichte wurde zum Unterhaltungsmedium. Für die Darstellung von „Alt-Berlin“ wurde die Epoche um 1650 gewählt, die Zeit des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Unter Beratung durch den Verein für die Geschichte Berlins, der selbst eine Ausstellung zu „Berolinensien“ zeigte, ließ der Architekt Karl Hoffacker, der schon das deutsche Dorf auf der Weltausstellung von Chicago gebaut hatte, Straßenzüge mit massiven Häusern aus Stein nachbauen. Insgesamt entstanden in verkleinertem Maßstab 120 Gebäude: Bürgerhäuser in den zwischen 1400 und 1650 gängigen Stilen, das Spandauer und das Georgentor, das Heiliggeist-Viertel, Kirchen, die „Rembrandt-Mühle“ und das Rathaus. All dies ergab eine opulente dreidimensionale Kulisse, in der Besucher/innen sich scheinbar räumlich-konkret in der Geschichte bewegen konnten.20 In „Alt-Berlin“ präsentierten sich außerdem 122 Aussteller aus Handwerk und Gastronomie, sodass dieser Ausstellungsteil über 1,7 Millionen Besucher/innen anzog und mit Gewinn schloss.21 Den Wunsch, „Alt-Berlin“ als zugkräftige Kulisse für Kommerz und Konsum über das Ausstellungsende hinaus weiterleben zu lassen, machte die reale Lokalpolitik zunichte: Die damalige Landgemeinde Treptow lehnte es ab, die notwendige Schankkonzession zu verlängern.22 Das leitende Narrativ zur Stadt, das die Berliner Gewerbeausstellung in ihren Publikationen propagierte, war eines des industriellen Fortschritts sowie des politischen Aufstiegs. So formulierte der Journalist Paul Lindenberg, der die Texte des 1896 erschienenen repräsentativen Pracht-Albums zur Berliner Gewerbeausstellung verfasst hatte: „Aus dem einstigen kleinen Fischerdorfe war die deutsche Kaiserstadt geworden.“23 In „Alt-Berlin“ wurde Geschichte jedoch nicht nur in Form von Bauten repräsentiert, sondern auch in performativen Spektakeln inkarniert. Es fanden Feste und Umzüge in historischen Kostümen statt, und die Erzählung der aufstrebenden Stadtgeschichte wurde regelmäßig im Theater von „AltBerlin“ in „zehn dramatischen Bildern aus der Geschichte der Reichshauptstadt vom Jahre 1050 bis 1896“ aufgeführt.24 Diese publikumswirksamen Verräumlichungs- und Verlebendigungsstrategien von Geschichte teilte „Alt-Berlin“ mit den beiden Sonderteilen „Kairo“ und „Deutsche Kolonialausstellung“, wo ebenfalls vor architektonischen Kulissen Aufführungen stattfanden. Sie provozierten in den ausstellungsbegleitenden Schriftmaterialien rhetorische Strategien der Hineinversetzung und Entrückung in eine andere Epoche und/oder ein anderes Land.
20 Demgegenüber fiel die Präsentation des modernen Berlin in einem eigenen Pavillon eher zurückhaltend aus. Vgl. Huch: „Alt-Berlin“, 1996, S. 134. 21 Vgl. ebd., S. 133. 22 Insgesamt war das Verhältnis zwischen dem Arbeitsausschuss der Gewerbeausstellung und der Treptower Gemeindeverwaltung sehr angespannt. Vgl. Crome: Berliner Gewerbeausstellung, 1996, S. 23f. 23 Pracht-Album, 1896, S. 3. Lindenberg war von 1879 bis 1894 Redakteur der Deutschen Rundschau in Berlin gewesen. 24 Vgl. Huch: „Alt-Berlin“, 1996, S. 131.
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So erfreute sich in „Alt-Berlin“ die Schaustellung „Eine Fahrt ins Märchenland“ größter Beliebtheit.25
Abb. 2: „Parade der Beduinen vor dem Kaiser“ im Sonderteil „Kairo“26
Besonders deutlich aber wurde der Konnex über die Märchenwelt an Äußerungen über „Kairo“. Die Abteilung „Kairo“ auf der Berliner Gewerbeausstellung war nicht nur eine Reminiszenz an populäre (und diplomatische) Vorstellungen über den Orient, sondern vor allem auch ein Tribut an den Wettkampf der Metropolen und Nationen um den Besitz und die Repräsentation des Orients.27 Dem deutschen Massenpublikum war die Darstellung des Orients im Besonderen durch die Textsammlung Tausendundeine Nacht bekannt, die im 19. Jahrhundert in verharmlosenden Übersetzungen als Märchenbuch aus dem Orient in Europa kursierte. So schwärmte Lindenberg über das nachgebaute Kairo: „Eine Wunderstadt ist es, die entstanden ist auf dem prosaischen Sandboden der Mark Brandenburg; wie eine Traumstadt muthtet sie uns an, ein Traum aus dem Morgenlande getaucht.“28 Seine extensive Beschreibung von Markern des Orients, etwa der Pyramiden und Minarette, schloss mit einer expliziten Referenz:
25 Vgl. ebd., S. 130. 26 Pracht-Album, 1896, S. 188. 27 Offizieller Führer durch die Special-Abtheilung Kairo der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896. Von Carl Krug (Redakteur am Kleinen Journal), Berlin 1896. Als künstlerischer Direktor von „Kairo“ fungierte der Afrikareisende Willy Möller, der sowohl durch politische Expeditionen als auch durch Völkerschauen bekannt geworden war. Vgl. ebd., Einleitung, S. 7. 28 Ebd., S. 43.
Deutsche Kolonien und deutsche ‚Heimat‘ in der Berliner Gewerbeausstellung 1896
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„‚Wer die Stadt Kairo nicht gesehen‘, so erzählt Prinzessin Scheherasade in einem der Märchen aus Tausend und eine Nacht, und wir können das Wort der holden morgenländischen Prinzessin ummodeln in: ,Wer die Stadt Kairo nicht gesehen hat, hat nur einen Theil der Berliner Ausstellung gesehen.‘“29
Zumindest rhetorisch fungierte ein kulturelles Repertoire als Vereinnahmungsstrategie: das Morgenland aus dem Märchen. Das Andere des Deutschen und Abendländischen war den Besucher/innen als Anderes vertraut.
Abb. 3: „Colonial-Ausstellung“30
Weniger einfach ließ sich die Kolonialausstellung diskursiv vermitteln, denn gerade für Afrika waren dem Publikum als illustrierte Quellen des 19. Jahrhunderts weniger verklärende Mythen als vor allem dramatische Reise- und Eroberungsberichte bekannt, die Afrikaner/innen oft als ‚Naturvölker‘ abwerteten, als ‚Primitive‘ beschrieben und als ‚Wilde‘ dämonisierten. In der Kolonialausstellung von 1896 wurde daher auch auf ein anderes Narrativ gesetzt: die Demonstration erfolgreichen deutschen Wirkens in den Kolonien, die ‚Erziehung‘ und ‚Zivilisierung‘ der jeweiligen Menschengruppen. Die Kolonialausstellung im Treptower Park erstreckte sich über 60.000 Quadratmeter. Sie bestand aus einem „ethnologischen Teil“ am südlichen Ufer des Karpfenteiches mit nachgebauten Dörfern aus Papua-Neuguinea, aus Togo, Kamerun, „Deutsch-Ostafrika“ und „DeutschSüdwestafrika“. In der „Ausstellung der Eingeborenen“31 lebten insgesamt 103
29 Ebd., S. 48. 30 Ebd., S. 187. 31 Deutsche Kolonialausstellung, 1896, S. 11.
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Menschen, darunter etwa Suaheli, Wakonde und Massai aus „Deutsch-Ostafrika“, die in „Europa noch niemals zur Ausstellung gebracht worden“32 seien. Zugleich waren deutsche Anbieter von Genussmitteln, Kunsthandwerk und Gastronomie vertreten. Östlich der Park-Allee lag der „wissenschaftlich-kommerzielle“ Teil der Kolonial-Ausstellung, auf dem rund 300 Gesellschaften, Genossenschaften, Formen und Banken in Gebäuden in arabisiertem Stil ausstellten und in der auch Museen und wissenschaftliche Institutionen ihre Sammlungen präsentierten.33 In politischer Hinsicht hatte die Kolonialausstellung die Aufgabe, den deutschen Kolonialbesitz „mit dem Leben der Eingeborenen zu vergegenwärtigen“34 und zu legitimieren. Gayatri Spivak, die 1985 im Rahmen der Postcolonial Studies den Begriff Othering prägte, hat dargelegt, dass Strategien des DifferentMachens von kolonialisierten Menschen auch dazu dienten, den Imperialismus als soziale Mission zu legitimieren.35 In diesem Sinne ist der im Katalog von 1896 formulierte Anspruch zu verstehen, die Kolonialausstellung solle die Erfolge bei der „Erziehung der Eingeborenen zur Kultur“36 und zur Arbeit demonstrieren. Trotz der Bezeichnung „1. Deutsche Kolonialausstellung“ handelte es sich nicht um die erste koloniale Schau im Deutschen Reich. Ihr gingen bereits etablierte Traditionen von Ethnografia-Ausstellungen einerseits und von Völkerschauen andererseits voraus.37 Ethnografische Dörfer jedoch mit einer großen Anzahl von kolonialisierten Menschen, wie sie zuvor etwa auf der Pariser Weltausstellung von 1889 zu sehen gewesen waren, hatte es bisher im Deutschen Reich nicht gegeben: Menschen in traditioneller Kleidung lebten über Monate in sogenannten ethnografischen Dörfern und sollten den Besucher/innen ihren von den Ausstellungsmachern imaginierten Alltag vorführen (während die Situation für die nach Berlin geholten Darsteller/innen vollständig unalltäglich war). Mehrmals täglich fanden Aufführungen in der Tradition der Völkerschauen statt, bei denen die als ‚primitiv‘ abqualifizierten Menschen europäische Fantasien von afrikanischer Kriegsführung oder Ritualen aus der Südsee darstellen sollten. Auf die herabwürdigenden Einschätzungen der Deutschen weisen hochgradig diffamierende Beschreibungen einzelner Menschengruppen im Spezial-Katalog hin. Über die Hälfte der angeworbenen Menschen waren allerdings Muslime und bereits missionier-
32 Ebd., S. 40. 33 Es fanden auch wissenschaftlich-anthropologische Untersuchungen an den ausgestellten Menschen statt. Vgl. u.a. Felix von Luschan: Völkerkunde, in: Arbeitsausschuss der Deutschen Kolonialausstellung et al. (Hrsg.): Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896. Amtlicher Bericht über die erste Deutsche Kolonialausstellung, Berlin 1897, S. 203–269. 34 Pracht-Album 1896, S. 52. 35 Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present, Calcutta, New Dehli 1999, S. 113. Spivak bezieht sich hier auf den britischen Imperialismus. 36 Deutsche Kolonialausstellung, 1896, S. 19. 37 Vgl. dazu unter vielen anderen: Hilke Thode-Arora: Für fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen, Frankfurt am Main u.a. 1989.
Deutsche Kolonien und deutsche ‚Heimat‘ in der Berliner Gewerbeausstellung 1896
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te Christen, nicht jene heidnischen ‚Wilden‘, von denen in propagandistischen Schriften die Rede war.38 Um die Kolonialisierten mit den deutschen Kolonisatoren in Verbindung zu bringen, griff Lindenberg nicht auf Märchenbücher oder Reiseberichte zurück, sondern auf die Vergangenheit: die Lokalgeschichte Berlins und Brandenburgs. „Blickt man über den Wasserspiegel des Karpfenteichs, so sieht man links die Thürme und Häuser des alten Berlin aufragen, während rechts einige seltsame Hütten an den Teich herangebaut worden sind (...); vor ihnen, nahe einem scheusslichen Götzenbilde, tummeln sich dunkle, halbentblösste Gestalten umher, die jetzt eins der roh gezimmerten, langen, scheinbar sehr schwerfälligen Boote besteigen und mit ihnen pfeilschnell die Wogen durchschneiden. Landsleute sind's von uns, diese fremdartigen Gesellen mit ihrem dichten, fetteingeriebenen Haar, ihren Tätowirungen an Gesicht und Brust, ihrem musculösen Körperbau, Leute aus Neu-Guinea; denn jene seltsamen Ansiedlungen dort bilden einen Theil der Deutschen Kolonial-Ausstellung, und ein eigenthümlicher Zufall will es, dass dieselbe in die unmittelbare Nachbarschaft Alt-Berlins gerückt wurde – hatte doch der Grosse Kurfürst bekanntlich schon einen nicht unbedeutenden brandenburgischen Kolonialbesitz in Afrika geschaffen.“39
Statt über Märchen vom wundervollen Anderen entstand eine Verbindung von kolonialisierten Menschen zu den Deutschen über das Moment der Geschichte. Lindenbergs Vision ist ein mehrschichtiger Vergleich, der „Alt-Berlin“ und die nachgebauten Kolonialdörfer zwar visuell kontrastiert, doch auch ihre Gemeinsamkeiten identifiziert. Er stellte die Kolonialdörfer als territoriale Besitzungen des Deutschen Reiches dar und ihre Bewohner/innen als „unsere Landsleute“. Die damals populäre Umschreibung der Kolonialisierten als deutsche ‚Landsleute‘ war Teil der politischen Strategie, den Status der Untertanen zu euphemisieren und zu popularisieren, reflektiert jedoch auch ihren juristischen Status bezüglich der Staatsangehörigkeit: Nach dem Schutzgebietsgesetz von 1888 konnten ‚Eingeborene‘ der deutschen ‚Schutzgebiete‘ ohne Einschränkungen in die deutsche Reichsangehörigkeit aufgenommen werden.40 Erst nach der Jahrhundertwende nahmen die Forderungen und Maßnahmen (wie Mischehenverbote in einigen Kolonien) zu, dieses Recht zu beschneiden und Staatsangehörigkeit mit ‚Rasse‘ gleichzusetzen, was jedoch bei der Staatsangehörigkeitsreform von 1913 nicht gesetzlich verankert wurde.41 Mit der populären Formulierung ‚unsere Landsleute‘ dehnte Lindenberg im Jahr 1896 das deutsche Territorium ins geografisch Andere aus und nahm eine 38 Vgl. Schnitter: Zur ersten deutschen Kolonialausstellung, 1996, S. 121f. Zur Rolle der Missionen im Rahmen der Kolonialausstellung vgl. u.a. Ulrich van der Heyden: Südafrikanische „Berliner“. Die Kolonial- und die Transvaal-Ausstellung in Berlin und die Haltung der deutschen Missionsgesellschaften zur Präsentation fremder Menschen und Kulturen, in: Gerhard Höpp (Hrsg.): Fremde Erfahrungen. Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und in der Schweiz bis 1945, Berlin 1997, S. 134–156. 39 Pracht-Album, 1896, S. 52. 40 Vgl. Dieter Gosewinkel: Rückwirkungen des kolonialen Rasserechts? Deutsche Staatsangehörigkeit zwischen Rassestaat und Rechtsstaat, in: Sebastian Conrad, Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 236–256, hier S. 243. 41 Vgl. ebd., S. 252.
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staatliche Eingemeindung von Gruppen der Fremden ins Deutsche vor. Dieser Gegenwart verlieh er eine politisch-historische Vorgeschichte in dem Hinweis, dass Fürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg ab 1683 in Afrika preußischen Kolonialbesitz erlangte, ungefähr in jener Zeit, in die „Alt-Berlin“ versetzen sollte. In der Ausstellung von 1896 wurde damit einer Vergangenheit gedacht, die zur Legitimation der Gegenwart, des imperialen Zeitalters diente: Lindenberg produzierte eine Berlin-brandenburgische Kolonialgeschichte und machte das Andere zum durch die Vergangenheit legitimierten Deutschen. Das Andere in der Kolonialausstellung war demnach nicht nur das Andere des Orientalismus, sondern zugleich das Deutsche und damit ein Hybrid. ‚Kolonie‘ und ‚Heimat‘ wurden nicht nur als Opponenten von Eigen und Fremd gekennzeichnet, sondern auch als anzunähernde und anzugleichende Einheiten in einem imperialistischen, wirtschaftlichen und pädagogischen Programm konstruiert: Die ‚Kolonien‘ sollten für deutsche Auswanderer zur ‚Heimat‘ werden, die Kolonisierten zu deutschen Tugenden ‚erzogen‘ werden. Über das Moment der Geschichte wurde hier wenn nicht Einheit und Identität, so doch zumindest Gemeinsamkeit hergestellt. Vereinnahmungen von Raum und von Zeit griffen ineinander. Diese Strategie entspricht jener Operation der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts etablierenden Ethnologie, die Johannes Fabian in Time and the Other identifiziert hat. Diese Wissenschaft habe sich – nachdem im 19. Jahrhundert die Zeit im Sinne des linearen Fortschreitens naturalisiert und säkularisiert worden sei – der Herrschaft über die Zeit als Ergänzung zur Herrschaft über den Raum bedient und ihre Untersuchungsobjekte, die ‚Wilden‘, selbst hergestellt: „[The anthropologists] required Time to accommodate the schemes of a one-way-history: progress, development, modernity (and their negative mirror images: stagnation, underdevelopment, tradition). In short: geopolitics has its ideological foundation in chronopolitics.“42
Wie Fabian ausführt, nutzten Ethnologen Strategien der Distanzierung, um die ‚Wilden‘ nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich von ihrer eigenen Position im now und here zu entfernen und diese in einer Verschränkung der Parameter there und then anzusiedeln.43 Konkret bedeutet dies, dass Wissenschaftler die untersuchten Menschengruppen aus den ‚Naturvölkern‘ ferner Länder auch in eine andere Zeit, eine Vorzeit verwiesen und ihnen die Gleichzeitigkeit mit sich selbst, der beschreibenden Macht, verwehrten („denial of coevalness“). Sie wurden nach der populären Auffassung des 19. Jahrhunderts auf eine frühere Stufe in der ‚Naturgeschichte‘ der Menschheit versetzt, die sich unter anderem durch das Fehlen von Industrie und Technik auszeichnete. Die Anderen waren Geschichte, Archaik, obwohl sie zeitgleich lebten. Diesem Argument folgend, lässt sich der Bezug zwischen den Sonderteilen „Alt-Berlin“ und der „Deutschen Kolonial-Ausstellung“ im Jahr 1896 über die Konstruktion einer Geschichte der kolonialen Herrschaft noch vertiefen. Während 42 Johannes Fabian: Time and The Other. How Anthropology Makes its Object, New York/Chichester 2002 (1983), S. 144. Der amerikanische Begriff „Anthropology“ wird hier vereinfachend mit Ethnologie übersetzt. 43 Vgl. ebd., S. 27.
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„Alt-Berlin“ die Vorgeschichte des modernen Berlins und Brandenburgs darstellte, also ein here und then, standen die afrikanischen und ozeanischen Dörfer für ein there and then, deren zeitliche Einordnung sich wiederum am then des alten Preußen messen ließ. In damals gängigen Stereotypen erläuterte der Ausstellungsführer etwa über „Das Dorf Tarawai“ in Papua-Neuguinea: „(...) es ist nicht zu übersehen, dass die Papuas z.Th. noch im Alter der Steinzeit leben und mit ihren steinernen Werkzeugen nicht nur die Stämme behauen.“44 In der Populärgeschichte drückte sich die behauptete Differenz über die Unterscheidung zwischen ‚Naturvölkern‘ und ‚Kulturvölkern‘ wie folgt aus: Die ‚Naturvölker‘, so das zeitgenössische Argument, besäßen keine Schrift und damit keine Geschichtsschreibung und müssten für sich selbst in der Geschichtslosigkeit verharren, während sie im evolutionären Sinne in der Geschichte weit zurück waren. Geschichte, genauer: imaginierte Vorgeschichte diente hier als eine Strategie des Othering, der Differenzherstellung, während Geschichte zugleich als Maßstab galt, der es erlaubte, „Alt-Berlin“ und die Kolonialdörfer aneinander zu messen. Die Herrschaft über die Zeit erlaubte es deutschen Besucher/innen um so mehr, den Fortschritt der ‚Zivilisation‘ und der Industrialisierung zu goutieren, dessen Import sogar eine Parallelgeschichte in der Kolonialausstellung produzierte: Während die heidnischen Menschen die ‚Wilden‘ darstellen sollten, wurde an den Missionierten demonstriert, wie sie den Umgang mit Maschinen erlernten und damit für Erfolge der deutschen Rolle in den Kolonien standen.45 Insgesamt lassen sich die Sonderteile „Alt-Berlin“ und die Kolonial-Ausstellung als Vorgeschichte zu dem interpretieren, was die eigentliche Berliner Gewerbeausstellung ausmachte: wirtschaftliche Potenz, Industrie, Überproduktion und überregionaler Handel mit Waren, ‚Zivilisation‘ im Sinne von sozialen und kulturellen Errungenschaften. Somit unterstützten die Sonderteile die ganz allgemeine Fortschritts- und Erfolgserzählung der Großausstellung. Die kolonialisierten Anderen wurden dabei sowohl staatlich-territorial als auch historisch in das Deutsche inkorporiert, sollten aber visuell anders sein und bleiben. Dies entspricht der Ambivalenz des Diskurses der Kolonisatoren, in dem das kolonisierte Subjekt sowohl der ‚Wilde‘ als auch der zivilisierte Diener sein kann, wie Homi Bhabha herausgestellt hat.46 Das Label Geschichte im Sinne von Vorgeschichte fungierte in den Publikationen zur Gewerbeausstellung von 1896 nicht nur als eine Vereinnahmungsstrategie, sondern auch als ein visuelles Markenzeichen, das sich bereits bei vorangegangenen Völkerschauen und Kolonialausstellungen als publikumswirksam erwiesen hatte. Nichtsdestotrotz wurde der Status der Menschen aus deutschen Kolonien als prekär empfunden und unter anderem von christlichen Gruppen kritisiert: Nachdem die deutsche Regierung bereits 1891 das Anwerben von Arbeitskräften in den Kolonien zur Ausfuhr untersagt hatte, fügte sie, als eine 44 Deutsche Kolonialausstellung, 1896, S. 22. 45 Vgl. dazu die Erläuterungen des Kolonialhistorikers Ulrich van der Heyden in dem Film „Die Pyramiden vom Treptower Park“, s.u. 46 Vgl. Homi Bhabha: The Other Question: Stereotype, Discrmination and the Discourse of Colonialism, in: Ders.: The Location of Culture, London, New York 2004 (1994), S. 94–120.
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Spätfolge unter anderem der Berliner Gewerbeausstellung von 1896, im Jahr 1901 für die meisten Kolonien das Verbot der Anwerbung von Menschen zu „Schaustellungszwecken“ hinzu.47
1996: Heimatmuseum Treptow, ehemaliges Rathaus Johannisthal (Berlin) Im Jahr 1996 präsentierte das Heimatmuseum Treptow, im ehemaligen Rathaus Johannisthal 1990 gegründet und ebenda 1991 auch eröffnet, eine „Jubiläumsexposition“, seine bis dato größte und längste Ausstellung: Die verhinderte Weltausstellung – 100 Jahre Berliner Gewerbeausstellung 1896 in Treptow.48 Das Heimatmuseum Treptow, das heute ebenso wie das Heimatmuseum Köpenick und die Gedenkstätte „Köpenicker Blutwoche 1933“ vom Fachbereich Heimatmuseum Treptow-Köpenick betreut wird, kam damit seiner Aufgabe nach, „die Geschichte des Bezirkes“ darzustellen.49 Mit der Jubliäumsausstellung erinnerte es an ein Kapitel der Lokalgeschichte, das selbst eine Ausstellung gewesen war. Damit stellte es sich der Herausforderung, einer Ausstellung in Form einer Ausstellung zu gedenken und eine „Ausstellungs-Ausstellung“50 zu veranstalten, also nicht nur Lokalgeschichte, sondern auch Ausstellungsgeschichte auszustellen. Zur Jubiläumsschau von 1996 erschien kein Katalog, sondern ein gleichnamiger Band mit Abbildungen der historischen Ausstellung51 sowie ein inzwischen vergriffener 47 Vgl. Harald Sippel: Rassismus, Protektionismus oder Humanität? Die gesetzlichen Verbote der Anwerbung von „Eingeborenen“ zu Schaustellungszwecken in den deutschen Kolonien, in: Robert Debusmann, János Riesz (Hrsg.): Kolonialausstellungen – Begegnungen mit Afrika?, Frankfurt am Main 1995, S. 43–64. 48 Ausstellung des Heimatmuseums Treptow vom 1.5.1996 bis 30.4.1997. Projektleitung: Barbara Spitzer; Ausstellungsidee und -konzeption, wissenschaftliche Ausarbeitung und Recherche: Petra Crome, Horst Köhler, Dr. Daniela Schnitter, Barbara Spitzer; Ausstellungskonzeption und -gestaltung: Christiane Fritz; Modellbau: Günther Plathe; Ausstellungsbau: Harald Lauterbach, Reiner Will. 49 Vgl. Heimatmuseum Treptow: Flyer des Bezirksamtes Treptow-Köpenick, 2. Aufl., März 2009. Das Museum im Rathaus Johannisthal wurde ab 1990 aufgebaut, 1991 eröffnet und seit 1993 durch den Förderverein für das Heimatmuseum Treptow unterstützt, vgl. http://www.heimatmuseum-treptow.de/sites/geschichte_trep.htm; letzter Zugriff 24.7.2013. 2012 erfolgte die Zusammenlegung der Museen Treptow und Köpenick mit Ausrichtung auf den Standort Köpenick. Im ehemaligen Rathaus Johannisthal ist nur noch die Treptower Dauerausstellung verblieben. Nachdem sich daraufhin der Förderverein im Januar 2013 aufgelöst hatte, wurde im März 2013 der Freundeskreis Heimatgeschichte Treptow gegründet, der nunmehr das Museum unterstützen will. 50 Das Beispiel, das Gottfried Korff zu diesem von ihm so genannten Ausstellungstyp anführt, ist allerdings eine Retrospektive auf Kunstausstellungen. Vgl. Gottfried Korff: Zielpunkt: Neue Prächtigkeit? Notizen zur Geschichte kulturhistorischer Ausstellungen in der „alten“ Bundesrepublik (1996), in: Ders.: Museumsdinge. deponieren – exponieren, hrsg. von Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König, Bernhard Tschofen, Köln et al. 2006 (2002), S. 24– 48, hier S. 24 u. Anm. 3. 51 Bezirksamt Treptow von Berlin (Hrsg.): Die Berliner Gewerbeausstellung 1896 in Bildern, Berlin 1997.
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Studienband mit informativen und differenzierten Aufsätzen.52 Beide Bände enthalten keine Dokumentation der eigentlichen Ausstellung und ihrer Displays. Der Rückgriff auf Akten im Archiv des Heimatmuseums Köpenick förderte ebenfalls keine Fotos oder visuelle Dokumentation zutage: Historische Ausstellungen als ephemere Ereignisse werden selten detailliert dokumentiert.53 Da die Quellenlage bezüglich der konkreten räumlichen und gegenständlichen Gestaltung der Ausstellung extrem dürftig ist, kann ihre Untersuchung nur höchst lückenhaft und eingeschränkt erfolgen. Aus einem für die Besucher/innen auf einem einzelnen DIN-A4-Blatt ausgedruckten „Wegweiser durch die Ausstellung“54 erschließt sich, dass die erste Etage des Rathauses der Architektur, dem Areal und der Verkehrsanbindung der Ausstellung von 1896 gewidmet war. In der zweiten Etage zeigte ein Raum Arbeitsgremien, Management und Souvenirs der historischen Ausstellung, ein zweiter Raum thematisierte die 22 Gruppen der Gewerbeausstellung mit Einblicken in Aussteller und Exponate und ein dritter Raum die Sonderteile. Mit welchen Möglichkeiten bespielten die Verantwortlichen die Räume, welche Medien benutzten sie? Reflektierten sie die Räumlichkeit, die Dreidimensionalität und Objektbezogenheit der historischen Ausstellung? Die erhaltenen Konzeptpapiere machen deutlich, dass die monumentale und vielfältige Architektur der Gewerbeausstellung vor allem über Modelle repräsentiert wurde. Hier lässt sich von einer Strategie der dreidimensionalen Miniaturisierung sprechen, die zugleich räumlichkonkret und metaphorisch ist: Die Miniaturen stehen als Index und als pars pro toto für die gewesene große Ausstellung. Des Weiteren verwendeten die Ausstellungsmacher/innen Praktiken des Imitierens. So wurden etwa jene Postkarten zum Verkauf nachgedruckt, die auch auf der Ausstellung von 1896 erworben werden konnten, und zur Eröffnung am 1. Mai 1996 wurde eine historische Tram gebucht, die die Besucher/innen vom S-Bahnhof Schöneweide zum Rathaus Johannisthal fuhr,55 so wie 1896 Extrabahnen die Besucher/innen aus Berlin zum Treptower Park gebracht hatten. Schließlich wurden authentische Objekte, die auf der historischen Ausstellung 1896 zu sehen oder zu kaufen gewesen waren, ausfindig gemacht und präsentiert. Explizite Aufrufe des Teams für die Jubiläumsausstellung56 führten dazu, dass das Heimatmuseum damalige „Souvenirartikel“ erhielt, etwa einen Wandteller mit dem Motiv „Kairo“. Die Präsentation von authentischen 52 Vgl. Kaeselitz: Die verhinderte Weltausstellung, 1996. „Dieser Band wurde in Verbindung mit der Ausstellung im Heimatmuseum Treptow anläßlich des 100. Jahrestages der Berliner Gewerbeausstellung 1896 erarbeitet“ (Impressum). 53 Vgl. Monika Flacke: Geschichtsausstellungen. Zum „Elend der Illustration“, in: Philine Helas et al. (Hrsg.): Bild/Geschichte, Berlin 2007, S. 481–490. 54 Museum Köpenick, Archiv, Zeitschriftenarchiv Treptow (ZAT). Für die freundliche Betreuung im Archiv des Museums Köpenick danke ich Regine Wilke. 55 „Gelegenheitsverkehr zur Eröffnung der Ausstellung“ des Denkmalpflege-Vereins Nahverkehr Berlin e.V., 23.4.1996, Museum Köpenick, Archiv, ZAT. 56 Eine offenbar in Gaststätten ausgelegte Bitte zwecks „Schenkungen, Ausleihen, Informationen, überlieferte[n] Erinnerungen und Anregungen“ unter dem Titel „‚Alt-Berlin‘ in der verhinderten Weltausstellung“ findet sich in den Unterlagen des ZAT im Archiv des Museum Köpenick.
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Exponaten verfolgt eine Operation des Wieder-Holens, eine Strategie der Wiederholung. Verfahren des Miniaturisierens, des Imitierens und des Wiederholens dienten 1996 insgesamt der Authentifizierung des Rückblicks. Zur geschichtspolitischen Motivation geben unveröffentlichte Konzepte Auskunft: Die Jubiläumsausstellung zeige sich dem historischen Gedanken verpflichtet, „indem sie an erfolgreiche vergangene Zeiten erinnert, wirtschaftliche Traditionen vor Augen führt und für die Zukunft gedeihliche Impulse ausstrahlen möchte“, sogar „der Menschheit Wege ins nächste Jahrtausend vorzeichnen und vorschlagen kann“.57 Auch der nostalgisch-affirmative Titel Die verhinderte Weltausstellung manifestierte das Bestreben, die Weltausstellungsqualitäten der historischen Schau in Projektion auf die ab 1992 vorbereitete EXPO 2000 in Hannover als erste offizielle Weltausstellung hervorzuheben. Die Lokalgeschichte Treptows wurde so als wichtige und einzige Vorgeschichte in die deutsche Weltausstellungsgeschichte eingeordnet, wobei Weltausstellungen in Deutschland als grundsätzlich positiv und produktiv galten. Heimatgeschichte wurde als lokale Geschichte in der nationalen deutschen Geschichte positioniert. Wenn Heimatmuseen „die Aufgabe der Findung und Bewahrung von regionaler Identität“ übernehmen,58 so erfüllte die Jubiläumsausstellung des Heimatmuseums Treptow diese Aufgabe einerseits durch die Präsentation Treptow-Köpenicks als historisch bedeutsamen Standort. Dies korreliert mit dem gewachsenen Bedarf an Verhandlungen über deutsche und deutsch-deutsche Identitäten, der in der Nachwendezeit zur Gründung des Heimatmuseums Treptow im ehemaligen Ostberlin beitrug. In der Ausstellung von 1996 wurde zwar die Verwaltung des Territoriums und die infrastrukturelle Aufwertung der Landgemeinde Treptow im Jahr 1896 dargestellt, doch blieb eher wenig untersucht, inwiefern die Region inhaltliche Beiträge zur Berliner Gewerbeausstellung 1896 leistete: Die Erwähnung der Seidenfärberei von Wilhelm Spindler in Köpenick, die in der Fachgruppe I zur Textilindustrie ausstellte, scheint ein vereinzeltes Beispiel zu sein.59 Regionale Identität stellte die Jubiläumsausstellung andererseits her, indem sie die historische Ausstellung von 1896 als unabdingbare Vorgeschichte der deutschen Weltausstellungen, also der nationalen Geschichte präsentierte. Ein weiteres Anliegen des Ausstellungsteams erwähnt ein Arbeitspapier: „mit der kritischen Wertung der historischen Ausstellung wird die Zeitkritik zum einen reflektiert und zum anderen aus heutiger Sicht eine Einschätzung vorgenommen, bei der der soziale Aspekt – der Lage der arbeitenden Klassen – Berücksichtigung findet“.60 Inwiefern im Display die Situation der 1896 und/oder 1996 zeitgenössischen Arbeiter/innen nachgezeichnet wurde, lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht sagen. Den damals weltausstellungsverdächtigen Zusätzen widmete eine Information zur fertigen Ausstellung einen kurzen Satz: „Sachlich-kritisch werden 57 Pressearbeit: Das Weiterleben des Ausstellungsgedankens, undatiert, Archiv des Museum Köpenick, ZAT. 58 Vgl. Andreas Grote: Vorbemerkung, in: Martin Roth: Heimatmuseum. Zur Geschichte einer deutschen Institution, Berlin 1990, S. 9-10, hier S. 9. 59 Vgl. Die Berliner Gewerbeausstellung 1896 in Bildern, 1996, S. 33. 60 Offenbar Entwurf für „Pressematerial“, undatiert, Archiv des Museum Köpenick, ZAT.
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die ambivalenten Sonderteile der Gewerbeausstellung, wie die ,1. Deutsche Kolonialausstellung' und die ‚Marine-Schauspiele‘ gewertet.“61 Inwiefern diese Kritik ins Ausstellungsdisplay eingebracht wurde, ist nicht nachzuzeichnen, doch legen die Begleitpublikationen die Vermutung nahe, dass Kritik vor allem in Textform stattfand. So konstatiert der Bildband in Bezug auf die Kolonialdörfer, den Veranstaltern der Gewerbeausstellung seien „auch Menschen als Exponate recht“ gewesen.62 Deutlich positioniert sich der Studienband, in dem Daniela Schnitter die historischen Kontexte der „ersten deutschen Kolonialausstellung“ untersucht und konstatiert, die „sog. Ausländerproblematik“ in aktuellen politischen Debatten sei „Grund genug, sich kritisch den historischen Vorläufern zuzuwenden“.63 Nichts weist darauf hin, dass die ‚Ausländerproblematik‘ im Allgemeinen und die Situation von Migrant/innen in Treptow im Besonderen in der Jubiläumsausstellung thematisiert wurden, obwohl gerade in diesem Feld „die Einbeziehung von Alltags- und Erfahrungsgeschichte“, der sich das Museum heute verpflichtet fühlt,64 hätte relevant sein können.
Seit 2007: Heimatmuseum Treptow Nach der Sanierung des ehemaligen Rathauses Johannisthal wurde 2007 in der zweiten Etage die Dauerausstellung des Heimatmuseums Treptow eröffnet, die mehrere Kapitel zur Lokalgeschichte umfasst: „frühe Besiedlung unter Friedrich II.“, „Seidenraupenzucht“, „Motorflugplatz Johannisthal“, „Ausflugsziel Treptow“ und schließlich ein Raum zur „Berliner Gewerbeausstellung 1896“. Teile der Jubiläumsexposition von 1996 wurden damit in eine kleine museale Dauerausstellung überführt – wobei diese allerdings eine „Ausstellungs-Ausstellung“, also eine Ausstellung im Jahr 2007 über die Ausstellung im Jahr 1896, ist und nicht den Anspruch erhebt, eine „Ausstellungs-Ausstellungs-Ausstellung“ zu sein, also die ihr vorausgegangene Ausstellung von 1996 auch noch mitzuthematisieren. Dies liegt aber weniger in der Komplexität dieser Aufgabe begründet, als in der Tatsache, dass Objekte aus dem Bestand von 1996 übernommen wurden und die damit verfolgte Geschichtspolitik im Wesentlichen gleichgeblieben ist: Die einführende Texttafel zum übernommenen Titel „Die verhinderte Weltausstellung“ informiert über die historische Ausstellung von 1896, die trotz der fehlenden internationalen Aussteller als „Leistungsschau der Berliner Industrie (…) internationale Bedeutung gefunden und mit Größe und Glanz einer Weltausstellung aufgewartet“ habe.
61 „Das Heimatmuseum Treptow stellt nach fünfjährigem Bestehen sein bisher größtes Projekt vor“, Dokument Archiv des Museum Köpenick, ZAT. 62 Die Berliner Gewerbeausstellung 1896 in Bildern, 1996, S. 27. Ob die Kurztexte in diesem Band identisch sind mit den Texten in der Ausstellung, ließ sich nicht feststellen. 63 Vgl. Schnitter: Zur ersten deutschen Kolonialausstellung, 1996, S. 124. 64 Vgl. http://www.heimatmuseum-treptow.de/index.htm; letzter Zugriff: 24.7.2013.
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Abb. 4: Heimatmuseum Treptow, Raum „Die verhinderte Weltausstellung“. Foto: Britta Lange, mit freundlicher Genehmigung des Heimatmuseums Treptow
Ungebrochen bleibt damit die 1996 vorgetragene affirmative Einschreibung des Lokalen in das Nationale via Ausstellung. Die kritische Positionierung, die 1996 zumindest in den Begleitpublikationen vorhanden war, ist hier nivelliert: Den Weltausstellungsanspruch hätten die Bespielung des riesigen Ausstellungsareals im Treptower Park und die Sonderteile verdeutlicht, so die Einführungstafel. Das räumliche Ausmaß thematisieren in der Dauerausstellung das Architekturmodell der Gebäude am eigens angelegten „neuen See“ sowie an den Wänden hängende Karten. Die Sonderteile werden im Display nicht erläutert, sie fehlen in dem Reigen von Medien (Fotografien des Berliner Gewerbes, Pläne, Karten), faltbaren Spielzeugpanoramen, Miniaturen, Imitaten und wieder-geholten Objekten. Unter Letzteren befinden sich neben einem Original-Plakat von Sütterlin vor allem Souvenirs der Berliner Ausstellung, etwa ein Glas, das anlässlich des Ausstellungsbesuches eines heimlich verlobten Paares in der Gewerbeausstellung graviert wurde
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und das ein Urenkel dem Museum stiftete. Die von ihm aufgeschriebene Geschichte dieses Objekts, seiner Reise durch Deutschland und schließlich zurück nach Treptow fast 100 Jahre später löst auf anschauliche Weise den Anspruch der lokalen Museumsarbeit ein, „Alltags- und Erfahrungsgeschichte“ über ein tatsächliches Wieder-Holen aufzuarbeiten. Zugleich macht sie sinnfällig, wie sehr einerseits Lokalgeschichte mit überregionaler oder nationaler Geschichte verwoben ist, wie sehr andererseits der Heimatbegriff an Orte und Objekte geheftet ist. Folgt man den Vorschlägen von Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch, in Ausstellungsdisplays „das Zusammenwirken aller Ausstellungselemente in den Blick zu nehmen und den dabei produzierten Sinnzusammenhängen nachzugehen“,65 so bedeutet dies auch, zunächst das Gegebene, das zu Sehende, zu Hörende, das räumlich Erfahrbare zu untersuchen, ohne Quellen wie Absichtserklärungen der Kurator/innen heranzuziehen. In der heutigen Retrospektive auf die Berliner Gewerbeausstellung von 1896 ist nach einer solchen Bestandsaufnahme kein weiterer Hinweis auf die als weltausstellungsverdächtig angesprochene „Deutsche Kolonialausstellung“ zu finden. Für die Besucher/innen ohne Vorwissen entsteht ein Argumentationsdefizit – solange der Fernseher wie auf dem virtuellen Rundgang im Internet ausgeschaltet ist.66 Sowohl die Beschreibung der Kolonialausstellung als auch ihre kritische Reflexion haben die Ausstellungsmacher/innen an Ausschnitte aus der 2005 entstandenen TV-Dokumentation „Die Pyramiden vom Treptower Park“67 abgegeben. Erst wenn man als Besucher/in darum bittet, das installierte DVD-Gerät einzuschalten, erscheinen auf dem Fernseher plötzlich abgefilmte Fotos von schwarzen Menschen in Booten oder vor Hütten – stumm und kommentarlos, denn der Ton ist derzeit „kaputt“. Da so der durchaus kritische Kommentar entfällt, sind die Bilder für die Betrachter/innen weder historisch noch räumlich einzuordnen. Es bleibt unklar, ob es sich hier um eine Selbstpräsentation afrikanischer Staaten handelt (wie sie von modernen Weltausstellungen erwartet wird) oder um eine deutsche Inszenierung der Fremden. Die Bilder reduzieren sich zu einem visuellen Spektakel, das durch ausgeschnittene Pappfiguren in Lebensgröße, die auf den Bildschirm schauen, noch verstärkt wird. Schaulust am geschichtslos Anderen oder geschichtlich ‚Primitiven‘ wird damit nicht reflektiert, sondern perpetuiert: Bekleidete und ‚zivilisierte‘ Betrachter/innen, verdoppelt oder gespiegelt in den Ausschneidepuppen der historischen Besucher/innen, schauen als Subjekte auf die entkleideten Anderen, die einmal mehr zu ausgestellten Objekten werden. Die Kolonialausstellung ist Lokalgeschichte geworden, und die kolonialisierten Anderen sind nicht mehr there und then, sondern here und then und zugleich kommentarlos in die Gegenwart gesetzt. Die Anderen im Heimatmuseum werden zur eigenen Geschichte, ohne dass die komplexe Verflechtung von Deutschem und Fremden – und die ihr zugrunde liegenden kolonialen 65 Vgl. Roswitha Muttenthaler, Regina Wonisch: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld 2006, S. 38. 66 URL: http://www.heimatmuseum-treptow.de/sites/virtuellerrundgang_trep.htm; letzter Zugriff: 24.7.2013. 67 TV-Dokumentation von Jürgen und Daniel Ast, 2005, Erstausstrahlung: Rundfunk BerlinBrandenburg, 15.12.2005.
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Machtverhältnisse – entschlüsselbar wären. Doch auch mit funktionierendem kritischem Kommentar würde deutlich, dass an die deutschen Kolonien nur deshalb erinnert wird, weil sie Teil der als Standortfaktor verstandenen Gewerbeausstellung von 1896 waren.
Fazit Die „1. Deutsche Kolonialausstellung“ auf der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 sollte mit der Präsentation von 103 Menschen aus den ‚Schutzgebieten‘ die deutsche Kolonialherrschaft (und ihre weitere Ausdehnung) legitimieren und popularisieren. Über Strategien des Othering wurden die ausgestellten ‚Eingeborenen‘ dabei zwar als Andere der deutschen Identität konstruiert, doch in den ethnografischen Dörfern als lebende Erfolgsbeispiele der deutschen ‚Erziehung‘ und ‚Zivilisierung‘ präsentiert sowie diskursiv als ‚unsere Landsleute‘ in das Deutsche inkorporiert. Im Rahmen dieser Vereinnahmungsstrategien fungierte Geschichte als Argument, indem nicht nur die brandenburgische Geschichte als legitimierende Vergangenheit erinnert wurde, sondern „Alt-Berlin“ und die in der Geschichte ‚zurückgebliebenen‘ Eingeborenen als gemeinsame Vorgeschichte und Bedingung des industriellen Fortschritts des Deutschen Reiches charakterisiert wurden. Die Retrospektive von 1996 auf die historische Ausstellung entsprach dem Anliegen des Heimatmuseums Treptow, Lokalgeschichte auszustellen und regionale Identifikation zu schaffen. Die „Ausstellungs-Ausstellung“ zum 100. Jubiläum der Gewerbeausstellung präsentierte die historische Kolonialausstellung mit kritischem Auge, ohne jedoch darauf einzugehen, welche Wechselwirkungen zwischen der ‚Heimat‘ Treptow und der Kolonialausstellung entstanden. Ebenso thematisiert die auf der Jubiläumsausstellung basierende, 2007 eingerichtete Dauerausstellung im Heimatmuseum Treptow die historische Kolonialausstellung nicht zur produktiven Infragestellung oder Historisierung des Heimatbegriffs. Der trotz kritischer Bemerkungen zu den Sonderteilen insgesamt affirmative Bezug auf die Gewerbeausstellung von 1896 veranlasste die Kurator/innen nicht dazu, Kolonialgeschichte als solche zu behandeln. Geschichte – auf Ausstellungsgeschichte reduziert – ist hier ein Argument für die Aufwertung des Standorts ‚Heimat‘.
DIE STAUFERAUSSTELLUNGEN VON 1977 UND 2010/11. ZUR MOTIVIK UND ENTWICKLUNG HISTORISCHER GROSS- UND LANDESAUSSTELLUNGEN Martin Große Burlage
Zusammenfassung: Vor nunmehr 36 Jahren begann die bis heute anhaltende Erfolgsgeschichte historischer Groß- und Landesausstellungen. Um die Entwicklung sowie die Beweggründe und Funktionen dieser Sonderpräsentationen zur Geschichte offenzulegen, untersucht der vorliegende Aufsatz zwei thematisch und epochal eng verwandte Großexpositionen exemplarisch, die als Anschauungsbeispiele beinahe den gesamten Zeitraum vom Beginn der Entwicklung bis heute umrahmen: die Stauferausstellungen von 1977 in Stuttgart und von 2010 in Mannheim. Im Fokus stehen dabei neben der Motivik der Ausstellungsmacher und Besucher vor allem auch Wandlungen und Konstanten in der Entwicklungsgeschichte der Ausstellungen sowie Perspektiven und Gefahren der historischen Großprojekte. Abstract: It has been 36 years now since the successful history of major and countypromoted historical exhibitions began. In order to show the development as well as the incitement behind and the functioning of these special presentations of historical epochs the essay at hand exemplarily analyzes two thematically and chronologically closelyrelated major exhibitions incorporating almost the complete period of time in question, from the beginning of its development until today: The exhibitions about the 'Staufen era' in Stuttgart 1977 and in Mannheim 2010. Next to the exhibition organizers' and visitors' motivation the focal point hereby lies not only on alterations and constants in the exhibitions' developmental histories but also on future perspectives and dangers of major historical projects.
Unter den musealen Instrumenten der Geschichtspräsentation und -erläuterung ragt eine Form als Speerspitze des Ausstellungswesens deutlich heraus: die temporär begrenzten historischen Sonderausstellungen, die sich einem übergeordneten Thema widmen. Im Gegensatz zu Dauerausstellungen können sie auch auf Objekte anderer Institutionen aus dem In- und Ausland im Rahmen von zeitlich begrenzten Leihgaben zurückgreifen und so ein umfassenderes und repräsentativeres Bild der jeweils behandelten Thematik bieten. Inwieweit das Narrative einer Ausstellung oder die Dokumentation dabei dominierend ist, richtet sich jeweils nach den Intentionen der Kuratoren, die zugleich die richtige Dosierung der von den Besuchern zu leistenden notwendigen Aneignungsarbeit austarieren müssen. Unter den Sonderausstellungen sind die historischen Groß- und Landesausstellungen die erfolgreichste Form. Sie waren es, die den bis heute anhaltenden Ausstellungsboom auslösten und diesen auch heute noch befördern. In den 1990er-Jahren
Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 87–100
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kulminierte diese Entwicklung in einer wahren Flut historischer Großexpositionen. Dachten viele zum Jahrtausendwechsel, die Anzahl dieser Glanzlichter der musealen Welt würde langsam abnehmen, kann man heute das Gegenteil feststellen. Sogar die Finanzkrise konnte der Anzahl an Großprojekten bisher kaum etwas anhaben. Tatsächlich haben sich die Groß- und Landesausstellungen in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts als Aushängeschilder museal-historischer Vermittlung endgültig etabliert, nicht zuletzt auch durch die in ihrem Rahmen erscheinenden, auf den aktuellsten Forschungsständen beruhenden wissenschaftlich erarbeiteten Begleitpublikationen, die in vielen Fällen zu Standardwerken avancieren. Auch so manch, oft allzu provokant formulierte oder wirkende Forderung nach einer Reduktion oder gar Halbierung solcher Aktivitäten im Kulturbereich angesichts stetig klammer Kassen der Bundesländer konnte die gesellschaftliche und politische Diskussion bisher nicht maßgeblich beeinflussen. Woher aber kommt diese große Anziehungskraft historischer Großausstellungen und warum werden sie veranstaltet? Die Gründe dafür sind zweifellos vielfältig. Um sie genauer herauszuarbeiten, muss man sich die Entwicklung der historischen Groß- und Landesausstellungen bis heute vor Augen führen und näher beleuchten. Die folgende Untersuchung gibt, nach einer einführenden Skizze zur Geschichte historischer Großausstellungen in Westdeutschland bis 1977, anhand von zwei thematisch eng verwandten Großexpositionen einen Überblick über die Entwicklung der historischen Groß- und Landesausstellungen und der ihnen zugrunde liegenden Motive. Von vornherein boten sich dabei im Rahmen einer exemplarisch orientierten Darstellung zwei Ausstellungen als Anschauungsbeispiele an: die als Prototyp aller Landesausstellungen geltende Landesschau Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur von 1977 und die 2010/2011 präsentierte Drei-Länder-Ausstellung Die Staufer und Italien. Drei Innovationsregionen in Europa, die dieselbe Epoche und Dynastie in den Mittelpunkt stellten und beinahe den gesamten Zeitraum vom Beginn der Entwicklung bis heute umrahmen.1
Ausstellungen bis 1977 Die ersten in der jungen Bundesrepublik Deutschland veranstalteten Sonderschauen waren reine Kunstausstellungen, aus denen die sogenannten Sacra-Ausstellungen, die vor allem Kostbarkeiten kirchlicher Kunst darboten, als Großereignisse herausragten, darunter: Ars Sacra (München 1950), Westfalia Sacra (Münster 1951/52) und Franconia Sacra (Würzburg 1952). Mit der Jubiläumsschau Der Türkenlouis 1655–1707 im Jahr 1955 präsentierte das Badische Landesmuseum Karlsruhe eine erste personengeschichtliche Großausstellung, die aber trotz der historischen Grundthematik dem kunsthistorischen Aspekt eindeutig den Vorrang 1
Die Ausführungen zu den Ausstellungen bis 1977 und zur Stauferausstellung von 1977 basieren im Wesentlichen auf meiner Dissertation: Martin Große Burlage: Große historische Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland 1960–2000, Münster 2005.
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gab. Ein Jahr später folgte mit der Essener Schau Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr die erste überregional bedeutende Großausstellung, die der Geschichte gegenüber der Kunstgeschichte einen zumindest gleichrangigen Stellenwert einräumte. Ihr folgten jedoch zunächst keine weiteren derartigen Großprojekte. Erst 1963 zeigte das Kölnische Stadtmuseum mit der Exposition Monumenta Judaica die erste Großausstellung mit einem dezidiert historischen Ansatz. In den sich anschließenden Ausstellungen war der kunstgeschichtliche Aspekt wieder beherrschend. Für die Jahre 1972, 1973 und 1976 sind dann drei sehr unterschiedliche Großausstellungen zu nennen: zum einen die anlässlich der Olympischen Spiele 1972 initiierte Landesausstellung Bayern. Kunst und Kultur mit eindeutigem Schaucharakter, zum anderen die Kölner Ausstellung Hanse in Europa mit einem historischen Ansatz und schließlich die Landesausstellung Kurfürst Max Emanuel. Bayern und Europa um 1700 mit einem ausgewogenen historisch-kunsthistorischen Ansatz. Die drei Beispiele verdeutlichen, dass bis über die Mitte der 1970er-Jahre hinaus, kein einheitlicher Typus großer historischer Ausstellungen existierte.
Trendwende 1977: Die Zeit der Staufer – Anlässe, Beweggründe, Intentionen Die Landesausstellung Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur wurde offiziell anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Bundeslandes Baden-Württemberg vom 26. März bis zum 5. Juni 1977 im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart präsentiert. Tatsächlich jedoch war eine im Stil der frühen SacraAusstellungen 1973 in Augsburg dargebotene Sonderschau mit dem Titel Suevia Sacra. Frühe Kunst in Schwaben Auslöser und Triebfeder der von Ministerpräsident Hans Filbinger veranlassten Stauferausstellung. Erst als der zunächst vorrangige Wunsch Filbingers, die Augsburger Schau nach Stuttgart zu holen, aus nachvollziehbaren Gründen ad acta gelegt worden war, wurde ein Ausstellungsprojekt zur Kunst und Kultur der Stauferzeit in Gang gesetzt. Mit dem Beweggrund der Repräsentation einher ging das Ziel der Profilierung des Bundeslandes als deutsche und europäische Kulturregion und der Belebung des Touristengeschäfts, aber auch das der Profilierung der Landesregierung. Man kommt an dieser Stelle nicht umhin, zu fragen, warum nun gerade die Zeit der Staufer (11./12. Jahrhundert) in der Jubiläumsausstellung gewürdigt wurde. Die Antwort fällt recht leicht: Die Staufer prägten die südwestdeutsche, deutsche und europäische Geschichte ihrer Zeit. Die Epoche selbst wird allgemein als Blütezeit mittelalterlicher Kunst angesehen, von der bis heute ein reichhaltiges kulturelles Erbe Zeugnis gibt. Damit waren die Zutaten für eine hochkarätige Präsentation also prinzipiell bereits gegeben. Dazu kommt ein äußerst wichtiger Umstand: Als nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der föderalen Neuordnung als Ergebnis äußerst schwieriger Verhandlungen und Abstimmungen aus drei vorher eigenständigen Ländern das neue Bundesland Baden-Württemberg entstanden war, versuchten die Gründungsväter die, wenn auch weit zurückliegende, gemeinsame Geschichte der Landesteile als verbindendes und integrierendes Element
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symbolträchtig zu etablieren. Dies geschah vor allem durch die Einbeziehung der das ehemalige Herzogswappen Schwabens kennzeichnenden drei staufischen Löwen in das Landeswappen und nicht zuletzt dadurch, dass man im Eingang eines jeden baden-württembergischen Amtsgebäudes die drei staufischen Löwen als Symbol des historischen und kulturellen Erbes aufstellte. Eingedenk dieses frühen Versuchs der Einbeziehung staufischer Geschichte in das Landesbewusstsein des Bundeslandes erscheint die Aufarbeitung und Präsentation dieser Epoche innerhalb einer historischen Ausstellung anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Landes geradezu als logische Konsequenz. Das Aufgreifen einer mittelalterlichen Epoche sollte dabei auch verdeutlichen, dass die deutsche Geschichte nicht erst 1871 oder 1949 und die baden-württembergische Historie nicht erst 1952 ihren Anfang nahm, sondern weitaus früher. Neben das Ziel der Geschichtsvermittlung und der Stärkung des Landesbewusstseins mit identitätsfördernder und landesintegrativer Wirkung im Speziellen trat das der Anregung und Vertiefung von Geschichtsinteresse und -bewusstsein im Allgemeinen. Besonders die Förderung des Bekenntnisses zur eigenen Geschichte, der Erschließung der gesellschaftlichen Wurzeln und der Erkenntnis der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit historischen Abläufen als essentielle Voraussetzung für das Begreifen der Gegenwart und das Gestalten der Zukunft standen dabei im Vordergrund.2 Der Begriff Geschichtsbewusstsein ist dabei zunächst im ursprünglichen Sinne seiner Wortbedeutung zu verstehen: sich der Geschichte bewusst werden. Im engeren Sinne ist hier stets die von Karl-Ernst Jeismann geprägte Auffassung Ausgangspunkt. Das Geschichtsbewusstsein leistet danach die integrative Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart durch das historische Verstehen. Dieses wird erreicht durch die Reflexion und Selbstreflexion, zielgerichtet auf den Sachverhalt, auf das Sachurteil und auf die Wertung von Vergangenheit.3 Die Ausstellung Die Zeit der Staufer sollte im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine Art Signalwirkung hervorrufen für eine stärkere Berücksichtigung der Geschichte in den gesellschaftlichen Bildungsprozessen Deutschlands und einen Anstoß geben „zur Wiederbelebung ernsthaften geschichtlichen Denkens!“4 Ein Ziel war es zudem, die vor allem unter den Nationalsozialisten hervorgerufene Vorstellung einer separierten deutschen Geschichte zu korrigieren und die Förderung einer gemeinsamen europäischen Perspektive zu forcieren. Inhaltlich sollte die Landesschau einen Beitrag leisten zu einer auf aktuellen Forschungsergebnissen basierenden wissenschaftlichen Aufarbeitung und Darstellung der Geschichte der Stauferzeit. Oberstes Ziel war es dabei, die Epoche in
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Siehe dazu Hans Filbinger: Vom Sinn der Ausstellung, in: Reiner Haussherr, (Hrsg.): Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur. Bd. 1, Katalog, Stuttgart 1977, S. VII/VIII. Karl-Ernst Jeismann: Dimensionen nationalgeschichtlichen Bewusstseins, in: Werner Weidenfeld (Hrsg): Geschichtsbewusstsein der Deutschen. Materialien zur Spurensuche einer Nation, Köln 1987, S. 39ff. Filbinger: Vom Sinn der Ausstellung, 1977, S. VIII.
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ihren politischen, sozialen, künstlerischen und religiösen Erscheinungen und Zusammenhängen in möglichst lebendiger Weise zu veranschaulichen.5 Die Vermittlung des aktuellen Forschungsstands sollte auf drei Ebenen erreicht werden: durch die Darstellung innerhalb der Ausstellung selbst, durch die Begleitpublikationen und durch zwei historische und kunsthistorische Vortragsreihen. Zudem sollten wissenschaftliche Kolloquien die neuesten Erkenntnisse aufarbeiten, ergänzen und zusammenfassen. Um den Bekanntheitsgrad der Ausstellung zu steigern, führte die Landesregierung im Vorfeld zahlreiche Werbemaßnahmen durch, darunter die Ausrufung des „Staufer-Jahrs 1977“ und ein vielfältiges Rahmenprogramm im ganzen Land, mit dem Fokus auf die Aktivierung von Schülern, die als kommende Generation Träger eines neuen, nachhaltigen Geschichtsinteresses werden sollten.
Ausstellungsdaten und Konzept der Stauferausstellung Mit einem finanziellen Aufwand von neun Millionen DM war die Stauferausstellung innerhalb von vier Jahren durch ein Großaufgebot an Koryphäen der historischen und kunsthistorischen Forschung vorbereitet worden. Sie präsentierte eine Vielzahl an mittelalterlichen Kostbarkeiten. Insgesamt waren auf einer Schaufläche von 4.000 Quadratmetern bei 1.084 Katalognummern rund 2.300 Einzelobjekte zu sehen. Um ein möglichst hohes Maß an Authentizität und Glaubwürdigkeit zu garantieren, stellte man hauptsächlich Originalexponate aus. Die wenigen Reproduktionen wurden deutlich in der Objektbeschreibung angezeigt. Zur Erläuterung und Veranschaulichung des in drei Ausstellungsteilen Dargebotenen wurde zudem eine große Anzahl an Texterläuterungen eingesetzt sowie zahlreiche didaktische Mittel, darunter eine Multivisionsschau, vier Ton-Dia-Schauen, vier Tonfilme, viele Bild-, Stamm- und Zeittafeln, mehrere Modelle, Karten und Schaubilder sowie Großfotos. Grundsätzlich wurden die Exponate aus konservatorischen Gründen einheitlich in Objektgruppen, wie etwa Handschriften und Goldschmiedekunst, in chronologischer Reihenfolge ihrer Entstehung präsentiert. Im ersten historischen Teil etwa wurde im Wesentlichen auf didaktische Mittel zurückgegriffen. Erst am Ende des zweiten Abschnitts wurden dann die historischen Zeugnisse in geballter Form zusammenhängend dargeboten. Von dieser Vorgehensweise wich man lediglich zweimal ab. Der zweite Teil war der Kunstgeschichte vorbehalten. Der letzte Teil beleuchtete das Nachleben der Staufer. Trotz der groß angelegten Versammlung kunsthistorischer Schätze überwog der historische Ansatz deutlich.
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Ebd., S. VI.
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Rezeption und Bedeutung der Stauferausstellung Die Resonanz auf die Ausstellung in der Presse war äußerst positiv. Lob gab es vor allem für die wissenschaftliche Kompetenz und den Katalog. Auch Konzeption und Didaktik erhielten – trotz vereinzelter fundamentaler Kritik, etwa wegen einer vermeintlichen Vereinnahmung durch eine fürstliche Geschichtsdarstellung – mehrheitlich großes Lob. Eher negative Reaktionen rief hingegen das als größtenteils politisch motiviert gewertete, breit angelegte und beinahe das ganze Bundesland umfassende Rahmenprogramm hervor, das unter anderem als dirigistisches Mittel der Geschichtspolitik Filbingers verstanden wurde. Als besonderen Erfolg und Hauptwirkung der Ausstellung gab die Mehrheit der Rezensenten eine Steigerung des Geschichtsinteresses sowie die Anregung von Geschichtsbewusstsein an. Die öffentliche Reaktion war herausragend: Mit 671.000 Besuchern in nur 72 Tagen übertraf die Stauferausstellung nicht nur die von den Veranstaltern erwarteten 300.000 Gäste, sondern sprengte auch alle zuvor verzeichneten Besucherrekorde in Deutschland und im Tagesdurchschnitt sogar europaweit. Ihr Erfolg ist bis heute unerreicht. Das wissenschaftlich erarbeitete vierbändige Katalogwerk erhielt umgehend den Stellenwert eines Standardwerks und avancierte mit seinen 153.000 verkauften Exemplaren zum Bestseller. Die Landesschau erreichte, nicht zuletzt durch die außergewöhnlich starke Präsenz in der Presse, den Status eines gesellschaftlichen Events und konnte einen erheblichen Beitrag zu einem nachhaltig wirkenden Geschichtsinteresse in der bundesdeutschen Öffentlichkeit leisten. Sie hatte einen großen Anteil an der Belebung des Ausstellungs- und Museumswesens in den späten 1970er- und den 1980er-Jahren, löste eine Reihe zum Teil noch anhaltender kulturpolitischer und didaktischer Debatten aus und wurde insgesamt zum Prototypen aller nachfolgenden Groß- und Landesausstellungen. Hans-Ulrich Thamer meinte dazu in seiner grundlegenden Abhandlung über Landesausstellungen: „Spätestens mit der Stuttgarter ‚Staufer‘-Ausstellung hatte sich im öffentlichen Bewusstsein und in der Geschichtskultur ein Typus der Landesausstellung etabliert, die als Großveranstaltung neue Präsentationsformen entwickelte, neue Publikumsschichten wie Konsumbedürfnisse ansprach und einen neuen kultur- und geschichtspolitischen Anspruch erfüllten.“6
Ursachen des Erfolgs Die Ursachen für diesen phänomenalen Erfolg sind vielfältig, jedoch aufgrund fehlender Besucheruntersuchungen schwer fassbar. Dennoch darf man einige ge-
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Hans-Ulrich Thamer: Vom Heimatmuseum zur Geschichtsschau. Museen und Landesausstellungen als Ort der Erinnerung und der Identitätsstiftung, in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 429–448, hier S. 430.
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wichtige Aspekte herausstellen. Zunächst ist ein grundlegendes Bedürfnis nach historischer Einordnung und Neuorientierung der Deutschen, nach historischen Werten und Fundamenten zu nennen, die nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs und einer damit verbundenen Resignation vor der jüngsten Vergangenheit für viele in weite Ferne gerückt waren, ja sogar als illegitim verstanden wurden, und damit quasi die Überwindung einer sich in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik einschleichenden gesellschaftlich akzeptierten Geschichtslosigkeit. Nicht außer Acht zu lassen ist hier zudem die Wirkung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die die Bundesrepublik in den 1960er- und 1970er-Jahren durchlebte, als nach den Gründungsjahren und einer Zeit des einsetzenden Wohlstands die westdeutsche Studentenbewegung mit ihren Demonstrationen und ihrer Ablehnung gegenüber der sogenannten „Generation der Täter“ des Dritten Reichs sowie ihrer Forderung nach restloser Aufklärung lautstark einen schwelenden Generationenkonflikt in die Gesellschaft trug, dessen extremistische Ausläufer mit der Roten Armee Fraktion und ihren terroristischen Anschlägen die Gesellschaft erschütterte. Gerade in einer solchen gesellschaftlichen Krisenzeit, die nach dem Ende der Stauferausstellung im Herbst 1977 eine noch eskalierende Zuspitzung erfahren sollte, mag der Blick zurück in eine vermeintlich ruhmreichere Epoche der deutschen Geschichte sicherlich einen großen Anreiz geboten haben. Anzuführen ist ferner in Verbindung mit der Wiederentdeckung deutscher Geschichte die Faszination des Mittelalters allgemein und der mythisch in Erinnerung gebliebenen Stauferdynastie mit Kaiser Barbarossa an der Spitze. Zu konstatieren ist außerdem, dass die spektakuläre Ansammlung kunsthistorischer Kostbarkeiten und historischer Zeugnisse eine schier unaufhaltsame Anziehungskraft ausübte. Und schließlich sind die groß angelegten Werbekampagnen der Landesregierung und der durch die Presseresonanz ausgelöste, sich dann stetig steigernde, verselbständigende gesellschaftliche Eventstatus als Ursachen auszumachen.
Die Stauferausstellung als Initialzündung eines Ausstellungsbooms Das ausgelöste Interesse an Geschichte wurde zur Grundlage eines bisher unaufhaltsamen Siegeszugs historischer Großausstellungen. Der große Erfolg der Stauferausstellung bewirkte einen Paradigmenwechsel in der Ausstellungspolitik der Bundesländer. Innerhalb von nur kurzer Zeit strebten mehrere Länder eine ähnlich repräsentative Großausstellung an „und als Schaufenster in die Vergangenheit erfuhren historische Ausstellungen einen geradezu unglaublichen Boom“.7 Unter den zahlreichen von der Stauferausstellung angeregten, in den folgenden Jahren nach ihrem Vorbild verwirklichten historischen Großprojekten können zwei Aus7
Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989, in: Petra Bock/Ders. (Hrsg.): Umkämpfte Vergangenheit: Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999, S. 55–81, hier S. 73.
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stellungen hervorgehoben werden, die ebenfalls politisch motiviert waren, mit je 480.000 Besuchern annähernd an den Erfolg der Stauferausstellung anknüpften, diese mit einem finanziellen Aufwand von rund zehn Millionen DM sogar übertrafen und selbst zu Triebfedern der weiteren Entwicklung der Großausstellungen wurden: die Landesausstellungen Wittelsbach und Bayern (1980) und Preußen. Versuch einer Bilanz (1981). Zwar kann für die Ausstellungen, auch für die nachfolgenden, insgesamt ein konzeptioneller Eingriff der Politik auf die wissenschaftliche Ausarbeitung ausgeschlossen werden, dennoch war der Einfluss der Politik auf die Themenwahl und das Erscheinungsbild durch die Erzeugung günstiger Rahmenbedingungen maßgeblich. Von den Entwicklungen und Besonderheiten in der historischen Ausstellungsszene bis 2010 seien an dieser Stelle einige wichtige kurz erwähnt. Mit der sich verbreitenden Erkenntnis, dass die vorherrschenden Ziele der ersten Großausstellungen, historisches Bewusstsein anzuregen, erreicht worden waren, ging man Mitte der achtziger Jahre von den bis dahin überwiegend obrigkeits- respektive staatsnahen zu mehr sozialgeschichtlichen Themen über.8 Als wichtigstes Beispiel darf man in diesem Zusammenhang die Niedersächsische Landesausstellung Stadt im Wandel (1985) nennen, die mit 230.000 Gästen auch in der Besucherresonanz weit vorne lag. Es waren dann aber weiterhin die ‚großen‘ Themen der Geschichte, die beherrschend blieben und für die überragenden Besuchererfolge sorgten. Nach der Wiedervereinigung dauerte es bis 1995, ehe in den neuen Bundesländern mit der Landesausstellung 1000 Jahre Mecklenburg die erste historische Großausstellung gezeigt wurde. Die in unregelmäßigen Abständen folgenden Groß- und vor allem Landesausstellungen sollten einen Beitrag leisten für einen mentalen Brückenschlag von der DDR zur Bundesrepublik und für den Aufbau eines geschichtlich fundierten Landesbewusstseins, nicht zuletzt in neu geschaffenen, historisch nicht gewachsenen Ländern wie Sachsen-Anhalt. Als Beispiele solcher Ausstellungen seien genannt: Mittendrin – Sachsen-Anhalt in der Geschichte (1998); Zeit und Ewigkeit (1998) und natürlich die Ausstellungen des Kulturhistorischen Museums Magdeburg mit seiner 2012 abgeschlossenen Ausstellungstrilogie zu Otto dem Großen. Ähnlich wie Ende der 1970er- und Anfang der 1980erJahre, als in der Bundesrepublik vielerorts ein Defizit an Geschichtsinteresse und -bewusstsein ausgemacht worden war und vor allem herrschaftliche und dynastische Themen die großen Ausstellungen beherrschten, traten auch in den neuen Ländern vor allem diese Themenbereiche hervor. Diese tragen scheinbar ein erheblich größeres Identifikationspotenzial in sich als sozialgeschichtliche Themen oder wie es ein Journalist anlässlich der Stauferausstellung 1977 ausdrückte: „[M]an verzeihe diese Bemerkung, die etwas hochmütig klingt, das ist es doch auch, was die Leute sehen wollen, die Pracht und die Herrlichkeit der Zeit und nicht den Mief der staufischen Alltäglichkeiten. (...) Im eigenen Leben ist es doch ganz ähnlich: Man bewahrt lieber
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Vgl. Thamer: Heimatmuseum, 1996, S. 444ff.
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die Erinnerung an das Besondere und das Herausragende als an Niederlagen und Mißerfolge.“9
Magdeburg selbst entwickelte sich im Übrigen zu einem Zentrum für Mittelalterausstellungen. Überhaupt entstanden an vielen Orten in Deutschland solche Zentren, an denen in regelmäßigen Abständen Groß- und Landesausstellungen präsentiert wurden und werden. Zu nennen sind unter anderem das Diözesanmuseum in Paderborn, das Historische Museum der Pfalz in Speyer, die Reiss-EngelhornMuseen in Mannheim sowie natürlich die 1992 eröffnete Bundeskunsthalle in Bonn als bedeutendstes einzelnes Zentrum, das alle Zeiten und Genres abdeckt, und die beiden weiteren vom Bund gegründeten, vieldiskutierten Institutionen, das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn und das als Nationalmuseum aufgebaute Deutsche Historische Museum in Berlin (DHM). Auf dem Gebiet der regelmäßig veranstalteten jährlichen Landesausstellungen sind zwei Bundesländer hervorzuheben: Baden-Württemberg mit seinen seit 1997, mit Ausnahme von 2004, jährlich veranstalteten sogenannten Großen Landesausstellungen und das Haus der Bayerischen Geschichte, das seit 1984 jährlich mindestens eine große Landesausstellung präsentiert, die grundsätzlich in einem jeweils anderen Landesteil stattfindet. Die spätestens seit Anfang der Neunzigerjahre intensivierten Bestrebungen der Politik, ein europäisches Bewusstsein zu etablieren, werden auch durch die in ihrer Anzahl zwischen 1998 und 2002 deutlich zunehmenden, dann 2006 aber ohne erkennbaren Grund abrupt stoppenden Europaratsausstellungen belegt: Wikinger, Waräger, Normannen (1992), 1648 – Krieg und Frieden in Europa (1998/99), Otto der Große, Magdeburg und Europa (2001) und Europas Mitte um 1000 (2001/02). Dieser Trend zu einer Stärkung der europäischen Bewusstseinsebene lässt sich auch in vielen weiteren Großausstellungen als Tendenz beobachten. Darunter fällt auch die Großausstellung Die Staufer und Italien.
Die Staufer und Italien – Die ‚neue‘ Stauferausstellung Die Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim waren vom 19. September 2010 bis zum 20. Februar 2011 Schauplatz der Drei-Länder-Ausstellung Die Staufer und Italien. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa. Von Beginn an gab es diverse Fragen an die Großexposition, die von vielen bereits im Vorhinein als ‚neue‘ Stauferausstellung bezeichnet und somit direkt in Verbindung gesetzt wurde mit der Urmutter aller Landes- und Großausstellungen. Die wichtigste darunter war diejenige, warum man angesichts des übergroßen Erfolgs der Stauferausstellung von 1977 erneut eine Großexposition zu den Staufern veranstaltete. Nach über 33 Jahren wagte sich erstmals wieder ein großes deutsches Ausstellungsunternehmen daran, die Dynastie der Staufer und die für Europa so ereignis-
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Ulrich Wildermuth: Der Staufer-Boom, in: Metzinger-Uracher-Volksblatt, 3.6.1977.
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reiche und grundlegende Epoche einer breiten Öffentlichkeit näher zu bringen. Die gestellte Warum-Frage konnte und kann man sehr zufriedenstellend beantworten: Einerseits gab es neue Sichtweisen und Forschungsergebnisse, die dieses außerordentliche Projekt allein schon gerechtfertigt hätten. Andererseits erscheint es überaus wichtig, dass bestimmte bedeutende historische Themen auch neuen Generationen immer wieder angeboten und anhand von Ausstellungen nahegebracht und erläutert werden. Dieses Belegen und Visualisieren von Geschichte ist ein wichtiges Instrument zur Förderung des Wissenstransfers und von Geschichtsbewusstsein und sollte im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse sein. Aber die ‚neue‘ Stauferausstellung war ja keineswegs eine bloße Wiederholung der 1977erLandesschau. Die im Museum Zeughaus dargebotene Mannheimer Ausstellung war über drei Etagen verlaufend in drei Hauptbereiche gegliedert, die jeweils wieder in zwei Sektionen unterteilt waren. Auf einer Grundfläche rund 2.300 Quadratmetern konnten die Besucher 520 Originalexponate bewundern. In sechs Sektionen stellte die Großausstellung eine neue Sicht auf die Stauferzeit vor. Am Anfang stand dabei eine Rubrik, die normalerweise am Ende steht: das Nachleben der Staufer. Dabei ging es den Verantwortlichen um eine Entmythologisierung der Staufer. Nach der zweiten Sektion, die sich der Vorstellung der einzelnen Stauferherrscher und der Dynastie im Gesamten annahm, folgte in der zweiten Etage nach dem Bereich „Italien: Vorbild und Faszination“ der Hauptteil der Ausstellung, der sich unter dem Titel „Beschleunigung: Drei Kraftregionen im Stauferreich“ den drei im Titel herausgestellten Innovationsregionen zuwandte, ehe sich in der dritten Etage ein Abschnitt mit den Unterschieden der nördlichen und südlichen Regionen des Reiches auseinandersetzte und die letzte Sektion dann die weitreichenden Veränderungen, Neuerungen und Innovationsschübe der Stauferzeit zusammenfassend darstellte.
Die Stauferausstellungen im Vergleich Als erste Änderung gegenüber 1977 ist festzuhalten, dass die ‚neue‘ Stauferausstellung keine Unternehmung eines einzelnen Landes, sondern ein Gemeinschaftsprojekt von gleich drei Bundesländern war: Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen. Sie war die erste länderübergreifende Präsentation einer großen Mittelalterschau in Deutschland und damit einmalig in der deutschen Kulturgeschichte. Bereits 2013 wurde diese Zusammenarbeit mit der Ausstellung Die Wittelsbacher am Rhein fortgesetzt, so dass man die Kooperation der Länder schon jetzt als zukunftsweisend einstufen darf, vielleicht auch für andere Bundesländer. Die Motivationen der Veranstalter sind mit denen von 1977 vergleichbar. Dies gilt für die Anregung und Förderung von Geschichtsinteresse und -bewusstsein ebenso wie für ein jetzt auf drei Länder verteiltes Repräsentationsbedürfnis, verbunden mit einer allerdings noch stärker als vor 33 Jahren und gezielter intendierten touristischen Wirkung. Im Gegensatz zur Stuttgarter Stauferausstellung, die vor allem auf eine innere Konsolidierung des Bundeslandes und den Aufbau
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eines Landesbewusstseins fokussiert war, konzentrierte sich die Mannheimer Schau auf die Anregung eines europäischen Geschichtsbewusstseins. Die Großexposition bot keinen auf die Nationalgeschichte beschränkten Blick zurück, sondern eine transnationale, europäisch orientierte historische Sichtweise an. Mit den drei dabei vorgestellten, als Keimzellen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Entwicklungen erkannten „Innovationsregionen“ rückte die Ausstellung als neue historische Einheit auch die „Europäische Metropolregion Rhein-Neckar“ in den Mittelpunkt, wodurch das Drei-Länder-Projekt zugleich eine legitime Grundlage erhielt. Die Fokussierung auf historische Regionen als zentrale Bezugsgrößen der historischen Orientierung und Identifikation wiederum eröffnete zugleich auch ganz neue Perspektiven für zukünftige Betrachtungen historischer Zusammenhänge. Mit dem neuen Blickwinkel ging auch eine eher sozialgeschichtliche im Gegensatz zur eher fürstlich orientierten Geschichtsbetrachtung von 1977 einher. Dadurch veränderte sich natürlich auch die Auswahl der Exponate. Und auch die Art der Objekt-Präsentation, die allerdings schon im Laufe der vergangenen 33 Jahre durch technische, klimatisch-konservatorische und sonstige Innovationen vorangetrieben wurde, war nun eine gänzlich andere: Während die Schaustücke 1977 noch nach gattungsspezifischen, vor allem kunsthistorischen Kriterien im Rahmen ganzer Exponatsgruppen präsentiert worden waren, wurde die Bestückung der Ausstellung mit Exponaten 2010 vor allem nach thematischen Gesichtspunkten durchgeführt. Und auch die Präsentationsform selbst gibt die seit 1977 vollzogenen Entwicklungen wieder: war die Stuttgarter Stauferausstellung in ganz puristischer Weise ohne Ausschmückungen der Säle dargeboten worden, präsentierte sich die ‚neue‘ Stauferausstellung im zeitgemäßen, modernen Gewand einer ausgefeilten, die Thematik untermalenden und unterstützenden Ausstellungsarchitektur. Zur Inszenierung zählte die im Erdgeschoss in Form einer Ahnengalerie anhand von neun Ausstellungstafeln angelegte Darbietung zur Vorstellung der Stauferherrscher. Besonders erwähnenswert sind zudem die drei spektakulär in die Präsentation integrierten nachgebildeten Stadttore im ersten Stockwerk, die als Zugänge der drei Abschnitte zu den Innovationsregionen fungierten. Die Mannheimer Länderschau bot zudem eine Audioführung an und nutzte viele mittlerweile zum Standard zählende, moderne visualisierende Ausstellungsmedien wie Computer- und Kartenanimationen oder Bildschirmpräsentationen, die 1977 technisch noch nicht möglich waren. Bei allen feststellbaren Veränderungen und Weiterentwicklungen gab es jedoch auch vieles, in dem die Großexposition Die Staufer und Italien der Stauferausstellung von 1977 nachfolgte. So übernahm man unter anderem die heute beinahe standardisierte wissenschaftliche Vorbereitung in Form von Kolloquien. Auch im Bereich der Begleitpublikationen stand die Mannheimer der Stuttgarter Ausstellung nur wenig nach, wurden doch Katalog und Aufsatzband als die eigentlichen Ausstellungsveröffentlichungen ergänzt durch zwei Tagungsbände und ebenso als künftige Standardwerke angelegt. Modellhaft blieben auch die intensiven Werbemaßnahmen. So installierte man wie 1977 ein breit angelegtes Rahmenprogramm mit Korrespondenzorten, Vortragsreihen und dem in enger Anleh-
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nung an die Stuttgarter Stauferausstellung ausgerufenen „Staufer-Jahr 2010“. Als neuer Impuls, insbesondere zur Förderung der Tourismusbranche, kam die im Rahmen der Marketingaktivitäten der Ausstellung besonders geförderte Idee der „Stauferregion Rhein-Neckar“ hinzu. Überhaupt muss man den vielfältigen Marketing- und Werbemaßnahmen, die sich natürlich auch im Etat niederschlugen, der zusätzlich zum reinen Ausstellungsetat von 3,5 Millionen Euro noch 1,5 Millionen Euro für andere Zwecke vorsah, einen nicht unerheblichen Anteil am Gesamterfolg bescheinigen. Zu konstatieren ist auch, dass historische Großausstellungen generell immer mehr im Zusammenhang mit möglichst großen touristischen Effekten geplant werden. Was aber bleibt am Ende von der Drei-Länder-Ausstellung Die Staufer und Italien? Hat sie bleibende Spuren hinterlassen? Konnte sie auch wie die Stauferausstellung von 1977 neue richtungsweisende Impulse setzen? Man kann beide Fragen positiv beantworten. Mit ihren 236.893 Besuchern konnte die Mannheimer Stauferausstellung zwar nicht an die Ergebnisse der ersten Stuttgarter Ausnahmeschau und die nach ihr präsentierten beiden Großerfolge anknüpfen, dennoch war das Ergebnis, gerade eingedenk der einmaligen Grundkonstellation der ersten Jahre und in Anbetracht der heutigen Veranstaltungsdichte von und Konkurrenz zwischen Ausstellungen, als herausragend zu bewerten. Auch das Medienecho war sehr positiv und mit 4.737 allein im Printbereich gezählten Artikeln außerordentlich groß. Weitaus wichtiger als diese quantitativen Dimensionen erscheinen jedoch die mittel- und langfristigen Auswirkungen, die die Mannheimer Schau auf das Ausstellungswesen haben könnte. Die Drei-Länder-Ausstellung hat den Typus der Landesausstellung entscheidend weiterentwickelt. Zwei grundlegende Aspekte sind hier anzuführen. Zum einen ist das zukunftsfähige Konzept einer bundesländerübergreifenden Kooperation zu nennen, das unter anderem finanzielle, touristische und marketingrelevante Vorteile mit sich bringt und nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der Leihgaben, also der Objektlogistik, durch ein in diesem Zusammenhang erheblich größeres Einzugsgebiet positive Wirkungen hat. Zum anderen hat die Drei-Länder-Ausstellung mit ihrer Fokussierung auf die historischen Regionen Europas und dem über die Nationalgeschichte hinausgehenden europäischen Ansatz bei gleichzeitiger Überwindung der bisher maßgeblichen administrativ oder künstlich gezogenen Grenzen, ein Tor in die Zukunft einer vergleichenden Geschichtsbetrachtung in Großausstellungen aufgestoßen.
Motive der Besucher und Veranstalter historischer Großausstellungen Fasst man am Ende die Motive der Besucher und Veranstalter historischer Großund Landesausstellungen zusammen, stechen jeweils drei Aspekte hervor. Auf der Besucherseite sind dies folgenden Beweggründe: zum einen, wie bei allen historischen Ausstellungen, das Belegen der Geschichte durch die erläuternde, wissenschaftliche Absicherung, vor allem aber durch reale Objekte, also das geradezu handgreifliche vor Augenführen einer ansonsten eher abstrakten Materie, zum an-
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deren das Geschichtsinteresse und der Wissensdurst nach den neuesten Erkenntnissen der Forschung, die insbesondere mit den großen Sonderpräsentationen einhergehen, und schließlich die Sehnsucht nach Pracht, nach dem nicht Alltäglichen, dem Besonderen, also der ästhetische Gesichtspunkt. Auf der Seite der Veranstalter, also im Wesentlichen hier der Bundesländer, ragen hingegen folgende drei Motive hervor: zum einen die Anregung und Stärkung des Geschichtsinteresses und -bewusstseins als grundlegende, aufklärerische staatliche Aufgabe und Verantwortung sowie immer mehr auch die Anregung eines europäisches Geschichtsbewusstseins. Zum anderen ist da der repräsentative Faktor zu nennen, die möglichst positive und attraktive Darstellung des eigenen Bundeslandes sowie, nicht gänzlich außer Acht zu lassen, eine parteipolitische und persönliche Profilierung. Und schließlich ist der immer stärker in den Fokus rückende finanzielle Aspekt der Tourismusförderung anzuführen, also die Anziehungskraft großer Ausstellungsprojekte auf kulturorientierte Besuchermassen.
Gefahren und Perspektiven So gesichert die historischen Großexpositionen und vor allem Landesausstellungen heute als bedeutende kulturpolitische Instrumente und vor allem auch als touristische Werbeträger sind, so ungewiss ist diese Konstellation in der Zukunft. Denn Ausstellungen sind künftig verschiedenen Gefahren ausgesetzt. Zum einen ist dies die den Großprojekten immanente Gefahr der politischen Vereinnahmung, sowohl durch die Beeinflussung der Themenwahl, gerade bei Landesausstellungen, als auch ganz konkret durch eine politische Veranlassung einer Ausstellung, etwa als außenpolitisch nutzbares Prestigeobjekt, wie es zum Beispiel bei der anlässlich der Ratspräsidentschaft Portugals erstellten Großausstellung Novos Mundos – Neue Welten. Portugal und das Zeitalter der Entdeckungen des DHM (2007/08) unzweifelhaft der Fall war. Diese politische Vereinnahmung birgt die Gefahr eines schleichenden Vertrauensverlustes in die Kompetenz der Ausstellungen und der mit ihnen eng verbundenen Wissenschaftler. Zum anderen ist hier die nicht nur bei amerikanischen Leihgebern und Institutionen finanzschwacher Länder zunehmend feststellbare restriktivere und stetig kommerzieller ausgerichtete Ausleihpraxis anzuführen, die es Veranstaltern historischer Großprojekte zunehmend erschwert, die relevanten Originalexponate zu erhalten. Ein solcherart verstärkter Zugriff auf Reproduktionen und ein Rückgang kostbarer Exponate innerhalb der Präsentationen stellen jedoch nicht nur die Authentizität des Dargebotenen insgesamt in Frage, sondern lassen auch die Attraktivität der Ausstellungen sinken. Schließlich muss man, neben dem stetigen Risiko schwindender Gelder bei Finanz- und Wirtschaftskrisen, noch ein anderes Gefahrenpotenzial ansprechen: die von den Medien und der Politik als ureigenste Rechtfertigung aufgefasste und sich verselbstständigte Abhängigkeit von hohen Besucherzahlen, die stetig wie ein Damoklesschwert über den Verantwortlichen der Großprojekte schwebt. Dabei spielt die große Anzahl an Ausstellungen zusätzlich eine erschwerende Rolle, da nicht nur die Gefahr einer gewissen, vor allem thematischen Sättigung be-
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steht, sondern durch die Konkurrenz der Ausstellungen untereinander gleichzeitig auch die Werbeetats immer mehr in die Höhe schnellen, sodass die Werbekosten für das eigene Projekt, wie heute bereits feststellbar ist, nicht selten den eigentlichen Ausstellungetat zu übersteigen drohen. Lösungsmöglichkeiten und Perspektiven lassen sich auch und insbesondere an der Mannheimer Stauferausstellung ablesen: es sind vor allem Kooperationen, die in vielerlei Hinsicht die Zukunftsfähigkeit historischer Großprojekte garantieren können. Dies betrifft nicht nur die Form der Drei-Länder-Ausstellung, sondern auch sonstige Museums- und Länderkooperationen sowie nationenübergreifende Projekte wie etwa die Bayerisch-Österreichische Landesausstellung Verbündet – Verfeindet – Verschwägert. Bayern und Österreich (27.4.–4.11.2012). Solche Kooperationen sichern nicht nur finanziell künftige historische Großausstellungen ab und vergrößern zugleich noch die Angebotspalette kostenfrei zur Verfügung stehender Exponate, sondern geben auch den Blick frei über den Tellerrand der Landesgeschichte und minimieren das Risiko einer politischen Vereinnahmung. Zudem bleibt zu hoffen, dass der kulturpolitische Rang, den die historischen Groß- und Landesausstellungen heute nicht nur als Wirtschaftsfaktoren einnehmen auch in Zukunft berücksichtigt wird. Denn trotz ihrer flüchtigen Erscheinungsform übernehmen sie viel mehr noch als Dauerausstellungen die Funktion eines kulturellen Gedächtnisses eines Landes. Es ist gerade das Spektakuläre an ihnen, das das Publikum anzieht und wodurch auch historische Inhalte stärker in Erinnerung bleiben. Durch ihre stetige, kontinuierliche Präsenz in der Öffentlichkeit, ihre breite gesellschaftliche Akzeptanz und ihr zumeist ganzheitlich angelegtes Grundkonzept wirken sie mit ihrer visualisierenden und aufklärerischen Vorbildfunktion als museale und historische Leuchttürme in der deutschen Kulturlandschaft.
DIE PRÄSENTATION DES NATIONALSOZIALISTISCHEN VÖLKERMORDS AN DEN SINTI UND ROMA IN AUSSTELLUNGEN Silvio Peritore
Zusammenfassung: Der Beitrag beleuchtet die historische Bewertung des Genozids an den Sinti und Roma sowie daraus resultierende Kontroversen und Entwicklungsprozesse in der deutschen Erinnerungskultur. Dazu werden die Erwartungen der Sinti und Roma zu Ausstellungen zum Holocaust nach politischen, historischen und pädagogischen Kriterien beschrieben. Der von Vorurteilen geprägte politische, gesellschaftliche, wissenschaftliche und juristische Umgang mit den deutschen Sinti und Roma wirkte sich lange Zeit auch auf das Gedenken an die Opfer aus. Diesen blieb bis zum Beginn der Bürgerrechtsarbeit in den 1970er-Jahren die Anerkennung versagt. Abschließend wird der aktuelle Stellenwert der Sinti und Roma als Opfer des Holocaust in der Erinnerungskultur beschrieben. Abstract: This article focuses on the historical valuation of the Genocide against the Sinti and Roma and the resulting controversies and the processes developed in the German culture of remembrance. The society’s political, social, academic and juristic interacting with German Sinti and Roma had been characterized by prejudice for a long time. Until the beginning of their fight for civil rights in the 1970th it was accompanied by neglecting the memory of the victims and denying acknowledgment. Finally there will be described the actually Status of the Sinti and Roma being acknowledged as victims of the Holocaust in the culture of remembrance.
Vorbemerkungen Eine ständige Ausstellung über die nationalsozialistischen Verbrechen und die Schicksale der unterschiedlichen Verfolgtengruppen ist als das Kernelement einer KZ-Gedenkstätte zu betrachten. Die darin präsentierten Texte, Fotos und Dokumente stellen die aus wissenschaftlicher und erinnerungspolitischer Sicht resultierende Essenz eines von verschiedenen Gremien und Entscheidungsinstanzen entwickelten und vollendeten Prozesses dar. Deshalb sind die ausgestellten Informationen und Materialien ein wichtiger Indikator des erinnerungskulturellen Stellenwerts der betroffenen Opfergruppe innerhalb dieser Institutionen und ihrer Entscheidungsgremien.
Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 101–117
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Lange Zeit existierte weder in Deutschland noch im Ausland ein Bewusstsein darüber, dass während der Zeit des Nationalsozialismus schätzungsweise 500.000 Sinti und Roma Opfer des rassistisch motivierten Völkermords im besetzten Europa geworden waren.1 Warum wurde das Schicksal der während des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma auch in den Ausstellungen von Gedenkstätten und zeitgeschichtlichen Museen jahrzehntelang ausgeblendet? Welche Schwierigkeiten und Konflikte mussten die politischen Vertreter der Sinti und Roma, insbesondere der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, überwinden, um dieses Thema in die historische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen mit zu einzubringen? Hierzu soll ein Blick auf vorangegangene historische und erinnerungskulturelle Entwicklungsprozesse nach 1945 geworfen werden. Zunächst wird anhand zentraler Protokollauszüge aus den Nürnberger Prozessen gegen NS-Kriegsverbrecher von 1946 sowie der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen von 1948 aufgezeigt, dass es bereits frühzeitig ein Bewusstsein über die als Genozid zu bewertenden Verbrechen an den Sinti und Roma gegeben hatte, trotzdem in Westdeutschland dieser Völkermord bis in die 1970er-Jahre hinein verdrängt und verleugnet wurde. Schließlich werden personelle und ideologische Kontinuitäten zur NS-Zeit besonders in der bundesdeutschen Justiz und Verwaltungsbürokratie, aber auch in der Wissenschaft, aufgezeigt, die einen strukturellen Antiziganismus begründet hatten. Anhand der Darstellung der Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma und dem daraus 1982 gegründeten Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mit dessen politischem Wirken soll der allmähliche Bewusstseinswandel über den Genozid an den Sinti und Roma und die Entwicklung einer Erinnerungskultur dazu deutlich werden. Am Beispiel der Gedenkstätte Sachsenhausen wird dann abschließend nach der Darstellung in Ausstellungen gefragt. Im Gegensatz zum Völkermord an den Juden wurde der Völkermord an den Sinti und Roma nach 1945 über drei Jahrzehnte aus dem historischen Gedächtnis der westdeutschen Gesellschaft verdrängt, er wurde verharmlost und sogar verleugnet. Die Ignoranz gegenüber diesem Verbrechen und seiner Opfer war auch Folge der personellen Kontinuitäten in Deutschland nach 1945, denn unzählige NS-Täter, vor allem ehemalige Kriminalbeamte des Reichskriminalpolizeiamtes (Amt V des Reichssicherheitshauptamtes) waren unbescholten in allen Bereichen des Staates und der Gesellschaft geblieben und machten dort zum Teil „unbestreitbar eklatante Karrieren“.2 Darüber hinaus resultierte das geringe Bewusstsein
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Schätzungen der wissenschaftlichen Berater des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Karola Fings (NS-Dokumentationszentrum Köln) und Dieter Pohl (Institut für Zeitgeschichte München), aus Anlass der Errichtung des zentralen Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin. BKM/Zentralrat Deutscher Sinti und Roma: Chronologie des Völkermords an den Sinti und Roma, erstellt vom BKM vom 3.2.2009. Dieses Schreiben liegt dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma vor. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 841.
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über den Genozid an den Sinti und Roma aus dem mangelnden politischen Einfluss der in der frühen Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht politisch organisierten Minderheit. Während die Holocaustforschung die Vernichtung der europäischen Juden mit Priorität behandelte, maß sie der in wesentlichen Aspekten vergleichbaren Vernichtung der Sinti und Roma kaum Bedeutung bei. Ein diesbezügliches Desinteresse war gleichermaßen bei Wissenschaftlern einschlägiger Fachrichtungen wie Historikern, Politologen, Sozial- und Kulturwissenschaftlern, Psychologen und Juristen zu verzeichnen. Diese Geringschätzung war eine nachträgliche erneute Diskriminierung der überlebenden Sinti und Roma. Die Anerkennung der jüdischen Opfer war auch Folge der gesamtpolitischen Lage nach Kriegsende und bildete eine der Voraussetzungen für die Rückkehr Deutschlands in die Staatengemeinschaft auf politischer, völkerrechtlicher und wirtschaftlicher Ebene; dies geschah besonders unter dem Druck der Vereinigten Staaten von Amerika. Hingegen bestand bezüglich der Sinti und Roma kein politisches Interesse daran, den an ihnen begangenen Genozid anzuerkennen und den Opfern ‚Wiedergutmachung‘ und öffentliche Würdigung zuteilwerden zu lassen.
Der Genozid an den Sinti und Roma Der Völkermord an den Juden und an den Sinti und Roma ist in Bezug auf die rassenpolitischen Motive, den polykratisch organisierten NS-Verfolgungsapparat und das systematisch durchgeführte Morden im Wesentlichen identisch verlaufen. Auch für die Sinti und Roma steht der Holocaust als Synonym für die versuchte Ermordung eines ganzen Volkes nur aufgrund seiner biologischen Existenz. Die Nürnberger Rassengesetze und die eigens für die damals zirka 30.000 deutschen Sinti und Roma ab 1936 dazu erlassenen Sonderbestimmungen bildeten die Grundlage für die spätere Vernichtungspolitik. Sinti und Roma wurden den Juden gleichstellt, dies bedeutete den Entzug der Reichsbürgerschaft, Berufs-, Ehe-, Schulverbote, den Ausschluss aus der Wehrmacht, den Raub ihres Eigentums und andere Formen der Entrechtung und Ausgrenzung. Viele Beispiele belegen, dass Sinti und Roma in Deutschland bis 1933 in die gesellschaftlichen Zusammenhänge integriert waren: als Mitbürger, als Hausbesitzer, als Nachbarn und Vereinskollegen, als Vermieter und Mieter oder als Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Ihre systematische Verfolgung erfolgte entgegen zahlreicher Klischeevorstellungen und unabhängig vom Verhalten Einzelner allein aus rassenpolitischen Motiven. Sinti und Roma wurden auch in den besetzten Gebieten Europas registriert. Nach dem Balkanfeldzug und dem Überfall auf die Sowjetunion wurden sie vorwiegend durch Massenerschießungen, Vergasungen in den Vernichtungslagern, Zwangsar-
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beit und medizinische Experimente ermordet.3 Für die historische Bewertung als Völkermord sind indes nicht quantitative Aspekte relevant, vielmehr sind auch im Fall der Sinti und Roma aus völkerrechtlicher Sicht die Kriterien eines Genozids erfüllt.4 In den von den USA 1946 geleiteten Prozessen gegen maßgebliche NSFunktionäre wurden als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ unter anderem Mord, Ausrottung, Versklavung und Deportation definiert. Unter Berufung auf Art. 6c des Statuts zum Internationalen Militärtribunal in Nürnberg wurden in der Anklageschrift die 24 Hauptkriegsverbrecher beschuldigt „(...) des vorsätzlichen und systematischen Massenmords, d.h. die Ausrottung von Gruppen einer bestimmten Rasse oder Nationalität unter der Zivilbevölkerung gewisser besetzter Gebiete, um bestimmte Rassen, Volkssklaven und nationale, rassische oder religiöse Gruppen, insbesondere Juden, Polen und Zigeuner zu vernichten“.5
Am 9. Dezember 1948 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution 260, worin der Tatbestand des Völkermords definiert wurde als „(…) eine der folgenden Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören: das Töten von Angehörigen der Gruppe; das Zufügen von schweren körperlichen/seelischen Schäden bei Angehörigen der Gruppe; die absichtliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen; die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung; die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.6
All diese Kriterien waren in Bezug auf die an den Sinti und Roma verübten NSVerbrechen erfüllt. 1955 ratifizierte der Deutsche Bundestag die Völkermordkonvention und verankerte sie im deutschen Völkerstrafgesetzbuch, ohne sie aber in der Praxis auch für Sinti und Roma anzuerkennen.7 Dies leistete der Verdrängung durch die Öffentlichkeit und die Wissenschaft weiteren Vorschub.
Die Situation der Sinti und Roma in der deutschen Nachkriegszeit Etwa 3.000 deutsche Sinti und Roma, die zumeist als ehemalige Zwangsarbeiter überlebten, kehrten nach Kriegsende in ihre Heimatstädte nach Westdeutschland und einige auch nach Ostdeutschland zurück, in der Hoffnung, dort Angehörige
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Vgl. Romani Rose: Den Rauch hatten wir täglich vor Augen. Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg 1999, S. 344–353. Vgl. Jane Springer: Genozid, Hildesheim 2007 (engl. Orig.: 2006), S. 24ff. Zit. nach: William A. Schabas: Genozid im Völkerrecht, Hamburg 2003. S. 57. Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9.12.1948, die am 12.1.1951 in Kraft trat und in der BRD durch § 6 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) umgesetzt wurde. Artikel II a bis e der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 12.1.1951, die in Deutschland durch § 6 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 VStGB umgesetzt wurde.
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anzutreffen und eine neue Existenz aufzubauen. Willkommen waren sie in der Bundesrepublik von der dortigen, zum großen Teil in die Verbrechen verstrickten Bevölkerung nicht. Zumeist wurden Sinti und Roma von den Behörden in den Randlagen von Städten unter menschenunwürdigen Bedingungen angesiedelt. Diese Zwangsgettoisierung wurde ihnen als mangelnde Integrationsbereitschaft unterstellt. Für die Sinti und Roma war der Kampf um ihre Rechte zumeist aussichtslos; in den Kernbereichen Menschenrechte, Arbeit, Wohnen, Bildung, Gesundheitsversorgung wurden sie ausgegrenzt. Die nach 1945 fortgesetzte Sondererfassung und Diskriminierung war Folge der personellen Kontinuitäten in der deutschen Staatsbürokratie, da dort größtenteils das ehemalige Personal des Reichssicherheitshauptamtes und anderer NS-Dienststellen beschäftigt war. Die im Bayerischen Landeskriminalamt gegründete „Landfahrerzentrale“ verwendete das Aktenmaterial der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“, die von 1938 bis 1944 reichsweit über 24.000 „Rassegutachten“ über deutsche Sinti und Roma angelegt hatte, weiterhin gegen die Überlebenden.8 Die polizeiliche Sondererfassung durch ehemalige nationalsozialistische Täter führte zur erneuten pauschalen Kriminalisierung der Sinti und Roma. Als erkennungsdienstliche Merkmale wurden sogar die den Menschen in Auschwitz eintätowierten KZ-Nummern registriert.9 Der behördliche Duktus entsprach der Propaganda des ‚Dritten Reiches‘, was das negative Meinungsbild in der Öffentlichkeit über ‚Zigeuner‘ verstärkte und bis in Kreise der Wissenschaft reichte, sogar von Wissenschaftlern gezielt untermauert wurde.10 In einer Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofes von 1956 wurde den Sinti und Roma die Anerkennung als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung gemäß dem 1952 erlassenen Bundesentschädigungsgesetz verweigert.11 Deren Schicksal wurde nicht als Völkermord, sondern mit folgender Urteilsbegründung als „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ eingestuft: „Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und zu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen, wie primitiven Urmenschen, ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“12 Solche juristischen Grundsatzentscheidungen festigten und legitimierten in der Mehrheitsbevölkerung ein rassistisches ‚Zigeunerbild‘. Behörden und Gerichte verfolgten
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Vgl. Karola Frings, Frank Sparing: Rassismus – Lager – Völkermord. Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung in Köln, Köln 2005, S. 128–151. 9 Vgl. Romani Rose: Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch zum Rassismus in Deutschland. Heidelberg 1987, S. 39. 10 Vgl. Herrmann Arnold: Das Zigeunerproblem, in: Caritas 74 (1973) 6 (Sonderheft: „Die Zigeuner – Aufgabe und Möglichkeiten“), S. 281–285. 11 Vgl. Hans-Günter Hockerts: Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa. Eine einführende Skizze, in: Ders., Claudia Moisel, Tobias Winstel: Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945–2000, Göttingen, 2006, S. 7–60, hier insb. S. 22. 12 Zit. nach: Rose, Bürgerrechte für Sinti und Roma, 1987, S. 53 (die Revision dieses BGHUrteils erfolgte erst 1963).
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die Strategie, jenes in den NS-Rassegutachten unterstellte „kriminelle und asoziale Verhalten der Zigeuner“ als Verfolgungsgrund umzudeuten und somit deren berechtigte Ansprüche abzulehnen. Körperliche und seelische Gebrechen galten nicht als Folge der KZ-Haft oder von Zwangsarbeit oder medizinischen Versuchen, sondern als „anlagebedingt“, wobei dies mit der in „Rassegutachten“ unterstellten „rassischen Minderwertigkeit“ begründet wurde. Ausbildungsschäden aufgrund von Schul- und Berufsverboten wurden nicht als verfolgungsbedingt anerkannt, und das den Sinti und Roma geraubte Vermögen wurde nicht zurückerstattet. Als ‚Gutachter‘ in Entschädigungsverfahren fungierten häufig ehemalige Rassenforscher oder SS-Lagerärzte.13 Wiederum wurden zur „Beurteilung der geistigen und charakterlichen Fähigkeiten“ Argumente der Nationalsozialisten herangezogen mit dem Ziel, Sinti und Roma als unglaubwürdig darzustellen. Dies gilt besonders für ihre Zeitzeugenschaft und damit auch Zeugenschaft gegenüber den NS-Tätern. Folge davon war, dass später auch in der Gedenkstättenarbeit die Berichte von überlebenden Sinti und Roma lange Zeit kaum berücksichtigt wurden.14 Der strukturelle Antiziganismus in der deutschen Bürokratie und Justiz beeinflusste lange Zeit auch den erinnerungspolitischen Umgang mit dem Völkermord an den Sinti und Roma in Politik, Wissenschaft und Gedenkstätten.
Entwicklung einer Erinnerungskultur zu den ermordeten Sinti und Roma Anhand der historischen Tatsachen wäre es die Pflicht der Wissenschaft und der Gedenkstätten gewesen, die vorhandenen Belege über die systematische Massenvernichtung der Sinti und Roma zur Kenntnis zu nehmen und in der wissenschaftlichen sowie musealen Darstellung zu berücksichtigen. Stattdessen hatten Historiker jahrelang darüber gestritten, ob dieses Verbrechen überhaupt als ein Genozid zu bewerten sei.15 Erst mit Beginn der Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma Mitte der 1970er-Jahre trat eine allmähliche Bewusstseinsänderung über den Völkermord sowie die fortgesetzte Diskriminierung der Sinti und Roma ein. Die Bürgerrechtsaktivisten mussten mit Politik, Medien, Wissenschaft und Gedenkstätten heftige Kontroversen um die Anerkennung des Völkermords und seiner Opfer führen. Den eigentlichen Beginn dieser Bürgerrechtsarbeit markiert der einwöchige Hungerstreik des späteren Zentralratsvorsitzenden Romani Rose und von ei-
13 Vgl. Michail Krausnick, Verband der Sinti und Roma Karlsruhe e.V. (Hrsg.): Abfahrt Karlsruhe. 16.5.1940. Die Deportation der Karlsruher Sinti und Roma – ein unterschlagenes Kapitel aus der Geschichte unserer Stadt, Karlsruhe 1990, S. 4–7. 14 Vgl. Thomas Rahe: Die Bedeutung der Zeitzeugenberichte für die historische Forschung zur Geschichte der Konzentrations- und Vernichtungslager, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 2 (1995), S. 84–98. 15 Vgl. Wolfgang Wippermann: Auserwählte Opfer? Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse, Berlin 2005, S. 123f.
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nem Dutzend Sinti und Roma an Ostern 1980 in der Gedenkstätte Dachau. Wie diese vermuteten, nutzten die Behörden tatsächlich die angeblich verschollenen Akten der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ zur „Sondererfassung“ der Sinti und Roma in Deutschland. Das Landeskriminalamt Bayern hatte den noch vorhandenen Teil der Akten, wovon ein großer Teil durch Kriegseinwirkung oder gezielt vernichtet worden war, aufbewahrt und gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt zur erkennungsdienstlichen Behandlung von Sinti und Roma genutzt. Die Bayerische Staatsregierung hatte dies nach anfänglicher Leugnung unter dem öffentlichen Druck eingeräumt und eine Beendigung dieser Praxis zugesagt. Der Protest der Sinti und Roma richtete sich nicht nur gegen die Sondererfassung, sondern gegen die gesellschaftliche Benachteiligung insgesamt, vor allem gegen die Verdrängung des Genozids und die verweigerte Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus. Auch sollte die Eigenbezeichnung Sinti und Roma Akzeptanz finden, da sich viele durch den Fremdbegriff ‚Zigeuner‘ stigmatisiert fühlten. Der aus der Bürgerrechtsarbeit am 7. Februar 1982 gegründete Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, der sich seither für die Rechte der Minderheit und deren gesellschaftliche Gleichstellung auf nationaler und internationaler Ebene einsetzt, bezeichnete die verfassungswidrige Erfassung später als eine „neue Art Rassenbekämpfung gegen die gesamte Minderheit der Sinti und Roma in Deutschland“.16 Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte bei einem Empfang des Zentralrats am 17. März 1982 den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma im Namen der deutschen Regierung erstmals offiziell anerkannt und eine auch aus völkerrechtlicher Sicht bedeutsame Aussage getroffen: „Den Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt. Diese Verbrechen haben den Tatbestand des Völkermords erfüllt.“17 Diese Anerkennung war wesentlich für die weiteren, mühsam erkämpften politischen Erfolge der deutschen Sinti und Roma. Massiv erschwert wurde dieser Weg durch geschichtspolitische Debatten über die ‚Singularität‘ des Holocaust an den Juden, die besonders von Historikern und Autoren wie Yehuda Bauer, Israel Gutman, Elie Wiesel, Eberhard Jäckel, Günter Lewy, und zum Teil auch Michael Zimmermann, initiiert wurden. Damit einher ging die Marginalisierung des Genozids an den Sinti und Roma. Die Forschungsmeinungen der genannten Autoren erweckten immer wieder den Eindruck, aus der von der Propaganda des ‚Dritten Reichs‘ vorgenommenen Hierarchisierung der Opfergruppen auch im wissenschaftlichen und erinnerungspolitischen Diskurs nach 1945 eine gewisse Abstufung von Opferleid und historischer Verantwortung ableiten zu müssen.18 Zwar wurden Sinti und Roma in den Propagandareden Hit-
16 Rose, Bürgerrechte für Sinti und Roma, 1987. S. 134. 17 Deutscher Bundestag, 9. Wahlperiode, Drucksache Nr. 9/2360 vom 21.12.1982, S. 3. 18 Vgl. Silvio Peritore: Geteilte Verantwortung? Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma in der deutschen Erinnerungspolitik und in Ausstellungen zum Holocaust, Diss. Universität Hannover 2012, S. 76–90, URL: http://edok01.tib.uni-hannover.de/edoks/ e01dh12/689270186.pdf, letzter Zugriff: 9.9.2013, insbes. die aufgeführten Quellenhinweise.
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lers nicht wie die Juden als „die Reichsfeinde“ stigmatisiert, trotzdem wurden auch sie nach Erlass der Nürnberger Rassegesetze systematisch erfasst, aufgespürt, entrechtet, enteignet und schließlich nach Kriegsbeginn in Konzentrationslagern im Reichsgebiet und auch in den besetzten Gebieten Europas ermordet. Der arbeitsteilige Verfolgungsprozess belegt ebenso wie die rassenpolitische Motivlage den intendierten Vernichtungswillen der NS-Führung auch gegenüber den Sinti und Roma. Diese Fakten wurden von den genannten Autoren negiert. Immerhin hatte Zimmermanns 1996 erschienene Habilitationsschrift Rassenutopie und Genozid trotz interpretatorischer Widersprüche bereits im Buchtitel den entscheidenden Aspekt des rassistisch motivierten Völkermords an den Sinti und Roma benannt, wenngleich der Autor dann den „polizeilichen Aspekt“ der ‚Zigeunerverfolgung‘ gegenüber der rassenpolitischen Verfolgungsintention überbetont.19 Der amerikanisch-jüdische Historiker Henry Friedländer, der sich stets für die Anerkennung der Sinti und Roma als Opfer des Genozids einsetzte, bemerkte dazu: „Meine Einbeziehung der ‚Zigeuner‘ in die Holocaust-Opfer ist für viele Historiker aus Gründen, die ich nicht verstehe, nicht annehmbar, auch für deutsche Historiker nicht. Der führende Gegner meiner Position aber ist wohl Prof. Yehuda Bauer aus Jerusalem. Ich wurde aber auch von linksstehenden Historikern angegriffen, die nicht akzeptieren konnten, dass man die beiden anderen Gruppen (psychisch Kranke und ‚Zigeuner‘) auch zu den Holocaust-Opfern zählt.“20
Dennoch blieben im Falle der Sinti und Roma häufig historische Quellen unberücksichtigt. Dies betrifft besonders die Durchführungsverordnungen zu den Nürnberger Rassegesetzen von Reichsinnenminister Frick vom 3. Januar 1936 sowie die Erlasse von Reichsführer SS Himmler vom 8. Dezember 1938, 27. April 1940 und vom 16. Dezember 1942. Diese belegen den rassenpolitischen Charakter der Verfolgung, die später in den Genozid führte, und bringen auch die juristische und faktische Gleichstellung mit den Juden zum Ausdruck.21 Die Nichtberücksichtigung solcher zentralen Bestimmungen der nationalsozialistischen Führung gegenüber den Sinti und Roma hat nach Wolfgang Wippermanns Meinung antiziganistische Vorurteile geradezu verstärkt.22 Inzwischen hat die Holocaust-Forschung bis auf einige immer noch bestehende Ausnahmen auch den Völkermord an den Sinti und Roma weitgehend in ihre Forschungsarbeit aufgenommen, sowohl in Deutschland als auch im Ausland. Es
19 Vgl. Michael Zimmermann: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996, S. 139–155. 20 Henry Friedländer: Von der Euthanasie zur Endlösung, in: Maike Rotzoll et al. (Hrsg.): „Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer, Paderborn 2010, S. 347– 349, hier S. 349. 21 Runderlass des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern v. 8.12.1938, S-Kr.1, Nr. 557 VIII/38-2026-6, Bundesarchiv R 58 /473). Neben dem Entzug der Reichsbürgerschaft regelten die Erlasse insbesondere die Erfassung, Festsetzung und Deportationen der deutschen Sinti und Roma. 22 Vgl. Wippermann, Auserwählte Opfer?, 2005, S. 141–146.
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sind wissenschaftliche Arbeiten entstanden, die eine mit dem Genozid an den Juden in den wesentlichen Aspekten vergleichbare Systematik und Radikalisierung der ‚Zigeunerverfolgung‘ belegen. Dies wird in neueren Beiträgen von Autoren wie Dieter Pohl, Frank Sparing, Karola Fings, Martin Luchterhandt, Gerhard Baumgartner, Florian Freund, Ulrich Opfermann, Ulrich Herbert, Mark Mazower, Boris Barth und in der Studie von Martin Holler23 deutlich. Auch bereits die seit längerem bestehenden und anerkannten Arbeiten von Peter Steinbach, Wolfgang Benz, Johannes Tuchel, Wolfgang Wippermann, Selma Steinmetz, Donald Kenrick/Grattan Puxon, Erika Thurner, Sybil Milton und Henry Friedländer hatten stets den geonozidalen Charakter der den Sinti und Roma zugefügten Verbrechen betont. Peter Steinbach stellte dazu fest: „Der industriemäßig betriebene Mord an den Juden und an der Volksgruppe, die man ‚Zigeuner‘ nannte, wurde aus einer gemeinsamen, gleichen rassenideologischen Wurzel legitimiert. Deshalb ist es geschichtsphilosophisch unangemessen, die parallel verlaufenden Vernichtungsversuche – den Völkermord an den Juden und an den Sinti und Roma – zu isolieren und die Vergleichbarkeit und Einzigartigkeit des einen Völkermordes zu betonen und die Bedeutung des anderen zu relativieren. (…) Die Ausstellung macht deutlich, dass sich der Völkermord an den europäischen Sinti und Roma, die wie die Juden seit Jahrhunderten in Europa leben, identischer Methoden bediente, dass die Praktiken der Vernichtung von Juden und Sinti und Roma völlig identisch waren. Insofern ist es völlig müßig, irreführend und abwegig, die Sinti und Roma auszugrenzen oder zu isolieren, wenn es um die Beschreibung des nationalsozialistischen Völkermordes geht.“24
Erwartungen der Sinti und Roma an die Erinnerungsarbeit In Ausstellungen zum Nationalsozialismus sollte ein Bewusstsein über geschichtliche Zusammenhänge und Abläufe sowie über die jeweiligen Verfolgungshintergründe mit ihren Nachwirkungen in Bezug auf die einzelnen Opfergruppen geschaffen werden. Der Anspruch auf eine wahrheitsgetreue, sensible und würdevolle Präsentation von Opferschicksalen gilt gleichermaßen für alle während des Nationalsozialismus verfolgten Gruppen. Dies gilt umso mehr, als wissenschaftliches Arbeiten in Gedenkstätten nicht in einem Vakuum, sondern in einem komplexen gesellschaftspolitischen Spannungsfeld stattfindet. Im Falle der Juden und der Sinti und Roma als den beiden Opfergruppen des NS-Völkermords ist es unverzichtbar, die jeweilige Verfolgungsgeschichte in ih-
23 Vgl. Martin Holler: Der Genozid an den sowjetischen Roma 1941–1944. Gutachten für das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg 2009, siehe insb. das Fazit S. 108–113. 24 Peter Steinbach: Ansprache zur Eröffnung der Wanderausstellung zum NS-Völkermord an den Sinti und Roma am 8.3.2001 in der Staatsbibliothek zu Berlin, Archiv Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma, Ordner transportable Holocaust-Ausstellung, TA/B 03/01.
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rer Dimension darzustellen: als den Versuch der totalen Vernichtung von Menschen nur aufgrund ihrer Existenz und in eine „integrierte historische Erzählung einzubeziehen“.25 Nur dann wird deutlich, dass es sich bei diesem Verbrechen um ein rassenpolitisches Mordprogramm handelte, das unabhängig vom Verhalten der Opfer ins Werk gesetzt wurde. Gerade in Ausstellungen zum Nationalsozialismus besteht die Notwendigkeit, mit der Präsentation bürgerlicher Existenzen von Sinti und Roma pauschale Zerrbilder über ‚Zigeuner‘ zu entkräften. Die gesellschaftliche Konstruktion und Rekonstruktion des ‚ewigen Zigeuners‘ als Projektionsfläche für romantische Vorstellungen und als Hassobjekt hat eine jahrhundertelange Tradition, obgleich Sinti und Roma als Bürger ihrer Heimatländer Teil der Gesellschaften waren und sind.26 Ihre Lebensentwürfe sind ebenso heterogen wie die anderer Bevölkerungsgruppen und daher differenziert darzustellen, ansonsten werden die nur schwer korrigierbaren Wahrnehmungsmuster über ‚Zigeuner‘ verstärkt.27 Mithin ist zu vermeiden, dass Klischees aufgrund einer unsensiblen und verzerrten Darstellung weitertransportiert oder Kontinuitäten zu vorherigen Verfolgungsmaßnahmen hergestellt werden. Mittels Text- und Bildanalysen sind besonders die diffamierenden und die Verbrechen legitimierenden NS-Dokumente über ‚Zigeuner‘ auf ihren Sinngehalt und ihre Aussagekraft zu prüfen. Zur Analyse der Ursachen des heutigen Antiziganismus und dessen Auswirkungen auf die Sinti und Roma ist es aufschlussreich, solche Quellen der damaligen wie der heutigen Lebensrealität der Minderheit gegenüberzustellen. Jedoch wird selbst noch in Gedenkstätten und in der Forschungsliteratur der romantisierende und diffamierende Fremdbegriff ‚Zigeuner‘ ohne Ansehung seines Gehalts benutzt, was aus vielen Gründen problematisch ist. Daher sind Ausstellungskuratoren aufgefordert, mit dem ‚Zigeuner‘Begriff kritisch umzugehen, auf die Entstehung des ‚Zigeunerbildes‘ und auf die bestehenden Vorurteile einzugehen. Überdies sind die deutsche Nachkriegsgesellschaft und ihr Umgang mit den Sinti und Roma zu beleuchten. Bezüglich der Vernichtung der Sinti und Roma in den besetzten Ländern Ost- und Südosteuropas wären die jeweiligen Gesellschaftsstrukturen in ihren sozialhistorischen Kontexten ebenso wie politische Entwicklungsprozesse zu betrachten, damit deutlich
25 Saul Friedländer: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007, S. 7. 26 Vgl. Frank Reuter: Fotografische Repräsentation von Sinti und Roma: Voraussetzungen und Traditionslinien, in: Silvio Peritore, Frank Reuter (Hrsg.): Inszenierung des Fremden. Fotografische Darstellung von Sinti und Roma im Kontext der historischen Bildforschung, Heidelberg 2011, S. 163–221. 27 Vgl. Egon Schweiger: Zur Darstellung und Wahrnehmung der Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma in den Schulbüchern, in: Landeszentrale für Politische Bildung BadenWürttemberg, Landesverband Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg (Hrsg.): „Zwischen Romantisierung und Rassismus“. Sinti und Roma 600 Jahre in Deutschland., Stuttgart 1998, S. 56–62.
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wird, dass auch Angehörige der Minderheit Bürger ihrer Heimatländer waren und nicht umherziehende Fremde. Zur besseren Durchsetzung seiner erinnerungspolitischen Ziele hatte der Zentralrat 1991 mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma eine Facheinrichtung geschaffen, die fortan auf nationaler und internationaler Ebene als Kooperationspartner für verschiedene Einrichtungen wie Universitäten, Gedenkstätten und Museen fungiert. Im Dokumentationszentrum nimmt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma und dessen Dokumentation in Ausstellungen und Publikationen einen zentralen Stellenwert ein. Priorität hat die Sammlung und Archivierung von Berichten, Fotos und Dokumenten von HolocaustÜberlebenden. Deren Zeugnisse sind Kern der dort am 16. März 1997 eröffneten, weltweit ersten Dauerausstellung zu diesem Völkermord. Auf einer Fläche von 700 Quadratmetern wird auf drei Ebenen der Genozid in seinen Entwicklungsstufen dargestellt. Mit den Einzelschicksalen aus der Zeit vor der Verfolgung werden die Sinti und Roma als deutsche Bürger präsentiert, die nicht den gängigen ‚Zigeunerklischees‘ entsprechen, sondern ebenso wie andere Deutsche als selbständige Unternehmer, Angestellte oder Arbeiter in allen gesellschaftlichen Schichten und Berufen beheimatet waren.28 Die Ausstellung enthält zwei Ebenen, in denen persönliche Berichte den Täterdokumenten gegenüberstehen. Gestalterisch wurden die beiden Ebenen voneinander getrennt, thematisch korrespondieren sie, so dass sie parallel wahrnehmbar sind. Besucher können sich über das Leben der Sinti und Roma vor der Verfolgung informieren und eine Kritikfähigkeit gegenüber den Täterquellen entwickeln. Im Ausstellungskonzept heißt es: „Ziel der Ausstellungen ist die Annäherung an den Holocaust an den Sinti und Roma: ein Menschheitsverbrechen, das in seinem Ausmaß bis heute unvorstellbar bleibt. Auf der Grundlage der NS-Rassenideologie wurden Sinti und Roma ebenso wie Juden vom Säugling bis zum Greis erfasst, entrechtet und systematisch ermordet. Die Darstellung kann nicht lediglich auf die Täterdokumente reduziert werden. Jedes NS-Dokument spiegelt die Perspektive der Mörder wider und transportiert rassistische Inhalte weiter. Die Dokumentation der Verfolgungsgeschichte soll von den Menschen ausgehen, die zu Opfern gemacht wurden; ihre Biographien stehen im Zentrum.“29
Auf dieser Grundlage hat das Dokumentationszentrum im Jahr 2001 eine 560 Quadratmeter umfassende Dauerausstellung zu diesem Thema im Staatlichen Museum Auschwitz realisiert. Sowohl dazu als auch zu der Heidelberger Ausstellung
28 Vgl. Silvio Peritore, Frank Reuter: Mit den Augen der Täter? Fotodokumente des NSVölkermords an den Sinti und Roma, in: Dies. (Hrsg.): Inszenierung des Fremden. Fotografische Darstellung von Sinti und Roma im Kontext der historischen Bildforschung, Heidelberg 2011. S. 93–129. 29 Vgl. Silvio Peritore, Frank Reuter: Konzeptionelle Gedanken zu NS-Ausstellungen über Sinti und Roma, unveröff. Ms., Heidelberg 2009, S. 1, Archiv Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma, AK 09.
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existieren transportable Versionen. Diese waren inzwischen an über 100 Orten im In- und Ausland zu sehen, darunter bei den Vereinten Nationen in New York, im Europäischen Parlament in Straßburg sowie in einigen europäischen Hauptstädten. Bereits 1993 hatte das Dokumentationszentrum im Rahmen einer Gedenkstättentagung zur Auseinandersetzung mit dem Völkermord Grundsätze formuliert, die für das Erinnern an den NS-Völkermord an den Sinti und Roma vor dem Hintergrund damals immer noch bestehender Verdrängungs- und Verharmlosungstendenzen unverzichtbar erschienen und insbesondere für die Konzeption von Ausstellungen in Gedenkstätten Anwendung finden sollten. Hiervon werden die wichtigsten dargestellt: „1. Wie bei den Juden ist der Völkermord an den Sinti und Roma als ein rassistisch motivierter Genozid darzustellen, der auf der Grundlage einer menschenverachtenden Ideologie mit einem arbeitsteiligen Staatsapparat propagiert, systematisch geplant, organisiert und effizient durchgeführt wurde. 2. Um der europäischen Dimension des Genozids an den Sinti und Roma gerecht zu werden, ist er in seiner Komplexität und Radikalisierung darzustellen: von der systematischen Erfassung, Ausgrenzung, Entrechtung und rassenbiologischen Begründung bis zum Völkermord. Als integraler Bestandteil der NS-Rassen- und Vernichtungspolitik ist er als solcher zu dokumentieren. 3. Unverzichtbar ist ein verantwortungsbewusster, sensibler Umgang mit dem historischen Quellenmaterial. Auch aus didaktischer Sicht sind Täterquellen auf ihre Wirkung zu prüfen, inwieweit sie die Opfer diffamieren und die Verbrechen legitimieren. Persönliche Zeugnisse wie Familienbilder und die Berichte von Überlebenden sind ein wichtiger Gegenpol dazu, weil sie die Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma von den ‚Zigeunerklischees‘ in der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet.“30
Diese Prinzipien stellen bis heute eine wesentliche Verhandlungsgrundlage des Dokumentationszentrums mit Gedenkstätten, Museen, Autoren und Wissenschaftlern dar. Seitdem wird der Genozid an den Sinti und Roma in über 40 ständigen und temporären Ausstellungen in Gedenkstätten und zeithistorischen Museen im In- und Ausland thematisiert. Dies geschieht in unterschiedlicher Weise, entweder in eigenen Abschnitten, Kapiteln oder mit Kurzhinweisen. Zu den großen Einrichtungen zählen die KZ-Gedenkstätten mit internationalem Stellenwert und einer hohen Besucherwahrnehmung: Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Mittelbau-Dora, Neuengamme, Ravensbrück und Sachsenhausen. Daneben existieren Themenbezüge zu Sinti und Roma in den Ausstellungen der in Berlin ansässigen Einrichtungen Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Stiftung Topographie des Terrors, Ort der Information der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas sowie Deut-
30 Vgl. Peritore, Reuter: Konzeptionelle Gedanken zu NS-Ausstellungen über Sinti und Roma, S. 2. Zu den „Zigeunerbildern“ vgl. auch: Wilhelm Solms: Zigeunerbilder deutscher Dichter, in: Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Landesverband Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg (Hrsg.): „Zwischen Romantisierung und Rassismus“, 1998, S. 50–55.
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sches Historisches Museum (DHM). Selbstverständlich kann der Völkermord an den Sinti und Roma in solchen Einrichtungen nicht annähernd ausführlich wie im Heidelberger Zentrum dokumentiert werden, trotzdem ist es möglich, zumindest wesentliche Entwicklungslinien und den genozidalen Charakter des Verbrechens allgemein verständlich darzustellen.
Präsentation am Beispiel der Gedenkstätte Sachsenhausen Das Konzentrationslager Sachsenhausen wurde 1936 als nationalsozialistisches „Musterlager“ eingerichtet.31 Über 200.000 Häftlinge aus Europa waren dort inhaftiert, darunter von 1938 bis 1994 auch über 2.000 Sinti und Roma; sie wurden zumeist Opfer von Zwangsarbeit, medizinischen Versuchen oder Erschießungen. Die ersten Einweisungen der Sinti und Roma erfolgten ab 1938 in das KZ Sachsenhausen im Rahmen der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ neben Juden und als „Asoziale“ diffamierten Menschen. Eine weitere große Deportationswelle führte Sinti und Roma im Herbst 1944 aus den letzten 3.000 Selektierten aus dem „Zigeunerlager“ von Auschwitz-Birkenau nach Sachsenhausen zur Zwangsarbeit im ehemaligen Klinkerwerk. Nur wenige haben überlebt. In der Gedenkstätte Sachsenhausen hat sich das Konzept der „dezentralen Erinnerung“ bewährt. Dieses sieht vor, innerhalb der verschiedenen Lagerkomplexe die jeweiligen Ereignisse mit thematischen Einzelausstellungen hervorzuheben. Für die Präsentation der Sinti und Roma wurde innerhalb der am 7. November 2004 eröffneten ständigen Ausstellung „Medizin und Verbrechen“ in der ehemaligen Krankenrevierbaracke eigens ein Raum mit einer Fläche von 120 Quadratmetern eingerichtet. In der Folge fand zwischen der Gedenkstätte und dem Dokumentationszentrum ein konstruktiver Austausch über die konzeptionelle Gestaltung statt. Das Dokumentationszentrum hatte Vorschläge und Quellenmaterialien unterbreitet. Darunter befanden sich zwölf Biografien von Sinti und Roma. Diese enthielten Familienfotos, Briefe und Dokumente, teilweise sogar Exponate aus der Zeit vor und während der Verfolgung. Die Ausstellung enthält folgenden Einleitungstext: „Sinti und Roma im Konzentrationslager Sachsenhausen Schon bald nach der Machtübernahme begannen die Nationalsozialisten, die in Deutschland lebenden Sinti und Roma zu verfolgen. Sie konnten sich dabei auf weit verbreitete Vorurteile gegen die ‚Zigeuner‘ stützen. Bei der Erfassung, Diskriminierung und Verfolgung der Sinti und Roma wirkten verschiedene Ämter und Dienststellen von Partei und Staat zusammen. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs dehnten die Nationalsozialisten ihre gegen die Sinti und Roma gerichtete Politik auf die besetzten Länder aus. Zunächst auf dem Balkan, dann in der Sowjetunion begann das Dritte Reich mit dem systematischen Massenmord an den Roma und
31 Vgl. Günter Morsch: Von der Sachsenburg nach Sachsenhausen. Bilder aus dem Fotoalbum eines KZ-Kommandanten, Berlin 2007, S. 87ff.
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Silvio Peritore Sinti. Hunderttausende fielen ihm zum Opfer. Das KZ Sachsenhausen war in den Jahren 1936 bis 1945 für mehr als tausend Sinti und Roma ein Ort von Terror, Misshandlung und Tod. Rassenforscher führten an ihnen Untersuchungen durch, um ihre angebliche Minderwertigkeit zu beweisen. Diese Begutachtungen, die für viele ein Todesurteil bedeuteten, fanden in den Baracken des Krankenreviers statt.“
Der Begriff „systematischer Massenmord“ und die Nennung der geschätzten Opferzahl „Hunderttausende“ implizieren den genozidalen Charakter des Verbrechens. Anhand der Verweise auf Auschwitz und das Getto Lodz werden auszugsweise Parallelen zum Völkermord an den Juden vermittelt. Auch die Beschreibung des arbeitsteiligen Prozesses der im europäischen Kontext dargestellten Verfolgungspolitik gegenüber den Sinti und Roma ist ebenso wie die ausführlich dargestellte Rassenforschung als ideologische Grundlage der Vernichtung signifikant dafür. Hierbei wird die Rolle Himmlers, eines Teiles der mit den serologischen Untersuchungen befassten Ärzteschaft und der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ anhand von Biografien von Tätern und Opfern sowie mit Bildern und Exponaten beleuchtet. Im Haupttext fehlen zwar Hinweise zur systematischen Entrechtung infolge der Nürnberger Rassegesetze, diese erfolgen jedoch in den Biografien. Die Mordaktionen „medizinische Versuche“ sowie Zwangsarbeit werden thematisiert, ebenso die aus dem Ausbeutungsgedanken resultierenden Transporte im August 1944 von Auschwitz nach Sachsenhausen; in den Vernichtungslagern wurden auch „Sinti und Roma ‚fabrikmäßig‘ getötet“.32 Erstmals werden zwei durch die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ angefertigten Kopfmodelle und Gesichtsmasken zu Sinti-Männern sowie anthropologische Messinstrumente präsentiert, die der Bestimmung der Haar- und Augenfarben dienten. Die Universität Tübingen stellte sie der Gedenkstätte als Dauerleihgabe zur Verfügung. Diese Exponate zeugen von einer verbrecherischen Wissenschaft, die eine Grundlage für den systematischen Massenmord schuf. Am Beispiel Sachenhausen wird die Verflechtung zwischen Rassenwissenschaften und Ärzteschaft mit den nationalsozialistischen Institutionen, vor allem der SS, deutlich.33 Die Biografien von integrierten deutschen Sinti und Roma nehmen einen besonderen Raum ein; diese sind in Hochvitrinen ausgestellt und mit Exponaten versehen. Zu allen Lebensgeschichten werden die wesentlichen Entwicklungslinien der Verfolgung dargelegt, sodass sich die Systematik der NS-Mordpolitik erschließt. Der Umweg über die Biografien war erforderlich, weil das dezentrale Konzept einen unmittelbaren Bezug zum Ort Sachsenhausen vorsieht. Insofern war es zunächst schwierig, auch Themen wie die Massenerschießungen hinter der Ostfront oder Vergasungen in Auschwitz zu dokumentieren. Wenn vereinzelt über
32 Astrid Ley, Marion Maria Ruisinger: Gewissenlos – gewissenhaft. Menschenversuche im Konzentrationslager. Eine Ausstellung des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Erlangen, Erlangen 2001, S. 78. 33 Vgl. Hans Walter Schmuhl (Hrsg.): Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003, S. 254ff.
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die biografischen Zusammenhänge der dargestellten Schicksale die weiteren Verfolgungswege nicht nachgezeichnet werden konnten, wurden in Begleittexten Verweise hergestellt, etwa zu den „Nürnberger Gesetzen“ und deren unmittelbare Folgen für die Betroffenen. Auch bestehen lokale Bezüge durch die Thematisierung des Lagers Berlin-Marzahn und der 1936 begonnenen Festsetzung der Berliner Sinti. Am Schicksal des deutschen Sinto Reinhold Laubinger werden die Stationen der Verfolgung aufgezeigt. Er wurde 1938 nach Sachsenhausen eingeliefert, nachdem er zuvor sein Arbeitsverhältnis verloren hatte. Obwohl er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, wurde er als „Rechtsbrecher“ nach Auschwitz verschleppt und ermordet. Die zuvor erfolgte Klassifizierung als „Zigeuner“ war sein Todesurteil. Mit seinem exemplarischen Schicksal setzt die Ausstellung der propagandistisch motivierten „Aktion Arbeitsscheu Reich“ vom Juni 1938, die sich gegen alle als „Volks- und Rassenfeinde“ bezeichneten Gruppen richtete und diese zu „Asozialen“ herabwürdigte, bürgerliche Existenzen entgegen. Dies ist auch aus didaktischer Sicht ein richtiger Ansatz; überdies werden die Opfer in sensibler und würdevoller Weise dargestellt. Die Ausstellung „Medizin und Verbrechen“ setzt aus wissenschaftlicher, gestalterischer und erinnerungspolitischer Sicht Maßstäbe für die Konzeption von NS-Ausstellungen. Sie vermittelt grundlegende Fakten zum Genozid an den Sinti und Roma und macht die Parallelen zum Schicksal der Juden deutlich.
Weitere Präsentationsformen in Gedenkstätten und Museen In diesem Sinne angemessene Präsentationen zum Genozid an den Sinti und Roma finden sich auch in den Ausstellungen der Gedenkstätten Buchenwald, Flossenbürg, Deutscher Widerstand sowie der Topographie des Terrors. Besonders die Ausstellung der Topographie des Terrors stellt kompakt die wichtigsten Informationen zur Verfügung und hat über den eigentlichen Kapiteltext hinaus in weiteren Themenbereichen Textaussagen dazu getroffen, die den genozidalen Charakter des Verbrechens und seine europäische Ausdehnung vermitteln. Die Ausstellungen der Gedenkstätten Dachau, Neuengamme und Mittelbau-Dora sowie des DHM zeigen besonders anhand beeindruckender Biografien gute Ansätze, geben jedoch dem Charakter des Verbrechens als europaweit durchgeführter Genozid zu wenig Raum. Besonders im DHM wäre der Völkermord in seiner Motivlage und Systematik von den Verbrechen an Opfergruppen wie den schwarzen Deutschen oder „Asozialen“ zu unterscheiden gewesen. Im Ort der Information am Denkmal für die ermordeten Juden Europas sind Stationen der Vernichtung dokumentiert, ohne einen Vergleich zum Holocaust an den Juden zu ziehen. Hierzu besteht mit dem am 24. Oktober 2012 eröffneten Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma und der dortigen Chronologie zum Völkermord die Möglichkeit, Defizite der Ausstellung in der pädagogischen Arbeit zu kompensieren. Den Anforderungen einer angemessenen Präsentation der Sinti und Roma werden die Gedenkstätten Bergen-Belsen und Haus der Wannseekonferenz nicht gerecht. Kritikpunkte beziehen sich jeweils im Wesentlichen auf:
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marginale Darstellung, die dem Charakter und der Dimension des Völkermords nicht entspricht und nicht deutlich von anderen NS-Verbrechen abgrenzt Nichtbeachtung von Quellen, die Parallelen zum Genozid an den Juden belegen Fehlinterpretation verwendeter Täterquellen (Dokumente, Fotos) hinsichtlich ihrer rassenpolitischen Intention zur Vernichtung der Sinti und Roma undifferenzierte Darstellung der Lebenssituation der Sinti und Roma in der Zeit vor der NS-Verfolgung.
Zusammenfassung In den letzten 20 Jahren sind beachtliche erinnerungspolitische Erfolge bezüglich einer breiteren Bewusstseinsbildung über den NS-Völkermord an den Sinti und Roma eingetreten. Aufgrund von heute bestehenden 40 Ausstellungen, in denen auch der Genozid an den Sinti und Roma in unterschiedlicher Weise erwähnt wird, entsteht der Eindruck, dass dieses Thema weder tabuisiert noch marginalisiert wurde. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass einige Ausstellungen zum Teil inhaltliche Defizite aufweisen. Gerade an diesen Orten wird eine faktengetreue Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Opferschicksalen erwartet, weshalb die Gefahr besteht, dass klischeehafte und verharmlosende Darstellungen über Sinti und Roma von Besuchern als real eingestuft werden können. Ein Austausch zwischen Gedenkstätten, Fachwissenschaft und Opferverbänden ist daher sinnvoll, damit die möglichen Folgen einer bestimmten Darstellungsweise bedacht werden. Diese soll weder Raum für historische Verzerrungen oder Ausblendungen noch pauschalierende Klischees lassen. Inzwischen findet in einigen Gedenkstätten zu Sinti und Roma eine pädagogische Arbeit statt; dazu gehören Zeitzeugengespräche, Lesungen, Gedenkveranstaltungen und Workshops. Die von der Politik bisweilen großspurig verkündete historische Verantwortung, die heute aus dem Holocaust resultiert, gilt auch für die zwölf Millionen Sinti und Roma in Europa. Ein Grund für deren fortwährende Diskriminierung und die zahlreichen rassistisch motivierten Übergriffe auf Sinti und Roma in den Ländern Ost- und Südosteuropas besteht auch darin, dass dort noch zu wenig über den nationalsozialistischen Völkermord an dieser Minderheit bekannt ist und somit rassistische Entwicklungen oft verharmlost werden. Es bleibt eine spannende Frage, ob der Gedenkakt im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2011, an dem mit Zoni Weisz erstmals ein Sinto die Ansprache34 hielt, und das am 24. Oktober 2012 in Berlin im Beisein des Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin eingeweihte Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma da-
34 Zoni Weisz: Rede zum Gedenkakt des Deutschen Bundestags für die Opfer des Nationalsozialismus am 27.1.2011, in: Das Parlament, 31.1.2011, S 3ff.
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zu beitragen können, dass diese Minderheit in der Erinnerungskultur einen bedeutenderen Stellenwert als Opfer des NS-Völkermords erlangen können. Ausstellungen über den Nationalsozialismus mit ihrer hohen Besucherfrequentierung können hierzu eine wichtige thematische Vertiefung leisten.
NIVELLIERENDES ERINNERN. BESUCHERREAKTIONEN AN HISTORISCHEN ORTEN AUFEINANDERFOLGENDEN NATIONALSOZIALISTISCHEN UND KOMMUNISTISCHEN UNRECHTS Bert Pampel
Zusammenfassung: Deutschland hat sich wie kein zweites europäisches Land mit den Untaten und Ideologien von Nationalsozialismus und Kommunismus auseinanderzusetzen. Hierbei entzünden sich immer wieder Kontroversen um Orte mit ‚doppelter Vergangenheit‘, das heißt um Stätten wie Buchenwald, Sachsenhausen oder Torgau, an denen auf die nationalsozialistischen Verbrechen kommunistische folgten. Der Beitrag fragt nach Bewertungen, Eindrücken oder Schlussfolgerungen, mit denen Besucher auf die Deutungen reagieren, die die vor Ort eingerichteten Gedenkstätten anbieten. Unter Bezug auf Besucherbucheinträge, Fragebogenuntersuchungen und fokussierte Interviews wird die These vertreten, dass sie entgegen den Intentionen der Kuratoren, die überwiegend auf bevorzugte Behandlung des Nationalsozialismus und auf Differenzierung zielen, die Unterschiede zwischen den aufeinanderfolgenden Zeiträumen tendenziell einebnen. Abstract: Germany must deal like no other European country with the crimes and ideologies of National Socialism and Communism. A fact that often sparks up controversies about historic sites with a double history, such as Buchenwald, Sachsenhausen, and Torgau, where communist crimes followed National Socialist atrocities. The article discusses assessment, impressions, and conclusions with which visitors reacted to interpretations projected by the local memorial museums. Based on the visitors’ entries in guest books, surveys, and focused interviews, it is argued that these reactions contrary to the curators’ intentions – aimed mainly at the preferential treatment of National Socialism and differentiations – tend to level out the distinctions between the successive periods.
„Wer vom Stalinismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Als der spanische Schriftsteller und frühere Häftling im nationalsozialistischen Konzentrationslager Buchenwald Jorge Semprún am 6. Juni 1986 aus Anlass der Frankfurter Römerberggespräche diese Abwandlung des bekannten Max-Horkheimer-Zitats „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ vortrug, wird er wahrscheinlich nicht auf viel Sympathie gestoßen sein.1 Am selben Tag erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Ernst
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Jorge Semprún: Stalinismus und Faschismus, in: Hilmar Hoffmann (Hrsg.): Gegen den Versuch, Vergangenheit zu verbiegen. Eine Diskussion um politische Kultur in der Bundesrepublik aus Anlass der Frankfurter Römerberggespräche 1986, Frankfurt am Main 1987, S. 37– 49, hier: S. 49.
Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 119–138
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Noltes Beitrag „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, der zu den Auslösern des ‚Historikerstreits‘ gehörte. Nolte hatte ihn für die Römerberggespräche vorgesehen, aber nicht gehalten. Was 1986 noch als relativierende Einzelmeinung galt, nämlich die Forderung nach einer gleichwertigen Beschäftigung mit den beiden Weltanschauungen und mit den auf ihnen gründenden Diktaturen sowie der Aufruf zu einer Thematisierung ihrer Wechselbeziehungen und Ähnlichkeiten, fand nach dem Ende der kommunistischen Regime in Europa zwischen 1989 und 1991 vermehrt Zustimmung. Totalitarismustheorien erlebten eine Renaissance. Die Verbrechen des Kommunismus und seine Opfer, aber auch Opposition und Widerstand dagegen, fanden Eingang in die Erinnerungskultur. Die in der DDR staatlich verordneten Geschichtsbilder vom Nationalsozialismus wurden kritisch erörtert und verloren an Bedeutung.2 Diese nach wie vor andauernden Umwälzungen des Geschichtsbewusstseins und der Geschichtskultur sind europaweit mit teils heftigen öffentlichen Kontroversen verbunden. Ohne dies weiter auszuführen, seien stellvertretend für Deutschland die Debatten um die Bundesgedenkstättenkonzeption, der Streit um das Sächsische Gedenkstättenstiftungsgesetz und die Reaktionen auf die Rede der lettischen Außenministerin und EU-Kommissarin Sandra Kalniete vom 24. März 2004 genannt, in der sie Nazismus und Kommunismus als „gleich kriminell“ bezeichnete. Auch die Kontroversen um den 23. August (1939) als „europaweiten Gedenktag an die Opfer aller totalitären und autoritären Regime“3 gehören in diesen Zusammenhang. Die partikularen Erinnerungen der Opfergruppen und der europäischen Länder prallen aufeinander und konkurrieren um historische Anerkennung und Geltung in den jeweiligen nationalen Geschichtskulturen, aber auch in Europa insgesamt.4 In Deutschland richtet sich öffentliches wie geschichtspolitisches Interesse seitdem unter anderem auf einen besonderen Teil der Topografie des Terrors der Weltanschauungsdiktaturen. Orte wie Buchenwald, Sachsenhausen, Torgau, Münchner Platz Dresden, Roter Ochse in Halle/Saale und andere erwiesen sich als Stätten mit
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Bernd Faulenbach: Die neue geschichtspolitische Konstellation der neunziger Jahre und ihre Auswirkungen auf Museen und Gedenkstätten, in: Volkhard Knigge, Ulrich Mählert (Hrsg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln u. a. 2005, S. 55–69. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009, URL: http://www.europarl. europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2009-0213+0+DOC+XML+ V0//DE; letzter Zugriff: 7.8.2013. Muriel Blaive, Christian Gerbel, Thomas Lindenberger (Hrsg.): Clashes in European Memory. The Case of Communist Repression and the Holocaust, Innsbruck u. a. 2011; Stefan Troebst: Jalta versus Stalingrad, GULag versus Holocaust. Konfligierende Erinnerungskulturen im größeren Europa, in: Bernd Faulenbach, Franz-Josef Jelich (Hrsg.): „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, Essen 2006, S. 23–49; Ders.: Der 23. August als euroatlantischer Gedenktag? Eine analytische Dokumentation, in: Anna Kaminsky, Dietmar Müller, Stefan Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011, S. 431–467.
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mindestens ‚doppelter Vergangenheit‘ in dem Sinne, dass hier nicht nur die Nationalsozialisten, sondern anschließend auch Kommunisten Verbrechen begingen, wenngleich von verschiedener Qualität und Intensität. Die Darstellungen und damit Interpretationsangebote der historisch aufeinanderfolgenden Unrechtskomplexe an diesen Orten und ihre Rezeption durch Besucher sind Gegenstand dieses Beitrages. Welche Deutungen, welche Geschichtsbilder spiegeln sich in den Darstellungen in inhaltlicher, gestalterischer und pädagogischer Perspektive? Mit welchen Bewertungen, Eindrücken oder Schlussfolgerungen reagieren Besucher auf diese Deutungen? Der Aufsatz versteht sich als Beitrag zu einer empirisch gestützten Analyse der Beeinflussung subjektiver Geschichtsvorstellungen durch öffentliche Geschichtspräsentationen. Es geht mithin um das Wirksamwerden der sprachlich, architektonisch oder symbolisch manifestierten Deutungen bei durchschnittlichen Besuchern. Da es bislang jedoch kaum entsprechende empirische Untersuchungen gibt, muss es bei einer ersten Annäherung bleiben. Eine Diskursanalyse oder Rekonstruktion der öffentlichen Debatten um die Gestaltung dieser Orte im Sinne einer Beschreibung der Motive und Interessen der verschiedenen Akteure (Opferverbände, Politiker, Fachwissenschaftler), also eine genuin politikwissenschaftliche Herangehensweise an Erinnerungskultur und -politik,5 leistet der folgende Beitrag demgegenüber nicht.6 Auch kann auf die jeweilige konkrete Geschichte der Konzentrationslager, Speziallager, Gerichtsorte, Haftstätten und Richtorte nicht ausführlich eingegangen werden.7 Der Einordnung in den erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Rahmen folgt im ersten Teil ein knapper problemorientierter Überblick über die Darstellung der ‚doppelten Vergangenheit‘ in Ausstellungen sowie über ihre Behandlung in Vermittlungskonzepten. Im zweiten, umfangreicheren Teil entwickle ich unter Bezug auf Besucherbucheinträge, Fragebogenuntersuchungen und fokussierte Interviews folgende Thesen: In der Reflexion ihrer Besuchswahrnehmung ebnen Besucher entgegen den Intentionen der Kuratoren, die überwiegend auf Hierarchisierung und Differenzierung zielen, die Unterschiede zwischen den
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Michael Kohlstruck: Erinnerungspolitik: Kollektive Identität, Neue Ordnung, Diskurshegemonie, in: Birgit Schwelling (Hrsg.): Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004, S. 173–193, hier S. 176. Siehe hierzu unter anderem: Erik Meyer: Vorwärts in die Vergangenheit oder Zurück in die Zukunft? Die Bedeutung geschichtspolitischer Kontroversen für die politische Kultur der Berliner Republik am Beispiel der Gedenkstätte Buchenwald, in: Michael Müller, Thilo Raufer, Dariuš Zifonun (Hrsg.): Der Sinn der Politik. Kulturwissenschaftliche Politikanalysen, Konstanz 2002, S. 107–121; Ders: Erinnerungskultur als Politikfeld. Geschichtspolitische Deliberation und Dezision in der Berliner Republik, in: Wolfgang Bergem (Hrsg.): Die NSDiktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Opladen 2003, S. 121–136. Siehe hierzu unter anderem Norbert Haase, Bert Pampel (Hrsg.): Doppelte Last – doppelte Herausforderung. Gedenkstättenarbeit und Diktaturenvergleich an Orten mit doppelter Vergangenheit, Frankfurt am Main 1998; Peter Reif-Spirek, Bodo Ritscher: Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Berlin 1999, sowie die einschlägigen Ausstellungsbegleitbände.
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aufeinanderfolgenden Zeiträumen tendenziell ein, und zwar weitgehend unabhängig von der gestalterischen Konzeption der Geschichtspräsentationen. Ursächlich hierfür sind insbesondere eine den historischen Orten innewohnende nivellierende Kraft, Besucherbedürfnisse nach eindeutiger Orientierung, Übersichtlichkeit und positiver nationaler Selbstvergewisserung sowie intellektuelle Trägheit.
Hierarchisierung statt Gleichsetzung. Dominanz der NS-Zeit in der deutschen Erinnerungskultur und den Repräsentationen ‚doppelter Vergangenheit‘ in Gedenkstätten Gedenkstätten sind Teil der Erinnerungs- und Geschichtskultur und als solche Gegenstand und Instrumente von Erinnerungs- beziehungsweise Geschichtspolitik.8 Dem öffentlichen Umgang mit der Vergangenheit, für den in Deutschland Begriffe wie „Vergangenheitsbewältigung“ oder „Aufarbeitung der Vergangenheit“ geprägt worden sind,9 kommt dabei gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und Transformationsprozesse, wie dem Übergang von der Diktatur zur Demokratie, aber auch vice versa, besondere Bedeutung zu. Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit dient dann insbesondere der Abgrenzung vom Vorgängerregime, das durch verschiedene Aktivitäten wie etwa den Austausch der Eliten, strafrechtliche Aufarbeitung des vergangenen Unrechts, Wiedergutmachung und durch öffentliche Aufklärung delegitimiert wird, sowie der Stabilisierung und Legitimierung des neuen Systems. Inzwischen gilt die deutsche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus selbst bereits als legitimations- und identitätsstiftend in dem Sinne, dass sich ‚die Deutschen‘ als dasjenige Volk definieren, „das vor langer Zeit die Juden ermordet, später daraus gelernt und ein freiheitliches Gemeinwesen aufgebaut habe“.10 Seit 1989/90 wird die Vergangenheitsbewältigung des Nationalsozialismus um die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur in der SBZ/DDR 8
Zu den unterschiedlichen begrifflichen Konzepten, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, vgl. unter anderem Holger Thünemann: Geschichtskultur als Forschungsansatz zur Analyse des Umgangs mit der NS-Zeit und dem Holocaust, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (2005) S. 230–240; Helmut König: Das Politische des Gedächtnisses, in: Christian Gudehus, Ariane Eichenberg, Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart u. a. 2010, S. 115–125; sowie Jörn Rüsen, Friedrich Jaeger: Erinnerungskultur, in: Karl-Rudolf Korte, Werner Weidenfeld (Hrsg.): Deutschland-TrendBuch. Fakten und Orientierungen, Bonn 2001, S. 397–428. 9 Helmut König: Von der Diktatur zur Demokratie oder Was ist Vergangenheitsbewältigung?, in: Ders., Michael Kohlstruck, Andreas Wöll (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Opladen u. a. 1998, S. 371–392; Bert Pampel: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit? Lassen sich aus der Vergangenheitsbewältigung nach 1945 Lehren für die Aufarbeitung nach 1989 ziehen?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1995, 1–2, S. 27–38. 10 Jan-Holger Kirsch: Nationaler Mythos oder historische Trauer? Der Streit um ein zentrales „Holocaust-Mahnmal“ für die Berliner Republik, Köln u. a. 2003, S. 78.
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ergänzt, sodass für die deutsche Erinnerungskultur im Ganzen inzwischen eine doppelte Abgrenzung sowohl von der NS-Diktatur als auch von der kommunistischen Gewaltherrschaft charakteristisch ist. Über deren Gewichtung wird allerdings – nicht zuletzt im Hinblick auf die finanzielle Förderung von erinnerungskulturellen Aktivitäten – immer wieder neu verhandelt. Welcher der beiden Vergangenheiten wird größere Aufmerksamkeit zuteil, welche gilt als weniger bedeutsam? Und was bedeutet dies für die gesellschaftliche Anerkennung der jeweiligen Opfergruppen? Gegenwärtig dominieren die NS-Vergangenheit und insbesondere der Holocaust die deutsche Erinnerungskultur. Darüber, dass die Erinnerung an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft auch weiterhin eine herausragende Rolle für das historische Selbstverständnis einnehmen soll, besteht unter den das kulturelle Gedächtnis prägenden Eliten und Traditionsträgern weitgehend Konsens.11 Die Beschäftigung mit der kommunistischen Diktatur in der SBZ/DDR ist demgegenüber von weitaus geringerer Intensität. Darüber, dass es bei dieser Nachordnung bleiben soll und beide Diktaturen nicht gleichgesetzt werden dürfen, besteht ebenfalls weitgehend Übereinstimmung.12 Gleichzeitig gibt es auch Stimmen, die ungeachtet der auf Deutschland bezogenen unterschiedlichen Schreckensbilanz der Diktaturen – im Hinblick auf den Kommunismus als globales Phänomen sieht das anders aus – eine Vernachlässigung der Beschäftigung mit dem Kommunismus im Erinnerungsdiskurs konstatieren und darauf dringen, ihr einen angemessenen Stellenwert in der gesamtdeutschen Geschichtskultur zu verschaffen.13 Die deutsche zeitgeschichtliche Erinnerungskultur steht insofern seit 1989/90 vor der Aufgabe, das in der SBZ/DDR verübte Unrecht unter der Prämisse der fortdauernden Dominanz der NS-Verbrechen und insbesondere des Holocausts zu vergegenwärtigen, ohne dabei einerseits die stalinistischen Verbrechen zu bagatellisieren und deren Opfer in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zurückzusetzen und ohne dabei andererseits die Zeit des Nationalsozialismus mit ihren einzigartigen Verbrechen zu relativieren.14 11 Faulenbach: Die neue geschichtspolitische Konstellation, 2005, S. 63. 12 Klaus-Dietmar Henke: „Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen“. Grundsätzliche Bemerkungen zum Gedenken an deutsche Diktaturen, in: Deutschland Archiv 40 (2007) 6, S. 1052–1055. 13 Vgl. u. a. Heidi Behrens, Paul Ciupke, Norbert Reichling: Historisch-politisches Lernen in der außerschulischen Bildung – Voraussetzungen, Praxis, Desiderate, in: Dies. (Hrsg.): Lernfeld DDR-Geschichte. Ein Handbuch für die politische Jugend- und Erwachsenenbildung, Schwalbach/Ts. 2009, S. 15–42, hier S. 29; Bernd Faulenbach: Diktaturerfahrungen und demokratische Erinnerungskultur in Deutschland, in: Anne Kaminsky (Hrsg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, 2. überarb. u. erw. Aufl., Berlin 2007, S. 15–24. 14 So schon Bernd Faulenbach: Probleme des Umgangs mit der Vergangenheit im vereinten Deutschland: Zur Gegenwartsbedeutung der jüngsten Geschichte, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.): Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 175–190, hier S. 190. Die von Faulenbach hier eingeführte Formulierung wurde in den vergangenen 20 Jahren in den Rang eines erinnerungspolitischen Postu-
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Den Orten aufeinanderfolgenden nationalsozialistischen und kommunistischen Unrechts kommt in den Auseinandersetzungen um die gesamtdeutsche zeitgeschichtliche Erinnerungskultur eine gewisse Stellvertreterfunktion zu. Sie stehen im Kleinen vor der Herausforderung der Erinnerungskultur im Großen, nämlich die Erinnerung an die Verbrechen des „Dritten Reiches“ um die Erinnerung an das kommunistische Unrecht zu ergänzen, ohne beides gegeneinander aufzurechnen oder oberflächlich zu analogisieren. An ihnen stellen sich auf den konkreten Ort bezogen die übergreifenden Fragen nach der Bewertung der NSVerbrechen und der Verbrechen in der SBZ/DDR sowie nach ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden. Ihre Exponiertheit und Anschaulichkeit barg und birgt dabei die Versuchung in sich, die Diskussionen um die inhaltliche und gestalterische Konzeption dieser Gedenkstätten auf Kosten der historischen Wirklichkeit zu führen, die vor Ort oft quer zu den konkurrierenden erinnerungspolitischen Geschichtsbildern liegt. Hierbei lassen sich zwei gegensätzliche Positionen unterscheiden: Auf der einen Seite gibt es die Konzeption, die Gedenkstätten mit ‚doppelter Vergangenheit‘ als Orte begreift, an denen die Ähnlichkeiten der Herrschaftssysteme anschaulich werden und die daher zur Beförderung eines antitotalitären Konsenses besonders geeignet seien. Die entgegengesetzte Position betont die Unterschiede zwischen dem Geschehen ‚vor und nach 1945‘ und fordert unter Berufung auf eine Singularität des Holocaust die vorrangige Behandlung der Verbrechen Nazideutschlands ein. Für beide Positionen gilt jedoch, dass Vergangenheitspräsentation zur Propaganda wird, wenn Geschichtsbilder der historischen Wirklichkeit übergestülpt werden.15 Eine überwiegend gleichsetzende Deutung der Speziallager wie Buchenwald und Sachsenhausen als Lager zur Unterdrückung oder gar Vernichtung von Andersdenkenden und Widersachern, die vom deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion und von der nationalsozialistischen Belastung der meisten Insassen abstrahiert, wird als „Versuch des Ausstiegs aus der historischen Verantwortung“ und als Relativierung der NS-Verbrechen angesehen.16 Eine hierarchisierende Darstellung mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus, die den Gulag-Kontext der sowjetischen Lager und Gefängnisse auf deutschem Boden unterschlägt und das an sei-
lats erhoben. Vgl. Deutscher Bundestag, Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen, Drucksache 16/9875 vom 19.6.2008, S. 2. 15 Siehe die instruktive Unterscheidung und Wechselbeziehung verschiedener Dimensionen von Geschichtskultur bei Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann, Heinrich Theodor Grütter, Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln u.a. 1994, S. 3–26. 16 Annette Leo: Konzentrationslager Sachsenhausen und Speziallager Nr. 7, in: Günther Heydemann, Heinrich Oberreuter (Hrsg.): Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, Bonn 2003, S. 249–282, hier S. 275.
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nen Insassen verübte Unrecht verdrängt oder gar rechtfertigt, banalisiert demgegenüber die kommunistischen Nachkriegsverbrechen.17 Die übergreifende Frage nach der Einordnung der Erinnerung an das kommunistische Unrecht konkretisierte sich im Gefolge der deutschen Vereinigung an den bis dahin ausschließlich den Opfern des Nationalsozialismus gewidmeten historischen Orten in Fragen, die auf das Gedenken, auf die Gestaltung und auf die Vermittlung bezogen sind.18 1. Wie soll die vorrangige Behandlung des Nationalsozialismus konkret realisiert werden? Am 15. September 1991 formulierte eine Historikerkommission Empfehlungen für die Umgestaltung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald. Darin heißt es: „Es soll sowohl an das nationalsozialistische Konzentrationslager als auch an das sowjetische Speziallager 2 erinnert werden. Der Schwerpunkt soll auf dem Konzentrationslager liegen. Die Erinnerung an das Speziallager soll nachgeordnet werden.“19 In der Gedenkstätte Buchenwald kommt diese Priorisierung unter anderem durch die flächenmäßig kleinere und im Gelände unauffälligere Ausstellung zum sowjetischen Speziallager zum Ausdruck, aber auch dadurch, dass dieser Zeitraum der Lagergeschichte nicht in die den Besuchern angebotenen Führungen zum Lager Buchenwald integriert ist. Ähnliche Empfehlungen, die später verbindlich wurden, gab es für Gedenkstätten in Sachsenhausen, in Torgau und am Münchner Platz in Dresden. Mit der Schwerpunktsetzung sollte eine Gleichsetzung der Diktaturen und eine Relativierung der NS-Verbrechen, die man bei einer gleichwertigen Behandlung der Unrechtskomplexe befürchtete, unterbunden werden. Auch sprechen die höheren Opferzahlen und der dezidierte Mordvorsatz für eine vorrangige Behandlung der Verbrechen des Nationalsozialismus. Nachvollziehbar ist das Bestreben, dem Bedürfnis nach einer kollektiven Entlastung von Verbrechen in nationaler Verantwortung durch Hinweise auf Verbrechen auswärtiger (Besatzungs-)Mächte entgegenwirken zu wollen. In Buchenwald wurde 1995 der erste preisgekrönte Entwurf des Gebäudes für die Ausstellung über das Speziallager mit der Begründung nicht realisiert, er weise eine „formsprachliche Gleichheit“ zu den Denkmalen auf, die den Opfern der nationalsozialistischen Diktatur gewidmet seien. Hier zeigt sich, dass das „Nachordnen der Erinnerung“ in einem Spannungsverhältnis zur Forderung steht, auf eine Hierarchisierung der Opfer aus Respekt vor deren Leid zu verzichten. Viele Opfer der kommunistischen Verbrechen empfinden die 17 Annette Kaminsky: Ausstellungen zu den sowjetischen Speziallagern in der SBZ/DDR – eine vergleichende Betrachtung, in: Petra Haustein et al. (Hrsg.): Instrumentalisierung Verdrängung Aufarbeitung. Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung 1945 bis heute, Göttingen 2006, S. 149–169. 18 Siehe hierzu bereits ausführlich Bert Pampel: Bagatellisierung durch Gedenken? Gedenkstättenarbeit an Orten aufeinanderfolgenden nationalsozialistischen und kommunistischen Unrechts, in: Deutschland Archiv 31 (1998) 3, S. 438–453. 19 Zur Neuorientierung der Gedenkstätte Buchenwald. Die Empfehlungen der vom Minister für Wissenschaft und Kunst des Landes Thüringen berufenen Historikerkommission, WeimarBuchenwald 1992, S. 10f.
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Schwerpunktsetzung denn auch als Zurücksetzung und sich selbst als „Opfer 2. Klasse“.20 Für die Gestaltung von Lagerarealen, Ausstellungen und Denkmalen zog die festgelegte Schwerpunktsetzung konkrete Fragen zu ihrer Realisierung nach sich: Wie viele Quadratmeter Ausstellungsfläche werden für die eine, wie viele für die andere Periode eingesetzt? Wie viele Schicksale werden jeweils präsentiert? Was steht am Beginn des Rundgangs? Wie hoch ist das eine Mahnmal, wie groß das andere? 2. Kann die Darstellung an einem Ort oder muss sie räumlich getrennt erfolgen? Um einer Gleichsetzung oder Vermischung der verschiedenen Komplexe entgegenzuwirken und Differenzierung zu befördern, sollten die Präsentationen der Geschichte in Form von Ausstellungen nach Meinung der meisten Experten räumlich voneinander getrennt werden. Dies wurde in unterschiedlicher Deutlichkeit realisiert durch Unterbringung an verschiedenen Standorten auf dem Gelände (Buchenwald), außerhalb des Areals (Sachsenhausen) und durch Präsentation auf verschiedenen Etagen und Ebenen sowie in verschiedenen Räumlichkeiten (Gedenkstätte Roter Ochse in Halle/Saale). In Torgau entzündeten sich Kontroversen an Höhe und Breite einer Hecke, die die ähnlich gestalteten Gedenkbereiche ‚vor und nach 1945‘ im Vorfeld des früheren Gefängnisses Fort Zinna voneinander unterscheidet. Die nachvollziehbare Trennung steht in einem Spannungsverhältnis zu den historischen Umständen: Das Geschehen ereignete sich jeweils am selben Ort und die Verbrechen folgten chronologisch ohne zeitliche Unterbrechung aufeinander. 3. Pauschales oder differenziertes Gedenken der Opfer? „Die Häftlinge in den Speziallagern gehörten – im weitesten Sinne – der deutschen ‚Tätergesellschaft‘ an, bevor sie selbst zu Opfern von Willkür der Besatzungsmacht wurden.“21 Das heißt, hier geschah Unrecht oftmals denjenigen, die selbst Unrecht verübt, gutgeheißen oder hingenommen hatten. Hieran schließt sich die Frage an, in welchen historischen Kontext diese Lager zu stellen sind – Internierung als Umsetzung alliierter Beschlüsse oder Gefangenschaft als Repression im Zuge der Errichtung der kommunistischen Diktatur – und ob die Speziallagerinsassen primär als Opfer von Besatzungswillkür oder als „Vertreter einer Kollektivbiographie deutscher Schuld und Verantwortung“ für die NS-Verbrechen zu präsentieren seien.22 Die Bildungsarbeit in den Gedenkstätten steht vor der Herausforderung, diesen „Dualismus der Ursachen“ „anzuerkennen und auszuhalten“,23 ihn vor allem aber auch den Besuchern angemessen zu vermitteln.
20 Petra Haustein: Geschichte im Dissens. Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR, Leipzig 2006. 21 Leo: Konzentrationslager Sachsenhausen und Speziallager Nr. 7, 2003, S. 250. 22 Kaminsky: Ausstellungen, 2006, S. 167. 23 Günter Morsch: Thesen zur Darstellung der Geschichte und zum Gedenken an die Opfer der Konzentrationslager sowie der Sowjetischen Speziallager an Orten zweifacher Vergangenheit, in: Lernen aus der Geschichte Magazin (2013) 3, S. 5–7, hier S. 6.
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Pauschalem Gedenken, das eine anteilige Täterschaft verschweigt, wohnt die Gefahr kollektiver Entlastung und Relativierung individueller Mitverantwortung für die nationalsozialistische Diktatur inne. Problematisch ist es aber, wenn die dem Gulag-System inhärente Menschenverachtung unter Bezug hierauf gerechtfertigt wird, sämtliche Gefangene ihrerseits undifferenziert als „NS-Täter“ bezeichnet werden und man den Doppelcharakter der Haftstätten als Instrument zur Errichtung der kommunistischen Diktatur, in denen „feindliche Elemente in Gewahrsam zu halten seien“, ignoriert.24 Bedenklich ist des Weiteren, dass ein vergleichbar differenzierter Maßstab an das Gedenken der Opfer nationalsozialistischen Unrechts in der Regel nicht angelegt wird, obwohl sich unter ihnen ebenfalls Menschen befanden, die auch nach heutigen rechtsstaatlichen Maßstäben Unrecht begangen haben, zum Beispiel unter den Verurteilten der NS-Militärjustiz. 4. Lässt sich ein ‚Lernen aus beiden Diktaturen‘ realisieren? Und was sollte dessen Fundament sein? Die historisch-politische Bildungsarbeit an Orten mit ‚doppelter Vergangenheit‘ ist im Wesentlichen denselben Zielen und Grundsätzen verpflichtet, wie die anderer Gedenkstätten: historisch-kritische Aufklärung, Empathie in die Opfer (selten, obgleich pädagogisch wahrscheinlich sinnvoller, in die Täter), Sensibilisierung für Gefährdungen der Menschenrechte, Beförderung demokratischer Einstellungen und Verhaltensweisen.25 Darüber hinausgehend stellt sich aber die Frage, ob diese Orte aufgrund ihrer komplexen Geschichte ein besonderes didaktisches Potenzial besitzen, etwa für einen Diktaturenvergleich oder für die Bildung eines „antitotalitären Konsenses“. Jürgen Habermas hat 1994 mit Blick auf die doppelte Vergangenheitsbewältigung nach 1989 an dieses Konzept angeknüpft, das – ohne eingelöst worden zu sein – zur Gründungsidee der frühen Bundesrepublik gehört habe.26 Gemeinhin wird darunter die Abgrenzung der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft vom Nationalsozialismus und vom Sowjetkommunismus verstanden. Dezidierte pädagogische Überlegungen, Konzepte oder Angebote zur doppelten Vergangenheit gibt es in den genannten Gedenkstätten aktuell jedoch nicht, nicht allein wegen der Befürchtung, sich dem Vorwurf der Nivellierung der Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus auszusetzen. Der „antitotalitäre Konsens“ als Leitidee gilt als zu unkonkret und die Erwartung nach seiner Herausbildung oder Festigung im Rahmen eines Gedenkstättenbesuchs als 24 Brigitte Oleschinski, Bert Pampel: „Feindliche Elemente sind in Gewahrsam zu halten“. Die sowjetischen Speziallager Nr. 8 und Nr. 10 in Torgau 1945–1948, Leipzig 1997. 25 Vgl. zum Beispiel Daniel Gaede: Pädagogische Konzeption der Gedenkstätte Buchenwald, in: Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (Hrsg.): KZ Buchenwald 1937–1945. KZ Mittelbau-Dora 1943–1945. Materialien für die Vorbereitung von Besuchen in den Gedenkstätten, Bad Berka 2000, S. 70–72. 26 Jürgen Habermas, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. IX, BadenBaden 1995, S. 686–694, hier S. 690; Ders: Die Last der doppelten Vergangenheit, in: Die Zeit, 13.5.1994.
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überzogen. Es gehe demgegenüber für jede der verschiedenen Perioden der Vergangenheit darum, zunächst grundlegende historische Informationen zu vermitteln. In diesem Zusammenhang wäre es ein Erfolg, würden Besucher überhaupt die Vielschichtigkeit der Orte begreifen. Der Diktaturenvergleich erfordert erhebliches komparatistisches Verständnis. So nahe er an diesen Orten zu liegen scheint, so schwierig wird es, wenn man sich dem konkreten historischen Geschehen nur oberflächlich zuwendet. Der Strafvollzug der Wehrmachtjustiz und die sowjetische Internierungspraxis in Torgau hatten beispielsweise unterschiedliche Voraussetzungen und Hintergründe. Eine alleinige Betrachtung des Haftalltags in Bautzen vor und nach 1945 wäre zu oberflächlich und würde nicht zu Einsichten in die unterschiedlichen Funktionen der jeweiligen Haftanstalten führen. Dies spricht aber nicht gegen den Erkenntniswert differenzierter Vergleiche, die Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeiten. Der Vergleich ermöglicht insbesondere ein tieferes Verständnis für die einzelnen Phänomene hinsichtlich ihrer Ursachen und Erscheinungsformen und schärft ihr jeweiliges Profil.27 Wodurch wird man in Weltanschauungsdiktaturen zum Feind? Welche Formen von Zivilcourage gab es? Hier bieten vor allem Einzelfallstudien über das Schicksal der Menschen, die sowohl während der NS-Diktatur als auch während der kommunistischen Gewaltherrschaft wegen ihrer politischen oder religiösen Gesinnung verfolgt wurden, reichhaltiges Material.28 Aber auch eine Verständigung über Kriterien des Vergleichs oder gar Argumente für oder gegen eine Schwerpunktsetzung könnten Gegenstand pädagogischer Angebote sein.29 Des Weiteren scheinen sich die Orte besonders gut dazu zu eignen, geschichtliche Zusammenhänge, zum Beispiel zwischen dem deutschen Angriffskrieg und der nachfolgenden Internierungspraxis, zu veranschaulichen. Eindimensionale Betrachtungsweisen und Schwarz-WeißDenken könnten aufgrund der komplexen Geschichte grundsätzlich schwerer fallen. Beide Diktaturen hatten unterschiedliche weltanschauliche Ausgangspunkte – dem Kommunismus wird noch heute ein humanistischer Impuls nachgesagt –, ähnelten sich aber in den Folgen der Machtausübung. Man kann sich mit der Verführungskraft totalitären Denkens von links wie von rechts auseinandersetzen. Diese gründet unter anderem in dem zeitlos attraktiven Versprechen, auf Basis einer vermeintlichen Einsicht in Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung durch einen radikalen Umbau der bestehenden Ordnung die Übel der modernen Welt zu beseitigen, tatsächliche oder vermeintliche Existenzbedrohungen abzuwehren und 27 Manuel Becker: Die Bedeutung des deutschen Diktaturenvergleichs für die politische Kultur der „Berliner Republik“, in: Deutschland Archiv 44 (2011) 3, S. 403–410, insbes. 404f. 28 Für den Gerichtsort Münchner Platz Dresden siehe beispielhaft Peter Russig: Wilhelm Grothaus – Dresdner Antifaschist und Aufstandsführer des 17. Juni, Dresden 1997; Mike Schmeitzner: Doppelt verfolgt. Das widerständige Leben des Arno Wend, Berlin 2009, sowie Milada Horáková, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Milada_Horakova; letzter Zugriff: 7.8.2013. 29 Siehe als erste ‚Schneise‘, freilich geschlagen von der historisch-politischen Erwachsenenbildung außerhalb der Gedenkstätten: Norbert Reichling: Didaktische Überlegungen: Orte mit doppelter Vergangenheit, in: Lernen aus der Geschichte Magazin (2013) 3, S. 22.
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die Welt im Großen, aber auch die tägliche Daseinsbewältigung im Kleinen, zu verbessern.30 In osteuropäischen Ländern wird dieses Potenzial deutlicher als in Deutschland thematisiert. So formulierte der damalige Leiter des zentralen Museums für Kriegsgefangene im polnischen Łambinowice (Lamsdorf), das sowohl an die Opfer in den Kriegsgefangenenlagern der Wehrmacht als auch an die Opfer der von polnischen Behörden nach Kriegsende eingerichteten Arbeitslager für Deutsche erinnert, 1996 als ein Ziel der Arbeit: „Der Aufenthalt in Łambinowice soll den Besuchern ermöglichen, die historische Wechselbeziehung zwischen zwei totalitären Systemen, die Logik und den Mechanismus ihres Funktionierens sowie deren Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erkennen.“31
„Unrecht und Grausamkeiten vergangener Zeiten“: Nivellierende Rezeption durch Besucher Die Frage nach der Rezeption der Gedenkstätten mit ‚doppelter Vergangenheit‘ zielt auf die Wechselwirkungen zwischen geschichtspolitisch „imprägnierter“ Geschichtskultur, die sich in der „ikonographischen, architektonischen und textlichen Organisation“ von Gedenkstätten manifestiert,32 sowie den subjektiven Geschichtsvorstellungen und Einstellungen der Besucher. Von besonderem Interesse ist in Gedenkstätten, die nicht nur historische Informationen vermitteln wollen, sondern auch moralische Lernziele und ‚Demokratielernen‘ verfolgen, die Frage nach dem Zusammenhang von Geschichtsvorstellungen und politischen Einstellungen der Besucher. Um es gleich vorweg zu sagen: Die bisherigen Unternehmungen in Sachen ‚Besucherforschung in Gedenkstätten‘ lassen keine belastbaren Antworten auf solche elaborierte Fragestellungen zu.33 Auf der Basis einzelner empirischer Befunde zu Gedenkstätten mit ‚doppelter Vergangenheit‘ können im Folgenden daher lediglich Thesen formuliert werden. Im gedenkstättenpädagogischen Diskurs, wie er sich in theoretischen Erörterungen und praktischen Erfahrungsberichten niederschlägt, kommen bislang weder die didaktischen Herausforderungen noch die Besucherrezeption dieser besonderen Orte zur Sprache. Erste Hinweise auf die individuelle Deutung und Bewertung von Ausstellungen sowie auf Eindrücke und Empfindungen unmittelbar nach einem Ausstellungsbesuch ermöglichen Einträge in Besucherbüchern. Diese bieten zugleich
30 Vgl. hierzu Lothar Fritze: Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich, München 2012. 31 Edmund Nowak: Łambinowice (Lamsdorf): eine Gedenkstätte mit besonderer Vergangenheit, in: Haase, Pampel (Hrsg.): Doppelte Last – doppelte Herausforderung, 1998, S. 169–173, hier S. 172. 32 Meyer: Vorwärts in die Vergangenheit, 2002, S. 109. 33 Bert Pampel: „Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist.“ Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher, Frankfurt am Main u. a. 2007.
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einen Einblick in Einstellungen der Besucher zu den vor Ort präsentierten Geschehnissen und zu ihrem Kontext. Darüber hinaus besitzen sie Aussagekraft als Stellungnahmen und Reaktionen auf öffentliche Erinnerungskultur und -diskurse und deuten Konflikte zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis an. Allerdings lassen sich die aus den Besucherbucheinträgen gewonnenen Befunde kaum verallgemeinern, denn nur ein kleiner und nicht repräsentativer Teil der Besucher äußert sich auf diese Weise. Die ‚Daten‘ – von stark fragmentarischem Charakter, meistens knapp, unsystematisch und ausschnitthaft – bieten kaum Kontextinformationen und damit einen großen Interpretationsspielraum. In zwei Analysen der Besucherbücher der Ausstellung zum Speziallager Buchenwald wurde deutlich, dass die Einträge überwiegend akute emotionale Stellungnahmen zum Geschehen darstellen und weniger auf die aktuelle Ausstellungsgestaltung Bezug nehmen.34 Der Anteil der Einträge, der dezidiert auf die ‚doppelte Vergangenheit‘ Bezug nimmt, war insgesamt, womöglich auch wegen der räumlich deutlich getrennten Ausstellungspräsentationen, sehr gering. Fragebogenuntersuchungen haben gegenüber Besucherbuchanalysen den Vorteil, dass sie im Falle statistisch-repräsentativer Stichprobenziehungen auf Basis größerer Fallzahlen zu verallgemeinerbaren Erkenntnissen führen. Doch bieten sie den Befragten allenfalls in Form ‚offener Fragen‘ (geringe) Möglichkeiten, eigene Perspektiven, Wahrnehmungen und Sinngebungen zu formulieren. In der Regel handelt es sich um Reaktionen in Form fester Antwortvorgaben auf vorformulierte Aussagen, die allein die Forschungsperspektive der Interviewer widerspiegeln. Für diesen Beitrag habe ich eine Befragung von 252 Besuchern des Dokumentations- und Informationszentrums (DIZ) Torgau in Bezug auf Antworten auf offene Fragen, die eindeutig und qualifizierend Bezug auf die Mehrschichtigkeit des Ortes nahmen, einer genaueren Analyse unterzogen.35 Dies war bei insgesamt 41 Prozent derjenigen, die diese offenen Fragen beantworteten und bei insgesamt 30 Prozent aller 252 Befragten der Fall. Die Mehrheit der Befragten kam zufällig und spontan in die Ausstellung, über 80 Prozent waren Touristen. Die Mehrheit stammte aus Westdeutschland. Das Durchschnittsalter lag bei 50 Jahren (Median: 52,5). Zwei Drittel der Befragten verfügten über Abitur oder einen Hochschulabschluss. Die Stichprobe ist repräsentativ für Einzelbesucher des DIZ, die länger als 15 Minuten in der Ausstellung waren und an keiner Führung teilgenommen haben. Narrative und Leitfadeninterviews geben die meisten Hinweise auf Reflexions- und Verarbeitungsprozesse sowie auf Langzeitwirkungen nach Gedenkstät-
34 Bodo Ritscher: „Es liegt nicht an der Ausstellung, sondern an der Einstellung“. Die Dauerausstellung der Gedenkstätte Buchenwald zum Speziallager Nr. 2 im Spiegel der Besucherbücher, in: Friedhelm Boll, Annette Kaminsky (Hrsg.): Gedenkstättenarbeit und Oral History. Lebensgeschichtliche Beiträge zur Verfolgung in zwei Diktaturen, Berlin 1999, S. 193–210; Sophie Rölle: „Zurück bleibt Stille und Betroffenheit“. Rezeption und Reflexion der Gedenkstätte Buchenwald: Eine Besucherbuch-Analyse, unveröff. Diplomarbeit, Leipzig 2010. 35 Bert Pampel, Matthias Rosendahl: Summative Evaluation der Dauerausstellung des Dokumentations- und Informationszentrums (DIZ) Torgau, unveröff. Ms., Dresden 2011.
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tenbesuchen. Außerdem ist die bei Gedenkstättenbesuchern klar erkennbare Neigung zu ‚sozial erwünschten‘ Antworten weniger ausgeprägt beziehungsweise leichter zu identifizieren. Einen tiefergehenden Einblick in die Wahrnehmung von Orten mit doppelter Vergangenheit und in die Verarbeitung der Besuchseindrücke bieten Leitfadeninterviews, die ich mit 28 erwachsenen Einzelbesuchern geführt habe. 19 von ihnen hatten die Gedenkstätten Bautzen und Münchner Platz Dresden besichtigt, die aufeinanderfolgendes Unrecht dokumentieren. Insgesamt führte jede zweite Besucheransprache zu einem Interview. Diese dauerten in der Regel etwa eine Stunde und fanden ein bis zwei Monate nach dem Besuch in den Privatwohnungen der Befragten statt. Mehr als die Hälfte der Interviewpartner verfügte über Abitur oder über einen Hochschulabschluss.36 Die nachfolgende, thesenartige und zusammenfassende Darstellung einzelner Befunde aus den genannten Studien ist durch die schmale Datenbasis bedingt und nicht unproblematisch, da die Untersuchungen sich nicht nur hinsichtlich der Methoden sowie Ort und Zeitpunkt der Datenerhebung (unmittelbar oder mehrere Wochen nach dem Besuch) unterscheiden. Auch die Untersuchungsteilnehmer weisen hinsichtlich Alter, Schulabschluss, Geschlecht, Ethnizität, Vorwissen, Voreinstellungen und so weiter große Variabilität auf. Schüler, die eine Gedenkstätte im Rahmen des Unterrichts notgedrungen besuchen, nehmen diese anders wahr als erwachsene Besucher, die von sich aus den Ort aufsuchen, sei es aus beruflichen oder touristischen Interessen. Nicht zuletzt gleicht keine Gedenkstätte der anderen; es gibt eine große Vielfalt der historischen Themen (sowie der jeweiligen Gewichtung) und der konkreten Gestaltung (zum Beispiel Grad der Anschaulichkeit und Authentizität, Verständlichkeit und Menge der Ausstellungstexte et cetera). So handelt es sich zwar sowohl bei der Gedenkstätte Buchenwald als auch beim DIZ Torgau um Orte mit ‚doppelter Vergangenheit‘, aber Buchenwald steht in der öffentlichen Wahrnehmung für das System der NS-Konzentrationslager. Hingegen lassen Reaktionen von Besuchern und Gespräche mit ihnen vermuten, dass Torgau noch am ehesten mit dem ‚Linkup‘, dem Zusammentreffen von amerikanischen und sowjetischen Truppen an der Elbe am 25. April 1945, nicht aber mit Wehrmachtjustiz, Speziallager und DDR-Strafvollzug in Verbindung gebracht wird. Insofern verwundert es auch nicht, dass Besucher gleichermaßen positiv auf sehr unterschiedliche Konzeptionen in der Darstellung der Mehrschichtigkeit der Vergangenheit reagieren. Die konzeptionelle Entscheidung, die Erinnerung an das nationalsozialistische Konzentrationslager und an das sowjetische Speziallager in der Gedenkstätte Buchenwald räumlich zu trennen und die Erinnerung an das Speziallager ‚nachzuordnen‘, stieß bei einer Befragung von Besuchern überwiegend auf Zustimmung. Nur eine Minderheit der Befragten präferierte eine gleich-
36 Genauere Angaben bei Pampel: „Mit eigenen Augen sehen“, 2007, S. 176–179.
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berechtigte Darstellung der beiden Teile der Ortsgeschichte.37 Anders dagegen in Torgau, wo die drei Perioden Wehrmachtjustiz, sowjetische Speziallager und DDRStrafvollzug bislang ungefähr gleichgewichtig präsentiert werden. Dies widerspricht zwar den Empfehlungen von Fachleuten und Beschlüssen der aufsichtführenden Gremien und soll künftig durch eine Schwerpunktverlagerung auf die Darstellung der nationalsozialistischen Wehrmachtjustiz verändert werden; mehr als acht von zehn Befragten waren jedoch mit der aktuellen Konzeption einverstanden. Nur zehn Prozent wollten den Schwerpunkt auf den DDR-Strafvollzug und etwa sechs Prozent auf die Darstellung der NS-Wehrmachtjustiz gelegt sehen. Auch der Vorschlag für eine deutlichere räumliche Trennung der drei Bereiche, wie er von Vertretern der Opfer des Nationalsozialismus und Fachleuten gefordert wird, fand nur wenige Unterstützer: Nur 20 Prozent der Befragten hielten dies für eine gute Idee, 50 Prozent lehnten den Vorschlag ab, 31 Prozent zeigten sich unentschieden.38 Zur Erklärung des Befundes trägt, abgesehen von der unterschiedlichen öffentlichen Konnotation der beiden historischen Orte Buchenwald und Torgau, sicherlich auch die in der empirischen Sozialforschung bekannte Akquieszenz- beziehungsweise Bejahungstendenz bei, die besagt, dass Befragte allgemein dazu tendieren, Aussagen unabhängig vom Gegenstand zuzustimmen. Diese Tendenz könnte bei eher oberflächlicheren touristischen Besuchern und Schülern, die in beiden Befragungen die Mehrheit stellten, besonders ausgeprägt sein. Viele Besucher von Orten mit doppelter Vergangenheit erfahren nach wie vor zum ersten Mal von der jeweils ‚anderen‘ Seite der bekannten Geschichte, die für sie einen Neugier weckenden Informationswert darstellt. Die Nachgeschichte ehemaliger NS-Haftstätten als sowjetische Speziallager ist in der Öffentlichkeit weiterhin ein vernachlässigtes Thema, sodass Besucher kaum über Vorkenntnisse darüber verfügen.39 Besucher der Gedenkstätte Bautzen wiederum zeigen sich erstaunt über die ihnen unbekannte Vorgeschichte der Bautzner Gefängnisse im Nationalsozialismus. Einige Buchenwald-Besucher, darunter vor allem Jugendliche,40 realisieren aufgrund oberflächlicher Herangehensweise und mangelnder Aufmerksamkeit nicht, dass in der Ausstellung zum Speziallager Buchenwald nicht die nationalsozialistische Zeit beziehungsweise nicht die gesamte Geschichte Buchenwalds behandelt wird, sie können also beide Lagergeschichten nicht
37 Stephan Paetrow, Yvonne Rogoll: Die Besucher der Gedenkstätte Buchenwald, unveröff. Ms., Weimar-Buchenwald 2001, S. 39; Grundlage der Untersuchung waren insgesamt 595 Befragte, davon 59 Prozent Schüler. 38 Pampel, Rosendahl: Summative Evaluation, 2011, S. 64f. 39 Ebd., S. 27. 40 Vgl. zu dieser Besuchergruppe, auf die in den großen KZ-Gedenkstätten zwischen 30 und 60 Prozent aller Besucher entfallen, Bert Pampel (Hrsg.): Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschichtlichen Ausstellungen, Leipzig 2011.
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auseinanderhalten. So heißt es in einem Besucherbucheintrag von Susan: „Das hätte ich nie gedacht [sic] das [sic] Adolf Hitler so was gemacht hat.“41 Wie reagieren Besucher nun auf die zeitliche Mehrschichtigkeit? In welcher Art und Weise qualifizieren sie das Geschehen in den einzelnen Zeiträumen? Sie stellen überwiegend Ähnlichkeiten, Parallelen oder gar eine Gleichheit der thematisierten Perioden heraus. Bei der Torgauer Befragung ließen sich mehr als 90 Prozent aller Äußerungen entsprechend kategorisieren. Unterschiede werden demgegenüber kaum akzentuiert. Bei dieser Nivellierung lassen sich fünf Aspekte, die sich in vielen Äußerungen überschneiden, unterteilen: 1. Die „Parallelen“ oder „Verwandtschaft“ der „Systeme“ werden eher allgemein festgestellt („faschistische und kommunistische Regime ticken ähnlich“) oder das historische Geschehen in den aufeinanderfolgenden Zeiträumen wird unter einem Oberbegriff auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, zum Beispiel „Unrecht“ oder „Willkür“. Als beispielhafte Antworten auf die Frage „Was sind aus Ihrer Sicht die Kernaussagen dieser Ausstellung?“ lassen sich folgende Statements angeben: „Die Willkür nach dem Ende der Demokratie (Weimarer Republik) hat sich nach dem Ende der Nationalsozialisten leider mit den Russen und dann ‚Sozialisten‘ fortgesetzt“ – „Politisches System ändert sich, Unrecht bleibt“ – „Ungerechtigkeit vor 45, nach 45, egal wann“. Insgesamt lassen sich bei der Torgauer Befragung etwa 60 Prozent der Äußerungen dieser Form zuordnen. 2. Die Ähnlichkeit wird konkreter auf bestimmte Herrschaftsaspekte bezogen, zum Beispiel auf „fast identische Methoden“ oder „ähnliche Mittel“, auf die zugrundeliegenden Ideologien, auf die Täter oder auf die Behandlung und Stellung der Opfer. „Diese NKWD-Leute waren kein Deut anders als die SS im KZ!“ – „Der rote Holocaust muß ebenso schonungslos wie sein brauner Ableger aufbereitet werden. Schließlich nannten sich beide Verbrecherregime ‚sozialistisch‘“ – so Besucherbucheinträge in Buchenwald.42 Ein von mir interviewter Besucher antwortete auf die Frage nach seinen Gedanken nach dem Besuch der Gedenkstätte Bautzen, „… dass sich die Gewaltregime eigentlich nicht groß unterschieden haben (…) dass man die Leute weggesteckt hat wie dort, ich sage mal, früher die Nazis“.43 Aus der Torgauer Befragung veranschaulichen folgende Äußerungen exemplarisch diesen Aspekt: „Jede politische Macht versucht mit Gewalt die eigene Position zu festigen. Menschen zählen dabei nicht. Ob ‚Braun‘, ‚Rot‘ oder andere Farben.“ – „Wie die menschenverachtende Behandlung und Drangsalierung von Randgruppen und unangepassten Menschen durch Nazis und anschließend von den Kommunisten fortgesetzt wurde, obwohl ja angeblich grundverschieden.“ – „Unrecht an po-
41 Ritscher: „Es liegt nicht an der Ausstellung“, 1999, S. 206; ähnlich Rölle: „Zurück bleibt Stille“, 2010, S. 99f., 130. 42 Rölle: „Zurück bleibt Stille“, 2010, S. 167. 43 Pampel: „Mit eigenen Augen sehen“, 2007, S. 212.
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litisch Andersdenkenden gleicht sich in allen politischen Systemen.“ – „Menschenrechtsverletzungen sind ein Merkmal aller Diktaturen“. Bei etwa 20 Prozent der Äußerungen in der Torgauer Befragung ließ sich dieser Aspekt identifizieren. 3. Identität wird durch Zusammenfassung der drei Zeiträume unter einen Oberbegriff von „System“, beispielsweise „totalitäres“ System, „Diktatur“ oder „Regime“, oder durch Verwendung gleicher Begriffe, zum Beispiel „roter Holocaust“ oder „rote KZ“ für die Speziallager, hergestellt. Beispiele hierfür aus der Torgauer Befragung: „So funktionieren totalitäre Systeme. Du kannst, wenn das System zuschlägt und dich erwischt – auch ohne Schuld – schuldig gesprochen sein.“ – „Die Gleichheit der politischen Systeme“ – „Jedes diktatorische System hat Leichen in der Haftanstalt“. Etwa ein Viertel der Äußerungen in der Torgauer Befragung ließ sich dieser Kategorie zuordnen. 4. Betont wird die „Nahtlosigkeit“, „Kette“ oder „Tradition“ bei der fortgesetzten Nutzung der Gefängnisse und Lager bei etwa einem weiteren Viertel der Äußerungen in der Torgauer Befragung. Exemplarisch: „Kontinuität in der Nutzung der Gefängnisanlagen + Kontinuität in der Behandlung der Gefangenen über die politischen Regimes hinweg“ – „Ein Unrechtsregime löst das nächste ab“ – „Dieses Unrecht[,] was ein Regime vom anderen übernommen hat“. „Mühelose Fortsetzung des Terrors mit ähnlichen Mitteln“, resümiert ein Besucherbucheintrag in Buchenwald. 5. Mitunter, aber weitaus seltener, findet sich eine weitergehende Abstraktion vom politischen Kontext und den konkreten historischen Geschehnissen im Sinne einer gewissen Anthropologisierung und Universalisierung: „Schreckliches wurde mit Schrecklichem gesühnt“ – „Hass mit Hass bekämpft“ – „Unrecht ist nicht von einem bestimmten politischen System abhängig, sondern eine menschliche Fehlentwicklung, die in allen Systemen auftreten kann“ – „Menschliche Gemeinheit gibt es in ganz unterschiedlichen politischen Systemen“. Auch folgende Ausschnitte aus Interviews mit Bautzen-Besuchern veranschaulichen diesen Gedanken: „… so ist der Mensch, wenn er irgendwie sich in ein System einordnet, was er sich über Jahre aufbaut (…) also der Mensch ist, egal was für eine Zeit ist, wahrscheinlich auch in 100 Jahren, wenn sich die Umstände dafür eignen, ist der auch wieder bereit für so was, oder kann die Leute so hinkriegen, dass die auch so was wieder machen.“ – „Und da kommen wir zu dem Schluss, dass es [sic] wahrscheinlich immer wieder so was passiert, weil die Menschen einfach viel zu blöd sind. Ja, ist so.“44 Gegenüber solchen nivellierenden Aussagen lassen sich Äußerungen, die die Unterschiede des Geschehens in den drei Perioden hervorheben, an einer Hand abzählen. „Hohes Maß an Willkür durch das Sicherheitspersonal in allen Zeiten,
44 Beide Zitate in: Ebd., S. 322.
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aber nicht im gleichen Ausmaß“, betonte ein Torgauer Besucher. Unentschlossen zeigte sich ein anderer: „Unrecht im totalitären Staat (natürlich kann man die Systeme nicht vergleichen)“. Nur wenige Besucher der Ausstellungen in Torgau und Buchenwald sprechen sich gegen vermeintliche „Tendenzen einer Gleichsetzung von SBZ/DDR mit Nazi-Deutschland“ in den Gedenkstätten aus. Dies geht bis zur Relativierung des Nachkriegsunrechts, indem die Speziallagerinsassen pauschal als „Naziverbrecher“ gebrandmarkt werden, denen kein Opferstatus zustehe. In einem Besucherbucheintrag in Buchenwald heißt es: „Ohne Deutsche kein Holocaust. Und sie haben es gern getan. Es waren nicht zu viel, sondern zu wenig, die dafür bestraft wurden.“45 Wie ließe sich die nivellierende Rezeption erklären? Es liegt nahe, eine zu wenig differenzierende Ausstellungskonzeption oder -gestaltung hierfür verantwortlich zu machen. Beides spielt sicher eine Rolle, scheint mir aber nicht ausschlaggebend zu sein. Komparative Besucherstudien in mehreren Gedenkstätten könnten hierüber Aufschluss geben. Meines Erachtens sind andere Faktoren von größerer Bedeutung. Erstens kommen Besucher bereits mit entsprechenden Einstellungen in die Gedenkstätten.46 Die leichtfertige Gleichsetzung der historischen Ereignisse, Hinweise auf die Verbrechen „der anderen“ (hier insbesondere der „Russen“ oder „Sowjets“), die „nun endlich“ ans Licht kämen und das Herausstellen von Deutschen als Opfern, derer man „nun endlich“ gedenken könne („Viktimisierung“), sind nahezu traditionelle Entlastungsstrategien mit dem Ziel positiver nationaler Selbstvergewisserung.47 Die Rezeption musealer Präsentationen, nicht nur an komplexen Erinnerungsorten, ist aber neben biografischen Erfahrungen und Vorwissen deutlich durch solche, auch emotional bedeutsamen, Voreinstellungen und Motive geprägt. Der vorherrschende Aneignungsmodus der Orte ist Assimilation des Gelesenen und Gesehenen in die vorhandenen kognitiven Schemata, nicht aber deren Modifikation, denn: „People want to leave museums satisfied with themselves and their beliefs.“48 Anders formuliert: Besucher sehen, was sie sehen wollen und suchen nach Daten, die mit ihren gegenwärtigen Überzeugungen vereinbar sind.49 Selbst Ausstellungen, die ihrem Geschichtsbild widersprechen und damit kognitive Dissonanz erzeugen, führen nicht zwangsläufig zu Einstellungs-
45 Ritscher: „Es liegt nicht an der Ausstellung“, 1999, S. 208. 46 Vgl. auch Karsten Stephan: Vernichtungskrieg oder Aufstand des Gewissens? Ausstellungsbesucherinnen als Rezipienten geschichtspolitischen Handelns, in: Claudia Fröhlich, Horst-Alfred Heinrich (Hrsg.): Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten?, Wiesbaden 2004, S. 119–131. 47 Vgl. Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach: Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation, Berlin 2007. 48 Zahava Doering, Andrew J. Pekarik: Assesment of Informal Education in Holocaust Museums, Institutional Studies Office/Smithsonian Institution (Hrsg.): Research Note 96-2, Washington 1996, S. 11f. 49 Hierbei handelt es sich um ein in vielen Studien nachgewiesenes Denkmuster. Vgl. Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012, S. 108.
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veränderungen. „If things are the way we expect them to be, we find this very reinforcing and continue. If there is a discrepancy, we may become curious and proceed, but more likely we will either ignore or skip over the inconsistency.“50 So erklären sich Äußerungen, wie der folgende Besucherbucheintrag in Buchenwald: „Der rote Holocaust muß ebenso schonungslos wie sein brauner Ableger aufbereitet werden. Schließlich nannten sich beide Verbrecherregime ‚sozialistisch‘. Lenin, Trotzki und später Stalin haben diese Katastrophe für die Menschheit des 20. Jahrhunderts eingeleitet und somit auch 15 Jahre nach ihrer Machtergreifung in Rußland die braune Machtübernahme in Deutschland verursacht.“51 Zweitens stehen diese Orte durch ihre baulichen Relikte, durch ihre konkrete Gestalt und durch das Schicksal der Gefangenen, die in den unterschiedlichen Zeiträumen in oftmals denselben Zellen und Baracken ähnliches Leid erfuhren, sinnlich wahrnehmbar für Analogien, Kontinuität und Parallelen der Repressionsapparate. Deren Ähnlichkeiten verweisen ihrerseits auf strukturelle Gemeinsamkeiten der zugrundeliegenden Weltanschauungen. Die Aufeinanderfolge von zwei Diktaturen bewirkt eine optische Verstärkung der totalitären Gemeinsamkeiten.52 Die unteilbare Anerkennung des Leidens aller Opfergruppen ist nicht nur Ausgangspunkt für die Einrichtung von Gedenkstätten, sondern steht neben der Vermittlung der Ursachen des Unrechts und der Sensibilisierung für Gefährdungen der Gegenwart in deren Zentrum. Die Differenzierung und das Aufdecken von Unterschieden und Brüchen, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind, haben entsprechendes Vorwissen und intellektuelle Anstrengungen als notwendige Voraussetzungen, die gerade bei Jugendlichen und touristisch motivierten, erlebnisorientierten Besuchern mit einer eher oberflächlichen Wahrnehmung in der Regel nicht gegeben sind. Dies erschwert, zumal an Orten, die im öffentlichen Bewusstsein nicht für eine bestimmte Periode stehen oder eher unbekannt sind, wie zum Beispiel Torgau oder auch Münchner Platz Dresden, differenzierende Aneignung. Entsprechende Absichten der Kuratoren haben es also schwer, sich gegen den sinnlich wahrnehmbaren Gehalt der Orte und gegen die Dispositionen der Besucher durchzusetzen. Schließlich – und drittens – wurde in der Philosophie die Vermutung geäußert, dass der menschliche Geist auf natürliche Weise mehr durch das Aufspüren von Ähnlichkeiten angeregt werde, da dies stärker seine Einbildungskraft befördere. So meinte Edmund Burke, dass sich zwei Dinge voneinander unterscheiden würden, sei der erwartete Normalfall, sobald aber zwei verschiedene Dinge Ähnlichkeiten aufweisen, erzeuge dies Aufmerksamkeit. „The mind of man has naturally a far greater alacrity and satisfaction in tracing resemblances than in searching for differences; because, by making resemblances, we produce new images, we unite, we create, we enlarge our stock: but in making distinctions we offer no
50 John H. Falk, Lynn D. Dierking: Learning from Museums. Visitor Experiences and the Making of Meaning, Walnut Creek 2000, S. 118. 51 Rölle: „Zurück bleibt Stille“, 2010, S. 167. 52 So selbst Habermas: Enquete-Kommission, 1995, S. 688.
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food to the imagination; the task itself is more severe and irksome, and what pleasure we derive from it, is something of an negative and indirect nature.“53 In diesem Sinne werden die ins Auge springenden oder gar erfahrbaren Ähnlichkeiten, wie ein menschenunwürdiges Haftregime, gegenüber den Unterschieden, wie Kontext und Gründen der Inhaftierung, übergewichtet. Es würde sich lohnen, dieser These im Kontext von Gedenkstätten mit ‚doppelter Vergangenheit‘ genauer nachzugehen.
Fazit Die bisherigen Studien lassen ungeachtet ihres vorläufigen Charakters vermuten, dass das notwendige Maß an Differenzierungsvermögen, historischen Kenntnissen und intellektueller Vigilanz, die für eine Rezeption im Sinne der Kuratoren notwendig wären, oft nicht vorhanden sind. Eine große Herausforderung für Gedenkstätten mit mehrfacher Vergangenheit liegt daher darin, differenzierende Einsichten hinsichtlich Kontext, Dimensionen und Folgen des Unrechts in den verschiedenen Zeiträumen bei den Besuchern zu befördern, obwohl dem die sinnliche Anmutung der Orte, Dispositionen der Besucher und ‚natürliche‘ Rezeptionsweisen entgegenstehen. Hier ist insbesondere an eine differenzierende Kommunikation in der Öffentlichkeit und an eine nicht nur räumliche, sondern auch gestalterische Unterscheidung der Ausstellungen zu denken. Aber auch Konzepte, die auf die Unterschiede fokussieren oder den Diktaturenvergleich explizit thematisieren, sind Überlegungen wert. Bei allem Unbehagen an gleichmacherischen Tendenzen soll eines nicht unterschlagen werden: Die genannten Orte leisten einen wichtigen Beitrag zu der Einsicht, dass auch die kommunistischen Verbrechen und ihre Opfer Teil unserer Vergangenheit sind. Dies ist ein zentraler Anspruch nicht nur an die deutsche, sondern an die europäische Erinnerungskultur. 1994 betonte Jorge Semprún in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, dass Deutschland sich mit beiden „totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen“ müsse und diese nur überwinden könne, indem es beide Erfahrungen kritisch übernehme und aufhebe.54 Und den 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 10. April 2005 nahm er erneut zum Anlass, die Überwindung der schon 1986 von ihm konstatierten und weiterhin bestehenden „mehr oder weniger gewollten Blindheit über die sozialen
53 Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful, Minola u. a. 2008, S. 8. Ähnlich Kahneman: Schnelles Denken, 2012, insbes. S. 81–95, der die „Faulheit“ menschlichen Denkens gegenüber einer analytischen Herangehensweise hervorhebt. 54 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1994. Jorge Semprún, Frankfurt am Main 1994, S. 51.
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Realitäten des Realsozialismus“55 einzufordern: „Hoffen wir, dass bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die Erfahrung des Gulag in unser kollektives Gedächtnis eingegliedert worden ist. Hoffen wir, dass neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész oder David Rousset auch die Erzählungen von Warlam Schalamow gerückt werden.“56
55 Semprún: Stalinismus und Faschismus, 1987, S. 49. 56 Jorge Semprún: Niemand wird mehr sagen können: „Ja, so war es“, in: Die Zeit, 14.4.2005, URL: http://www.zeit.de/2005/16/BefreiungBuchenw_/seite-3; letzter Zugriff: 30.9.2013.
DDR-GESCHICHTE – AUSGESTELLT IN BERLIN Irmgard Zündorf
Zusammenfassung: Ausgehend von der Annahme, dass die Erinnerung an die DDR auch durch Ausstellungen geprägt wird, geht der Beitrag der Frage nach, welche Bilder und Narrative in den musealen Präsentationen konstruiert werden. Dabei wird der Blick vor allem auf Berliner Ausstellungen gelenkt und die Hauptstadt als Brennpunkt der Auseinandersetzungen um die DDR-Erinnerung verstanden. Während nach 1990 in der gesamtdeutschen Erinnerungskultur zunächst der Blick auf die Repressionsgeschichte und damit das Diktaturgedächtnis vorherrschte, wandelte sich die Ausstellungslandschaft langsam, wobei private Museen, die das Fortschrittsgedächtnis präferierten, die Vorreiter bei der Präsentation der Alltagsgeschichte waren. In Berlin lässt sich jedoch nach wie vor ein starker Schwerpunkt auf dem Diktaturgedächtnis feststellen. Abstract: Based on the assumption that memories of the GDR are shaped among other things by exhibitions, this article poses the question as to how pictures and narratives in museum presentations are constructed. Because the focal point of the discussion about GDR commemoration is mainly located in Berlin, this article concentrates on exhibitions in the Capital. After 1990 the focus of memory culture in reunified Germany was upon the history of repression, with the dominant memory of dictatorship. During the last 10 years the exhibition landscape has changed. The number of private museums has increased; they mostly present everyday culture and prefer the memory of progress. As will be argued, in Berlin there is still an emphasis upon the memory of dictatorship.
Die DDR-Geschichte wird in der Öffentlichkeit in Deutschland nach wie vor kontrovers diskutiert und kann auch als ein „Kampfplatz der Erinnerung“1 bezeichnet werden. Diese Uneinigkeit und Vielfalt der DDR-Betrachtungen spiegelt sich in der Art und Weise, wie diese Geschichte ausgestellt wird, ebenso wider wie in den gewählten Ausstellungsthemen. Dabei lassen sich vier thematische Schwerpunkte der Repräsentation von DDR-Geschichte feststellen: die Herrschafts-, Repressions-, Widerstands- und Alltagsgeschichte. Durch die Wahl einer dieser Schwerpunkte in der jeweiligen Ausstellung werden unterschiedliche DDR-Bilder fokussiert, die mit denen in anderen Einrichtungen konkurrieren. Diese Konkurrenz der ausgestellten ostdeutschen Geschichte ist ein Ausdruck der lebendigen,
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Martin Sabrow: Die DDR erinnern, in: Ders. (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR, München, 2009, S. 11–27, hier S. 15.
Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 139–156
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immer wieder in der Diskussion stehenden und sich weiter wandelnden Erinnerungslandschaft. Um diese Erinnerungslandschaft zu untersuchen und die verschiedenen Bilder und Narrative herauszuarbeiten, die die Erinnerung an die DDR prägen, wird im Folgenden der Blick auf Berlin als ‚Hauptstadt der Erinnerung‘ gelenkt. Berlin wird dabei nicht als repräsentatives Abbild der bundesdeutschen Museumslandschaft verstanden, sondern als Brennpunkt der Auseinandersetzungen um ‚das DDR-Bild‘, denn nirgendwo sonst gibt es eine solche Vielfalt präsentierter DDRGeschichte auf relativ begrenztem Raum, die in unterschiedlichen Zusammenhängen, mit unterschiedlichen Schwerpunkten sowie aus unterschiedlichen Perspektiven präsentiert und jedes Jahr von Millionen von Menschen besucht wird. Allerdings reicht der Platz im vorliegenden Aufsatz nicht aus, um alle DDR-Präsentationen in Berlin ausführlich zu betrachten. Daher werden zwei Häuser genauer in den Blick genommen, die laut Selbstdarstellung nicht einem speziellen Aspekt der ostdeutschen Geschichte gewidmet sind, sondern der allgemeinen Darstellung der DDR: das Deutsche Historische Museum (DHM) als staatlich finanziertes Nationalmuseum und das privat finanzierte DDR Museum. Die Dauerausstellungen der beiden Häuser werden in der Berliner Museumslandschaft verortet und Seitenblicke auf andere DDR-Ausstellungen in der Bundesrepublik stellen sie in einen breiteren Kontext. Ausstellungen sind weder inhaltlich noch in ihrer gesellschaftlichen Position neutrale Präsentationen. Vielmehr sind sie immer fragmentarisch, konstruiert und gegenwartsbezogen.2 Sie sagen somit vor allem etwas darüber aus, wie die jeweiligen Kuratoren die Annäherung der Besucher an Vergangenes gestaltet haben und welche Geschichtsnarrative sie vertreten. Kuratoren wiederum agieren in Abhängigkeit von ihren Institutionen, die entweder einen gesellschaftlichen Auftrag oder ein finanzielles Interesse verfolgen, das wiederum auf gesellschaftliche Nachfrage reagiert. Ausstellungen sagen somit mindestens ebensoviel über die Gesellschaft aus, in der sie gezeigt werden, wie über die Gesellschaft, die sie darstellen.3 Ausgehend von dieser Grundannahme wird die Präsentation der DDR in den Berliner Museen untersucht, um einen Überblick der vorherrschenden Narrative zur Geschichte der SED-Diktatur in der Gegenwartsgesellschaft zu bekommen. Die Ausstellungen werden hinsichtlich ihrer Themenschwerpunkte und ihrer Struktur untersucht, wobei die Frage gestellt wird, welches Geschichtsbild sie vertreten. Dabei sind ihre Medien die Objekte, ihre Methode ist die Gestaltung und als Hilfsinstrument fungieren Texte. Objekte, Gestaltung und Texte dienen als Quellen der vorliegenden Untersuchung. Zunächst werden jedoch einige Spezifika der Repräsentation von DDR-Geschichte erläutert, die alle betrachteten Ausstellungen betreffen. Anschließend erfolgt eine Bestandsaufnahme der verschiedenen
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Jana Scholze: Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen, in: Joachim Baur (Hrsg.): Museumsanalyse Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2010, S. 121–148, hier S. 142. Anke te Heesen: Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg 2012, S. 159.
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Ausstellungen in Berlin, kategorisiert nach Auftrag und Themenschwerpunkten. Schließlich wird nach den ausgestellten Geschichtsnarrativen und deren erinnerungspolitischen Intentionen gefragt.
Spezifika der DDR-Geschichte im Museum Objekte in Ausstellungen sind absichtlich oder unabsichtlich hinterlassene Zeugnisse der Vergangenheit.4 Erst durch die Aufnahme in ein Museum werden aus Gebrauchsgegenständen Kulturobjekte beziehungsweise Relikte einer vergangenen Zeit. Die Objekte wechseln ihren Ort vom kommunikativen hin zum kulturellen Gedächtnis.5 In Bezug auf die DDR wurden die Objekte oft von einem Tag auf den anderen als Gebrauchsobjekte aussortiert, manche wurden in den Müll, andere in Museen gegeben. Die Übergangsphase vom Gebrauchs- zum Kulturobjekt war somit sehr kurz. Dies hat zur Folge, dass manche DDR-Objekte weiterhin Teil des kommunikativen Gedächtnisses sind, können sich doch viele Menschen noch an ihren Gebrauch erinnern. Damit ist eine für Ausstellungskuratoren bedenkenswerte Vermischung der Gedächtnisse verbunden, da Wiedererkennungseffekte („das hatten wir auch“) die präsentierte Geschichte überlagern können. In ihrer Mehrheit lassen sich die Objekte in den DDR-Präsentationen den Gruppen der Konsumgüter und der Herrschaftsinsignien zuordnen. Entsprechende Objekte sind in großer Zahl vorhanden, da sich die ostdeutschen Haushalte nach 1990 ihrer möglichst schnell entledigten.6 Dies führte aber auch dazu, dass sich unter den Konsumgütern vor allem Objekte aus den 1980er-Jahren finden, die eben bis dahin noch in Gebrauch waren. In den Museen, die DDR-Geschichte ausstellen, fehlen dagegen weitgehend individuelle Erinnerungsstücke wie Fotos, Briefe oder personalisierte Objekte, also Dinge, die individuell verändert wurden und Gebrauchsspuren aufweisen. Solche Objekte können dazu dienen persönliche Geschichten zu erzählen. In den meisten Museen scheint jedoch das Bestreben zu bestehen, möglichst unberührte, quasi neue Objekte auszustellen oder solche, die möglichst wenig Gebrauchsspuren aufweisen und dadurch unpersönlich wirken. Der in anderen Ausstellungen vielfach für die Vermittlung von Geschichte gewählte biografische Ansatz findet
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Droysen gliedert diese in Traditionen, Denkmäler und Überreste: Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über die Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, München 1958, S. 37–83. Thomas Thiemeyer: Geschichtswissenschaft: Das Museum als Quelle, in: Joachim Baur (Hrsg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2010. S. 73– 94, hier S. 76. Zur Objektauswahl siehe: Irmgard Zündorf: DDR-Alltagsgeschichte im Museum, in: Katrin Hammerstein, Jan Scheunemann (Hrsg.): Die Musealisierung der DDR. Wege, Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Zeitgeschichte in stadt- und regionalgeschichtlichen Museen, Berlin 2012, S. 96–109, hier S. 100–103.
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sich somit interessanterweise gerade in DDR-Ausstellungen selten.7 Dies lässt sich durch eine zweite Besonderheit erklären: Die Ausstellungen behandeln mit der deutschen Zeitgeschichte eine Geschichte, die von den „Mitlebenden“8 geprägt ist, die offenbar (und verständlicherweise) ihre private Geschichte nicht ausgestellt wissen wollen. Zudem verbinden sie teilweise hochemotionale Erinnerungen mit der DDR – sowohl positive als auch negative. Daneben gibt es aber auch Mitlebende, die vermeintlich keinen Bezug zu diesem Teil der deutschen Geschichte haben, weil sie zum Beispiel aus der alten Bundesrepublik kommen. Hinzu kommt die wachsende Gruppe derer, die keine Mitlebenden mehr sind, sondern Nachgeborene. Sie alle können sowohl Ausstellungsgestalter als auch Besucher oder Leihgeber sein und prägen somit die Ausstellungen. Ihre persönlichen Erinnerungen einerseits und das durch vielfältige Medien vermittelte Bild von der DDR andererseits fließen auf die eine oder andere Art in die Präsentationen ein. Die dadurch geprägten Narrative lassen sich nach Martin Sabrow in drei Gedächtnistypen unterteilen: das Diktaturgedächtnis, welches den Repressionscharakter des DDR-Regimes betont; das Arrangementgedächtnis, das vor allem auf das alltägliche Leben in einem vielleicht nicht gewollten, aber hingenommenen politischen Umfeld verweist; und das Fortschrittsgedächtnis, das die DDR zumindest ideengeschichtlich als historische Alternative betrachtet.9 Auch die Berliner DDR-Ausstellungen lassen sich dieser mit der erinnerungspolitischen Debatte verbundenen Typologie zuordnen.
Die DDR in der deutschen Erinnerungskultur Nach 1990 stand zunächst vor allem der Diktaturcharakter der DDR im Fokus der deutschen Erinnerungskultur. Dies spiegelte sich in den Ergebnissen der EnquêteKommissionen des Bundestages10 und vor allem im ersten Gedenkstättenkonzept
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Eine Ausnahme stellt die Sammlung des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt dar, das in seiner Sammlungskonzeption gerade diese Objekte gezielt aufnahm. Vgl. Andreas Ludwig: Alltag, Geschichte und objektbezogene Erinnerung. Bemerkungen zur Konzeption eines Museums der Alltagskultur der DDR, in: Gerd Kuhn, Andreas Ludwig (Hrsg.): Alltag und soziales Gedächtnis: Die Objektkultur und ihre Musealisierung, Hamburg 1997, S. 61–81, hier vor allem S. 71. In der Dauerausstellung ist der biografische Ansatz jedoch trotzdem nicht verfolgt worden. 8 Rothfels definiert die Zeitgeschichte als „die Epoche der Mitlebenden“. Hans Rothfels: Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1–8, hier S. 2. 9 Sabrow: Die DDR erinnern, 2009, S. 18f.; Ders.: „Fußnote der Geschichte“, „Kuscheldiktatur“ oder „Unrechtsstaat“. Die Geschichte der DDR zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, in: Hammerstein, Scheunemann (Hrsg.): Die Musealisierung der DDR, 2012, S. 13–24, hier S. 18–20. 10 992 „Enquête-Kommission zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“; 1995 „Enquête-Kommission zur Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“.
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des Bundes von 1999.11 Hier wurde festgelegt, dass die Bundesregierung Gedenkstätten und Projekte unterstütze, die sowohl von nationaler beziehungsweise internationaler Bedeutung seien als auch eine oder mehrere Formen der Repression darstellten. Daher wurden vor allem Gedenkstätten gefördert, die an den Repressionscharakter der SED-Diktatur erinnerten. Nach heftigen öffentlichen Diskussionen12 über die Erweiterung des Themenspektrums der bundesstaatlich geförderten Erinnerungskultur in den Jahren 2005/06 wurde im 2008 überarbeiteten Gedenkstättenkonzept des Bundes neben der Repression auch die Herrschafts-, Oppositions- und Gesellschaftsgeschichte in den Blick genommen.13 Gesellschaftsgeschichte meinte vor allem Alltagsgeschichte, deren Ausstellung jedoch laut Gedenkstättenkonzept nur dann staatlich gefördert wird, wenn „das alltägliche Leben im Kontext der Diktatur“ dargestellt wird. Die Ausstellungen sollten die umfassende staatliche Kontrolle der Menschen in der DDR, den massiven Anpassungsdruck sowie die „Mitmachbereitschaft“ der Gesellschaft herausarbeiten. Weiterhin wurde also besonders das Diktaturgedächtnis betont, das Arrangementgedächtnis sollte aber einbezogen werden. Dies sollte vor allem in den Nationalmuseen wie dem Deutschen Historischen Museum in Berlin und der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit seinen Häusern in Bonn und Leipzig umgesetzt werden. Alle drei Museen haben einen Schwerpunkt auf der Politik- und damit der Herrschaftsgeschichte und widmen sich nur in Ansätzen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Damit sind sie kaum in der Lage, andere Erinnerungsformen als das Diktaturgedächtnis zu bedienen. Die Alltagsgeschichte steht vor allem in dem 1993 eingerichteten Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt im Fokus der Präsentation.14 Das Zentrum wird von Land, Kreis und Stadt getragen und temporär mit Bundesmitteln unterstützt. Somit ist sein Bestehen vorerst mittels öffentlicher Gelder gesichert. Daneben steht in den seit 1990 vor allem in Ostdeutschland privat eingerichteten sogenannten DDR-Museen der Alltag, teilweise ohne jeden Bezug zur Herrschaftsgeschichte, im Mittelpunkt. Ihre Anzahl schwankt seither um die 15; da sie zumeist über keine gesicherte Finanzierung verfügen und vor
11 Zur Entwicklung der Enquête-Kommissionen und des Gedenkstättenkonzeptes siehe: Carola S. Rudnick: Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989, Bielefeld 2011, S. 47–89. 12 Siehe die Zusammenstellung der Diskussion in der Presse in: Martin Sabrow u.a. (Hrsg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007, S. 185–367. 13 Deutscher Bundestag, Drucksache 16/9875: Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes „Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen“, URL: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/BKM/2008-06-18-fortschreibunggedenk-staettenkonzepion-barrierefrei.pdf?__blob=publicationFile&v=3; 14.8.2013. 14 Zur Geschichte des Dokumentationszentrums siehe: Andreas Ludwig: Alltagskultur als Zugang zur DDR-Geschichte? Sammlungs- und Ausstellungskonzepte des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR, in: Bernd Faulenbach, Franz-Josef Jelich (Hrsg.): „Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?“ Die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR in Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten, Essen 2005, S.169–180.
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allem durch privates Engagement der Gründer getragen werden, schließen immer wieder Museen und andere werden neu eröffnet.15 Sie agieren unabhängig vom Gedenkstättenkonzept des Bundes und müssen sich nicht an dessen Vorgaben halten. Inhaltlich zeichnen manche dieser Museen ein sehr positives Bild von der DDR und leisten damit dem Verharmlosungsvorwurf Vorschub. Ihre Ziele liegen laut eigener Aussage beispielsweise darin, „Einblick in das Leben in der DDR“ zu geben, aber auch „interessante und durchaus auch mal amüsante Reisen in die jüngste deutsche Geschichte“ zu bieten.16 Sie wollen Vergangenheit veranschaulichen und Erinnerung bewahren17 oder zum Schmunzeln, aber auch zum Nachdenken anregen.18 Damit wählen sie einen im weitesten Sinne gesellschaftsgeschichtlichen Zugang, bedienen aber vor allem das Fortschrittsgedächtnis.
DDR-Ausstellungen in Berlin In Berlin gibt es diese Art der DDR-Museen kaum. Die dortigen DDRAusstellungen sind überwiegend staatlich finanziert und professionell gestaltet. Hinsichtlich der im Gedenkstättenkonzept des Bundes aufgestellten Themen lassen sie sich wie folgt zusammenfassen: Der Teilungsgeschichte widmen sich die Ausstellung der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im sogenannten Tränenpalast, aber auch die Gedenkstätte Berliner Mauer, deren Dauerausstellung jedoch noch im Aufbau ist, und die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. Auch das privat finanzierte Mauermuseum am Checkpoint Charlie zählt dazu, selbst wenn seine Ausstellung keine klar erkennbare Linie verfolgt, da es sowohl die Berliner Mauer im Besonderen als auch den Kampf um die Menschenrechte im Allgemeinen thematisieren will und einen inhaltlichen Spagat von Mahatma Gandhi bis zu den DDR-Flüchtlingen wagt.19 Die Repressionsgeschichte der DDR wird in der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen, der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße – Stasi15 Für einen Überblick über private DDR-Museen siehe Jan Scheunemann: Gehört die DDR ins Museum? Beobachtungen zur Musealisierung der sozialistischen Vergangenheit, in: Gerbergasse 18 (2009), S. 34–37; Irmgard Zündorf: DDR-Museen als Teil der Gedenkkultur in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbuch für Kulturpolitik 9 (2009), Schwerpunkt Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik, hrsg. von Bernd Wagner, S. 139–145. 16 Vgl. zum Beispiel die Website des DDR-Museums in Pirna, URL: http://www.ddr-museumpirna.de/index.php/layout.html; letzter Zugriff: 14.8.2013. Auch das DDR-Museum Zeitreise in Radebeul verspricht eine Reise in die jüngste deutsche Vergangenheit. 17 Museum für DDR-Produkte in Erfurt. 18 Museumsbaracke Olle DDR in Apolda. 19 Das Museum nennt sich daher auch „Museum Haus am Checkpoint Charlie – Mauer Museum – Museum des weltweiten gewaltfreien Kampfes“, vgl. Website des Hauses, URL: http://www.mauermuseum.de; letzter Zugriff: 14.8.2013. Zur Einordnung des Museums in die Erinnerungslandschaft am früheren Checkpoint Charlie in Berlin siehe Sybille Frank: Der Mauer um die Wette gedenken. Die Formation einer Heritage-Industrie am Berliner Checkpoint Charlie, Frankfurt am Main 2009. Speziell zur Geschichte und Aufbau der dortigen Ausstellung siehe ebd.: S. 155f.
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Museum Berlin und der Dauerausstellung „Stasi“ des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) thematisiert. In der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen20 wird zudem mit der Ausstellung zum sowjetischen Speziallager der Frühzeit der politischen Unterdrückung gedacht. Ausschließlich die Herrschaftsgeschichte wird im Schloss Schönhausen beleuchtet, dem früheren Sitz des ersten und einzigen Präsidenten der DDR.21 Wie bei sogenannten Schlossmuseen, in denen vor allem möglichst originale oder originalgetreu rekonstruierte Räume präsentiert werden, wurde dort beispielsweise das Arbeitszimmer Wilhelm Piecks aus den 1950er-Jahren weitgehend wiederhergestellt und ist, von den Besuchern des Schlosses durch eine Kordel getrennt, zu besichtigen. Im Gegensatz dazu liegt der Schwerpunkt der Ausstellung im Jugend[widerstands]museum Galiläakirche auf der Oppositionsgeschichte am Beispiel ostdeutscher Jugendlicher.22 Museen zur DDR-Geschichte mit alltagshistorischem Ansatz existieren in Berlin nicht. Zwei Ausstellungen beanspruchen jedoch die thematisch übergreifende Auseinandersetzung mit der DDR: die Dauerausstellungen im DHM und im DDR Museum.23 Während das DHM ein staatlich gefördertes Museum zur Auseinandersetzung mit der gesamtdeutschen Geschichte ist, wird das DDR Museum privat finanziert. Beide Museen gehören zu den 20 meistbesuchten in Berlin – das DHM zählte 2011 rund 740.000 und das DDR Museum 493.000 Besucher.24 Beide Ausstellungen wurden 2006 eröffnet, mitten in der Hochphase des Streits um die Ausrichtung der staatlich geförderten künftigen Erinnerungskultur zur Geschichte der DDR. Allerdings waren die Ausstellungskonzeptionen lange vorher erarbeitet worden, sodass sie nicht als Reaktion auf die Diskussion bewertet werden können; sie dienten aber als Argumente in den Auseinandersetzungen. Beide Häuser stehen im Folgenden im Mittelpunkt der Betrachtung. Andere Ausstellungen werden erwähnt, um Besonderheiten herauszuarbeiten. Zudem werden weitere Museen
20 Die Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen ist Teil der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Aufgrund ihrer räumlichen Nähe zu Berlin wird sie trotzdem in die Betrachtung einbezogen. 21 Siehe auch die Kurzinformation auf der Website der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, URL: http://www.spsg.de/index.php?id=6740&sessionLanguage=de; letzter Zugriff: 14.8.2013. 22 Siehe dazu auch Mario Wenzel: Opposition im Kiez. Die Galiläakirche in Berlin-Friedrichshain als Museum des Jugendwiderstandes in der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 1048–1052. 23 Für einen Vergleich beider Ausstellungen vor allem hinsichtlich der präsentierten Inhalte siehe auch: Christian Gaubert: Der DDR-Alltag im Kontext der Diktatur. Eine vergleichende Analyse der Dauerausstellungen des DDR-Museums Berlin und des Deutschen Historischen Museums, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 1008–1024. 24 Siehe die Presseerklärung der Stadt Berlin vom 7.12.2012 zu den offiziellen Besucherzahlen, URL: http://www.berlin.de/sen/kultur/presse/archiv/20121207.1150.379225.html; letzter Zugriff: 14.8.2013.
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einbezogen, die sich am Rande mit der DDR-Geschichte auseinandersetzen wie die verschiedenen Stadtteilmuseen und ein eher technisch ausgerichtetes Museum. Grundsätzlich lassen sich Ausstellungen hinsichtlich ihrer Präsentationsformen in vier verschiedene Typen gliedern: Chronologie, Klassifikation, Inszenierung und Komposition.25 Die Chronologie ist häufig in historischen Ausstellungen vorzufinden, da sie die Entwicklung eines linearen Narrativs unterstützt. Die Klassifikation hingegen stellt eine eher technische Gliederung der Objekte dar, die der Struktur des Depots folgt. Der thematischen Zuordnung der Objekte in einzelne nachgebaute respektive rekonstruierte Szenen entspricht die Inszenierung. Die Komposition schließlich fügt Objekte zusammen, deren Bezüge vordergründig nicht erkennbar sind, und entspricht daher eher einer assoziativen Raumgestaltung.26 Diese Formen finden sich in Ausstellungen sowohl in Reinform als auch in verschiedenen Mischungen. Die Chronologie eignet sich vor allem dazu, eine klare Erzählstruktur aufzubauen, die relativ einfach nachvollziehbar ist. Sie wird daher eingesetzt, wenn vor Beginn der Ausstellungsplanung das intendierte Narrativ bereits feststeht. Unterstützt wird die Erzählstruktur vor allem durch Texte, die jeweils in den Raum, das Thema und das jeweilige Objekt einführen. Die Objekte werden dabei häufig nur noch zur Bestätigung der Texte beziehungsweise als Illustrationen eingesetzt und sind nicht mehr selbst Thema. Bei einer thematischen Schwerpunktsetzung auf der Politik- und Ereignisgeschichte bietet sich die Chronologie an.
Die Dauerausstellung im Deutschen Historischen Museum Daher verwundert es kaum, dass die Dauerausstellung des DHM chronologisch aufgebaut ist. Vor allem der Bereich, der die Zeit nach 1945 darstellt, kann als prototypisch für die Fokussierung auf das chronologische Narrativ und die Vernachlässigung der eigentlichen Objekte gesehen werden.27 Das DHM übernahm nach 1990 die Sammlung des Museums für Deutsche Geschichte (MfDG) der DDR, das die SED 1952 eingerichtet hatte. Diese Übernahme erklärt, warum im Sammlungsbestand für die Zeit nach 1945 besonders viele offizielle Objekte der DDR-Staatspräsentation und der SED zu finden sind und weniger Objekte des alltäglichen Lebens, der Repression oder der Opposition. Allerdings wurden ab 1990, bereits vom noch bestehenden MfDG, auch zu diesen Bereichen einige Ob-
25 Die Gliederung und Analyse folgt Jana Scholze: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld 2004. 26 Ebd. , S. 27f. 27 Hier wird nur ein Teil der Ausstellung unter einem ganz bestimmten Aspekt näher beleuchtet. Zur Diskussion um die gesamte Dauerausstellung siehe: Jan-Holger Kirsch, Irmgard Zündorf (Hrsg.): Geschichtsbilder des Deutschen Historischen Museums. Die Dauerausstellung in der Diskussion, in: Zeitgeschichte-online, Juli 2007, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/geschichtsbilder-des-deutschen-historischen-museums; letzter Zugriff 14.8.2013.
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jekte gesammelt. Trotzdem bleibt der Schwerpunkt auf den Herrschaftsobjekten unverkennbar. Die DHM-Ausstellung umfasst insgesamt rund 2000 Jahre deutsche Geschichte. Dementsprechend ist für die Zeit zwischen 1949 und 1990 nur begrenzter Raum vorhanden, und dieser ist noch einmal in zwei Bereiche, nämlich in West- und Ostdeutschland aufgeteilt. Dieser Abschnitt ist der einzige in der Ausstellung, in dem die Besucher nicht entlang eines Hauptwegs die wichtigsten Ereignisse der präsentierten Geschichte in den Blick nehmen können. Am Beginn der Geschichte der beiden deutschen Staaten steht ein Grenzpfeiler, an dem sich der Besucher entscheiden muss, ob er links durch den ‚Osten‘ oder rechts durch den ‚Westen‘ gehen will. Osten und Westen sind durch eine Art Gitter getrennt, das zwar an verschiedenen Stellen den Übergang und auch die Durchsicht erlaubt, aber die sonst in der Ausstellung übliche klare Besucherführung entlang eines einzigen Weges erstmals verhindert. Auch die auf dem Boden markierten Richtungspfeile geben keine eindeutige Besucherführung vor, erstmals findet der Besucher hier zwei Pfeile nebeneinander. Dieses Nebeneinander wird in der Ausstellung bis zur Präsentation der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung aufrecht erhalten – eine Verknüpfung der parallel verlaufenen deutsch-deutschen Geschichte ist nur durch Sichtachsen in den jeweils anderen Teil möglich und muss vom Besucher aktiv gesucht werden. Der Grenzpfosten dient hier als Leitobjekt, das den Raum teilt und die weitere Struktur der Ausstellung vorgibt. Daher lassen sich schnell die beiden Vitrinen rechts und links von ihm übersehen, in denen die Verfassung der DDR und das Grundgesetz der Bundesrepublik ausgestellt sind. Diese Gegenüberstellung verdeutlicht ein weiteres Charakteristikum des Ausstellungsbereichs: Die DDR wird hier im ersten Abschnitt als ein mit der Bundesrepublik gleichsetzbarer Staat mit Verfassung, Regierung und Parteien dargestellt. Durch die zusätzliche Präsentation der Uniformen der Massenorganisationen der DDR und Fahnen der SED, des Landes sowie solche zur Propagierung des Fünfjahrplans, wird allerdings angedeutet, dass die politischen Verhältnisse anders waren als in Westdeutschland. Der Begleittext erläutert zudem, dass es sich bei der DDR um einen sozialistischen Staat nach sowjetischem Vorbild handelte. Der Diktaturcharakter der DDR wird jedoch nicht zwangsläufig deutlich. Dies liegt sicher zum einen an den Objekten, die als Herrschaftsobjekte vor allem das Bild spiegeln, das die SED selbst von sich und der Gesellschaft gezeichnet hat. Hier wird eines der Hauptprobleme der Ausstellung deutlich, nämlich dass das DHM interessante DDR-Objekte zeigt, diese aber das Bild, das sie ursprünglich zeichnen sollten, heute nicht brechen können. Zudem fehlt es auch an anderen Objekten, die denen der Propaganda entgegen gestellt werden können. Auch die Darstellung der politischen Opposition in einer Nische, abgelegen vom Hauptgang hinter einer Wand, schafft es kaum, die Bedrohung derselben durch den Staat zu verdeutlichen. So werden beispielsweise Videoaufnahmen vom 17. Juni 1953 mit einem Maschinengewehr und dem Modell eines sowjetischen Panzers kontrastiert. Ein echter Panzer lässt sich im Zeughaus nicht ausstellen und sein Modell wirkt eher wie ein Spielzeug, das die Lebensgefahr, die der Aufstand
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für die Demonstrierenden bedeutete, nicht angemessen vermittelt. Auch die Tragweite des Mauerbaus wird nicht deutlich, werden doch konsequent auch hier vor allem Propagandaobjekte der DDR gezeigt. So ist die DDR-Skulptur eines Grenzsoldaten zu sehen und der Thementext erläutert, dass die Mauer die DDR stabilisiert habe, da sie die Fluchtbewegung stoppte. Folgt man der Chronologie im ‚Ostteil‘ der Ausstellung, so findet sich im Bereich zu den 1970er-Jahren der Nachbau einer Zelle aus dem Gefängnis in Bautzen. Neben den üblichen Ausstattungsgegenständen steht darin auf dem Boden ein Bildschirm, der einen früheren Häftling zeigt, der rund 15 Minuten über sein Leben in der DDR, seine geplante Flucht, die Festnahme und schließlich seine Inhaftierung in Bautzen spricht. Diese Station stellt die einzige Einbindung einer für das DHM produzierten Zeitzeugenaussage in der gesamten Ausstellung dar.28 Das Video zeigt, wenn auch zu lang, die Wirkungskraft persönlicher Erfahrungen, die in anderen zeitgeschichtlichen Ausstellungen inzwischen vielfach eingesetzt werden. Der Mann erscheint nicht als wagemutiger Oppositioneller, sondern als unpolitischer Mensch, der das Land verlassen wollte und dafür ins Gefängnis kam. Dies ist einer der wenigen Bereiche in der Ausstellung, die den Diktaturcharakter der DDR aus der Opferperspektive verdeutlichen. Die vor der Zelle ausgestellten Überwachungsobjekte der Staatssicherheit, wie die oft zitierten Geruchsproben, könnten ebenfalls die Besonderheit des Überwachungsstaates verdeutlichen. Ein Blick von hier in den ‚Westen‘ zeigt jedoch fast auf gleicher Höhe einen auf Besucher verängstigend wirkenden, zwei Meter hohen Sicherheitszaun, der der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf entstammt. Und in einer Nische zum Thema Terrorismus ausgestellte Objekte der Fahndungsarbeit des Bundeskriminalamtes laden geradezu zu einem Vergleich mit den Methoden der Stasi ein. Hier wird erneut deutlich, dass das Museum durch die Wahl der repräsentierten Objekte in bestimmten Fällen an die Grenze des Darstellbaren kommt. Die für politische oder polizeiliche Funktionen eingesetzten Gegenstände unterschieden sich offenbar nicht besonders voneinander und helfen deshalb nicht, den Kontext ihrer Verwendung in den beiden deutschen Staaten aufzuzeigen. Ein ähnliches Problem wird auch bei der Gegenüberstellung der wirtschaftlichen Entwicklungen deutlich – hier haben die Kuratoren allerdings versucht, Differenzierungen durch die Gestaltung aufzuzeigen. So werden Konsumobjekte auf der Ost- wie auf der Westseite in einer großen Vitrine präsentiert. Obenauf stehen jeweils ein echter Trabant beziehungsweise ein VWKäfer (Volkswagen) als krönende Symbole der Konsumgesellschaften. Der Unterschied wird allein dadurch deutlich, dass die Ost-Vitrine in der zeitlichen Abfolge später kommt und kleiner ist als die West-Vitrine. Die Differenz lässt hier darauf schließen, dass der eine Staat wirtschaftlich zwar auch Fortschritte machte,
28 Allein im Bereich zur Geschichte der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus ist ein Computerterminal aufgestellt an dem ausgewählte Interviews mit früheren Zwangsarbeitern angesehen werden können. Die präsentierten Videoausschnitte entstammen dem Projekt „Zwangsarbeit 1939-1945“; URL: http://www.zwangsarbeit-archiv.de.
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aber nicht so erfolgreich war wie der andere. Die Problematik der Planwirtschaft etwa wird in keiner Weise sichtbar. Ein Blick auf das Ende der DDR sowie den Anfang des wiedervereinigten Deutschlands und damit auch auf das Ende der gesamten Dauerausstellung verdeutlicht noch einen weiteren Aspekt der Ausstellung. Dieser Abschnitt der deutschen Geschichte kann sicherlich als einer der positivsten der deutschen Geschichte bezeichnet werden. Die friedliche Revolution und die Wiedervereinigung werden jedoch lediglich präsentiert anhand von Protesttransparenten, geschredderten Stasiakten, einem der inzwischen auf der ganzen Welt bekannten Mauersegmente und schließlich einer Videoaufnahme von Helmut Kohl in Dresden. Dieser, die Ausstellung im DHM abschließende Bereich verdeutlicht, dass sie nicht auf Emotionen, sondern eher auf eine Darstellung von politischen Ereignissen setzt. Die skizzierten Beispiele zeigen den im DHM gewählten Fokus und die Grundproblematik der dortigen Ausstellung. Das präsentierte Narrativ zweier sich parallel entwickelnder deutscher Staaten, von denen der eine mehr politische und ökonomische Probleme hatte als der andere und erst darauf mit diktatorischen Methoden reagierte, verschleiert die Härte des Systems und dessen generellen Repressionscharakter. Die reichlich zur Schau gestellten Propagandaobjekte repräsentieren eher das offizielle Bild der DDR statt es zu brechen. Bemerkenswert ist dabei, dass dieser Fokus sich teilweise in den Texten widerspiegelt. Eine Zuordnung der Ausstellung zu den oben aufgezeigten Gedächtnissen fällt daher schwer. Das DHM versucht sowohl das Arrangement- als auch das Diktaturgedächtnis zu bedienen. Im Wesentlichen stellt es jedoch eine Aneinanderreihung von politischen Eckdaten der Herrschaftsgeschichte von der Staatsgründung über den 17. Juni hin zum Mauerbau sowie den Wechsel von Ulbricht zu Honecker bis zum Ende der DDR dar. Diese Stationen werden sachlich präsentiert, wobei die Objekte häufig nur zur Illustration oder als Aufhänger für das jeweils behandelte Thema dienen.
Die Ausstellung im DDR Museum Die Ausstellung des privaten DDR Museums stellt dagegen hinsichtlich der Ausstellungsstruktur eine Mischform zwischen Klassifikation, Komposition und Inszenierung dar und positioniert somit die Objekte und Themen im Mittelpunkt der Präsentation.29 Dies hat allerdings zur Folge, dass eine zeitliche Einordnung der Ausstellungsbereiche fehlt. Vielmehr wird der Eindruck vermittelt, die DDR hätte sich in ihrer 40-jährigen Geschichte nicht verändert. Die Objekte stammen jedoch überwiegend aus den 1980er-Jahren – eine grundlegende Information, die das Museum den Besuchern nicht mitteilt, wodurch die Ausstellung gewissermaßen eine latente ‚Schlagseite‘ aufweist. Die aus zwei Kapiteln bestehende Schau be29 Vgl. auch die Website des DDR Museums, URL: http://www.ddr-museum.de; letzter Zugriff: 14.8.2013.
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handelt sowohl die Kultur- und Gesellschaftsgeschichte als auch die Herrschaftsgeschichte der DDR. Der erste, 2006 eröffnete Bereich setzt sich mit der Alltagsgeschichte der DDR auseinander. Seit 2010 ist die Ausstellung um einen Raum auf fast die doppelte Größe erweitert worden, in dem die Herrschafts- und Repressionsgeschichte thematisiert werden. Der Besucher geht zunächst durch die verschiedenen Abschnitte des täglichen Lebens wie Wohnen, Freizeit, Arbeit, Kommunikation, Verkehr, Musik, Literatur, Kleidung und kommt anschließend zu einer künstlichen Nebelwand,30 hinter der sich die Ausstellungsbereiche zu den Themen Partei, Stasi, Militär befinden. Diese Aufteilung wirkt, als habe es auf der einen Seite ein offensichtliches, ‚normales‘ Leben in der DDR gegeben und auf der anderen Seite, versteckt, ein anderes politisches Geschehen. Eine Verflechtung der beiden Bereiche fehlt ebenso wie ein Blick in die Bundesrepublik oder die Einbindung der DDR in den Kontext internationaler Politik. Abgesehen von dieser inhaltlichen Kritik ist das Museum klar strukturiert und erinnert mit seinen Einführungs- und Objekttexten an die professionell geführten und öffentlich geförderten Museen. Es gibt allerdings eine Besonderheit: Fast alle Objekte dürfen angefasst werden. Dies führt zu einer vermeintlich stärkeren Nähe zu den Objekten und wird von den Besuchern überwiegend positiv bewertet.31 Die Berührung der Dinge hat aber auch den Nachteil, dass sie sich schneller abnutzen und ausgetauscht werden müssen. Diese Ausstellungsmethode kann somit nur funktionieren, wenn ausreichend Objekte der gleichen Art zur Verfügung stehen und diese nicht als individuell bewahrenswert eingestuft werden.32 Das konkrete Objekt wird somit abgewertet. Es fragt sich, was aus der „Aura des Authentischen“ wird, wenn alle Objekte austauschbar sind und immer wieder ausgetauscht werden. Dieser Umgang mit den Objekten erklärt zudem, warum die Ausstellung, auch wenn dies in keinem der Texte thematisiert wird, den Fokus auf die 1980erJahre legt – nur aus dieser Zeit sind noch ausreichend Gegenstände vorhanden. Diese werden als ‚typisch‘ für die DDR präsentiert. Der erste Ausstellungsbereich ist durch Vitrinen und Stellwände in der Anmutung von Plattenbauten gestaltet. Die Objekte sind entweder frei zugänglich aufgestellt oder in Vitrinen präsentiert. Sie sind thematisch gegliedert und durch kurze Texte erläutert. Die Objekte wie das Modell der Mauer, ein Trabi oder eine Fensterscheibe aus dem inzwischen abgerissenen Palast der Republik führen in die Ausstellung ein, die vor allem mit bekannten Bildern arbeitet, Ikonen einsetzt
30 Die Nebelwand scheint allerdings seit einiger Zeit nicht mehr in Betrieb zu sein, so die Beobachtung der Autorin bei mehreren Besuchen 2012 und 2013. 31 So die eigene Aussage der Museumsbetreiber als auch die Beobachtungen der Autorin. 32 Dies können die staatlich geförderten Museen, die sich dem Auftrag des Internationalen Museumsrates ICOM verpflichtet sehen und somit Objekte sammeln, bewahren und ausstellen, nicht zulassen. Zur ICOM-Definition von Museen siehe die Website des Deutschen Museumsbundes, http://www.museumsbund.de/de/das_museum/geschichte_definition/definition_museum; letzter Zugriff 14.8.2013.
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und Klischees bedient.33 Es lässt sich kein Narrativ erkennen. Im hinteren Bereich der Ausstellung findet sich die Inszenierung einer Wohnung mit Wohnzimmer, Küche und Toilette. Dieses rekonstruierende Element setzt das DDR Museum noch einmal im Bereich SED und Stasi ein. Letztere wird beispielsweise mittels einer begehbaren Gefängniszelle thematisiert, in der die Besucher beim Eintreten das Zuschlagen einer Tür vernehmen, sowie durch einen Verhörraum, in dem der Besucher dem Schatten eines Vernehmers gegenüber sitzen kann und befragt wird. Diese Inszenierungen wirken wie Momentaufnahmen aus der Vergangenheit, die allerdings ebenfalls zeitlich nicht zugeordnet werden. Diese Form der szenischen Darstellung findet immer mehr Umsetzung in privat finanzierten Museen, die auf Eventstrategien setzen. Sie müssen sich durch die Eintrittsgelder finanzieren und werben mit dem Erlebnis und weniger mit der Informationsvermittlung. Die im DDR Museum gewählte Inszenierung bietet dementsprechend einfache und schnell konsumierbare Bilder, deren Konstruktion jedoch ebenso wenig sichtbar wird wie der historische Kontext. Auch wenn das Museum versucht, die Herrschafts- und die Alltagsgeschichte gleichermaßen auszustellen, rekonstruiert es doch vor allem Klischees und Kuriositäten.34 Das Bild der DDR wird geprägt von einer in den grellen Farben der frühen 1980er-Jahre tapezierten Wohnung, selbst zu bedienenden ‚Winkelementen‘, Bildern von Nacktbadenden, synthetischer Kleidung sowie dem Verhörraum und der Gefängniszelle sowie schließlich den animierten Portraits von Marx, Lenin und Engels, die mal lächeln, mal starr blicken. Entsprechend dem Eventcharakter bietet das DDR Museum zudem in einem angrenzenden Restaurant „typisches DDR-Essen“ an. Auch wenn die Ausstellung im zweiten Teil das Diktaturgedächtnis anspricht, wird durch die räumliche Trennung desselben von der Alltagsgeschichte auch das Fortschrittsgedächtnis bedient. Das Arrangementgedächtnis, das sich nur durch eine Verknüpfung von Herrschaft und Alltag hätte darstellen lassen, fehlt hier. Letztendlich erscheint die DDR als weit entferntes Kuriositätenland.
Ausstellungen mit vereinzelten DDR-Bezügen Neben diesen beiden Museen, die sich den Themenbereichen des Gedenkstättenkonzepts zuordnen lassen, gibt es in Berlin noch einige Sonderausstellungen, die nicht so einfach einzugruppieren sind, aber das Bild der DDR-Geschichte prägen. So stellt das 1. Berliner DDR-Motorrad-Museum35 eher eine Art Technikmuseum
33 Gaubert nennt dies auch „Versatzstücke[n] klassischer ‚Ostalgie‘“; Gaubert: Der DDR-Alltag im Kontext der Diktatur, 2011, S. 1022. 34 Siehe auch Susanne Köstering: Alltagsgeschichte der DDR in aktuellen Ausstellungen, in: Deutschland Archiv 40 (2007), S. 306–312, hier S. 308. 35 Siehe die Website des 1. Berliner DDR-Motorrad-Museums, URL: http://www.erstesberlinerddr-motorradmuseum.de; letzter Zugriff: 14.8.2013.
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dar. Die Ausstellung des privat geführten Museums ist dem Typ der Klassifikation zuzuordnen. In dieser Struktur folgt es der frühen Form der Ausstellungspräsentation aus dem 19. Jahrhundert. Die Ausstellungen erscheinen wie Einblicke in eine Sammlung, in der die Objekte nach Kategorien, in diesem Fall nach Zweirädern, sortiert sind. Das Motorrad-Museum wurde 2008 in der Mitte Berlins eröffnet und zeigt rund 140 restaurierte und auf Hochglanz polierte Motorräder. Diese werden weniger im historischen Kontext als in ihrer technischen Entwicklung präsentiert. Besonders auffällig ist die exklusive Präsentation der Objekte. Zusammenführung und Präsentation der breiten Auswahl an Zweirädern erinnern vor allem an Präsentationen in Verkaufshäusern. Hier wird kein Einblick in ein Leben in der DDR gegeben, sondern in eine Warenwelt, die eher technischen oder Designinteressen folgt, ohne diese als Aspekt einer Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte zu betrachten. Nicht zufällig wird die Struktur der Klassifikation häufig in Technikmuseen gewählt; lässt sich doch über die Ausstellung eines Objekttyps in verschiedenen Varianten dessen Entwicklung gut nachvollziehbar machen. Um entsprechende Ausstellungen aufzubauen, sind allein die Objekte (und deren technische Daten) wichtig, die die Kuratoren entsprechend ihrer Klassifikation zusammenstellen. Diesen einfachen Zugang wählen auch viele private DDR-Museen außerhalb Berlins.36 Bei anderen als den technisch interessierten Besuchern dürfte die Ausstellung eventuell noch einen Aha-Effekt auslösen, wenn durch das einzelne Objekt Erinnerungen wachgerufen werden. Dies funktioniert jedoch nur bei denjenigen, die etwas Konkretes mit den Objekten verbinden und diese noch ‚miterlebt‘ haben. Von der jüngeren Generation werden diese Objektschauen nur als Kuriositäten eingeordnet werden können. Das Motorrad-Museum folgt dem Fortschrittsgedächtnis, versucht es doch vor allem eine positive Geschichte der technischen Weiterentwicklung zu erzählen. Auch in verschiedenen Berliner Stadtteilmuseen wird DDR-Geschichte präsentiert, ohne dass eine eindeutige thematische Zuordnung erfolgen kann. Sie stehen vor einem ähnlichen Problem wie das DHM, da sie sich der Gesamtgeschichte ihres Stadtteils widmen sollen. Folglich können diese Museen die Zeitgeschichte nach 1945 nur auf verhältnismäßig wenig Raum präsentieren. Aus der Vielzahl der Stadtteilmuseen ist das Museum Pankow besonders hervorzuheben, das mit „Zeitbilder. Leben in Pankow, Prenzlauer Berg und Weißensee 1949 bis 1990“ und „Gegenentwürfe. Der Prenzlauer Berg vor, während und nach dem Mauerfall“ zwei chronologisch aufgebaute Dauerausstellungen speziell zur DDRGeschichte präsentiert, in der die Objekte in Vitrinen ausgestellt und durch Schautafeln kontextualisiert werden.37 Thematisch nähern sich die beiden Ausstellungen sowohl der Alltags- als auch der Herrschafts- und Oppositionsgeschichte und sind
36 Zur Diskussion über die privaten Museen siehe: Scheunemann: Gehört die DDR ins Museum, 2009; Zündorf, DDR-Museen, 2009. 37 Vgl. auch Website des Museums Pankow, URL: http://www.berlin.de/ba-pankow/museumsverbund; letzter Zugriff: 14.8.2013.
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damit dem Diktatur- ebenso wie dem Arrangementgedächtnis zuzuordnen. In anderen Häusern wie dem Museum Köpenick bilden für das 20. Jahrhundert die Ereignisse „während der NS-Diktatur, Krieg, Kriegsende und Neubeginn sowie das Geschehen im Zuge der politischen Wende 1989“38 Schwerpunkte. Die DDR-Zeit bleibt damit in ihrer Entwicklung außen vor. In der Dauerausstellung im Museum Lichtenberg hingegen wird zwar ebenfalls versucht einen längeren Zeitablauf darzustellen, aber es werden bestimmte Themen herausgehoben, die für den Stadtteil bedeutsam waren. So wird die besondere Stellung des Stadtteils als Sitz des Ministeriums für Staatssicherheit thematisiert.39 Damit wird die Repressionsgeschichte hervorgehoben und an das Diktaturgedächtnis appelliert. In den Westberliner Stadtteilen wird die DDR-Geschichte kaum behandelt oder nur in Bezug auf die Teilungsgeschichte angesprochen. Ein Beispiel dafür ist das Museum Neukölln, das mit seiner Dauerausstellung „99 x Neukölln“ neue Maßstäbe setzt. Diese entspricht in ihrer Gestaltung noch am ehesten der Komposition. Wie der Titel andeutet, besteht sie aus 99 Objekten, die im Mittelpunkt der Ausstellung stehen und zu denen sich der Besucher selbst einen Zugang erschließen muss. Diese sind weder chronologisch noch thematisch geordnet und auch nicht direkt beschriftet. Mit Stacheldrahtresten der Mauer findet sich hier nur ein Objekt, das in Beziehung zur DDR gesetzt werden könnte. Im Erläuterungstext wird darauf verwiesen, dass Neukölln mit dem Mauerbau zu einem Randbezirk in Berlin wurde.40 Die Komposition stellt für den Besucher die anspruchsvollste Form der Ausstellung dar, muss er sich die Zusammenhänge doch weitgehend selbst erschließen. Diese Ausstellungsform wird gewählt, wenn die Ausstellungsmacher nicht von einer bestimmten Erzählung ausgehen, die sie vermitteln wollen, sondern von den Objekten, die sie präsentieren möchten. Diese sollen jeweils zu Erzählungen anregen, wobei jedoch die einzelne Objektgeschichte wesentlich stärker im Vordergrund steht. Die Entstehung des Narrativs bleibt dem Besucher und seinen Assoziationen überlassen. Diese Form der Ausstellung verlangt somit eine weitgehende Zurückhaltung des Kurators und bietet keine eindeutigen Aussagen. Für DDR-Ausstellungen scheint dieser Weg (noch) nicht gangbar. Daher findet sie sich weder in Berlin noch anderswo in den DDR-Präsentationen. Festzuhalten ist daneben, dass die Geschichte der DDR in den West-Stadtteilmuseen kaum thematisiert wird, die Idee einer verflochtenen deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte sich somit auch hier nicht durchgesetzt hat. Hinsichtlich der staatlich finanzierten Museen sei noch auf die Dauerausstellung im Tränenpalast verwiesen, die sich der Teilungsgeschichte widmet, den Repressionscharakter der deutsch-deutschen Grenze herausstellt und diese in eine
38 Vgl. die Website des Museums Treptow-Köpenick, URL: http://www.heimatmuseumtreptow.de/sites/museumkoepenick.htm; letzter Zugriff: 14.8.2013. 39 Vgl. Website des Museums Lichtenberg, URL: http://www.museum-lichtenberg.de; letzter Zugriff: 14.8.2013. 40 Stacheldrahtreste, in: Udo Gößwald (Hrsg.): Kurzführer zur Ausstellung „99 x Neukölln“, Museum Neukölln, Berlin 2010, S. 80.
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Gesamtgeschichte der DDR einbettet.41 Die dortige Ausstellung „GrenzErfahrungen. Alltag der deutschen Teilung“ gehört institutionell zur Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und wurde bereits im Gedenkstättenkonzept des Bundes in Auftrag gegeben. Sie ist chronologisch aufgebaut und stellt einerseits die wichtigsten politischen Wegmarken der deutschen Geschichte anhand bekannter Fotografien aus. Andererseits werden die alltäglichen Erfahrungen an der Grenze mit einem begehbaren Passkontrollhäuschen, das bereits vor 1989 zur Ausstattung des Tränenpalastes gehörte, thematisiert. Das Zentrum der Ausstellung, das sich auch in der Mitte des Ausstellungsraums befindet, bilden jedoch mehrere Videostationen mit persönlichen Berichten von Menschen, die die Grenze aus unterschiedlichen Perspektiven erlebt haben – zum Beispiel als Ausreiseberechtigte oder als aus der DDR Geflohene. Hier steht das Diktaturgedächtnis im Vordergrund. Die Filmsequenzen sind umgeben von persönlichen Objekten der portraitierten Zeitzeugen, die wiederum durch die Hinweise zur gesamtdeutschen und internationalen Geschichte eingerahmt werden. Die Ausstellung nutzt Elemente der Chronologie, der Inszenierung und der Komposition am historischen Ort, bisher einzigartig ist der biografische Ansatz als Leitmotiv einer Ausstellung mit DDR-Bezug gewählt, die Repression wird zum Alltag der Menschen in Bezug gesetzt. Ebenfalls durch eine Zusammenführung verschiedener Ausstellungstypen am historischen Ort geprägt ist die Dauerausstellung der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, die zur Stiftung Berliner Mauer gehört und damit ebenfalls staatlich finanziert ist. Sie geht nicht chronologisch, sondern thematisch vor, kontextualisiert die Ausstellung und die einzelnen Objekte und stellt ihre Ausstellungsstücke vor allem in einer Mischung aus Komposition und Inszenierung zusammen. Hier steht allerdings weniger die DDR-Geschichte im Vordergrund als die Geschichte der Flüchtlinge nach ihrer Ankunft im Westen. Dass diese Geschichte allerdings nie ohne die Vor- und Parallelgeschichte in der DDR erzählt werden kann, wird hier sehr gut deutlich. Die Ausstellung verwebt die Repressionsgeschichte mit der Alltagsgeschichte, trotzdem bleibt das Diktaturgedächtnis im Fokus. Im Kontrast zu den Museen stehen schließlich die Gedenkstätten, die nicht nur historische Entwicklungen thematisieren, sondern am historischen Ort an die Repression erinnern und deren Opfer gedenken. Dies trifft in und um Berlin vor allem auf die Gedenkstätte Sachsenhausen und die Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen zu. Sie sind im Gedenkstättenkonzept des Bundes als institutionell geförderte Einrichtungen fest verankert. Während in Sachsenhausen seit 2001 eine Ausstellung zum „Sowjetischen Speziallager Nr. 7/Nr. 1“ die Geschichte des Ortes zwischen 1945 und 1950 behandelt, verfügt Hohenschönhausen noch nicht über eine solche – für Herbst 2013 jedoch angekündigte – Präsentation, sondern nutzt neben Wechselausstellungen vor allem Führungen durch das ehemalige 41 Vgl. auch die Website zur Ausstellung, URL: http://www.hdg.de/berlin/traenenpalast-am-bahnhof-friedrichstr; letzter Zugriff: 14.8.2013.
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Gefängnisgebäude, um über dessen Vergangenheit zu informieren.42 Entsprechend dem Charakter von Gedenkstätten behandeln sie Repressionsgeschichte und bedienen damit das Diktaturgedächtnis, weitere Einblicke in das Leben in der DDR werden nicht gegeben.
Schluss Das Diktaturgedächtnis steht somit in Berlin nach wie vor im Vordergrund aller Ausstellungen zur DDR-Geschichte. Nun ließe sich einwenden, dass in Berlin vor allem staatlich geförderte Einrichtungen bestehen und diese entsprechend den Vorgaben der Gedenkstättenförderung des Bundes das Diktaturgedächtnis immer mit im Blick haben müssen. Sie integrieren jedoch nicht nur Diktaturaspekte, sondern stellen diese regelmäßig in den Vordergrund. Zudem wird nicht nur in den staatlich geförderten Gedenkstätten der Repression und der Teilung vor allem das Diktaturgedächtnis fokussiert, sondern auch im privaten Mauermuseum und im Tränenpalast. Überdies erhält es in den hier genauer in den Blick genommenen Museen, dem DHM und dem DDR Museum, erhebliche Aufmerksamkeit. Darüber hinaus wird dort aber auch mit unterschiedlichem Erfolg versucht, das Arrangementgedächtnis einzubeziehen. Allein das 1. Berliner DDR-Motorrad-Museum ist in Berlin dem Fortschrittsgedächtnis zuzuordnen. Interessanterweise hat sich das Phänomen der privaten Museen mit positivem Blick auf die DDR in Berlin nicht durchgesetzt. Dieser positive Blick lässt sich als eine Art Gegennarrativ zu dem staatlich dominierten Diktaturgedächtnis verstehen, das aber offenbar in Berlin kaum nachgefragt wird. Es stellt sich somit auch die Frage, warum DDRGeschichte in der ehemals geteilten Stadt nicht heterogener dargestellt wird. Dazu lassen sich vorerst nur Vermutungen formulieren: Letztendlich dominiert in Berlin die staatlich geförderte Museums- und Gedenkstättenlandschaft, die auch auf ein internationales Publikum ausgerichtet ist. Darüber hinaus werden die Museen vor allem von westdeutschen Besuchern genutzt. Für sie ist das Fortschrittsgedächtnis, das vor allem die „Mitlebenden“ aus der DDR anspricht, weniger anschlussfähig. Der Erfolg des privaten DDR Museums, das zwar auch das Diktaturgedächtnis anspricht, aber weitere Aspekte der DDR-Geschichte in den Blick zu nehmen versucht, zeigt jedoch, dass es auch eine öffentliche Nachfrage nach einem erweiterten Blick auf die DDR gibt.43 Es ist zu hoffen, dass die Besucherentwicklung die-
42 Zur Konzeption der Besucherführung in der Gedenkstätte Hohenschönhausen siehe auch Marion Neiss: Historisches Lernen durch Emotionen? Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Eindrücke, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 1025–1032. 43 Andreas Ludwig erklärt den Erfolg des Museums einerseits mit dem interaktiven Ausstellungskonzept, andererseits aber auch mit der thematischen Breite der DDR-Ausstellung, siehe: Andreas Ludwig: Musealisierung der Zeitgeschichte. Die DDR im Kontext, in: Deutschland Archiv
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ses Museums Druck auf die staatliche Gedenkstättenkonzeption ausübt, neben der Repressionsgeschichte auch die Alltagsgeschichte stärker in den Blick zu nehmen – nicht isoliert und mit ‚ostalgischem‘ Blick inszeniert, sondern eingebunden in das Herrschaftssystem des SED-Regimes. Damit werden diejenigen, die sich positiv an die DDR erinnern wollen, nicht bekehrt, aber ihrer Perspektive wird ein professioneller kritischer Blick entgegengesetzt. Die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn hat angekündigt, mit ihrer Ausstellung in der Kulturbrauerei ab Herbst 2013 gerade diese Lücke schließen zu wollen. Damit wird es jedoch nicht die dieser Ausstellung eigentlich zugrundeliegende Sammlung zur industriellen Gestaltung der DDR in den Fokus rücken, 44 die ungewohnte Perspektiven auf die DDR-Geschichte ermöglichen könnte. Für diese ungewöhnliche Perspektive scheint das vom Bund finanzierte Museum noch nicht offen zu sein – vielleicht muss auch hier von privater Seite ein erster Schritt gemacht werden.
2011, 10, URL: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/53234/musealisierung-der-zeitgeschichte?p=all; letzter Zugriff: 14.8.2013. 44 Siehe auch Christian Meixner: DDR-Design: Gebt uns die Dinge zurück!, in: Der Tagespiegel, 19.3.2012, URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/ddr-design-gebt-uns-die-dinge-zurueck/6342272.html; letzter Zugriff: 14.8.2013.
ATELIER & GALERIE
EINE KRITIK DES GEDÄCHTNISBEGRIFFES ALS SOZIALE KATEGORIE1 Félix Krawatzek, Rieke Trimҫev
Zusammenfassung: Der vorliegende Aufsatz diskutiert in konstruktiver Absicht die Rolle des Begriffes ‚Gedächtnis‘ in der sozial-, geschichts- und kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung. In einer Auseinandersetzung mit dem Konzept der mémoire collective bei Maurice Halbwachs wird in einem ersten Teil das begrifflich-historische Möglichkeitsbewusstsein erweitert. Die Kontextualisierung Halbwachs’ im Gedächtnisdiskurs der vorletzten Jahrhundertwende unterstreicht, dass seine Vorstellung der mémoire eine dynamische und pluralisierende ist. Eine Analyse des Gebrauchs des Begriffes ‚Gedächtnis‘ in der deutschen Forschungslandschaft zeigt im zweiten Schritt, dass besonders diese Bedeutungsschichten heute hinter statischen und homogenisierenden Konzepten zurücktreten. Vor diesem Hintergrund arbeitet der Aufsatz abschließend perspektivisch an einer Wiedergewinnung des Verständnisses für die dynamischen und pluralen Momente von Erinnerung. Dazu wird auf das Privatsprachenargument von Ludwig Wittgenstein zurückgegriffen. Abstract: This article develops a constructive challenge to the role of the concept Gedächtnis in the interdisciplinary field of memory studies. The conceptual and historic awareness of this term is broadened with an analysis of Maurice Halbwachs’ concept mémoire collective in a first section. The contextualization of Halbwachs in the discourse on memory around the turn from the 19th to the 20th century emphasises that his notion of mémoire is dynamic and plural. However, an analysis of the use of the term Gedächtnis, particularly in the German research environment, illustrates that especially these layers of meaning are neglected today in favour of static and homogenising concepts. Bearing this in mind, the article concludes with an effort to regain an understanding for dynamic and plural moments of memory. To this end the private language argument of Ludwig Wittgenstein will be explored.
Wie Menschen erinnern, kann nicht allein vom Individuum her verstanden werden. Diese Annahme trifft heute auf breiten Konsens und zeigt sich im Bemühen von Sozial- und Kulturwissenschaftlern, eine angemessene Sprache zu finden, in welcher das spezifisch intersubjektive Moment des Erinnerns ausgedrückt wird. Im Zuge dessen sind die Worte Gedächtnis, memory oder mémoire nicht nur in der Psychologie, sondern auch in den Sozialwissenschaften zu einem „essentially 1
Der folgende Text hat mehr als zwei Autoren: Die enge Zusammenarbeit und der kontinuierliche Austausch mit Friedemann Pestel, Daniela Mehler und Gregor Feindt haben seine Gestalt wesentlich geprägt. Eine frühe Fassung des Aufsatzes profitierte zudem von der hilfreichen Kritik, die wir auf der Konferenz „Formen und Funktionen sozialer Gedächtnisse“ im Dezember 2010 in Erlangen erhielten.
Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 159–176
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contested concept“2 geworden. Der Gebrauch von so unterschiedlichen Ausdrücken wie kulturelles Gedächtnis, lieu de mémoire oder collective memory – um nur einige wenige zu nennen – spiegelt rivalisierende Beschreibungen eines komplexen Gegenstandes wider und illustriert seine zeitgenössische Bedeutsamkeit. Unumstritten ist in diesem Deutungskampf lediglich der Bezug auf die mémoire collective von Maurice Halbwachs3 als jenes Konzept, welches das Sich-Erinnern erstmals zum sozialwissenschaftlichen Gegenstand machte. Die diachronen Begriffsgeschichten und die synchronen Gebrauchsmuster eines Begriffes sind prägend für unser Verständnis der mit ihnen bezeichneten Gegenstände. Ausgehend von dieser Annahme untersucht der vorliegende Aufsatz die Möglichkeiten und Grenzen, die der im deutschen Sprachgebrauch prominente Begriff ‚Gedächtnis‘ für das Erfassen des sozialen Momentes des Erinnerns mit sich bringt. Dazu soll ein begriffsgeschichtlicher Blick auf Maurice Halbwachs zunächst das Möglichkeitsbewusstsein schärfen, ein zweiter Schritt die dabei gewonnenen Erkenntnisse mit dem zeitgenössischen Gebrauch des Gedächtnisbegriffes als soziale Kategorie kontrastieren und abschließend ein Rekurs auf eine Ludwig Wittgenstein entnommene Gedankenfigur helfen, zwei zentrale Bedeutungsaspekte der mémoire collective aus dem Kontext des vergangenen Jahrhunderts in unseren heutigen zu übersetzen.
Die mémoire collective als Handlungs- und Bezugsbegriff „La notion de ‚mémoire collective‘ est sans cesse utilisée aujourd’hui dans les médias comme dans les conversations, dans les textes de l’historien, du journaliste, de l’homme politique, de l’homme de la rue. L’héritage de Maurice Halbwachs est lourd.“4 Für den in den 1980er-Jahren einsetzenden ‚memory boom‘ wirkten die Schriften von Maurice Halbwachs (1877–1945) begründend. Jedoch wurden sie zunächst nicht als ‚ideas in context‘ gelesen, sondern als theoretische Abhandlungen, die als solche auf ihre zeitgenössische Überzeugungskraft und Anschlussfähigkeit geprüft werden konnten.5 Dass das stürmisch angenommene Erbe Halb2 3 4
5
Walter B. Gallie: Essentially Contested Concepts. Philosophy and the historical understanding, London 1964, S. 157–191. Maurice Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925; Ders.: La Mémoire Collective, Paris 1997 (Orig. 1950). „Der Begriff der ‚kollektiven Erinnerung‘ wird heutzutage ununterbrochen verwendet, in den Medien ebenso wie in Unterhaltungen und Texten, von Historikern, Journalisten, Politikern und einfachen Leuten. Das Erbe von Maurice Halbwachs lastet schwer.“ Gérard Namer: Mémoire et Société, Paris 1987, S. 11 (Übers. F.K., R.T.). Nicht nur Jan Assmann formt sich ‚seinen‘ Halbwachs (siehe die folgende Fußnote). Halbwachs’ Unterscheidung von mémoire und histoire inspiriert auch Pierre Nora zu einer Analyse unterschiedlicher Beziehungsverhältnisse beider Pole im diachronen Schnitt. Verweise auf den offensichtlichen Ideengeber Halbwachs sind dennoch sehr sparsam gesät (Pierre Nora: Entre Mémoire et Histoire. La problematique des lieux, in: Ders. [Hrsg.]: Les lieux de mémoire, I. La république, Paris 1984, S. xix) oder in Formeln wie „sociologues de tradition
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wachs’ heute, in den Worten des französischen Soziologen Gérard Namer, zu einem „drückenden“ geworden ist, hat Gründe. Unseres Erachtens liegt es daran, dass durch diesen Umgang mit Halbwachs ein wichtiger Teil der Bedeutung von mémoire collective unberücksichtigt geblieben ist – und zwar diejenigen Bedeutungsaspekte, die sich vornehmlich aus dessen Gebrauch in einem ganz bestimmten kulturellen und wissenschaftlichen Kontext im Frankreich des beginnenden 20. Jahrhunderts erschließen.6 Um heute vernachlässigte Bedeutungsschichten von Halbwachs’ Schriften zu verstehen, sind mindestens drei Kontexte von Bedeutung: der biologistische Gedächtnisdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts, ein psychologischer Diskurs sowie die junge école sociologique. Diese sollen im Folgenden exemplarisch zugespitzt skizziert werden. „Aussprüchen, daß ‚die Erblichkeit eine Art spezifisches Gedächtnis der Gattung sei‘, begegnen wir durchaus nicht selten in der Literatur des vorigen Jahrhunderts“, zitierte der Biologe Richard Semon (1859-1918)7 den französischen Psychologen Théodule Ribot (1839-1916), und weist damit auf die heute in der Erinnerungsforschung vernachlässigte Bedeutung eines biologistischen Gedächtnisdiskurses um die Jahrhundertwende hin. Dessen Kern lässt sich exemplarisch in der Annahme Ewald Herings (1834-1918) wiedergeben: „Das bewußte Gedächtnis des Menschen erlischt mit dem Tode, aber das unbewußte Gedächtnis der
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durkheimienne“ versteckt (Pierre Nora: Art. mémoire collective, in: Jacques Le Goff [Hrsg.]: La nouvelle histoire, Paris 1978, S. 400). Vgl. auch Tilmann Robbe: Historische Forschung und Geschichtsvermittlung. Erinnerungsorte in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, Göttingen 2009. Jan Assmann beispielsweise gesteht in einer Replik auf Stephan Egger ein: „Wir Vertreter der Kulturwissenschaft können uns zwar rühmen, mit unserer ‚jähen Aufmerksamkeit‘ für Maurice Halbwachs zumindest einen Aspekt seines vielfältigen Werks wieder ans Licht gehoben zu haben, aber müssen uns von der inzwischen nachgewachsenen zünftigen HalbwachsPhilologie vorhalten lassen, dass wir unseren Helden gründlich missverstanden haben. (…) So wie jede Gegenwart sich ihre Vergangenheit, so hatten die späten 1980er-Jahre sich ihren Halbwachs konstruiert, und ich gestehe, dass ich mich auch im Licht der von Stephan Egger vorgebrachten Kritik außerstande sehe, von diesem Halbwachs Abschied zu nehmen.“ Jan Assmann: Das kollektive Gedächtnis zwischen Körper und Schrift. Zur Gedächtnistheorie von Maurice Halbwachs, in: Hermann Krapoth, Denis Laborde (Hrsg.): Erinnerung und Gesellschaft. Mémoire et Société, Wiesbaden 2005, S. 68f. – An einigen Stellen finden sich in der Sekundärliteratur inzwischen Stimmen, die Halbwachs’ Denken stärker aus dessen Kontext heraus verstehen, so bei Gérard Namer (Mémoire et Société, 1987), Stephan Egger (Auf den Spuren der ‚verlorenen Zeit‘. Maurice Halbwachs und die Wege des ‚kollektiven Gedächtnisses‘, in: Maurice Halbwachs: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, hrsg. u. übers. v. Stephan Egger, Konstanz 2003, S. 219– 268) oder Lutz Niethammer (Frontstellung und Unabschließbarkeit der Gedächtnistheorie von Maurice Halbwachs, in: Krapoth, Laborde [Hrsg.]: Erinnerung und Gesellschaft, 2005, S. 105–125). An diese Interpretationen knüpft unser Aufsatz an. Richard Semon: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1911, S. III.
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Natur ist treu und unaustilgbar, und wem es gelang, ihr die Spuren seines Wirkens aufzudrücken, dessen gedenkt sie für immer.“8 Wahrnehmungen hinterlassen, so der zugrunde liegende Gedanke, eine „materielle Spur“ im Nervensystem,9 sodass in der Vererbung nicht nur angeborene, sondern auch erworbene Fähigkeiten weitergegeben werden. Hier ist das Gedächtnis ein physisches Phänomen, ein Speicher, der als „Gattungsgedächtnis“ bei Hering10 und Ribot,11 oder als „Mneme“ und „unconscious memory“ bei den von Hering beeinflussten Semon12 und Samuel Butler (1835-1902)13 zum erklärenden Prinzip der Evolution wurde. Das Gedächtnis ist überindividuell und schreibt den Menschen als Gattungswesen in eine Großgruppe ein. Henri Bergson (1859-1941) kritisierte solche Auffassungen des Gedächtnisses 1896 als verkürzt: „l’état psychologique nous paraît, dans la plupart des cas, déborder énormément l'état cérébral.“14 Am Schnittpunkt von Geist und Materie sprach Bergson Erinnerungen eine Seinsweise zu, „qui est plus que ce que l’idéaliste appelle une représentation, mais moins que ce que le réaliste appelle une chose“.15 Als images-souvenirs überlebt die Vergangenheit „an sich, als eine ontologisch gedachte Vergangenheit selbst“16 im Individuum. Wenn diese in der reinen Erinnerung der mémoire-souvenirs, deren paradigmatischer Moment der von der Gemeinschaft isolierte Traum ist, wiedergefunden wird, kehrt das Individuum zu seinem ‚wahren Ich‘ zurück. Das Gedächtnis eröffnet für Bergson die Möglichkeit, der Existenz des Individuums in sich selbst ein Fundament zu geben. Diese Annahme ist paradigmatisch für einen ‚Innovationsschub‘ der Gedächtnistheorie um die vorletzte Jahrhundertwende.17 Bei Bergson, Sigmund Freud und Marcel Proust avancierte das Gedächtnis zu einem Movens „innerweltlicher Erlösung und Erhaltung“.18
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Ewald Hering: Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie, Leipzig 1905, S. 21. Ebd., S. 8. Ebd., S. 18. Théodule Ribot: Die Vererbung. Psychologische Untersuchung ihrer Gesetze, ethischen und socialen Konsequenzen, Leipzig 1895; Ders.: Les maladies de la mémoire, Paris 1907. Semon: Die Mneme, 1911, S. 15f. Samuel Butler: Unconscious Memory, London 1910. Henri Bergson: Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l'esprit. Oeuvres, Paris 1959 (Orig. 1896), S. 165 („der psychische Zustand scheint uns in den meisten Fällen weit über den Gehirnzustand hinauszugehen“, Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, übersetzt von Julius Frankenberger, Hamburg 1991, S. I). Bergson: Matière et mémoire, 1959, S. 161 („die mehr ist, als was der Idealist ‚Vorstellung‘ nennt, aber weniger, als was der Realist ‚Ding‘ nennt“, Bergson: Materie und Gedächtnis, 1991, S. V). Erik Oger: Einleitung, in: Bergson: Materie und Gedächtnis, 1991, S. XVIIf. Für die Übersichtlichkeit des zu entwickelnden Arguments wird daher in der Folge Bergson als exemplarisch für diesen weiteren geistigen Kontext stehen. Niethammer: Frontstellung, 2005, S. 114.
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Halbwachs vollzog die Abkehr von der biologistischen Auffassung des Gedächtnisses seines Lehrers Bergson, insofern sind Les cadres sociaux de la mémoire gleichsam eine fast dreißig Jahre spätere Zurückweisung der Vergangenheitsontologie von Matière et Mémoire. 19 Die Realität sui generis, die Halbwachs der mémoire jenseits von Gehirnvorgängen geben wollte, ist nicht die eines ‚wahren Ich‘. Es ist eine spezifisch soziale Realität, für dessen angemessene Beschreibung und Erklärung Halbwachs die Hoheit einer jungen, nach Emanzipation20 von Psychologie und Philosophie strebenden Disziplin, der Soziologie, beanspruchte.21 Halbwachs22 beruft sich in den Cadres selbst auf Émile Durkheims (18581917) berühmte Definition des sozialen Tatbestandes: „Est fait social toute manière de faire, fixée ou non, susceptible d’exercer sur l’individu une contrainte extérieure; ou bien encore, qui est générale dans l’étendue d’une société donnée tout en ayant une existence propre, indépendante de ses manifestations individuelles.“23 Vor dem Hintergrund dieser Positionierung im intellektuellen Kontext des beginnenden 20. Jahrhunderts ergeben sich drei besonders wichtige Kampfplätze, auf denen Halbwachs’ Gedanken eine bedeutende Intervention darstellen, und die im Folgenden näher ausgeführt werden. a. Individuum/Gesellschaft. Analog zum Durkheimschen Verständnis des Einzelbewusstseins als notwendige Bedingung des eigenständigen Kollektivbewusstseins24 war die mémoire individuelle für Halbwachs eine notwendige Bedingung der mémoire collective. Wichtig dabei ist, dass die mémoire collective weit mehr als nur die Summe der mémoires individuelles ist. Durch die von Durkheim ausformulierte Idee der Assoziation25 wird sozialen Phänomenen eine Eigenständigkeit zugeschrieben, welche über eine simple Addition individueller Phänomene hinausgeht. Doch auch wenn mémoire collective folglich zu einem eigenständigen fait social avanciert, so geht sie bei Halbwachs nicht mit der Annahme eines unabhängigen kollektiven Subjekts einher. Speicherort aller Erinnerungen bleibt das individuelle Bewusstsein: 19 Vgl. auch Namer: Mémoire et Société, 1987, S. 12. 20 Émile Durkheim: Les Règles de la Méthode Sociologique, Paris 1960, S. 143. 21 Insofern ist die Transdisziplinarität, die Astrid Erll und auch andere Halbwachs zuschreiben, irreführend. Auch wenn in der heutigen Wissenschaftslandschaft Halbwachs’ Begrifflichkeiten interdisziplinäre Fragestellungen und Arbeitsweisen angemessen scheinen lassen, so geht es dem Autoren Halbwachs selbst vielmehr noch um die Konstitution eines Faches als um eine „Fächergrenzen überschreitende Methodik“ (Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005, S. 21). 22 Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire, 1925, S. 93. 23 Durkheim: Les Règles de la Méthode Sociologique, 1960, S. 14 (Hervorh. im Orig.); „Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt“ (Émile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, hrsg. u. eingel. von René König, Berlin, Neuwied 1970, S. 114). 24 Ebd., S. 103. 25 Ebd.
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Thus, there are two complementary but clearly separated, or at least separable and distinguishable, realms, which we may say are analogous to form and content. (…) there exist in our consciousness, on the one hand, social forms or patterns and, on the other hand, matter imagined or perceived – items of thought and knowledge similar to the perceptions and images of animals, which differ from these only because our organism and our nervous system are more complex than theirs. (…) They become knowable only when they enter the frame of reference of social thought; but at the same time their nature is changed, and they are transformed into collective states with only a fringe of organic consciousness (…). In so far as it is the raw material of consciousness and the mental life of the species, these phenomena are to be studied exclusively from without, but always with reference to their organic manifestations in the individual.26
Der soziologische Tatbestand der mémoire collective wird dadurch begründet, dass individuelle Erinnerungsprozesse insbesondere auf die menschliche Sprache angewiesen sind. Stillschweigend vorausgesetzt wird dabei jedoch die spezifisch soziale Natur von Sprache – eine Argumentationslücke, auf die im dritten Teil des Aufsatzes zurückzukommen sein wird. Durch die Erklärung des Erinnerns zum fait social und die Aufnahme des Assoziationsprinzips ist das Erinnern bei Halbwachs kein Phänomen, das entweder von der Perspektive des Individuums oder von der Perspektive der Gesellschaft her zu verstehen ist, sondern hat die Funktion, gerade den Bezug zwischen dem Einen und den Vielen zu bezeichnen. Die mémoire collective ist somit ein Bezugsbegriff. Dadurch grenzt sich Halbwachs vom Gedächtnisdiskurs um die Jahrhundertwende im Hinblick auf die Beziehung Individuum/Gesellschaft in zweifacher Hinsicht ab: gegenüber Bergsons Bildern der Vergangenheit sowie – und dies ist bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden – gegen Autoren wie Hering, Ribot und Butler. Die Abgrenzung gegenüber Bergson ist besonders deutlich, wenn Halbwachs sich mit dem Phänomen des Traumes auseinandersetzt. War dieser bei Bergson noch das bevorzugte Beispiel um zu illustrieren, inwiefern das isolierte Individuum durch Bilder zum ‚wahren Ich‘ zurückkehren kann, so zeigt Halbwachs, dass die Bilder des Traums eben keine Erinnerungen sind. 27 „Il faut nous aider de la mémoire des autres ou nous livrer à une vérification objective pour constater qu’ils correspondent bien à des réalités anciennement perçues.“28 Um sich zu erinnern, ist die Vergleichsfolie einer sozialen Gruppe notwendig. Denn nur sie kann die Zuverlässigkeit individueller Erinnerung garantieren. Erinnert werden können Träume nur, da sich das Individuum auf die in einer Gruppe verankerte Erinnerung beruft. 26 Maurice Halbwachs: Individual Consciousness and Collective Mind, in: The American Journal of Sociology XLIV (1939), S. 815. 27 Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire, 1925, S. 21. 28 Ebd., S. 16. „(W)ir müssen uns des Gedächtnisses der anderen bedienen oder uns einer Nachforschung und objektiven Überprüfung unterziehen, wenn wir klarstellen wollen, daß sie tatsächlich einst wahrgenommenen Realitäten entsprechen“ (Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin, Neuwied 1966, S. 35).
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Vor dem Hintergrund von Konzepten wie ‚Gattungsgedächtnis‘ und ‚Rassegedächtnis‘ liegt die Innovation von Maurice Halbwachs darüber hinaus darin, dass sein theoretischer Zugriff auf die Erinnerung der Pluralität vieler unterschiedlicher Gruppenbezüge gleichzeitig Rechnung trägt. Die Erinnerung schreibt das Individuum nicht in eine Großgruppe ein, sondern aktualisiert sich überlappende cadres sociaux wie Familie, Religion oder soziale Klasse – die drei von Halbwachs betrachteten Beispiele. „L’individu évoque ses souvenirs en s’aidant des cadres de la mémoire sociale. En d’autres termes les divers groupes en lesquels se décompose la société sont capables à chaque instant de reconstruire leur passé.“29 Es gibt in einer Gesellschaft also ebenso viele Rekonstruktionen der Vergangenheit wie es Gruppen gibt, wobei beispielsweise Namer in Anlehnung an Halbwachs die integrative Kraft der familiären, religiösen oder nationalen Rahmen und insbesondere Institutionen wie Museen und Bibliotheken hervorhebt.30 Offen bleibt letztlich bei Halbwachs die Frage, wie die Pluralität der cadres in einer Gesellschaft integriert werden kann: Il n’en est pas moins vrai que la nécessité où sont les hommes de s’enfermer dans des groupes limités, famille, groupe religieux, classe sociale (...) s’oppose au besoin social de continuité. C’est pourquoi la société tend à écarter de sa mémoire tout ce que pourrait séparer les individus, éloigner les groupes les uns des autres et qu’à chaque époque elle remanie ses souvenirs de manière à les mettre en accord avec les conditions variables de son équilibre.31
b. Dynamik/Statik. Halbwachs’ Begriff von mémoire collective ist ein dynamischer Begriff. Denn in Abgrenzung zu anderen prominenten Konzepten um die Jahrhundertwende wie dem Gattungsgedächtnis wurde mémoire nicht als physisches Phänomen verstanden. Vielmehr wurden mit der mémoire Halbwachs’ Handlungen erfasst, welche durch die Gedächtnisrahmen, die cadres, strukturiert werden.32 Bei Halbwachs stellen die cadres die grundlegende Struktur der Erinnerungsvorgänge dar, bestehen aber selbst ebenfalls aus verdichteten Erinnerungen: [E]ntre le cadre et les évènements il y aurait identité de nature: les évènements sont des souvenirs, mais le cadre aussi est fait de souvenirs. Entre les uns et les autres il y aurait cette dif-
29 „Das Individuum ruft seine Erinnerungen mit Hilfe der Rahmen der sozialen Erinnerung wach. In anderen Worten, die verschiedenen Gruppen, in welche sich eine Gesellschaft zerlegen lässt, sind jeden Moment in der Lage, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren“ (Übers. F.K., R.T.). Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire, 1925, S. 230 30 Namer: Mémoire et Société, 1987, S. 161ff. 31 Zit. n. ebd., S. 161. „Es ist nicht weniger wahr, dass die Notwendigkeit, in welcher sich die Menschen befinden, sich in abgegrenzten Gruppen wie Familie, religiöser Gruppe oder soziale Klasse einzuschließen (…), im Widerspruch zur sozialen Notwendigkeit der Kontinuität steht. Aus diesem Grund neigt die Gesellschaft dazu, aus ihrer Erinnerung all jenes zu verdrängen, welches die Individuen trennen oder Gruppen voneinander entfernen könnte, und zu jedem Zeitpunkt gestaltet sie ihre Erinnerungen im Einklang mit den variablen Bedingungen ihres Gleichgewichtes“ (Übers. F.K., R.T.). 32 Der Begriff der cadres entspricht bei Halbwachs dem Durkheimschen Begriff des milieu. Dies erklärt einen sozialen Tatbestand als besondere Ausprägung des Kollektivbewusstseins, wobei das milieu von der gleichen Natur ist wie die sozialen Tatbestände, die es zu erklären versucht.
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Félix Krawatzek, Rieke Trimҫev férence que ceux-ci sont plus stables, qu'il dépend de nous à chaque instant de les apercevoir, et que nous nous en servons pour retrouver et reconstruire ceux-là.33
Die von Halbwachs vorgenommene Begriffswahl ist eine bedeutsame Positionierung im Feld des Gedächtnisdiskurses um die Jahrhundertwende. In Abgrenzung zu Bergsons Bildbegriff der images-souvenirs aber vollzog Halbwachs eine entscheidende Akzentverschiebung, indem er die von Bergson vorgenommene Trennung zwischen Bild und Rahmen aufhob und, in der Metapher bleibend, den Akzent vom Bild auf die cadres der Erinnerung verlegte, wodurch die Konzeption von Erinnerung gleichsam auf den Kopf gestellt wird. Welche Bedeutung haben nun die cadres für die Erinnerung? Für Halbwachs ermöglichen sie, wenngleich sie auch aus jüngeren Erinnerungen gebildet werden, die Rekonstruktion weit zurückreichender Erinnerungen. „Le travail de le mémoire repart donc du présent pour restructurer le passé, c’est-à-dire en souligner les aspects qui se relient au présent et en négliger les autres.“34 c. Zwang und Ermöglichung. Als sozialer Tatbestand haben Erinnerungen einen zwingenden Charakter.35 Halbwachs’ Behauptung, „que l’esprit reconstruit ses souvenirs sous la pression de la société“, 36 spiegelt eben diesen von Durkheim etablierten zwingenden Charakter sozialer Tatbestände wider. Darüber hinaus spricht Halbwachs der mémoire aber einen ermöglichenden Charakter zu, der bereits bei seinem Lehrer Durkheim angelegt sei, aber nicht ausformuliert worden sei.37 In der Akzentverschiebung von conscience collective zu mémoire collective erweitert Halbwachs das Feld der soziologischen Tatbestände um eine Vergangenheitsdimension, wobei diese Vergangenheit bei Halbwachs nicht objektiv existiert und ihr auch kein ontologisches Fundament im Subjekt zukommt wie bei Bergson. Vielmehr ist sie die immer der Gegenwart verschriebene Rekonstruktion innerhalb gesellschaftlicher Strukturen. Ohne die Gesellschaft wäre der Mensch der Vergangenheit beraubt (was in ähnlicher Form bereits bei Durkheim vorzufinden ist). Im Unterschied zum Gattungsgedächtnis ist mémoire bei Halbwachs hingegen Zwang und Ermöglichung.
33 Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire, 1925, S. 85. „[E]s besteht zwischen dem Rahmen und den Ereignissen von Natur eine Identität: Die Ereignisse sind Erinnerungen, aber der Rahmen ist gleichfalls aus Erinnerungen gebildet. Zwischen ihnen gäbe es den Unterschied, daß die letzteren stabiler sind, und daß es von uns in jedem Augenblick abhängt, sie wahrzunehmen, daß wir uns ihrer bedienen, die ersteren wiederzufinden und zu rekonstruieren“ (Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 1966, S. 143). 34 Zit. n. Namer: Mémoire et Société, 1987, S. 41. „Die Erinnerung arbeitet von der Gegenwart her an einer Reorganisation der Vergangenheit, indem sie diejenigen Aspekte hervorhebt, die einen Gegenwartsbezug aufweisen, und alle anderen vernachlässigt“ (Übers. F.K., R.T.). 35 Durkheim: Les Règles de la Méthode Sociologique, 1960, S. 14. 36 Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire, 1925, S. 94f.; „daß der Geist seine Erinnerungen unter dem Druck der Gesellschaft rekonstruiert“ (Ders.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 1966, S. 159). 37 Ebd., S. 152.
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Gedächtnissemantik in der zeitgenössischen Erinnerungsforschung Nach der ersten Welle der Erinnerungsforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ihrem Wiederaufleben in den 1980er-Jahren findet sich die Disziplin heute erneut an einem Schwellenmoment. Astrid Erll umreißt die Alternativen: „will there be a third phase of memory studies? Or will the field continue in the mode established since the mid-1980s?“38 Vor diesem Hintergrund soll nun in einem zweiten Schritt gefragt werden: Wie steht es um die drei zentralen Momente von Halbwachs’ mémoire-Konzept in der deutschen Erinnerungsforschung der ‚zweiten Phase‘? Ohne hier der gesamten Bandbreite wissenschaftlicher Arbeiten zu Erinnerung seit den 1980er-Jahren gerecht werden zu können, soll diese Frage anhand von solchen Texten beantwortet werden, die den ‚state of the art‘ dieser Zeit spiegeln. Dazu zählen wir einerseits die kanonischen Gründungstexte jener Phase, nämlich Jan Assmanns Kulturelles Gedächtnis39 sowie die auch in Deutschland zum Klassiker gewordenen Lieux de mémoire von Pierre Nora.40 Außerdem liegt der Zeitdiagnose eine Analyse von Lehr- und Handbüchern zugrunde, in denen die Disziplin ihren Erkenntnisstand dokumentiert und der wissenschaftlichen Außenwahrnehmung präsentiert.41 Zwang und Ermöglichung. Die erste Feststellung lautet dabei, dass nicht alle drei Fronten von Halbwachs’ begrifflicher Intervention heute noch zu den umkämpften Gebieten der Vorstellung des Vergangenheitsbezuges sozialer Gruppen gehören. Während die Beziehung von Individuum und Gesellschaft und das Spannungsverhältnis von Dynamik und Statik noch stets häufig und kontrovers thematisierte Aspekte sind, wird die Frage nach dem zwingenden und/oder ermöglichenden Moment von Erinnerung selten zum expliziten Thema. Vielmehr drückt sich ein impliziter Grundkonsens darüber aus, dass Erinnerung stets beide Momente zukommen. Dynamik und Statik. Was das Verhältnis von dynamischen und statischen Momenten der unterschiedlichen theoretischen Ansätze betrifft, so ist einerseits eine ganz zentrale Einsicht Halbwachs’ in Abgrenzung zu Bergson inzwischen unumstritten: Unser Verständnis der Vergangenheit ist den Gesetzen der Gegenwart unterworfen. In diesem Sinne schrieb schon Assmann: „Die Vergangenheit
38 Astrid Erll: Travelling Memory. Whither Memory Studies?, in: Parallax 17 (2011), S. 4. 39 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Aufl., München 2007. 40 Pierre Nora (Hrsg.): Les lieux de mémoire, 7 Bde., Paris 1984–1992. 41 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005; Nicolas Pethes, Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek bei Hamburg 2001; Christian Gudehus, Ariane Eichenberg, Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2010; Astrid Erll: Cultural Memory Studies. An Introduction, in: Dies., Ansgar Nünning, (Hrsg.): Cultural memory studies. An international and interdisciplinary handbook, Berlin 2008, S. 1–15.
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nun, das ist unsere These, entsteht überhaupt erst dadurch, daß man sich auf sie bezieht.“42 Diese Annahme verleiht dem heutigen Verständnis des Vergangenheitsbezuges von Gruppen als sozialkonstruktivistischer Minimalkonsens zunächst grundsätzlich ein prozesshaftes, dynamisches Element. Allerdings, so die hier vertretene These, lassen sich unterschiedliche Modi betrachten, in denen im heutigen wissenschaftlichen Diskurs gerade der Handlungscharakter, einmal zugestanden, an den Rand der Aufmerksamkeit rückt und zu Gunsten statischer Elemente zurückgedrängt wird. Der erste Fall ist eine Besonderheit der deutschsprachigen Forschungslandschaft, die sich daraus ergibt, dass zur Übersetzung von mémoire oder memory gleich zwei Begriffe bereitstehen: Gedächtnis und Erinnerung. Dazu fasst Astrid Erll zusammen: „Über die Disziplinen hinweg besteht weitgehend Einigkeit, dass Erinnern als ein Prozess, Erinnerungen als dessen Ergebnis und Gedächtnis als eine Fähigkeit oder eine veränderliche Struktur zu konzipieren ist.“43 In Anbetracht dessen fällt auf, dass angesichts einer Wahlmöglichkeit zwischen zwei Termini, wobei „Erinnerung“ die dynamische und „Gedächtnis“ die statische Seite zu betonen vermag, die Wahl häufig zu Gunsten des Gedächtnisses ausfällt, also zu Gunsten der Struktur und Statik. Assmann spricht zwar immer wieder auch von „kultureller und kommunikativer Erinnerung“, 44 wählt als terminus technicus jedoch das „kulturelle Gedächtnis“;45 Erll macht in ihrer Einführung das kollektive Gedächtnis und Gedächtnissysteme zu den Schlüsselworten;46 Christian Gudehus’, Ariane Eichenbergs und Harald Welzers Handbuch vereint unter der zunächst ausgewogen erscheinenden Überschrift „Was ist Gedächtnis/Erinnerung?“ sechs Beiträge zum mit unterschiedlichen Attributen qualifizierten „Gedächtnis“. 47 Durch diese sehr eindeutige Tendenz in der Auswahl der Schlüsselworte wird im deutschen Sprachgebrauch der Vergangenheitsbezug sozialer Gruppen stärker von der Perspektive der Struktur als von der Handlung her gefasst. Ein zweiter Fall ist eine Besonderheit jener Debatte, die sich inzwischen über Europa hinweg und prominent auch in Deutschland im Anschluss an die von Pierre Nora herausgegebenen Lieux de mémoire entfaltet hat. Auch die Wahl, sich 42 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 2007, S. 31; Ähnlich findet sich auch im angloamerikanischen Diskurs die Bezeichnung von collective memory als „fluid negotiation between the desires of the present and the legacies of the past”, so Jeffrey K. Olick: From collective memory to the sociology of mnemonic practices and products, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.): A Companion to Cultural Memory Studies, Berlin, New York 2010, S. 159. 43 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 7 (Hervorhebungen gelöscht). 44 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 2007, S. 53. 45 Auch eine frühere Definition des „kulturellen Gedächtnisses“ trägt explizit statische Züge. Jan Assmann kennzeichnet es durch Alltagsferne und somit einen Fixpunkt, und schließt daraus, dass dessen Horizont nicht mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mitwandere. Vgl. Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders., Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 12. 46 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 105. 47 Gudehus, Eichenberg, Welzer: Gedächtnis und Erinnerung, 2010, S. 75–125.
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der mémoire collective aus der Perspektive ihrer Objektivationen, der lieux, zu nähern, ist eine Wahl, das Erinnern mehr von der vermeintlich speichernden Struktur des Erinnerungsortes als von der erinnernden Handlung her zu denken. Wichtig ist hier aber vor allem, dass Nora jene lieux in einem kulturpessimistischen Unterton als „Überreste“ begreift, 48 und so, unter allen Deutungsschichten, die Möglichkeit einer Annäherung an eine tatsächliche Vergangenheit suggeriert. Die Forderung nach einer Dekonstruktion dieser Orte hat diese Annahmen überzeugend problematisiert.49 Die dritte Form der perspektivischen Bevorzugung der Statik vor der Dynamik lässt sich als Begleiterscheinung der Professionalisierung der Erinnerungsforschung beschreiben. Von Beginn an wurde Halbwachs dafür kritisiert, dass er nicht nur vom sozialen Rahmen des (individuellen) Gedächtnisses spreche, sondern an vielen Stellen auch den metaphorischen Anthropomorphismus „Gruppengedächtnis“ gebrauche.50 Diese Kritik setzte sich auch in den 1980er- und 1990erJahren fort.51 Die heutige Kritik stellt dabei nicht in Rechnung, dass die Funktion der metaphorischen Äußerungen um die Jahrhundertwende der Sichtbarmachung eines neuen Forschungsgegenstandes diente.52 Vor dem Hintergrund dieses spezifischen Anliegens war es auch noch unproblematisch, dass die bildliche Sprechweise die Ränder des so etablierten Begriffes unscharf hielt. Im Zuge der Fortentwicklung und der Professionalisierung der Erinnerungsforschung werden die „verschwommenen Ränder“ des als Metapher entstandenen Begriffes dysfunktional. 53 In einem Bedürfnis nach analytischer Schärfe werden 48 Nora: Entre Mémoire et Histoire, 1984, S. 28. 49 So kritisiert Moritz Csaky sehr treffend, dass das Paradigma der lieux de mémoire Gefahr laufe, „einem hegemonialen Narrativ des 19. Jahrhunderts verhaftet“ zu bleiben sowie „einer essenzialistischen, holistischen Vorstellung von (National)Kultur“. Moritz Csáky: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien 2010, S. 94. 50 Marc Bloch schreibt in einer Rezension der Cadres: „M. Halbwachs, il me semble, n’a guère fait que l’effleurer, se bornant le plus souvent, pour toute réponse, à des formules d’un finalisme, et si j’ose dire, d’un anthropomorphisme un peu vague.“ Marc Bloch: Mémoire collective, tradition et coutume. A propos d'un livre récent, in: Revue de Synthèse Historique, 1925, S. 78. „Herr Halbwachs, so scheint es mir, hat kaum mehr getan als es anzureißen, indem er sich für sämtliche Antworten zumeist auf finale Formulierungen und, wenn ich den Ausdruck wagen darf, einen vagen Anthropomorphismus begrenzt“ (Übers. F.K., R.T.). 51 Hubert Cancik, Hubert Mohr: Art. Erinnerung/Gedächtnis, in: Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Matthias Laubscher (Hrsg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. III, Stuttgart 1990, S. 299–323; Reinhart Koselleck: Die bildliche Transformation der Gedächtnisstätten in der Neuzeit, in: Jean-Charles Margotton, Marie-Hélène Pérennec (Hrsg.): La mémoire. Actes du 35e Congrès annuel de l'AGES, Association des germanistes de l'enseignement supérieur, Lyon 2003, S. 7. 52 Dieses wissenschaftliche Potenzial metaphorischer Modelle wurde innerhalb der Metapherntheorie vielfach hervorgehoben. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die grundlegenden Arbeiten von Max Black verwiesen: Models and Archetypes, in: Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy, Ithaca, New York 1962, S. 219–243; Ders.: More about metaphor, in: Dialectica 31 (1977), S. 431–457. 53 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 2007, S. 45.
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Definitionen eingeführt, die nicht mehr Bedeutungen eröffnen, sondern eingrenzen. Dabei kommt es zu Bedeutungstransformationen, die sich beispielhaft bei Jan Assmann studieren lassen. „Halbwachs ging so weit, das Kollektiv als Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung einzusetzen und prägte Begriffe wie ‚Gruppengedächtnis‘ und ‚Gedächtnis der Nation‘, in denen der Begriff ins Metaphorische umschlägt. Soweit brauchen wir ihm nicht zu folgen.“54 Trotz dieser Absichtsbekundung werden dann wenige Seiten später, in der Einführung der zentralen Grundbegriffe Assmanns wirkungsmächtiger Theorie, erneut die sozialen Rahmen selbst mit dem Wort ‚Gedächtnis‘ belegt: „Die beiden Vergangenheitsregister (…) entsprechen zwei Gedächtnisrahmen (…). Wir nennen sie das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. “55 Auch in Astrid Erlls Ausdifferenzierung des Gedächtnisbegriffs in ein kulturprozedurales, ein kultursemantisches und ein kulturautobiographisches Gedächtnissystem56 hört das, was bei Halbwachs noch Metapher war, auf, Metapher zu sein. Indem derselbe Terminus nicht mehr zur Eröffnung einer Vorstellung, sondern zur Definition verwandt wird, werden Entsprechungen auf der Vorstellungsebene zu vermeintlichen Entsprechungen in der Wirklichkeit verfestigt.57 Im Zuge dessen wird eine speichernde Struktur außerhalb des Individuums, die der Gruppe ebenso Einheit garantiert wie das Gedächtnis dem Subjekt, zum Teil der Wirklichkeit gemacht. Individuum/soziale Gruppe. Erfüllen, drittens, mémoire, memory, Gedächtnis und Erinnerung heute noch die Funktion, einerseits einen Bezug, und zwar einen pluralen Bezug zwischen Individuum und Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen, wie es das Ziel von Halbwachs und Durkheim war? In all den Fällen, in denen die Begriffe auf die soziale Gruppe bezogen werden, also beispielsweise vom Gedächtnis der Familie oder der mémoire de la nation (wie bei Nora) die Rede ist, besteht die Tendenz, das soziale Moment gerade nicht als ein relationales zu begreifen, also als Bezug, sondern als eine vom Individuellen getrennte Sphäre. Dem Umstand Rechnung tragend, dass gerade der biologistische Gedächtnisdiskurs der vorletzten Jahrhundertwende in der Halbwachs-Rezeption als wichtiger Kontext vernachlässigt wird, steht es auch schlecht um das sozialtheoretische Potenzial der heutigen Begrifflichkeiten, die Pluralität der gesellschaftlichen Bezüge begreifbar machen zu können. Der Begriff des Gedächtnisses wurde in seiner Wiederbelebung durch Assmann und Nora eng an den Begriff einer kollektiven Identität gekoppelt.58 Es wurde dabei nicht ausgeschlossen, dass es mehrere
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Ebd., S. 36. Ebd., S. 50 (Hervorh. im Orig.). Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 105. Paul de Man hat aufgezeigt, wie metaphorische Äußerungen, wenn in ihrem Gebrauch die Ebene der Vorstellungen mit der Ebene der Wirklichkeit verwechselt wird, eine ideologische Funktion erfüllen können: „Die Metapher ist ein Irrtum, weil sie an ihre eigene referentielle Behauptung glaubt oder zu glauben vorgibt“. Paul de Man: Metapher, in: Christoph Menke (Hrsg.): Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt am Main 1993, S. 411. 58 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 2007, S. 130ff.
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Gruppenzugehörigkeiten tatsächlich gibt.59 Doch die Gebrauchsmuster des Wortes „Identität“ führen dazu, dass man stets nur eine dieser Gruppenzugehörigkeiten zur selben Zeit sichtbar machen kann. Im Rahmen des Identitäts-Paradigmas konnte die Gleichzeitigkeit pluraler Gruppenbezüge in einer Erinnerungshandlung nicht zum Ausdruck gebracht werden. Mit der Wirkmächtigkeit von Pierre Noras Ansatz ist in der Forschung vor allem die Nation zur bevorzugten, durch Erinnerungen konstituierten Gruppenzugehörigkeit geworden. Vor dem Hintergrund der Zeitdiagnose, dass „la nation n’est plus le cadre unitaire qui enserrait la conscience de la collectivité“, 60 muss das Konzept der lieux de mémoire als Instrument verstanden werden, den nationalen Erinnerungsrahmen als prioritären Erinnerungsrahmen zu retten. Jegliche Form der Pluralisierung von Erinnerungsrahmen beschreibt Nora als bedrohliche Verfallserscheinung.61 Jeffrey K. Olick hat bereits 1999 in seiner seitdem vielfach rezipierten Unterscheidung von „collected memory“ und „collective memory“ auf die Trennlinie zwischen individualistischen und kollektivistischen Perspektiven innerhalb der Erinnerungsforschung seit den 1980er-Jahren aufmerksam gemacht und sich für einen Ansatz ausgesprochen, der individuelle und soziale Momente von Erinnerung miteinander in Beziehung setzt.62 Nicht nur Olick hat in der Folge mit dem Konzept der „figurations of memory“ der Erinnerungsforschung einen theoretischen Pfad eröffnet, auf dem heute der Blick für die Dynamik und plurale Relationalität von Erinnerung wiedergewonnen werden kann.63 Auch unter Stichworten wie „travelling memory“, 64 der „Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinne-
59 Darauf verweist Assmann auch wiederholt. Ebd., S. 37. 60 Nora: Entre Mémoire et Histoire, 1984, S. 23. Dieser Umstand wurde in der wissenschaftlichen Literatur vielfach diskutiert, siehe beispielsweise Steven Englund: The Ghost of Nation Past, in: The Journal of Modern History 64 (1992), S. 299–320; Constanze CarcenacLecomte: Zur Einführung. Pierre Nora und ein deutsches Pilotprojekt, in: Constanze Carcenac-Lecomte u.a. (Hrsg.): Steinbruch. Deutsche Erinnerungsorte, Frankfurt am Main 2000, S. 13–26; Moritz Csáky: Die Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung. Ein kritischer Beitrag zur historischen Gedächtnisforschung (2004), http://epub.ub.uni-muenchen.de/603; letzter Zugriff: 30.06.2013; Csáky: Das Gedächtnis der Städte, 2010, S. 94. 61 Nora: Entre Mémoire et Histoire, 1984, S. 34. 62 Jeffrey K. Olick: Collective Memory: The Two Cultures, in: Sociological Theory 17 (1999), S. 346. 63 Dieser Begriff verbindet Olicks treffende Kritik an vier „pernicious postulates“ der zeitgenössischen Erinnerungsforschung und seine eigenen konstruktiven „counter concepts“. Vgl. Jeffrey K. Olick: The politics of regret. On collective memory and historical responsibility, New York 2007, S. 85ff.: Die Annahme, dass Erinnerung eine unumstrittene Einheit bilde, fordert er mit dem Begriff des „Feldes“ heraus; Der Auffassung von Erinnerung als Schlüssel zu einer ursprünglichen Vergangenheit vor jeglicher Deutung setzt er die Analysekategorie des „Mediums“ entgegen; Mit Bakhtins „Genre“ antwortet Olick auf die Bevorzugung des Dingcharakters vor dem Handlungscharakter von Erinnerung; Und der Annahme der Unabhängigkeit von Erinnerung von anderen Formen kultureller Sinnkonstitution stellt er den Begriff des „Profils“ entgegen. 64 Erll: Travelling Memory, 2011, S. 4–18.
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rung“65 oder „multidirectional memory“66 sind dazu in der jüngeren Forschungsdiskussion anregende Impulse formuliert worden, an die der dritte und letzte Teil dieses Aufsatzes in einem ideengeschichtlichen Perspektivenwechsel anknüpfen möchte: Die im Rahmen der kontextualistischen Halbwachs-Interpretation als vernachlässigt herausgearbeiteten Aspekte seines Denkens sollen als Bestandteile einer Sozialtheorie rekonstruiert werden, die nun nicht auf ihre raum- und zeitspezifischen Zusammenhänge, sondern auf ihre heutige Überzeugungskraft hin zu untersuchen ist.
Sprache und die Unmöglichkeit „privater Erinnerung“ Dazu soll Halbwachs’ argumentativer Dreischritt von Sprache, Erinnerung und Gesellschaft einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Der soziale Charakter der Erinnerung ist bei Halbwachs begründet durch den Zusammenhang von Sprache und Erinnerung: „la mémoire en général dépend de la parole.“67 Diese Annahme entwickelt Halbwachs in der Behandlung des Traumes auf der einen und des Phänomens der Aphasie auf der anderen Seite.68 In Auseinandersetzung mit Bergson und dessen Verständnis des Traumes spitzt Halbwachs dann seine Betonung der Sprache noch einmal zu. Zwar bestreitet er in einem ersten Schritt, dass Menschen im Traum überhaupt erinnern. 69 Das erlaubt ihm aber dann, die Bedeutung der Sprache noch einmal zu unterstreichen: Denn selbst der Träumende verwende Sprache, den langage mental, durch welchen die Bilder der Nacht für den Träumenden überhaupt nur Sinn erhalten können.70 Wird der Zusammenhang von Erinnerung und Sprache also ausführlich argumentativ entwickelt, so wird der soziale Charakter der Sprache bei Halbwachs jedoch schlicht vorausgesetzt. „Les hommes pensent en commun par le moyen du
65 Csáky: Die Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung, 2004. 66 Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009. 67 Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire, 1925, S. 87; „das Gedächtnis im allgemeinen (hängt) von der Sprache ab“ (Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 102). 68 Hier beobachtet der Soziologe eine Korrelation zwischen der Sprachstörung und der Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens, siehe Halbwachs Les cadres sociaux de la mémoire, 1925, S. 58. 69 Ebd., S. 26. 70 „Ainsi, de quelque espèce d'image qu'il s'agisse, verbale, auditive ou visuelle (…), l'esprit est toujours astreint, avant de les voir, à les comprendre, et, pour les comprendre, à se sentir tout – au moins en mesure de les reproduire, de les décrire, ou d'en indiquer les caractères essentiels à l'aide de mots.“ Ebd., S. 86. „Um welche Bildarten es sich auch immer handele, verbale, auditive oder visuelle (…), immer ist der Geist darauf aus, sie zu verstehen, ehe er sie sieht, und um sie zu verstehen, sich zumindest imstande zu fühlen, sie zu reproduzieren, zu beschreiben oder ihre wesentlichen Eigenschaften mit Hilfe der Wörter anzueignen“ (Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 1966, S. 101).
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langage“, 71 schreibt er, oder: „Puisque la parole ne se conçoit qu’à l’intérieur d’une société, nous aurons en même temps démontré que dans la mesure où il cesse d’être en communication avec les autres, un homme devient moins capable de se souvenir.“72 Sätze wie diese bleiben dabei eine Behauptung, welche von den späteren Auseinandersetzungen mit Erinnerung dankbar aufgenommen, jedoch selten hinterfragt wurde. Wenn sich aber der hier rekonstruierte Erinnerungsbegriff Halbwachs’ als anknüpfungsfähig erweisen soll, dann müsste auch diese argumentative Leerstelle gefüllt werden. Mit Rekurs auf Ludwig Wittgenstein (1889–1951) soll dies getan werden und Sprache als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung von Erinnerung herausgestellt werden.73 Wittgenstein kritisiert in den Philosophischen Untersuchungen74 unter anderem die Auffassung, dass es in der Welt Dinge an und für sich gebe und dass Sprache nichts weiter zu tun habe, als diese zu bezeichnen. Nach dem späten Wittgenstein wird die Welt jedoch nicht einfach nur benannt, sondern erhält erst durch den Gebrauch von Sprache eine Bedeutung.75 Der als „Privatsprachenargument“ bekannt gewordene Abschnitt der Philosophischen Untersuchungen76 behandelt die Frage, inwiefern es einem einzelnen Menschen möglich wäre, eine Sprache zu entwerfen und zu verwenden, die ausschließlich er selbst versteht und mit welcher er konsequent eine bestimmte innere Empfindung bezeichnet. Wäre aber auch eine Sprache denkbar, in der Einer seine inneren Erlebnisse – seine Gefühle, Stimmungen, etc. – für den eigenen Gebrauch aufschreiben, oder aussprechen könnte? – Können wir denn das in unserer gewöhnlichen Sprache nicht tun? – Aber so meine ich’s nicht. Die Wörter dieser Sprache sollen sich auf das beziehen, wovon nur der Sprechende wissen kann; auf seine unmittelbaren, privaten, Empfindungen. Ein Anderer kann diese Sprache also nicht verstehen.77
Der imaginäre Gesprächspartner Wittgensteins entwirft wiederholt Szenarien, welche spontan diesen Kriterien einer Privatsprache zu entsprechen scheinen. Das 71 Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire, 1925, S. 73; „Die Menschen denken nun gewöhnlich mittels der Sprache“ (Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 1966, S. 89). 72 Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire, 1925, S. 87; „Und da die Wortsprache nur innerhalb der Gesellschaft entsteht und verstanden wird, so haben wir damit sogleich nachgewiesen, daß ein Mensch in dem Maße weniger der Erinnerung fähig ist, als er aufhört, mit den anderen in Berührung und Verkehr zu stehen“ (Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 1966, S. 102). 73 Die vorliegenden Gedanken schlagen eine Sicht auf die vielseitige Philosophie Wittgensteins vor, mit besonderer Berücksichtigung der Philosophischen Untersuchungen. Der aufmerksame Blick über disziplinäre Grenzen hinaus entführt im Folgenden das „Privatsprachenargument“ aus seinen engeren philosophischen Debatten, um die Relevanz und Schlagkräftigkeit dieses Argumentes für eine Analyse sozialer Erinnerungen aufzuzeigen. 74 Ludwig Wittgenstein: Philosophical investigations, translated by G.E.M. Anscombe, Oxford 2001 (dt. Orig. 1953; im Folgenden kurz PU). 75 PU, § 43. 76 Insbesondere §§ 243–315. 77 PU, § 243 (Hervorh. F.K, R.T.).
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Ergebnis dieser Gedankenversuche: In allen Szenarien fehlt ein äußerer „Referenzpunkt“, sie sind am Ende zum Scheitern verurteilt. Sprache, somit auch das Sprechen über innere Empfindungen, ist ein an Gesellschaft angebundenes Phänomen. Sie kann nur sinnvoll verwendet werden, „indem wir das Vorbild als das, was es ist, als Vergleichsobjekt – sozusagen als Maßstab – hinstellen; und nicht als Vorurteil, dem die Wirklichkeit entsprechen müsse“. 78 Einer rein privaten Verwendung von Zeichen oder Worten – auch Worten für Empfindungen oder innere Vorgänge – fehlt jegliches Kriterium, um zu entscheiden, ob ein Zeichen oder ein Wort richtig verwandt wurde.79 Die Einbeziehung des Privatsprachenarguments vermag zunächst, den Zusammenhang von Erinnerung, Sprache und Gesellschaft analytisch zu schärfen. Mit Halbwachs und Wittgenstein lässt sich der soziale Tatbestand der Erinnerung von dem Problem der Kontinuität von Bedeutung her begreifen. Auch der innere Vorgang der Erinnerung kann vergangene Erfahrungen nur dann mit kontinuierlichem Sinn versehen und als „gegenwärtige Vergangenheit“ vorstellen, wenn Erinnerungen einen Bezug auf sozial geteilte Regeln aufweisen. So kann letztlich Halbwachs’ Bemerkung reformuliert werden: „Tout rappel d’une série de souvenirs qui se rapportent au monde extérieur s’explique donc par les lois de la perception collective.“80 In dem Maße, wie Wittgenstein seine Vorstellung der Sprache in der Bezeichnung als „Lebensform“81 selbst zum Modell für die Vorstellung des Sozialen öffnet, wirft die dialogisierende Interpretation von Halbwachs und Wittgenstein auch ein neues Licht auf die Vorstellung von Erinnerung zurück. Das Konzept des Sprachspiels enthält zwei Gedankenfiguren, in deren Spiegelung die Vorstellung von Erinnerung dynamisiert und pluralisiert werden kann: Mit Wittgensteins Regelbegriff kann Erinnerung einerseits als Handlung verstanden werden; die Logik der Analogie, die dem ‚Sprachspiel‘ zu eigen ist, kann Erinnerung andererseits als Bezugsbegriff greifbar werden lassen. Wittgenstein versinnbildlicht die genuine Verbindung von Handeln und Sprache in seinem wirkmächtigen Konzept des Sprachspiels.82 Sprachspiele weben Worte in ein weiteres Netz grammatikalischer Regeln ein. Nur durch historisch 78 PU, § 131 (Hervorh. im Orig.). 79 Dass Bedeutung der Welt das Resultat menschlicher Interaktion ist, wurde durch die Wissenssoziologie aufgenommen. Klassisch dazu Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 2007. 80 Halbwachs: La Mémoire Collective, 1997, S. 87ff; „Jedes Wachrufen einer Serie von Erinnerungen, die sich auf die Außenwelt beziehen, erklärt sich somit durch die Regeln der kollektiven Wahrnehmung“ (Übers. F.K, R.T.). 81 PU, § 19. 82 Der Begriff des Sprachspiels wird von Wittgenstein in § 7 der PU eingeführt und ist eines der wichtigsten Analysewerkzeuge. Zu einer Einführung in dieses Wittgensteinsche Konzept siehe beispielsweise Pierre Hadot: Sprachspiel und Philosophie. in: Günter Gebauer, Fabian Goppelsröder, Jörg Volbers (Hrsg.): Wittgenstein – Philosophie als ‚Arbeit an einem selbst‘, München 2009, S. 39–54; sowie Peter Winch: The idea of a social science and its Relation to Philosophy, London 1990.
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gewachsene, gemeinschaftlich ausgehandelte Regeln kann die konsequente Verwendung eines Zeichens ermöglicht werden. Regeln sind dabei gleichursprünglich zu ihrer Befolgung, sie sind nur in ihrer handelnden Aktualisierung präsent: „Darum ist ‚der Regel folgen‘ eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen.“83 Die wirkungsgeschichtliche Kraft, die dieses performative Regelverständnis in der Sozialphilosophie entfaltet hat,84 bereitet der Erinnerungsforschung den Grund, um den Strukturmoment von Erinnerung verändert zu denken: als den momentanen und stets relativen Kreuzungspunkt vielfältiger Erinnerungshandlungen. Der zeitgenössischen Sozialtheorie war Wittgensteins Sprachphilosophie ebenso Inspirationsquelle für Neuaneignungen des Pluralitätsgedankens.85 Ein Sprachspiel lässt sich nie eindeutig von anderen Sprachspielen abgrenzen, und somit auch nicht in der Einheit seiner Regeln bestimmen – sondern lediglich in den sich stets im Gebrauch verändernden Ähnlichkeitsverhältnissen beschreiben.86 Sprachspiele lassen sich nicht in der Logik der Identität denken, sondern fordern die Logik der Analogie ein. Für die Herausforderung, heute den pluralen Charakter von Erinnerung wieder zu betonen, kann daraus die methodische Forderung abgeleitet werden, von einem Fragen nach Einheit zu einem Fragen nach Ähnlichkeiten überzugehen. Die immer wieder sichtbaren, sich aber nie auf eine einheitliche Struktur festlegenden Ähnlichkeitsbezüge zwischen Vergangenheitsdeutungen können in ihrer Beschreibung den sozialen Moment der Erinnerung herausstellen, ohne dazu die vergemeinschaftende Identität eines außerindividuellen Gedächtnisses voraussetzen zu müssen.
Schluss Maurice Halbwachs’ Schriften lassen ein Konzept von mémoire collective entdecken, dessen Innovation in der Pluralisierung und Dynamisierung des Vergangenheitsbezuges sozialer Gruppen liegt. Seine begriffliche Intervention baut auf ein 83 PU, § 202. 84 Siehe beispielsweise Jean-Francois Lyotard: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979, S. 21. 85 Jean-François Lyotard zum Beispiel denkt in der Perspektive des Sprachspiels über die Vielheit und Gleichzeitigkeit sich stets überlappender sozialer Bezüge nach, siehe besonders JeanFrancois Lyotard, Jean-Loup Thébaud: Au juste, Paris 1979, S. 193. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe greifen Wittgensteins Sprachphilosophie für ihre Aneignung von Althussers Konzept der „Überdeterminierung“ auf, ein Konzept, das Mouffe in ihren späteren Arbeiten auch unter dem Begriff der Pluralität beschreibt. Siehe: Ernesto Laclau, Chantal Mouffe: Hegemony and socialist strategy. Towards a radical democratic politics, London 1985, S. 111f. Oliver Marchart gibt aufschlussreiche Hinweise darauf, wie das Denken von Laclau und Mouffe für die Erinnerungsforschung fruchtbar gemacht werden kann. Dazu: Oliver Marchart: Das historisch-politische Gedächtnis. Für eine politische Theorie kollektiver Erinnerung, in: Christian Gerbel u.a. (Hrsg.): Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur „Gedächtnisgeschichte“ der Zweiten Republik, Wien 2005, S. 21–49. 86 PU, § 486.
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Argument auf, das durch die dialogisierende Interpretation der mittlerweile klassischen „Philosophischen Untersuchungen“ auch heute noch als überzeugend rekonstruiert werden kann. Um aber diesen Argumentations- und Gedankenzusammenhang fast hundert Jahre später zum Ausdruck bringen zu können, muss die gegenwärtige deutsche Erinnerungsforschung die mémoire collective nicht nur aus dem Französischen übersetzen, sondern ebenso eine Übersetzungsleistung aus dem wissenschaftshistorischen Kontext des beginnenden 20. Jahrhunderts vollbringen. Das Forttragen des „héritage lourd“ des französischen Soziologen ist dabei nicht schon deshalb wichtig, weil ihm in seiner begriffseinführenden Position ein Monopol auf eine vermeintlich ‚richtige‘ Begriffsverwendung zukommen würde. Vielmehr ist eine Wiedereinübung des Blicks für die dynamischen und pluralen Momente von Erinnerung insofern geboten, als ihre Erforschung heute Begriffe geprägt hat, deren Gebrauchsmuster auch eine politische Funktion erfüllen. Besonders eindrücklich lässt sich dies an dem zeitgenössischen wissenschaftlichen wie öffentlichen Diskurs um die politische Zukunft der Europäischen Union beobachten. Denn hier erweist sich die semantische Kopplung von Gedächtnis/mémoire/memory und kollektiver Identität als funktional in der Auseinandersetzung um die Wünschbarkeit und Möglichkeit einer europäischen Identität. Durch den Anschluss an den Erinnerungsdiskurs wird aber nicht nur ein vermeintliches Fundament für das politische Europa importiert, sondern ebenso für im Erfahrungskontext des Nationalstaats geprägte Gedankenmuster. Damit aber wird auch der politische Möglichkeitsraum Europas weiterhin innerhalb von Vorstellungswelten verhandelt, deren Vorbild der Nationalstaat ist. Kann die historisch gewachsene Semantik des Gedächtnisbegriffes die erforderliche Übersetzungsleistung erbringen und neben einer individuellen Psyche, dann als Metapher, die sozialen Momente der Vergegenwärtigung von Vergangenem bezeichnen? Wesentliche der diesem Begriff heute eigenen Gebrauchsmuster stimmen hier zurückhaltend. Im Zuge der Ausdifferenzierung des Vokabulars einer professionalisierten Erinnerungsforschung scheint die Gefahr groß, dass mit dieser Begriffswahl auch die Suggestion einer Einheit garantierenden Struktur außerhalb des Individuums einhergeht, die unabhängig von diesem besteht. Eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Handlungs- und Bezugsmomente von Vergangenheitsdeutungen könnte dagegen die Entessentialisierung von Erinnerung und erinnernden Gruppen einen Teil dessen werden lassen, was heute als aufkommende ‚dritte Phase‘ der Erinnerungsforschung wahrnehmbar wird.
HISTORY IN THE BEST INTEREST OF NATIONAL DEFENSE: DAS US-AMERIKANISCHE MILITÄR UND THE GOOD WAR1 Sebastian Haak
Zusammenfassung: US-Amerikaner erinnern sich an keinen Krieg so gerne wie an den Zweiten Weltkrieg, der von ihnen auch The Good War genannt wird. Mit diesem Aufsatz zeige ich in einer Annäherung an das Thema, wie und warum es zu dieser Zuschreibung kommen konnte: dass nämlich die Entstehung des Good-War-Bildes eng mit dem Kalten Krieg verwoben war. Diese Verbindung arbeite ich erstens exemplarisch an den Interaktionen zwischen US-Militär und Hollywood während der Produktion des Films The Longest Day (1962) heraus, ehe ich zweitens auf den Kontext dieser Zusammenarbeit eingehe und schließlich auf zwei weitere Faktoren verweise, die zentrale Momente der Entstehung des Good-War-Bildes waren. Abstract: Up to this day Americans love stories about World War II which they remember as The Good War. In this article I trail why Americans remember World War II in such a fashion und how that image came into being. The key argument presented herein is: The Good War is very much a product of the Cold War. I traces this connection by – first – taking a look on why and how Hollywood and the U.S. military interacted during the production of the movie The Longest Day (1962). Second, I examine how the relationship between filmmakers and the military was influenced by the Cold War and how through this relationship the military was able to push a view of World War II as The Good War in American post-war memory. Finally I point to two other factors that have been defining moments for the creation of the Good War-remembrance.
Einleitung: Der eine gute Krieg Was für ein guter Krieg der Zweite Weltkrieg aus US-amerikanischer Perspektive war und ist, lässt sich kaum unmittelbarer erleben als bei einem Spaziergang über die National Mall in Washington, D.C. Exakt mittig auf der Hauptachse dieses zentralen Erinnerungsortes – dort, wo Erinnerungen in Stein geschlagen und in Metall gegossen wurden – liegt das National World War II Memorial. Sowohl 1
Dieser Aufsatz stellt die überarbeitete Version eines Vortrages dar, den ich 2011 auf der Konferenz „Militär und Geschichtspolitik“ des Arbeitskreises „Politik und Geschichte“ in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg hielt. Der Vortrag und damit auch die nachfolgenden Seiten lehn(t)en sich eng an meine Dissertationsschrift an. Vgl. Sebastian Haak: The Making of The Good War. Hollywood, das Pentagon und die amerikanische Deutung des Zweiten Weltkriegs, 1945– 1962, Paderborn 2013.
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seine geografische Lage als auch sein Design sind ein architektonisches Synonym für den hohen Stellenwert des Zweiten Weltkrieges in der amerikanischen Erinnerung, wo er eben nicht ein guter Krieg unter vielen ist, sondern als der eine gute Krieg erinnert wird, als The Good War. Während die ebenfalls auf der National Mall vorhandenen Denkmäler für die Gefallenen des Korea- und des Vietnam-Krieges beinahe schon bescheiden daher kommen, ist von Zurückhaltung beim National World War II Memorial nichts zu spüren. Zwei riesige steinerne Türme mit den Aufschriften „Pacific“ und „Atlantic“ erinnern an die beiden wichtigsten Kriegsschauplätze, auf denen US-Truppen kämpften; unter ihren Dächern thronen riesige Adler. Die fast 30.000 Quadratmeter große Anlage wird von 56 Granitsäulen eingefasst, die mit je zwei bronzenen Lorbeerkränzen geschmückt und durch bronzene Taue miteinander verbunden sind. Im Zentrum liegt der flache Rainbow Pool, zu dem gelangt, wer am Eingang 24 Reliefs passiert hat, die eine Kriegsgeschichte der USA in Bildern erzählen: Vom Überfall auf Pearl Harbor über die Befreiung der Konzentrationslager bis hin zum Sieg, den die geeinte Nation erringt. Im Westen des Areals wird an den Preis dafür erinnert: An der Freedom Wall prangen 4.000 goldene Sterne; einer für je 100 amerikanische Kriegstote. Warum beziehungsweise wie und unter welchen Umständen ist die Vorstellung entstanden, der Zweite Weltkrieg sei The Good War? Diese Frage steht im Zentrum der folgenden Ausführungen. Sie ist bislang unbeachtet geblieben. Während die historische Forschung in den vergangenen knapp 20 Jahren den Good War in seiner Gestalt immer wieder beschrieben hat,2 hat sie es doch unterlassen, zu ergründen, wie und warum die Good-War-Vorstellung als Bild von vergangener Wirklichkeit in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA entstehen konnte – und sich bis heute behauptet. Mit dieser Fragestellung begebe ich mich auch auf die Suche nach den Entstehungsbedingungen eines Geschichtsbildes und einer Erinnerungskultur. Auf beides hatte das amerikanische Militär entscheidenden Einfluss. Denn auch wenn es auf den ersten Blick evident erscheinen mag, dass der Zweite Weltkrieg als The Good War gilt – halfen US-Truppen doch unter anderem, der Shoa ein Ende zu setzen und die blutige Herrschaft des japanischen Kaiserreichs über weite Teile Asiens zu beenden –, so ist die Entstehung des Good-War-Bildes doch kein ‚natürlicher‘ Prozess gewesen, nicht die ‚logische Folge‘ einer scheinbar ‚realen‘ Ereignisgeschichte. Vielmehr ist das Werden des Good War eng an die historischen Umstände seiner Entstehung und damit auch an das politische Handeln von politischen Akteuren wie eben den US-Streitkräften gebunden; womit gleichsam die Frage impliziert wird, inwiefern die Entstehung der Good-War-Erinnerung die Folge einer Geschichtspolitik des amerikanischen Staates war, als dessen exem2
Vgl. zum Einstieg Studs Terkel: „The Good War“. An Oral History of World War Two, New York 1984; Michael C. C. Adams: The Best War Ever. America and World War II, London 1994; Kenneth D. Rose: Myth and the Greatest Generation. A Social History of Americans in World War II, New York 2008; John E. Bodnar: The „Good War“ in American Memory, Baltimore 2010.
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plarischen Vertreter ich das US-Militär begreifen werde. Die Begriffe Militär und Pentagon verwende ich nachfolgend synonym. Um mich all dem auf den folgenden Seiten – mehr skizzenhaft als ausführlich – zu nähern, werde ich in einem ersten Schritt exemplarisch darlegen, wie das amerikanische Militär Einfluss auf Hollywood-Filme nahm, die Geschichten vom Zweiten Weltkrieg erzählen, ergo: wie die Streitkräfte jenes Geschichtsbild beeinflussten, das diese Filme transportieren, deren gesamtgesellschaftliche Wirkmacht kaum zu bestreiten ist. Um es anschaulich zu machen, werde ich zeigen, wie dieser Beeinflussungsprozess während der Entstehung von The Longest Day (1962) ablief. In diesem ersten Teil geht es mir also vor allem um das Wie?. In einem zweiten Schritt werde ich genauer auf das Warum? schauen. Denn ein Blick in verschiedene militärische Schriftstücke aus den Jahren 1945 bis 1962 – jener Zeit, in der die Streitkräfte besonders intensiv mit Hollywood zusammenarbeiteten – zeigt, dass ein zentraler Begriff die Aufmerksamkeit des Militärs für das Bild vom Zweiten Weltkrieg und die damit zusammenhängende Erinnerungskultur prägte: national defense. Und dass damit eben das nationale Sicherheitsinteresse der USA maßgeblich für die Entstehung des Good War-Bildes mitverantwortlich war, erlaubt einige allgemeinere Bemerkungen dazu, welche Umstände es bei allen wie auch immer zugeschnittenen Konzepten zum Zusammenhang von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik stets mitzudenken gilt. Dabei werde ich das amerikanische Militär nachfolgend als eine black box behandeln; als etwas, dessen Innenleben zu erkunden hier aus Platzgründen schlicht unmöglich ist. An dieser Stelle sei jedoch selbstkritisch eingewandt, dass dies freilich eine Vereinfachung des alltäglichen Umgangs zwischen Militär und Filmschaffenden ist. Denn die Offiziere und Zivilangestellten des Pentagons standen den Filmemachern allzu oft eben nicht als geschlossene Einheit gegenüber. Das US-Militär war (und ist) ein derart riesiger Apparat, sodass es freilich auch zahllose Wechselwirkungen in dessen Innerem gab (und gibt), die regelmäßig auch nach außen hin wirksam wurden (und werden). Nach dem Zweiten Weltkrieg gliederte sich das Militär in das Verteidigungsministerium als oberste Hierarchieebene mit den einzelnen Teilstreitkräften darunter – Heer, Marine, Luftwaffe und Marine Corps. Nach den damals geltenden Regularien war es eigentlich am Ministerium, über eine Zusammenarbeit zwischen Militär und einem bestimmten Studio oder einem unabhängigen Filmproduzenten zu entscheiden. Regelmäßig waren es aber die Teilstreitkräfte, die aufgrund besonderer Beziehungen zu den Filmemachern oder aufgrund eines Eigeninteresses an bestimmten Filmen die eigentlichen Entscheidungsträger waren und das Verteidigungsministerium vor sich hertrieben. Ob das Militär einen Film unterstützte (oder nicht), war deshalb häufig das Ergebnis einer jeweils individuellen Melange, die meist sowohl aus übergeordneten Regierungs- beziehungsweise Staatsinteressen als auch aus einem gewissen militärischen Eigeninteresse bestand, das nicht selten auch von den Partikularinteressen einzelner Teilstreitkräfte geprägt war. Ferner sei noch ein kurzer methodisch-theoretischer Hinweis gestattet. Meine Ausführungen stehen auf dem Fundament der Neuen Kulturgeschichte, präziser:
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der Kulturgeschichte des Politischen.3 Es ist also eine konstruktivistische Sicht auf die Welt, mit der meine Perspektive einhergeht; eine, die seit Erscheinen des Buches Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit der Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann4 in den Geistes- und Sozialwissenschaften einen enormen Aufschwung erlebt hat. Darin machen die beiden Autoren den Grundsatz stark, dass gesellschaftliche Ordnung und damit Wirklichkeit „einzig und allein (...) ein Produkt menschlichen Tuns“5 ist. Folgerichtig bin ich deshalb nicht daran interessiert, wie der Zweite Weltkrieg ‚wirklich gewesen‘ ist, um das berühmte Diktum Rankes zu bemühen, sondern frage danach, wie ihm mittels gesellschaftlich erschaffener Sinnproduktion und Sinn(re-)produktion eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wurde. Diese Herangehensweise kombiniere ich mit jenem popular-culture-Ansatz, der ganz in der Tradition der Überlegungen von Antonio Gramsci und seines Hegemonie-Konzeptes steht.6 Demzufolge sind Filme ein entscheidender Faktor bei der Konstruktion von Wirklichkeit, ebenso wie Literatur, Comics, Lieder, Bilder und Videospiele. Über und in popular culture sowie während deren Herstellung konkurrieren verschiedene Positionen und Akteure innerhalb einer Gesellschaft miteinander und konstituieren in einem Aushandlungsprozess – in dem nicht zuletzt Machtbeziehungen eine wichtige Rolle spielen – das, was wirklich und wahr und richtig ist. Erst diese kulturwissenschaftliche Perspektive vermag eine umfassende Analyse der Entstehung des Good War zu leisten, ohne in moralisch motivierte Vorfestlegungen zu verfallen. Nur so kann hinter das geblickt werden, was sonst als selbstverständlich erscheint; nur so eröffnet sich eine Welt, in der die Historizität des Good-War-Konstrukts ebenso erkennbar wird wie die Auswirkungen, die dieses bis in die Gegenwart hat und in der klar wird, wie sehr Erinnerungskulturen durch verschiedene Formen von Geschichtspolitik geprägt werden – wenn auch oft über Umwege.
Wie? Der militärische Einfluss auf Hollywood-Filme: Alltag The Longest Day ist eines der vielleicht eindringlichsten Beispiele dafür, wie verschlungen diese Umwege sein können, wie sehr aus einer anfangs vermeintlich unspektakulären gemeinsamen Filmproduktion von Hollywood und Pentagon 3
4 5 6
Vgl. dazu zum Einstieg Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt am Main 2001; Achim Landwehr: Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71–117; Barbara Stollberg-Rillinger: Einleitung: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: dies. (Hrsg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Zeitschrift für Historische Forschung, Vierteljahresschrift zur Erforschung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Beiheft 35, Berlin 2005, S. 9–24. Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1971 (engl. Original: 1966). Ebd., S. 55. Vgl. dazu zum Einstieg John Storey: An Introductory Guide to Cultural Theory and Popular Culture, Athens 1993.
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etwas viel Größeres und Bedeutungsschweres erwuchs. Der Film, der im Deutschen Der Längste Tag heißt und in Westdeutschland ebenso wie in den USA 1962 in die Kinos kam, erzählt die Geschichte der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944. Basierend auf dem gleichnamigen Sachbuch von Cornelius Ryan von 1959,7 mit einem internationalen Staraufgebot besetzt und einer inzwischen legendären Filmmusik untermalt, schildert er die Ereignisse des Landungstages aus der Sicht von Protagonisten auf beiden Seiten der normannischen Heckenlandschaft. Die Art und Weise, wie der Streifen diese Geschehnisse schildert, lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Zweite Weltkrieg aus amerikanischer Perspektive ein guter Krieg war. Ich kann hier nicht auf alle Einzelheiten dazu eingehen. Aber um den Good-War-Charakter des Films zu verdeutlichen, sei kurz dessen Ende beschrieben und analysiert, das exemplarisch für die Geisteshaltung der Produktion ist. Die letzten Bewegtbilder des Films sind jene von US-General Norman Cota (Robert Mitchum), dem stellvertretenden Kommandeur der 29. US-Infanteriedivision. Im Film hatte er seine Männer trotz des heftigen Widerstandes auf Omaha Beach, einem von den Alliierten so genannten Küstenabschnitt im Landungsgebiet, angetrieben. Er war zwischen ihnen, die sich im mörderischen Feuer ängstlich am Boden kauerten, aufrecht gegangen. Cota verkörpert neben US-Colonel Benjamin Vandervoort (John Wayne) in The Longest Day den Idealtypus des unerschrockenen amerikanischen Offiziers, der von vorne führt und sich auch durch Rückschläge nicht davon abbringen lässt, seine Mission zu erfüllen. Die letzten Aufnahmen des Streifens zeigen Cota nun, wie er trotz der hohen Verluste auf Omaha Beach frohen Mutes mit seinen Truppen landeinwärts zieht: Cota steht am Rand einer improvisierten Straße und blickt sich um. Massen an Menschen und Material so weit das Auge reicht. Diesen Blick fängt die Kamera von einer weit überhöhten Position aus ein. Der General winkt einen Jeep zu sich herüber. Er atmet ein. Dann wieder aus. Da merkt er, dass seine Zigarre erloschen ist. Den ganzen Angriff über hatte er darauf herumgekaut. Er klopft seine Taschen ab, findet eine neue. Cota setzt ein Bein in den Jeep, kramt nach einem Feuerzeug und lässt sich schließlich in den Beifahrersitz sinken: „Okay, run me up the hill, son!“, sagt er zu dem jugendlichen Fahrer. Es ist der einzige Satz in dieser letzten Szene des Films. Der Jeep setzt sich in Bewegung. Er schiebt sich den Hügel hinauf. Und Cota zündet sich seine frische Zigarre an. Um den Einfluss des Militärs auf die Entstehung des Good-War-Bildes zu zeigen, eignet sich der Streifen in besonderer Weise, weil er eigentlich gerade keine Good-War-Botschaft transportieren und auch ganz anders enden sollte. Nach dem Willen des Produzenten des Streifens, eines Mannes namens Darryl F. Zanuck, sollte die Aussage des Films zur ‚Natur‘ des Krieges dem Good-WarBild diametral entgegenstehen. In einem sehr frühen Memo zur Ausrichtung des Streifens hatte Zanuck an seine Mitarbeiter geschrieben: „If our picture is going to 7
Cornelius Ryan: Der Längste Tag. Normandie: 6. Juni 1944, Klagenfurt 1997 (engl. Original: 1959).
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say anything, it must say that any war and all wars are useless, idiotic, and nothing is gained by either the winner or the loser.“8 Und es war eben das amerikanische Militär, das maßgeblich mitverantwortlich dafür war, dass dieses Geschichtsbild sich während der Entstehung des Films so grundlegend wandelte. Denn um seinen Film zu realisieren, war Zanuck – wie so viele Filmemacher vor und auch nach ihm – auf die Hilfe der US-Streitkräfte angewiesen. Zanuck benötigte Soldaten und Material, um seinen Film erstens überhaupt drehen und zweitens, um diesen mit einem Hauch von ‚Authentizität’ umgeben zu können. Und unter anderem hatte sich das Militär im Falle von The Longest Day am ursprünglich geplanten Ende des Films gestört, das (zunächst) dem eigentlichen Plan Zanucks folgte, jede Art von Krieg zu verdammen. Nach den ersten Entwürfen des Drehbuchs für den Film sollte der Schluss folgendermaßen aussehen: „As the truck [of General Cota; S.H.] moves away, the camera pulls back, revealing a lone GI propped up on the sand, leaning back awkwardly against the wall of the cliffs. His uniform is half torn off and the only piece of equipment he seems to posses is a rifle with the barrel broken and twisted. He stares out at the surf, but he does not seem to see anything. He is sobbing quietly, tears running down his cheeks. Almost without movement, he picks up a stone and tosses it into the water – then he picks up another, and another, and another... [sic!; S.H.]“9
Diese Einstellung war ganz im Sinne Zanucks und dessen Absicht, eine The Good War herausfordernde Interpretation des Zweiten Weltkrieges im Film dominieren zu lassen. Der Verweis auf die heruntergerissene Uniform des GIs, mehr aber noch, jener auf das zerstörte Gewehr des Mannes, war eine stumme, aber umso herausragendere Kritik an der Vorstellung, Krieg und Gewalt hätten eine gute, eine sinnhafte Seite. Stattdessen planten die Filmemacher um Zanuck, die zerstörerischen Züge des Tötens und Sterbens in den Vordergrund zu rücken, personalisiert über die schlechten Kriegserfahrungen eines amerikanischen Soldaten. Mit anderen Worten: Statt einen US-General in einem imaginierten Sonnenuntergang und damit dem Sieg ‚entgegenreiten‘ zu lassen, wollte Zanuck den Streifen eigentlich mit einem desillusionierten Ausblick enden lassen. Soweit der Plan. An dieser Idee jedoch hatten die Streitkräfte im Laufe der Produktion massive Kritik geübt. Auch hier muss ich einschränken: Ich kann nicht auf alle Einzelheiten des Produktionsprozesses eingehen. Aber die entscheidenden Sätze aus einem Brief der Streitkräfte an Zanuck zum Zuschnitt des Endes möchte ich doch in Gänze zitieren. Sie lauten:
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Memorandum from D.F.Z. – „The Longest Day“ von Darryl F. Zanuck vom 9.1.1961, in: Suid Collection, Box 17, Hefter Longest Day, Special Collections, Georgetown University Library. Drehbuch The Longest Day, Screenplay by Cornelius Ryan vom 5.4.1961, S. 303 (Absätze und Auslassung am Ende im Original, S.H.), in: Suid Collection, Box 17, Hefter Longest Day, Special Collections, Georgetown University Library.
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„Request that the [original planned; S.H.] ending be reworked to avoid the present note of the utter destruction of everything and that we didn’t know what we were fighting for. Consideration might be given to following the ending of the book which ends on the note of the fall of the Third Reich.“10
Indem die Streitkräfte diese Szene auf die Streichliste setzten und im selben Atemzug einen Vorschlag zur Neuformulierung des Endes unterbreiteten, drangen sie darauf, dass eine den Good War konterkarierende Szene aus dem Drehbuch gestrichen werde, und fügten dafür gleichsam eine solche ein, die diese Interpretation stützt. Mit der Forderung, nicht die Zerstörungen des Krieges in den Vordergrund zu stellen, sondern zu betonen, die Gewalt am Landungstag habe einen Sinn gehabt, weil sie nämlich das Ende Nazi-Deutschlands herbeigeführt habe, zielte das Militär auf nichts weniger als die Unterstützung eines Kernelements des Good War ab. Wie der fertige Streifen, der schließlich Millionen von Zuschauern erreichte und bis heute als einer der Klassiker des Kriegsfilmgenres gilt, zeigt, war die Intervention des Militärs erfolgreich. Im Kino – wie auch in den veröffentlichten Video-, DVD-, und Blue-Ray-Versionen – endet der Film eben nicht etwa mit einem stummen und desillusionierten GI, sondern mit dem siegessicheren Norman Cota. Ein Einzelfall? Nein. Geschichten wie diese lassen sich zu Dutzenden über die Entstehung von Hollywood-Filmen erzählen, deren Handlung in einem Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg steht. The Longest Day ist tatsächlich nur ein Beispiel unter vielen; sehr vielen. Das Militär und die Filmindustrie arbeiteten vor allem in den langen 1950er-Jahren bei der Produktion von Kriegsfilmen intensiv zusammen. Hatte es schon während des Zweiten Weltkrieges eine enge Kooperation zwischen diesen ungleichen Partnern gegeben, so war der nach 1945 sehr schnell aufziehende Kalte Krieg eine wesentliche Bedingung dafür, dass diese Kooperation auch nach dem Sieg über Nazi-Deutschland und Japan fortgesetzt wurde. Immer wieder gelang es den Streitkräften dabei, die Good-War-Anlagen, die – und das ist wichtig! – in verschiedensten Filmen über den Zweiten Weltkrieg von den Regisseuren und Drehbuchautoren meist schon angelegt waren, noch weiter zu stärken. Konkurrierende oder gegenläufige Ansätze dagegen wurden zurückgedrängt – mit dem Ergebnis, dass das Geschichtsbild, das solche von einem militärisch-filmischen Komplex produzierten Filme vermitteln, zum einen maßgeblich vom Militär beeinflusst wurde und zum anderen eben fast immer in Richtung der Interpretation des Zweiten Weltkrieges als The Good War läuft. Bei The Best Years of Our Lives (1946) beispielsweise störten sich die Streitkräfte an der ausführlichen Darstellung der Reintegrationsschwierigkeiten, denen sich viele GIs nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg ausgesetzt sahen. Statt ‚nur‘ die Geschichten von drei Problem-Soldaten zu erzählen, so forderten die Verantwortlichen damals dem Studio gegenüber, solle doch auch noch mindestens ein Protagonist in den Film eingearbeitet werden, der sich ohne Schwierigkeiten im Nachkriegs-Amerika zurechtfindet. Streifen wie The Caine Mutiny (1954) oder The 10 Ebd.
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Naked and the Dead (1958) hätte das Pentagon am liebsten ganz verhindert, weil sich deren Erzählungen vom und über den Zweiten Weltkrieg in vielen Teilen überhaupt nicht mit dem Good-War-Motiv decken. Einer der zentralen Charaktere von The Naked and the Dead tötet einen japanischen Kriegsgefangenen – und ist bereit, zahlreiche andere kaltblütig zu erschießen, wenn ihn nicht ein junger Offizier davon abhalten würde; ein Mann, den er schließlich in einen japanischen Hinterhalt laufen lässt. The Caine Mutiny erzählt die Geschichte eines verrückt gewordenen Schiffskommandanten, gegen den die Besatzung schließlich meutert, was zum Prozess vor einem Kriegsgericht führt. Und wenn es den Streitkräften auch nicht gelang, solche Filme gänzlich zu verhindern, so gelang es ihnen doch, die Good-War-Facetten, die sie alle auch transportieren, deutlich zu stärken, sodass nicht nur The Best Years of Our Lives oder The Naked and the Dead im Kino Geschichten aus einem besseren Krieg erzählen, als das bei ihren jeweiligen Romanvorlagen der Fall ist.11 Die Studios arbeiteten so eng mit dem Militär zusammen und ließen sich von diesem – allerdings nur selten widerstandslos – Änderungen in die Drehbücher schreiben, weil Hollywood auf die militärische Unterstützung bei der Herstellung der Filme angewiesen war. Ohne die Bereitstellung von Panzern, Flugzeugen, Schiffen und militärischen Statisten durch die Streitkräfte hätten die Studios eine Vielzahl von Filmen schlichtweg nicht finanzieren können. Das Militär auf der anderen Seite verfolgte ebenfalls bestimmte Interessen; solche, die uns zur Frage nach dem Warum? bringen.
Warum? Nationales Sicherheitsdenken im Kalten Krieg: das eine Argument Im Kern beschreibt ein Begriffspaar die Motivation des Militärs für die Zusammenarbeit mit den Studios im Speziellen; ebenso wie diese zwei Worte das Interesse der Streitkräfte am Bild der amerikanischen Intervention in den Zweiten Weltkrieg als The Good War im Allgemeinen beschreiben: national defense. Beispielhaft sei hier aus der Anlage zu der militärischen Dienstanweisung 5122.3 aus dem Jahr 1954 zitiert, die für die meiste Zeit der langen 1950er-Jahre in Kraft war und das Mit- und Gegeneinander der militärisch-filmischen Zusammenarbeit regelte. Dort heißt es: „Motion pictures are considered an excellent media for sustaining public understanding of the Department of Defense. Official cooperation will be considered when: (...) c. It is believed the finished film: 1) Benefits the Department of Defense and is in the best interest of national defense and the public good.“12
11 Wem diese Filme nichts sagen, der möge nicht verzagen. Sie sind vielen Europäern unbekannt. Für die US-Kultur aber haben sie eine herausragende Bedeutung. Sie gelten dort bis heute als wirkmächtige Klassiker. 12 Policy for extending Cooperation of the Department of Defense on Commercial Production of Motion Pictures, including those for Television, S. 1 (Anlage zu Department of Defense In-
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Fast wortgleich hatten auch frühere sowie spätere militärische Richtlinien die Wendung national defense an diese zentrale Stelle der Rechtfertigung und Begründung für die Unterstützung Hollywoods gesetzt. Das Muster war dabei immer dasselbe: Ausgehend von dem Glauben an die Wirkmacht von Filmen behauptete man dort, die Unterstützung der Filmindustrie bei der Produktion von Kriegsfilmen sei wichtig für die Verteidigung der USA. Mal groß, mal klein geschrieben; mal in eine Wortgruppe oder einen Satz eingebettet, mal allein stehend war national defense die wesentliche Begründung für die Existenz des militärischfilmischen Komplexes. 13 Dass freilich das Militär definieren würde, welche Filme – und damit: welches Geschichtsbild – im besten Interesse des Verteidigungsministeriums und der nationalen Sicherheit waren, braucht kaum ausführlich dargelegt zu werden. So fand sich bezeichnenderweise in der Dienstanweisung 5122.3 ein Absatz, der eine zu erfüllende Voraussetzung dafür definierte, dass eine Produktion überhaupt die Aussicht auf Unterstützung hatte. Er ließ keinen Zweifel daran, wessen Weltdeutung, ergo: wessen Geschichtsbild, eventuell zu unterstützende Filme widerspiegeln mussten: „Official cooperation will be considered when (...) [it; S.H.] is believed the finished film (...) [portrays; S.H.] accurately and authentically military operations, historical incidents, persons or places, depicting a true interpretation of military life and/or has educational and public relations values from a Department of Defense viewpoint.“14
Die Sprachregelung „from a Department of Defense viewpoint“ bezieht sich explizit auf jenen militärischen Alleinvertretungsanspruch von Wahrheit und Wirklichkeit, den das Pentagon auch in der Praxis immer wieder für sich reklamierte. Indem die Richtlinie auch historische Ereignisse in die Aufzählung jener Bereiche aufnahm, für die das Verteidigungsministerium vorgab, die einzig relevante Sicht auf die Wirklichkeit zu vertreten, wird einmal mehr der Wille erkennbar, innerhalb eines Aushandlungsprozesses eine bestimmte Sicht auf Geschichte gegen andere Deutungen durchzusetzen; Deutungen, deren Existenz man ex negativo so immerhin einräumte. Was mit diesen anderen Geschichtsbildern zu geschehen hatte, daraus machte die Anweisung ebenfalls keinen Hehl. So heißt es in dem Text weiter: „o. The Producing company or individual agrees to make changes necessary to correct scenes which violate policy or contain information detrimental to the best interest
struction, Number 5122.3 vom 17. Februar 1954), abgedruckt in: David H. Culbert, Lawrence H. Suid (Hrsg.): Film and Propaganda in America. A Documentary History, Bd. 4, New York 1991, S. 208–214. 13 Vgl. beispielhaft Standard Operating Directive for Cooperation with Motion Picture Companies, Department of the Air Force, undatiert, nach Angaben von Lawrence Suid 1947, abgedruckt in: Culbert, Suid (Hrsg.): Film and Propaganda in America, 1991, S. 189–192. 14 Policy for extending Cooperation of the Department of Defense on Commercial Production of Motion Pictures, including those for Television, S. 1 (Anlage zu Department of Defense Instruction, Number 5122.3 vom 17.2.1954).
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of the Department of Defense and that these portions of the completed picture will not be exhibited.“15 Wie umfassend das Militär die Good-War-Filme in den Dienst der nationalen Verteidigung stellte und wie diese genau zu deren Stärkung beitragen sollten, machen mehrere Texte und Dokumente aus dem Umfeld dieser militärinternen Instruktionen klar, die wiederum auf ihnen aufbauten. Dort wurde die knappe und bürokratische Ausdrucksweise von Dienstanweisungen, wie eben jener mit der Nummer 5122.3, mit Blick auf eine breitere Leserschaft umformuliert, ohne dass dabei die Kernaussage verloren gegangen wäre. Gleichzeitig führten solche Texte jene Gedankengänge aus, die den Richtlinien zugrunde lagen. Ein Beitrag aus einem militäreigenen Magazin vom September 1952 soll uns als ein Beispiel für derartiges Material dienen. Im Army Information Digest war unter dem Titel „The Story Behind Army Feature Films“16 ein langer Beitrag zu den Hilfen der Armee für die Filmemacher erschienen. Darin beschrieb der Autor, ein Offizier aus der für Filme verantwortlichen Abteilung der Armee, die Kooperationspraktiken ausführlich – wobei er verschwieg, wie weit das Militär inhaltlich in die Drehbücher eingriff – und benannte ganz offen den Zweck dieser Zusammenarbeit. „For millions of Americans, motion pictures provide a vivid, close-up view of the Army“, 17 schrieb er und formulierte so den militärischen Glauben an die Wirkmacht von Bewegtbildern. Ein paar Sätze später bekräftigte er diese Annahme erneut und verband sie mit dem Hinweis darauf, wie sehr das Kino die grundlegende Vorstellung der Menschen von Krieg und Gewalt präge: „From such pictures (...), the average American gains many of his concepts of war.“18 Und wie in den Dienstvorschriften war es von diesen Annahmen aus nur ein kleiner Schritt, Filme in den Dienst der nationalen Verteidigung zu stellen. Am Ende des Textes verwies der Offizier ausdrücklich auf den Wert der Filme für die Sicherheitspolitik des Landes, auch wenn die Wendung national defense diesmal unverwendet blieb. Stattdessen lobte er den Beitrag der Filmindustrie „in times of national emergency (...) [to; S.H.] build morale and disseminated essential information through the public“.19 Er schloss: „And through the co-operation of the Army and the motion picture industry an important contribution is being made toward wider understanding of our Armed Forces mission in defense of freedom.“20 Für eine breite(re) Öffentlichkeit geschrieben, rechtfertigten diese Zeilen den militärisch-filmischen Komplex also nach dem gleichen Muster wie die militärinternen Vorschriften. Die Wendung „in defense of freedom“ war ein popularisier15 Ebd. 16 James J. Altieri: The Story Behind Army Feature Films, in: Army Information Digest (1952), S. 37–41, in: David H. Culbert (Hrsg): Film and Propaganda in America. A Documentary History, Bd. 5: Microfiche supplement, 1939–1979, New York 1993, Mikrofichedokument M517. 17 Ebd., S. 37. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 41. 20 Ebd.
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tes Synonym für national defense; das Schreiben von „concepts of war“ ein Beleg für den Glauben des Militärs, Filme könnten grundsätzliche Werte zu Krieg und Gewalt beeinflussen. Als sich das Militär Anfang der 1960er-Jahre auch von Seiten des Kongresses einem zunehmenden Druck wegen der Unterstützung Hollywoods ausgesetzt sah, entstanden weitere Dokumente, die von der Verschränkung von national defense und Good War aus der Perspektive der Streitkräfte zeugen; und auf eines dieser Schreiben will ich noch kurz hinweisen – auch, weil es den Bogen zurück zu The Longest Day schlägt. Um es verstehen zu können, muss man wissen, dass es während der Produktion von The Longest Day zu erheblichen Misstönen zwischen dem Militär und Produzent Zanuck gekommen war. Der Grund dafür war eben die Frage, wie viel Good War der Film transportieren sollte. Neben dem Schluss ging es vor allem um eine Szene, in der ein GI mehrere sich ergebende deutsche Soldaten erschießt. Ohne auf die Details dazu einzugehen, ist das Ergebnis des Streits um diesen Film wesentlich: Die Stimmung zwischen Zanuck und dem Militär war nachhaltig angespannt und bald ging es in einer in Teilen öffentlich geführten Debatte nicht mehr nur um die Frage, ob The Longest Day eigentlich militärische Unterstützung verdient hatte, sondern auch grundsätzlich um die Berechtigung der Kooperation von Streitkräften und Filmemachern. Diese Debatte rief auch Kongressmitglieder auf den Plan. Verlangten Abgeordnete oder Senatoren in diesem Zusammenhang eine Rechtfertigung für das militärische Bündnis mit den Studios, versandte das Militär ein Schreiben, dessen Inhalt im Wesentlichen stets derselbe war. Er lässt sich exemplarisch dem Brief des Verteidigungsministeriums an den republikanischen Senator von Connecticut, Prescott Bush, aus dem Jahr 1961 entnehmen. Prescott Bush – Vater und Großvater der späteren Präsidenten George H. W. Bush und George W. Bush – hatte in der aufgeheizten Stimmung im Umfeld der Dreharbeiten zu The Longest Day vom Verteidigungsministerium Aufklärung darüber verlangt, warum US-Truppen für die Herstellung von Zanucks Film bereitgestellt worden waren. „The Department of Defense has a long-standing policy for cooperation with the motion picture and television industries“, schrieben die Verantwortlichen aus der Filmabteilung des Pentagons dem Senator zurück.21 Dann folgte die bekannte Rede vom Wert dieser Zusammenarbeit für die Verteidigung Amerikas, in die der Text schließlich auch den Good-War-Charakter von The Longest Day und dessen Bedeutung für die geostrategische Lage der USA Anfang der 1960er-Jahre einbezog: „The decision to cooperate on The Longest Day, a historical re-enactment of the Normandy invasion, was based on the fact that it is a story of great American, British and French heroism and would bring to the screen one of the outstanding historical events of our time. (...) We hope that the results will honor the millions of men of our Armed Forces who served in 21 Brief von Orville S. Splitt an Prescott Bush vom 2.11.1961, in: Suid Collection, Box 17, Hefter Longest Day 1961 Sept–Dec 1962, Paar Incident, Special Collections, Georgetown University Library.
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Sebastian Haak the European theater during World War II and give inspiration to the Americans who, in uniform or civilian life, face the challenges of today.“22
Diese Sätze bündeln, wie nur wenige andere, die am nationalen Verteidigungsinteresse ausgerichtete Motivation des Militärs zur Unterstützung von Good-WarFilmen. Ausgehend von der Feststellung, der Zweite Weltkrieg sei eine der bedeutendsten, freilich positiven Perioden der amerikanischen Geschichte gewesen, verband und verschränkte das Schreiben diese Good-War-Sicht auf den Zweiten Weltkrieg mit einem Impetus, nach dem die Erinnerung an eine vergangene Schlacht für die Gegenwart nutzbar gemacht werden sollte. Und das sowohl für den militärischen als auch den zivilen Bereich der Gesellschaft. Schlaglichtartig machen diese Zeilen damit sichtbar, dass es nicht ein abstraktes nationales Sicherheitsinteresse war, das die Streitkräfte so sensibel für das Bild vom Zweiten Weltkrieg machte, sondern eben der Kalte Krieg, der für die Verbindung zwischen Good War und national defense von entscheidender Bedeutung war. Dieser Zusammenhang lässt sich in dem Schreiben mit den Händen greifen: Die weltpolitischen Ereignisse jener Tage, auf die dort verwiesen wird, dürften nämlich vor allem die Berlin-Krisen gewesen sein. Das Schreiben an Bush ist auf den 2. November 1961 datiert. Es entstand also, nur Tage nachdem die Welt den Atem angehalten hatte, als am Checkpoint Charlie in Berlin die seit Langem schwelende Berlin-Krise (einmal mehr) zu eskalieren drohte.23 Amerikanische und sowjetische Panzer hatten sich Ende Oktober 1961 nur wenige Meter voneinander entfernt gefechtsbereit gegenübergestanden. Es war ein Höhepunkt im monatelangen Ringen um Berlin, das in den Augen vieler Zeitgenossen jederzeit in einen heißen Krieg umzuschlagen drohte. Und es war eben diese aufgeheizte Atmosphäre, die ihren Niederschlag in jenem Brief fand, als das Militär Good-WarFilme als Filter und Handlungsanleitung für die Wahrnehmung und Bewältigung der Herausforderungen der Gegenwart beschwor. Der Army-Information-Digest-Beitrag und das Schreiben des Verteidigungsministeriums an Bush liefern als Ausformulierung der national defenseMotivation aus den militärischen Dienstanweisungen eine Interpretation des Zusammenhangs zwischen Good War und nationaler Verteidigung, so, wie die Zeitgenossen ihn verstanden. Darin liegt ihr besonderer Wert. Wo in den militärischen Instruktionen die Verbindung zwischen Good War und national defense nur knapp skizziert wird und sich deshalb einiger historisierender Interpretationsraum ergibt, engen diese zeitgenössischen Ausdeutungen die Interpretationsbreite ein und helfen zu erkennen, wie grundlegend und umfassend das Militär einen Zusammenhang zwischen Good War und Kaltem Krieg sah. Als historisches Material mit- und gegeneinander gelesen, zeugen die Dienstvorschriften und die sie interpretierenden zeitgenössischen Texte damit vom Willen des Militärs, den Good War und entsprechend auch die mit ihm in engem Zusammenhang stehende Erinnerungskultur als Waffe im Kalten Krieg zu nutzen, 22 Ebd. 23 Vgl. Lawrence Freedman: Kennedy’s Wars. Berlin, Cuba, Laos, and Vietnam, New York 2000.
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weil die Streitkräfte glaubten, damit die Verteidigungsfähigkeit der USA stärken zu können. Und sie zeugen nicht nur vom abstrakten Willen der Streitkräfte, dies zu tun, sondern auch von all den Aktivitäten, die das Militär entfaltete, um diesem Willen Taten folgen zu lassen. Im Einzelnen und dennoch zugleich grundsätzlich zu ergründen, ob es sich bei dem Argumentationstopos national defense nun um ein ‚objektiv’ nachvollziehbares Bedrohungsmotiv vor dem Hintergrund des Kalten Krieges handelte, um ein ‚nur’ subjektives Empfinden der militärisch Verantwortlichen oder gar um ein vorgeschobenes Rechtfertigungsmuster des Militärs und des größeren Sicherheitsapparates, mit dem anderweitige Interessen verschleiert und gleichzeitig legitimiert werden sollten, das zu tun ist (abschließend), so verlockend solche Fragen auch sein mögen, nicht nur mühselig. Es ist nach einem kulturhistorischen Verständnis auch gar nicht zielführend. Nicht aus Bequemlichkeit heraus. Nicht von dem Argument motiviert, dass es wohl niemals nur das eine oder das andere, sondern immer eine Mischung aus allen genannten Möglichkeiten gewesen sein dürfte. Vielmehr ist es für eine kulturhistorische Perspektive, die vor allem nach dem Wie? fragt, maßgeblich, dass die national-defense-Rechtfertigung ein zentraler Bestandteil des militärisch-filmischen Komplexes war, an die seine Existenz gebunden war. Dieser Topos war für die Existenz des militärisch-filmischen Komplexes entscheidend.
Schlussbemerkungen: Geschichtspolitik als militärisches Mittel Betrieb das Militär mit seinem Einfluss auf Hollywood nun Geschichtspolitik und beeinflusste so das Entstehen der amerikanischen Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg als The Good War? Ja, wobei eine solche Feststellung die zahlreichen Wechselwirkungen keinesfalls verdecken darf, die jenseits einer solchen knappen Antwort liegen und die für das Werden der positiven Interpretation des Zweiten Weltkrieges im US-Kontext ebenfalls zentral sind. Denn freilich ist erstens unbestritten, dass die Handlungen des Militärs einer bestimmten Politik folgten, die ihre Ausformulierung in Dienstanweisungen und darauf aufbauenden Texten fand. Die Beispiele, die ich oben genannt habe, zeigen genau das. Zweitens scheint es mir trotz aller Debatten unter anderem in der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionsforschung zur Wirkung von Medien auf Menschen nicht zu weit hergeholt, zu behaupten, dass die Streitkräfte über den Einfluss auf kulturell wie gesellschaftlich wirkmächtige HollywoodStreifen einen entscheidenden Anteil daran hatten, die amerikanische Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg mitzuprägen und sie nachhaltig in Richtung der Good-War-Interpretation zu verschieben. Gleichzeitig dürfen diese beiden Feststellungen aber nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr es den Streitkräften beim militärischen Einfluss auf das GoodWar-Bild nicht allein um dieses an sich – also um die Gestalt der amerikanischen Erinnerungskultur per se – ging, sondern wie sehr die zugrunde liegende Geschichtspolitik auf etwas ganz anderes abzielte, auf die nationale Sicherheit näm-
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lich. So sehr es dem Militär – wie auch anderen staatlichen Institutionen – schon aus Gründen der Traditionspflege wichtig war, welches Bild Hollywood in seinen Filmen von Heer, Luftwaffe, Marine und Marine Corps zeichnete, so sehr waren die entsprechenden Vorstellungen doch stets auch in die amerikanische Tagespolitik sowie in die großen geo-strategischen Fragen der langen Dekade nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingebettet. Ein gutes Image der einzelnen Teilstreitkräfte war nicht nur aus sich heraus wertvoll, weil es sie in der Erinnerung hell erstrahlen ließ. Es war vor allem wichtig, weil es bei der Werbung von Rekruten sowie beim (innermilitärischen) Kampf um Steuergelder half und besonders auch als Instrument im Kalten Krieg diente, mit dessen Hilfe die US-Bevölkerung im Kampf gegen den Kommunismus mobilisiert werden sollte. Eben weil Erinnerung stets auch eine tagesaktuelle Komponente besaß, wurde eine der großen strategischen Debatten der Nachkriegsjahre auch im Kino geführt: Als die USA vor der Entscheidung standen, ob sie ihre strategische Verteidigungspolitik auf Langstreckenbomber – und damit die Luftwaffe – oder auf Flugzeugträger – und damit die Marine – stützen sollten, konkurrierten beide Streitkräfteteile um die öffentliche Gunst, indem sie solche Good-War-Filme protegierten, in denen jeweils sie eine besonders prominente Rolle spielten. Die Luftwaffe unterstützte deshalb Twelve O’Clock High! (1949) und die Marine Task Force (1949). Und in einem viel grundsätzlicheren, viel größeren Rahmen geschah die Nutzung der Good-War-Interpretation des Zweiten Weltkrieges im Kalten Krieg, um in den USA eine Geisteshaltung zu schaffen, die vom Widerstandswillen gegen den kommunistischen Teil der Welt geprägt war. In den Worten des PazifikVeterans Robert Lekachman, der in einem Oral-History-Interview mit Studs Terkel laut über die Bedeutung der Good-War-Erinnerung im Kalten Krieg nachdachte, als er sich selbst fragte, wie es der US-Regierung möglich war, nur fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges GIs nach Korea zu schicken, ohne dass es einen nationalen Aufschrei gab: „I think everybody still felt good about the war in ’47‚ ’48, ’49. One wonders: could Truman have unilaterally committed American troops to Korea unless there had been the lingering romance of the Second World War? I rather doubt it.“24 Anders ausgedrückt: Ja, das Militär betrieb eine Geschichtspolitik, in deren Folge es die amerikanische Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg beeinflusste. Aber es betrieb diese Politik nicht primär um der Erinnerungskultur willen, sondern mit Blick auf nationale Sicherheitsinteressen. Wann immer es also um den Zusammenhang zwischen Geschichtspolitik und Erinnerungskultur geht, scheint ein Blick auf etwaige weitere, vielleicht größere Zielstellungen einer solchen Politik ebenso geboten wie die Beachtung der zahlreichen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen, in einer Gesellschaft vorhandenen Geschichtsbildern. Denn – dieser Hinweis darf abschließend nicht fehlen – es waren neben dem militärischen Einfluss auf die Erinnerungskultur noch mindestens zwei weitere historisch-kulturell gebundene Faktoren, die dazu führten, dass sich in den USA 24 Interview mit Robert Lekachman, in: Terkel: „The Good War“, 1984, S. 66–68, hier S. 68.
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in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Vorstellung entwickeln konnte, der Zweite Weltkrieg sei der Good War der amerikanischen Geschichte gewesen: die Mannigfaltigkeit der amerikanischen Kriegserfahrungen und das Erbe des frontierMythos, das grundlegende Wertvorstellungen zu Krieg und Gewalt vermittelte. Aber das wären zwei andere Geschichten.
A K T U E L L E S F O R U M: ZUKUNFT DER ERINNERUNG
MULTIDIRECTIONAL OR MULTIDIMENSIONAL? THE FUTURE OF GERMAN MEMORY Bill Niven
Writing a contribution about the future of memory might appear to mean facing a problem. If it is hard enough to predict future events, how much harder must it be, then, to predict the shape that memory of the unpredictable will take? Yet when we speak of the future of memory, we invariably mean the memory not of events that will happen, but events that already have. We have a stake in the stability and continuity of memory of events, particularly catastrophic ones, that have already occurred. When people gather together, as they did on 27 January 2013 across the world, to remember the Holocaust, it is usually a forward-looking, as much as a retrospective occasion. Remembering the Holocaust comes with the plea, „We must not forget“. Through commemoration we reinvigorate and extend memory so that its future is assured, and with its future comes, we hope, the assurance that „it“, the Holocaust, „will never happen again“. Thus it is that memory no longer simply stores and recalls past events, but also comes to exercise influence over future events. Its purpose is to prevent (re)occurrence. Memory, at this political and cultural level, is as much about tomorrow, as it is about yesterday, or today. The future challenge for memory, then, on one level, is its sustainability. In the case of the Holocaust, this sustainability seems guaranteed. The cultural system of remembrance days, memorial sites, exhibitions and memorials is by now politically institutionalised and widespread, indeed global. The fear of a waning of memory of the Holocaust as a result of the passing of the remaining witnesses to the event seems exaggerated. If the never-ending stream of academic and even popular publications on memory is anything to go by, it is not just memory of the Holocaust which seems assured. We now have a number of hefty tomes informing us about the myriad sites around which the national memory of different countries clusters. And the Lieux de Mémoire projects focus now not just on national memory, but also on, for instance, the memory of the western world – medieval sites of memory, sites of memory of classical antiquity, sites of memory of Christianity – and on specific transnational memories (for instance, the recent project on German-Polish sites of memory). Yet this proliferation, indeed „hypertrophy“ of memory, to use Andreas Huyssen’s phrase, raises a number of serious questions for the future of memory, and memory studies. Why is it important, for instance, to identify as many of the ultimately innumerable sites of memory as possible? With a kind of bookkeeper’s zeal? Why do we need to be reminded of the enormity of our heritage? The tomes produced by Beck Verlag on the multifarious sites of memory have the feel and
Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 195–202
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look of elegant coffee-table books; they would grace any library. Looking at them another way, they have something elegiac, even valedictory about them, as if they were more about taking leave of memory. Or is that indeed what they are about? Is there a fear that our society is careering towards a cultural amnesia, so that all we can do is record what we used to remember before it is irretrievably forgotten? On this reading, the optimism expressed in the previous paragraph seems questionable. Who would have hit upon the idea, a hundred or even fifty years ago, of gathering together sites of memory under a book cover? Is it only when such sites begin to slip from cultural memory, being discarded like old coins that have lost their monetary value, that those of us who care feel the need to preserve them, at least in the form of a paper tribute? Do they herald the end of memory? Yet one could put another spin on this. Are the sites of memory projects not attempts to shore up our flagging historical consciousness, stoking the embers of memory into a healthy flame? Do they not seek to portray to us something we knew, but only intuitively? If this were the case, then a careful read-through of all the Beck volumes on sites of memory might serve as a kind of refresher course. Either way, the verdict on the state of memory is a rather critical one. Another gloomy interpretation is to understand the sites of memory projects as enormous attempts at memory manipulation. The choice of sites of memory in any given book is not arbitrary, but nor is it dictated solely by the objective desire to record those places or objects, real or imagined, that stand at the forefront of memory. To take only one example. In the certainly fascinating volume on Christian sites of memory edited by Christoph Markschies and Hubert Wolf, the section titled „central sites“ discusses, as one might expect, Bethlehem, Jerusalem, Constantinople, and Rome. Problems begin in the section headed „real sites of memory“. Here, chapters present a considerable number of German sites, or sites connected to German memory: for example Canossa, Dresden, Fulda, Cologne, Leipzig, Regensburg, with Montecassino, Taizé, Santiago de Compostela and Trient making up the non-German European tail. The selection, to put it mildly, is Germanocentric, although some German towns – such as Worms – might feel indignant about not getting a chapter. Would not the Nibelungenlied, a pagan-Christian amalgam of considerable influence into the present, and the Diet of Worms not have justified the inclusion of a chapter on Worms? It would be hard to identify all the factors which contribute to the admixture of motives and agendas, ranging from personal taste through to cultural nationalism, in any given „sites of memory“ project. And one should not be too cynical; the transnational projects, such as the German-Polish one, make a sterling contribution to international understanding and conciliation. Nevertheless, the future of memory studies must partly lie in critically investigating the sites of memory projects, which by now have mushroomed to an extent that surely cannot have been foreseen even by grand master Nora himself. For if it is a cause for concern that memory might be fading, it would be equally worrying if academics were to respond to this by generating mental maps, which, while purporting to chart the relevant foci of collective memory, actually only chart what appears relevant to the academics and other commentators concerned. What we end up with, then, is a
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vision of what some clever and influential people remember and want remembered, rather than a representative overview of what is remembered by the population as a whole. This vision, arguably, can take the form of a pedagogical exercise in „correct“ remembering. Martin Sabrow’s edited collection of the sites of memory of the GDR begins with a section „faces of power“, followed by „the culture of control“ („Herrschaftskultur“), „life in state socialism“, „small escapes“, „common borders“, and „withstanding and protesting“. Clearly, this is not a book, in the main at least, about remembering the GDR in other than dark colours. It is, perhaps, less a book about actual memory, and more one about how memory is to be framed post hoc. Which may be as it should be, but then we need to ask who defines „should“, and why it should be this way, and we also need to ask why it is that so many ex-GDR citizens do not think back to the GDR in terms of „power“ or „control“. Again, we need to ask just how representative of memory this particular „sites of memory“ project is. But, of course, how would one achieve a truly representative overview? By hiring a survey agency? If we asked people on the street what they remember when they think of Christianity, we would certainly get some of the answers provided in Markschies and Wolf’s edited collection. In addition, we might get „crusades“, „witch trials“, „pogroms“, „misogyny“, or „anti-homosexuality“, which either do not or only peripherally feature in the collection. Of course, one might argue that processes or moral attitudes are not normally seen as sites of memory, although there is no good reason why they should not be (and indeed „Inquisition“, to which one of the volume’s few more critical chapters is dedicated, is also a process). Nevertheless, Christian anti-Semitic or crusading iconography might be one such site in the accepted sense. While surveys also have their drawbacks, the point is they might produce a quite different set of „sites of memory“ to those proposed in the coffee-table books: sometimes more negative, sometimes more positive, and probably in both cases sometimes at odds with the lofty memory idealism of the academics. From the „sites of memory“ projects, it seems to me that two things can be deduced about attitudes to the future of memory, which are by no means contradictory: recognition of its gradual dissipation on the one hand, triggering the academy into the panicked production of memory panoramas; and a desire to shape memory on the other, rather than leaving its development to happenstance. A more benevolent interpretation might see in the projects simply a kind of epistemological climax to the celebration of memory which has so characterised the last decades, a kind of gala performance, a memorial to the richness of memory. But this self-celebration still betrays a fear of the precipice of amnesia down which memory might soon tumble. There is another important issue here. Regardless of whether we understand the sites of memory projects as objectively recording or programmatically laying down sediments of memory, are they really telling us anything about the interaction and relationship between the layers of sedimentation? If, to take an example, the average German citizen is, or is to be, a memory repository of sites of memory ranging from the Ancient World, the medieval period, Christianity, Europe, and
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West and East Germany, which sites will she or he retain in his or her memory, and in what way? And what of German „collective memory“? We would need to know more about the possible memory imprints of the sites of memory, and how these imprints overlap or conflict as memories jostle for position in individual and collective consciousness. How does, or should, German memory of Christianity, for instance, or of the medieval period, relate to German memory of the Holocaust – which is clearly so anchored in German consciousness that, so far, it seems, none has come up with the idea of a „sites of Holocaust memory“ project? Does it matter what kind of German I am, whether I am a man, a woman, whether I come from Dresden, or from Cologne? What role does generation play in the sedimentation of memory? Under which circumstances do certain memory sites dominate consciousness, while others retreat, and how do the tensions play out that are generated by multilayered sites with double or multiple pasts? One thinks, for instance, of the 9th of November, Buchenwald, or Wrocław? The current proliferation of sites of memory projects does not really answer these questions. Yet they seem to me vital, especially in relation to the question of the Holocaust, so central to European, indeed global memory. One wonders, for all that Holocaust memory sites seem well-known to many, why there is, as yet, no publication of comparably enormous size outlining these (although we do have a publication detailing the German sites of memory for the victims of National Socialism). There may be a concern about ethics: can we imagine a chapter on „hair“ or „shoes“? But other explanations suggest themselves: are the tomes on sites of memory associated with other parts of European and global history an expression of concern lest all other memories fade in the shadow of the Holocaust? Be that as it may, we know relatively little about how Holocaust memory „sits“ alongside other memories. Recently, the interconnections between memory of the Holocaust and the memory of (French) colonialism were examined by scholars Michael Rothberg and Max Silverman. Rothberg uses the term „multidirectional memory“, Silverman the phrase „palimpsestic memory“ to suggest the essentially fruitful nature of these interconnections. Rather than imagine memory as an essentially competitive, „zero-sum“ game, Rothberg particularly invites us to conceive of memories as bound up together in a mutually enhancing system, even where they appear to compete. There can be no doubt that this is an inspiring theory. It may also be correct, at least for the relationship between Holocaust and colonialism in France. But in most contexts it is more of an ideal, a noble piece of wishful thinking. Because Holocaust memory is so central to our culture – it would not be wrong to say it has become a memory master-narrative – other memories are constantly seeking to define or redefine themselves in relation to it, as indeed Rothberg recognises. But it is debatable whether this is fruitful interaction, so much as a questionable adaptation in a clamour for attention. Recently, the scholars Andreas Kelletat, Eva Hahn and Hans-Joachim Hahn used the term „Holocaustisation“ to describe a tendency in contemporary German memory whereby the process of the flight and expulsion of Germans at the end of World War Two is described increasingly in terms of a Holocaust in order to „upgrade“ it. The Hahns write of a
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new revisionism, with the expulsion of the Germans being moved alongside the Holocaust by defining both as comparable forms of ethnic cleansing, or of a „European aberration“. Only a few years ago, Jörg Friedrich triggered an intense debate by using vocabulary normally associated with the Holocaust (for example „Einsatzgruppen“ in reference to the bomber crews) in his portrayal of the Allied bombing campaign. There have long been attempts to play up the number of Geman victims (for instance of Sudeten Germans who died during expulsion, or of German civilians killed during the bombing of Dresden) in order to create a plausible basis for comparison with the Holocaust. Equally, there have been unseemly efforts to play down the number of Jewish victims of the Holocaust so that the difference in comparison to the dead of other catastrophes is reduced. „Upgrading“ an event so that it appears to approximate to the Holocaust, or „downgrading“ the Holocaust itself is a high price to pay for multidirectional memory. Nor does it help that the fundamental agreement that the Holocaust should stand in the centre of European memory is often accompanied by a rather over-protective concern lest other memories come to threaten this predominance; the „uniqueness“ mantra is deployed not just in defence of the idea that the Holocaust, as an historical event, is beyond comparison, but also to justify the Holocaust’s prime position in the hierarchy of memory. Unlike Rothberg, I cannot yet see that multidirectional memory in its more competitive aspect can nevertheless produce transcendent moments of solidarity or understanding between the competing memories, at least not in the examples just discussed. The very increase in „negative“ memories around the world – of terror, famine, genocide, ethnic cleansing, persecution of all kinds – is happening at the same time as the institutionalisation of Holocaust memory acquires global roots. Of course, in many cases memory of the Holocaust has acted as a catalyst to these other memories; that the Holocaust has sensitised us to other atrocities is undeniable. But because the Holocaust is perceived as the „defining“ genocide, indeed the defining atrocity of any kind, then groups committed to remembering other sufferings, injustices and genocides constantly fall prey to the temptation to frame these latter events, often defiantly, in terms which recall the Holocaust. Thus memories do „move“ in the direction of the Holocaust, trying to position themselves in orbit around Holocaust memory so as to be noticed, and, presumably, accepted. But this is unidirectional memory; there is little evidence of Holocaust memory evincing a similar desire to relate to other memories. The appropriation of the term „Holocaust“, „genocide“ or „annihilation“ to describe, for instance, what happened to Germans during the expulsions or the bombing war is problematic not just because of historical inaccuracy, it also serves to erode German guilt by placing Germans on a level with Jewish victims of Nazism: both appear as victims of „structural violence“. A different, nevertheless comparable case are the various museums to the victims of totalitarianism that have sprung up in recent times in Eastern Bloc countries or states that used to be part of the Soviet Union. Thus, Latvia’s Museum of Occupation in Riga seeks to provide information on what happened to Latvia and its people under two occupying totalitarian regimes from 1940 to 1991. It also aims to show how the „Latvian
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nation was led to the brink of physical and intellectual annihilation“. In Lithuania’s Museum of Genocide, too, there is a tendency to draw parallels between Nazism and Soviet communism: Latvians and Lithuanians are presented as having endured a regime-spanning experience of genocide, turning them into absolute victims and sidestepping issues of collaboration. One must therefore sound a note of caution. There is little that is positive about a „multidirectionality“ which involves self-exculpation and self-pity. How, then, should we remember the Holocaust in relation to other sufferings and injustices? How are the different memories to interact? Aleida Assmann has some interesting and important views on this question as it relates to Germany. She asserts that, at the national level, the norm of German memory is the Holocaust – the recognition and working-through of German guilt – while at other levels of memory (individual, family, social), normative principles do not apply, meaning relations between memories are not set in any normative relation to one another. Assmann insists, rightly, that we cannot bring the dynamics of memory to a halt by means of discourse rules and taboos; heterogeneous memories can exist side by side in social memory, and be contained on the national level in a normative framework. But she remains vague on the role memory of German suffering should play at the level of national memory. She uses the term „integrated“, but how exactly? Within the prescribed normative framework, presumably: that is, in a context in which the primacy of German guilt is clearly acknowledged, and in which memory of German suffering occupies a much less conspicuous position. But what does this mean, in practical commemorative terms? This memory model risks delegating the full and unfettered recollection of German suffering to what appear as „lower“ levels of memory – and indeed she uses the word „hierarchy“. Perhaps one could even say relegates. Attractive as this model at first appears, however, it runs the risk of precisely that discursive regulation that Assmann wishes to avoid. Is this a reasonable solution to the fraught coexistence of apparently contradictory memories of guilt and suffering, perpetration and victimhood? It is certainly a well-meaning one which clearly, and rightly, emphasises Germany’s need to retain the Holocaust at the centre of national memory. But we need to think more about how memory of German suffering might find a place in national memory, because it has every right to that place – any significant collective memory does – and indeed it is not self-evident that the space it occupies there must necessarily set it in exclusive relation to German guilt, either for the Holocaust, or for the more general war which was a sine qua non for flight and expulsion. This does not necessarily mean opening the door for relativism, revisionism or – perhaps worse – revanchism. It does not necessarily mean opening the door to a „Holocaustisation“ of memory of German suffering at national level. If my critique of multidirectional memory in the German context above sounded pessimistic, one can at least imagine a more positive scenario. After all, we are no longer living in the Cold War, where German suffering was ruthlessly instrumentalised in West and East Germany. Nor does the fact that portions of the (waning) expellee lobby behind the planned Berlin exhibition on flight and expulsion may indeed be aiming to challenge the „hegemony“ of Holocaust memory justify set-
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ting up fences around national memory to keep German suffering out, or pressing it into some kind of commemorative straitjacket. That the German government supports the idea of a „Visible Sign“ to flight and expulsion in Berlin surely indicates that it wishes to see memory of the process find its place at national level. Some of the debate around the exhibition has been entrenched, dogmatic and selfrighteous. Yet much of it has also been fruitful – as was the case with the debates that preceded the construction of the Holocaust memorial. A genuine discussion about whether or not the Holocaust and the flight and expulsion of Germans stand in other than a causal relation – German crimes lead to German expulsion – is surely acceptable. Even if they were to be perceived as symptoms of a wider European phenomenon in some of their characteristics, this is not always to equate them, or reduce German guilt. The future of German memory, then, will indeed be to integrate different memories at the national level, but in a manner which allows memory of the bombing war, and of flight and expulsion, to coexist with memory of the Holocaust in a manner that is neither regimented, nor instrumentalised in the name of relativisation. How this might happen, I am not sure. But let me finish with some questions, which may appear provocative, but, I hope, get to the heart of the aporia. Is it really necessary, for instance, for a German to preface a reference to the fact that his grandmother was raped by the Soviets with a reference to the Holocaust? (And if so, should that reference not also include a reference to the suffering visited on non-Jewish Poles and Soviet citizens by the Nazis?) Is it not possible to feel anger and indignation at the fates of members of one’s family during the bombing war, and condemn the bombing as excessive, without relativising German responsibility for the war or the Holocaust? Cannot feelings of anger at aspects of Allied conduct during the war not go hand in hand with a genuine desire for conciliation based on contrition? Cannot Germans also be allowed the right to forgive? And – dare I say it – to be forgiven? Can German national memory, while always acknowledging German guilt at its core, not also contain pain? Can one not mourn one’s victims and one’s own dead without the notorious risk of „Aufrechnung“? Can Berlin, really, not deal with the proximity of a Holocaust memorial and one to expulsion? I would seem, now, to be agreeing with Rothberg in principle that memory is not always a zero-sum game; the problem, for Germany, will be finding an appropriate praxis for what I would prefer to call „multidimensional memory“. And even if tensions between memories were to continue, and these tensions to feed into debates over national memory and identity, is that such a bad thing? Is not the constant renegotiation of the relationship between memory and national identity what keeps a polity alive and alert? National memory cannot be like a kind of zoo, where memories have no freedom. Norming it will render it sterile, rigid, and dull.
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Literature Aleida Assmann: On the (In)compatibility of Guilt and Suffering in German Memory, in: German Life and Letters 59 (2006) 2, S. 187–200. Johannes Fried, Olaf B. Rader: Die Welt des Mittelalters: Erinnerungsorte eines Jahrtausends, München 2011. Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945, Berlin 2002. Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die „Holocaustisierung des Flucht- und Vertreibungsdiskurses“. Historischer Revisionismus oder alter Wein in neuen Schläuchen?, Deutsch-Tschechische Nachrichten, Dossier Nr. 8, Mai 2008. Hans Henning Hahn, Robert Traba (Hrsg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd. 3: Parallelen, Paderborn et al. 2012. Andreas Huyssen: Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory, Stanford 2003. Andreas F. Kelletat: Von der Täter- zur Opfernation? Die Rückkehr des Themas Flucht und Vertreibung in den deutschen Vergangenheitsdiskurs bei Grass und anderen, in: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen 10 (2003/2004), S. 132–147, verfügbar auch unter: http://www.bohemistik.de/kelletat.html. Christoph Markschies, Hubert Wolf (Hrsg.): Erinnerungsorte des Christentums, München 2010. Bill Niven: German Victimhood Discourse in Comparative Perspective, in: Eric Langenbacher et al. (Hrsg.): Dynamics of Memory and Identity in Contemporary Europe, Oxford, New York 2013, S. 180–194. Pierre Nora: Between Memory and History: Les Lieux de Mémoire, in: Representations 26 (1989), S. 7–4. Jeffrey K. Olick: The Politics of Regret. On Collective Memory and Historical Responsibility, New York 2007. Ulrike Puvogel et al.: Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Bonn 1995. Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009. Martin Sabrow: Erinnerungsorte der DDR, München 2009. Max Silverman: Palimpsestic Memory. The Holocaust and Colonialism in French and Francophone Fiction and Film, Oxford, New York 2013.
DIE ZUKUNFT DER ERINNERUNG? DAS SICH WANDELNDE VERHÄLTNIS VON ÖFFENTLICHER GESCHICHTSTHEMATISIERUNG UND GESCHICHTSWISSENSCHAFT ALS HERAUSFORDERUNG Thomas Großbölting
Erinnerung, Gedächtnis, Repräsentation – diese Begriffe, die mit ihnen verbundenen Konzepte wie Forschungen haben Konjunktur. Aus der öffentlichen Thematisierung von Vergangenheit, aber auch aus kulturellen Selbstbeschreibungen sind sie nicht mehr wegzudenken. In der Forschung sind diese Ansätze mittlerweile ebenfalls etabliert: Kaum ein historisches Universitätsinstitut, welches erinnerungskulturelle Fragestellungen nicht zum Thema seiner Ausbildung macht; kaum eine historische Dissertation, die sich neben den res gestae nicht wenigstens auch der memoria des jeweiligen Untersuchungsobjekts widmete, wenn nicht die Repräsentation des Vergangenen selbst ganz im Mittelpunkt steht. Auch wenn wissenschaftliche Impulse, wie sie beispielsweise mit den Namen Pierre Nora oder dem Ehepaar Assmann verbunden waren, den Raum geöffnet haben für die (Weiter)Entwicklung der Geschichte zweiten Grades, so ist die Erinnerungswelle selbst aber wesentlich von der öffentlichen Thematisierung der Vergangenheit getragen: Es sind und waren politische Anstöße, zivilgesellschaftliche Bewegungen und Einzelinitiativen, die Aspekte der Vergangenheit thematisierten, mit inhaltlicher und temporaler Kohärenz versahen und damit zur öffentlichen Geschichte machten, die dann der Gegenwart appliziert wurde und für die Zukunft orientieren sollte. Schon oft wurde auf die besonderen Voraussetzungen für diese Art des ‚Geschichtsgebrauchs‘ in Deutschland hingewiesen. Insbesondere im geteilten wie auch im wiedervereinigten Deutschland scheint doch die Herleitung von Identität aus der Vergangenheit eine besondere Bedeutung zu haben. Es waren der Bruch mit der NS-Diktatur 1945, aber auch der mit der Zwangsherrschaft der SED des Jahres 1989, die dieses besondere politisch-kollektive wie auch individuelle Interesse an der Vergangenheit hervorriefen. Die jeweils spezifische Art des öffentlich praktizierten Rückgriffs auf die Geschichte hat funktional meist weniger mit der Vergangenheit zu tun, sondern erklärt sich vor allem aus dem gegenwärtigen Orientierungsbedürfnis für zukünftige Handlungen. Will man die davon ausgehende Entwicklung von „Erinnerung“ charakterisieren, dann muss man sich kategorial an den jeweiligen Gegenwartsfunktionen orientieren, die diese Form der Vergangenheitsthematisierung gesellschaftlich hatte. Folgt man dieser Prämisse, deuten sich klare Veränderungen im Umgang mit der deutschen Vergangenheit an. Die ‚Zukunft der Erinnerung‘ wird anders sein
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als der Modus der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ im Umgang mit der NS-Diktatur wie auch der der ‚Aufarbeitung‘ der SED-Diktatur. Im Vordergrund des bundesdeutschen Projekts NS-‚Vergangenheitsbewältigung‘, so die charakteristische Selbstbezeichnung, standen die Thematisierung und ‚Bearbeitung‘ von Leid und Unrecht, von Täterschaft und Opferstatus. Das Ziel dieses Projekts war es, die Anerkennung und die Aufarbeitung der Vergangenheit gegen diejenigen gesellschaftlichen und politischen Kräfte zu erkämpfen, die an der Haltung des ‚Davon haben wir nichts gewusst‘ festhielten. Erinnerung war in dieser Konstellation nicht zuletzt Mittel zum Zweck, um die ideologischen Kontinuitäten mit der NS-Vergangenheit zu überwinden. Die frühen Jahre der Bundesrepublik boten genügend Anlass wie auch viel Angriffsfläche für ein solches Vorhaben: Starke Elitenkontinuitäten in Staat, Wirtschaft und Wissenschaft entsprachen einer allgemeinen Abwehrhaltung gegenüber einer Thematisierung der Vergangenheit. Angesichts dieser allgemeinen Verweigerung musste in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten die Bewahrung der Täter- wie auch Opferorte gegen Widerstände erstritten werden. Das idealtypische Medium für dieses Projekt ‚Vergangenheitsbewältigung‘ ist die Gedenkstätte, wie Volkhard Knigge, einer der führenden Protagonisten dieser Art von Geschichtsthematisierung herausgearbeitet hat. Die 1965 im ehemaligen Konzentrationslager Dachau eingerichtete Dauerausstellung gilt Knigge als die „erste bedeutende Ausstellung in der Bundesrepublik überhaupt“. Ihre Existenz zu sichern hieß auch, Dachau als Ort der Dokumentation sowohl zur Erinnerung an die Opfer als auch zu Beweiszwecken gegen die Leugnung der Verbrechen zu bewahren. In dem Maße, in dem die bundesdeutsche Gesellschaft sich von der post-nationalsozialistischen zu einer demokratischpluralen hin wandelte, veränderte sich auch der Impuls dieser Art der Vergangenheitsbewältigung: Die dezidiert politische Funktion des Imperativs ‚Du darfst nicht vergessen‘ veränderte sich, ‚sakralisierte‘ sich in den Folgejahren zunehmend und gewann immer stärker eine moralisch-sinnstiftende Konnotation, die laut Philip Reemtsma weit über den politischen Kontext des Kampfes um die Anerkennung der von Schuld sowie entsprechender Verpflichtungen hinausging. In der Bundesrepublik war es auf diese Weise gelungen, so Knigge, ein „negatives Gedächtnis als staatlich geförderte, öffentliche Aufgabe zu etablieren und zu einer Ressource für demokratische Kultur und diese fundierende Lern- und Bildungsprozesse zu machen“. Die Wiedervereinigung, so ließe sich die Entwicklung weiterschreiben, gab dem Projekt Vergangenheitsbewältigung noch einen weiteren Schub, wenn sich auch das Etikett zu ‚Aufarbeitung‘ änderte. Allen Unterschieden zum Trotz gab es doch auch wesentliche Parallelen: Mit Übernahme der nationalen NSGedenkstätten der DDR schuf ein vom Bund getragenes Programm auch für die Institutionen im Westen eine neue Grundlage. Das Generationenprojekt wurde fortgeführt. Auch inhaltlich-methodisch orientierte sich die Aufarbeitung der SED-Diktatur zunächst an den altbundesrepublikanischen Praktiken und Formen, die man in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entwickelt hatte. In der Forschung fand dieser Weg seine Entsprechung in der kurzen und wenig
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fruchtbaren Renaissance der Totalitarismustheorie. Insbesondere ausländische Beobachter wie zum Beispiel der Deutschlandforscher James McAdams erklärten die Intensität wie auch die auf Delegitimation zielende Form der ‚Aufarbeitung‘, mit der sich das wiedervereinigte Deutschland der kommunistischen diktatorischen Vergangenheit angenommen hat, mit dem „Lerneffekt“ der NS-Thematisierung. Die Zukunft der Erinnerung ist dieser besondere Modus wohl nicht, und das gleich in mindestens doppelter Hinsicht: Erscheint der Gebrauch des entsprechenden Vokabulars als feuilletonistisch hoch anschlussfähig, so charakterisierte der amerikanische Soziologe Jeffrey K. Olick die Erinnerungsmetaphorik doch als ein keineswegs präzise definiertes Vokabular, sondern vielmehr als einen „broad, sensitizing umbrella“, der sehr verschiedene Sachverhalte und Prozesse eher unbestimmt überspannt. Nicht nur Kritiker, sondern auch Protagonisten des Forschungsfeldes beklagen eine semantische und normative Überladung der Begriffe, die oftmals mit methodischer Unschärfe Hand in Hand gehen, sodass eine konzeptionelle Weiterentwicklung angemahnt wird. Aber nicht aus dem Feld der wissenschaftlich-theoretischen Durchdringung, sondern aus der Praxis historisch-politischen Lernens und dessen Reflexion kommt die gravierendste Kritik. Insbesondere Autoren wie Volkhard Knigge, Jan Philipp Reemtsma, Harald Welzer oder auch der Althistoriker Christian Meier haben ihre Bedenken scharf herausgearbeitet. Im öffentlichen „Gedenkwesen“, so schreibt beispielsweise Meier, sei das an eine Generation gebundene Projekt „Historisches Lernen qua Erinnerung“ zur kontraproduktiven Pathosformel verkommen. Dem pflichtet Volkhard Knigge bei: „Eine zumeist von Älteren angemahnte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit tritt ihnen überwiegend als Erinnerungsimperativ (…) entgegen und begegnet ihnen in Gestalt massenmedialer oder öffentlich habitualisierter Redundanzen und Kümmerformen wie etwa Gedenkstättenpflichtbesuchen, rhetorischen Codes, visuellen Klischees oder vordergründiger Symbolpolitik.“
In der Konsequenz wurde sogar für einen Abschied vom „Erinnerungsparadigma“ plädiert. Die Beschränkungen und Grenzen des Projekts ‚Vergangenheitsbewältigung‘/‚Aufarbeitung‘ treten besonders mit Blick auf die Nachgeschichte der zweiten Diktatur in Deutschland zutage: Wo es hinsichtlich des Nationalsozialismus gelang, zumindest oberflächlich eine breite gesellschaftliche Verständigung über dessen historische Bewertung zu etablieren, da blieb mit Blick auf die SEDDiktatur der vielfach erhoffte Effekt aus: Ein breiter Konsens, welchen Ort der deutsche Staatssozialismus sowjetischen Typs in der Gedenk- und Erinnerungskultur der Bundesrepublik einnehmen soll, ist nicht in Sicht und wird als Zielperspektive selbst zunehmend problematisiert. Muss es, kann es oder darf es eine einheitliche Deutung der DDR-Vergangenheit geben? Die verschiedenen Phasen des deutsch-deutschen Selbstverständigungsdialogs (Vereinigungskrise, Ostalgiedebatte, Trotzidentität und andere Stichworte sind hier zu nennen) sind mittlerweile beschrieben, wenn auch noch nicht analysiert. Die Vergangenheitsthemati-
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sierung hatte dabei meist eher spaltende als integrierende Wirkung. Bis heute ist diese Debatte um die DDR-Geschichte von verschiedenen Spannungslinien durchzogen, die exemplarisch auch die Veränderungen im Feld der Erinnerung allgemein anzeigen: Erstens sehen sich geschichtspolitische Forderungen nach einem „verbindlichen“ und in der Regel delegitimierenden Umgang mit der DDR-Geschichte, wie sie in Teilen der historisch-politischen Bildung formuliert werden, mit heterogenen, konträren und teils DDR-affirmativen Deutungen im geschichtskulturellen Diskursfeld konfrontiert. Zweitens – folgt man entsprechenden Umfragen – scheint die aus anderen zeitgeschichtlichen Diskursen bereits bekannte Diskrepanz zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis mit Blick auf die Erfahrungs-, aber keineswegs homogene Erinnerungsgemeinschaft der Ostdeutschen evident und wird als Problem des mentalen Einigungsprozesses markiert. Drittens differenzieren sich die mit der Beschäftigung mit Vergangenheit verbundenen Funktionen deutlich aus: Der ‚klassisch‘ didaktische Anspruch der historisch-politischen Bildung verband sich oftmals mit einer praktischen ‚Nutzung‘, die an nationalstaatliche, zum Teil parteipolitische oder religiöse Identifizierungsmechanismen gebunden war. An deren Stelle treten zum Teil neue geschichtskulturelle Formate wie Musik- und Filmproduktionen oder auch private Museen. Diese verstehen sich als Dienstleister oder als Elemente der Unterhaltungsindustrie, so dass ihnen verstärkt auch ein ökonomisches Interesse eigen ist. Spezifische Unterhaltungs- und Sinnstiftungsmodi dieser Formen zielen in neuer Weise auf antizipierte Adressatenerwartungen und sind in der Konsequenz mit einer selektiven Hinwendung zur Diktaturgeschichte in Deutschland verbunden. All diese Veränderungsprozesse wurden und werden angestoßen wie auch beschleunigt durch einen rasanten Medienwandel, dessen tiefgreifenden Wirkungen bislang wohl kaum abschließend abzuschätzen sind: Die beschleunigte und immaterielle Kommunikation des Internets und der sozialen Netzwerke erweitert die Möglichkeiten auch des Umgangs mit der Vergangenheit ungemein. Im Bereich der Erinnerungskultur fungieren laut Erik Meyer insbesondere die sozialen Netzwerke als ein „Assoziationsraum“, in dem die rezipierten Inhalte seitens der Nutzer gesammelt und verteilt werden und sich Motive verdichten. Damit ist die Dezentrierung wie auch die Pluralisierung von Geschichtsbildern unausweichlich. Die herkömmlichen Plattformen und Medien für die Diskussion von Geschichte verlieren an Einfluss, ohne aber ganz in der Bedeutungslosigkeit zu versinken: Nach wie vor, so zeigen erste Untersuchungen zur Geschichtsthematisierung im Netz, werden die Themen meist anderswo gesetzt: Geschichte im Film und in dokumentarischen Formaten, in Büchern, zum Teil auch im Geschichtsunterricht. Die dort angestoßenen Debatten werden dann im Netz fortgesetzt und vertieft. Die informationstechnische Entwicklung bedeutet somit sicher nicht das Ende, vielleicht nicht einmal eine Krise des Erinnerns, wohl aber eine tiefgreifende Veränderung ihrer Formen und Funktionen. Wo Erinnerungskulturen heute meist zivilgesellschaftlich und dezidiert politisch begründet werden, so sind sie in Zukunft eher kommerziell motiviert; wo sie heute eher noch auf Nachhaltigkeit angelegt
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sind, werden sie morgen, vielleicht schon heute eher episodenhaft und kampagnenförmig sein; sind sie heute noch vergegenständlicht und diskursiv, so werden sie morgen visualisiert und virtuell sein. Bewegen sie sich heute noch im nationalstaatlichen Deutungsrahmen, werden sie zukünftig eher global ausgerichtet sein. Die Globalisierung des Holocaustgedenkens ist das vermutlich treffendste Beispiel dafür. Diesen angedeuteten Trend im Umgang mit der Vergangenheit hat Valentin Groebner jüngst als einen besonderen Bruch beschrieben, den er zeitlich mit dem Ende des 20. Jahrhunderts verortet: Antike, Mittelalter, Aufklärung, ja auch das 19. Jahrhundert hätten sich seitdem „in eine Art historische Tiefsee verwandelt, pittoresk, materialreich, aber distanziert; eine Zone, in der alles Vergangene gleich weit weg ist, so fremd und weit entfernt, dass es nicht mehr in direkter Referenz auf die Gegenwart gebraucht werden kann und keine direkt wirksamen Ursprungs- und Identifikationsangebote mehr enthält.“
In der Praxis kann man das auf den zahlreichen Mittelaltermärkten erleben, deren Protagonisten historische Versatzstücke vor allem dazu verwenden, ein Gefühl historischer Authentizität zu vermitteln. Dieser Bruch ist schon deswegen höchst bemerkenswert, da doch auch das Mittelalter und die Frühe Neuzeit, vor allem aber das 19. Jahrhundert lange Zeit wichtige Identitätsreservoirs waren, auf die eine Gebrauchsgeschichte im Sinne eines in der Vergangenheit begründeten ‚Wir‘ gerne zurückgriff. Wie andere Autoren nimmt Groebner nur die Geschichte und die Vorgeschichte des Nationalsozialismus von dieser Diagnose aus. Allein diese werde in der öffentlichen Inszenierung weithin selbstverständlich als ‚eigene‘ und damit als „unmittelbar wirkmächtige und identitätspolitische genutzte Geschichte [angesehen, T.G.], mit der man in der richtigen, angemessenen Weise umzugehen hat“. Richtig an der Beobachtung scheint mir, dass die Geschichte der NS-Diktatur in besonderer Weise als „moralisch und identitätspolitisch aufgeladene Nahvergangenheit“ gilt, in abgeschwächter Weise können wir diesen Trend auch für die Thematisierung der DDR-Vergangenheit im Kontext der kommunistischen Diktaturen Osteuropas beobachten. Trotz dieser besonderen Stellung aber sind auch NS- und DDR-Vergangenheit von den grundlegenden Veränderungen in der Erinnerung nicht ausgenommen.
„Er ist wieder da“. Hitler in der deutschen Erinnerung Neben der Verfolgung und der Ermordung der Juden in Europa gibt es ein weiteres Erinnerungsmoment, welches nicht nur, aber wohl vor allem die Deutschen seit 1945 in besonderer Weise ebenso fasziniert wie abgestoßen hat: die Person Adolf Hitler. Zum Teil angeleitet durch die alliierten Besatzungsmächte, zum Teil aus der Dynamik eines wohl vor allem sozialpsychologisch zu erklärenden Prozesses schlug bereits in den ersten Nachkriegsjahren der ‚Mythos Hitler‘ und die in den letzten Kriegsjahren zwar bröckelnde, aber doch tief wurzelnde Faszination
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für den Führer in ihr Gegenteil um. Aus dem Führer wurde eine Unperson: Im Sprachgebrauch des Westens avancierte er zum ‚Teufel‘ oder ‚Dämon‘, im Osten galt er als ‚faschistische Bestie‘. Hitler blieb auch in den Folgejahren immer Garant für ein großes Interesse. Dabei war es nicht die Historikerschaft, die diesen Trend forcierte. Hier setzte man laut Norbert Frei auf eine „Entpersonalisierung des historischen Narrativs“, teils um sich damit dezidiert von der voyeuristischen „Kammerdienerperspektive“ einer an privaten Details interessierten Illustriertenpresse abzusetzen, teils um dem öffentlichen Bild von den vermeintlich überragenden Fähigkeiten Hitlers entgegenzusteuern Die gesellschaftliche Thematisierung Hitlers außerhalb der Wissenschaft kannte diese Zurückhaltung nicht: „Hitler sells“. Den Anfang machte der Journalist Joachim Fest und damit ein akademischer Außenseiter mit der erfolgreichsten Biografie der Nachkriegszeit: Sein Buch Hitler verkaufte sich seit 1973 in verschiedenen Ausgaben und Auflagen rund 800.000-mal. DER SPIEGEL erreichte und erreicht mit seinen NS-Titelgeschichten herausragende Verkaufszahlen, Guido Knopps ZDF-History-Redaktion war in vielem ganz um die Person Hitlers und ihre Weiterungen herum konzipiert. Angesichts des großen Kassenerfolgs von Bernd Eichingers Film „Der Untergang“ über die letzten Tage im ‚Führerbunker‘ fragte Jens Jessen bereits 2004 in der Zeit, was Hitler „so unwiderstehlich“ mache. Das mit Hitler verbundene Erregungspotenzial sei von keiner anderen lebenden oder toten Gestalt zu übertreffen, so Jessen. Schon bei einer sporadischen Sichtung verdichtet sich der Eindruck, dass die Figur Adolf Hitler besonders während der letzten rund zehn Jahre in der Populärkultur verstärkt in Erscheinung getreten ist. Das reicht von Kabarett-Nummern (etwa Pigor und Eichhorn) über Comics (Walter Moers) bis zu TV-Produktionen und diversen Kinofilmen. Die Dämonisierung der frühen postnationalsozialistischen Jahre ist dabei einer popkulturellen Verwendung gewichen. „Inzwischen dient Hitler als Gruselgröße einer globalisierten Medienwelt, die sich seiner in allen möglichen und unmöglichen Zusammenhängen bedient – längst nicht mehr nur zum Zweck der historischen Aufklärung“, so resümiert Norbert Frei die jüngste Entwicklung. In den Medien und speziell in der Unterhaltungsindustrie genügen heute wenige Anspielungen, um die „härteste aller Aufmerksamkeit produzierenden Drogen“ (Jens Jessen) zu verabreichen. Zwei Finger waagerecht unter die Nase gehalten, ein etwas rollendes R, ein stierer Blick – schon scheint die Imitation perfekt und die Anspielung allgemein wahrnehmbar zu sein. Der im Zusammenhang mit der Entlassung des Bundespräsidenten Christian Wulff bekannt gewordene Filmproduzent David Groenewold lässt für die Verfilmung des MoersComics mit dem Slogan werben: „Adolf, die Nazi-Sau, ist nun einmal der größte Popstar, den wir Deutschen je hervorgebracht haben.“ Das jüngste Beispiel für diese Entwicklung ist die Erstveröffentlichung des Journalisten Timur Vermes. „Die Politsatire ‚Er ist wieder da‘ ist in den Bestsellerlisten. An der Qualität kann das nicht liegen“, so ätzte im Januar 2013 die Süddeutsche Zeitung gegen das im Herbst 2012 erschienene Buch. Nicht die Publikation selbst, sondern seine Rezeption hatte diese Besprechung bewirkt. Vermes hatte mit einem höchst ungewöhnlichen Buch die Aufmerksamkeit vieler Leser
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geweckt. Bis zum Sommer 2013 verkaufte sich Er ist wieder da über 700.000mal, hinzu kamen 150.000 Hörbücher. Übersetzungen in 27 Sprachen sind ebenso angekündigt wie die Verfilmung des Buches – ein „Überraschungserfolg“, den viele nicht für möglich gehalten hatten. Es war sicher nicht die Prominenz des Autors, die den Erfolg zu erklären hilft: Als Journalist hatte Vermes in unterschiedlichen Zusammenhängen gearbeitet, sich aber eher in der zweiten Reihe und als Ghostwriter profiliert. Die veröffentlichen Reaktionen helfen ebenfalls nicht, den Senkrechtstart des Buches zu erklären, denn die Kritik ignorierte das Buch. Selbst nachdem sich Er ist wieder da auf den Bestsellerlisten eingeschrieben hatte, hielten sich die professionellen Kommentatoren zurück oder kritisierten das Buch. Die Illustrierte Stern entdeckte das Buch drei Monate nach Erscheinen und kritisierte es als „geschmacklos“. Die Süddeutsche Zeitung beurteilte das Buch als „verharmlosend“ und „politisch überraschend naiv“. Andere Qualitätsmedien folgten mit ähnlichen Verdikten, ohne aber dem Erfolg Abbruch zu tun. Also war es doch das Thema, welches dem Buch so viel Popularität bescherte. Das Buchcover mit dem stilisierten Seitenscheitel und dem charakteristischen Minischnauzer lässt keinen Zweifel. Derjenige, der wieder da ist, ist Adolf Hitler. Nach 66 Jahren im Nirgendwo wacht der aus der Zeit gefallene Diktator 2011 in einer Berliner Baulücke auf. Hitler trifft auf ein modernes, aber in Folge auch vom ‚Führer‘ fasziniertes Deutschland. Natürlich ist es nicht mehr die Rolle des Diktators, die Hitler einnehmen kann. Aber schon bald bietet sich Hitler eine zweite Karriere als Comedy-Star. An einem Berliner Kiosk trifft er auf Produzenten eines Privatsenders, die ihn alsbald zum Sidekick eines sogenannten Comedian machen, der in seiner Darbietung vor allem mit seiner türkischen Herkunft spielt. Gegen den Widerstand von BILD und sonstiger Presse wird Hitler zum Medienstar, vor allem im sogenannten „Internetz“ avanciert er zum Klickkönig. Zum Schluss winkt ihm gar der Grimme-Preis. Der (gelegentliche) Witz entsteht dadurch, dass Hitler vor allem aus seiner eigenen ‚Führer‘-, Reichskanzler- und Diktatorenperspektive heraus agiert und versucht, das für ihn Neue zu erklären. Seine Umgebung hält ihn hingegen für einen begnadeten Kabarettisten, der niemals aus der Rolle fällt. Weiter denkt seine Umgebung nicht, darf sie auch gar nicht, denn dann wäre die Grundkonstellation des Buches ja gestört. Manchmal ist das komisch, manchmal auch nicht: Es sind eine Unzahl von Zeitreisescherzen, die den breit verwendeten Nazijargon etwas abmildern. Hitler lässt seinen von Brennspiritus verunreinigten Uniformmantel im „Blitzreinigung’s-Service Yilmaz“ säubern und wird vom jugendlichen Sohn des Besitzers gleich mit einem fernsehbekannten Hitlerimitator verwechselt; bei der BILD-Zeitung bekämpft ihn der dortige „Schriftleiter“ Diekmann zunächst – um ihn dann frenetisch zu feiern; während Hitler selbst den NPD-Chef Holger Apfel als „unvorstellbare Witzfigur“ abqualifiziert, steht die deutsche Politprominenz bei ihm Schlange, um ihn für den Eintritt in die jeweilige Partei zu werben. Beklemmend ist das Buch dort, wo es über den Klamauk hinausreicht. Folgt man den Interviews mit dem Autor, dann ging es Vermes um mehr als um ein paar (teils gelungene, teils schlechte) Scherze. Motivation für sein Buch sei gewe-
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sen, dass es zu viel vom immer gleichen Hitler in Deutschland gebe. Kann es denn möglich gewesen sein, dass Hitler nur ein „Nonstopmonster“ war? Mit dem hätte doch niemand zusammengearbeitet. „Seine Politik war unmenschlich, aber er selbst?“, so fragt Vermes. Ziel des Autors ist es, die Attraktivität Hitlers nachvollziehbar zu machen. Warum haben ihn so viele gewählt? Was haben sie in ihm gesehen? Und: Was wäre, wenn er heute tatsächlich wiederkäme? Um das zu erreichen, lässt der Autor seine Leser in Hitlers Kopf landen: Er liest, was dieser denkt und weiß, was dieser fühlt. Und auf diese Weise gerät Hitler zum zwar verschrobenen Typen von Nebenan, dem der Leser aber eine Reihe von sympathischen Seiten abgewinnen kann. In vielen Passagen gibt Hitler den Anwalt der kleinen Leute: Er stellt sich gegen rasende und Handy-am-Steuer-Autofahrer, gegen Lebensmittelskandale. Er spricht die Tabus an, die andere nicht thematisieren mögen. Er bedient die allgemeine Politikerschelte, wenn er nicht nur den NPDVorsitzenden Holger Apfel herunterputzt, sondern auch die sonstige Politprominenz vorführt. Für den Hitler, den Vermes hier vorführt, gilt in besonderer Weise, was der taz-Redakteur Daniel Erk schon vor Erscheinen des Buches geschrieben hatte: „Dieser Hitler, der heute durch die Gazetten und Fernsehkommentare geistert, ist ein Abziehbild (…), ein medialer Wiedergänger, dem jede Widersprüchlichkeit genommen wurde.“ Schaut man genauer auf die Wirkweise von Er ist wieder da, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein Teil der oftmals gegen populäre Geschichtsthematisierung vorgetragenen Bedenken tatsächlich zutreffen. Das Buch fällt hinter viele auch populäre Darstellungen Hitlers zurück und sagt damit viel darüber, welche Funktion ein solches Hitlerbild vor allem für die heutigen Leser hat: Die Person Hitlers wird gerade dadurch, dass sie so simpel in gängige Personalisierungsmuster aufgelöst wird, in vielfacher Hinsicht trivialisiert und verflacht. Das Buch ist daher vielleicht eine satirische Skizze des heutigen Medienbetriebs. Es erklärt aber nicht die Person Hitler, seine nicht allein, aber durchaus auch charismatische Herrschaft oder die Faszination, die ihm viele Deutsche entgegengebracht haben.
Die Zukunft der Erinnerung als Herausforderung für die Geschichtswissenschaft Diese Beobachtungen sind mehr Problemanzeigen als Aufhänger für ‚Rezepte‘, dennoch seien abschließend einige Hinweise gegeben: Er ist wieder da erreichte den Gipfel der medialen Aufmerksamkeit, als ihm ein „Medien-Crossover“ gelang: Das Buch wurde zum Thema des ARD-Talkshowmoderators Frank Plasberg und seiner Show „hart aber fair“. Zum Kreis der Fachkundigen gehörten dort Oliver Pocher, der als Comedian thematisch vor allem durch die Erfindung des „Nazometers“ in der Harald-Schmidt-Show hervorgetreten ist, Leo Fischer als Chefredakteur der Satirezeitschrift Titanic, die ähnlich wie der Spiegel des Öfteren mit Hitler als Coverfigur aufmachte, oder Erika Steinbach, die als langjährige Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen die zugespitzte Thematisierung der Vergan-
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genheit zu ihrem besonderen Metier gemacht hat. Wie gerne hätte man Ian Kershaw als Verfasser der wichtigsten Hitlerbiografie oder Hans-Ulrich Thamer als den wissenschaftlichen Kopf hinter der viel beachteten Ausstellung „Hitler und die deutsche Gesellschaft“ des Deutschen Historischen Museums in dieser Runde gesehen! Beide (und auch andere) hätten den Zusammenhang von geschichtswissenschaftlich möglichen Aussagen über Hitler und dessen Repräsentation in der Nachkriegszeit fachkundig (und sicher auch nicht weniger unterhaltsam!) bereichern können. Das ist wohl ein frommer Wunsch, der den medialen Aufmerksamkeitsregeln so gar nicht entspricht. So aber blieb die Diskussion völlig geschmäcklerisch auf die politische Bewertung dessen beschränkt, was wie erinnert wird. Die Fehlersuche beginnt vor der eigenen Haustür: Haben wir vielleicht wesentliche Fragen nicht beantwortet, das Falsche erforscht? So legte das der in Großbritannien lehrende Historiker Thomas Weber jüngst nahe. Haben wir, die professionelle Historikerzunft, die Person Hitler nicht (mehr) ernst genug genommen und stattdessen „Führerfolklore“ betrieben? Erklären wir ihn nur als Witznummer oder zum Monster? Webers Empfehlung lautet: Historiker, beschäftigt euch verstärkt mit den persönlichen Voraussetzungen Adolf Hitlers für dessen charismatische Herrschaft! Wie lässt sich die „Metamorphose der politischen Überzeugungen und der Persönlichkeit Hitlers“ in den Jahren 1918 und 1919 erklären, die ihn von einem „Einzelgänger ohne jede Führungseigenschaften“ zu einem „faschistischen charismatischen Leithammel mit einem Alles-oder-Nichts-Totalitarismus“ erklären? Diese Fragerichtung führt meines Erachtens in die Irre. Es war die nationalsozialistische Propaganda und die Selbstdarstellung Hitlers, die die Vorstellung vom ‚Genie‘ des ‚Führers‘ und dessen davon abgeleiteter Macht immer wieder behauptet hat. Die Faszination eines solchen Erklärungsansatzes läge vor allem darin, dass sich vermeintlich der Kreis schließen ließe. Das Leben Hitlers als ein schlecht getarnter Entwicklungsroman und eventuell gar als pars pro toto des Nationalsozialismus bedient zwar die Wünsche nach (einfachen) Deutungen, erklärt aber weder den Nationalsozialismus als Phänomen noch das Charisma des ‚Führers‘. Dieser Position hält Hans-Ulrich Thamer überzeugend entgegen: „Hitlers Macht ist nicht aus seinen Charaktereigenschaften oder aus seinem vermeintlichen persönlichen Charisma zu erklären, sondern vielmehr aus den politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Motiven der Deutschen, die ihre Ängste und Erwartungen auf ihn projizierten. Dadurch machten sie Hitler möglich.“
Die Geschichtswissenschaft hat die Person des Diktators nicht in den Vordergrund gestellt, nicht zuletzt um dem didaktischen Anliegen gerecht zu werden, die Hitlerfixierung der frühen Thematisierungen des Nationalsozialismus zu überwinden. Aktuell scheinen aber die Fragen, die gestellt werden, dieser Befürchtung nicht mehr Vorschub zu leisten. Im Gegenteil sieht es so aus, als habe das in Schule, Hochschule und qua Medien vermittelte Wissen einen breiten Assoziationsraum eröffnet, von dem nicht nur Guido Knopps Dokumentationen, sondern auch Er ist wieder da leben.
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Stärker als bisher werden wir uns über die Ausrichtung unserer Publikationstätigkeit Gedanken machen müssen: Die Hoffnung, dass Geschichtsbilder ‚gemacht‘ werden, indem gelehrte Männer und Frauen sich die Köpfe auf Veranstaltungen darüber zerbrechen, wie die Vergangenheit zu rekonstruieren und zu interpretieren ist, gehört der Vergangenheit an. ‚Die‘ maßstabsetzende Darstellung oder ‚die‘ wichtige Tagung erreichte wohl schon immer nur einen sehr begrenzten Rezipientenkreis. Aktuell verlieren diese Medien immer stärker an Bedeutung und die ‚Zunft‘ der Kultur- und Geschichtswissenschaften wird sich der Frage nach der Reichweite der eigenen Publikationsformen nicht verweigern können. Die wissenschaftspolitischen Entwicklungen aber deuten eher in die entgegengesetzte Richtung: Forschung vor allem in evaluierungsfähigen Zusammenhängen und damit in lediglich intern beachteten Fachzeitschriften stattfinden zu lassen, ist wohl nicht der richtige Weg. Am Beispiel der Ökonomie und ihrem Versagen bei der Deutung der jüngsten Bankenkrise lässt sich hervorragend studieren, wie schnell sich eine vormals sehr publikumswirksame Disziplin zu einem Glasperlenspiel entwickeln kann. Die Macht der historischen ‚Realität‘ gegen die Repräsentation zu verteidigen und sich auf diese Weise dem Dialog zu verweigern, ist sicher ebenfalls kein Weg. Auch wenn die Unterschiede zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungsbusiness klar herauszuarbeiten sind, gilt es doch auch den Konstruktionscharakter der Geschichtswissenschaft zu bedenken. „History is a verb, not a noun“, dieses Diktum von Keith Jenkins gehört mittlerweile zum Selbstverständnis einer reflektierten Historiografie. Daher sind die Potenziale auszuloten, mit denen Gedächtnis und Geschichte miteinander ins Gespräch zu bringen sind. Auf diese Weise lässt sich eine Historie befördern, die das vorwissenschaftliche Gedächtnis ernst nimmt und es zugleich einer Kritik unterwirft. Wendet man diese Überlegungen auf die Thematisierungen des Nationalsozialismus an, dann ergeben sich eine Reihe von Fragen: In welchem Zusammenhang stehen die populären Repräsentationen mit der Selbstinszenierung Hitlers und des Nationalsozialismus? Wie interpretieren wir die aktuell kursierenden Hitlerbilder und was sagen sie uns über die heutige Sichtweise auf den Nationalsozialismus? In welchem Verhältnis stehen diese kulturellen Bilder beispielsweise zu den NS-Verbrechen? Kaum plausibel dürfte es sein, alle derartigen Repräsentationen über einen Leisten zu schlagen oder gar pauschal zurückzuweisen. Der Affekt gegen die Populärkultur trägt weniger zur Aufklärung bei als vielmehr zur Vermeidung, sich die jeweiligen Formen, Darstellungsweisen, Anlässe und Rezeptionen genauer anzuschauen. Der vergleichende Blick auf unterschiedliche ‚Erinnerungskulturen‘ kann hingegen helfen, die konkreten Repräsentationen des Nationalsozialismus historisch zu situieren und – auf diese Weise in diesem Feld, aber auch darüber hinaus zu einem reflektierten Umgang mit der Vergangenheit beizutragen.
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Literatur Daniel Erk: Hitler ist nicht totzukriegen, in: Zeit Online, 06.01.2012, URL: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2012-01/erk-hitler-vorab, letzter Abruf: 11.09.2013. Simone Erpel: Hitler entdämonisiert. Die mediale Präsenz des Diktators nach 1945 in Presse und Internet, in: Hans-Ulrich Thamer, Dies. (Hrsg.): Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen, Dresden 2010, S. 154–160. Norbert Frei: Führerbilderwechsel. Hitler und die Deutschen nach 1945, in: Thamer, Erpel (Hrsg.): 2010, S. 142–147. Valentin Groebner: Touristischer Geschichtsgebrauch. Über einige Merkmale neuer Vergangenheiten im 20. und 21. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 296 (2013), S. 408–428. Dörte Hein: Virtuelles Erinnern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2010, Heft 25/26, S. 23–29. Keith Jenkins, Sue Morgan, Alun Munslow: Introduction: on Fidelity and Diversity, in: Dies. (Hrsg.): Manifestos for History, New York 2007, S. 1–11. Jens Jessen: Braune Schatten: Was macht Hitler so unwiderstehlich?, in: Zeit Online, 23.09.2004, URL: http://www.zeit.de/2004/40/01_leit_1_40, letzter Abruf: 11.09.2013. Volkhard Knigge: Gedenkstätten und Museen, in: Ders., Norbert Frei, (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 378–389. Volkhard Knigge: Die Zukunft der Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2010, Heft 25/26, S. 10–16. Claus Leggewie, Erik Meyer (Hrsg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt am Main 2008. Wolfgang Molitor, Simon Rilling: „Wir lachen mit Hitler“ (Interview mit Timur Vermes), Zeitungsverlag Waiblingen, 01.01.2013, URL: http://www.zvw.de/inhalt.timur-vermes-wirlachen-mit-hitler.d2f1fcc9-112d-4372-bba1-617f6f222ca2.html, letzter Abruf: 11.09.2013. Paul Nolte: Die Macht der Abbilder. Geschichte zwischen Repräsentation, Realität und Präsenz, in: Merkur 59 (2005), Heft 677/678, S. 889–898. Jeffrey K. Olick: From Collective Memory to the Sociology of Mnemonic Practices and Products, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hrsg.): A Companion to Cultural Memory Studies, Berlin 2008, S. 151–162. Jan Philipp Reemtsma: Wozu Gedenkstätten?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2010, Heft 25/26, S. 3–9. Harald Welzer: Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven, in: Ders., Christian Gudehus, Arianne Eichenberger, (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2010, S. 1–10.
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OSCAR MUÑOZ: COLOMBIA’S DESAPARECIDOS, CONTEMPORARY ART AND THE SPECTRES OF REMEMBRANCE Sophie Oliver
„The most important thing at stake, something we want to play for today, is art that brings change, art that is not critical in an empty fashion; art that does not produce pseudo-critique, but is genuinely transformative and formative (…) let us remember that the schism in art is already present, and that the political turn is underway.“ Artur Żmijewski1
At an event of the 7th Berlin Biennale of Contemporary Art, Artur Żmijewski – curator of the Biennale and successful artist in his own right – made the following comment in relation to his and his team’s curatorial outlook: We are not interested in ‚good‘ art. This is only about politics. Murmurs of shock, coupled variably with approval or disapprobation, spread through the room; his statement was controversial, but it was also thought provoking.2 Berlin’s 2012 Biennale represented a self-conscious departure from more traditional curatorial strategies according to which, Żmijewski argues, „the art object alone is expected to perform the social and political work assigned to it, without human agency, without any work at convincing, without difference of opinion or conflict, and thus essentially without any politics“. 3 While Żmijewski’s commentary on the superfluity of ‚good‘ art may have been met with discomfort by some in his audience, the central premise of this Biennale – that art, and artists, are not (and should not be) immune from politics – is far from radical. The connection between art and politics is not new; as a tool of propaganda or persuasion, art has long been the servant of both hegemonic and dissenting discourse, either reinforcing or challenging – and sometimes actively disrupting – the status quo. In the context of public remembrance, the subject of this article, artistic expression has asserted itself where other voices have been silent (or silenced). From the private drawings of former child soldiers in trauma therapy, to iconic denunciations of violence, such as Picasso’s Guer1 2 3
Artur Żmijewski: Foreword, in: Artur Żmijewski, Joanna Warsa (Eds.): Forget Fear: 7th Berlin Biennale for Contemporary Art, Köln 2012, p. 16. At least, it was so for the author. One cannot proclaim to know if it was also so for the others in the room. Ibid., p. 11. Within this tradition, Żmijewski suggests, the consumption of art becomes a substitute for real, life-altering politics, „changing ideas into spectacle, and transforming the political into a call that no one follows“ (Ibid.).
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nica, to the monuments and memorials that grace the world’s cities, constructed and dismantled with the tides of history: art, in its many varied forms, has always been a part of cultures of remembrance. To what extent art and artists can be said to play a transformative role in the shaping of memory cultures and/or to act politically in relation to these cultures is a more complex question, however, and one that will be considered here in relation to the work of the contemporary artist Oscar Muñoz, for whom the politics of memory in his native Colombia is a central concern both ethically and aesthetically. Muñoz’s art – which is frequently described as ‚romantic‘ or ‚poetic‘ – is not overtly political. And yet, the themes which he chooses to address – violence, fear, disappearance, loss, remembrance and social disintegration – and the processes he uses to create his works, refute any possible accusations of trivial aesthetics or spectacle. Born in 1951 in the city of Popayan, in southwest Colombia, Muñoz’s own memories are marked by his experiences in a country that has endured over sixty years of war and terror. The continuing conflict in Colombia, and the increasing emphasis upon truth and remembrance as central to the process of peace-making and reconciliation in the country, provide the social and political backdrop to Muñoz’s oeuvre. Before going on to examine his works more closely, I will offer a brief and necessarily incomplete summary of the situation as it relates to our topic, including a short history of the conflict, with a particular focus on the practice of enforced disappearance, and an analysis of the strengths and limitations of current policies for truth, justice and remembrance under Ley 975, the so-called ‚Justice and Peace Law‘ of 2005. I will then go on to examine a selection of works by Muñoz from the early 1990s to the present day, and to ask what kind of commentary they might have to offer on the emerging landscapes of remembrance in Colombia and beyond. What place might his works, and art more generally, have in this context, and what formative and transformative perspectives do they propose? At the most basic level, I suggest, Muñoz’s oeuvre can be seen as „a protest against forgetting“ and a commentary on the history of amnesia and impunity that, until very recently, has accompanied the persistent presence of violence in Colombian daily life. As ruminations on the status of the archive and the fragility of memory in a nation still wracked with conflict, however, his works exceed the rhetoric of protest and initiate a conversation beyond their aesthetic qualities as art, proposing themselves as discrete acts of remembrance, of memorialisation, and of witnessing within a society haunted by the spectres of both past and ongoing violence.
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Truth, Justice and Disappearance in Colombia „Memory is a highly contested terrain in Colombia. A battlefield unto itself, it encompasses hegemonic, subordinate, and contradictory memories, as well as the silenced and relegated memories of women, indigenous peoples, and communities of African descent. Mediatic, alternative, and militant memories also exist, as do organised and fragmented memories.“4
The Colombian conflict is extremely complex. Not only does it involve a number of different groups and factions; it has also been influenced by an ever-growing circle of organised criminal activity associated with the drug trade. The current conflict has its origins by most accounts in the early 1960s, following an extended period of unrest in the late 1940s and 1950s, known as La Violencia. With the emergence of various left-wing guerrilla groups in the mid-1960s, the most well known being the National Liberation Army (ELN) and the Revolutionary Armed Forces of Colombia (FARC), conflict was reignited in the country. By the end of the 1980s, a number of paramilitary groups had emerged across the country, ostensibly as a form of self-defence against the Guerrilla forces and often linked to local drug lords. In 1997, an umbrella group for the paramilitaries, the United Self-Defence Forces of Colombia (AUC), was formed. Along with the Colombian army, these groups constitute the central actors in the conflict, with the Colombian population caught in the middle of the vicious triangle. There is no clear single perpetrator in Colombia’s dirty war, with parties on all sides having committed crimes such as murder, forced displacement, rape, torture, kidnapping, extortion and enforced disappearance. Among this assortment of affronts to human dignity and security, the practice of enforced disappearance stands out as one of the defining crimes of regimes of political oppression and terror throughout Latin America in the latter half of the twentieth century.5 While the phenomenon of enforced disappearance and the desaparecidos is more frequently associated with other countries in the region, such as Argentina, the severity of the issue in Colombia should not be underestimated. Colombia has one of the highest levels of enforced disappearances in the world, with over 32,000 recorded cases committed by paramilitary groups alone, according to official figures of the Attorney General’s Justice and Peace Unit in 2011.6 All three actors in the conflict, including state forces, are known to have at some 4 5
6
Maria Victoria Uribe: Memory in Times of War, in: Public Culture 21 (2009) 1, p. 4–5. The UN Convention for the Protection of all Persons from Enforced Disappearance defines the crime as „the arrest, detention, abduction or any other form of deprivation of liberty by agents of the State or by persons or groups of persons acting with the authorization, support or acquiescence of the State, followed by a refusal to acknowledge the deprivation of liberty or by concealment of the fate or whereabouts of the disappeared person, which place such a person outside the protection of the law“. United Nations: International Convention for the Protection of all Persons from Enforced Disappearance, New York 2006, p. 2, URL: http://treaties.un.org/doc/source/RecentTexts/IV_16_english.pdf; last accessed: 4.7.2013. Observatorio de derechos humanos y derecho humanitarian. Desapariciones forzadas en Colombia. En Búsqueda de la justicia, 2012, p. 13–14, URL: http://coeuropa.org.co/files/ Desapariciones%20Forzadas%20en%20Colombia.pdf; last accessed: 4.7.2013.
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point engaged in the practice, which continues today (according to the Latin American Working Group, over 1130 new cases were officially registered in the years 2007–2010).7 The principle victims of enforced disappearance in Colombia have included, inter alia: human rights defenders, activists, students, trade unionists, Afro-Colombian and indigenous people and young people in rural conflict zones. The victimisation does not end with the individuals who have been disappeared, however: their families are frequently threatened and intimidated into silence, or forced to leave their homes under threat of reprisals. The effects of the crime are also devastating for communities, functioning as a generalised ‚tool of terror‘ while at the same time introducing lasting fissures and fractures into social relations on all levels. These traumatic effects are constantly renewed by the alltoo present absence of those who have been disappeared, and who continue to ‚haunt‘ the community as spectral reminders of fear, loss and uncertainty. As Avery F. Gordon describes: „Disappearance is a state-sponsored method for producing ghosts, whose haunting effects trace the borders of a society’s unconscious. It is a form of power, or maleficent magic, that is specifically designed to break down the distinctions between visibility and invisibility, certainty and doubt, life and death that we normally use to sustain an ongoing and more or less dependable existence.“8
What distinguishes enforced disappearance from other deprivations of liberty is precisely this element of uncertainty, the impact of which lingers long after the initial crime. For the families of the desaparecidos, the very real loss of their loved one is magnified in perpetual repetition by the inability to mourn: „Without seeing the body, no one can give a loved one up for dead. There’s no end point … mourning remains in a piercing suspense … there’s no death, physical or legal…life is up in the air…death is not followed by a decisive lament but a limbo … the doors and windows of the house are always open, waiting for a perhaps yes, perhaps no. To the torment of absence is added the sorrow of doubt.“9
It is clear, then, that enforced disappearance is so effective as a tool of repression and generalised terror in large part because of the dynamics of knowing and not knowing, fear, doubt, and uncertainty that it perpetuates. The failure to publically acknowledge the crime, and to seek redress for its victims, exacerbates this indeterminate state of affairs. In Colombia, a complicated history of unrest has been coupled with what anthropologist Maria Victoria Uribe sees as a problematic tendency „toward granting almost unlimited amnesty, toward forgiving and forget7
8 9
Lisa Haugaard, Kelly Nichols: Breaking the Silence. In Search of Colombia’s disappeared. Latin America Working Group Education Fund and U.S. Office on Colombia, December 2010, p. 5, URL: http://lawg.org/storage/documents/Colombia/BreakingTheSilence.pdf; last accessed: 4.7.2013. Avery F. Gordon: Ghostly Matters. Haunting and the Sociological Imagination, Minneapolis 2008, 2nd Edition, p. 126. Alfredo Molano, cited in Comisión de Búsqueda de Personas Desaparecidas: Instrumentos de Lucha contra la Desaparición Forzada, 2010, p. 39, URL: http://www.ic-mp.org/wp-content/ uploads/2010/03/InformeCBPD2010.pdf; last accessed: 4.7.2013.
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ting“.10 For this reason, the introduction in 2005 of a so-called Justice and Peace Law (Ley 975), which included provisions for a truth and transitional justice process, was met with cautious optimism both within Colombia and by the international community. The law was introduced as part of the process of ‚disarmament, demobilisation, and reintegration‘ initiated under Alvaro Uribe’s government – a process which resulted in the demobilisation of over 30,000 paramilitary fighters. In addition to laying out the parameters for a negotiated peace in the country, Ley 975 placed an emphasis on truth and remembrance as core principles in the transitional process, with related rights and obligations being explicitly enshrined in the text of the law.11 In practice, the transitional ‚Justice and Peace‘ process has had mixed results. On the one hand, it has enabled the truth to come to light in thousands of cases of enforced disappearance. As part of the transitional justice process, paramilitary fighters were required to submit confessions and to reveal details of the crimes they had committed, including the location of victims’ bodies. This has set in motion a series of official exhumations of clandestine graves, allowing bodies to be identified and returned to victims’ families. The process has also been instrumental in helping to ‚break the silence‘ surrounding disappearances more generally: the confessions obtained through the peace process, and the establishment of other legal official measures designed to address disappearances, including a national register of disappeared persons, have to some extent lifted the taboo surrounding disappearance and have focused media attention on the issue. Families of the disappeared, who had previously been shrouded in suspicion and stigmatisation, are now able to speak more openly about what has occurred, and to demand acknowledgement of the crime on the part of the perpetrators.12 Despite these successes, however, there are many aspects of Ley 975 and its implementation that have frustrated human rights campaigners, for whom the transitional justice process is both limited and flawed. Firstly, it is argued, the process has failed to include all parties in the conflict. Although the law provides in theory for the participation of all illegal armed groups in the transitional justice process, in practice this has been limited to the paramilitaries, with neither those crimes committed by government forces nor those committed by the guerrilla groups featuring in the procedures. Thus, while the confessions so far received have aided authorities and victims’ groups in their search for the remains of those disappeared by paramilitary forces, those seeking information about people disappeared by guerrillas 10 Uribe: Memory in Times of War, 2009, p. 4. 11 According to the text of law, Colombian society, and in particular victims, are granted the „full, effective and inalienable right to know the truth about crimes committed by illegal armed groups and about the whereabouts of victims of kidnapping and enforced disappearance“. Article 7, Derecho a la verdad. Ley 975 de 2005, URL: http://www.eclac.cl/oig/doc/ col2005ley975.pdf; last accessed: 4.7.2013 (translation: S.O.). This right is coupled with a later set of provisions relating to the ‚Obligation of Remembrance‘, which establish the duty of the state to preserve the historical memory of the causes, development and consequences of the acts of illegal armed groups – for example by maintaining archives (Article 56. Deber de memoria. Ley 975 de 2005, translation: S.O.). 12 Haugaard, Nichols: Breaking the Silence, 2010, p. 5.
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and state security forces have not benefitted in the same way. Another major criticism put forward by human rights groups is that the transitional justice process actually allows for greater impunity and a weaker form of justice than existed previously, with many of those prosecuted under the new process receiving more lenient sentences than they would have received according to pre-existing criminal law. The demobilisation of the paramilitaries was secured only by promises of general pardon and reduced sentences; for many, this has meant a faulty justice in exchange for limited truth. Indeed, the ‚truth‘ established in the process is necessarily constrained by the voluntary nature of confessions, by the (in)ability of those taking part to remember details of the crimes, their will to conceal, and by the capacities of the attorney general’s office to substantiate the claims made.13 Most crucially, however, the peace and justice law contains no provisions for truth or justice relating to crimes sanctioned by the state and the military; the search for this truth is left to civil society groups, or to processes that lie outside of the important political arena of transition and reconciliation.14 The continuing conflict in Colombia and the uneasy politics that accompany it complicate the process yet further, since it is clear that the way in which historical memory is constructed now will play a crucial role in defining the dynamics of any future post-conflict society in Colombia. If the crimes of the state are not acknowledged in the same public, official way that the crimes of illegal armed groups are acknowledged, what possibility can there be for true, long lasting reconciliation? In this context, civil society and victims’ groups play an important role in establishing extrajudicial truth, and in offering counter-narratives that reflect the experiences of those whose voices are not, or cannot be heard. They demand a process of reflection or (re)negotiation about the way in which historical memory is constructed in the country, seeking a say in the debate about which memories are valued and in what ways. And so to the question I want to ask in this paper: what role might contemporary art have to play in this (re)negotiation of historical memory? A number of contemporary artists in Colombia, including Colombianborn artists living abroad, have, unsurprisingly, addressed the subject of violence and reconciliation in their work. Examples of this range from clearly political, more or less straightforward ‚protest art‘, to art that seeks to provide a form of witness, to offer an alternative – unofficial – narrative of the past, or to give a voice to victims. It is this last category of aesthetic intervention that I would like to focus upon in the remainder of the paper, and to consider in relation to selected works by Oscar Muñoz. As we will see, Muñoz’s works engage with the situation 13 Uribe: Memory in Times of War, 2009, p. 3. 14 It should be noted that, more recently, there are signs that this practice of impunity for the crime of enforced disappearance is beginning to crack. In June 2010 and in April 2012, two members of military were sentenced for over 30 years each for their part in the disappearance of 11 people during the siege of the Palace of Justice by the Guerrilla group M19 in 1985. These prosecutions occurred outside of the transitional process I’ve been describing, however, and it has also been claimed by some human rights groups that their sentences are not being served in regular prisons, but rather amount to a kind of ‚house arrest‘ at a military base within which they have freedom of movement.
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in Colombia in very subtle, non-overt ways that might not immediately be considered political. As a form of testimonial art, however, they establish the political responsibility of the artist to respond to historical injustice and to participate in debates about its remembrance and redress.
Testimony, Remembrance and the Political Responsibility of the Artist „Political events are part of everyday life here, so art and politics came to me as a natural thing, something that has been very much present in my life from the start.“ Doris Salcedo15 „My work today arises from an interest in comprehending the mechanism developed by a society that has accepted war as part of the routine of living. Or rather, of a dark and corrupted succession of wars of more than 50 years, with powerful sectors of society interested in their continuation – a past, a present and surely a future plagued with daily violent events, which are persistently repeated. Almost all of them are identical but never the same and all of them end up included in that ever-expanding denominator called the ‚violence in Colombia‘.“ Oscar Muñoz16
It would be difficult to write about art in the context of the Colombian conflict without mentioning the internationally renowned Colombian-born artist Doris Salcedo. Through her work, Salcedo repeatedly engages with the politics of her country, and, in particular, with the themes of violence, remembrance and forgetting. As acts of unofficial memorialisation, her works have famously raised questions about the nature of memory and the objects of its construction in the aftermath of political violence.17 Describing herself as a ‚third world artist‘, Salcedo claims to be working „from the perspective of the victim, from the perspective of the defeated people“.18 As an artist, then, Salcedo’s political sensitivity is forged out of a sense of responsibility towards victims, and, in particular, towards the personal testimonies they provide in the context of political violence. In this sense, she says, she understands her responsibility as an artist as that of providing – or seeking to provide – a space for lost memories:
15 Susan Sollins: Variations on Brutality. Interview with Doris Salcedo, in: Art 21, April 2012, URL: http://www.art21.org/texts/doris-salcedo/interview-doris-salcedo-variations-on-brutality; last accessed: 8.5.2013. 16 Julie Mollins: Colombian artist Oscar Muñoz revamps Narcissus myth, in: Reuters, 15.2.2008, URL: http://www.reuters.com/article/2008/02/15/us-art-munoz-imprints-idUSN 1337133120080215; last accessed: 12.4.2013. 17 See, for example, her work Atrabiliarios (Defiant), 1992–2004. 18 Interview with Doris Salcedo, in: Susan Sollins and Susan Dowling: Compassion. Art in the 21st century, Season 5, Art 21, 2009, URL: http://www.pbs.org/art21/watch-now/segmentdoris-salcedo-in-compassion; last accessed: 4.7.2013.
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Sophie Oliver „The memories of anonymous victims are always being obliterated. I’m trying to rescue that memory, if it could be possible. But of course I don’t succeed. My work lives at the point where the political aspect of these experiences is appearing and disappearing. We are forgetting these memories continuously. That’s why my work does not represent something; it’s simply a hint of something. It is trying to bring into our presence something that is no longer here, so it is subtle.“19
On one level, we might think of Salcedo’s works as providing a model for a form of testimonial art that seeks to bring the materials of personal memories into the public sphere: to give a voice to the victims of political violence. But Salcedo’s statement expresses something more complex than this, and voices a concern that, I suggest, is also characteristic of the work of her compatriot, Oscar Muñoz. Salcedo is not only interested in providing a voice to or witnessing on behalf of the victims of the conflict, although this is clearly a primary concern. She seems also to want to reflect upon the nature of historical memory, and upon the role played in its construction by the fragile traces or ‚relics‘ of the past, which – like the spectres of the desaparecidos – linger precariously on the margins of both private and public memory. On a deeper level, then, Salcedo is interrogating the very nature of testimony even as she seeks to produce or perform it; in particular, her work draws attention to the challenge of remembrance in a nation prone to public amnesia.20 The works of Oscar Muñoz – which often feature elements of photography, and thus, also deal explicitly with the archival – are, like Salcedo’s, infused with the themes of violence, memory, forgetting and loss. One need only take a look at the titles of some of his exhibitions to get an idea of the kind of themes Muñoz has dealt with, titles such as: Imprints for a Fleeting Memorial, The Disappeared, Crónicas de la ausencia, Documentos de la amnesia, Inmemorial, and Proyecto para un memorial. From a purely thematic perspective, then, Muñoz has clearly engaged with the politics of his country. One of his earliest and most direct public interventions was a work produced during the mid-1990s, at the height of the conflict between the Colombian state and the notorious drug cartels. The public art piece Ambulatorio (Ambulatory, 1994) consists of a series of black and white aerial maps of the artist’s home city of Calí, which was badly affected by the drug wars. The maps are encased in shattered safety glass and placed on the ground in a public area – within the city centre, for example, or in gallery spaces.21 Passersby and gallery visitors are invited to walk on the glass-covered maps, adding bit by 19 Sollins: Variations on Brutality, 2012. 20 An example of this can be found in the performance piece Noviembre 6 y 7 (2000). This performance/installation was staged on the anniversary of the siege by the guerrilla group M19 of the Colombian Supreme Court in 1985, during which 11 guerrilla fighters were disappeared. Over the course of 53 hours – the duration of the siege – Salcedo lowered wooden chairs against the façade of the Supreme Court building in public act of protest and remembrance that sought to re-inhabit this space of forgetting at the heart of Bogotá. 21 Ambulatorio was recreated as Ambulatorio Belfast in 2012. Having visited the city and met representatives from both sides, Muñoz created a site specific installation using aerial maps of North Belfast.
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bit to the cracks in the surface of the installation, in a recollection of what Muñoz himself has referred to as „the fragments of glass that remain, encrusted into the place where a violent act has occurred“.22 The shattering of the city map in this installation mirrored the city’s real-life dissonance, and provided a timely commentary upon the spatialities of violence in Colombia: the contested territories, the fractured foundations of social life and the urban landscape shot through with the shards of ever-present violence. The work thus points to the significance of place(s) and space(s) in relation to violence, as sites not only of memory but also of the negotiation of power. As an interactive piece, Ambulatorio emphasized the spectator or citizen as actor within this field of negotiation, and called upon viewers to consider their place in the struggle for a city on the point of being lost to the drug wars.
Figure 1: Ambulatorio, installation at Sicardi Gallery, 2012 (Courtesy of Sicardi Gallery)
Here, as elsewhere, not only the themes Muñoz addresses, but also the means, media and processes of creation (and destruction) that he uses are crucial. His work defies categorisation in many ways, embracing photography, printmaking, drawing, installation, video and sculpture. His use of these media nearly always 22 „He hablado mucho acerca de esos fragmentos de vidrio que por tiempos permanecen incrustados en un lugar donde ha pasado el hecho violento.“ Oscar Muñoz, Interview with María Wills: Protografías Exhibition Catalog, Museo de Arte del Banco de la República, Bogotá 2011, URL: http://www.banrepcultural.org/oscar-munoz/entrevista-cali-de-ambulatorio-a-lugar-a-dudas.html; last accessed 8.5.2013.
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places an emphasis on art as a material process and as a performance, of which the viewer or spectator is often also a part. As one commentator notes, Muñoz creates his images not only with „ephemeral substances, such as water and coal, but also with the lived essence of viewers – their own sight, breath, and touch“. 23 As prefigured in the shattering of the cartographical image in Ambulatorio, Muñoz’s works also repeatedly address the inherent instability of the image and the ever present potential of its destruction, in particular as this relates to the elusive categories of time and memory. In general, his work over the two decades since Ambulatorio has focused on the image as a metaphorical space of mnemonic negotiation, on both individual and public levels. As we shall see, the photograph, as the archetypal archival object, is of special interest to Muñoz; what his works reveal, however, is the inherent spectral quality of the image and the resulting fragility of photograph as archive.
On the evanescence of memory, the image and the archive „I find images of the past inspiring, they interest me a lot.“24 Muñoz’s longstanding fascination with the photographic image, somewhat understated by the artist himself in this 2011 interview, is both technical and sociological. Images of the past, are, he stresses, part of our collective memory, they form part of the archive that we, as individuals and as societies, construct in relation to the past. For Muñoz, the essence of the photographic moment (like that of drawing) lies in the technical and philosophical act of fixing an image. By seeking in his works to foreground the instants before and after this fixing takes place, he „makes us aware of the fact that while images – be it as drawings, photographs, videos, remembrances, or reminiscences – remain alive, they are subject to the passage of time and to interactions with surrounding elements that impact on them and, ultimately, produce their disappearance“.25
An example of this is the early work entitled Narcisos (Narcissus, 1995), an installation in which a series of self-portraits of the artist, drawn in charcoal dust in a basin of water, can be seen to slowly dissolve and disintegrate as the water evaporates. As Muñoz explains, the paradox of Narcisos is that these images become fixed only at the moment of their disappearance, when the last drop of water has finally evaporated. The work stages a reversal of the idea of the portrait as a means of eternalising an unrepeatable moment in time, since the images 23 Elisabeth Matheson: Remains and Disappearances. The Work of Oscar Muñoz, in Ciel Variable 81, Spring 2009, URL: http://www.cielvariable.ca/archives/en/component/content/article/ 113-traces-disparitions-oeuvre-oscar-munoz.html; last accessed 8.5.2013. 24 „Las imágenes del pasado las encuentro apasionantes, me interesan mucho. Imágenes encontradas que hacen parte de lo que llamamos memoria colectiva.“ Muñoz, Interview with María Wills, 2011. 25 María Malagón-Kurka: Oscar Muñoz. Protografías: The Life of Images, Images of Life, in: ArtNexus, Issue 84 Mar, May 2012, URL: https://www.artnexus.com/Notice_View.aspx?Document ID=24225; last accessed 10.5.2013.
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it presents are in a constant state of flux and transformation. For Muñoz, the various stages of the piece – the moment the powder first touches the surface of the water, the process of transformation as the water evaporates, and the final instant in which the charcoal adheres to the basin – refer to the three key moments of creation, life and death; it is only in death, then, that the image attains a state of stability.26
Figure 2: Biografías (Niña) (Courtesy of the artist and Sicardi Gallery)
The process developed in Narcisos, of inscribing images onto water with charcoal dust, is repeated in a slightly different form in the later work Biografias (Biographies, 2002), where the fragility of the image takes on an added significance. This piece no longer deals with the self-portrait, but with photographic portraits of the 26 Muñoz, Interview with María Wills, 2011.
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dead or disappeared, taken from Colombian newspapers and obituaries. Each image (in a series of projections) is pulled towards the centre of the basin as the water is drained away through the plughole. What remains, once the water has drained, is a dark smear, which eventually also disappears. The work is a further elaboration on the instability of the image, but it also takes on a more overtly political message, in so far as it enacts as a kind of eulogy to the anonymous victims of violence and enforced disappearance. Biografias can be read as a re-enactment of the loss that has marked the lives of these victims and their families, translating, as far as it is possible to do so, some of the emotion of this trauma into the very experience of spectating. As one commentator describes it: „What it leaves behind is an overwhelming sense of loss, and the repetition of this event in squares across the floor, and again on the one you stand to watch, gives us a sense of the ineluctable fate of the image and perhaps those who it represents.“27
Figure 3: Proyecto para un memorial (Courtesy of the artist and Sicardi Gallery)
Proyecto para un memorial (Project for a memorial, 2004–5), transports this (re)enactment of loss from the private porcelain of the basin to the public concrete of the pavement. In a series of video projections, we see the artist’s hand frantically painting a series of anonymous portraits with water onto the hot pavement. Before he is able to complete his portraits, however, the water evaporates and the 27 John Matthews: On Oscar Muñoz. Biografias, in Artkritique: Looking, Feeling, Thinking, March 2009, URL: http://artkritique.blogspot.de/2009/03/on-oscar-munoz-biografias.html; last accessed 11.5.2013.
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faces begin to disappear. The projections move quickly: just as the artist is in a race against time to ‚fix‘ the portraits with his paintbrush, so the spectator struggles to take hold, visually, of each image. This work forces the viewer to reflect upon the irretrievable loss of the disappeared person, but also upon the impossibility of ever truly grasping the reality of that person’s experience, except, perhaps, through the ghosts and spectres that continue to haunt the spaces of their absence. In many ways, this work bears testament to Agamben’s impossible witness, the only true witness being the one denied the right to speak, the right to live, and, for as long as they remain disappeared, the right to exist – even in death.28 And yet, the very special nature of the desaparecidos means that however prolonged their absence may be, it remains imbued with a kind of ghostly presence: „Neither the disappeared nor the knowledge of them ever appears unaccompanied by ghosts (...) A disappearance is only real when it is apparitional.“29 For Muñoz, the trace of this absent witness – his or her photograph – is also marked by a certain ghostly liminality. The image itself is both haunting and haunted; in a process that echoes the unstable and unpredictable nature of memory, it is always on the verge of vanishing. This work is thus not only a lament for the victims of violence and forced disappearance, nor even a commentary on the difficulty faced by victims’ groups and relatives of the disappeared to bring the issue into the public consciousness; it is also a technical observation, a record of the vulnerability of the archive. As Muñoz himself explains, his work „insists (...) in documenting an immemorial scenario: the ‚logic of everyday thinking‘ that stems from the impossibility of retaining and fixing images permanently“. 30 While on one level Muñoz’s works can – like those of Salcedo – be read as a form of secondary witnessing, a speaking out on behalf of those who are voiceless, they serve at the same time as a more universal reflection upon the ephemeral nature of memory, and of the testimonial tools it uses. According to Hans-Michael Herzog, curator of the Daros Latin America Collection in Switzerland, Muñoz „focuses on the evanescence of our memories, on the change that affects them so persistently that precise recall is all but impossible. He makes it clear that memories, and the time they are linked to are relative and ultimately elusive, however hard we try to remember“. 31
28 Giorgio Agamben: Remnants of Auschwitz. The Witness and the Archive, New York 2002, see especially p. 34. 29 Gordon: Ghostly Matters, 2008, p. 126. 30 Oscar Muñoz, in Institute of International Visual Arts: Press Release. Oscar Muñoz, Mirror Image, June 2008, URL: http://universes-in-universe.org/eng/magazine/articles/2008/oscar_munoz; last accessed: 4.7.2013. 31 Hans-Michael Herzog: The Hours. Visual arts of contemporary Latin America, Ostfildern 2005, p. 19:02.
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Aliento: testimonial performance and the transformative potential of haunting „[Photographs] provide the evidence that a disappearance is real only when it is apparitional, only when the missing or the lost or the not there shines through, there where it might not have been expected, there in that moment of affective recognition that is distinctive to haunting.“32 „The ghost is alive, so to speak. We are in relation to it and it has designs on us such that we must reckon with it graciously, attempting to offer it a hospitable memory out of a concern for justice.“33
In her seminal study on haunting and the sociological imagination, Avery Gordon invokes the photograph as being „involved in the ghostly matter of things“. 34 In particular, she argues, the photograph emerges as crucial to the haunting brought about by enforced disappearance, both as a weapon of torture and as the marker through which the disappeared retain their ghostly presence within the affected society. For the relatives of the disappeared, the photographic portraits of missing loved ones serve both as „tokens of absence“ and as symbols of protest: in the hands of groups such as the Madres de la Plaza de Mayo, these images become part of „a repertoire of counter-images, part of a movement to punctuate the silence, to break the stadium-like quality of disappearance, to ‚lay claim to another reality‘“. 35 In this sense, „the photograph of the disappeared (…) always registers the double edge of haunting: the singularity of the loss of my previously held securities and supports, the particular trouble the ghost is making for me; and the sociality of those abstract but compelling forces flashing now (and then) in the light of day, the organised trouble the system is experiencing“.36
In other words, with haunting comes the possibility of troubling and transforming the status quo. „From a certain vantage point“ writes Gordon, „the ghost also represents a future possibility, a hope.“37 That the liminal character of the image may also offer the possibility of transformation is something that can be inferred from Muñoz’s works. Neither fully present nor fully absent, fully alive nor fully dead, the image, like the ghost, is animated with the spectral presence of its own apparition. It is this element of animation, I suggest, that holds the potential for transformation in Muñoz’s works. Let me explain by turning to one final work by the artist, entitled Aliento (Breath, 1996). Conceived in 1996 and exhibited many times since, Aliento consists of a series of metal disks that serve as mirrors upon which the viewer’s image is reflected. Sketched in grease on each of these mirrored surfaces is the photo32 33 34 35 36 37
Gordon: Ghostly Matters, 2008, p. 102. Ibid., p. 64. Ibid., p. 102. Ibid., p. 109. Ibid., p. 105. Ibid., p. 63–64.
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graphic portrait of a person who was the victim either of forced disappearance or of another act of violence in Colombia. When the spectator breathes on the disc, the image of the anonymous person appears momentarily, before disappearing again as the condensation evaporates from the surface of the mirror. On one level, the eloquent rehearsal of retrieval and loss enacted in Aliento is an illustration – repeated elsewhere in his works – of the limitations of memory as Muñoz sees them. On the other hand, the piece brings about the mutual animation of image and spectator that for Roland Barthes represented the affective power that is the essence of the photograph. As Gordon explains, Barthes was interested in discovering the key to the photograph’s capacity „to make meaning meaningful, to convey the existence of something profoundly or vividly or eloquently so that it matters to the viewer“. 38 In the case of Aliento, the literal experience of mutual animation – the artwork ‚reflecting‘ the image of the spectator, who, through his or her breath, simultaneously makes visible the concealed portrait – can be thought as a model for a witnessing performance in which the spectator is the enabler, rather than simply the receiver of testimony (as per Dori Laub’s famous proposal).39 Both the aesthetic and the memorial moment of the piece are fully dependent upon the interaction of the spectator: his or her embodied co-presence is what allows for the reappearance or ‚remembrance‘ of the anonymous, absent other. The brief moment in which the two faces encounter one another in the mirror could in this sense be interpreted as constituting – however problematically – a momentary act of redemption through the performance of remembrance and recognition. From this perspective, Aliento seems to symbolise the possibility of an empathic yielding or merging of the self with the lost or suffering other, a potentially productive haunting by the past that is reminiscent of a Levinasian ethics of mutual care and responsibility, quite literally the rapport de face à face.40 And yet, any sense of ‚redemption‘ or ethical recognition that the work provides is only provisory: as the condensation evaporates, the spectator is left alone to contemplate his or her reflection, highlighting a sense of loss and, for some perhaps, culpability or distress at one’s incapacity to ‚hold on‘ to the image of the disappeared other. Muñoz demonstrates here, as he does in many of his other works, just how complex seeing and remembering the suffering of others can be, and how fragile and fleeting the traces and memories that we hold on to really are. At the same time, one could argue that even while it seems to disappear, the face revealed through the spectator’s breath is never really fully absent. Even after the moisture on the surface of the mirror has evaporated, the trace of the anonymous other remains; invisible, perhaps, but nonetheless there. Similarly, in the other works, some invisible remainder of the image always persists, whether it be in the traces of charcoal dust on porcelain, in the shards of glass encrusted into the pavements of Cali or in the 38 Ibid., p. 106. 39 Dori Laub: Bearing Witness or the Vicissitudes of Listening, in: Shoshana Felman, Dori Laub: Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York 1992, p. 57–74. 40 Emmanuel Levinas: Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité, The Hague 1961.
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memories of an experience imprinted into the minds and bodies of the spectator. The very nature of haunting lies in its refusal to be silenced: whatever attempts may be made to publically ignore or forget the crimes of the past, or to eliminate the memory of the disappeared, the imprint of their absences remains – etched into social and psychological fabric of those left behind.
Figure 4: Aliento (Courtesy of the artist and of Sicardi Gallery)
What Muñoz’s works suggest is the possibility for art to take on or at least to approximate this haunting function of the trace or relic. By highlighting their integral liminality, Muñoz attempts to expose the punctum of the images he uses, and, thereby, to alert the spectator to that which exceeds normal viewing experiences. As that which breaks or punctuates, and „arouses the still image from its flat immobility“, the punctum is crucial to the haunting animism of the aesthetic encounter: „The punctum, then, is not simply my individual aesthetic experience; it is what brings to life the life external to the photo (...) the punctum is what haunts. It is the detail, the little but heavily freighted thing that sparks the moment of arresting animation, that enlivens the world 41 of ghosts.“
41 Gordon: Ghostly Matters, 2008, p. 107–108.
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The haunting effect produced by the image’s animation of the spectator can be compared to the experience of what Jill Bennett refers to as empathic sense memory. Sense memory produces an affective, corporeal knowledge that is „felt, rather than recognised or perceived through cognition“. 42 In particular, Bennett describes the address made by art to the spectator’s bodily memory, conceiving of this moment as a process of „registering and producing affect“ that she claims can lead to a transformation within the spectator, for example by acting as a catalyst for critical reflection or engagement.43 In this model, art adopts the power of haunting so as to, and here I paraphrase Avery Gordon again, „wrench you from your particular kind of stupor, to shift your investments away from the private world of family and work, to move you away from ‚explaining away‘ the forces that run through your veins toward feeling your way deeper and deeper ... until you do feel what is at stake“.44
For Muñoz, too, the affective power of art is at the core of its transformative potential. If art – like memory and its objects, traces or relics – is ephemeral, he suggests, the transformation each produces in the individual need not be: „I like the idea that something that generally functions with the ephemeral, with the temporal, with the instant, can have a lasting effect that transcends the actual experience of the work. In this sense the work might move at a level beyond that of political discourse … it is the poetic value of a work that can potentially transform a person.“45
As an artist, Muñoz cannot speak on behalf of the disappeared, murdered and displaced victims of political violence, but he can make visible, however fleetingly, the status of these absent witnesses as spectres within the present. It may be possible to think of his work as a form of ‚testimonial art‘, though not in the sense that the works themselves stand alone as testimonial objects to ‚perform‘, as per Żmijewski’s critique, „the social and political work assigned to them“. 46 Rather, Muñoz’s works stage a conversation with the spectres of violence past and present in which both the artist and, most crucially, his public are called upon to participate. By incorporating interactive, multi-media forms and processes into his works, Muñoz seeks actively to disrupt traditional, passive modes of spectatorship in favour of a model of reception that is embodied, emotional and participatory. In this sense, I suggest, Muñoz transforms the act of art consumption into a performance of co-witnessing. Like many of the artists represented at the 7th Berlin Biennale, then, Muñoz not only assumes a sense of political responsibility himself, as artist, he also urges his public to do the same. 42 Jill Bennett: Empathic Vision. Affect, Trauma, and Contemporary Art, Stanford 2005, p. 7. 43 Jill Bennett: The aesthetics of sense-memory. Theorising trauma through the visual arts, in: Susannah Radstone, Katharine Hodgkin (Eds.): Memory Cultures. Memory, Subjectivity and Recognition, London 2005, p. 27–39. 44 Gordon: Ghostly Matters, 2008, p. 134. 45 Oscar Muñoz, in: Hans-Michael Herzog: Cantos y Cuentos Colombianos, Arte Contemporáneo Colombia, Daros-Latin America, Zürich 2004, cited in: Matheson: Remains and Disappearances, 2009. 46 Żmijewski: Foreword, 2012, p. 11.
FORSCHUNGSBERICHT
TRANSITIONAL JUSTICE Anne K. Krüger
Was ist Transitional Justice? Transitional Justice bezeichnet einerseits vielfältige Formen der Adressierung von Menschenrechtsverletzungen, die vor einem politischen Umbruch unter einem diktatorischen Regime oder während eines (Bürger-)Kriegs begangen wurden. Andererseits dient dieser Begriff als Bezeichnung für ein Forschungsfeld, das sich mit diesen Praktiken auseinandersetzt (vgl. zum Begriff auch Krüger 2013). Er entstand jedoch erst in dem Moment, in dem Transitional Justice als eigenständiger Forschungsgegenstand vor dem Hintergrund eines spezifischen Problems wahrgenommen wurde und dadurch auch Gestalt in Form von standardisierter Expertise gewann (Arthur 2009). So wird zwar oftmals bereits von den Nürnberger Prozessen als Transitional Justice gesprochen (Teitel 2003; Roht-Arriaza 2006; Hazan 2010). Der Begriff selbst und damit das hiermit bezeichnete Forschungsfeld sowie die gezielte Entwicklung praxisorientierter Expertise kommen jedoch erst Mitte der 1990er-Jahre auf. Die Entstehung von Transitional Justice als Forschungsgegenstand und Expertise ereignet sich im Zusammenhang mit einer verstärkten Aufmerksamkeit für die Frage, wie nach politischen Umbrüchen, die sich durch den Sturz von Diktaturen oder im Fall von Bürgerkriegen im Rahmen von Friedensverhandlungen ergeben, mit zuvor im eigenen Land begangenen Verbrechen umzugehen sei (Krüger i.E.). Damit rücken nicht mehr nur akute Menschenrechtsverletzungen zusammen mit der Forderung nach ihrer Beendigung in den Fokus nationaler und internationaler Aufmerksamkeit, sondern auch jene, die bereits vor geraumer Zeit verübt, deren Opfer und Täter jedoch niemals offiziell benannt wurden. Eine zugespitzte Wahrnehmung dieses Problems entwickelt sich in den 1980erJahren im Kontext der Zusammenbrüche lateinamerikanischer Militärdiktaturen, die eine starke öffentliche und internationale Resonanz erfahren. Insbesondere das ‚Verschwindenlassen‘ von potentiellen Regimegegnern hat in Argentinien, aber auch in anderen Ländern Lateinamerikas bereits vor den Regimeumbrüchen zur zivilgesellschaftlichen Forderung nach einer Aufklärung ihres Verbleibs geführt, welche nach dem Kollaps der Regimes zur notwendigen Voraussetzung für einen demokratischen Neuanfang erhoben wird (Straßner 2007; Fuchs 2010). Während noch zuvor in Spanien eine ‚Schlussstrich‘-Politik verfolgt worden war (Bernecker 2006; Sikkink 2011), wird hier nun die Aufklärung von zuvor systematisch
Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 237–258
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begangenen Menschenrechtsverletzungen zum Prüfstein für die neuen Regierungen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und seiner Satellitenstaaten, das daran anschließende Ende des Apartheidregimes in Südafrika sowie die Friedensverhandlungen in den zentralamerikanischen Bürgerkriegsländern tragen weiter dazu bei, die Frage nach dem Umgang mit zuvor begangenen Menschenrechtsverletzungen auf die Agenda sowohl nationaler Politiker und Betroffenenorganisationen als auch international agierender Politikberater, Menschenrechtsaktivisten und Wissenschaftler zu setzen. Denn aus der Vielzahl an Transitionsprozessen werden nicht nur bestehende Ähnlichkeiten hinsichtlich des aus diesen Situationen resultierenden Problems deutlich, wie mit zuvor begangenen Menschenrechtsverletzungen umzugehen sei. Zudem lösen sie das Verlangen nach der Entwicklung spezieller Expertise aus, mittels derer zukünftig in solchen Situationen gezielte Beratung und Unterstützung ermöglicht werden könne (Kritz 1995; Phillips 2008). Aus der unmittelbaren Beobachtung von Ähnlichkeiten und Unterschieden in einer Vielzahl unterschiedlicher Kontexte heraus wird der Versuch unternommen, spezifische Formen im Umgang mit solchen Verbrechen herauszuarbeiten und als best practice zu standardisieren. Neben Strafverfahren gehören hierzu mittlerweile unter anderem Wahrheitskommissionen, aber auch die zivilrechtliche Lustration, das heißt die offizielle ‚Durchleuchtung‘ von öffentlich Bediensteten hinsichtlich einer Tätigkeit für vorherige Geheimdienste oder auch für die zuvor herrschende Partei. Innerhalb von noch nicht ganz zwanzig Jahren hat sich Transitional Justice damit sowohl als Praxis als auch als Forschungsgegenstand etabliert. Transitional Justice ist dabei mittlerweile sogar zu einem wichtigen Ziel der Vereinten Nationen geworden (Hazan 2010). Dieser Trend wird unterstützt durch eine Vielzahl von weiteren zwischenstaatlichen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen, allen voran durch das International Center for Transitional Justice (New York), sowie durch eine große Expertengemeinschaft, die die Grundüberzeugung teilen, dass politische Übergänge durch die Adressierung von Menschenrechtsverletzungen begleitet werden müssen (vgl. hierzu auch Scheuzger 2009). Hinzu kommt eine stetig wachsende Anzahl an wissenschaftlichen Publikationen, welche das disziplinenübergreifende Interesse der Forschung an diesem Gegenstand widerspiegeln. Diese Publikationen weisen einige Besonderheiten auf, die sich auch in der hier rezensierten Literatur erkennen lassen. Zwar finden sich zahlreiche Monografien, die sich entweder mit einem spezifischen Fall oder mit einer bestimmten Praxis auseinandersetzen. Es dominieren jedoch Sammelbände,1 die zudem oftmals aus Konferenzen hervorgegangen sind. In diesen Sammelbänden findet sich wiederum eine Vielzahl an Fallstudien. Doch liegen darüber hinausgehend auch Beiträge vor, die in zunehmendem Maße bestrebt 1
Zu den vielzitierten Standardwerken gehören Kritz 1995; Hesse/Post 1999; Rotberg/Thompson 2000; González Enríquez/Barahona de Brito/Aguilar Fernández 2001; Roht-Arriaza/Mariezcurrena 2006.
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sind, den wiederholt diagnostizierten Mangel sowohl einer Evaluation bisheriger Erfahrungen als auch einer theoretischen Unterfütterung und Historisierung zu beheben. Als besonderes Charakteristikum der Transitional Justice-Literatur stechen die Policy-Empfehlungen hervor, die die Nähe zwischen Forschung und Praxis demonstrieren. Auf der Basis von Analysen der eingesetzten Instrumente und beobachteten Prozesse werden konkrete Handlungsvorschläge für die nationale und internationale Politik und darin involvierte Akteure abgeleitet. Ähnliche Ziele verfolgt auch das seit 2007 erscheinende International Journal of Transitional Justice (IJTJ), das vom Human Rights Center an der Berkeley University und dem südafrikanischen Centre for the Study of Violence and Reconciliation herausgegeben wird. Es betrachtet sich selbst als „a forum for developing and sharing knowledge and for building and consolidating research expertise in this vital field of study. Most importantly, IJTJ serves as both a vehicle for this information and as a point of dialogue between activists, practitioners and academics“ (IJTJ 2013). Auch hier steht damit der Austausch von Wissenschaft und Praxis im Vordergrund. An dieser Stelle soll nun ein Einblick in den derzeitigen Forschungsstand gegeben werden. Aus aktuellen Publikationen werden die gegenwärtigen Diskussionen herausgearbeitet, die die derzeitigen Trends, Fragestellungen und Themenkomplexe widerspiegeln.2
Die Transitional-Justice-Forschung – state of the art Strafverfolgung und Amnestien Die Wurzeln von Transitional Justice werden oftmals in den Nürnberger (und Tokioter) Prozessen gesehen. Jedoch kamen in der Zeit des Kalten Krieges Bestrebungen nach einer Weiterentwicklung des Internationalen Rechts mit Blick auf einen Internationalen Strafgerichtshof zunächst zum Erliegen. Erneut befeuert wurden die Diskussionen um die Anwendung des Völkerstrafrechts auf Regimeverbrechen durch den Zusammenbruch der argentinischen Militärdiktatur und die darauf folgenden juristischen Versuche, während des fragilen demokratischen Neuanfangs die alte Elite strafrechtlich zu belangen (Orentlicher 1991b; Nino 1991; Orentlicher 1991a). Aufsehen erregten auch die deutschen Prozesse um das DDRUnrecht, allen voran die „Mauerschützenprozesse“, deren Rechtsprechung vielerorts diskutiert wurde (Marxen/Werle 1999; McAdams 2001; Marxen in Kuretsidis-Haider/Garscha 2010). Zur institutionellen Weiterentwicklung einer internationalen Gerichtsbarkeit selbst trugen die nach den Bürgerkriegen in Jugoslawien
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Bei vielen der hier besprochenen Publikationen handelt es sich um Sammelbände. Um den Charakter eines Forschungsberichts im Sinne eines Überblicks zu wahren, wird in diesen Fällen nicht immer auf jeden einzelnen Beitrag eingegangen. Stattdessen werden vor allem allgemeine, hierin zu findende Entwicklungen und Trends dargestellt.
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und Ruanda zu Beginn der 1990er-Jahre von den Vereinten Nationen eingesetzten Internationalen Ad-hoc-Tribunale bei (Kerr/Mobekk 2007; Eltringham in Hinton 2010; Aptel in Arthur 2011). Nachfolgend haben hier die Einsetzung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, der 2002 seine Arbeit aufnahm (Schabas 2010, Ambos in Ambos et al. 2009), sowie die aus nationalen und internationalen Personen zusammengesetzten hybriden Gerichte in Osttimor (Drexler in Hinton 2010; Cohen und Lipscomb in Williams et al. 2012), Sierra Leone (Shaw in Shaw et al. 2010) und Kambodscha (Bonacker et al. 2011) die Debatten um die Möglichkeiten und Konsequenzen einer juristischen Ahndung von schwersten Menschenrechtsverletzungen fortgesetzt. Aus juristischer Perspektive beleuchtet auch der aus einer Konferenz zum zehnjährigen Bestehen der österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz hervorgegangene Sammelband Gerechtigkeit nach Diktatur und Krieg von den Historikern Claudia Kuretsidis-Haider und Winfried R. Garscha (Kuretsidis-Haider/Garscha 2010) den Gegenstand der Transitional Justice. Der Sammelband untersucht in vier Teilen „die justiziellen Methoden zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit“, die insbesondere aus der historischen Perspektive der NS-Verbrechen und der Nürnberger Prozesse betrachtet werden. Zu Beginn benennt Wolfgang Form die unterschiedlichen Dimensionen von Transitional Justice und die daraus resultierenden Herausforderungen für die Forschung, die sich durch komparativ angelegte empirische Studien bei gleichzeitig verstärkter Theoriebildung in stärkerem Maße um eine Evaluation der Auswirkung von Transitional Justice-Maßnahmen bemühen sollte (S. 30). Neben weiteren Beiträgen zur aktuellen Rolle des Strafrechts (Triffterer), zum Umgang mit Makroverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus juristischer beziehungsweise gesellschaftlicher Perspektive (Miklau und Steinbach) und dem erinnerungskulturellen Stellenwert von Strafverfahren (Pyta) zeigt Astrid Reisinger Coracini den Einfluss auf, den die Urteile gegen NSVerbrecher (jenseits der Nürnberger Prozesse) auf die Entwicklung des Völkerstrafrechts und die daran ausgerichteten Entscheide von zeitgenössischen internationalen Strafgerichten gehabt haben. Sie untersucht, wie diese Rechtsquellen von den Ad-hoc-Tribunalen zu Jugoslawien und Ruanda rezipiert wurden sowie ihre Rechtsprechung beeinflusst und damit das Völkerstrafrecht insgesamt weiterentwickelt haben. Die Erforschung der Nachkriegsrechtsprechung wirkt sich damit direkt auf aktuelle Verfahren, nicht zuletzt auch am Internationalen Strafgerichtshof aus. Diese „Rechtsfortbildung“ wird anhand von drei Fallstudien zur polnischen Nachkriegsjustiz (Kulesza), der Strafverfolgung von DDR-Unrecht (Marxen) und – obwohl hier Wahrheitskommissionen etabliert wurden und keine strafrechtliche Verfolgung stattgefunden hat – zur südkoreanischen Auseinandersetzung mit der japanischen Besatzungszeit (Polaschek) weiter beleuchtet. Der dritte Teil widmet sich drei Fällen von „verweigerter Gerechtigkeit“ anhand ungesühnter Kriegsverbrechen in Südosteuropa (Meyer), der Frage nach dem Sinn heutiger NS-Prozesse, die Stefan Klemp „uneingeschränkt mit ja“ (S. 183) beantwortet, und, im Beitrag von Efraim Zuroff vom Simon Wiesenthal Center in Jerusalem, anhand der Anfang der 2000er-Jahre fehlgeschlagenen österreichischen Versuche, NS-Kriegsverbrechen zu verfolgen. Im vierten Teil geht es abschließend – und dies
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ist als besonderes Merkmal dieses Bandes hervorzuheben – um methodische Probleme in der Forschung zu justizieller Transitional Justice, indem die Bedeutung von und der Umgang mit Gerichtsakten als historische Quellen problematisiert werden. Während dieser Band sich vor allem an die Forschung richtet, weist der ebenfalls aus einer Konferenz aus Anlass des 60. Jahrestags der Nürnberger Prozesse hervorgegangene Band Building a future on peace and justice der Juristen Kai Ambos, Judith Large und Marieke Wierda (Ambos et al. 2009) mit einer Vielzahl explizit verfasster Policy-Empfehlungen eine klare Anwenderperspektive auf. Zudem werden neben rechtlichen Fragen auch einige bislang wenig beforschte Aspekte von Transitional Justice beleuchtet. Unter anderem untersuchen Lars Kirchhoff und Chandra Lekha Sriram im Rahmen von Transitional Justice abgehaltene Mediationsverfahren. Pablo de Greiff sowie Catalina Díaz beschreiben Demobilisierungsstrategien in Friedensprozessen; Iavor Rangelov zusammen mit Marika Theros sowie Stina Petersen, Ingrid Samset und Vibeke Wang thematisieren den Einfluss externer Akteure wie der Europäischen Union beziehungsweise externer, insbesondere finanzieller Unterstützung auf nationale Verfahren. Das Beratungsanliegen dieses Bandes zeigt sich darüber hinaus insbesondere in jenen Texten, die aus rechtlicher Perspektive auch die Frage von Amnestien diskutieren. Kai Ambos zeigt Wege auf, die das Problem zwischen einer politischen Befriedung und einer Bestrafung der alten Eliten adressieren. Hierzu gehören aus seiner Sicht auch Amnestierungen der Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen. Christine Bell geht darauf ein, dass in der Praxis ein „‚new law‘ of transitional justice“ entstanden sei, das sich aus dem „human rights law, humanitarian law, international criminal law and ordinary criminal law“ zusammensetze und nicht auf einen dieser Rechtskodizes allein zurückgeführt werden könne (S. 105). Hierin sieht sie die Stärke dieser neuen Rechtspraxis, da sie genug Interpretationsspielraum lasse, um einerseits die Strafverfolgung zur unbedingten Maxime zu erheben, aber andererseits Raum für eine fallabhängige Anwendung unter anderem auch im Hinblick auf Amnestien lasse. Louise Mallinder befasst sich ebenfalls mit der Funktion von Amnestien, indem sie zunächst deren Verbreitung in der von ihr erstellten Amnesty Law Database erfasst und anschließend aus dem jeweiligen Kontext heraus bewertet. Sie kommt zu dem Schluss, dass Amnestien unter bestimmten Voraussetzungen einen Beitrag zu Konfliktüberwindung leisten können (S. 162–166). Diese – wenn auch kontextabhängige – Rechtfertigung von Amnestien als Mittel der Transitional Justice überrascht, da Amnestien jenseits von rechtswissenschaftlichen Kreisen in Fallstudien zu entsprechenden Ländern oftmals sehr kritisch betrachtet werden (vgl. auch Hayner 2011, S. 105). In erster Linie verdeutlichen diese Beiträge jedoch vor allem, dass Amnestien vielfach praktiziert werden. Deshalb kritisieren sie jenen Optimismus, der davon ausgeht, dass die justizielle Zurechnung von Verantwortung zunehme (Mallinder, S. 153). An diesem Punkt setzen auch Tricia Olsen, Leigh A. Payne und Andrew G. Reiter an (Olsen et al. 2010). In ihrem Buch Transitional justice in balance evaluieren sie die These einer Zunahme von Strafverfahren und kommen ebenfalls zu dem Schluss, dass Amnestien immer noch weit verbreitet seien und man deshalb nicht
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von einer „justice cascade“ sprechen könne. Vielmehr finde ein Zusammenspiel unterschiedlicher Maßnahmen statt, die tatsächlich auch benötigt würden (S. 97108). Diese Kritik einer Fehleinschätzung der Entwicklung von Transitional Justice spielt auf den Artikel The justice cascade von Ellen Lutz und Kathryn Sikkink (Lutz/Sikkink 2001) an, der die Grundlage für Sikkinks 2011 vorgelegte Monografie The justice cascade bildet (Sikkink 2011). Sikkink hat bereits zuvor im Bereich der sozialkonstruktivistischen Internationalen Beziehungen in einer Vielzahl von Publikationen zum Einfluss der Menschenrechte auf die nationale und internationale Politik vermittelt durch die Arbeit von „advocacy networks“ geforscht (Sikkink 1993; Keck/Sikkink 1998; Risse et al. 1999; Sikkink/Booth Walling 2006). Auf der Grundlage der Strafverfolgung in Argentinien verdeutlicht sie hier nun den Einfluss von „norm entrepreneurs“ auf die dortige Rechtsprechung und deren Auswirkung auf die globale Entwicklung einer justiziellen Zurechenbarkeit von individueller Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen. Ausgehend von der Feststellung, dass Regimeverbrechen lange Zeit als nationale Angelegenheiten behandelt wurden, bezieht sich Sikkink mit dem Konzept der „justice cascade“ jedoch nicht darauf, dass mittlerweile tatsächlich alle Verantwortlichen für schwerste Menschenrechtsverletzungen verurteilt werden. Vielmehr geht es ihr darum zu zeigen, dass „the norm that state officials should be held accountable for human rights violations has gained new strength and legitimacy“ (S. 12). Zwar sieht auch sie, dass es weiterhin zahlreiche Amnestierungen gibt. Jedoch seien diese „a response to the justice cascade, not evidence against its existence“ (S. 146).3 Auf dieser Grundlage erläutert sie im letzten Kapitel das Modell der „justice cascade“ anhand der drei Fragen nach der Entstehung der Idee von individueller Zurechenbarkeit, ihrer regionalen und internationalen Verbreitung und dem Effekt auf eine Menschenrechtskultur. Sikkinks Buch lässt sich zudem hinsichtlich der historischen Entwicklung von Transitional Justice auch als Primärquelle lesen, denn ihre Datengrundlage basiert zum Teil auf persönlichen Erfahrungen innerhalb dieses Menschenrechts-„advocacy network“. Auf diese Weise bietet es Einblicke in einen transnationalen Erfahrungsaustausch und in die damit einhergehende Entwicklung von entsprechenden Maßnahmen sowie von jenem „advocacy network“, mit dem sie die globale Verbreitung von Transitional Justice erklärt. Neben diesen persönlichen Eindrücken bietet sie jedoch auch eigene Berechnungen zur Entwicklung der Strafverfolgung von Regimeverbrechen und widerlegt auf diese Weise das von Samuel Huntington (Huntington 1991, S. 228) propagierte Paradigma „justice comes quickly [nach einem Regimewechsel, A.K.] or it does not come at all“ (hier S. 142). Zudem geht Sikkink der Frage nach, ob diese Entwicklung tatsächlich auch einen Effekt im Hinblick auf eine Verbesserung der Menschenrechtskultur habe. Zunächst richtet sie den Fokus auf Lateinamerika und nimmt anschließend eine globale Per3
Sikkink setzt sich hier auch direkt mit der Studie von Leigh Payne aus der Monografie Transitional justice in balance (Olsen et al. 2010) auseinander (u.a. S. 145 und 187).
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spektive ein. In beiden Fällen diagnostiziert sie eine tendenziell positive Entwicklung, räumt jedoch ein, dass eine umfassende Bestimmung aller einflussnehmenden Kontextfaktoren problematisch sei und geht dabei auch so weit zu konstatieren, dass „prosecutions combined with some kinds of partial amnesties may be a good solution“ (S. 188). Jedoch habe eine solche Straflosigkeit oftmals lediglich kurzfristigen Bestand, während Forderungen nach Gerechtigkeit dagegen auch über lange Zeiträume hinweg artikuliert werden können (S. 227f.).
Wahrheitskommissionen Transitional Justice ist jedoch nicht begrenzt auf die strafrechtliche Ahndung von Menschenrechtsverletzungen. Wahrheitskommissionen sind eine weitere verbreitete Praktik, die seit den 1980er-Jahren ausgehend von Lateinamerika über die international bekannte südafrikanische Truth and Reconciliation Commission weltweit Anwendung gefunden hat. Priscilla Hayner gilt seit ihrer 1994 in der Zeitschrift Human Rights Quarterly erschienenen Studie Fifteen Truth Commissions – 1974 to 1994 (Hayner 1994) als Pionierin in der Untersuchung dieser Form der Transitional Justice. Als Mitbegründerin des International Center for Transitional Justice hat sie zudem selbst einen wesentlichen Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet. Hayner hat bereits 2001 eine umfangreiche Monografie zu Wahrheitskommissionen vorgelegt, die als Standardwerk gilt und 2011 erstmalig umfassend überarbeitet wurde (Hayner 2011). Hinzugekommen ist eine Vielzahl neuer Wahrheitskommissionen, denen jeweils ein kurzer Abschnitt zu ihrer Entstehung und Arbeit gewidmet wird. Darüber hinaus findet sich ein neues Kapitel zur Genderthematik, in dem Hayner auf die Ahndung von sexueller Gewalt eingeht und Überlegungen zur Repräsentation von Frauen im Transitional JusticeProzess wie zum Beispiel in der Besetzung von Wahrheitskommissionen anstellt. Der Genderaspekt, der sowohl in der Transitional Justice-Praxis als auch in der -Forschung lange Zeit vernachlässigt wurde, wird auch in Ambos et al. (2009) von Nahla Valji sowie in Shaw et al. (2010) von Fiona C. Ross am Beispiel von Wahrheitskommissionen aufgegriffen. Beide Autorinnen diskutieren dieses Thema unter der Fragestellung, wie mit sexueller Gewalt gegen Frauen und den Bedürfnissen der Opfer im Rahmen von Transitional Justice umgegangen werden sollte. Mittlerweile finden sich darüber hinaus weitere Perspektiven in der Untersuchung der Rolle von und des Umgangs mit Geschlecht. Frauen werden hierin nicht allein als Opfer, sondern (erstmals) auch als Täterinnen thematisiert. Zudem wird gezeigt, dass Gewalt wie auch ihre Überwindung durchzogen sind von spezifischen Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen (Buckley-Zistel/Stanley 2011). Grundlegend überarbeitet hat Hayner unter anderem das Kapitel zum Verhältnis von Wahrheitskommissionen und Strafgerichtsbarkeiten, darunter der Internationale Strafgerichtshof. Sie weist darauf hin, dass Wahrheitskommissionen und Strafprozesse mittlerweile nicht mehr als gegensätzlich, sondern als wechselseitige Ergänzung aufgefasst werden. In diese Richtung geht auch Alison Bisset in
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ihrem Buch Truth commissions and criminal courts (Bisset 2012). Ausgehend von der Annahme, dass diese beiden Praktiken mittlerweile eingesetzt werden, um sich gegenseitig zu ergänzen, ihr Zusammenspiel bislang jedoch noch nicht näher systematisch untersucht wurde (S. 2), analysiert sie die Vor- und Nachteile dieser gleichzeitigen Existenz zweier Transitional-Justice-Verfahren.4 Dabei unterscheidet sie die Einsetzung von Wahrheitskommissionen bei gleichzeitigen nationalen Strafprozessen (hier geht sie konkret auf die Fälle Südafrika, Osttimor und Sierra Leone ein), bei Verfahren am Internationalen Strafgerichtshof und bei Prozessen in Drittländern. Sie legt dabei vor allem die Vielfalt der unterschiedlichen Konstellationen von Wahrheitssuche und strafrechtlicher Zurechnung von Verantwortung dar, betont aber auch, dass Wahrheitskommissionen durch die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts und die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs hinter das Primat der Verurteilung von Schuldigen zurückgedrängt werden könnten (S. 199). Sie konstatiert zudem generelle Schwierigkeiten in der Koordination dieser beiden Transitional-Justice-Maßnahmen, da sie gegensätzliche Anreize im Hinblick auf die Wahrheitsermittlung schaffen. Im Vordergrund stehen dabei Fragen nach dem Zugang zu und der Weitergabe von Informationen sowie nach der Rolle und Sicherheit von Zeugen (S. 6). Aussagen, die eine rechtliche Relevanz bekommen, könnten Täter, aber auch Zeugen davon abhalten, Informationen preiszugeben, worauf jedoch wiederum die Arbeit von Wahrheitskommissionen basiere (S. 188). Vor diesem Hintergrund versucht Bisset, Bestpractice-Modelle abzuleiten und entsprechende Empfehlungen zu geben. Damit geht es der Autorin auch um eine Evaluation von Transitional-Justice-Maßnahmen mit dem Ziel, Richtlinien für die Kooperation von Wahrheitskommissionen und Gerichten zu entwickeln. Hierin sieht sie einen Beitrag zum „minimising the risk of conflict to enable truth commissions and prosecutorial institutions to coexist effectively in this new era of transitional justice“ (S. 6).
Das Verhältnis von globalen Standards und lokalen Praktiken Hinter der Frage nach der Vereinbarkeit von hybriden beziehungsweise internationalen Strafgerichten mit nationalen Wahrheitskommissionen steht auch eine grundsätzliche Frage, die zunehmend diskutiert wird. Während zunächst nach standardisierbaren Best-practice-Maßnahmen gesucht wurde, die als Expertise immer wieder auf neue Fälle angewandt werden können, gilt die Aufmerksamkeit vermehrt erstens den Konflikten, die entstehen, wenn standardisierte Verfahren auf spezifische nationale oder lokale Kontexte übertragen werden. Zweitens rücken lokale Praktiken in den Fokus, wie die Beiträge von Victor Igreja und Stef Vandeginste in Building a future on peace and justice (Ambos et al. 2009) mit Blick auf Mozambique beziehungsweise Burundi zeigen. Das Verhältnis und die 4
Allerdings findet sich zu dieser Thematik bereits eine Vielzahl von Fallstudien wie unter anderem in Darcy/Schabas 2004.
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Evaluation von „global mechanisms and local realities“ (Hinton 2010) stehen im Mittelpunkt weiterer Sammelbände. In dem Sammelband Transitional justice from below. Grassroots activism and the struggle for change nehmen Kieran McEvoy und Lorna McGregor Transitional Justice als „contested space“ in den Blick, indem sie „the need for bespoke solutions to different transitions rather than ‚off-the-shelf‘ models“ konstatieren (McEvoy/McGregor 2008, S. 2). Sie nehmen hierbei eine „From below“-Perspektive ein und lenken den Fokus auf eine Inklusion derjenigen, die sich jenseits der sozialen und politischen Eliten in der Ausgestaltung von Transitional Justice oftmals kein Gehör verschaffen können. Der Sammelband richtet sich insbesondere an Praktiker und thematisiert deshalb Möglichkeiten, wie Transitional-JusticeProzesse verbessert werden können. Dazu gehört laut Kieran McEvoy ein „dichtes“5 Verständnis von Transitional Justice. McEvoy richtet sich damit gegen eine reine Verrechtlichung von Transitional Justice, die die tatsächlichen Möglichkeiten im Umgang mit begangenen Menschenrechtsverletzungen einschränke. Als wichtig erachtet er eine Ergänzung um lokale Maßnahmen, einen Fokus auf ökonomische sowie sozialstaatliche Entwicklung und ein ausgeprägteres kriminologisches Verständnis im Sinne eines verstärkten Rückgriffs auf soziologische, psychologische, juristische und philosophische Expertise. In diesem Sinne untersuchen weitere Beiträge das Verhältnis von Internationalem Recht und lokalen Ansätzen im Hinblick auf Amnestien und Opferrechte (McGregor), gesellschaftliche demokratische Partizipation sowohl an Transitional-Justice-Verfahren (Lundy und McGovern) als auch an der Erarbeitung einer neuen Verfassung (McConnachie und Morison) sowie die Einbeziehung ökonomischer Verbrechen und Korruption in Transitional Justice, da hierdurch zur Delegitimierung des alten Regimes beigetragen werde (Cavallaro und Albuja). Hinzu kommen Fallstudien zu „social repair“ in Guatemala (Arriaza und Roht-Arriaza), zu Osttimor und den Vor- und Nachteilen einer Transitional Justice „from below“ (Stanley), zum Kampf „von unten“ gegen die Straflosigkeit in Kolumbien (Díaz) und – als ein seltener Blick auf postsozialistische Staaten – zur Reform des Gefängnissystems in Russland (Piacentini). Alexander Laban Hinton stellt den Beiträgen in seinem Sammelband Transitional justice. Global mechanisms and local realities after genocide and mass violence (Hinton 2010) den Hinweis auf das Problem voran, dass sich Forschung und Praxis bislang zu wenig mit „the messiness of global and transnational involvements and the local, on-the-ground realities with which they intersect“ (S. 1) beschäftigt haben. Aufgrund dieser Diagnose betont Hinton die Notwendigkeit einer kulturanthropologischen Perspektive. Denn momentan stecke das Konzept von Transitional Justice fest in einer modernisierungstheoretischen6 Vorstellung als „leading towards an idealized ‚post‘ state of liberalism defined by a cluster of key
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McEvoy spricht von „thick“ im Gegensatz zu „thin“. Hinton selbst verweist hier auf indirekte Reminiszenzen an das Konzept der „stage theory“ aus dem späten 19. Jahrhundert, das den Kolonialismus als legitimes Projekt zur Zivilisierung der „primitive people“ begriffen habe.
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terms, such as ‚rule of law‘, ‚civil society‘, ‚legal culture‘, ‚civilized‘, ‚human rights‘, ‚democratic‘, pluralistic‘, ‚free market‘, and ‚liberal‘“ (S. 7). Hinton kritisiert die Vorstellungen internationaler Akteure und lokaler Eliten von Transitional Justice als „a ‚toolkit‘ or ‚menu‘“. Denn dies seien „metaphors that tacitly depict them as engineers or mechanics who have the expertise and knowledge to rebuild the ‚broken society‘ or ‚failed state‘“ (S. 7). Durch Transitional Justice würden dagegen vielmehr komplexe historische Ereignisse auf eine konflikthafte Vergangenheit und das Streben nach einer besseren demokratischen Zukunft reduziert (S. 7). Transitional Justice werde praktiziert als eine „rite of passage“, in der die Transition von einer negativen Vergangenheit in eine positive Zukunft als vor allem symbolische Handlung vollzogen werde (S. 8). Die diagnostizierte „messiness“ wird in den zehn Beiträgen diskutiert, die einerseits von internationalen Modellen dominierte Transitional-Justice-Prozesse und ihre lokalen Folgen thematisieren. Anderseits finden sich Beiträge, welche aktuelle Gewalt beziehungsweise deren Adressierung als langfristige Konsequenzen von Kolonialisierung und damit die von Hinton angesprochene Reduktion historischer Komplexität thematisieren. Die Beiträge sind fokussiert auf drei Problembereiche: Die ersten drei Fallstudien thematisieren „transitional frictions“ zwischen als universell gesetzten Maßnahmen und lokalen Anforderungen, die zu „unintended consequences“ (Drexler, S. 50) führen. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach den lokalen Prozessen, die durch standardisierte TransitionalJustice-Maßnahmen ausgelöst (Wagner; Drexler) oder gerade nicht bewirkt werden (Sanford und Lincoln) und damit eine direkte Übertragbarkeit in Frage stellen. Vier weitere Studien widmen sich dem Problem einer „vernacularization“ von Transitional Justice. „Vernacularization“ bedeutet hier, dass „the meaning and form of transitional justice idioms [wie zum Beispiel „justice“ oder „reconciliation“, A.K.] are mediated, appropriated, translated, modified, misunderstood, ignored, or even rejected in everyday social practices“ (S. 12). Dieses Problem einer lokalen Übersetzung von Transitional-Justice-Vorstellungen und -Zielen wird verdeutlicht an den ruandischen Gacaca-Tribunalen (Burnet), der Jugendgewalt im Zuge von als unzureichend empfundener Transitional Justice in Nordnigeria (Casey), kanadischen Aushandlungsprozessen um das Kolonialunrecht (Woolford) und anhand der Klage burundischer Indigener gegen ihre Vertreibung aus dem Central Kalahari Game Reserve (Hitchcock und Babchuk). In diesen sehr unterschiedlichen Kontexten sticht insbesondere die Verwendung des Genozid-Begriffs hervor, der jedoch in den Beiträgen selbst nicht näher als ebenfalls internationalisiertes Deutungskonzept diskutiert wird. Dagegen verdeutlichen diese Beiträge, auf welche Weise als universal gesetzte Ideen mit nationalen Interpretationen konfligieren. Sie zeigen ebenfalls, dass es nicht notwendigerweise die als universell gesetzten Transitional-Justice-Vorstellungen sind, die Konflikte hervorrufen und Unzufriedenheit erzeugen, sondern ebenso die nationalen Interpretationen einflussreicher Akteure, die aus politischen Interessen entspringen, wie auch die lokalen Konfliktlösungsmechanismen selbst. Unter der Überschrift „voice, truth, and narrative“ stehen in drei weiteren Beiträgen geschichts- und erinnerungspolitische Fragen der Konstruktion von Narrativen so-
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wohl im Verhältnis von Staat und Gesellschaft (Robben) als auch innergesellschaftlich (Dwyer) über die Vergangenheit und den Transitional-Justice-Prozess im Mittelpunkt. Nigel Eltringham untersucht zudem die „micropractices“ im Rahmen internationaler Gerichtsverhandlungen. Er analysiert am Beispiel des Internationalen Ad-hoc-Tribunals für Ruanda, wie diese Verfahren durch die jeweiligen kulturellen Gewohnheiten und Praktiken der Beteiligten, allen voran der Juristen selbst, geformt werden. Damit verdeutlicht Eltringham, auf welche Weise in den als hoch standardisiert wahrgenommenen internationalen Gerichtsverfahren lokal geprägte Praktiken Einfluss nehmen. Der letzte Beitrag von Roger Duthie relativiert zu einem gewissen Anteil den kulturanthropologischen Blick, der in den vorherigen Beiträgen dominiert. Denn hier findet sich – jenseits der analytischen Perspektive – (wieder einmal) der normative Anspruch, aus den Fallstudien policy-relevante Konsequenzen für den Umgang mit Transitional Justice abzuleiten. Duthie konstatiert deshalb, dass man Transitional Justice trotz aller Probleme nicht ablehnen, sondern stattdessen lediglich die Erwartungen realistisch halten solle; eine These, die aufgrund seiner Zugehörigkeit zum International Center for Transitional Justice nicht sonderlich verwundert. Die Beiträge des Sammelbandes Localizing transitional justice. Interventions and priorities after mass violence von Rosalind Shaw, Lars Waldorf und Pierre Hazan (Shaw et al. 2010) fokussieren die lokale Anwendungsebene von Transitional Justice unter der Fragestellung, wie man Transitional Justice an den Bedürfnissen derjenigen ausrichten könne, die selbst unmittelbar Gewalterfahrungen ausgesetzt waren. Sie legen dabei nahe, dass die Kategorisierung in „Täter“ und „Opfer“, wie sie durch Wahrheitskommissionen oder Strafverfahren vorgenommen wird, hinterfragt werden müsse, da hierdurch Narrative befördert werden, die andere Darstellungen unterdrückten und damit gesellschaftlicher Integration zuwiderlaufen (Finnström; Shaw; Theidon). Damit verweisen sie darauf, dass nicht nur in der Vergangenheit bestimmte Wahrheiten unterdrückt wurden, sondern dass durch Transitional Justice selbst andere Stimmen (unter anderem von Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, vgl. Ross) zum Schweigen gebracht werden, weshalb alternative Wege wie zum Beispiel die „Erinnerungshäuser“ in Guatemala (Arriaza und Roht-Arriaza) erforderlich seien. Gleichzeitig verdeutlichen Ann Nee und Peter Uvin, Rosalind Shaw sowie Lars Waldorf, dass Schweigen Schutz vor weiterhin anhaltender Gefahr bieten könne. Zudem werden lokale Gewohnheitsrechte wie die Gacaca-Tribunale in Ruanda (Waldorf) oder die nordugandischen Rituale nyono tong gweno und mato oput (Finnström) als Konfliktlösungsmechanismen beleuchtet, die einerseits dem lokalen Kontext entspringen, gleichzeitig jedoch bestehende soziale Ungleichheiten verfestigen können. Die Beiträge zu Israel und Palästina (Dudai und Cohen) sowie zu Burma (Falvey) beschäftigen sich mit Kontexten, in denen bislang keine offiziellen Maßnahmen ergriffen wurden, sich aber dennoch zivilgesellschaftliche Initiativen formiert haben, die als Anknüpfungspunkt für weitere, an den lokalen Bedürfnissen ausgerichtete Maßnahmen dargestellt werden. Insgesamt stehe Transitional Justice vor der Frage, welche
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Bedürfnisse – internationale Vorstellungen oder lokale Realitäten – hierdurch adressiert werden sollen (Weinstein, Fletcher, Vinck und Pham). Der Beitrag von Pierre Hazan nimmt im Kontrast zu den lokalen Fallstudien eine globale Perspektive ein. Er diskutiert kritisch die Entstehung und Verbreitung von Transitional Justice, indem er die dahinterstehenden ideologischen Wertvorstellungen und die damit verbundenen politischen Interessen in den Blick nimmt. Die Ausbreitung der Idee von Transitional Justice sieht Hazan vor dem Hintergrund, dass viele Organisationen und Geldgeber aus den USA stammen, eingebettet in eine Strategie der US-amerikanischen Außenpolitik, die darunter nicht nur eine politische Liberalisierung in Richtung Demokratie verstehe, sondern damit eine „Soft power“-Hegemonialisierung verbinde, die mit eigenen, speziell wirtschaftlichen Interessen verknüpft sei (S. 51). Hazan unternimmt damit eine Kontextualisierung von Transitional Justice, die über das geläufige Paradigma einer Verbreitung der Menschenrechte hinausgeht und nach der ideologischen Unterfütterung der Transitional-Justice-Bewegung fragt. Er betont vor allem die „ameriglobalization“, die in nationale Kontexte eingreife. Mit dem 11. September 2001 sieht er die proklamierte „eschatological dimension of transitional justice“ (S. 55) als beendet an. Es sei nicht mehr „soft power“ gefragt, sondern eine Demokratisierung durch „hard power“ in Form von Krieg, wodurch die zentralen, auf Rechtsstaatlichkeit basierenden Kriterien von Transitional Justice unterlaufen werden. Dieser Beitrag beinhaltet bereits wesentliche Aspekte seiner Monografie Judging war, judging history (Hazan 2010), die zunächst die Entwicklung der Idee von Transitional Justice seit den Nürnberger Prozessen im Kontext einer neuen Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert. Hazan betont vor allem die politischinstrumentelle Seite, die er bereits in den Nürnberger und Tokioter Prozessen, dem westdeutschen Umgang mit den NS-Verbrechen und dem Eichmann-Prozess in Israel mit dem damit einhergehenden jüdischen Gedenken des Holocausts sieht, welche zusammengenommen als die Vorläufer des in den 1990er-Jahren entstehenden Transitional-Justice-Paradigmas interpretiert werden. Nachfolgend thematisiert er den Kollaps der argentinischen Militärdiktatur, die Einsetzung der südafrikanischen Wahrheitskommission und das Internationale Ad-hoc-Tribunal für Jugoslawien als markante Entwicklungsstufen in einer Transitional-Justice-Genealogie. Neben der (oben bereits dargelegten) „ameriglobalization“ geht er auf die Rolle von NGOs als den „new entrepreneurs of norms“ und des „Pinochet-Effekts“ (vgl. hierzu Roht-Arriaza 2005) ein, die jeweils für die internationale Einforderung von Transitional Justice stehen. Ein eigenes Kapitel ist der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban 2001 gewidmet, die mit Nelson Mandela als Gastgeber im Zeichen der südafrikanischen Wahrheitskommission gestanden habe. Hazan betrachtet diese Konferenz als zentral in der Diskussion um die Überwindung von Kolonialisierung und rassistischen Ideologien als Quelle für anhaltende Konflikte und für die Universalisierung von Transitional Justice als „a foundation for a common international culture“ (S. 128). Er beurteilt sie jedoch als gescheitert, da nationalstaatliche Interessen mit dem Anspruch universeller Menschenrechte kollidierten. Das Ziel, im Sinne von „restorative justice“ zu einer gemeinsamen (Kolonial-)Geschichtsinter-
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pretation zu gelangen, die auf der Anerkennung von Gleichheitsprinzipien und dem gemeinsamen Versuch, Ungleichheit zu überwinden, basieren sollte, sei nicht erreicht und die Idee von Transitional Justice als einer „ideology to transform the world“ (S. 91) hierdurch konterkariert worden. Trotz des Scheiterns eines universellen Anspruchs auf eine globale Vergangenheitsaufarbeitung haben sich Transitional-Justice-Praktiken in der Folge dennoch stark weiterentwickelt. Dies zeigt Hazan in zwei weiteren Kapiteln zur marokkanischen Wahrheitskommission und zu Uganda und dem dortigen Konflikt zwischen traditionellen Konfliktlösungsansätzen und dem Internationalen Strafgerichtshof. In beiden Fällen geht er auf die politischen Konflikte um diese Transitional-Justice-Prozesse in ihrer nationalen, aber auch internationalen Dimension ein. Mit diesem globalen Blick auf Transitional Justice sowie auf die politischen Hintergründe und normativen Wertvorstellungen, die die Entstehung und Verbreitung dieses Paradigmas befördert haben, eröffnet Hazan eine neue Perspektive. Zwar ist er selbst, wie er es im Vorwort schildert, aufgrund seiner persönlichen Erlebnisse unter anderem im Jugoslawienkrieg geprägt in der Bewertung von Transitional Justice und den dort hineingelegten Hoffnungen und erlebten Enttäuschungen. Dennoch eröffnet er mit der Einbettung von Transitional Justice in weltpolitische Prozesse neue, wenn auch gerade in der Bewertung von Transitional Justice „as a product and as an agent of neoliberal globalization“ (S. 151) provokante Einsichten, die Stoff für weitere Diskussionen über die internationale Dimension von Transitional Justice liefern. In dem Sammelband Identities in transition von Paige Arthur (Arthur 2011) vom International Center for Transitional Justice geht es dagegen nicht primär um den Konflikt zwischen global und lokal. Stattdessen lenkt der Band den Blick auf den Umgang mit unterschiedlichen Identitätsbezügen als Ausgangspunkt sowohl für Konflikt als auch für die Frage der Konfliktüberwindung. In den elf Beiträgen unter anderem zu Ländern wie Guatemala, Südafrika und Nordirland bis zum wiedervereinigten Deutschland und Kanada steht die Frage im Vordergrund, welchen Beitrag Wahrheitskommissionen (Fullard und Rousseau; Jung), Strafverfahren vor nationalen, internationalen und hybriden Gerichtshöfen (Aptel; Wilke), Reformen des Sicherheitssektors (O’Rawe), Reparationen (Rubio-Marín, Paz y Paz Nailey und Guillerot) oder Erinnerungspolitik (Jelin) und Geschichtsunterricht (Cole und Murphy) zur Überwindung von innergesellschaftlichen Spannungen leisten, die trotz des Endes einer Diktatur oder eines Bürgerkriegs weiterhin bestehen. Es geht um die Frage nach „identity politics“ in Ländern, in denen die Ursache für Gewalt in ethnisch, religiös oder sprachlich motivierter Diskriminierung liegt. Dazu werden den Fallstudien zunächst theoretische Überlegungen vorangestellt, die die Rolle von Identitätszuschreibungen während und nach Konflikten als zentralen, jedoch bislang vernachlässigten Gegenstand der TransitionalJustice-Forschung beleuchten. Dabei stehen sowohl langwährende alltägliche Diskriminierungen als auch ihre Verortung in der sozialen Struktur einer Gesellschaft im Mittelpunkt. Auch geht es um die Frage, wie gerade solche tief sitzenden Ungleichheiten durch Transitional Justice adressiert werden können, um auf diese Weise langfristig pazifizierend zu wirken.
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Daran zeigt sich ein neuer Trend in der Transitional-Justice-Forschung. Drei der vorliegenden Studien richten den Fokus auf indigene Minderheiten verbunden mit der Frage, wie sie in die Mehrheitsgesellschaft integriert werden können, um auf diese Weise den Konflikt zu befrieden (Rubio-Marín et al.; Jung; Chapman). Gleichzeitig führt der Fokus auf indigene Bevölkerungen zu neuen Fragestellungen. Zwar kommen hier Wahrheitskommissionen zum Einsatz. Doch handelt es sich – wie im Beispiel der kanadischen Wahrheitskommission – nicht mehr um Transitional Justice im Sinne eines aktuellen politischen Wandels, durch den die Frage nach zuvor begangenen Menschenrechtsverletzungen relevant wird. Stattdessen geht es um den Umgang mit Kolonialunrecht (vgl. hierzu auch in Hinton 2010: Woolford zu British Columbia sowie Hitchcock und Babchuk zu Burundi), wodurch sich der Gegenstand der Transitional Justice erweitert.
Lustration im Postkommunismus Eine Besonderheit der postkommunistischen Transitional Justice ist ein Verfahren, das als Lustration bekannt geworden ist. Lustration bezeichnet die offizielle ‚Durchleuchtung‘ von Personen hinsichtlich einer Tätigkeit für vorherige Geheimdienste oder Funktion in der zuvor herrschenden Partei. Diese Transitional-JusticePraktik ist mittlerweile Gegenstand verschiedener Untersuchungen geworden. In ihrer Monografie Skeletons in the closet untersucht Monika Nalepa (Nalepa 2010) die Frage, warum es, im Unterschied zur Tschechischen Republik, in den ehemals kommunistischen Ländern Polen und Ungarn erst einige Jahre nach dem politischen Umbruch zu Lustrationen gekommen ist, obwohl die Umbrüche in diesen Ländern ebenfalls durch eine friedliche Machtübergabe an Runden Tischen gekennzeichnet waren. Als Schülerin von Jon Elster analysiert sie aus der Perspektive des rationalen Entscheidens drei Fragen hinsichtlich des Vorgehens in diesen Ländern. Zunächst fragt sie danach, warum es nicht direkt nach dem jeweiligen Umbruch zu Lustrationen gekommen ist. Entgegen der Annahme, dass hierfür die weiter bestehende Macht der alten Eliten entscheidend gewesen sei, steckt Nalepas Kernthese bereits im Titel des Buchs: Auch die frühere Opposition habe „skeletons in the closet“7 in Form von Informanten in den eigenen Reihen gehabt, deren Existenz nicht ans Licht kommen sollte. Aus diesem Grund bewertet Nalepa Lustration als eine besondere Form der Transitional Justice, weil das systematische Durchleuchten dazu führen könne, dass eine gezielte Unterwanderung der Opposition zutage trete, welche ihre Glaubwürdigkeit untergrabe. Daran anschließend untersucht sie die Frage, warum nachfolgend die Amnestieversprechen gegenüber den alten Eliten sukzessiv gebrochen wurden, indem schließlich doch Lustrationen durchgeführt wurden. Hinter diesem Timing sieht sie als Erklärung nicht nur den Aufstieg neuer politischer Eliten, in deren Reihen keine früheren
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Frei übersetzt bedeutet dies „Leichen im Keller“.
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geheimdienstlichen Informanten mehr zu befürchten gewesen seien. Zudem weist sie darauf hin, dass es gerade die ehemals kommunistischen Parteien gewesen sind, die, nachdem sie wieder Wahlen gewinnen konnten, Lustrationsgesetzgebungen verabschiedet haben. Dies erklärt sie mit der strategischen Überlegung, durch eine selbst aufgesetzte Gesetzgebung zu verhindern, dass nach den nächsten Wahlen stärkere Lustrationsgesetze durch Antikommunisten erlassen werden. Nalepa stellt damit den geläufigen Thesen, dass die Art der begangenen Verbrechen sowie des politischen Übergangs das Timing von Transitional Justice beeinflussen (siehe Tabelle 1.1, S. 24), eine spieltheoretische Pattsituation entgegen. In dieser könne die alte Elite davon ausgehen, dass die neue Elite nur über unzureichende Informationen hinsichtlich ihrer „skeletons in the closet“ verfüge und deshalb keine Lustrationsmaßnahmen unternehmen werde, wodurch ein friedlicher Machtwechsel möglich werde. Jedoch stellt sich die Frage, ob diese Unsicherheit tatsächlich als entscheidende Erklärung für einen friedlichen Übergang und den vorläufigen Verzicht auf Transitional Justice dienen kann, wie es Nalepa abschließend in der Übertragung auf das Fallbeispiel Kolumbien zu zeigen versucht. Es fehlen Überlegungen dahingehend, dass es sich bei Transitional Justice zwar heutzutage um eine fest institutionalisierte Erwartungshaltung handelt. Anfang der 1990er-Jahre sah die Situation jedoch noch vollkommen anders aus. Zudem sind Lustrationsgesetze selbst eine Erfindung, die erstmals in der Tschechoslowakei zum Tragen kam und erst von dort aus in andere Länder diffundiert ist. Deshalb ist es problematisch, den Regimekollaps der sowjetischen Satellitenstaaten insbesondere dadurch zu erklären, dass die alten Eliten zunächst keine ziviloder strafrechtliche Verfolgung befürchteten. Dennoch lohnt es sich, die Frage nach der postkommunistischen verzögerten Transitional Justice zu stellen, in der Gerichtsprozesse oder Wahrheitskommissionen bis heute keine nennenswerte Rolle spielen. In seiner Monografie Lustration and transitional justice. Personnel systems in the Czech Republic, Hungary, and Poland untersucht Roman David (2011) zwar dieselbe Praxis in denselben Ländern. Dennoch verfolgt er einen vollkommen anderen Ansatz. Während Nalepa die individuellen Kalkulationen von ehemaliger Opposition beziehungsweise vorheriger politischer Elite zum Kern ihrer Erklärung hinsichtlich der Forderung nach Lustrationsmaßnahmen macht, steht bei David der unterschiedliche Umgang mit Lustration im Mittelpunkt. Er fragt nicht nach den Gründen für den jeweiligen Zeitpunkt der beginnenden Lustration. Stattdessen konzentriert er sich erstens auf die Frage nach der Entstehung unterschiedlicher „personnel systems“. Darunter versteht er eine besondere Form der Personalpolitik, durch die aufgrund von „transitional public employment measures that regulate access to non-elected positions in public administration“ (S. x) der Zugang von belasteten Personen zu solchen Posten reglementiert wird. Zweitens geht David der Frage nach, welche politischen und sozialen Konsequenzen aus dem jeweiligen „personnel system“ resultieren. Einen entscheidenden Erklärungsfaktor für die unterschiedliche historische Entwicklung der jeweiligen Lustrationssysteme in den drei Ländern sieht der Autor in der Wahrnehmung der jeweiligen Belastung des Personals der öffentlichen Ver-
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waltungen. Anhand der jeweiligen daraus resultierenden Personalpolitik klassifiziert David die unterschiedlichen Wege in den drei Ländern in ein „exclusive“ (Tschechien), „inclusive“ (Ungarn) und „reconciliatory system“ (Polen) (S. 24– 39; 70–90). Während bereits 1991 in der Tschechoslowakei ein Lustrationsgesetz verabschiedet wurde, durch das belastete Personen vom Staatsdienst ausgeschlossen werden konnten, wurden in Ungarn und Polen andere Verfahren genutzt, um zu bestimmen, wer ausgeschlossen wird. In Ungarn wurde belasteten Personen die Möglichkeit gegeben, im Amt zu bleiben, wenn die Bereitschaft bestand, ihre Vergangenheit vollständig öffentlich zugänglich zu machen. Transparenz und „reintegrative shaming“ (S. 7) sind damit die Prinzipien, nach denen die ungarische Lustration erfolgte. In Polen war dagegen jeder hohe Beamte dazu verpflichtet, eine eidesstattliche Erklärung über seine Vergangenheit abzugeben, die juristisch überprüft wurde. Wenn wahrheitsgemäße Angaben über die Taten gemacht wurden, durfte der Beamte unabhängig von der Art der Tat im Amt verbleiben. Diesen drei Personalpolitiksystemen ordnet David vor diesem Hintergrund jeweils eines der wesentlichen Transitional-Justice-Motive „retribution“, „revelation“ und „reconciliation“ zu (S. 25f.). Darüber hinaus liegt sein Interesse in dem Einfluss spezifischer Lustrationswege auf den politischen Kontext sowie auf die Überwindung gesellschaftlicher Spaltung und das kollektive Gedächtnis. Unter der Annahme, dass der Umgang mit belastetem Verwaltungspersonal ebenso entscheidend für die demokratische Entwicklung eines Landes sei wie etwa die im Gegensatz zur Lustration viel beforschten Wahrheitskommissionen, untersucht David diese drei unterschiedlichen Wege der Personalpolitik nach politischen Umbrüchen – „dismissal, exposure, and confession“ (S. 10) – im Hinblick auf ihre politischen und sozialen Konsequenzen. Dabei geht es ihm nicht allein um die faktischen Auswirkungen auf die politische Stabilität und Sicherheit. Vielmehr steht die symbolische Bedeutung des jeweiligen Umgangs mit belastetem Personal als wesentlicher Einflussfaktor hinsichtlich der Erreichung der Ziele „trust in governance“ sowie „social reconciliation“ (S. 8) im Mittelpunkt der Untersuchung. Den Umgang mit belastetem Verwaltungspersonal bewertet er deshalb – auch jenseits der postkommunistischen Fallbeispiele – unter anderem mit Blick auf den Irak in überzeugender Weise als „critical juncture, which may affect a society’s political culture for many years“ (S. x).
Versuche von Evaluation, Theoriebildung und Historisierung In einer Vielzahl der hier angesprochenen Beiträge ist bereits wiederholt die Forderung nach einer Evaluation von Transitional-Justice-Maßnahmen durchgeklungen oder es werden erste Ansätze einer solchen Effektivitätsmessung unternommen. Tricia Olsen, Leigh A. Payne und Andrew Reiter unternehmen in ihrer Monografie Transitional justice in balance. Comparing processes, weighing efficacy (Olsen et al. 2010) ausgehend von einer eigens erstellten Transitional-JusticeDatenbank mittels sechs quantitativ-komparativ ausgerichteter Studien ebenfalls
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den Versuch, den Effekt von Transitional-Justice-Maßnahmen zu messen. Berücksichtigt werden unter anderem politische und ökonomische Faktoren, aber auch der internationale Einfluss von NGOs sowie die Frage nach dem Beitrag von Transitional Justice zu Demokratie, Menschenrechten und Frieden. Hierunter fällt der Versuch, die oben bereits diskutierte These der „justice cascade“ zu überprüfen. Da sie fundamentale Annahmen der Transitional-Justice-Forschung untersuchen und teilweise auch widerlegen, ist – wie Ruti Teitel8 im Vorwort schreibt – mit Widerspruch zu rechnen, der aber einen Anschub für weitere Diskussionen über die praktische Anwendung von Transitional Justice bewirken könne. Zudem erheben die Autoren den Anspruch, mit dieser Hypothesentestung zur Theoriebildung beizutragen. Indem sie nicht nur eine Vielzahl von Maßnahmen, sondern auch von Ländern und deren politischen Entwicklungen über fast vier Jahrzehnte hinweg in ihrer Datenbank erfassen, versuchen sie generalisierte Aussagen über die erfolgreiche Anwendung bestimmter Maßnahmen zu treffen. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die entscheidenden Faktoren für den Erfolg von Transitional Justice das „sequencing“ und „balancing“ ihrer Anwendung seien. Damit unterstützen sie einen holistischen Ansatz (S. 24f.), der je nach politischer Umbruchssituation die Kombination von unterschiedlichen Maßnahmen in unterschiedlicher Reihenfolge empfiehlt. Auch hier spielen Amnestien als Transitional-JusticeMaßnahme eine entscheidende Rolle. In dem Sammelband Transitional justice von Melissa S. Williams, Rosemary Nagy und Jon Elster (Williams et al. 2012) bezieht sich Pablo de Greiff ebenfalls auf einen holistischen Ansatz. Ihm geht es jedoch weniger um die Frage nach der richtigen Kombination von Transitional-Justice-Instrumenten. Vielmehr zielt sein Beitrag darauf ab, den vagen Begriff der Gerechtigkeit in die normativen Dimensionen „recognition“, „civic trust“, „reconciliation“ und „democracy“ (S. 34) auszudifferenzieren, um zu verdeutlichen, für welche konkreten gesellschaftlichen und politischen Ziele adäquate Instrumente gefunden werden müssen, um Transitional Justice als ganzheitlichen Ansatz zu praktizieren. In weiteren Beiträgen geht es dann im politikwissenschaftlich-theoretischen Spektrum von Idealismus bis Realismus um die politische Funktion und Bedeutung von Transitional Justice, die mit zwei Fallstudien zu Osttimor (Cohen und Lipscomb) und Bosnien-Herzegowina (Nalepa) zusätzlich empirisch unterfüttert werden. Neben de Greiffs Beitrag konzentrieren sich zwei weitere Beiträge auf die Frage von Gerechtigkeit durch Transitional Justice. Jon Elster benennt „justice, truth, and peace“ (S. 79) als die drei Grundkonzepte, auf denen Transitional Justice beruhe, die sich jedoch widersprechen können. Hierzu stellt er zehn Hypothesen auf, anhand derer diese Grundkonzepte in ihrem Verhältnis zueinander in Fallstudien überprüft werden könnten. Jeremy Webber unterscheidet Transitional Justice in „retrospective“ und „prospective justice“ sowie in „the adjustment of contending legal and political orders“ (S. 99). Während die retrospektive Gerechtigkeit darauf ausgerichtet sei, be8
Ruti Teitel ist bereits seit Jahren in der Transitional-Justice-Forschung tätig (u.a. Teitel 2000) und beansprucht, den Begriff selbst mit geprägt zu haben.
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gangenen Schaden wiedergutzumachen, richte sich die prospektive Gerechtigkeit auf zukünftige Veränderungen der Gesellschaft. Insbesondere sei es wichtig – wie er am Beispiel des Iraks darlegt – darauf zu achten, wem und wozu die angestrebte Gerechtigkeit dienen solle. Drei weitere Beiträge widmen sich der Rolle von Reparationen. Auch hier wird der Zwiespalt zwischen Idealismus und Realismus deutlich. Debra Satz diskutiert die Vor-, aber insbesondere die Nachteile von finanziellen Reparationsversuchen. Dennoch betrachtet sie Reparationen nicht allein aus einer ökonomistischen Perspektive als rückwärtsgewandte Wiedergutmachung, sondern verweist auf eine Zukunftsgerichtetheit, die sie vor allem in der öffentlichen Anerkennung des Unrechts sieht. Adrian Vermeules Beitrag ist eine direkte Antwort auf Satz. Hinter seiner Bezeichnung von Reparationen als „rough justice“ steht die Annahme, dass es ein soziales Grundbedürfnis – Vermeule spricht von „intuition“ – gebe, das unter allen Umständen nach einer Kompensation von Unrecht verlange (S. 151). Daher konstatiert er eine immer gegebene Notwendigkeit von Reparationen entgegen aller Befürchtungen, die – wie auch von Satz angesprochen – an ihrer Angemessenheit und ihrem tatsächlichen Beitrag im Rahmen von Transitional Justice zweifeln. Gary J. Bass argumentiert dagegen, dass es unmöglich sei, Unrecht wie beispielsweise Genozid in irgendeiner Weise angemessen zu kompensieren. Dennoch weist er Reparationen eine Funktion zu. Er betrachtet sie als „noble lie“ (S. 167), die nach zwischenstaatlichen Konflikten dazu diene, nationalen ökonomischen und Sicherheitsinteressen nachzukommen. Zwei weitere Beiträge betrachten unter Bezug auf die Überwindung der südafrikanischen Apartheid, wie durch Transitional Justice gesellschaftliche Ordnung und Rechtsstaatlichkeit wiederhergestellt werden könne. Dyzenhaus bezieht sich auf Hobbes’ Theorie des Leviathan, die er auf den Prozess von Transitional Justice überträgt. Um Frieden in Form einer rechtsbasierten zivilen gesellschaftlichen Ordnung zu erreichen, stehe Transitional Justice vor der Aufgabe, eine Einigung auf die Abgabe von Macht an einen Leviathan zu erzielen, den er als einen von allen anerkannten Rechtsstaat interpretiert. Die Herstellung einer legalen Ordnung werde in dem Moment möglich, in dem politische Akteure der „logic of reciprocity“ (S. 209) folgten und sich aufgrund ihres Rechtsempfindens – Dyzenhaus spricht hier von „relish of justice“, das „an understanding of and a commitment to the laws of nature“ beinhalte (S. 209) – auf Angebote der Gegenseite zur Konfliktlösung einließen anstatt sie für ihre eigenen Machtinteressen auszunutzen. Eric A. Posner hält dagegen, dass politische Akteure auch in dem Moment, in dem sie auf ihre Gegner zugehen, aus Eigeninteresse handelten, welches er jedoch als positiv, da prinzipiell auf Konfliktlösung ausgerichtet, interpretiert. Diesem Eigeninteresse kontrastiert er ein konfliktverlängerndes Handeln aus ideologischen Motiven, Ruhmsucht oder Rache, das einer solchen „transitional prudence“ (S. 231) entgegenstehe. Gopal Sreenivasan verfolgt in seinem Beitrag ebenfalls die Frage, wie es aus Konflikten heraus zur Entstehung einer gerechten Ordnung kommen könne. Er geht unter Bezugnahme auf John Rawls‘ Unterscheidung von „ideal“ (S. 234) und „non-ideal theory“ (S. 236) von den „Non-ideal real world“Bedingungen aus, in denen sich weder Individuen an bestehende Gesetze halten
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noch die politischen Institutionen selbst gerecht angelegt sind. Die Herstellung einer gerechten Ordnung sei in einer solchen Situation nur möglich, wenn dies nicht allein mit Blick auf die Zukunft geschehe, sondern mit der Vergangenheit begründet werde. Aufgrund des mit Transitional justice eindeutig gewählten Titels scheint dieser Sammelband die Botschaft zu enthalten, dass hier die Grundlagen diskutiert werden, auf denen Transitional Justice beruht. Tatsächlich werden in den Beiträgen wesentliche Elemente wie Gerechtigkeit, Reparationen und die Rolle des Staates – teils in direkter Bezugnahme auf vorangegangene Beiträge – aus politikwissenschaftlicher Perspektive verhandelt. Die meisten Beiträge sind jedoch aus der Perspektive eines rationalistischen Realismus verfasst, der Transitional Justice in einem „pragmatic trade-off between competing goods“ (S. 24) auf strategisches Handeln und die Frage von Machtausübung reduziert. Der Anspruch des Bandes besteht dennoch vor allem darin, Transitional Justice erstens als auf Gerechtigkeitsprinzipien basierend zu begreifen, die integraler Bestandteil eines jeden politischen Systems auch unter „normalen“ Bedingungen sind (S. 22). Zweitens weisen die Beiträge darauf hin, dass durch Transitional Justice zwar ein Bruch mit dem vorherigen Regime angestrebt werde, dies jedoch ein langfristiger Prozess sei, der zugleich niemals als beendet betrachtet werden könne (S. 23). Zudem wird in einigen Beiträgen (Dyzenhaus, Webber) das Ideal der westlichen Demokratie als übergeordnetes Ziel von Transitional Justice kritisch erörtert und durch den Fokus auf den Aufbau von Rechtsstaatlichkeit ersetzt. Hierin spiegelt sich die auch in Nalepas Monografie diskutierte Frage wider, wie es unter Konfliktbedingungen überhaupt zu Transitional Justice kommen kann.
Fazit Transitional Justice hat sich nicht nur zu einem etablierten Forschungsgegenstand, sondern auch zu einem institutionalisierten Handlungsfeld entwickelt. Dies zeigt die aktuelle Literatur, die neben wissenschaftlichen Analysen oftmals PolicyEmpfehlungen für die Umsetzung von Transitional-Justice-Maßnahmen formuliert. Bemerkenswert ist die zunehmende Bandbreite an Fallbeispielen, die nicht nur geografisch weit streut, sondern sich in ihrem Gegenstand bis hin zur Problematik von Kolonialisierung und ihren Folgen erstreckt. Hieran schließt sich das Bestreben an, Transitional-Justice-Maßnahmen stärker zu evaluieren und auf ihre Effektivität zu überprüfen (u.a. Olsen et al. 2010). Die Institutionalisierung von Transitional Justice zeigt sich zudem an ersten Historisierungstendenzen (u.a. Hazan 2010) sowie gezielten Versuchen einer stärkeren theoretischen Unterfütterung der empirischen Analysen (u.a. Hinton 2010; Williams et al. 2012). Sowohl in der Evaluation als auch in der theoretischen Durchdringung von Transitional-Justice-Prozessen zeichnet sich dabei insbesondere ein Thema ab. Es geht nicht mehr darum, bestimmte Maßnahmen als best practice zu entwickeln. Vielmehr stehen die lokalen Anforderungen und Bedürfnisse beziehungsweise traditionelle Konfliktlösungsmechanismen im Vordergrund,
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die auf die Besonderheiten des jeweiligen Kontexts verweisen und eine Übertragung standardisierter Transitional-Justice-Maßnahmen infrage stellen (u.a. McEvoy/McGregor 2008; Hinton 2010; Shaw et al. 2010). Dies zeigt sich auch in der Praxis. Bereits 2004 wurde in einem Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen darauf hingewiesen, dass man bei der Anwendung von TransitionalJustice-Praktiken die lokalen Gegebenheiten berücksichtigen müsse (Sicherheitsrat 2004). Aber auch traditionelle Konfliktlösungsansätze sind in den Blick gerückt (Huyse/Salter 2008). Zudem werden die Ziele von Transitional Justice zunehmend insbesondere hinsichtlich der Vorstellung, zu Demokratisierung beizutragen, als westliches Konzept diskutiert (u.a. Hazan 2010; Hinton 2010; Weinstein et al. in Shaw et al. 2010). Während also zunächst Forschung und Praxis im Einverständnis, dass Transitional Justice notwendig, wenn auch in der Durchführung aufgrund politischer Interesse teils problematisch sei, Hand in Hand gingen, wird gegenwärtig die Übertragbarkeit standardisierter und kulturell-westlich inspirierter Praktiken und Ziele kritisch reflektiert. Doch ist es gerade diese Kritik, die mit ihrem Fokus auf lokale Prozesse und mit ihrer globalen Perspektive viel Potenzial für weitere Forschung birgt.
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Dr. Claudia Fröhlich, Politikwissenschaftlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Leibniz-Universität Hannover. Ausgewählte Publikationen: Der „Ulmer Einsatzgruppen-Prozess“ 1958. Wahrnehmung und Wirkung des ersten großen Holocaust-Prozesses, in: Jörg Osterloh, Clemens Vollnhals (Hrsg.): NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit, Göttingen 2011, S. 233– 262; Rückkehr zur Demokratie – Wandel der politischen Kultur in der Bundesrepublik, in: Peter Reichel, Harald Schmid, Peter Steinbach (Hrsg.): Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung, Deutung, Erinnerung, München 2009, S. 105–126; Vergesst Habermas nicht! DIE ZEIT im Historikerstreit, in: Axel Schildt, Christian Haase (Hrsg.): DIE ZEIT und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008, S. 200–217; „Wider die Tabuisierung des Ungehorsams“. Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NSVerbrechen, Frankfurt am Main, New York 2006. Dr. Martin Große Burlage, M.A., Historiker und Fachjournalist im Bereich Kultur und Ausstellungswesen, Betreiber und Redakteur des Internetportals „historischeausstellungen.de“ (www.historischeausstellungen.de). Ausgewählte Publikationen: Große historische Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland 1960–2000, Münster 2005; Funktionen großer historischer Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Sabine Mecking, Stefan Schröder (Hrsg.): Kontrapunkt – Vergangenheitsdiskurse und Gegenwartsverständnis. Festschrift für Wolfgang Jacobmeyer zum 65. Geburtstag, Essen 2005, S. 309–319. Prof. Dr. Thomas Großbölting, Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Universität Münster; Antragsteller/Principal Investigator des Exzellenzclusters „Religion und Politik“. Ausgewählte Publikationen: Der verlorene Himmel. Glauben in Deutschland seit 1945, Februar 2013; Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2011 (Hrsg. mit Rüdiger Schmidt); Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009. Dr. Sebastian Haak, Historiker, freier Nachrichtenjournalist. Ausgewählte Publikationen: The Making of The Good War. Hollywood, das Pentagon und die amerikanische Deutung des Zweiten Weltkrieges, 1945–1962, Paderborn 2013; Verschleppt! Die Entführung Passepartouts als captivity narrative, in: „Passepartout“
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Autorinnen und Autoren
(Hrsg.): Weltnetzwerke – Weltspiele, Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“, Konstanz 2013, S. 294–297; „And Feel the Tingle of the Greatest Game of Them All“: Über eine (verdrängte) Facette der Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in den Briefen US-amerikanischer Soldaten, in: Veit Didczuneit et al. (Hrsg.): Schreiben im Krieg. Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 175–184; Nuclear fear, konventionelle Kriege und die Instrumentalisierung von Angst in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Patrick Bormann et al. (Hrsg): Angst in den Internationalen Beziehungen, Bonn 2010, S. 185–202. Dr. Thorsten Heese, Historiker, Kurator für Stadtgeschichte am Felix-NussbaumHaus/Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück, Lehrbeauftragter für Museumsdidaktik und Museumspädagogik an der Universität Osnabrück, Herausgeber der Buchreihe „Museum konkret“. Ausgewählte Publikationen: Gestern Besucher – morgen lebenslanger ‚User‘. Jüngere Trends in der Museumspädagogik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012) 11/12, S. 705–719; Gesellschaft im Aufbruch. Der Club zu Osnabrück und die Entwicklung des Osnabrücker Vereinswesens. Eine Gesellschaftsgeschichte, Bramsche 2009; Vergangenheit „begreifen“. Die gegenständliche Quelle im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2007; „...ein eigenes Local für Kunst und Alterthum“. Die Institutionalisierung des Sammelns am Beispiel der Osnabrücker Museumsgeschichte, Bramsche 2004. Prof. Dr. Stefan Krankenhagen, Kulturwissenschaftler, Professor für Kulturwissenschaft und Populäre Kultur an der Stiftung Universität Hildesheim. Ausgewählte Publikationen: Collecting Europe: On the museal construction of European objects, in: Kjerstin Aukrust (Hrsg.): Assigning Cultural Values, Frankfurt am Main 2013, S. 253–269; Das relationale Objekt. Überlegungen anhand transnationaler Sammlungsstrategien der Gegenwart, in: Reinhard Johler et al. (Hrsg.): Kultur_Kultur. Denken, Forschen, Darstellen. Münster et al. 2013, S. 352–361; Europa ausstellen. Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung, Köln et al. Wien 2012 (mit Wolfram Kaiser und Kerstin Poehls); Figuren des Dazwischen. Naivität in Kunst, Pop- und Populärkultur, München 2009 (Hrsg. mit Hans-Otto Hügel). Félix Krawatzek, Doktorand am Department of Politics and International Relations, University of Oxford, Nuffield College. Arbeitet gemeinsam mit Gregor Feindt, Daniela Mehler, Friedemann Pestel und Rieke Trimçev über den zeitgenössischen Diskurs um „europäische Erinnerung“ im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld. Dr. Anne K. Krüger, Sozialwissenschaftlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wissenschaftsforschung, Humboldt-Universität zu Berlin. Ausgewählte Publikationen: From Truth to Reconciliation. The Diffusion of Truth Commissions, in: Birgit Schwelling (Hrsg.): Reconciliation, Civil Society, and the
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Politics of Memory. Transnational Initiatives in the 20th and the 21st Century, Bielefeld 2012, S. 339–367; Transitional Justice. Die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen als weltgesellschaftliche Erwartungshaltung, in: Bettina Heintz, Britta Leisering (Hrsg.): Menschenrechte in der Weltgesellschaft. Semantischer Wandel und rechtliche Institutionalisierung, Frankfurt am Main, New York (i.E.). PD Dr. Britta Lange, Kulturwissenschaftlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin mit Eigener Stelle der DFG im Projekt „Gefangene Stimmen“. Ausgewählte Publikationen: Die Wiener Forschungen an Kriegsgefangenen 1915–1918. Anthropologische und ethnografische Verfahren im Lager, Wien 2013; Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg 2011 (mit Margit Berner und Anette Hoffmann); Echt, Unecht, Lebensecht. Menschenbilder im Umlauf, Berlin 2006. Prof. Dr. Bill Niven, Germanist, Historiker, Professor für deutsche Zeitgeschichte an der Nottingham Trent University in England, History and Heritage Department. Ausgewählte Publikationen: Representations of Flight and Expulsion in East German Prose, New York 2014 (i.E.); Die Wilhelm Gustloff: Geschichte und Erinnerung eines Untergangs, Halle 2011 (Hrsg.); Memorialisation in Germany since 1945, Basingstoke 2010 (Hrsg. mit Chloe Paver); Das Buchenwaldkind: Wahrheit, Fiktion, Propaganda, Halle 2009. Sophie Oliver, Kulturwissenschaftlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Potsdam. Ausgewählte Publikationen: Trauma, bodies, performance. Towards an embodied ethics of seeing, in: Continuum: The Journal of Media and Communication Studies 23 (2010) 1, S. 119–129; Dehumanisation. Perceiving the (in)human body, in: Paulus Kaufmann et al. (Hrsg.): Humiliation, Degradation, Dehumanisation. Human Dignity Violated, Heidelberg 2010; Simulating the Ethical Community. Interactive Game Media and Engaging Human Rights Claims, in: Culture, Theory and Critique 51 (2010) 1, S. 93–108; Sacred and (Sub)human Pain. Witnessing Bodies in Early Modern Hagiography and Contemporary Spectatorship of Atrocity, in: Nancy Billias (Hrsg.): Promoting and Producing Evil, Amsterdam 2010, S. 111–130. Dr. Bert Pampel, Politikwissenschaftler, Wissenschaftlicher Referent in der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft in Dresden. Ausgewählte Publikationen: Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft und die Erweiterung des Gedenkstättenbegriffs in der Gegenwart, in: Anne Bohnenkamp-Renken u.a. (Hrsg.): Luther, Schiller, Goethe, Dürer, Mozart, Bach. Personengedenkstätten des 19. Jahrhunderts [i. E.]; Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschichtlichen Ausstellungen, Leipzig 2012; „Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist“. Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher, Frankfurt am Main, New York 2007.
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Dr. Silvio Peritore, Historiker, Vorstandsmitglied im Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma und stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Mitglied in diversen Gremien von Stiftungen und Gedenkstätten. Ausgewählte Publikationen: Zeitzeugen. Erinnerung an den NS-Völkermord an den Sinti und Roma, in: Rebecca Boehling, Susanne Urban, René Bienert (Hrsg.): Freilegungen. Überlebende – Erinnerungen – Transformationen. Jahrbuch des International Trading Service (ITS) 2 (2013), S. 213–227; Geteilte Verantwortung? Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma in der deutschen Erinnerungspolitik und in Ausstellungen zum Holocaust, Diss. Universität Hannover, URL: http://edok01. tib.uni-hannover.de/edoks/e01dh12/689270186.pdf; Mit den Augen der Täter. Fotodokumente des NS-Völkermords an den Sinti und Roma (zusammen mit Frank Reuter), in: Dies. (Hrsg.): Inszenierung des Fremden. Fotografische Darstellung von Sinti und Roma im Kontext der historischen Bildforschung, Heidelberg 2011, S. 93–129; Die ständige Ausstellung zum Völkermord an den Sinti und Roma im Staatlichen Museum Auschwitz. Voraussetzungen, Konzeption und Realisierung (zusammen mit Frank Reuter), in: Frank Grüner, Urs Heftrich, Heinz-Dietrich Löwe (Hrsg.): Zerstörer des Schweigens. Formen künstlerischer Erinnerung an die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik in Osteuropa, Köln 2006, S. 495–514. Dr. Harald Schmid, Politikwissenschaftler und Zeithistoriker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten, Sprecher des Arbeitskreises „Politik und Geschichte“ in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. Ausgewählte Publikationen: Das Unbehagen in der Erinnerungskultur. Eine Annäherung an aktuelle Deutungsmuster, in: Margrit Frölich u.a. (Hrsg.): Das Unbehagen an der Erinnerung – Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt am Main 2012, S. 162–181; „Die Vergangenheit mahnt“. Genese und Rezeption einer Wanderausstellung zur nationalsozialistischen Judenverfolgung (1960–1962), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60 (2012) 4, S. 331–348; Das Gedächtnis von Stadt und Region. Geschichtsbilder in Norddeutschland, 2. Aufl., München u.a. 2011 (Hrsg. mit Janina Fuge und Rainer Hering); Gender gap Erinnerungskultur. Frauen in der westdeutschen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus – eine Spurensuche, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 2011, 59, S. 6–15. Dr. habil. Birgit Schwelling, Politikwissenschaftlerin und Zeithistorikerin, derzeit Fellow am Käte Hamburger Kolleg/Centre for Global Cooperation Research in Duisburg. Ausgewählte Publikationen: Reconciliation, Civil Society, and the Politics of Memory. Transnational Initiatives in the 20th and 21st Century, Bielefeld 2012 (Hrsg.); Heimkehr – Erinnerung – Integration. Der Verband der Heimkehrer, die ehemaligen Kriegsgefangenen und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, Paderborn 2010; Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004 (Hrsg.).
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Prof. Dr. Thomas Thiemeyer, Kulturwissenschaftler, Juniorprofessor am LudwigUhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft Tübingen. Ausgewählte Publikationen: Artikel „Museumsdinge“, in: Manfred Eggert, Hans Peter Hahn, Stefanie Samida (Hrsg.): Metzler Handbuch Materielle Kultur, Stuttgart 2014 (im Druck); Inszenierung und Szenografie. Auf den Spuren eines Grundbegriffs des Museums und seines Herausforderers, in: Zeitschrift für Volkskunde 108 (2012), S. 199–214; Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Die beiden Weltkriege im Museum, Paderborn 2010; Geschichtswissenschaft – Das Museum als Quelle, in: Joachim Baur (Hrsg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2010, S. 73–94. Rieke Trimçev, Doktorandin am Institut für Politikwissenschaft, Universität Hamburg. Arbeitet gemeinsam mit Gregor Feindt, Félix Krawatzek, Daniela Mehler und Friedemann Pestel über den zeitgenössischen Diskurs um „europäische Erinnerung“ im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld. Dr. Irmgard Zündorf, Historikerin, Referentin für Wissenstransfer und Hochschulkooperation am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Ausgewählte Publikationen: DDR-Alltagsgeschichte im Museum, in: Katrin Hammerstein, Jan Scheunemann (Hrsg.): Die Musealisierung der DDR. Wege, Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Zeitgeschichte in stadt- und regionalgeschichtlichen Museen, Berlin 2012, S. 96–109; Zeitgeschichte und Public History, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, URL: http://docupedia.de/docupedia/index. php?title=Public_History&oldid=68731; „Ein Eiserner Vorhang ist niedergegangen.“ – Militärgeschichte im Kalten Krieg 1945–1968/70, in: Karl-Volker Neugebauer (Hrsg.): Grundkurs deutsche Militärgeschichte. Bd. 3: Die Zeit nach 1945. Armeen im Wandel, München 2008, S. 1–149 (mit Rüdiger Wenzke); Der Preis der Marktwirtschaft. Staatliche Preispolitik und Lebensstandard in Westdeutschland 1948 bis 1963, Stuttgart 2006.
Wolfgang U. Eckart
Die Wunden heilen sehr schön Feldpostkarten aus dem Lazarett 1914–1918 Postkarten und Briefe waren für Soldaten im Ersten Weltkrieg die einzige mögliche Verbindung zur Heimat. So wurden zwischen 1914 und 1918 etwa 11 Milliarden Postsendungen an Familien und Freunde geschickt, oft auch aus dem Lazarett.
Wolfgang U. Eckart Die Wunden heilen sehr schön 2013. 22 x 28 cm. 210 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen und Fotos. Kart. ISBN 978-3-515-10459-3
Eine einmalige Sammlung von bisher unveröffentlichten Bildpostkarten aus dem Lazarett im Ersten Weltkrieg präsentiert dieses Buch. Die Motive sind vielfältig – Verwundete in Einzel- oder in Gruppenaufnahmen, mitunter gemeinsam mit Schwestern, Ärzten und Pflegern, in Zimmergemeinschaften, im Krankenbett, aber auch beim Essen und Trinken. Eindrucksvoll vermitteln die Karten bestimmte Einblicke in das Lazarettleben, das neben der Pflege und Behandlung von Kranken auch eine Art „Gemeinschaftsleben“ umfasste, vom Kartenspiel und gemeinsamen Musizieren bis hin zum Lazarett-Theater. Die Botschaft der Absender ist immer die gleiche: „Ich bin noch am Leben, mir geht es gut“ – auch wenn zwischen den Zeilen oft etwas anderes zu lesen war … Wolfgang U. Eckart erschließt mit diesem Bildband – er umfasst ca. 300 Abbildungen von Postkarten – eine einzigartige, bisher wenig erforschte historische Quelle in ihrer sozial- und kulturhistorischen Bedeutung.
Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de
Claudia Fröhlich / Horst-Alfred Heinrich / Harald Schmid (Hg.)
Jahrbuch für Politik und Geschichte – Band 2 Schwerpunkt: Extremismus und Geschichtspolitik Wie benutzen Extremisten Geschichte? Was kennzeichnet eine „extremistische Geschichtspolitik“? Der zweite Band des JPG widmet sich den Zusammenhängen von Extremismus und Geschichtspolitik mit Beiträgen von Samuel Salzborn, Gideon Botsch, Michael Kohlstruck, Karin Priester, D. J. Mulloy, Stefan Peters und Sabine Bergstermann. Im Aktuellen Forum schreibt Krzysztof Ruchniewicz über die „Instrumentalisierung des Nachbarn“ im deutschpolnischen Verhältnis. Als Fundstück präsentiert das JPG eine Vorlesung des englischen Historikers John Robert Seeley über Politik und Geschichte aus dem Jahr 1885 und Katarzyna Stoklosa stellt im Forschungsbericht Neuerscheinungen zum Umgang mit Vergangenheit in Osteuropa vor. .............................................................................................................
Jahrbuch für Politik und Geschichte Band 2 / 2011 Schwerpunkt: Extremismus und Geschichtspolitik 2011. 190 Seiten. Kart. ISBN 978-3-515-09841-0
Ebenfalls lieferbar
Jahrbuch für Politik und Geschichte – Band 1 Historische Gerechtigkeit. Geschichtspolitik im Vergleich 256 Seiten. Kart. ISBN 978-3-515-09824-3
Welche Ziele und Strategien sind mit dem Handlungskomplex historische Gerechtigkeit verbunden? Welche Akteure fordern historische Gerechtigkeit ein? Was sind die Folgen geschichtspolitischer Interventionen zum Ausgleich historischen Unrechts? Diese Fragen analysieren Kerstin von Lingen, Micha Brumlik, Zaur Gasimov, Isabelle de Keghel, Frank Renken, Rachid Ouaissa, Jacques Portes und Martin Großheim. Der Philosoph Lukas H. Meyer führt in das Thema ein. Im Aktuellen Forum bezieht der Chefredakteur des Tagesspiegels, Lorenz Maroldt, Stellung zum Konflikt um die politische Tätigkeit von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern in der Bundesrepublik. Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de
Anstiftung zum Lesen
Master of Extensive Reading (M. er.)
Die vierte Ausgabe des JPG widmet sich im Schwerpunkt dem Thema „Geschichte ausstellen“. Mit dieser aktuellen Perspektive auf den Umgang mit Vergangenheit setzen sich Martin Große Burlage, Thorsten Heese, Stefan Krankenhagen, Britta Lange, Bert Pampel, Silvio Peritore, Thomas Thiemeyer und Irmgard Zündorf auseinander. In der Rubrik Atelier & Galerie formulieren Félix Krawatzek und Rieke Trimçev eine Kritik des Gedächtnisbegriffs und
Sebastian Haak erörtert die Geschichtspolitik des US-amerikanischen Militärs. Das Aktuelle Forum beteiligt sich mit Beiträgen von Bill Niven und Thomas Großbölting an der Debatte um die „Zukunft der Erinnerung“. Kunst und Erinnerungskultur stehen mit dem Beitrag von Sophie Oliver über Oscar Muñoz im Blickpunkt des Fundstücks. Wichtige Neuerscheinungen aus dem Feld der Transitional Justice stellt Anne K. Krüger im Forschungsbericht vor.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10676-4