Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook: Band 5 2004 9783486835526

Schwerpunktthema: Der Europagedanke an der europäischen Peripherie (Beiträge von António Martins da Silva, David Allan,

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German Pages 271 [272] Year 2017

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Schwerpunktthema. Der Europagedanke an der europäischen Peripherie
Einleitung
Portugal... wo das Festland endet und die See beginnt
Zwischen Szylla und Charybdis
Dänemark und Europa
„Unser Europa“
„Following the Phases of the Moon“
Andere Beiträge
West-Ost-Kommunikation im 17. Jahrhundert in ihrem Kontext
In Kontinenten denken, paneuropäisch handeln
Europa mit chinesischen Augen
Europa-Institute und Europa-Projekte
Das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main
Europa digital
Auswahlbibliographie
Europa-Schrifttum 2003 (mit Nachträgen)
Autorenverzeichnis
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Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook: Band 5 2004
 9783486835526

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Jahrbuch für Europäische Geschichte

Jahrbuch für Europäische Geschichte Herausgegeben am Institut für Europäische Geschichte von Heinz Duchhardt in Verbindung mit Wtodzimierz Borodziej, Peter Burke, Ferenc Glatz, Georg Kreis, Pierangelo Schiera, Winfried Schulze

Band 5 2004

R. Oldenbourg Verlag München 2004

Redaktion: Matthias Schnettger, Jan Gudian

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2004 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza ISBN 3-486-56841-8

Inhaltsverzeichnis

Schwerpunktthema: Der Europagedanke an der europäischen Peripherie Antonio Martins da Silva, Coimbra: Portugal... wo das Festland endet und die See beginnt. Der europäische Diskurs eine peripheren Landes

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David Allan, St. Andrews: Zwischen Szylla und Charybdis. Nationale Identität, Kontinentaleuropa und die Beziehungen zu England im schottischen Diskurs seit der Union

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Sebastian Olden-Jergensen, Kcbenhavn: Dänemark und Europa. Streiflichter zu diskursiven Kontinuitäten und Diskontinuitäten von 1600 bis 2000

57

Sergey Glebov, New Brunswick: „Unser Europa". Russen über Europa und Russlands Platz in ihm (1697-1920)

83

Ivan Parvev, Sofia: „Following the Phases of the Moon". Der Europa-Gedanke in Bulgarien ( 1762-1939)

113

Andere Beiträge Anuschka Tischer, Marburg: West-Ost-Kommunikation im 17. Jahrhundert in ihrem Kontext. Joachim von Wicquefort als Korrespondent und Agent Herzog Jakobs von Kurland

143

VI

Jahrbuch fur Europäische Geschichte 5 (2004)

Ina Ulrike Paul, Berlin: In Kontinenten denken, paneuropäisch handeln. Die Zeitschrift Paneuropa 1924-1938

161

Kai Hu, Shanghai: Europa mit chinesischen Augen. Die politische Lage Deutschlands beim Übergang zum Hitler-Regime im Spiegel der chinesischen Presse

193

Europa-Institute und Europa-Projekte Marie Theres Fögen, Frankfurt a. M./Zürich: Das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main

221

Andreas Kunz, Mainz: Europa digital. Der Kartenserver IEG-MAPS am Institut für Europäische Geschichte in Mainz

229

Auswahlbibliographie Matthias Schnettger, Mainz: Europa-Schrifttum 2003 (mit Nachträgen)

235

Autorenverzeichni s

265

SCHWERPUNKTTHEMA Der Europagedanke an der europäischen Peripherie Die Idee, den 5. Band des Jahrbuchs für Europäische Geschichte schwerpunktmäßig dem Europa-Diskurs an der europäischen „Peripherie" zu widmen, verdankt sich der Vorbereitung eines (inzwischen in seiner Endphase angelangten) Forschungsprojekts zu den deutschen und ostmitteleuropäischen Europa-Plänen des 19. und 20. Jahrhunderts. Im Kontext der Vorüberlegungen und des Ermitteins und der Entscheidung für die tertia comparationis des deutschen Europa-Diskurses - am Ende wurden aus Gründen, die mit der Ausrichtung des Rahmenprogramms des Drittmittelgebers zusammenhingen, Polen und Ungarn ausgewählt - rückte vor allem der ost-, ostmittel- und südosteuropäische Raum in das Blickfeld, und hier wurde es dann rasch evident, wie sehr sich qualitativ und quantitativ das Europa-Denken dort von jenem in europäischen „Kernregionen" wie etwa Frankreich oder Deutschland unterscheidet. Im Blick auf die bevorstehende „Osterweiterung" der Europäischen Union ist diesem geographischen Raum unter europäischen Fragestellungen ohnehin eine neue Beachtung zu schenken. Bei der Konzeption des „Schwerpunktthemas" erschien es überdies wichtig, über den „neuen" nicht die „alten" Peripherien in Süd-, West- und Nordeuropa aus dem Blick zu verlieren. Damit stand gleichzeitig fest, dass es nur darum gehen konnte, „Schneisen" zu schlagen, um das Thema im wörtlichen Sinn von verschiedenen Seiten in den Blick zu nehmen - dass ein „Schwerpunktthema" des Jahrbuchs für Europäische Geschichte ein Problem nie erschöpfend behandeln kann, versteht sich von selbst. Gewiss hätte man auch ganz andere Länder für eine solche „Schneise" auswählen können - wie etwa Finnland, Island oder Griechenland. Wir glauben jedoch, mit den Beispielen Portugal, Schottland, Dänemark, Russland und Bulgarien ein Sample zusammengestellt zu haben, das nicht nur eine sinnvolle Annäherung an das Thema ermöglicht, sondern gleichzeitig zu einer vertieften Beschäftigung mit diesem Problem anregt.

Portugal... wo das Festland endet und die See beginnt Der europäische Diskurs eines peripheren Landes Von

Antonio Martins da Silva Aus einer geographischen Schicksalhaftigkeit - die sich aus seiner peripheren Lage am westlichen Ende Europas ergibt - oder aber aus einer komplexen kulturellen Lage heraus wurde Portugal im Lauf der Geschichte immer wieder vom Meer angezogen. Vom Beginn der Nationswerdung an prägte die Nähe des Meeres ganz wesentlich die portugiesischen Gefühle, wie sie sich im Liedgut äußern, namentlich in den Frauenliedern, wo bereits die Freude und das Leid, die mit der Rückkehr oder der Abwesenheit eng verbunden sind, mit der Sehnsucht nach der Abreise, einem Gefühl, das sich der nationalen Psyche durch die Entdeckungsfahrten im 15. und 16. Jahrhundert so stark eingeprägt hat, verknüpft sind. Seitdem hat das moderne Portugal eine starke Persönlichkeit entwickelt, das Meer aber hat Besitz von der nationalen Seele ergriffen und unauslöschliche Spuren in der portugiesischen Kunst hinterlassen, in der Literatur, in der Architektur, in der Musik ..., mit einem Wort, im innersten Wesen des Portugiesen. Nachdem auf dem Höhepunkt der Entdeckungen Portugal als Haupt Europas auf den anderen Kontinenten die wichtigsten und prägendsten Eigenschaften der europäischen Zivilisation verbreitet hatte, ging es schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als das Imperium zerfiel und gleichzeitig die innere Krise immer mehr um sich griff, „in einer strengen Härte und in einer trostlosen Traurigkeit" - wie es Camöes in den Lusiaden festhält zugrunde. Indem es sich in seinen ursprünglichen kontinentalen Raum zurückzog und nostalgisch vom vergangenen Ruhm träumte, führte es lange Zeit eine unscheinbare Existenz, allerdings mit kurzen Unterbrechungen der Modernität und Ausstrahlung nach außen. Seit nunmehr bereits dreißig Jahren ist Portugal infolge des revolutionären Umbruchs wieder in den engen Raum seines ursprünglichen europäischen Rechtecks eingeschlossen. Es verlor das Imperium und mit ihm den Beweggrund, zur See zu fahren; für eine gewisse Zeit sah es keinen Orientierungspunkt. Nach Abklingen der revolutionären Illusionen, aus einer Traumwelt erwacht, sah es sich auf die Realität zurückgeworfen und nahm Europa wahr, das einzig wirkliche und realistische Europa. Ihm geht es nun auf einer langen Wanderung, nicht ohne Hindernisse, entgegen. Es hat die Schwierigkei-

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ten überwunden und ist heute in Europa angekommen und gehört zu Europa. Portugal hat sich verändert. Es hat sich fest an den Boden geklammert, hat aber den Lockruf des Meeres nicht ganz überhört1. Aus diesem Gefühl, aus diesem historischen Erbe und seiner peripheren Lage heraus muss die Beziehung Portugals zu Europa verstanden werden, und auch der europäische Diskurs, den es führte, ist im Lauf seiner Geschichte, namentlich der letzten zwei Jahrhunderte, entsprechend vielgestaltig gewesen. Bis zum 19. Jahrhundert sind in Portugal tatsächlich keine Vorschläge oder Stellungnahmen bekannt, die sich nach Europa oder an einem vereinigten oder institutionell organisierten Teil Europas orientierten. Im Folgenden sollen drei große Phasen untersucht werden: von der konstitutionellen Monarchie bis zur Republik (1820-1926), von der Militärdiktatur bis zum Ende des Ständestaates („Neuer Staat"), von der Nelkenrevolution bis zur Gegenwart (1974-2003). Jeder dieser Epochen entspricht eine unterschiedliche Stellungnahme zu Europa und zum Kolonialreich und/oder zum „portugiesischen Meer": In der ersten Phase, nach dem traumatischen Verlust Brasiliens, „dem Juwel der Krone", im Jahr 1822, ist eine Umorientierung in Richtung Europa zu beobachten und gleichzeitig eine relative Vernachlässigung des verbleibenden Kolonialreichs; in der zweiten Phase ist die Rückkehr zum Meer und zum imperialen Mythos in seiner ganzen (politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen) Dimension und zugleich eine Abkehr von Europa festzustellen; in der dritten Phase, mit dem Verlust des Kolonialreichs („Imperiums"), erscheint Europa als der einzige Weg in die Zukunft Portugals. Die prägenden Kennzeichen dieser Perioden sind weder statisch noch fest: Sie zeichnen sich ab und wachsen in der Endphase der vorausgegangenen Phase, setzen sich fort und schwächen sich ab in der kommenden Phase; diese nationale Grundhaltung verleiht der entsprechenden offiziellen Politik (dem Regime, dem Regierungssystem) eine ideologische Form und eine institutionelle und strategische Stütze.

I. Von der Liberalen Monarchie bis zur Republik (1820-1926/30): Der Blick nach Europa 1. Erste gründliche Überlegungen über die Stellung Portugals im „europäischen Rahmen" nach dem Wiener Kongress im Jahr 1815 und über seine Stellung in dem künftigen Europa, die es „einnehmen muss" und „einnehmen soll", verbunden in einer „Heiligen Allianz der Völker", vereint in der Freiheit gegen den oligarchischen Despotismus der Fürsten und Könige, sind dem Schriftsteller, Diplomaten und liberalen Politiker Almeida Garrett 1

Siehe Antonio MARTINS DA SILVA, Portugal entre a Europa e Além-Mar, Coimbra 2000.

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(1799-1854) zu verdanken. In seinem Werk Portugal auf der Waage Europas (1830) vertritt der große Schriftsteller die Meinung, dass Europa vor einer Zivilisationskrise stehe, als deren Ergebnis jedes „alte politische Gleichgewicht" weichen werde. Seinen Ausführungen nach wurde Portugal „auf dieser alten europäischen Waage zu einem notwendigen Gegengewicht der großen Mächte Westeuropas - Frankreich, England und Spanien". England war an dieser Lage Portugals am meisten interessiert, und aus diesem Grund beeinträchtigte es die Unabhängigkeit Portugals. Die Ideen der Freiheit jedoch, die die Französische Revolution verbreitete, fassten Fuß in ganz Europa und untergruben die alte oligarchische Ordnung Europas, die endgültig dem Fortschritt der Zivilisation und dem um sich greifenden Ideal der Demokratisierung der Freiheit weichen wird. Wo würde der Ort Portugals in dieser „neuen Ordnung der Dinge" sein, als Ergebnis der freiheitlichen Revolution der Völker gegen die Erpresser"? Portugal müsse, so Garrett, eine neue Stellung finden und einnehmen: entweder als unabhängiger Freistaat oder aber als angesehene Nation, dann allerdings mit Spanien vereinigt. Die Rolle, die es zu seinem Vorteil wahrnehmen sollte, war - entsprechend dem Wunsch des portugiesischen Volkes und dem Prinzip der Zivilisation, das „die Freiheit wieder zur natürlichen Ordnung der Welt machen" und „ein neues europäisches Gleichgewicht" herstellen würde - die Einführung eines „toleranten" politischen Systems, das endlich die Hoffnungen aller Portugiesen erfülle: „Freiheit ohne Blut, Gleichheit ohne Streit, Religion ohne Fanatismus, Monarchie ohne Despotismus, Adel ohne Oligarchien, Volksregierung ohne Demagogie!" Wenn aber eine solche Freiheit nicht möglich sei, so bleibe nur übrig, „uns für immer mit Spanien zu vereinigen". Wenn dies die einzige Lösung sei, so solle es „mit beiderseitigem Einverständnis und zur Sicherheit beider Staaten" im Rahmen einer „Föderation" geschehen, die die Würde beider Staaten wahre, aber es auch ermögliche, „das Gewicht Portugal auf der Waage Europas wiederherzustellen"2. 2. Eine andere Überlegung über die portugiesische Identität im europäischen Rahmen kam in einer Kontroverse über die Einführung und Verbreitung der Eisenbahn zum Ausdruck, in der sich um die Jahrhundertmitte (1853) Alexandre Herculano (1810-1877) und Pedro Lopes de Mendonça (1826-1865) gegenüberstanden. In dieser Diskussion sprach sich die eine Seite für eine vorsichtige Zurückhaltung aus, die andere aber äußerte sich enthusiastisch3. Herculano gehörte zur ersten Gruppe: Die Einführung jenes revolutionären Transportmittels solle mit aller Vorsicht angegangen werden, vor allem von 2 3

Almeida GARRETT, Portugal na Balança da Europa, Lisboa 1830. A Europa e nós: una polémica de 1853, hrsg. von Filomena Monica, Lisboa 1996.

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den kleinen Staaten wie Portugal, für die das Risiko eines Verlusts der regionalen und nationalen Identität größer und schwerwiegender sei. Zur zweiten Gruppe gehörte Mendonça, der in der schnellen Ausweitung des Eisenbahnnetzes eine wesentliche Bedingung für den Fortschritt sah, weil die Eisenbahn den Austausch, den Lebensstandard und die Kultur des Volkes fordere und somit Portugal dem europäischen Standard näherbringe. Beide hatten dasselbe Anliegen, nämlich die Entwicklung Portugals zu fördern, allerdings auf verschiedenen Wegen: Herculano setzte auf die Vitalität der Institutionen und der portugiesischen Traditionen, die seit dem Mittelalter ihre Bedeutung bewiesen hatten; Mendonça war der Meinung, dass sich Portugal den fortschrittlicheren Nationen anpassen und deren Entwicklungspolitik folgen müsse. Es ging letztlich um zwei Gesichtspunkte der Einstellung Portugals gegenüber dem zivilisierten Europa: Der eine fürchtete die allmähliche Schwächung und die Einverleibung durch Spanien, wenn Portugal europäische, dem Lande fremde Modelle übernähme; der andere meinte, dass die Regenerierung des Landes und die Verbesserung seiner Lage im internationalen Kontext nur durch seine Integration in die europäische Wirklichkeit möglich sei - auch wenn dieser Zweck nur zusammen mit Spanien, durch die Schaffung gemeinsamer zentraler politischer Institutionen, ohne aber die Eigenständigkeit und die Autonomie jedes einzelnen Staates zu gefährden, zu erreichen sei. Eine starke und feste iberische Union könnte sich, nach Meinung Mendonças, gegenüber Europa behaupten und sich somit den imperialen Bestrebungen der europäischen Großmächte und der Abhängigkeit von ihnen widersetzen. Für das Portugal der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind keine Überlegungen bekannt, mit Europa gemeinsame Formen der Kooperation und Einheit zu entwickeln. Eine Reaktion auf Mazzini und sein Manifest Junges Europa aus dem Jahr 1834 ist in Portugal nicht vernehmbar, abgesehen von den bereits erwähnten Thesen Garretts, der der Meinung war, dass die Befreiung Portugals nur durch die Beteiligung am Freiheitskampf der Völker gegen den Despotismus der Könige zu erreichen sei. Abgesehen von einer möglichen Vereinigung mit Spanien hat man in keinem anderen Fall die Möglichkeit einer revolutionären Bewegung erwogen, die brüderlich, in einer groß angelegten föderativen Ordnung und auf Grund der „Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit" die .jungen freien Nationen" im Jungen Europa zusammenbrachte, „im Sinne des Gemeinguts" - so wie es Giuseppe Mazzini in seinem Manifest vom 15. April 1834 proklamierte. 3. Die sogenannte „Generation der 70er Jahre" fügte neue und nuancenreiche Überlegungen hinzu: Antera de Quental, Eça de Queirós, Oliveira Martins, Ramalho Ortigäo ... - sie waren überzeugte Europäer in dem Sinn, dass sich alle zum Geist und zur Kultur Europas bekannten. Aber das Europa, das sie

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anzog, bestand im Grunde aus drei oder vier großen Ländern (Frankreich England, Deutschland) - wahre geistige und zivilisatorische Pole der Welt. Das Europa ihrer Vorstellung war ein Raum geistigen Austausche, der Freiheit des Denkens, der intellektuellen Gemeinschaft ohne irgendwelche Grenzen, der humanistischen Ausstrahlung und der Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit. Die Idee Europa, als Wille oder politisches Projekt, scheint von einigen der bekanntesten Namen der genannten Generation nicht wirklich angenommen worden zu sein. Zumal die Überlegungen und das Verständnis von Europa und die Stellung, die Portugal darin hatte oder haben sollte, unterschiedlich waren, kann daraus weder eine überzeugende Theorie noch ein institutionelles Schema der politischen oder wirtschaftlichen Einheit für ein Europa der Zukunft entnommen werden. Aber die diesbezüglichen Vorstellungen Victor Hugos, des großen Wortführers des Projekts der Vereinigten Staaten von Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, waren den Autoren der „Generation der 70er Jahre" geläufig. Sie widersprachen diesen Gedanken zwar nicht, scheinen sie jedoch auch nicht besonders ernst genommen zu haben; sie wurden lediglich erwähnt, als Utopie ohne irgendeinen praktischen Wert aufgefasst, wie zum Beispiel von Eça de Queirós in seinem Roman Os Maias: „Als der Alencar [...] die Romantik in der Literatur in Frage gestellt sah, suchte er Zuflucht in der politischen Romantik als paralleles Exil: Er wollte eine Republik, geführt von genialen Menschen, die Brüderschaft der Völker, die Vereinigten Staaten von Europa"4. Zu dem letztgenannten Schriftsteller sei jedoch erwähnt, dass der in seinen Werken zu beobachtende Mangel an Sympathie für das Ideal der europäischen Einheit im Sinn Victor Hugos in einem Brief vom 20. Juli 1885, anlässlich des Todes Hugos, ausgeglichen scheint; in diesem Dokument gesteht Eça, ein fanatischer Bewunderer des französischen Schriftstellers zu sein; anderer Meinung sei er nur in der Frage, ob Paris zur Hauptstadt des vereinten Europa aufsteigen werde. Er erklärte damals: „So habe ich es gehalten und glaubte vorsichtig an die Vereinigten Staaten von Europa" 5 . Wenn im 19. Jahrhundert in den großen literarischen Werken in Portugal die Anspielungen auf die Vereinigten Staaten von Europa selten sind, so gilt das nicht in gleicher Weise für die Presse. Mehrere Schriftsteller, Journalisten und Politiker pflegten einen Briefwechsel mit Victor Hugo (Antonio Feliciano de Castilho, Rebelo da Silva, Brito Aranha, Guilherme Braga, Carrilho Videira u. a.), veröffentlichten Briefe in der Presse oder schrieben begeisterte Artikel über den französischen Schriftsteller. Der Historiker und

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Eça de QUEIRÓS, OS Maias, Lisboa o. J., S. 166. DERS., Urna carta sobre Victor Hugo, in: Illustraçâo - Revista de Portugal e do Brasil

2 ( 1 8 8 5 ) , S. 2 5 1 - 2 5 3 .

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Politiker Pinheiro Chagas (1842-1895) ζ. B. bezeichnete ihn als „den Singvogel des gewaltigen Morgengrauens der Menschheit". Der Dichter und Journalist Guilherme Braga (1845-1874) nannte ihn „den neuen Moses"; in der Zeitung, die er leitete (Gazeta Democràtica), machte er die politischen Ideen Victor Hugos bekannt, publizierte die an ihn adressierten Briefe und verteidigte die Idee der Vereinigten Staaten von Europa als Wegweiser zur Universalität der Völker; andere portugiesische Autoren (z. B. Magalhäes Lima, Brito Aranha) und Periodika (República Portuguesa, Arquivo Pitoresco), die sich nicht für die Freiheit und für die Solidarität zwischen den Völkern einsetzten, vertraten die republikanischen und universellen Ideen des großen Franzosen. Die Feierlichkeiten in Portugal anlässlich des hundertsten Geburtstags Victor Hugos waren ein Höhepunkt in der Glorifizierung des „größten Apostels der Menschheit", wegen seiner humanistischen Ideen und seines Eintretens für die Einheit der Völker, wegen des demokratischen Widerhalls in Portugal, weil er dieses Land Camöes' und des Meeres wegen der noblen Entscheidung, die Todesstrafe abzuschaffen, geliebt und besungen hat; mit ihm, so Magalhäes Lima (1850-1928), begann eine neue Ära in der Geschichte der Menschheit: die ,3rüderschaft zwischen den Völkern" und das „Prinzip der Vereinigten Staaten von Europa". Um die Jahrhundertwende veröffentlichte die Zeitschrift Almanach Bertrand (1901) einen visionären Text Victor Hugos, 1867 verfasst unter dem Titel „L'Avenir", in dem er verkündete, dass die große Nation des 20. Jahrhunderts Europa heißen werde, als Vorbote der Nation der Zukunft, die die Menschheit heißen werde: die Vereinigten Staaten von Europa, denen die Vereinigten Staaten der Welt folgen sollten. Etwas zurückhaltend - oder vielleicht auch nur äußerst prophetisch - endet der genannte Almanach: „Glückliche Menschheit, wenn ein geringer Teil der Visionen des Dichters verwirklicht wird oder es zu Beginn des 21. Jahrhunderts so sein könnte". 4. Aber die messianische Prophezeiung Victor Hugos wurde von vielen anderen nicht ernst genommen, die in Portugal das Musterbild eines rückständigen und dekadenten Staates sahen, dessen Unabhängigkeit von der Strategie der britischen Interessen abhing. Die größte Sorge dieser Portugiesen bestand, wie schon erwähnt, darin, für Portugal einen würdigen Platz im zivilisierten Europa zu erreichen. Die ständigen Krisen in beiden iberischen Staaten, die Tatsache, dass beide Länder keinerlei Bedeutung in Europa hatten, waren Gründe, aus denen einige Schriftsteller und Republikaner vor allem seit den 80er Jahren zu Verfechtern der iberischen Föderation wurden. Angesichts eines Europa, in dem die Zeichen der Spannung und des hegemonialen Machtkampfs nicht zu übersehen waren, sollten sich Spanien und Portugal vereinigen und für ein gemeinsames Schicksal kämpfen. Der Begriff einer Föderation oder einer iberischen Union hatte für die verschiedenen Autoren,

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die ihn gebrauchten, weder dieselbe Bedeutung noch vergleichbare Voraussetzungen und Implikationen; und doch war ihnen eine eindeutige Ablehnung des Iberismus gemeinsam, der den einseitigen Anschluss des schwächeren Staates an die stärkere Macht vorsah und vor allem von spanischer Seite vertreten wurde. Der iberische Föderalismus dagegen setzte die Wahrung der Individualität jedes Volkes, die Unantastbarkeit seiner ethnischen, historischen und kulturellen Vergangenheit sowie die Beibehaltung einer großen regionalen bzw. nationalen Autonomie voraus. Henriques Nogueira (1825— 1858) ζ. B. hatte einen wichtigen Beitrag zur Theorie der Föderation der iberischen Völker geleistet, mit eindeutigen Einflüssen Fouriers, Louis Blancs und des Föderalismus von Proudhon. Teófilo Braga (1843-1924) nahm später, im Kontext der Folgen des englischen Ultimatums von 1890, die Thesen Nogueiras von einer Republik und hispanisch-lateinischen Föderation wieder auf, als Mittel und einziger Weg zur Erneuerung Portugals. Magalhäes Lima (1850-1928) glaubte wie Teófilo Braga an die Möglichkeit einer lateinischen Föderation, die außer Portugal und Spanien Italien und Frankreich umfassen sollte, in deren Völkern die historischen, kulturellen und ethnischen Gemeinsamkeiten vorhanden waren, die sie zur Kooperation und Solidarität fähig machten. So wie sie ihn auffassten, war dieser PanLatinismus mit einer friedlichen und harmonischen Entwicklung Kontinentaleuropas vereinbar, zusammen mit anderen ethnischen Gruppen, die ebenfalls die wesentlichen Elemente der Zivilisation gemeinsam hatten, wie sie der Pan-Germanismus und der Pan-Slavismus darstellten6. Lima ging in Anknüpfung an Victor Hugo sogar noch weiter: Die „Vereinigten Staaten der Halbinsel" oder die „Bundesrepublik Iberien" waren lediglich eine Etappe auf dem Weg hin zu den „Vereinigten Staaten von Europa", so wie die europäische Föderation die Brücke zur künftigen Föderation der Menschheit war, der Universalen Republik7. Damit sind die Debatten und die Kämpfe zusammengefasst, die den Übergang Portugals vom 19. ins 20. Jahrhundert prägten. 5. Fernando Pessoa (1888-1935) war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts der bei weitem bedeutendste und originellste Kopf Portugals der Art und Weise wegen, wie er seine Vorstellungen von Portugal und Europa in seinen, auch den heteronymen, Gedichten und in seiner Prosa dargestellt hat. Er war ein Nationalist und doch wieder nicht (in einem politischen oder ideologischen Sinn), denn sein Wesen war übernational, europäisch und universal. Er liebte seine Heimat, so wie er die Menschheit liebte, in einer Art „äußerstem Kompromiss" oder als Vermittler zwischen dem individuel-

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Siehe Amadeu CARVALHO HOMEM, Da Monarquía à República, Viseu 2001. Magalhäes LIMA, A Obra Internacional, Lisboa 1896; DERS., O Federalismo, Lisboa 1898.

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len und dem kollektiven Sein. Sein „Nationalismus" war „liberal", „ganz und gar anti-reaktionär" - denn er vertrat die Meinung, jeder Mensch sei frei, zu denken, sich zu äußern oder in die Tat umzusetzen, was er wolle, solange er „die gleichen Rechte der anderen" respektiere; er war „kosmopolitisch" - ein wahrer Portugiese kann nicht „in der Enge einer einzigen Persönlichkeit, einer einzigen Nation, eines einzigen Glaubens" leben, er muss „alles sein, in jeglicher Art, er ist ein ,Mystiker' und ein Mythos". Er war „von einem neuen Sebastianimus" geformt, einer religiösen Bewegung, entstanden „aus einer nationalen Figur, im Sinne eines Mythos", in der historischen Gestalt des Königs symbolisiert, der (symbolisch) an einem nebligen Morgen zurückkehren werde, um das Fünfte Weltreich zu vollenden und somit „die Brüderlichkeit unter den Nationen" beginnen zu lassen. Er war prophetisch und messianisch, von universaler Größe - denn er selber betrachtete sich als Bote und „Mythenbildner" mit dem Ziel, eine „neue portugiesische Seele" zu erschaffen und die „Stunde" zu verkünden, jene magische Stunde, in der „aus der tauben Tiefe des Schicksals" die Posaune zu hören sein werde, die alle aufwecken sollte, um ein „zum Universum gewordenes Portugal" zu schaffen und „die Schöpfung einer Neuen Welt" zu vollenden. Die Nation ist für Pessoa der Weg zwischen zwei Orten - dem Individuum und der Menschheit - , der durch die allmähliche Sublimierung der „patriotischen Brüderlichkeit" zur „Brüderlichkeit der Menschheit" fuhrt; der Leitspruch lautet „Alles für die Menschheit, nichts gegen die Nation". Patriotisch zu sein besteht darin, „in uns das Individuum, das wir sind, zu achten und das Mögliche zu tun, dass sich unsere Mitbürger achten", so dass die Nation eine wahre „Schule der Gegenwart" zur Heranbildung der „künftigen Über-Nation" ist. Aus diesem Grund liebte Pessoa seine Heimat, ein Gefühl, das er bis zu seinen letzten Tagen immer wieder betonte. Seine Heimat aber war „die portugiesische Sprache", denn sie drückt die Identität einer Nation aus, dieses „Nichts, das alles ist", oder dieses „Alles sein in allen Arten"; und diese Nation, die Portugal ist, hat eine universelle Seele, sie ist das Gesicht, mit dem Europa „nach dem Westen, der Zukunft der Vergangenheit", schaut, wie er sich in dem Gedicht äußert, mit dem er die Botschaft beginnen lässt. Dies ist, kurz gefasst, die große Botschaft von Pessoa, der auf eine so gehobene Weise in diesem mythischen Werk (dem einzigen, das zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde) die höchste Tat seines Kreuzzuges benannte, um das Schicksal eines Volkes, das Schicksal der Menschheit zu vollenden. Denn die Botschaft ist keineswegs im Rahmen eines engen Nationalismus die Saga eines Volkes: Sie ist vielmehr der universelle Kampf des Menschlichen, die immer wieder neue Utopie der Menschheit auf der Suche nach dem Glück, der Traum einer immer wieder aufgeschobenen Zukunft. Deren „Stunde" aber nahte, denn es gebe viele „Zeichen und Vorzeichen" in einem

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verbitterten Portugal, das des langen Wartens in einem dekadenten und kurz vor einer Katastrophe stehenden Europa müde sei. Pessoa hatte eine positive Einstellung zu Europa, dem Europa des Geistes, der Kultur, der zivilisatorischen Bewegung, der komplexen und vielseitigen Moderne. Das war das Europa, das die Portugiesen auf ihre Art in den Entdeckungsfahrten der Welt vermittelten. Dies war das Europa, dem die Portugiesen allgemeine Geltung verschaffen sollten, und zwar auf Grund der ihnen eigenen „Fähigkeit, alles zu sein" - „alle und überall", auf Grund der angeborenen Eigenschaft, sich „zu verdoppeln", wie die Heteronymen des Dichters es so schön und paradox ausdrücken und verkörpern. Pessoa selber betrachtete sich als Europäer, aber das war seiner universalen Seele nicht genug: „Für mich ist Europa überall, und nicht Lissabon oder irgend ein anderer Ort. Es ist eine Frage des geistigen Zustandes, ohne die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Statuts", sagte er selbst im Jahr 1923. „Ich habe den Wunsch, in allen Zeiten zu sein, allen Welträumen, allen Seelen, allen Empfindungen und allen Begriffen", verdeutlichte er 1926 in der heteronymen Aussage von Alvaro de Campos. Europa war für Fernando Pessoa, den Patrioten und Weltbürger, also ein Zustand der Seele, aber auch der magische Raum, in dem diese endlose kulturelle Heimat, dieses geistige Weltreich, sei es das „Fünfte" oder ein anderes, gedeihen konnten8. In diesem Kontext des Kosmopolitismus und der Universalität ist das Ultimatum von Alvaro de Campos zu verstehen, dieses Manifest, das zum Höhepunkt des Krieges (1917) gegen die „Mandarine" Europas geschrieben wurde (Politiker oder deren Mitläufer und Komplizen, Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler und andere), die für diese Katastrophe verantwortlich seien und für die eine „Räumungsaktion" notwendig sei. Sie alle personifizierten die „Unzulänglichkeit einer Zeit"! Europa verdiene mehr und wesentlich Besseres. „Europa dürstet nach einer Schöpfung, es hungert nach der Zukunft! [...] Europa wünscht sich die große Idee [...] - die Idee, die der Name sei seines anonymen Reichtums! [...] Die Welt will Europa! [...] Europa hat es satt, noch nicht zu sein! [...] Europa möchte von einem geographischen Begriff zum zivilisierten Menschen werden! [...] Was da ist, kann nicht von Dauer sein, denn es ist nichts!"9.

Dies ist das Europa Pessoas bzw. dasjenige, das er sich wünscht, in der Maske von Alvaro de Campos, des kosmopolitischsten von allen Pessoas. Es ist ein neues, zum Universum gewordenes Europa („Sei vielfältig wie das Universum!", sagte er einmal), vielfältig wie er, wie die Vielfalt seiner Hete8

Siehe Fernando Pessoa e a Europa do século XX, hrsg. von Maria Joäo Fernandes, [Porto 1991], darin insbes. Teresa Rita LOPES, A Europa de Pessoa e a de Sá Carneiro, S. 49-61. 9 Fernando PESSOA, O rosto e as máscaras, hrsg. von David Mouräo-Ferreira, Lisboa 1976, S. 73 f.

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ronyme, aber ein „Uni-vers Versus Unum", wo die Vielfalt sich auflöst und zur Einheit wird 10 , in der Art einer letzten Begegnung mit dem künftigen Wunsch einer dialektischen Lösung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart in diesem vereinten Europa Nietzsches und anderer (so vieler anderer!), die es beschworen und verkündigten. Pessoa war also ein Mensch seiner Zeit, eine Art „Fenster Europas"; so wie andere hegte er in seiner originellen Art und Weise den Traum von einem Portugal und einem Europa, die erlöst waren von der Dekadenz, der sie sich ergeben hatten. Aber dieses mythische Fünfte Weltreich, von dem er träumte, diese brüderliche Menschheit, kam nicht über seinen Traum hinaus - und konnte es auch nicht, weil mit den Worten von Eduardo Lourenço über Pessoa „die Beziehung der Menschheit zu seinen Wünschen nicht natürlich ist und auch nicht sein kann, denn es gab und gibt durch die angenommenen Formen die Möglichkeit, sich unwiederbringlich von der Natur zu trennen, um im Übernatürlichen Platz zu nehmen, wo er aber niemals einen Platz finden wird" 1 6. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ist ein starker gesellschaftlicher und institutioneller Druck festzustellen, dass sich Europa notwendigerweise vereinigen müsse, entweder in der Form eines Bundes oder nach und nach durch eine Folge von wirtschaftlichen Abkommen oder in einer Zollunion. Aus dem breiten Spektrum der vielfaltigen Bestrebungen der 20er Jahre sind zwei wichtige Initiativen hervorzuheben. Die erste findet ihren Ausdruck im Pan-Europa des Grafen Coudenhove-Kalergi, ausgehend von dem Manifest, das er 1923 an die Europäer richtete, in dem er die Nationen zur zügigen Errichtung einer Union aufforderte, da sonst Europa in ein neues Verderben stürzen werde. Die zweite Initiative geht auf den französischen Außenminister Aristide Briand zurück, der 1929 den im Völkerbund vertretenen Staaten Europas den Vorschlag zur Bildung einer „Art föderativem Bündnis" unterbreitete. Welche Haltung nahm Portugal bezüglich der privaten europäischen Einigungsinitiativen einerseits und andererseits gegenüber dem institutionellen Projekt im Rahmen des Völkerbundes, das Briand und Frankreich vertraten, ein? Die wichtigsten Presseorgane der Zwischenkriegszeit, die Tageszeitungen sowie die politischen und kulturellen Zeitschriften lassen ein eindeutiges Interesse für die verschiedenen Unternehmungen, die den dauerhaften Frieden in Europa im Rahmen der Verträge und vereinbarten Pläne zum Ziel hatten, erkennen; in den Jahren 1921-1930 zählten wir 2 500 Artikel. Für 10 Siehe Fernando PESSOA, Mensagem e outros poemas afins, hrsg. von António Quadros, Mem Martins o. J., S. 43. 11 Eduardo LOURENÇO, Pessoa Revisitado. Leitura Estruturante do Drama em Gente, Lisboa 2000, Buchumschlag.

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dieselben Jahre, vor allem für die Zeit zwischen 1925 und 1930, sammelten wir in den Periodika ca. 150 Artikel mit Titeln wie „Die Vereinigten Staaten von Europa", „Europäische Föderation", „Europäische Union" und „PanEuropa". Viele dieser Artikel traten mit Blick auf den aufsteigenden konkurrierenden Machtblock der Vereinigten Staaten von Amerika und teilweise auch der Sowjetunion für ein Europa entweder in einem föderativen Rahmen (europäische Föderation oder Konföderation) oder aber in der Form eines anderen Bündnissystems zur Sicherung des Friedens und der europäischen Autonomie ein. An dieser Diskussion über die Gegenwart und die Zukunft Europas - im Sinn einer Einigung - nahmen bedeutende Intellektuelle und portugiesische Republikaner teil: Raúl Proença, Jaime Cortesäo, Chagas Franco, Rodrigues Miguéis, Pinheiro Chagas, Joäo de Barros u. a. Die Meinungen über die Formen der Einheit unterscheiden sich je nach dem Zeitpunkt ihrer Formulierung. Zu Beginn der 20er Jahre wurde von einigen (wie z. B. von Raúl Proença) der Gedanke einer Art Weltregierung - die eine strukturierte regionale Organisation voraussetzte - freudig begrüßt. Später wünschten sich andere eine europäische Föderation, die Vereinigten Staaten von Europa, oder eine Konföderation im Sinn Pan-Europas herbei (Chagas Franco im Jahr 1925, Pinheiro Chagas 1926); andere, wie Rodrigues Miguéis (1926), teilten zwar die romantische Idee der politischen Union Europas, waren jedoch mit Blick auf die Zeitverhältnisse der Meinung, es sei utopisch und sogar gefahrlich, eine europäische Einigung in klarer Opposition zu den Vereinigten Staaten oder zu anderen Ländern oder Kontinenten anzustreben. Gegen Ende der 1920er Jahre wurden jedoch diejenigen Stimmen immer zahlreicher, die von jedem Projekt einer wirtschaftlichen oder politischen Union Europas abrieten. Im Rahmen eines gemäßigten Nationalismus akzeptierten sie lediglich Kooperationsformen, die die Souveränität der Staaten und die Vielfalt der politischen Regime respektierten. Das Lager der radikalen Nationalisten bekämpfte jegliche Projekte einer künftigen Vereinigung oder internationalistische Ideen, denn nur die Nation stelle den höchsten Wert, die einzige Entität und beständige Wirklichkeit dar, die die rassische Identität garantiere12. Seit Ende der 20er Jahre ist in Portugal wie in anderen Ländern eindeutig eine veränderte Einstellung festzustellen. Der im Völkerbund eingebrachte Vorschlag Briands einer europäischen „föderativen Verbindung" und die darauf folgenden Ereignisse riefen noch einmal eine Euphorie des Europäismus hervor. In der Presse und auf dem Büchermarkt Portugals erschienen in diesem Kontext diverse Stellungnahmen über die Möglichkeit einer europäi-

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Siehe Antonio MARTINS DA SILVA, A Ideia de Estados Unidos da Europa no pósPrimeira Guerra: ecos na opiniäo pública portuguesa, in: Revista de História da Sociedade e da Cultura 1 (2001), S. 135-167.

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sehen Föderation. Es lohnt sich, zwei dieser Beiträge zu erwähnen: den von Professor Francisco Antonio Correia (1877-1936) am 11. Dezember 1929 gehaltenen Vortrag in der Akademie der Wissenschaften zu Lissabon und das am 16. August 1930 abgeschlossene Buch des Rechtsanwalts Amaro Sacramento Monteiro, beide mit der Überschrift Die Vereinigten Staaten von Europa. Correia vertritt im Sinn der späteren Methodologie der Errichtung der Union drei Monate nach der Erklärung der französischen Regierung die Notwendigkeit einer schrittweisen Durchführung des möglichen und wünschenswerten Konzepts, die ökonomische Föderation zu verwirklichen, die dann zur politischen Föderation fuhren sollte. In einer ersten Phase sollten individuelle, bilaterale oder kollektive Aktionen, wie Kartellbildungen, Zollvereinbarungen sowie der stufenweise Abbau der Zölle, kleine Schritte im komplexen Prozess der wirtschaftlichen Rationalisierung darstellen; diese Maßnahmen würden dann zu einer Zollunion und später zur Bildung von politischen Organen überleiten, in denen alle vertreten seien; diese wiederum sollten in einer freien Entscheidung zur ökonomischen Einheit führen, die nichts anderes wäre als ein „Prolog der politischen Einheit", wie es mit dem deutschen Zollverein der Fall gewesen war. So würde, mittels eines „ökonomischen, von allen Völkern erwünschten Friedens" als Voraussetzung eines dauerhaften politischen Friedens „dieser ideale Wunsch" der Vereinigten Staaten von Europa verwirklicht werden 13 . Monteiro vertritt - in einer circa zwei Wochen vor Eingabe des französischen Memorandums im Völkerbund und den Stellungnahmen der europäischen Regierungen abgefassten Schrift - die Gründung einer auf regionalen, nach ökonomischen Kriterien gebildeten Blöcken basierenden europäischen Föderation, wobei zugleich ethnische, nachbarschaftliche, geographische, sprachliche und religiöse Affinitäten berücksichtigt werden sollten. In dieser Perspektive sollte Portugal zusammen mit Spanien, Frankreich, Italien, der Schweiz und Belgien den „Lateinischen Block" bilden, dem sich die Kolonien der einzelnen Staaten anschließen sollten, die somit vereint diesem Block angehörten; die anderen Blöcke (der angelsächsische, der germanische, der baltisch-skandinavische und der Donau-Balkan Block ) würden sich nach denselben Kriterien bilden. Auf diese Weise sollte die Europäische Union entstehen, eine Art Europäische Föderation der Völker einschließlich ihrer Kolonialgebiete. War diese Bildung der Vereinigten Staaten von Europa eine Utopie? Monteiro will es nicht so verstanden wissen: Mehrere Faktoren und Kräfte wirkten gemeinsam auf die „glorreiche Errichtung des künftigen Vereinten Europa" hin 14 .

13 Francisco Antonio CORREIA, Estados Unidos da Europa, in: Revista do Instituto de Comércio de Lisboa 13 (1930), S. 206-217, hier: S. 206. 14 Amaro DO SACRAMENTO MONTEIRO, Estados Unidos da Europa, Lisboa 1931, S. 83 f.

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Aber es war zu spät für individuelle Vorschlage. Die Initiative mussten die Regierungen ergreifen, und diese zeigten keinen oder einen nur sehr geringen Willen zu einer Europäischen Union; sie übergaben das französische Memorandum einer Arbeitsgruppe - eine sehr diplomatische Form, sich der Utopien oder voreiligen Vorschläge von Visionären wie Briand und anderen, die die gleichen „rêveries" teilten, zu entledigen. So konnte die „föderale Union" keinen Erfolg haben. Sie verschwand sang- und klanglos mit dem Tod ihres Verfassers im Jahr 1932, dem rasanten Aufstieg der Faschismen und dem unaufhaltsamen Herannahen eines neuen Krieges, dem sich Aristide Briand zusammen mit Gustav Stresemann, dem noch vor ihm verstorbenen deutschen Politiker, der gleich ihm für die deutsch-französische Annäherung gekämpft und den Friedensnobelpreis erhalten hatte, entgegengestemmt hatte. Das Projekt der Europäischen Union, dessen Verwirklichung von so vielen in der behandelten Periode als einziger Weg zur Rettung Europas eingeschätzt wurde, sollte bekanntlich bis zum Ende der Katastrophe aufgeschoben bleiben.

II. Der Neue Staat Salazars und Europa (1926/30-1974): Die Rückkehr zum Meer 1. In Portugal setzte 1926 eine Militärdiktatur der 1910 ausgerufenen demokratischen Republik ein Ende. In diesem Kontext ist auch die ausweichende Antwort der portugiesischen Regierung auf das französische Memorandum vom Juli 1930 zu verstehen. Obwohl man im Prinzip dem Dokument zustimmte, erklärte man, dass Portugal als nicht ausschließlich europäischer Staat mit vitalen Interessen in anderen Erdteilen nicht auf die Wahrnehmung seiner Rechte verzichten noch irgendeine Einmischung in seinen Kolonien oder eventuelle Einschränkungen in den historischen Beziehungen zu anderen Staaten in- oder außerhalb Europas dulden könne. Aber man akzeptiere unter den genannten Maßgaben - Formen der Zusammenarbeit unter der Bedingung, dass sie sich auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkten, keine politischen Kompromisse voraussetzten und die Pluralität der Regierungsformen achteten. Die Antwort des diktatorischen Regimes, die mit derjenigen Englands abgesprochen und bereits stark beeinflusst von dem inzwischen allmächtigen Finanzminister und künftigen Regierungschef Oliveira Salazar war, nahm die Grundsätze, die die Außenpolitik des folgenden Regimes („Neuer Staat") in den Jahren seines Bestehens bestimmten, vorweg. Diese Meinungsänderung der Regierung, die von der öffentlichen Meinung geteilt wurde, hat unzweifelhaft viele innen- und außenpolitische Gründe, angefangen mit den europäischen Konjunkturen bis hin zur Persönlichkeit Salazars und zur Art des Regimes, das er verkörperte.

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In Wirklichkeit ist das Problem älter: Der Versuch einer Beteiligung Portugals an den europäischen Angelegenheiten seit der Republik bis zur Diktatur (1910-1928) war missglückt und hatte traumatische Folgen für den nationalen Stolz. Aber das Klima sollte sich noch verschlechtern: Die andauernde Rivalität zwischen den europäischen Mächten, die Spannungen seit den 30er Jahren, der Ausbruch des Krieges und sein apokalyptisches Ausmaß - dies alles führte letztendlich zur Enttäuschung über Europa und zu der wachsenden Überzeugung, Portugal könne allein mit seinen eigenen Ressourcen und denen seiner überseeischen Gebiete rechnen. Portugal verschloss sich Europa in einer Art von Autismus, der immer mehr zunahm, je fester die Regierung im Sattel saß. Dieses politische Verhalten und die Enttäuschung über Europa trugen dazu bei, die Einstellungen eines breiten Spektrums der portugiesischen Gesellschaft zu formen. Portugal ist ein kleines Land, betrachtete sich aber im Besitz eines großen Kolonialreichs. Die Antwort Portugals auf Briands Memorandum ist bereits ein eindeutiges Indiz für den Kurswechsel der Regierungspolitik nach der Berufung Salazars, der sich in der öffentlichen Meinung widerspiegelt: Portugal ist zweifellos ein europäisches Land, aber es ist eine Nation, die eine starke historische und zivilisatorische Verbindung zu Gebieten auf anderen Kontinenten hat. Seine Rechte und Pflichten sollen keineswegs von etwaigen Bindungen an irgendeine europäische Assoziierung beeinträchtigt werden. Angesichts der Enttäuschungen, der Egoismen und des Fehlens klarer Entwicklungsperspektiven in dem vor einer Katastrophe stehenden Europa fiel die portugiesische Entscheidung klar für eine Rückbesinnung auf die eigenen Kräfte aus, was vor allem voraussetzte, das Imperium wieder herzustellen und „unsere koloniale Mission" neu zu beleben 15 . Das koloniale Thema stand seit Beginn der 30er Jahre im Mittelpunkt der politischen Überlegungen. In einer Zeit, in der die Debatte über die Organisation Europas und die Möglichkeit eines europäischen Staatenbundes die Aufmerksamkeit der Regierungen und der Völker des europäischen Kontinents in Anspruch nahm, setzte sich in Portugal erneut die Idee „unserer maritimen und kolonialen Berufung" durch. Der „wahre portugiesische Kontinent ist das Meer", so schrieb im August 1930 der Schriftsteller Vitorino Nemésio (1901-1978) 16 , und die Meinung war verbreitet, dass die Lösung der portugiesischen Probleme nicht in den „phantasiereichen" Überlegungen der europäischen Mächte zu finden sei. Der „fixen Idee" Briands und seiner Anhänger - den „Vereinigten Staaten von Europa" - setzte Portugal seinen eigenen Plan entgegen, der seinen Interessen zu entsprechen und vereinbar 15 Siehe Antonio MARTINS DA SILVA, A ideia de Europa no período entre as duas guerras. O Plano Briand e o posicionamento portugués, in: Revista de História da Sociedade e da Cultura 2 (2002), S. 85-151. 16 Vitorino NEMESIO, O portugués e o Mar, in: Diàrio de Lisboa vom 26. Oktober 1930.

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mit seiner historischen Verantwortung und seiner zivilisatorischen Mission schien: „die Vereinten Staaten Portugals und der Kolonien", wie es im Mai 1930 in der Zeitung Diàrio de Lisboa formuliert wurde 17 . Fest steht, dass nicht alle dieser Meinung waren, und doch verstummten diese anderen Stimmen: „Wir berufen uns weder auf Vasco da Gama noch Camöes, wir sprechen auch nicht von unserer glorreichen Vergangenheit, die in der heutigen Zeit niemanden mehr beeindruckt, wir schauen nur der Zukunft entgegen", schrieb der Genfer Korrespondent der genannten Tageszeitung Ende September 193018. Die „Gegenwart" war in der Tat düster und voller Sorgen. Europa befand sich in einer tiefen Krise, die nach einigen Jahren unvermeidlich in einen Krieg mündete. Salazar, Regierungschef seit 1933, versuchte Portugal von dieser wachsenden Spannung fernzuhalten, deren Ursachen er nicht erkannte. Vielmehr betrachtete er die „Kraft des sozialen und politischen Fortschritts, die die Nationalismen darstellen", als vorteilhaft, jedenfalls solange sie im Feld der „friedlichen Konkurrenz" blieben. Gleichzeitig waren ihm jedoch die schwerwiegenden Risiken dieser Instabilität bewusst, die eine „Atmosphäre des Krieges" hervorrief: „Davor und nur davor habe ich Angst, dass Europa nicht in der Lage sein könnte, den Frieden zu festigen - da nun einmal kein interner Krieg die Probleme lösen kann. Und wenn der Krieg stattfindet, wie wird sich Portugal gegenüber einer Tatsache von unübersehbarem Ausmaß und mit unvorhersehbaren Folgen verhalten?" Die Antwort Salazars ist eindeutig: „Weit entfernt von seinem wichtigsten Schauplatz [...], in einer Ecke Europas, fast von ihm getrennt und zur See hingewandt, in erster Linie ein atlantisches Land [...], hat Portugal die Pflicht, sich nicht irreführen zu lassen [...]. Unsere atlantische Bestimmung und koloniale Tätigkeit [...], unsere verständliche Universalität und der Umfang unserer Interessen lassen die besten und freundschaftlichsten Beziehungen zu allen Staaten zu" 1 9 .

Also die Neutralität! ... Obwohl es Anhänger und Befürworter des Faschismus und des vom Nationalsozialismus angekündigten „Neuen Europa" in Portugal gab, viele davon im eigenen Lager und in der Regierung von Salazar 20 , blieb der Diktator solchen Äußerungen gegenüber distanziert. Seine nationalistischen, autoritären, antidemokratischen und antikommunistischen Prinzipien hatte er mit den Faschisten gemeinsam, und doch unterschied er sich in mehrfacher Hinsicht von ihnen, angefangen bei seiner Vorstellung davon, was Europa war und wie es sein sollte. Er betrachtete jene Systeme als „abnorm", vor allem den deutschen Nationalsozialismus wegen des Radi17 18 19

Ebd. vom 27. Mai 1930. Irene de VASCONCELOS, ebd. vom 27. September 1930. António de Oliveira SALAZAR, A crise política europeia e a situacäo externa de Portugal

(22. M a i 1939), in: DERS., D i s c u r s o s , B d . 3 ( 1 9 3 8 - 1 9 4 3 ) , C o i m b r a ¿ 1 9 5 9 , S . 1 3 7 - 1 5 5 .

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Siehe Luis REIS TORGAL, Salazarismo, Alemanha e Europa, in: Revista de História das Ideias 16(1994), S. 73-104.

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kalismus seiner Prinzipien, seiner aggressiven Methoden und seiner expansionistischen Tendenzen. Er hegte jedoch vor und während des Krieges die Hoffnung, dass mit der Überwindung der schweren Krise, die in Europa ausgebrochen war, eine neue internationale Ordnung entstehen könnte, dass ein neues Europa mit starken, autoritären Staaten sich der Hegemonie entgegenstellen würde, die das alte Europa mit seiner überholten parlamentarischen Regierungsweise und seiner Duldung des Kommunismus bis in die 30er Jahre im europäischen Rahmen behauptete. Dies war seine große Illusion ... 2. Mit Kriegsende kehrte der jahrhundertealte und starke Wunsch einer europäischen Einheit wieder. Zuerst wurde er in einer Rede Churchills im Jahr 1946 an der Universität Zürich geäußert. Der Kongress in Den Haag im Mai 1948 bedeutete einen Höhepunkt dieses geradezu militanten Enthusiasmus für eine europäische Union. Die damals gefassten Beschlüsse waren vielversprechend, aber um sie zu verwirklichen, war es notwendig, dass die Regierungen sie mit allen Risiken auf sich nahmen und so die Wünsche und die bei dem genannten internationalen Kolloquium vorgebrachten Vorschläge verwirklichten. Aber die Regierungen waren sich in grundlegenden Fragen uneinig, und England setzte alles daran, die Gründung eines übernationalen Organs zu verhindern, das bei einmütigen Beschlüssen von keiner Regierung kontrolliert würde. Als Ergebnis des Konflikts entstand - wie bekannt - der Europarat, eine Organisation, die auf Grund ihrer Statuten nicht darauf angelegt war, die europäische Union zu vollbringen. Um die föderative Vorstellung durchzusetzen oder das Ziel der Integration zu erreichen, mussten neue Wege beschritten und ausschließlich diejenigen Partner vereinigt werden, die die gewünschten Absichten teilten. Was war die Position Portugals in diesem Prozess? Zunächst ist zu bemerken, dass Informationen über das, was in Europa vorging, in großem Umfang nach Portugal gelangten. Die Tagespresse berichtete im Allgemeinen regelmäßig über die Ereignisse, die im Rahmen der europäischen Einigung stattfanden, und die portugiesischen diplomatischen Vertretungen in den wichtigsten europäischen Städten (Den Haag, Paris, Brüssel, London usw.) informierten die Regierung. Seit der Rede Churchills vor der internationalen Versammlung der Assoziationen, d. h. den großen Einheitsbewegungen (der Union der Europäischen Föderalisten, der Europäischen Parlamentarischen Union, der Europäischen Bewegung usw.), den öffentlichen Erklärungen politischer Führungspersönlichkeiten zu den geheim gehaltenen Gesprächen auf den verschiedensten Ebenen gelangten im Verlauf des Prozesses, der zur Gründung europäischer Instanzen führte - vom Marshallplan zur Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), vom Vertrag von Dünkirchen zum Brüsseler Pakt und von diesem zum Nordatlantikpakt, vom Kongress in Den Haag zum Europarat - , die wichtigsten Nachrichten,

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die eine Basis für eigene Positionsbestimmungen bieten mochten, auf vielen Wegen auch nach Portugal, an das äußerste westliche Ende des Kontinents. Die öffentliche Meinung und die Regierung wussten also, was vorging. Aber wie hat man reagiert? Vom Moment an, als die Gefahr eines neuen Konflikts sich abzeichnete, befürwortete die Mehrheit der Periodika (Diàrio de Noticias, Jornal de Noticias, Século, Diàrio da Manhä) Formen der europäischen Solidarität zum Aufbau einer Festung zur Verteidigung der westlichen und christlichen Zivilisation gegen einen eventuellen Angriff des kommunistischen Ostens. Je nach Ausrichtung der Zeitung oder des betreffenden Leitartiklers plädierten die einen für recht vage Formen der europäischen Verständigung, während andere den Schwerpunkt auf eine konzentrierte Sammlung der westlichen Bemühungen legten. Auf keinen Fall vertrat man die These einer europäischen Union im Rahmen eines föderativen Modells. Einige Periodika gingen etwas weiter und verdienen auf Grund eigener Initiativen, der Tiefe der publizierten Analysen und der Bedeutung der zum Ausdruck gebrachten Meinungen besondere Aufmerksamkeit (Diàrio Popular, Sol). Diejenigen Artikel aber, die sich für eine eventuelle politische Vereinigung Europas aussprachen, stammen von ausländischen Autoren. Die Tage des Kongresses in Den Haag führten zu Leitartikeln in den meisten Zeitungen und füllten viele Seiten, auf denen die wichtigsten Wortmeldungen wiedergegeben wurde, wie z. B. die Eröffnungsrede von Winston Churchill. Erstaunlicherweise hat die republikanische und demokratische Presse (die Zeitung República und sogar die Zeitschrift Seara Nova) dieses Ereignis verschwiegen: Die europäische Einheit interessierte sie nicht, die diesbezüglichen Ereignisse wurden ignoriert, Stellungnahmen dazu existierten zumindest in diesen Nachkriegsjahren (1945-1950) nicht. Auch Salazar bewahrte zunächst eine vorsichtige Zurückhaltung gegenüber den Geschehnissen. Die an das diplomatische Korps abgeschickten Direktiven sind nicht zahlreich. In einigen Fällen überließ man die Diplomaten praktisch sich selbst, die sich in heiklen Situationen sehr oft, so gut sie konnten, aus der Affäre zogen, wie z. B., wenn sich europäische Politiker nach der Stellungnahme der portugiesischen Regierung erkundigten, die entweder gar nicht eintraf oder nicht besonders aufschlussreich war. Erst spät gab die portugiesische Regierung eine Erklärung zu den Organisationen, die sich allmählich bildeten, ab. Über den hauptsächlich zur Verteidigung Westeuropas gedachten Brüsseler Pakt, bei dem die portugiesische Teilnahme als notwendig und wünschenswert empfunden und vom Ausland immer wieder zur Sprache gebracht wurde, hieß es in einem geheimen Rundtelegramm an die portugiesischen Legationen und Botschaften vom 3. Februar 1948: „[...] festen und schriftlichen Formeln ist das einfache Verständnis und die Kooperation guten Willens mit allgemeinem Einvernehmen"

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vorzuziehen. Zum Europarat, zu dem Portugal nicht eingeladen wurde, lautete im Februar 1949 die Stellungnahme der Regierung auf eine Anfrage der portugiesischen Diplomaten, dass „diese Organisation sich nicht mit unserer Vorstellung von Souveränität vereinbaren lässt". Salazar sah hinter diesen beiden Organisationen die geheime Absicht zur Integration der kleinen Staaten verborgen; er fürchtete sie als Instrument zur demokratischen Uniformisierung der politischen Regime; er betrachtete sie in ihren ausgesprochenen oder unausgesprochenen Zielen als Gegner der Verschiedenheit europäischer Nationen und der historischen Traditionen des portugiesischen Volkes. Nachdem die Teilnahme an der NATO beschlossen war, einer Organisation, die Portugal die notwendige strategische Sicherheit und eine gewisse politische Glaubwürdigkeit gab, lehnte der portugiesische Regierungschef für die Gegenwart und die Zukunft ausdrücklich jede Form einer Vereinbarung mit der Westeuropäischen Union (Brüsseler Pakt) und namentlich mit dem Europarat ab - dem Portugal wegen seines autoritären Regimes nicht beitreten durfte 21 . „Mit dem Blick auf das Meer, den Rücken dem Lande zugewandt" - dieser „Grundsatz wird von den Notwendigkeiten des portugiesischen Volkes definiert", erklärte Salazar anlässlich der Ratifizierung des Atlantischen Paktes am 25. Juli 194922. Dieser offiziellen Position passten sich tendenziell auch der Grundtenor der öffentlichen Meinung und der Großteil der Intellektuellen an: „Einheit Europas, wie schon in Straßburg und auch schon früher zu anderen Anlässen erklärt, nein!", hieß es im Leitartikel des Diàrio de Noticias vom 29. August 1949; Europa sei eigentlich „für uns eher eine Landschaft als eine Nachbarschaft"; „das Zentrum unserer historischen Taten, unser Horizont, unser nationales Schicksal ist das Meer. Unser Schicksal ist atlantisch und nicht europäisch", verkündete der Akademiker Augusto de Castro (1873-1971) am 18. Oktober 1949 in einem Vortrag im Institut für Höhere Studien der Akademie der Wissenschaften. 3. Bis in die 60er Jahre bestand eine gewisse Einigkeit zwischen der politischen Führung und der bürgerlichen Gesellschaft, was die Einheitsbewegung und den Prozess der europäischen Integration angeht. Regimeanhänger und Opposition - mit Ausnahme der Kommunisten, die eine eigene, der sowjeti-

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Siehe Antonio MARTINS DA SILVA, Portugal e a Unidade Europeia no pós-Guerra (1945-1948): reacçôes e tomadas de posiçào, in: Revista Portuguesa de História 32 (1998), S. 449-487; DERS., No inicio da Cooperaçâo Europeia do pós-guerra: o Pacto de Bruxelas e as reacçôes em Portugal, in: Ebd. 33 (1999), S. 737-788; DERS., A criaçâo do Conselho da Europa, a unidade europeia e o posicionamento portugués, in: Revista de Historia das Ideias 22 (2001), S. 553-602. 22 António de Oliveira SALAZAR, Portugal no Pacto do Atlàntico, in: DERS., Discursos, Bd. 4 (1943-1950), Coimbra 1951, S. 403-422.

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sehen Strategie angepasste Position einnahmen - vertraten im Wesentlichen denselben Standpunkt. Die europäische Idee, das Echo einer politischen Union, die Möglichkeit einer portugiesischen Integration in die Gemeinschaft fanden in Portugal zu dieser Zeit keinen bedeutenden Niederschlag. Den mehrfachen Äußerungen Salazars seit 1958 über die Möglichkeit einer europäischen Föderation - die er als nicht durchführbar und unvereinbar mit den Gefühlen des portugiesischen Volkes empfinde, dessen Schicksal atlantisch sei - oder über eine zukünftige Integration in die Gemeinschaft - die Salazar ebenfalls ablehnte und deren Nützlichkeit er bezweifelte - wurde, soweit wir sehen, weder in der Presse noch in anderen Schriften widersprochen. Anders als nach dem Ersten kehrte Portugal in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Europa den Rücken, obgleich es geistige Werte, kulturelle Errungenschaften und ökonomische Interessen mit Europa verbanden, was im Rahmen einer begrenzten Kooperation einigen wirtschaftlichen Nutzen hätte bringen können. Gerade die Aussicht auf die etwaigen Vorteile dieser wirtschaftlichen Kooperation, die Salazar nach seiner anfänglichen Absage schließlich akzeptiert hatte, ermöglichten das Profitieren vom Marshall-Plan, den Beitritt zur OEEC und die Vollmitgliedschaft in der EFTA - einer Organisation, die trotz des strukturellen wirtschaftlichen Rückstands Portugals einen Sonderstatus mit den gleichen Rechten und geringeren Verpflichtungen als die anderen Mitglieder gewährte. Die offizielle Stellungnahme zum Beitritt zur EFTA bestand darin, ihn als das kleinere Übel zu betrachten - oder als die bessere und realistischere Wahl zwischen den zwei Optionen, dem Gemeinsamen Markt oder der EFTA. Allerdings rief dieser neue Schritt in Richtung Europa keinen Enthusiasmus in den Führungskreisen der Regierung hervor. Tatsache ist, dass dieser Kompromiss die von der Regierung vertretenen Prinzipien schützte und zumindest vorübergehend die Risiken der internationalen Isolierung reduzierte, zu einer Zeit, in der die Kritik an den Entscheidungen Salazars und seiner Kolonialpolitik zunahm. In der anlässlich der Eröffnung der Ministertagung der EFTA in Lissabon am 20. Mai 1960 gehaltenen Rede betonte Salazar von neuem diese Prinzipien und wie sich Portugal in Beziehung zu Europa verhielt: „Wir sind von den europäischen Staaten der vom politischen und ökonomischen Zentrum Europas am weitesten entfernte. Und wer eine Landkarte betrachtet, könnte der Meinung sein, dass das Land sich vom Festland lösen und sich in die See erstrecken will. [...] Wir können uns auf Grund des größeren territorialen Gewichts und der höheren Bevölkerungszahl in anderen Kontinenten fast als einen außereuropäischen Staat betrachten" 23 .

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DERS., NO almoço oferecido aos participantes na reuniäo ministerial da EFTA, 20. Mai 1960, in: DERS., Discursos, Bd. 6 (1959-1966), Coimbra 1967, S. 7 7 - 8 0 (Zitat S. 80).

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Im Allgemeinen betrachtet die Forschung den Beitritt Portugals zur Europäischen Freihandelszone als sehr bedeutsam für Portugal und sehr vorteilhaft für die portugiesische Wirtschaft. Festzuhalten ist ein beträchtlicher Aufschwung der portugiesischen Exporte nach Westeuropa, Wirtschaftsstrukturen wurden modernisiert, und damit begann die schrittweise Annäherung Portugals an Europa. Nicht einmal mit der Absetzung Salazars änderten sich die Einstellungen gegenüber Europa wesentlich. Gewiss gab es Spannungen innerhalb des Regimes; und man glaubte sogar an eine Änderung. Seitdem meldeten sich Diplomaten und vor allem Technokraten zu Wort, die eine Integration Portugals in die Europäische Gemeinschaft für wünschenswert hielten. Auch gab es Abgeordnete, die im Parlament sehr hitzig „das europäische Schicksal Portugals" verfochten und die Notwendigkeit, vornehmlich in Europa die Ressourcen zu suchen, die das Land brauche, um wirtschaftlichen Wohlstand zu erreichen und sein politisches Ansehen wiederherzustellen, unerlässliche Bedingungen, um weiterhin als Nation bestehen zu können. Es entstand ein neues gesellschaftliches Bewusstsein hinsichtlich der europäischen Integration, das einerseits durch die Erkenntnis, dass der Verlust der Kolonien bevorstand, und andererseits durch die Attraktivität des Gemeinamen Marktes auf Grund seiner Wirtschaftsdynamik noch verstärkt wurde. Auch ein neuer politischer Wille zur Festigung der Beziehungen zur Europäischen Gemeinschaft ist festzustellen - im Fall des neuen Regierungschefs (Marcelo Caetano) allerdings weniger aus Überzeugung denn notgedrungen auf Grund der Schwächung der EFTA in der Folge des Beitritts Großbritanniens zur EWG. In diesem Zusammenhang handelte die portugiesische Regierung ein Wirtschaftsabkommen aus, das am 22. Juli 1972 ratifiziert wurde und mit Beginn des folgenden Jahres in Kraft trat. Aber wegen des undemokratischen Regimes in Portugal war es trotz der diesbezüglichen Absichten der portugiesischen Seite nicht möglich, intensivere Verbindungen mit der Gemeinschaft, etwa durch einen Assoziierungsvertrag, zu erreichen. Dennoch ist die in Portugal geführte Debatte über die Annäherung an Europa in jenen Jahren nicht über mehr oder weniger ernst gemeinte Absichtserklärungen und eine tatsächliche Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen Portugals zur EWG hinausgekommen. Die Zukunft oder die Problematik der Europäischen Einheit, die Verzögerung der europäischen Integration und die Notwendigkeit institutioneller Reformen fanden hier kein Echo. Ähnliches gilt jedoch auch für andere Länder; das Thema hatte keine Enthusiasten. Das Europa von 1973 schien in einer Weise apathisch zu stagnieren, dass es sich vor der Weltöffentlichkeit bloßstellte.

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III. Von der Nelkenrevolution bis zur Gegenwart (1974-2003): Auf dem Weg und am Weg Europas Ab 1974 trat eine neue Generation europäischer Politiker mit einem größeren Sinn für Europa auf: zuerst Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt; dann, in den 80er Jahren, François Mitterand und Helmut Kohl. Von 1985 bis 1994 hatte der überzeugte Europäer und gewandte Verhandlungsführer Jacques Delors die Präsidentschaft der Europäischen Kommission inne. Die Entwicklung der Gemeinschaft trat in eine neue Phase: Sie erweiterte sich auf zwölf Mitgliedsstaaten, unternahm tief reichende Reformen, 1985-86 mit der Einheitlichen Europäischen Akte und 1992-93 mit dem Vertrag von Maastricht, und setzte erneut die Frage der politischen Vereinigung Europas und das Problem einer Föderation auf die Tagesordnung; unterdessen erweiterte sie sich auf fünfzehn Mitgliedsstaaten und reformierte mit kleinen Änderungen, zuerst in Amsterdam und dann in Nizza, den Vertrag der Europäischen Union. Diese Änderungen - die auf der ihnen vorausgegangenen Regierungskonferenz eine heftige Debatte zwischen den Einheits- und den FöderationsBefürwortern verursacht hatten - führten zu einem Kompromiss zwischen den Verfechtern einer intergouvernementalen Kooperation und den Vertretern einer stärker ausgeprägten europäischen Integration. 1. Seit 1974, unmittelbar vor oder nach der Revolution, stellten sich viele Portugiesen die Frage nach der Zukunft Portugals, zu einer Zeit, als das Ende des portugiesischen Kolonialreichs offensichtlich bevorstand. Portugal, so meinten die einen, müsse zwischen Europa und dem Atlantik wählen. Wenn es sich für Europa entscheide, werde es von neuem seine Unabhängigkeit verlieren, weil es durch den Anschluss an eine wirtschaftliche und vermutlich bald auch politische Gemeinschaft im gesamtiberischen Raum aufgehen werde, dessen wirtschaftliche und mit der Zeit auch politische Hauptstadt gewiss Madrid sein würde, was widernatürlich, unhistorisch und anti-national wäre. „Und so, an diesem Scheideweg, Europa oder der Atlantik, plädieren wir für den Atlantik", schreibt Barradas de Carvalho, für den dies eine Bedingung sine qua non war, damit Portugal seine Individualität wiederfinde „wieder es selbst wird" - und die unbestrittene Hauptrolle bei der alternativen Konstituierung einer großen lusophonen Gemeinschaft spiele 24 . Wenn auch nicht alle diese Meinung vertraten, so meinten viele, dass sich Portugal an einem Scheideweg befinde und kurz davor stehe, eine lange Epoche seiner Geschichte abzuschließen; die Notwendigkeit, über Portugal nachzudenken, war eine Herausforderung für viele Intellektuelle nach der

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Joaquim BARRADAS DE CARVALHO, Rumo de Portugal. A Europa ou o Atlántico?, Lisboa 1974.

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revolutionären Periode des 25. April, beispielsweise für Autoren wie Joel Serräo (1976), Victor de Sá (1977), Manuel Antunes (1977), Eduardo Lourenço (1978) u. a. Wenn unter kulturellen Gesichtspunkten die Anziehungskraft Europas damals und schon lange vorher eine unbestreitbare Tatsache war, so war doch die europäische Integration nicht unbedingt ein Ziel für die Mehrheit der portugiesischen Meinungsmacher, mit Ausnahme einiger Politiker, Technokraten und Diplomaten. Die allmähliche Vertrautheit der Portugiesen mit den Vor- und Nachteilen einer engen Bindung an Europa und den Möglichkeiten einer Integration erhielt neue Nuancen in den Jahren zwischen 1974 und 1986. Die Durchsicht von über fünfzig Periodika mit kulturellen, historischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, juridischen, philosophischen und strategischen Themen unter der Berücksichtigung eines breiten Spektrums divergierender Interessen ermöglichte einige Schlussfolgerungen, die im Folgenden in einer kurzen Synthese wiedergegeben werden sollen. Zunächst, in der unmittelbaren Revolutionszeit, gab es nur sehr wenige, die es wagten, ein eindeutiges und objektives Ziel für Portugal anzugeben. „Den Staat überdenken", sich mit „sich selbst und mit den anderen" zu konfrontieren sei der beste Weg, damit das Land die Richtung finde, die „ihm am besten zusagt" und ihm den Stolz „einer eigenen Existenz" garantiere (Manuel Antunes)25. Portugal zu „denken", kollektive Verantwortungen zu übernehmen, ohne Sündenböcke zu benennen, das war die Sorge von Antonio José Saraiva26. Das Besondere an Portugal hervorzuheben, die „portugiesische Essenz", seine Widersprüche und seine Mythen, seine Kleinheit und seine Größe, seine „Blindheit" und seinen Willen, all das, „was uns ermöglichte zu sein, was, realistisch gesehen, sehr unwahrscheinlich schien", war Ausgangspunkt der tief schürfenden und erhellenden Überlegungen Eduardo Lourenços über das portugiesische Schicksal27. Über ein realistisches Zukunftsprojekt für Portugal nachzudenken - nachdem „wir unsere kollektive Persönlichkeit in Frage gestellt hatten" - war auch die Aufgabe, die sich Joel Serräo stellte, der „eine neue Politik der Freiheit und Gerechtigkeit" für Portugal vorschlug, aber auch eine „Änderung der sozio-ökonomischen Strukturen im Sinn des sozialistischen Projekts" und der kulturellen und geistigen Strukturen des portugiesischen Volkes „im Sinn eines nationalen Erziehungsprojektes" 28 . 2. Mit dem Ausgang der revolutionären Phase und nach der Einführung der demokratisch-rechtsstaatlichen Regierung begann sich die Sorge um die 25

Manuel A N T O N E S , Repensar o Estado, in: Brotéria 9 8 ( 1 9 7 4 ) , Nr. 5 / 6 . António José S A R A I V A , in: Critèrio, Nr.l vom November 1975. 27 Eduardo L O U R E N Ç O , Retrato (pòstumo) do nosso Colonialismo Inocente, in: Critèrio (1975), S. 8-11; 3 (1976), S. 5-10. 28 Joel S E R R Ä O , Repensar Portugal, in: Naçào e Defesa 1976, S . 7-10. 26

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Zukunft Portugals erneut abzuzeichnen. Europa oder die Europäische Gemeinschaft erschien einigen unter mehr oder weniger großen Vorbehalten als das mögliche Ziel, ohne jedoch andere denkbare internationale Verbindungen auszuschließen. Für Medeiros Ferreira „wird Portugal den europäischen, politischen oder wirtschaftlichen, Institutionen beitreten müssen, entweder aus eigener Überlegung oder aber auf Grund der zentripetalen Kraft der Gründungsfaktoren dieses europäischen und euro-afrikanischen Raumes"; es dürfe aber keineswegs den Ausbau seiner außereuropäischen Beziehungen, namentlich zu den Vereinigten Staaten und ganz besonders zu Brasilien, vergessen oder vernachlässigen29. Ähnlich allgemeine Erklärungen zur gegenwärtigen Lage und den Zukunftsaussichten Portugals in einer demokratischen Perspektive gaben auch andere ab. Sie verwiesen auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorteile, die dieses periphere Land aus seiner schnellen Annäherung an Europa und der Integration in die Gemeinschaft ziehen könne, und zugleich die Vorteile für diese, indem sie von der atlantischen Lage Portugals, seiner Brückenstellung zwischen Europa und Afrika, seiner universalen Berufung als wichtiger Gesprächspartner mit anderen Völkern und Kulturen profitieren könnten. „Wir werden die Möglichkeit haben, zu diesem der Welt offenen Europa durch unsere Eigenheit und Eigenschaft des Dialogs, vor allem mit den zahlreichen afrikanischen Ländern portugiesischer Sprache, die heute zu der Gemeinschaft der Nationen gehören, einen substanziellen Beitrag zu leisten", schrieb Mário Soares im Sommer 1978. Wenige, sehr wenige, machten sich Gedanken über das Europa der Zukunft und die Vertiefung der Gemeinschaft: „Ohne ihre Vertiefung", so der Politiker weiter, „wäre die Gemeinschaft ohne eigentlichen Sinn und ohne Zukunft, wäre sie eigentlich nur eine Enttäuschung für ihre Völker und auch für die Völker der Beitrittsstaaten, die die größten Hoffnungen auf eine Zukunft setzen, die sie auch teilen wollen"30. Aber es gab auch solche, die es wagten, weiter in die Zukunft zu blicken, und die die unbedingte Notwendigkeit vertraten, einen Weg zu finden, der die Gemeinschaft zu einer institutionellen Reform führe, „der europäischen supranationalen Macht" neue Impulse verschaffe und sie erweitere, „das Ideal eines Vereinten Europa" wieder aufnehme und somit „das notwendigerweise zu bejahende Projekt, das Portugal unbedingt braucht", weitergebe, indem es aktiv „an der Konstruktion Europas" teilnehme31. Von denjenigen, die sich in der nachrevolutionären Periode mit der Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft beschäftigten, sind die meisten, die sich positiv zu Europa äußerten, dem demokratischen Lager des Parteienspek29

José MEDEIROS FERREIRA, in: Naçâo e Defesa 1976, S. 17-23. Mário SOARES, Portugal e a Comunidade Europeia: É o alargamento incompatível com O aprofundamento?, in: Política Externa 1 (1978), S. 7-15. 3 ' Francisco SARSFIELD CABRAL, in: Naçâo e D e f e s a 4 (1978), S. 35-43. 30

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trums (von der rechten Mitte bis zur Linken) zuzuordnen. Man dachte vor allem an eine Erweiterung, man sah die Entscheidung für die europäische Integration als möglichen und wünschenswerten Weg, um Portugal den ihm gebührenden Platz im Kreis der Nationen zu verschaffen und so die „Verwirrung", in der es sich befinde, zu überwinden. Viele bezweifelten die wirklichen Vorteile dieser Integration für das Land; manche schlugen andersartige Alternativen vor; andere, die extreme Rechte, die Kommunisten und die übrigen linksgerichteten Gruppierungen, lehnten aus verschiedenen Gründen die mit der ersten konstitutionellen Regierung ab 1976 erfolgte Orientierung Portugals nach Europa grundsätzlich ab. Es war auch diese Regierung mit Mário Soares als Ministerpräsident, die die politische Entscheidung für die europäische Gemeinschaft traf. 1977 wurde die portugiesische Bewerbung der Gemeinschaft vorgelegt, und sofort begannen die Verhandlungen, die sich bis 1985 hinzogen. Portugal wurde am 1. Januar 1986 Vollmitglied. Aber die Bevölkerung stand im Allgemeinen diesem Anliegen fern. Ende 1981, als die Verhandlungen in vollem Gang waren, hatte nach einer Meinungsumfrage von Eurobarometer die Mehrheit der Portugiesen (62 %) keine Meinung zum Beitritt Portugals; die Anzahl derjenigen, die ihn positiv beurteilten, entsprach dem Prozentsatz derer, die dagegen waren oder Bedenken äußerten (19 %). Zwei Jahre später, im Frühjahr 1983, erbrachte eine erneute Meinungsumfrage erfreulichere Ergebnisse; trotzdem hatte fast die Hälfte der Portugiesen (48 %) keine Meinung zum Beitritt Portugals, und nur wenig mehr als ein Viertel (28 %) betrachtete den Beitritt positiv. Die Regierungsorgane, die demokratischen Politiker im Allgemeinen, gewisse Wirtschafts- und Berufszweige waren entschlossen, den Beitritt zu beschleunigen. Und doch gab man sich seitens der Regierung und der bürgerlichen Eliten wenig Mühe für eine wirkliche Aufklärung der Bevölkerung über die bereits bekannten und vorhersehbaren Folgen (die Vorund Nachteile und die Risiken) eines Beitritts Portugals zur EG. Im Jahr 1981 unternahm der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher verschiedene Initiativen zur Änderung der Gemeinschaftsverträge im Sinn einer Verwirklichung der Europäischen Union. In einer von der EG Ende 1981 durchgeführten Meinungsumfrage in Portugal lauteten die von Eurobarometer veröffentlichten Ergebnisse auf die Frage „Sind Sie für oder gegen die derzeitigen Bemühungen um die Vereinigung Westeuropas?" wie folgt: Etwa zwei Drittel der Befragten (67 %) antworten nicht (d. h. sie hatten keine Meinung oder wussten nichts darüber), über ein Viertel (19 %) war dafür, und 4 % der Befragten waren dagegen 32 . Das heißt, dass eine große Mehrheit der Portugiesen sich weder für die Aussicht auf einen Beitritt noch die Reformvorschläge der Gemeinschaft interessiert zu haben scheint. 32

Diàrio de Noticias vom 25. Dezember 1981.

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Auch nach Abschluss der Verhandlungen scheint der Beitritt Portugals zur EG keinen allzu großen Enthusiasmus hervorgerufen zu haben, weder in der Bevölkerung im Allgemeinen noch in den gebildeten Kreisen Portugals; für viele Intellektuelle schien dieses plötzliche Sich-Anschließen an Kontinentaleuropa nicht mit der atlantischen Lage und der Universalität des portugiesischen Volkes vereinbar zu sein, und sie äußerten diesbezüglich Bedenken und Reserven. Als Beispiel bringen wir einen Abschnitt aus dem Tagebuch von Miguel Torga, geschrieben am 28. März 1985: „Es scheint, dass wir dem Gemeinsamen Markt beitreten [...]. Leider ist der Augenblick gekommen, in die Fußstapfen der hervorragendsten Persönlichkeiten unserer Zivilisation zu treten, die in den ruhmreichen Zeiten einen spezifischen Beitrag dazu leisteten, dass sie weltweite Geltung errang. Und es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als die gleichen Methoden anzuwenden, die sie eingesetzt haben [...]. Wenn wir gezwungen werden, unser Verhalten zu ändern, so wollen wir bewusst handeln und ausschließlich als Bereicherung dessen, was wir waren und sind, ohne eine der Tugenden, die uns auszeichnen, aufzugeben" 33 .

In den Jahren nach dem Beitritt scheint diese Teilnahmslosigkeit gegenüber dem gemeinsamen Europa und den Reformen, die durchgeführt wurden, angehalten zu haben. Aufschlussreich sind die Ergebnisse einer von uns durchgeführten Bestandsaufnahme von Artikeln in portugiesischen Zeitschriften, in denen man mit hoher Wahrscheinlichkeit die Publikation von Studien über die Europäische Gemeinschaft erwarten durfte: In 105 durchgesehenen Zeitschriften der Jahre 1980-1995 konnten wir ca. tausend Artikel über Portugal und Europa feststellen; aber nur sechs Titel bezogen sich auf die Frage der europäischen Idee, der politischen Einheit, der europäischen Föderation, das heißt auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des europäischen Projekts; und alle gehören in die Zeit der Debatte über den Vertrag von Maastricht (1991-1992). Schwerpunkt der großen Mehrheit der Artikel sind technische oder sektorale Aspekte der Gemeinschaftspolitik. Das gleiche gilt für die Bücher, deren Bestandaufnahme für eine längere Zeitspanne, bis Ende der 90er Jahre, durchgeführt wurde: Weniger als zwanzig behandeln das Thema der Zukunft Europas (europäische Einheit, Föderation, Staatenbund, politische Union etc.). Ein europäischer Diskurs - im Sinn einer Belebung der Gemeinschaft - war so gut wie gar nicht vorhanden. 3. Und doch scheint sich dieses Panorama langsam zu ändern. In den letzten Jahren sind einige Publikationen erschienen34 und mehrere Kolloquien orga33

Miguel TORGA, Diàrio, Bd. 14, Coimbra 1987, S. 156 f. Zum Beispiel: Aurélio CRESPO, O federalismo, um modelo para a Europa?, Lisboa 1998; Joäo Carlos ESPADA, O desafio europeu, passado, presente e futuro, Cascais 1999; Paulo SANDE, O sistema politico da uniäo europeia, Cascais 2000. 34

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nisiert worden. Die Beziehungen zwischen Portugal und Europa scheinen eine wachsende Zahl von Forschern und Intellektuellen innerhalb oder außerhalb der akademischen Institutionen zu interessieren35. Seit der Debatte über die Revision des Vertrags von Maastricht im Rahmen der Regierungskonferenz von 1996 ist in Portugal ein großes Interesse festzustellen, das zur Publikation etlicher Arbeiten mit sektoralen Beiträgen und weitläufigen Vorschlägen zur Reform der Institutionen und der Gemeinschaftspolitik führte. Einige Zeitschriften heben sich auf Grund der systematischen Fragestellungen und der anerkannten Qualität in der Analyse der europäischen Problematik, namentlich der institutionellen Reform und der Natur des Gemeinschaftssystems, über die Gegenwart und die Zukunft der Union, im Panorama der portugiesischen Periodika ab 36 . Die politische Debatte in Portugal im Rahmen der Regierungskonferenz 2000 war trotz der ernst gemeinten Vorschläge, die eingebracht wurden, weder ertragreich noch visionär. Europa befand sich damals an einem Scheideweg: entweder eine neue Erweiterung großen Ausmaßes mit der Notwendigkeit, tiefgreifende Maßnahmen zu ergreifen, oder ein grundsätzliches Überdenken seiner institutionellen Architektur. Mehrere Beiträge erschienen. Der Antrag auf eine Föderation europäischer Staaten, den der deutsche Außenminister Joschka Fischer im Mai 2000 in Berlin stellte, brachte das Thema auch nach Portugal, namentlich in die Schlagzeilen der Zeitungen und Nachrichten. Die Tageszeitung Público und die Wochenzeitung Expresso befragten mehrere portugiesische Politiker und Unternehmer zu den Erklärungen zum europäischen Föderalismus. „Portugal in Europa: quo vadis", so titelte die erstgenannte Zeitung zu den erhaltenen Antworten. Auf die gestellten Fragen - „Sind Sie der Meinung, dass es notwendig ist, eine Föderation zu bilden?", „Ja oder Nein zum Föderalismus?" 37 - antwortete die Mehrheit der Befragten affirmativ, aber in einigen Fällen so restriktiv, dass sie dem eigentlichen Sinn einer Föderation widersprachen; eine geringere, jedoch nicht zu vernachlässigende Zahl von der sehr konservativen Rechten nahe stehenden Persönlichkeiten antwortete mit einem klaren Nein zu irgendeiner Art europäischer politischer Union. Wohlgemerkt: Es handelte sich 35

Zum Beispiel: Universität Coimbra (Facilidades de Letras e de Direito): „Coloquio Portugal e a Construçâo Europeia" (23. und 24. November 2001), gedruckt als: Portugal e a Construçâo Europeia, Coimbra 2003; Universität Lissabon (Faculdade de Letras, Instituto de História Contemporánea): „A Europa: reflexôes a partir da historia" (27. Oktober 1994), „O Fim da II Guerra Mundial e os novos rumos da Europa" (4. bis 6. Mai 1995), „A construçâo da Europa: problemas, pensadores e políticos" (9. und 10. Mai 1996), „O federalismo europeu, história, politica e utopia" (18. und 19. Mai 2000). 36 Zum Beispiel: Finisterra, Revista de Reflexào e Critica (hrsg. von Eduardo Lourenço); Estratégia e O Mundo em Portugués (hrsg. vom Instituto de Estudos Estratégicos Internacionais). 37 Público vom 28. Mai 2000; Expresso vom 27. Mai 2000.

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nicht um eine Stichprobe, die das Empfinden der Portugiesen zum Ausdruck brachte. Wir wissen nichts von der intellektuellen Elite des Landes; das Fehlen öffentlicher Äußerungen spricht dafür, dass die Problematik des Föderalismus ihr gleichgültig war. In der Gegenwart, in der Zeit nach Nizza, gibt es im Land keine wesentlichen Impulse, die der Europäischen Union behilflich sein könnten. Äußerungen seitens der Politik sind selten; wenn auf der Ebene der Staatspräsidenten (des jetzigen und seines Vorgängers, Sampaio und Soares) die Vorschläge ausgeglichen und zukunftsweisend sind, so erscheinen die Erklärungen der Regierung zurückhaltend und konservativ; die parlamentarischen Debatten über das Thema zeigten bisher wenig Enthusiasmus und keine Ideen; die Parteien verhalten sich vorsichtig und still. Einige Institutionen und Organisationen scheinen mit eigenen Initiativen aus der Lethargie zu erwachen; die bürgerliche Gesellschaft steht - mit wenigen Ausnahmen - den Problemen immer noch fern. Aber seit der Europäische Konvent seine Arbeit aufgenommen hat, hat sich die Debatte belebt: Mehrere institutionelle Initiativen wurden von Seiten der Regierung oder von akademischen Kreisen unternommen; einige Periodika und verschiedene Zeitungen - zu erwähnen ist die Zeitung Público - haben darüber berichtet und Stellung genommen zu dem, was mit Blick auf die Zukunft Europas innerhalb und außerhalb des Landes an Vorschlägen vorgebracht wird. Die Festlegung der nächsten Regierungskonferenz 2003 mit dem von einer Kommission unter der Präsidentschaft Giscard d'Estaings ausgearbeiteten Verfassungsprojekt auf der Tagesordnung wird gewiss viele Teilnehmer und Enthusiasten mobilisieren. Die kritischen Bemerkungen und Beiträge zum Europa der Zukunft scheinen nun gewichtiger zu sein. Wenn sich auch die politischen Organe und Parteien ziemlich zurückhalten, so sind doch Teile der Presse und einige akademische Institutionen in verschiedenen Wissenschaftszweigen und im Bereich der kulturellen und politischen Tätigkeit zu erwähnen. Die durchgeführten Kolloquien über diese Themen, die publizierten Artikel und Bücher über die institutionelle Struktur der Europäischen Union und ihre Zukunftsperspektiven scheinen auf eine Meinungsänderung der Portugiesen hinsichtlich eines gemeinsamen Raumes, dessen Interessen sie teilen und zu dessen Vertiefung sie ihren Beitrag leisten möchten, hinzudeuten. Und doch steht die Mehrheit der portugiesischen Bevölkerung weiterhin abseits von der gegenwärtigen Reformdiskussion der Europäischen Union. Auch die wichtigsten politischen Repräsentanten und die politischen Parteien - in der Regierung wie auch in der Opposition - scheinen sich wenig Gedanken zu machen, wie man diese Einstellung ändern könnte, sondern sind derzeit beschäftigt mit einer internen Debatte, ob ein Referendum über die künftige Europäische Verfassung durchgeführt werden solle. Es scheint, dass sie weniger an der Aufklärung der Bevölkerung interessiert sind - zu der

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die genannte Volksbefragung einen Beitrag leisten könnte - , als dass sie fürchten, dass auf diesem Wege die Textvorlage abgelehnt werden könnte oder aber im Gegenteil wünschen, dass dies der Fall sei. „In diesem entscheidenden Moment des Aufbaus Europas driftet Portugal, ohne dass der öffentlichen Meinung und vielleicht nicht einmal den Verantwortlichen der Parteien genau bewusst ist, was in Brüssel und in Straßburg auf dem Spiel steht" 38 .

IV. Schlussbemerkung: Die Zukunft Portugals und das künftige Europa Immer noch scheint man in Portugal der politischen Union Europas gegenüber zurückhaltend zu sein. Als seit Jahrhunderten bestehender Zentralstaat ohne Erfahrungen mit einer effektiven Regionalisierung noch der Bereitschaft dazu - mit Ausnahme der beiden insularen Fälle der Azoren und Madeira - , wird die Idee der Föderation oft mit dem Verlust der Identität verwechselt, oder man hat, heute wie in der Vergangenheit, schlichtweg Angst vor einer Vereinnahmung durch ein expandierendes Spanien oder vor dem Risiko einer Unterordnung unter ausländische Machtblöcke, deren Selbstsucht und Hegemoniebestreben sich in der Vergangenheit immer wieder ohne Skrupel zu äußern pflegte. Und dennoch, da Portugal ein kleines Land mit eindeutigen Nachteilen wegen seiner peripheren Lage ist, werden die Stimmen immer lauter, die die Auffassung vertreten, dass nur im Rahmen der Verstärkung der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion und der europäischen politischen Einheit eine befriedigende Lösung gefunden werden kann, um die Identität eines jeden Teils der Gemeinschaft und im Ganzen die Gleichheit aller zu garantieren. Auf der anderen Seite wird das Projekt eines Direktoriums im Rahmen des gemeinsamen Rats, das das Gewicht der großen Mächte zum Nachteil der kleinen Staaten und der supranationalen Institutionen verstärken könnte, mit Befremden aufgenommen und einmütig von den Portugiesen abgelehnt. Diese Angst und dieser Mangel an Vertrauen könnten zu einem erneuten Aufkommen der atlantischen Option führen, mit ideologischen und nationalistischen Begründungen, wie sie gelegentlich zu hören sind. Viele Portugiesen empfinden heute die Notwendigkeit, dass Portugal eine konsequente maritime Politik wieder aufnehme und kontinuierlich durchführe sowie die internationalen Beziehungen atlantischer Ausrichtung, namentlich mit den lusophonen Ländern, neuerlich intensiviere. Aber diese legitimen und wünschenswerten Entscheidungen und Verhaltensweisen, die der jahrhundertelangen Geschichte eines Volkes entsprechen, das im äußersten Westen Europas lebt - „Wo das Land endet und die See beginnt" - , können und dürfen 38

Mário So ARES in Visäo vom 2. Oktober 2003.

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niemals gegen die bereits erreichten Erfolge beim Aufbau Europas und gegen die Hoffnungen der europäischen Völker ausgespielt werden, deren gemeinsames Schicksal Portugal teilt. Im Gegenteil müssen sich jene mit diesen in wachsendem Verständnis und gegenseitiger Solidarität ergänzen. Gerade in der Vereinigung von Land und Meer, in der Überwindung der Konflikte der Vergangenheit, die heute noch ihre Schatten werfen, in der Orientierung auf das (um eine solidarische und friedliche Gemeinschaft mit den ehemals kolonisierten Völkern zu begründen) und in der Teilnahme am nicht leichten - Aufbau eines vereinten, friedlichen, solidarischen und großmütigen Europa (als Beispiel und Fanal der Hoffnung für die Völker anderer Kontinente), kann Portugal (im Lande selbst und in der Diaspora) seinem berechtigten Stolz entsprechend handeln, ohne Komplexe auftreten und seine Bestimmung erfüllen. Aber dazu muss es zunächst das kleinliche Verständnis vom Europa der Zukunft überwinden - von dem es ausschließlich die Fördermittel zu interessieren scheinen (sozusagen das Gold aus Brasilien der heutigen Zeit, um die eingefleischte Mittelmäßigkeit zu perpetuieren). Es muss sich so schnell wie möglich von der kleinlichen Sicht des künftigen Europa befreien - wobei seine Sorgen sich vor allem auf die Beibehaltung eines portugiesischen Kommissars in einer Institution, die ihrer Natur nach übernational ist, richten (wie auf ein trojanisches Pferd, um das Überleben der portugiesischen Identität zu sichern). Ein alter Wunsch, eine alte Debatte, ein hundertjähriger Kampf - mit friedlichen Mitteln kämpft das alte Europa der Gegenwart immer noch die Kämpfe der Vergangenheit. Angesichts des Risikos, unterzugehen oder in seinen eigenen Unfähigkeiten gefangen zu bleiben, muss das neue Europa der Zukunft solidarisch, mutig und entschlossen den neuen Herausforderungen in Richtung auf die politische Union, ohne hegemoniale Absichten und aufgebaut auf dem Prinzip der Solidarität wie der Anerkennung der Identität und Vielfalt der Nationen und der sie konstituierenden Völker, entgegentreten: Wenn sich auf diesem Weg die Staaten der Vergangenheit auflösen sollten, so werden es gewiss die Vaterländer der Zukunft entgelten ... (Übersetzt von Ludwig Scheidl)

Summary Until the 19th Century there are no Portuguese statements known referring to the idea of a Europe somehow united or structured by multilateral institutions. Since then many have dealt with the position which Portugal should

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long for within the European framework or with the structures that should be adopted by an internationally organized Europe in order to secure peace, welfare and solidarity among the nations. But the statements put forward by intellectual elites, politicians and governments differ considerably and have developed over the years. They change with the situation of the nation and international developments, of course. These opinions and concerns are based on a particular characteristic: since the late Middle Ages the location of Portugal both in the very west of the continent of Europe and on the coast of the Atlantic ocean, which led to a close contact with the sea reaching its peak with the voyages of discovery from the 15th century, shaped the character of the Portuguese. The relations of Portugal with Europe, her cyclic vacillation between the Atlantic and the continent, between the sea and the mainland are the outcome of this geographic and mental condition, which have always determined the way of thinking and behaving, the approach or indifference towards the problems, hopes and achievements in the context of cooperation within Europe and of its unity.

Zwischen Szylla und Charybdis Nationale Identität, Kontinentaleuropa und die Beziehungen zu England im schottischen Diskurs seit der Union Von

David Allan Die Einstellung des schottischen Volkes zu Europa ist immer eng mit seinem Verhältnis zu England verknüpft gewesen. Das kann auch gar nicht verwundern, denn seit Jahrhunderten sind es ihre Beziehungen zu England gewesen, die das Verständnis der Schotten von ihrem eigenen Platz in der Welt geprägt haben - in der Tat hat, wie oft festgestellt worden ist, eben die Vorstellung, nicht englisch zu sein, mehr als alles andere definiert, was es bedeutet, ein Schotte zu sein1. Doch merkwürdigerweise haben diese Umstände zugleich sowohl der Vorstellung als auch der Realität Europas eine ungewöhnliche Bedeutung im schottischen Diskurs verliehen. Zunächst ist es klar, dass die Schotten im Mittelalter Verbindungen zum Kontinent unterhielten, die enger und harmonischer waren als diejenigen, derer sich die Engländer erfreuten. Folgerichtig lernten sie auch, Europa unvoreingenommen als einen Ort zu betrachten, der ihnen Unterstützung und Chancen eröffnete. Seit dem 16. Jahrhundert änderte sich die Lage jedoch rasch, und dies wiederum aus Gründen, die eng mit den schottischen Beziehungen zu England verknüpft waren. Zunächst religiöse Übereinstimmung, dann dynastische Verbindungen und schließlich diplomatische und materielle force majeure brachten das schottische Volk allmählich in eine erfolgreiche Partnerschaft mit seinem südlichen Nachbarn. Während des größten Teils der Neuzeit bildete dieses neue Verhältnis nicht nur die sichere Basis für den Zusammenhalt und die Stabilität Britanniens, die beständig die weitsichtigen Visionen ihrer ursprünglichen Architekten zu rechtfertigen schienen. Der unzweifelhafte Erfolg des englisch-schottischen Staates in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht für viele Generationen nach dem Unions vertrag von 1707 stellte, auch wenn immer noch von Zeit zu Zeit eine reflexartige Anglophobie an den Tag gelegt wurde, gleichzeitig sicher, dass Europa nur eine vergleichsweise geringe Rolle im schottischen 1 A n neueren Forschungen zur schottischen Identität und Historiographie vgl. Image and Identity: The Making and Remaking o f Scotland through the A g e s , hrsg. von David Broun [u. a.], Edinburgh 1998; Uniting the K i n g d o m The Making o f British History, hrsg. von Alexander Grant und Keith J. Stringer, London 1995; und T. C. SMOUT, Perspectives on the Scottish Identity, in: Scottish Affairs 6 ( 1 9 9 4 ) , S. 1 0 1 - 1 1 3 .

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Diskurs spielte, selbst wenn, wie wir sehen werden, insbesondere während der Aufklärungszeit, die der Union unmittelbar folgte, der Kontinent unter bestimmten Voraussetzungen immer noch eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dagegen, als der britische Staat von innen unter wachsenden Druck geriet und ein spezifisch schottisches Nationalbewusstsein im öffentlichen Diskurs eine bemerkenswerte Renaissance erlebte, tauchte Europa in neuen Gestalten in den Gedanken und den Äußerungen vieler Schotten wieder auf - für einige als Identifikationsobjekt, für andere als pragmatische Alternative zu England und der Union, bisweilen sogar als hehres Ideal, dem zu folgen sei. Diese bemerkenswert wechselhafte Geschichte der neuzeitlichen schottischen Diskussion über Europa, die in erster Linie von den sich verändernden Einstellungen gegenüber England beeinflusst wurde, ist das Thema dieses Beitrags.

I. Ungeachtet der beeindruckenden Vorteile, die die Zugehörigkeit zum britischen Staat zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert mit sich brachte, und der unvermeidlichen Dominanz seiner patriotischen Sprache und Loyalitäten im öffentlichen Diskurs, ist es wichtig, sich die diskursive Bedeutung der alten Verbindungen der Schotten mit dem europäischen Kontinent ins Gedächtnis zu rufen. Wie Historiker in den letzten Jahren zu Recht betont haben, hatten Handel, Migration, Kultur, Erziehung und politisches Interesse zusammen dahingehend gewirkt, das vormoderne Schottland sowie die kulturellen und mentalen Horizonte seiner Bewohner eng an die kontinentalen Hauptentwicklungen anzubinden2. Vieles davon war nicht die Folge schottischer Stärke, sondern von beklagenswerter nationaler Schwäche. Der Mangel an Perspektiven in einem armen Land nötigte viele geborene Schotten, ihren Lebensunterhalt in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland, Italien oder entlang der Ostseeküste zu suchen: Insbesondere die Universitäten des Kontinents waren für ein Land wichtig, dessen eigene erst seit dem 15. Jahrhundert gegründet wurden, während es in einem so weit entfernten Land wie Preußen bedeutende Kolonien schottischer Einwanderer gab3. Die Rivalität mit Eng2

Vgl. z. B. den Sammelband Scotland and Europe, 1200-1850, hrsg. von Thomas Christopher Smout, Edinburgh 1986, in dem bemerkenswert viele Beiträge die Epoche vor 1707 betreffen. Ein ähnliches Muster wird deutlich in dem neuen Oxford Companion to Scottish History, hrsg. von Michael Lynch, Oxford 2001, in dem verschiedene Einfuhrungen die engen Beziehungen Schottlands zu den einzelnen kontinentaleuropäischen Ländern reflektieren. Noch vielsagender ist die Tatsache, dass eine Einführung zu den Beziehungen zu England fehlt. 3 Donald Elmslie Robertson WATT, Scottish University Men of the Thirteenth and Fourteenth Centuries, in: Scotland and Europe (Anm. 2), S. 1-18; John DURKAN, The French

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land, die durch die Unabhängigkeitskriege des 14. Jahrhunderts, in denen die Schotten schließlich ihre nationale Einheit vor der englischen Aggression retteten, sich noch verschärfte, zog eine natürliche Neigung, nach Europa zu blicken, nach sich. Von der ersten Unterzeichnung eines Defensivbündnisses 1296 an wurde Frankreich notwendigerweise zum diplomatischen und militärischen Gegengewicht, auf dem die Hoffnungen der Schotten in ihren Kämpfen gegen die expansionistischen Monarchen im Süden ruhten, wobei sich die daraus resultierende „Aiild Alliance" als eine zentrale Komponente in den andauernden Feindseligkeiten gegen den „Auld Enemy" erwies4. Dieses Gleichgewicht veränderte sich jedoch dramatisch durch die Ereignisse des 16. Jahrhunderts, mit gravierenden Folgen für die Einstellung der Schotten zu England, Kontinentaleuropa und ihrem eigenen Platz in der Welt. Besonders krass wurde die Distanz, die Schotten und Engländer immer noch zu überwinden hatten, bevor sie einander freudig umarmten, während Heinrichs VIII. berüchtigtem „Rough Wooing" deutlich, seinem vergeblichen Versuch, die Heirat der Erben der beiden Königreiche (Marias, der zukünftige Königin der Schotten, und des späteren Eduard VI. von England) durch das brutale Mittel einer umfassenden militärischen Invasion herbeizuführen 5 . Nunmehr waren aber tiefere Kräfte für eine englisch-schottische Annäherung am Werk. Insbesondere Marias Unnachgiebigkeit gegenüber der erstarkenden Reformation und ihre schließliche Absetzung durch eine Intrige protestantischer Adliger im Jahr 1567 führten eine Situation herbei, in der England, das selbst seit den 1530er Jahren offiziell protestantisch war, den streitbaren religiösen Reformern Schottlands zunehmend als ein einleuchtender Freund Connection in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, in: Ebd., S. 19-44; J. Κ. CAMERON, Some Aberdeen Students on the Continent in the Late Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, in: The Universities of Aberdeen and Europe, hrsg. von Paul Dukes, Aberdeen 1995, S. 5 7 - 7 8 ; George MOLLAND, Scottish-Continental Intellectual Relations as Mirrored in the Career of Duncan Liddel (1561-1613), in: Ebd., S. 7 9 - 1 0 1 ; W. Caird TAYLOR, Scottish Students at Heidelberg, 1386-1662, in: Scottish Historical Review 5 (1908), S. 6 7 - 7 5 ; M. F. Moore, The Education of a Scottish N o b l e m a n ' s Sons in the Seventeenth Century: I. Study in Holland, in: Scottish Historical Review 31 (1952), S. 1 - 1 5 ; II. Study in France, in: Ebd., S. 101-115; Paul NÉVE, Disputations of Scots Students Attending Universities in the Northern Netherlands, in: Legal History in the Making: Proceedings of the 9th British Legal History Conference, Glasgow, 1989, hrsg. von W . M. Gordon und Thomas David Fergus, London 1991, S. 9 6 - 1 0 8 ; John DURKAN, Notes on Scots in Italy, in: Innes Review 22 (1971), S. 12-18; sowie Theodore FISCHER, The Scots in Germany, Edinburgh 1902, N D 1974. 4

Norman MACDOUGALL, An Antidote to the English: The Auld Alliance, East Linton 2001; Marie W. STUART, The Scot w h o was a Frenchman; being the Life of John Stewart, Duke of Albany, in Scotland, France and Italy, Edinburgh 1940; Thorkild Lyby CHRISTENSEN,The Earl of Rothes in Denmark, Aarhus 1983; E. BONNER, Continuing the „Auld Alliance" in the Sixteenth Century: Scots in France and French in Scotland, in: The Scottish Soldier Abroad, 1247-1967, hrsg. von Grant Gray Simpson, Edinburgh 1992, S. 3 1 - 4 6 . 5 Marcus H. MERRIMAN, T h e Rough Wooing, East Linton 2000.

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erschien6. Dieser entscheidende Einstellungswandel wurde durch die Tatsache, dass Marias französische Verbündete nicht allein das Land besetzten, sondern auch rücksichtslos gegen den sich entwickelnden Protestantismus vorgingen, noch gefördert: Wie die Engländer, hatten nun auch viele einflussreiche Schotten Grund, die Intervention der Kontinentalmächte auf der britischen Hauptinsel zu furchten. Folglich war es in erster Linie ihr gemeinsamer Protestantismus, der gegen Ende des 16. Jahrhunderts, als Marias protestantischer Sohn Jakob VI. unbestritten an ihre Stelle gesetzt und die ehemalige Königin von ihrer englischen Cousine Elisabeth inhaftiert worden war (schließlich wurde sie 1587 mit der stillschweigenden Zustimmung vieler Schotten hingerichtet), die beiden Länder angesichts einer bedrohlichen europäischen Umgebung, die durch die reformatorischen und gegenreformatorischen Systeme polarisiert war, in einer Weise miteinander verband, die sechzig Jahre vorher noch unmöglich erschienen wäre7. Damit waren die Grundvoraussetzungen für die traditionelle antienglische „Auld Alliance" mit einer kontinentalen Macht überholt. Als dann 1603 Elisabeth von England starb, folgte ihr Jakob, der Sohn ihrer Cousine, der in der Folge gleichzeitig als „VI. und I." bezeichnet wurde, auf den immer noch getrennten Thronen nach, der sich aber von Anfang an überwiegend mit seinem viel größeren und mächtigeren südlichen Königreich verband, von dessen Hauptstadt aus seine Nachfolger nun das ganze „Großbritannien" (wie Jakob es nannte) und Irland regierten. Auch wenn England und Schottland noch ihre eigenständigen politischen Institutionen behielten - das heißt zwei Regierungen, zwei Parlamente, zwei Rechtssysteme und auch zwei Kirchen - , wurden die Beziehungen im Verlauf des 17. Jahrhunderts unvermeidlich enger (wenn auch nicht immer glücklicher). Die nachfolgenden Stuartkönige versuchten wiederholt, gemeinsame Institutionen zu schaffen, die in der Regel vom gegenseitigen Misstrauen der rivalisierenden politischen Eliten verhindert wurden. Die Bürgerkriege, die ganz Britannien in den 1640er Jahren erschütterten, wurden nicht zuletzt durch die törichten königlichen Versuche verursacht, den verärgerten Schotten englische religiöse Modelle aufzuzwingen (denn ungeachtet ihres gemeinsamen Protestantismus war der fundamen6

Marcus H. MERRIMAN, James Henrisoun and „Great Britain": British Union and the Scottish Commonwealth, in: Scotland and England, 1286-1815, hrsg. von Roger A. Mason, Edinburgh 1987, S. 85-112; DERS., The Assured Scots: Scottish Collaborators with England during the Rough Wooing, in: Scottish Historical Review 47 (1968), S. 10-34; DERS., War and Propaganda during the „Rough Wooing", in: Scottish Tradition 9/10 (1979/1980), S. 2 0 - 3 0 ; Michael LYNCH, Scotland: A New History, London 1992, S. 2 0 2 207. 7 A. H. WILLIAMSON, Scotland, Antichrist and the Intervention of Great Britain, in: N e w Perspectives on the Politics and Culture of Early Modern Scotland, hrsg. von John Dwyer [u. a.], Edinburgh 1982, S. 3 4 - 5 8 ; Roger A. MASON, The Scottish Reformation and the Origins of Anglo-British Imperialism, in: Scots and Britons: Scottish Political Thought and the Union of 1603, hrsg. von dems., Cambridge 1994, S. 161-186.

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talistische Calvinismus, der in dem nördlichen Königreich Wurzel gefasst hatte, ein gewichtiges Hindernis für eine problemlose Anpassung an eine episkopale englische Staatskirche). In den 1650er Jahren waren die Sieger im englischen Bürgerkrieg vorübergehend sogar in der Lage, Schottland zu besetzen und seiner misstrauischen Bevölkerung ihre eigene Vorstellung von einer britischen Union aufzunötigen8. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde es immer deutlicher, dass Schottland, obwohl es bei der Restauration der Stuartmonarchie im Jahr 1660 seine formelle Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, unaufhaltsam in die Arme der Engländer gezogen wurde. In den letzten Jahren vor der Umsetzung von Königin Annas Treaty of Union von 1707, der schließlich das schottische Parlament aufhob und für Großbritannien eine einheitliche Regierung und ein gemeinsames Parlament in Westminster etablierte, fanden sich die Schotten zunehmend in der Rolle ohnmächtiger und häufig auch neidischer Beobachter der aufblühenden englischen politischen, militärischen und kommerziellen Macht: Sogar ein Gegner der Union, Lord Belhaven, fühlte sich bewogen einzugestehen, dass, während die Schotten auf den Status eines „unbedeutenden, armen Volkes" reduziert würden, die Lage ihres Nachbarn „groß und ruhmvoll" erscheine9. Für viele seiner schottischen Anhänger erschien der Vertrag daher einfach als der beste Weg, sich zumindest ein kleines Mitspracherecht in den Angelegenheiten einer entstehenden Supermacht mit dem Zentrum in London zu sichern, deren effektive Kontrolle der Zukunft ihres eigenen Landes von intelligenten Schotten als irreversibel erkannt wurde 10 .

II. In den ersten Jahrzehnten nach der Union waren die schottischen Einstellungen gegenüber England viel komplexer als jemals zuvor, da sich die Schotten allmählich, mit mehr oder weniger großen Schwierigkeiten, an ihre ganz neue 8

Frances D. D o w , Cromwellian Scotland, Edinburgh 1979. Daniel DEFOE, The History of the Union, Edinburgh 1709, S. 39. 10 Dieser Paragraph geht notwendigerweise über die Kontroverse um die Erklärung dessen, was das meistdiskutierte Einzelereignis der schottischen Geschichte bleibt, hinweg. Eine Liste weiterführender Literatur unter Berücksichtigung mehrerer unterschiedlicher Interpretationen sollte einschließen mein eigenes Scotland in the Eighteenth Century Union and Enlightenment, London 2001, Kapitel 1; Christopher WHATLEY, „Bought and Sold for English Gold"? Explaining the Union of 1707, Glasgow 1994; Paul Henderson SCOTT, Andrew Fletcher and the Treaty of Union, Edinburgh 1994; William FERGUSON, The Making of the Treaty of Union of 1707, in: Scottish Historical Review 43 (1964), S. 8 9 110; Patrick William Joseph RILEY, The Union of England and Scotland: A Study in Anglo-Scottish Politics of the Eighteenth Century, Manchester 1978; sowie A Union for Empire: the Union of 1707 in the History of Political Thought, hrsg. von John Robertson, Cambridge 1995. 9

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Rolle im britischen Staat zu gewöhnen hatten. Insbesondere waren sie durch ihre Integration in Londons politische Maschinerie nun auch an der Formulierung einer Außenpolitik beteiligt, die auf die Rivalität mit Englands traditionellen Feinden unter den fuhrenden Kontinentalmächten, insbesondere Frankreich und Spanien, gegründet war. Zur gleichen Zeit konnten es die schottischen Mittel- und Oberschichten verständlicherweise gar nicht erwarten, die Chancen auf Reichtum und Aufstieg zu nutzen, die sich durch den plötzlichen Zugang zum englischen - nunmehr britischen - Handelsreich in Asien und Nordamerika eröffneten. Verglichen mit den relativ begrenzten Wirtschaftskontakten, die die Schotten früher zu Frankreich, den Niederlanden und dem Ostseeraum unterhalten hatten, waren die neuen Möglichkeiten im atlantischen Rohstoffhandel und in Indien sowohl hinsichtlich des Umfangs wie des Gewinns viel größer. Dementsprechend wurde die Wahrscheinlichkeit, dass sich viele Schotten des 18. Jahrhunderts weiterhin mit dem europäischen Kontinent und mit allem, was er zu repräsentieren schien, identifizieren würden, deutlich reduziert. In der Tat kam als Reaktion auf diese gewandelten Realitäten und weil die 1707 geschaffene anglo-schottische politische Ordnung einen veränderten Bezugsrahmen bot, nun ein neues Denken darüber auf, was es bedeutete, Schotte zu sein 11 . Der einprägsamste Ausdruck dieses neuen Identitätsgefuhls, das mitreißende patriotische Lied „Rule Britannia", wurde 1740 nicht von einem Engländer, sondern von James Thomson, dem Sohn eines schottischen Landgeistlichen, komponiert. Nicht wenige Schotten begannen sich um diese Zeit selbst, offenkundig ohne Ironie, als „North Britons" zu beschreiben, womit sie letztlich, wie der schottische Historiker John Belfour 1770 sagte, „die unangenehme Unterscheidung zwischen Engländern und Schotten" fortwünschten 12 . Und wie jüngst vor allem Linda Colley dargelegt hat, war es der Krieg - in der Regel ein erfolgreicher Krieg, den der anglo-schottische Staat zu Land und zu Wasser gegen die katholischen Hauptmächte Europas führte - , der mehr als alles andere dazu beitrug, dieses bemerkenswert zuversichtliche und selbstbewusste Gefühl von Britishness zu befördern 13 .

11 T. C. SMOUT, Problems of Nationalism, Identity and Improvement in Later EighteenthCentury Scotland, in: Improvement and Enlightenment, hrsg. von Thomas Martin Devine, Edinburgh 1989, S. 1-21; Colin KlDD, North Britishness and the Nature of EighteenthCentury British Patriotism, in: Historical Journal 39 (1996), S. 361-382. 12 John BELFOUR, The History of Scotland, London 1770, S. 294. 13 Linda COLLEY, Britons: Forging the Nation, 1707-1837, London 1992; DIES., Britishness and Otherness: An Argument, in: Journal of British Studies 31 (1992), S. 309-329. An neueren Arbeiten, die diesen Aspekt unterstreichen, vgl. Kathleen WILSON, The Sense of the People: Politics, Culture and Imperialism in England, 1715-1785, Cambridge 1995; David HEMPTON, Religion and Political Culture in Britain and Ireland, Cambridge 1996; sowie Protestantism and National Identity: Britain and Ireland, c. 1650-1850, hrsg. von Tony Claydon und Ian McBride, Cambridge 1998.

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Es ist kein Zufall, dass unter jenen Schotten, die immer noch skeptisch gegenüber dem britischen Staat eingestellt waren, zugleich diejenigen zu finden waren, die zumindest in den ersten Jahrzehnten nach 1707 am offensichtlichsten etwas von der alten Offenheit ihrer Nation gegenüber Europa zu zeigen wünschten. Die Jakobiten, die Anhänger jener Linie der religiös verdächtigen Stuart-Fürsten, die die schottischen und englischen politischen Eliten 1688/89 durch ihre zuverlässigeren protestantischen Verwandten ersetzt hatten, waren bis zu ihrer endgültigen militärischen Niederlage im Jahr 1746 Schottlands Zentrum der ideologischen Abweichung - und damit auch des Antiunionismus 14 . Weil so gut wie alle Jakobiten keine Presbyterianer und einige sogar Katholiken waren, waren sie grundsätzlich immun gegen die oft scharf protestantische Rhetorik der neuen Britishness. Geradezu zwingend waren sie mental mehr auf die Exilhöfe der Stuarts in Paris oder Rom ausgerichtet als auf die Angelegenheiten des Hauses Hannover in London. Ihre Anfuhrer intrigierten ständig mit befreundeten europäischen Mächten gegen den britischen Staat in der Hoffnung, eine groß angelegte französische oder spanische Invasion zugunsten der abgesetzten Könige zu erreichen. Einzelne Persönlichkeiten, wie Alexander Robertson of Struan und Lord George Murray in Frankreich und Feldmarschall James Keith in Spanien, Preußen und Russland, verbrachten sogar einen Großteil ihres Lebens im Exil im Militärdienst wohlgesonnener Monarchen des europäischen Kontinents. Daher mag es wenig überraschen, dass jakobitische Schotten immer noch mit unverhohlener Begeisterung auf die „Auld Alliance" zurückblickten und mehr das Europa des frühen 18. Jahrhunderts denn England als die natürliche Umgebung betrachteten, in der das zu suchen sei, was sie als Schottlands Nationalinteressen verstanden. Die wichtigste politische Oppositionsbewegung im Schottland des späteren 18. Jahrhunderts war gleichfalls geneigt, in ihrem Kampf gegen den britischen Staat nach Europa zu schauen, wenn auch in einer anderen Weise. Dies war die Kraft, die in ganz Britannien als „Jacobinism" bekannt war - im Prinzip der radikalere, von Frankreich beeinflusste Strang der Verfassungsreformkampagne, die seit den späten 1780er Jahren in vielfältiger Weise beachtliche Teile der britischen Gesellschaft ergriff. Es ist wichtig zu betonen, dass das Schwergewicht dieser Bewegung im Grunde eindeutig in den entschieden und implizit unionistischen Traditionen des Reformismus lag: Einige ihrer prominentesten Vorkämpfer in Schottland waren eigentlich englische Wahlwerber; sie beriefen sich in der Regel auf eindeutig britische Symbole und Sprachen der politischen Freiheit (namentlich die Magna Carta und das, was sie „die 14

The Jacobite Challenge, hrsg. von Eveline Cruickshanks und Jeremy Black, Edinburgh 1988; Daniel SZECHI, The Jacobites, Britain, and Europe, 1688-1788, Manchester 1994; Frank MCLYNN, The Jacobites, London 1988; Bruce LENMAN, The Jacobite Cause, Glasgow 1 9 8 6 .

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Rechte frei geborener Briten" nannten); und wenn schottische Radikale von „nationaler" Befreiung sprachen, bezogen sie sich damit nach wie vor mehr auf die Freiheit Britanniens als auf die Schottlands allein15. In der Tat ging die Bereitschaft der radikaleren Elemente in den ersten Jahren nach 1789, offen mit Frankreich zu sympathisieren, ganz auf den Rausch der Begeisterung und den Optimismus zurück, die die Revolution und die „Menschenrechte" hervorgebracht hatten, und praktisch gar nicht auf den Gedanken an eine wiederbelebte „Auld Alliance" ausschließlich der Schotten16. Just zur selben Zeit wurde von radikaleren Kräften sowohl in England wie in Schottland eine Europa-zentrierte Sprache geprägt - von jenen Reformern, die am entschiedensten der traditionellen politischen Ordnung, die so beharrlich vom anglo-schottischen Staat aufrecht erhalten wurde, den Krieg erklärten 17 . Freiheitsbäume, das klassische Symbol der Sansculotten, wurden in einigen schottischen Städten gepflanzt; die mit ähnlichen Anklängen verbundene rote Mütze wurde manchmal von schottischen (und auch von englischen) Protestierenden getragen; und einzelne - am bekanntesten ist Thomas Muir of Huntershill, der 1793 Paris besuchte, um die Revolutionäre kennenzulernen - gingen in Britannien bemerkenswert weit, um ihre ideologische Identifikation mit der französischen Sache zu demonstrieren18. Doch die kluge Reaktion der Regierung in Verbindung mit der abstoßenden Verwandlung einer fortschrittlichen Sache zunächst in gottlose Tyrannei und dann in den expansionistischen napoleonischen Imperialismus sowie dem Ausbruch eines zwanzigjährigen Krieges zwischen dem anglo-schottischen Staat und Frankreich, der natürlich den schon vorher existierenden Trend zu insularbritischen Formen des Patriotismus verstärkte, stellte schließlich sicher, dass der Jakobinismus, der sogar auf seinem Höhepunkt weitgehend ein Minderheitenphänomen war, nur wenig erfolgreicher bei der Erreichung seiner praktischen Ziele als der Jakobitimus war19.

15 John BRIMS, The Scottish „Jacobins". Scottish Nationalism and the British Union, in: Scotland and England (Anm. 6), S. 247-265. 16 John BRIMS, From Reformers to „Jacobins": the Scottish Association of the Friends of the People, in: Conflict and Stability in Scottish Society, 1700-1850, hrsg. von Thomas Martin Devine, Edinburgh 1990, S. 31-51; Harry William MEIKLE, Scotland and the French Revolution, Glasgow 1912. 17 Harry Thomas DICKINSON, British Radicalism and the French Revolution, Oxford 1985. 18 Kenneth LOGUE, Popular Disturbances in Scotland, 1780-1815, Edinburgh 1979. 19 Emma VINCENT, The Responses of Scottish Churchmen to the French Revolution, in: Scottish Historical Review 73 (1994), S. 191-215; Thomas Martin DEVINE, The Failure of Radical Reform in Scotland in the Late Eighteenth Century, the Social and Economic Context, in: Conflict and Stability (Anm. 16), S. 50-64; J. E. COOKSON, The Napoleonic Wars, Military Scotland and Tory Highlandism in the Early Nineteenth Century, in: Scottish Historical Review 78 (1999), S. 60-75; Michael FRY, The Dundas Despotism, Edinburgh 1992.

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III. Wenn wir allerdings hinter diese marginalisierten Dissidentenbewegungen des 18. Jahrhunderts blicken, wird deutlich, dass es, auch wenn das ganze öffentliche Leben zunehmend britisch geprägt war, zumindest zwei andere Stränge des schottischen Diskurses in der Zeit nach dem Treaty of Union politisch weit weniger bedrohlich, und zugleich mit geringerer Basis - gab, in denen Einzelne in wichtigen Bereichen erkennbar mit dem europäischen Kontinent in Verbindung standen. Beide waren auf gewisse Weise mit den besonderen Anliegen der schottischen Aufklärung verknüpft, aus der Edinburgh und die anderen größeren Städte Schottlands um die 1760er Jahre als international anerkannte Zentren kultureller und intellektueller Kreativität hervorgingen20. Der eine dieser Sränge betraf insbesondere diejenigen schottischen Autoren, die versuchten, die Gemeinschaft in Begriffe zu fassen, zu der sie gehörten: Wenn sie nach Wegen suchten, ihrer eigene Rolle als Intellektuelle in der modernen Gesellschaft zu erklären, kamen sie am Ende häufig zu dem Schluss, dass sie eigentlich Mitglieder einer europaweiten Gemeinschaft von Philosophen, Wissenschaftlern, Gelehrten und Autoren waren, die üblicherweise als République des lettres bezeichnet wird 21 . Die zweite Diskussionsrichtung war nicht weniger abstrakt und betraf die Bemühungen der schottischen Denker und Theoretiker, eine systematische und philosophisch begründete Darstellung der menschlichen Geschichte zu entwickeln: Auch hier entstand im schottischen Diskurs eine beachtliche Bereitschaft, sich instinktiv mit weiteren europäischen Interessen und Perspektiven zu identifizieren22.

20 Als Einfuhrung zu diesem Phänomen vgl. Hugh TREVOR-ROPER, The Scottish Enlightenment, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 58 (1967), S. 1635-1658; A Hotbed of Genius: The Scottish Enlightenment, 1730-1790, hrsg. von Peter und Jean Jones, Edinburgh 1986; George DAVIE, The Scottish Enlightenment, London 1981; sowie Alexander BROADIE, The Scottish Enlightenment: An Anthology, Edinburgh 1997. 21 Die Selbstwahrnehmungen aufgeklärter schottischer Gelehrter sind noch nicht besonders gut erforscht. Vgl. aber David ALLAN, Virtue, Learning and the Scottish Enlightenment: Ideas of Scholarship in Early Modern History, Edinburgh 1993; sowie J. S. GIBSON, How did the Enlightenment seem to the Edinburgh Enlightened?, in: British Journal of Eight-

e e n t h - C e n t u r y S t u d i e s 1 ( 1 9 7 8 ) , S. 4 6 - 5 0 . 22

David KETTLER, History and Theory in the Scottish Enlightenment, in: Journal of Modern History 48 (1976), S. 95-100; Harro HÖPFL, „From Savage to Scotsman": Conjectural History in the Scottish Enlightenment, in: Journal of British Studies 17 (1978), S. 19—40; R. L. EMERSON, Conjectural History and the Scottish Philosophers, in: Canadian Historical Association Historical Papers 1984, S. 63-90; J. D. BREWER, Conjectural History, Sociology and Social Change in Eighteenth-Century Scotland: Adam Ferguson and the Division of Labour, in: The Making of Scotland: Nation, Culture and Social Change, hrsg. von David McCrone [u. a.], Edinburgh 1989, S. 13-30; Gladys BRYSON, Man and Society: The Scottish Inquiry of the Eighteenth Century, Princeton, N. J. 1945.

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Alle schottischen Bezugnahmen auf die République des lettres während des 18. Jahrhunderts machen deutlich, dass diese per definitionem eine kosmopolitische Idee war, die in keinerlei Beziehung, wenn auch selten in direktem Konflikt, mit den im engeren Sinne patriotischen - und in diesem Sinn beschränkten - Anliegen der schottischen Intellektuellen stand. Der Grundbesitzer, Rechtsanwalt und Historiker Sir John Dalrymple griff in An Essay Towards a General History of Feudal Property (1758) etwas von dem strukturellen Internationalismus dieses Konzepts auf, wenn er betonte, dass er sich mit einer Untersuchung beschäftige, deren Gegenstand genau genommen „in the republick of letters" liege, „independent of the present and particular use of that enquiry, in any particular kingdom" 23 . Selbst diejenigen Edinburgher Autoren und Akademiker, die in den 1760er Jahren eifrig bemüht waren, ihre eigenen barbarischen mundartlichen „Scotticisms" durch die honigsüße Sprache und den Schreibstil Südenglands zu ersetzen und die Bindekraft der britischen Kultur immer mehr zu steigern, fühlten sich zugleich in jener mythischen Gemeinschaft hochgeistiger kultureller Kreativität, die weder von nationalen Grenzen noch von Sprachbarrieren eingeschränkt war, durchaus zuhause. Viele von ihnen - wie David Hume und Adam Smith auf ihren Besuchen in Paris oder Adam Ferguson auf seinen ausgedehnten Reisen durch Europa selbst in sehr fortgeschrittenem Alter - waren alles in allem ebenso vertraut mit dem Kontinent wie mit London und sicherlich viel mehr als mit der englischen Provinz. Von daher mag es weniger überraschen, dass Dugald Stewart, Professor und Universalgelehrter im Edinburgh des frühen 19. Jahrhunderts, zu jenem großen Denkmal der umfassenden Vision der schottischen Aufklärung, der Encyclopaedia Britannica (1824), einen bemerkenswerten Artikel über europäische Bildung im Ganzen beigetragen hat, in dem die République des lettres, kaum erstaunlich, einen großen Raum einnahm24. Auch der ganz und gar unterschiedliche John Pinkerton, ein rassistischer Feind von Schottlands ursprünglicher, gälischsprachiger Bevölkerungsgruppe und unverwechselbarer Erforscher der Vergangenheit seines Landes, versuchte 1789 eine überfällige Überarbeitung der chaotischen nationalen Historiographie der Schotten anzuregen, indem er sie eindringlich mahnte, ihre zweifelhaften Inhalte „to the most rigorous discussion of the whole republic of letters" zu unterwerfen, das heißt dem Kanon rationaler Interpretation und des Vertrauens in Beweismaterial, der angeblich im übrigen Europa vorherrsche25. Perspektiven wie 23

Sir John DALRYMPLE, An Essay Towards a General History of Feudal Property, London 1758, S. Χ. 24 Dugald STEWART, Dissertation Exhibiting a General View of the Progress of Metaphysical, Ethical, and Political Philosophy, Since the Revival of Letters in Europe, in: Supplement to the 4th, 5th and the 6th Editions of the Encyclopaedia Britannica, 6 Bde., Edinburgh 1815-1824, hier: Bd. 5, S. 1. 25 John PINKERTON, Inquiry into the History of Scotland, 2 Bde., London 1789, hier:

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die von Stewart und Pinkerton angebotenen suchten der schottischen Geschichte nicht für sich allein eine Sinnhaftigkeit zu geben, sondern indem sie sie in den Kontext der überall stattfindenden Entwicklung der westlichen Bildung stellten, zu der sie, wie sie fest glaubten, gehörte: Zumindest kulturell sollte Schottland wie England ein Teil einer grundlegenden europäischen Geschichtserzählung sein. Offenkundig war dieses Verständnis der geistigen Aktivität als Teil eines wirklich internationalen Unternehmens in der Lage, die Autoren und Gelehrten der schottischen Aufklärung dazu zu zwingen anzuerkennen, dass, wenn sie auch die treuen Untertanen der hannoverschen Krone und des angloschottischen Staats waren, sie zugleich auch Mitglieder einer professionellen Bruderschaft waren, die sich nicht nur über die ganzen britischen Inseln, sondern auch über Kontinentaleuropa und sogar bis Nordamerika erstreckte. Ein grundsätzlicheres geistiges Sicheinlassen mit Europa war auch im 18. Jahrhundert möglich, insbesondere wenn schottische Intellektuelle sich bemühten, wie Pinkerton und Stewart es gefordert hatten, die Geschichte ihres eigenen Landes in einen weiteren und größeren Bezugsrahmen zu stellen. Eine Bereitschaft, das neuzeitliche Schottland in Analogie zum Athen des Perikles als ein Zentrum der politischen, ökonomischen, landwirtschaftlichen und imperialen Errungenschaften zu identifizieren, kennzeichnete die Epoche von den 1760er bis zu den 1830er Jahren, die aus der besonderen Affinität der schottischen Aufklärung zur innovativen historischen Forschung schöpfte 26 . Das eifrige Bestreben vieler wohlhabender Schotten, diese angebliche besondere Beziehung zwischen dem antiken Südosteuropa und ihrer eigenen Gesellschaft zu feiern, nahm die bizarrsten Formen an, einschließlich der immer noch umstrittenen Erwerbung des Parthenon-Frieses für das British Museum durch den siebten Earl of Elgin (in einem bemerkenswert wörtlichen Sinn die Aneignung der physischen Hinterlassenschaften einer großen westlichen Kultur, um eine andere zu zieren) und eines bis dahin ungekannten Booms von Anklängen an die griechische Architektur, die auf die Stadtbilder und Landsitze in ganz Schottland aufgepfropft wurden27. Zur gleichen Zeit, wenn auch nicht in demselben Maß bedingt durch eine angenommene Beziehung der Geschichte ihrer eigenen Nation zu der anderer Länder, suchten schottische Gelehrte Licht auf die Geschichte einer Reihe von anderen europäischen Staaten zu werfen und luden ihre Leser nachdrücklich ein, ihre eigene Kenntnis der außerbritischen Geschichte zu vertiefen: Der nichtschottische Bd. 2, S. 12. 26 David ALLAN, The Age of Pericles in the Modern Athens: Greek History, Scottish Politics and the Fading of Enlightenment, in: Historical Journal 44 (2001), S. 391-417. 27 William ST CLAIR, Lord Elgin and the Marbles, Oxford 1967; N. HERINGMAN, „Stones So Wonderous Cheap": The Aesthetic Value of the Elgin Marbles in the Romantic Period, in: Studies in Romanticism 37 (1998), S. 43-62; Alexander John YOUNGSON, The Making of Classical Edinburgh: 1750-1840, Edinburgh 1966.

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Geistliche Walter Anderson zum Beispiel ging allmählich von der griechischen zur französischen Geschichte über, während der Rhetorikprofessor und spätere Rektor von St. Andrews Robert Watson die für die nächsten fünfzig Jahre maßgebliche englischsprachige Geschichte der Regierung König Philipps II. von Spanien verfasste, ein Werk, das so wichtig war, dass es ins Holländische, Deutsche und sogar ins Spanische übersetzt wurde 28 . Noch ein tieferes geistiges Sicheinlassen auf den Kontinent wurde durch diese äußerst nachhaltige Faszination der schottischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts für die allgemeine Geschichte Europas veranlasst. Wie bereits angedeutet, ergab sich dies direkt aus der Entschlossenheit der Schotten, eine umfassende allgemeine Theorie des historischen Fortschritts zu entwickeln ein Projekt, das teilweise durch das Beispiel französischer Denker wie Montesquieu angeregt wurde wie auch - daran besteht kein Zweifel - durch die zum Nachdenken anregende Erfahrung von Schottlands eigener rascher Entwicklung innerhalb der Union in der Gegenwart29. Die Hauptstoßrichtung dieses Ansatzes war, die je typischen Kennzeichen zu identifizieren, die die einzelnen Stufen der menschlichen Evolution charakterisierten30. Doch es war immer eine wahrscheinliche Folge solcher Untersuchungen, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen westlichen Gesellschaften in verschiedenen Zeiten als relativ belanglos dargestellt wurden. In der Tat wurden in dem klassischen Wertesystem der Aufklärung, das die Schotten in den 1770er Jahren mit zeitgenössischen Denkern in den meisten europäischen Ländern teilten, die modernen Staaten, die sie bewohnten, insgesamt als Repräsentanten des höchsten Entwicklungsstands, der jemals erreicht wurde, gesehen. Seine prägenden Kennzeichen - die Entstehung souveräner Staaten, die Existenz einer beständigen Regierung und der große Reichtum, die Vielfalt und die Verfeinerung, die der menschlichen Gesellschaft durch den Fortschritt des Handels gebracht worden waren - standen daher natürlich im Brennpunkt des historischen Interesses. Und obgleich auch ein Interesse am antiken und mittelalterlichen Europa insofern nützlich war, als dies weiteres Licht darauf 28

Walter ANDERSON, The History of France, 2 Bde., London 1769; Robert WATSON, The History of the Reign of Philip the Second, King of Spain, 2 Bde., London 1777; David ALLAN, Anti-Hispanicism and the Construction of Late Eighteenth-Century British Patriotism: Robert Watson's History of Philip the Second, in: Bulletin of Hispanic Studies 72 ( 2 0 0 0 ) , S. 4 2 3 - 4 4 9 . 29

Zu den europäischen Anstößen fur die schottische Aufklärungsphilosophie vgl. zum Beispiel Robert Lindley MEEK, Smith, Turgot and the „Four Stages" Theory, in: DERS., Smith, Marx and After: Ten Essays in the Development of Economic Thought, London 1977, S. 18-32; und P. STEIN, From Pufendorfto Adam Smith: The Natural Law Tradition in Scotland, in: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Norbert Horn, Bd. 1, München 1982, S. 667-679. 30 Als Einfuhrung in die Masse moderner Literatur zu diesem Thema vgl. R. L. MEEK, Social Science and the Ignoble Savage, Cambridge 1976; und Christopher BERRY, Social Theory of the Scottish Enlightenment, Edinburgh 1977.

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warf, wie, mit den Worten eines späteren geistreichen Kopfs, „der Mensch von einem Wilden zum Schotten wurde", stellte das Studium der europäischen Welt, wie sie war, seit diese grundlegenden Aspekte der Moderne ihren Anfang genommen hatten, unvermeidlich das Hauptinteressengebiet der schottischen Aufklärung dar 31 . Wenn wir die volle Wirksamkeit dieser europaweiten historischen Vision unter der schottischen Intelligenz des 18. Jahrhunderts erkennen wollen, könnten wir Schlechteres tun, als die History of the Reign of the Emperor Charles V zu konsultieren, jenen meisterlich geschriebenen Bestseller, den William Robertson, der Rektor der Universität Edinburgh und faktische Leiter der schottischen Kirche, 1769 veröffentlichte32. Bemerkenswerterweise begann Robertsons Studie mit einem grundlegenden Aufsatz mit dem Titel „A View of Society in Europe", der die Entwicklung der europäischen Völker vom Fall Roms bis zum Auftreten Luthers betrachtete und insbesondere ihren Übergang von dem, was er als ein wild wucherndes Stammesbarbarentum charakterisierte, zu einem geordneteren Feudalismus untersuchte. Der größte Teil des Werks konzentrierte sich jedoch auf die Regierung Karls, nicht aus engstirnigen biographischen Beweggründen heraus, sondern weil diese Jahrzehnte Robertson, wie er im Vorwort darlegte, als „die Epoche" erschienen, „in der das politische System Europas eine neue Form anzunehmen begann" 33 . Kurz gesagt, Robertson glaubte, dass die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts die äußerst schwierige Geburt einer allgemeinen europäischen politischen und sozialen Ordnung erlebt hatte, die noch ihm und seinen Zeitgenossen in Schottland und andernorts in Europa mehr als zweihundert Jahre später vertraut war. Allerdings bedeutete das entscheidende Zusammenwachsen der Nationalstaaten Frankreich, England und Spanien, der deutschen und italienischen Teilstaaten und der kleineren Königreiche für Robertson nicht allein den Ursprung der spezifischen politischen Geographie Europas, die in seiner eigenen Zeit immer noch bestand. Vielmehr gewährte dieser Prozess Einsichten in das Wesen der Moderne selbst. Wie John Pocock kürzlich diese für Robertsons Werk zentrale Voraussetzung zusammengefasst hat, „muss es ein Staatensystem mit einer eigenen raison d'état geben; und nur wenn es eines gibt, kann Europa eine einzige Zivilisation bilden, die vom Austausch der Waren und der Sitten zusammengehalten wird" 34 . Der gewinnorientierte Han31

Walter BAGEHOT, Collected Works, hrsg. von Norman St John-Stevas, 6 Bde., London 1965. 32 Zu Robertsons Charles V vgl. einige der Beiträge in William Robertson and the Expansion of Empire, hrsg. von Stewart J. Brown, Cambridge 1997; und Karen O'BRIEN, Narratives of Enlightenment: Cosmopolitan History from Voltaire to Gibbon, Cambridge 1997, insbes. S. 93-128. 33 William ROBERTSON, History of the Reign of the Emperor Charles V, 3 Bde., London 1769, Bd. 1,S. χ. 34 John Greville Agard POCOCK, Barbarism and Religion, Bd. 2: Narratives of Civil Gov-

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del, der zuerst in Italien Wurzeln schlug, sich jedoch unaufhaltsam nach Norden und Westen ausbreitete, erschien Robertson als die materielle Grundlage für die britische, französische und niederländische Vorherrschaft in der Neuzeit, als die Grundvoraussetzung, um einen hohen kulturellen, ökonomischen und politischen Entwicklungsstand zu erreichen: In den emphatischen Worten Humes, eines von Robertsons geistesverwandten schottischen Zeitgenossen und herausragenden Historikers der neuzeitlichen Gesellschaft, „begünstigt nichts den Aufstieg von Kultiviertheit und Bildung mehr als eine Anzahl benachbarter, unabhängiger Staaten, die einander durch Handel und Politik verbunden sind" 35 . Ein solches umfassendes Geschichtsbild, das in einen gesamteuropäischen analytischen Bezugsrahmen gestellt ist, ist auch in den Werken von Smith und Ferguson zu finden, die zu ihrer Zeit weit weniger populäre Autoren als Robertson waren, jedoch eindeutig von einer weiter reichenden geistigen Bedeutung sind. Denn im Rahmen einer Bearbeitung ihrer philosophischen Darstellungen der menschlichen Entwicklung trugen sie beide dazu bei, zwei akademische Disziplinen, die Wirtschaftswissenschaften und die Soziologie, auf einer weitgehend neuen Grundlage zu etablieren36. Smiths einflussreiche Schriften lieferten insbesondere eindeutige Maßstäbe für die Bewertung von historischem Fortschritt, indem sie deutlich die Unterschiede zwischen den aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen (Jäger und Sammler, Weidewirtschaft, Ackerbau und Handel) herausarbeiteten und nachdrücklich den ökonomischen Aspekt betonten, was in der Folge dazu beitrug, dass seine Ideen von ganz unterschiedlicher Seite aufgegriffen und in die angeblich ehernen Gesetze des historischen Materialismus transformiert wurden37. Auch hier spielte Europa eine gewaltige Rolle: Wie erneut Pocock dargelegt hat, war Smiths Theorie „built upon premises that made it peculiarly applicable to the history of Europe as that was supposed to have taken place" 38 . In mancher Hinsicht noch europäischer war Fergusons Essay on the History of Civil Society (1767), eine Arbeit, deren Betonung der Schaffenskraft des menschlichen Geistes nicht nur in großem Maße auf einer beeinernment, Cambridge 1999, S. 285. 35 David HUME, Of the Rise and Progress of the Arts and Sciences, in: DERS., Essays Moral, Political and Literary, hrsg. von Eugene F. Miller, Indianapolis 1985, S. 119. 36 William Christian LEHMANN, Adam Ferguson and the Beginnings of Modem Sociology, New York 1930; Albion Woodbury SMALL, Adam Smith and Modern Sociology, Chicago 1907. 37 Andrew Stewart SKINNER, Natural History in the Age of Adam Smith, in: Political Studies 12 (1967), S. 32-48; Peter BOWLES, The Origins of Property and the Development of Scottish Historical Science, in: Journal of the History of Ideas 46 (1985), S. 197-209; Duncan FORBES, Scientific Whiggism: Adam Smith and John Millar, in: Cambridge Journal 7 (1954), S. 643-670; R. L. MEEK, The Scottish Contribution to Marxist Sociology, in: Democracy and the Labour Movement, hrsg. von John Saville, London 1954, S. 84-102. 38 POCOCK, Barbarism (Anm. 34), S. 317.

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druckenden Fülle historischer Beispiele beruhte, die aus der Geschichte der europäischen Völker herausgepickt worden waren, sondern auch die nächste Generation von Theoretikern der gesellschaftlichen Ordnung und der Politik auf dem Kontinent noch unmittelbarer ansprachen - insbesondere im Deutschland der späten Aufklärungszeit, unter dessen Autoren und Denkern die schottischen Ideen sich als besonders einflussreich erweisen sollten39. In der Tat bot die gemeinsame Geschichte Europas, vorangetrieben durch die Invasionen der Barbaren, die Einrichtung der Feudalgesellschaft und schließlich die Durchsetzung der neuen, modernen Ordnung, die wesentliche Basis für eine allgemeine schottische Theorie des Fortschritts der Menschheit, die ihrerseits eine der Grundlagen des kontinentalen Denkens im 19. Jahrhundert darstellte40.

IV. Trotz der beeindruckenden Kreativität und der weit reichenden geistigen Bedeutung dieser in starkem Maße Europa-zentrierten schottischen Erörterungen muss immer aufs Neue wiederholt werden, dass sie viel mehr die Ausnahme als die Regel waren. Sie spiegeln lediglich einige der Denkgewohnheiten einer kleinen, abgeschlossenen geistigen Führungsschicht wider - Männer, die auf der Suche nach kulturellen Vorbildern und politischer Identität wie der Rest ihrer gebildeten Zeitgenossen in Schottland wahrscheinlich immer mehr auch nach London blickten. Die historische Philosophie von Robertson, Smith und Ferguson dürfte daher letztlich nicht die volle Wahrheit über die natürliche Orientierung der weiteren Oberschicht im Schottland der NachUnions-Zeit wiedergeben; selbstverständlich kann noch viel weniger angenommen werde, dass sie den Diskurs der schottischen Bevölkerung im Großen und Ganzen widerspiegelt, unter der diejenigen, die auf der Suche nach politischer Orientierung instiktiv nach Europa blickten, ob sie nun reaktionäre Jakobiten oder radikale Jakobiner waren, wahrscheinlich nur eine kleine Minderheit bildeten41. Stattdessen spricht die ganz überwiegende Masse der Quellenzeugnisse für eine im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmende Identifikation mit dem britischen Staat und für eine wachsende Tendenz der Schotten, mit ihren englischen Partnern ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber den ideologischen Strukturen, der Religion und der Gesellschaftsord39

Fania OZ-SALZBERGER, Translating the Enlightenment: Scottish Civic Discourse in Eighteenth-Century Germany, Oxford 1995. 40 David KETTLER, History and Theory in Adam Ferguson's Essay on the History of Civil Society: A Reconsideration, in: Political Theory 5 (1977), S. 4 3 7 - 4 6 0 . 41 Das Argument, dass die schottische Aufklärung nicht für die schottische Gesellschaft als ganze stehen kann, wird selten vorgebracht. Vgl. aber J. LOUGH, Reflections on Enlightenment and Lumières, in: British Journal of Eighteenth-Century Studies 8 (1995), S. 1-15.

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nung zu teilen, von denen weithin geglaubt wurde, dass sie den europäischen Kontinent prägten. Tatsächlich verstärkte sich diese Tendenz während des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch. Außerordentliche ökonomische Errungenschaften, eine bemerkenswerte politische Stabilität, ein außergewöhnlicher Erfolg beim Aufbau des Empire und schließlich die siegreiche, wenn auch desaströse Teilnahme an zwei Weltkriegen brachten die große Mehrheit der Schotten wie die meisten Menschen in England dazu, sich selbst, wenn sie vor die Wahl gestellt wurden, eher als Briten denn als Europäer zu definieren - das heißt sich selbst als die vom Schicksal begünstigten Angehörigen einer besonderen Inselnation und nicht als integralen Bestandteil der kontinentalen Hauptrichtung zu betrachten42. Die letzten fünfzig Jahre haben sich allerdings als ein wenig ungesund - es ist noch zu früh zu sagen, ob sogar tödlich - für den bis dato unangreifbaren britischen Staat erwiesen43. Das außerordentlich rasche Ende des britischen Empire zwischen 1947 und der Mitte der 1960er Jahre war ein Faktor: Für die Schotten, die in überproportionaler Weise zu seiner Ausdehnung und Verteidigung, zu seiner Ausbeutung und vor allem durch Auswanderung nach Nordamerika, Australien und Asien zu seiner Besiedlung beigetragen hatten, war dies sogar eine noch traumatischere Erfahrung als für die Engländer 44 . In ähnlicher Weise traf auch der relative wirtschaftliche Niedergang des Vereinigten Königreichs - der in der Retrospektive schon für die 1880er Jahre auszumachen ist, jedoch von den meisten Zeitgenossen nicht eingestanden wurde, bevor er sich in den 1960er und 1970er Jahren in alarmierender Weise beschleunigte - die Schotten besonders hart: Für die Schotten, die stärker als die Engländer vom andauernden Erfolg des althergebrachten Exports von Fertigwaren abhängig, mehr auf die verwundbaren einseitigen industriellen Monokulturen ausgerichtet und mit größeren unterschwelligen sozialen Problemen belastet waren, die lange von der lautstarken patriotischen Verherrlichung des wirtschaftlichen Erfolges verdeckt wurden, waren die psychologischen und strukturellen Erschütterungen, die der sinkende Marktanteil, die Inflation, die Rezession und die Deindustrialisierung mit sich brachten, umso 42

Zur schottischen Identität und nationalen Selbstwahrnehmung nach der Aufklärung vgl. R. J. MORRIS/G. MORTON, Where Was Nineteenth-Century Scotland?, in: Scottish Historical Review 74 (1994), S. 8 9 - 9 9 ; G. MORTON, Unionist-Nationalism: Governing Urban Scotland, 1830-1860, East Linton 1999; David McCRONE, Understanding Scotland: The Sociology of a Stateless Nation, London 1992; Craig BEVERIDGE/Ronnie TURNBULL, Scotland After Enlightenment, Edinburgh 1997. 43 Eine Einführung in die schottische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit starker Betonung der sich verändernden Erfahrungen und Selbstwahmehmungen innerhalb des britischen Staates bieten Christopher HARVIE, N o Gods and Precious Few Heroes: Scotland 1914-1980, London 1981; The Making of Scotland: Nation, Culture and Social Change, hrsg. von David McCrone [u. a.], Edinburgh 1989; und Tom NAIRN, The Break-Up of Britain, London 1977. 44

Michael FRY, The Scottish Empire, East Linton 2001.

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schwerer zu ertragen45. Zur gleichen Zeit begannen die vorwärts drängenden Schritte, die auf dem Kontinent in Richtung auf die Schaffung zunächst einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dann einer Europäischen Union unternommen wurden, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts denjenigen Schotten - ebenso wie den Menschen in den übrigen Teilen Britanniens - , denen der politische Nutzen und die wirtschaftliche Leistung des Vereinigten Königreiches als Nationalstaat nicht länger als so überzeugend erschienen, einen möglichen alternativen Bezugspunkt für ihre Loyalität und ihren Enthusiasmus darzubieten. Diese Entwicklungen kehrten in der Tat einige der mächtigsten Kräfte, die die Schotten für immer an einen expandierenden und erfolgreichen britischen Staat gefesselt zu haben schienen, um. Wie man hätte vorhersehen können (obwohl es, als es so weit kam, ein heftiger Schock für viele war), eröffneten sie auch diskursiven Raum für die Entstehung einer populären Kritik an den Auswirkungen der Union auf Schottland und insbesondere unter den politischen Eliten Britanniens eine noch nie dagewesene Diskussion über die Möglichkeiten, die die Schaffung neuer europäischer supranationaler Institutionen biete. Was die schottischen Wahlergebnisse betrifft, waren diese Debatten seit dem Ende der 1960er Jahre mit der wachsenden Monopolisierung des Landes durch die auf staatliche Intervention setzende und wohlfahrtsorientierte (obwohl in den 1980er Jahren gleichzeitig leidenschaftlich gegen die EWG eingestellte) Labour Party verbunden. In der Tat wurde insbesondere während der langen Vorherrschaft des marktorientierten Konservatismus in Westminster zwischen 1979 und 1997 das Votum für Labour für viele Schotten nicht nur zu einer Frage der Ehre, sondern im Rahmen einer neuen Variation der nationalen Mythologie, die in diesen Jahren liebevoll ausgeschmückt wurde, auch eine nachdrückliche Geste des Protests gegen eine Regierung des Vereinigten Königreichs, die ihnen von gleichgültigen englischen Wählern böswillig aufgedrängt worden sei. Noch wichtiger war vielleicht die Entstehung eines schottischen Diskurses über nationale Autonomie und Selbstbestimmung, die zumindest in ihren zu respektierenden Ausprägungen gleichzeitig in einen zunehmend internationalistischen Bezugsrahmen gestellt war. Dieser fand seine schärfste Ausprägung in der bisweilen eigenwilligen Rhetorik der Scottish National Party (SNP), einer in den 1990er Jahren als stärkste schottische Opposition gegen Labour fest etablierten Organisation, die sich der Auflösung der Union und der Wiederherstellung von Schottlands früherer Stellung unter den souveränen Nationalstaaten Europas verschrieben hatte 46 . 45

Clive LEE, Scotland and the United Kingdom in the Twentieth Century, Manchester 1995; The Economic History of Modern Scotland, 1950-1980, hrsg. von Richard Saville, Edinburgh 1985. 46 Jack BRAND, The National Movement in Scotland, London 1978; Christopher HARVIE, Scotland and Nationalism: Scottish Society and Politics, 1707-1994, London 1994.

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In seinen ruhigeren und zunächst wirksameren Spielarten half dieses neue politische Vokabular jedoch, die Bekehrung der eigentlich instinktiv unionistischen und britisch-gesinnten Labour-Paitei selbst zu der doppelten Idee zu bewirken, einen beachtlichen Teil der legislativen Gewalt von London auf gewählte Körperschaften in Schottland, Wales und Nordirland zu übertragen und gleichzeitig eine pro-europäischere Politik seitens des Vereinigten Königreichs zu verfolgen, wenn sie je wieder zur Macht käme (dies alles nicht zuletzt, weil sie für einen Erfolg in den Wahlen zum Parlament in Westminster in starkem Maß auf die Unterstützung nicht-englischer Wähler angewiesen war) 47 . Dieser Sinneswandel kulminierte nach 1997 nicht nur in Tony Blairs Streben, die New Labour-Regienmg als Freund einer weiter gehenden europäischen Integration darzustellen, sondern auch in der Wiedereinrichtung eines schottischen Parlaments in Edinburgh48. In einer weiteren diskursiven Entwicklung, die Bände sprach über den Wandel der öffentlichen Diskussion in Schottland am Ende des 20. Jahrhunderts, wurde diese Revision der britischen Verfassung, die faktisch einen Teil der wichtigsten Bestimmungen des Unions Vertrags von 1707 außer Kraft setzte, mit einem ungewöhnlichen Ausbruch von Selbst-Beglückwünschung aufgenommen, der sich auf den weit verbreiteten Glauben stützte, dass sie nicht bloß ein nützliches Vehikel für eine Übertragung von Entscheidungskompetenzen, sondern nichts weniger als die Geburt (bzw. in einigen Abwandlungen dieser Aussage die Wiedergeburt) eines spezifisch schottischen Politikstils darstelle. In weniger als drei Jahren hatten jedoch der peinliche Rücktritt des ersten laôour-Ministers wegen Veruntreuung öffentlicher Mittel, eine Folge von Skandalen über Miss- und Vetternwirtschaft, die unendliche Geschichte eines sündhaft teuren, aber unvollendeten Parlamentsgebäudes und die wachsende Erkenntnis, dass Schottlands neue politische Klasse, die in übergroßer Anzahl Personen umfasste, die kaum Chancen auf einen Sitz in Westminster hatten und faktisch mehr an ihrer eigenen Karriere und symbolischen Gesten als an der Herbeiführung eines grundlegenden Wandels interessiert waren, viel dazu beigetragen, die Glaubwürdigkeit der offiziellen Schilderung zu unterminieren, dass die „neue" schottische Politik zugleich moralischer und für die Schotten im Allgemeinen von unmittelbarerem Nutzen sei als jene alten britischen Formen, die man lange genug aus Westminster gekannt habe. Wenn die gemäßigtere Richtung der nationalistischen Debatte, die letztlich auf Dezentralisierung abzielte, daher Folgen hatte, die von ihren Protagonisten nicht vorhergesehen worden waren - und nicht alle dem schottischen Selbstbewusstsein schmeichelten - , spiegelte sich die parallele Entwicklung eines aggressiver autarkistischen nationalen Diskurses am Ende des 20. Jahr47 48

James MITCHELL, Strategies for Self-Government, Edinburgh 1996. KenyoR WRIGHT, The People Say Yes!, Colintraive 1999.

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hunderts auch in einer sich verändernden Wahrnehmung der Einstellung der schottischen Öffentlichkeit gegenüber Kontinentaleuropa wider 49 . Es würde die Sache viel zu sehr vereinfachen, wenn man lediglich sagte, dass die Schotten der Aussicht auf eine vertiefte europäische Integration grundsätzlich begeisterter gegenüberstünden als die notorisch skeptischen Engländer. Wenn sich, wie bereits bemerkt, die Wahlergebnisse in den 1980er Jahren zunehmend von denen in England unterschieden, kam dies vor allem in einem entschiedenen Meinungsumschwung zugunsten Labours zum Ausdruck - einer Partei, die während eines Großteils dieser Periode im Grunde ausdrücklich auf die Trennung Britanniens von der EWG festgelegt war. Wenngleich Meinungsumfragen über die zentralen europäischen Themen beständig einige grundlegende Unterschiede zwischen schottischen und englischen Befragten enthüllten, waren diese freilich in der Regel nicht gerade riesig. Tatsächlich waren die Unterschiede zwischen England und Schottland niemals viel größer als etwa 5 Prozent: In einer besonders umfassenden Umfrage von 1997 wünschten zum Beispiel 40 Prozent der Schotten „die Kompetenzen der EU zu beschränken", gegenüber 43 Prozent der Engländer; 14 Prozent der Schotten wünschten die Kompetenzen der EU zu erweitern, gegenüber 10 Prozent der Engländer; und genau 6,9 % der Bevölkerung in beiden Ländern sprachen sich für die schließliche Schaffung „einer einheitlichen europäischen Regierung" aus 50 . Diese deutlichen Ähnlichkeiten lassen den Anspruch, in manchen Kreisen in den späten 1990er Jahren eine Binsenwahrheit, dass Schottland deutlich „proeuropäischer" sei als England, in einem differenzierteren und komplizierteren Licht erscheinen. In der Tat war der Eifer, mit denen Personen des öffentlichen Lebens begonnen hatten, auf einen klaren Gegensatz in den schottischen und englischen Einstellungen gegenüber der EU anzuspielen, nicht nur sehr vielsagend hinsichtlich der Kluft zwischen den meisten Kommentatoren und der weiteren Öffentlichkeit in europäischen Fragen, sondern auch dahingehend, wie wichtig in Schottland der feste Glaube an besondere schottische Blickwinkel auf dieses und andere Themen geworden war. - In einer bemerkenswerten Parallele wurde oft der Anspruch erhoben, dass Schotten toleranter gegenüber anderen Rassen und aufgeschlossener gegenüber Einwanderern seien als Engländer: Erneut bestätigte die harte Realität der Angriffe auf Asylsuchende und der öffentlichen Meinungsumfragen zur viel diskutierten Einwanderungsfrage, dass die beiden Völker im Grunde genommen wesentlich mehr gemeinsam hatten, als anzuerkennen politisch opportun geworden war51. 49

Tom GALLAGHER, Nationalism in the Nineties, Edinburgh 1991. http://www.scottishpolicvnet.org.uk/scf/publications/othl6 diplom/chapteró.shtml [Zugriff am 1. Dezember 2003], Am 28. April 2002 widmete die führende Zeitung Scotland on Sunday ihre Titelseite 50

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Die Tatsache der diskursiven Neupositionierung im Rahmen einer nationalistischen Politik regte ebenso auch zum Nachdenken darüber an, was sie hinsichtlich der wachsenden Bedeutung der Idee, wenn auch nicht der Realität, besonderer schottischer Einstellungen gegenüber Europe bedeute. Da die SNP spürte, dass in Brüssel ein natürliches Gegengewicht zu London liegen könnte, war sie in den späten 1980er Jahren zusammen mit ihrem walisischen Gegenstück zum vielleicht beredtesten Euro-Enthusiasten unter allen größeren politischen Parteien Großbritanniens geworden. In der Tat porträtierte sie in ihrer Politik gemäß der Parole „Unabhängigkeit in Europa" die EU als eine befreiende Kraft - und, prosaischer, als eine Quelle großzügiger Unterstützung, wenn die Unabhängigkeit erreicht sei - , die dem entgegengesetzt werden könne, was in ihrer Argumentation als die politische Unterjochung und ökonomische Ausplünderung Schottlands durch einen anglozentrischen Staat figurierte: „I am Scottish first, European second, and British only because my passport says so", lautete ein geflügeltes Wort in nationalistischen Kreisen in den 1990er Jahren 52 . Es kann jedoch kaum überraschen, dass sich die SNP um einiges weniger deutlich ausdrückte, wenn es darum ging, präzise zu erklären, wie die Begeisterung für die weitere Übertragung nationaler Entscheidungskompetenzen auf Brüssel als Bestandteil des fortschreitenden Projekts der europäischen Integration mit der raison d'être der Partei, nämlich der Forderung der legislativen Unabhängigkeit Schottlands als souveräner Nationalstaat, vereinbart werden könne. Ein programmatisches Schlüsselmanifest, das in der Realität für die meisten Schotten unattraktiv war und dessen offensichtliche Widersprüche die quälende Erkenntnis, dass die SNP im Grunde eine opportunistische Bewegung sei, die eines kohärenten und glaubwürdigen Regierungsprogramms entbehre, noch verstärkte, war eine Ursache für das entmutigende Scheitern der Partei in den Wahlen zum Parlament von Westminster im Jahr 2001 trotz der nach der Dezentralisierung aufkommenden Ernüchterung, die Labour in Schottland verteufelte, und der weiteren heftigen Attacken gegen die unionistischen Parteien, die jedoch immer noch von mindestens sieben von zehn Schotten gewählt wurden. Eine letzte Gruppe, in der die Einstellungen gegenüber Europa in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend positiver wurden, stellt die schottische Intelligenz dar. Dies stand auch im Zusammenhang mit den bereits erörterten Veränderungen in der parteipolitischen Sprache: Tatsächlich verdankte sich der Fortschritt, den die SNP und in letzter Zeit auch die Laden Ergebnissen einer neuen Umfrage, in der gezeigt wurde, dass 58 Prozent der Schotten der Meinung waren, dass die Einwanderung in das Vereinigte Königreich zu einfach sei, und 34 Prozent, dass es zu viele Einwanderer gebe. Noch bemerkenswerter ist, dass ganze 46 Prozent der Schotten eine Art Repatriierungsprogramm für ethnische Minoritäten unter den Einwanderern befürworteten. 52 Vgl. z. B. die Website der unabhängigen Nationalisten: http://www.notoryus.org [Zugriff am 1. Dezember 2003],

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bour-Partei in Richtung auf eine deutlich proeuropäische Politik einschlug, die sicherstellte, dass der offizielle Diskurs der wiedergeborenen schottischen Nation atavistische Sorgen um Erbe und Ethnizität zurückwies und stattdessen einen genuin internationalistischen Entwurf für Schottlands Zukunft übernahm, mehr dem Einfluss der Akademiker, Rechtsanwälte, kulturellen Führungspersönlichkeiten und Berufspolitiker als den Instinkten der Masse der Parteimitglieder. Diese Entwicklung beinhaltete auch intellektuelle und erzieherische Implikationen. Wie in den Tagen Robertsons und Fergusons erwiesen sich die Universitäten, die Werke wie Denys Hays einflussreiches Europe: The Emergence of an Idea (1958) und Robert Bartletts The Making of Europe (1992) hervorbrachten (beide Autoren waren zufallig in Schottland wohnende englische Gelehrte), als wichtiger Nährboden für Europa-bezogenes Denken, das in fortgeschrittener historischer Forschung gründete. In der Tat erwies sich die Spezies der Akademiker, die über größere Sprachkenntnisse verfügte als die meisten Briten und denen auch personelle und finanzielle Netzwerke halfen, genuin internationale professionelle Gemeinschaften zu etablieren, als rascher bereit, sich mit den realen europäischen Integrationsprozessen, wie sie von den Förderstrukturen der EU, dem ERASMUSAustauschprogramm und dergleichen repräsentiert wurden, zu arrangieren. Andere kulturelle Phänomene in Schottland, wie Film, Musik, Theater und Literatur - für die das internationale Festival in Edinburgh in jedem August bezeichnend ist - , zeigten dieselbe Tendenz zum Internationalismus, indem die ständige Öffnung gegenüber kosmopolitischen ästhetischen Einflüssen durch die zunehmend nationalistische und links orientierte politische Subkultur in den Künsten forciert wurde. Schottlands Intelligenz (im weitesten Sinne) erschien daher im späten 20. Jahrhundert als Vorhut des Europäismus. Wieder einmal bleiben jedoch, wie im 18. Jahrhundert, für den Historiker Fragen nach den schottischen Einstellungen gegenüber Europa, wie die, ob sich diese wirklich sehr von der Situation in England unterschieden und inwiefern die Neigungen einer kulturellen und politischen Elite Rückschlüsse auf die Einstellungen und die Orientierung der gesamten Bevölkerung ermöglichen.

V. Wie wir gesehen haben, unterscheiden sich die schottischen Selbstwahrnehmungen heute bemerkenswert von denen, die die akzeptierte Norm während der vergangenen drei Jahrhunderte gewesen sind, und insbesondere von denen, die im Jahrhundert nach 1707 dominiert haben. Heute wird bisweilen sogar angedeutet, dass sie schließlich auf das Niveau am Ende des Mittelalters zurückkehren könnten, als die Schotten nicht nur wegen ihrer eigenen

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Identitäten, sondern in einem gewissen Sinne auch wegen ihrer Rettung bereitwilliger auf den europäischen Kontinent blickten als auf England. In mancher Hinsicht ist die größte Ironie im Zusammenhang mit dem verstärkten nationalistischen Diskurs, der seit den 1960er Jahren in Schottland aufgekommen ist, die, dass, während er auf sehr respektable Art versuchte, die Schotten zu ermutigen, sich auf eine andere und bessere Zukunft zu freuen, häufig andere, dunklere Gefühle weckte, die bis vor kurzem zu der fernen Vergangenheit des Landes zu gehören schienen: Die Popularität der inoffiziellen Nationalhymne „Flower of Scotland", ein modernes Volkslied, das von vielen jungen Schotten eben deswegen begeistert angenommen wurde, weil es in grober Weise einen militärischen Sieg über England vom Jahr 1314 feiert, beleuchtet für diejenigen, die in der Lage sind, eingehender über seine kriegerischen Worte nachzudenken, beständig die einander radikal widersprechenden Impulse, von denen moderner Nationalismus in der Praxis geprägt ist. Aber der Historiker muss sich auch hüten, allzu weit in die Zukunft zu blicken. Und einige der Prozesse hinter den erstaunlichen Veränderungen in der schottischen Selbstwahrnehmung über mehrere Jahrhunderte - wie Globalisierung und Anglisierung - lassen wenige Anzeichen erkennen, dass sie reversibel sind. Wir können auch nicht mit Sicherheit annehmen, dass, wie wir schon gesehen haben, das Bild und die Realität von Schottlands Platz in der Welt sich immer geradlinig entwickeln werden. Wenn die Geschichte der schottischen Identität von ihren frühmodernen Anfangen an uns wirklich eine besonders wichtige Lehre erteilt, ist es die, dass der Sinn der Schotten für das, was sie sind, selten auf einer nüchternen Bewertung ihrer wirklichen Beziehungen zu anderen Nationen und Völkern basiert. Weder die neuen Verfassungsregelungen der späten 1990er Jahre noch die Art und Weise, wie die nur marginal größere Identifikation der schottischen Öffentlichkeit mit Europa im Sinn eines angeblich prägenden Charakteristikums ihrer Nation als Ganzes übertrieben worden ist, wären für die meisten Bewohner des Landes nur fünfzig Jahre früher vorstellbar oder gar wünschenswert gewesen. Die Identitäten der heutigen älteren Generation der Schotten waren oft durch ein Leben in den britischen Kolonien oder dadurch, dass sie Verwandte in Kanada, Australien oder Neuseeland hatten, geprägt worden. In ihrer Jugend dürfte in fast allen Fällen ihr einziger persönlicher Kontakt zur Gesellschaft des Kontinents der gewesen sein, dass sie als Teil der britischen Streitkräfte gegen andere europäische Nationen kämpften. Heute haben sie häufig Kinder und vor allem Enkel, für die Britannien eine entschieden ambivalente Idee ist, die mit politischen und historischen Bürden belastet ist, bei denen ihnen nicht immer ganz wohl ist. In einer der jüngsten Umfragen behaupteten zum Beispiel nur 18 Prozent der schottischen Bevölkerung (verglichen mit 43 Prozent der Engländer), sich in erster Linie als

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„british" zu betrachten53. Die Reiseerfahrungen der jüngeren Generationen, insbesondere unter den gebildeteren und einflussreicheren Schichten der schottischen (wie auch der englischen) Gesellschaft, haben ihnen auch einen wesentlich weniger bedrohlich erscheinenden Eindruck dessen vermittelt, was der europäische Kontinent eigentlich bedeutet - obwohl es, wie wir gesehen haben, im Grunde sehr fraglich bleibt, ob dies geradewegs zu einer größeren Begeisterung als bei den Menschen in England über das integrationistische Programm, das die EU verkörpert, fuhrt. Bemerkenswerterweise haben dieselben älteren Schotten, denen ihre Britishness vermutlich das geringste Unbehagen bereitet, zugleich noch eine Zeit gekannt, bis in die 1950er Jahre, in der Schottlands eigene gesprochene Sprache, seine spezifischen religiösen Traditionen, sein besonderes Erbe im Erziehungswesen und in den Institutionen der Lokalverwaltung, ja das ganze Gesellschaftsgefüge sich deutlich stärker unterschieden - mit einem Wort schottischer waren - , als sie es heute geworden sind 54 . In der Tat ist es manchmal schwierig, den Gedanken zu verdrängen, dass selbst wenn sie normalerweise erzogen worden sind, keinen Widerspruch zwischen ihrer schottischen Identität und ihrer Loyalität zu Großbritannien als Nationalstaat zu empfinden, die älteren Schotten von heute eigentlich mehr Grund hätten, sich als Mitglieder einer wirklich besonderen Gesellschaft zu empfinden gewiss mehr als jene jüngeren oder im mittleren Alter stehenden Schotten, die das Produkt einer nivellierten und weitgehend anglophonen globalen Kultur sind, die aber nichtsdestoweniger seit den 1970er Jahren so vehement und erfolgreich einen Sinn für nationale Eigentümlichkeiten behauptet haben. Diese Diskrepanz zwischen Realität und Wahrnehmung (oder, genauer gesagt, zwischen Realität und leidenschaftlich behauptetem kollektivem Glauben) ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des neuzeitlichen schottischen Diskurses über die Beziehungen zu England und/oder Europa. Denn es scheint, dass die langfristigen Entwicklungen, die viel von dem besonderen Charakter Schottlands geschwächt oder zerstört haben (und für welche die Union von 1707 selbst mehr ein weiteres Symptom als die erste Ursache war), das schottische Volk in ein interessantes Dilemma gebracht haben. Die Schotten sind im Grunde den Engländern und zugleich den Völkern anderswo in Europa ähnlicher als je zuvor. Dennoch sind sie überzeugter als je in der jüngeren Vergangenheit, dass sie in der Tat grundsätzlich unterschiedlich sind, was auch beinhaltet, dass ihre Einstellungen viel europäischer 53

http://www.mori.com/dipest/2000/cQ00331 .shtml [Zugriff am 1. Dezember 2003], Vieles von der Schwächung bzw. Zerstörung schottischer Institutionen und Traditionen hat seine Ursprünge im 19. Jahrhundert, aber diese Entwicklung beschleunigte sich noch im 20. Jahrhundert: Craig BEVERDIGE/Ronald TURNBULL, The Eclipse of Scottish Culture: Inferiorism and the Intellectuals, Edinburgh 1989; George Elder DAVIE, The Democratic Intellect: Scotland and Her Universities in the Nineteenth Century, Edinburgh 1961; Callum BROWN, Religion and Society in Scotland since 1707, Edinburgh 1997. 54

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seien und sie der EU viel aufgeschlossener gegenüberstünden als die Engländer - wie ihre eigenen Eliten heutzutage aufgrund einer ganz dünnen Beweisdecke häufig behaupten. Ob sie je dazu gebracht werden können, diese Widersprüche anzuerkennen und, was noch viel wichtiger ist, mit den unzähligen Folgen fur ihr Selbstbild klarzukommen, ist eine Frage, die künftige Historiker Schottlands im 21. Jahrhundert beschäftigen sollte. (Übersetzt von Matthias Schnettger)

Summary This essay explores the curious historical relationship between Scottish national identity and Scotland's relations with both England and Europe. It discusses the close links between Scotland and the Continent during the medieval period, and their substantial unravelling as Scots and English were drawn closer together by political and religious factors between the sixteenth and early eighteenth centuries. It also argues that, between the mid-eighteenth and the mid-twentieth centuries, Scots usually felt much stronger ties with England - within the newly-formed state known as Great Britain - than with the rest of Europe. Indeed, the essay emphasises the capacity of the British state and British identity to re-formulate Scottish self-perceptions, but also the remarkable shift that was to take place in Scottish attitudes after the Second World War. As the British state's political and economic credentials appeared to weaken, so Scots once again began to perceive a greater connection with the Continent. This process, however, was by no means straightforward: the increasing affinity with Europe and consequent alienation from "Britishness" was in fact measurably stronger among the young and the better-educated, as well as among politicians and the media elite. This was true even though these sections of Scottish society were precisely those most affected by the homogenising influence of globalisation which was steadily eroding the real institutional basis of a distinctively Scottish nationhood.

Dänemark und Europa Streiflichter zu diskursiven Kontinuitäten und Diskontinuitäten von 1600 bis 2000 Von

Sebastian

Olden-Jorgensen

Sind die Dänen Europäer? Die Frage mag unsinnig klingen, aber ebenso wie die Engländer von Europa als dem Festland jenseits des Ärmelkanals sprechen, reden die Dänen oft von diesem oder jenem „unten in Europa". Daraus lässt sich schließen, dass Europa mit Deutschland anfängt - was aus dänischer Sicht ohnehin Distanz andeutet. Andererseits wäre es ein Trugschluss zu glauben, dass dieser Sprachgebrauch auf eine feste nordische Identität hinwiese. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es den Skandinavismus, der besonders unter den Intellektuellen verbreitet war, sich aber trotz aller politischen Ambitionen nie als eine tragfähige Alternative zum Nationalismus erwies. Gibt es doch die böse Redewendung, Asien fange in Malmö, der schwedischen Grenz- und Hafenstadt 20 Kilometer östlich von Kopenhagen, an! Aber Scherz beiseite: Selbstverständlich sind die Dänen Europäer im geographischen Sinn, wogegen das Verhältnis der Dänen zum Begriff Europa in seinen politischen und kulturellen Implikationen zutiefst gespalten ist. Dieses zwiespältige Verhältnis der Dänen zum Europa-Begriff lässt sich nur schwer anhand der dänischen Europa-Diskussion analysieren. Erstens - und das ist eine Tatsache, die an sich schon aussagekräftig ist - , weil es erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Europa-Diskussion im eigentlichen Sinn und eine (kleine) dänische Europa-Bewegung gibt, während die historischen Wurzeln der dänischen Europa-Zweifel weiter zurückreichen. Zweitens, weil die Europa-Frage in der Nachkriegszeit ziemlich einseitig mit der Frage der EG bzw. der EU verknüpft war. Es gibt und gab aber auch in Dänemark EuropaVorstellungen außerhalb und vor der EG/EU-Debatte. Da eine eigentliche, zusammenhängende Europa-Diskussion aber weitgehend fehlt, ist im Folgenden ein anderer Weg gewählt worden, um dennoch eine gewisse zeitliche Tiefe zu gewinnen: nämlich eine Analyse des Sprachgebrauchs, so wie er sich seit dem 17. Jahrhundert entwickelt und in literarischen, politischen und wissenschaftlichen Schlüsseltexten seinen Niederschlag gefunden hat. Da diese Studie auf nur wenigen dänischen Vorarbeiten aufbauen kann - wiederum eine bemerkenswerte Tatsache - , müssen die folgenden Erörterungen als eine eher vorläufige, impressionistische Analyse gelten.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 5 (2004) I. Das 17. und 18. Jahrhundert: Europa als Akteur und Schauplatz der großen Politik

Wenn man sich auf die Suche nach den dänischen Europabildern im 17. und 18. Jahrhundert begibt, muss man sehr schnell feststellen, dass Europa in der damals eher begrenzten dänischen Öffentlichkeit nur selten zur Sprache gekommen ist. Dennoch gibt es in zwei Bereichen, nämlich in der geographischen Literatur und in den politischen Zeitgedichten, konvergierende Hinweise, die auf ein eindeutig politisch gefärbtes Europa-Bild hindeuten. 1633 erschien die erste Auflage eines dänischen geographischen Handbuchs, Compendium Cosmographicum, des Kopenhagener Kaufmanns Hans Nansen. Das Buch war als „Volksbuch" gedacht, und der Verfasser gab ganz offen zu, dass er, um durch sein handliches Büchlein das in teuren Folianten verschlossene Wissen seinen Landsleuten zugänglich zu machen, von einer Reihe anderer Werke abgeschrieben hatte1. Der Abschnitt über Europa beginnt folgendermaßen2: „Europa / som er den ferste Part äff den gamie Verden / er vel den mindste Part / mens er dog den beste deel / Thi den offvergaar de andre parter met mange skene store Staeder / met mectige Krigsefverster og gemene Soldater / met mange vise oc meget forstandige Folck vdi atskillige Konst / met mange vtalige kostelige Skibe huor met Europa: Indbygger beseger alle de andre Verdens Parter". „Europa, das der erste Teil der alten Welt ist, ist zwar der kleinste Teil, aber dafür der beste Teil, denn es überragt die übrigen Teile durch viele schöne Städte, durch tüchtige Feldherren und gemeine Soldaten, durch viele weise und kluge Leute in verschiedenen Künsten, durch unzählige wertvolle Schiffe, mit denen die Einwohner Europas die anderen Erdteile besuchen".

Zwei Generationen später wurde an der Kopenhagener Universität fast genau dasselbe Weltbild gelehrt. Für die Geographie-Studenten verfasste der in der dänischen Universitätsgeschichte als außerordentlich mittelmäßig geltende, aber dafür als repräsentativ bekannte Professor Holger Jacobasus ein kleines Lehrbuch Compendium Geographicum (1693). Hier wird Europa in den folgenden knappen Zeilen dargestellt3: 1 Zu Hans Nansen und seinem Buch: Trine LARSEN, En 1600-tals borgers naturerkendelse. Univers og virkelighedssyn i Hans Nansens Kosmografi 1633, in: Mentalitet og historie. Om fortidige forestillingsverdener, hrsg. von Charlotte Appel [u. a.], Ebeltoft 2002, S. 119-142; Niels STEENSGAARD, The Cosmography of Hans Nansen, a Seventeenth Century Copenhagen Merchant and Politician, in: Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift fur Hans Pohl zum 60. Geburtstag, hrsg. von Wilfried Feldenkirchen [u. a.], Stuttgart 1995, S. 426-^39. 2 Hans NANSEN, Compendium Cosmographicum. Det er: En kort Beskriffvelse offver den gantske Verden, Kebenhavn 2 1635, S. 59. ' Holger JACOBUS, Compendium Geographicum, Kebenhavn 1693, S. 24.

Olden-Jergensen, Dänemark und Europa

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„Europa, splendore ac dignitate imperii, armorum virtute, literarum gloria, pras coeteris Orbis partibus hodie celeberrima, términos habet; ab Oriente Tanarim, Tartariae Europaeae flumen; à Meridie mare mediterraneum,/return Herculeum, & Atlanticum mare, à septentrione mare Hyperboreum, ab Occidente Atlanticum mare". „Europa, das vor den übrigen Weltteilen an Glanz und Würde der Herrschaft, an militärischer Tugend und wissenschaftlichem Ruhm berühmt ist, hat folgende Grenzen: im Osten den Don, im Süden das Mittelmeer, Gibraltar und den Atlantik, im Norden das Eismeer und im Westen den Atlantik".

Was an den Definitionen Nansens und Jacobasus' auffällt, ist vor allem der rein weltliche Charakter des Europabildes. Die religiöse Dimension, Europa als der christliche Kontinent und durch Rom Haupt des Christentums, fehlt völlig. Dies steht im Gegensatz zu den zahllosen allegorischen Darstellungen der Erdteile in der bildenden Kunst der damaligen Zeit, wo der Hinweis auf Christentum und Kirche so gut wie nie fehlt. So auch nicht in der Darstellung der Erdteile auf dem 1688 entstandenen Deckengemälde von Peder Andersen im Audienzgemach des königlichen Schlosses Frederiksborg, wo Europa mit der Hand auf eine Kirche zeigt. Im Übrigen darf man wohl sagen, dass das Urteil Nansens und Jacobaeus' sich mit der allgemeinen Auffassung der modernen Historiographie deckt. Was Jacobasus „militärische Tugend" nennt, heißt da militärische Revolution4, Europas „wissenschaftlicher Ruhm" hat ebenfalls den Ehrentitel einer Revolution bekommen5, und in Bezug auf „Glanz und Würde der Herrschaft" (oder des Reichs6) sind viele Historiker der Meinung, dass nicht zuletzt die Entstehung des modernen (Macht-)Staats das entscheidende „Ereignis" der europäischen Frühneuzeit darstellte7. Wenden wir uns jetzt von den trockenen Ausführungen der Geographen, die ohnehin schwerlich auf den Begriff Europa verzichten konnten, einer Gruppe von Autoren zu, die von Europa sprachen, weil sie damit bei ihren Lesern bestimmte Assoziationen wachrufen wollten. Diese Autoren waren Herausgeber von Zeitungen und Zeitgedichten, und für sie war Europa nicht in erster Linie Königin der Welt, sondern vor allem der Schauplatz der großen Politik. Europa und der Krieg, so scheint es, gehörten untrennbar zusammen, wenn man nach dem spärlichen Gebrauch des Wortes „Europa" oder „europäisch" geht. Dieser Gebrauch des Wortes „europäisch" ist selbstver4

Geoffrey PARKER, The military revolution. Military innovation and the rise of the West 1500-1800, Cambridge 1988. 5 H. Floris COHEN, The Scientific Revolution. A Historiographical Inquiry, Chicago 1994; Margaret OSLER, Rethinking the scientific revolution, Cambridge 2000. 6 Das Reich wäre dann das Heilige Römische Reich deutscher Nation. 7 Wolfgang REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999.

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ständlich nicht spezifisch dänisch, sondern eben europäisch oder zumindest mitteleuropäisch. Man denke nur an die großen zeitgeschichtlichen Jahrbücher Diarium Europceum und Theatrum Europceum. Einige Beispiele sollen das näher zeigen. Das erste Beispiel ist die deutschsprachige Europceische Wöchentliche Zeitung, die 1660-1665 in Kopenhagen erschien. Sie stammt aus den Jahren nach dem Ersten Nordischen Krieg (1655-1660), in dessen Verlauf Dänemark vorübergehend Schauplatz eines europäischen Konfliktes wurde, indem ein Bündnis aus den Niederlanden, Brandenburg, dem Kaiser, Polen und Dänemark - französische und englische Vermittlungsbestrebungen kamen hinzu - auf polnischem und dänischem Gebiet der schwedischen Expansion Einhalt gebot. Die Europceische Wöchentliche Zeitung ist, wie der Name besagt, eine Wochenzeitung und besteht ausschließlich aus Auszügen ausländischer, hauptsächlich hamburgischer Zeitungen. Fragt man nach dem impliziten Europabild des Organs, glaubt man fast, dass Dänemark ein Glied des Heiligen Römischen Reichs gewesen sei, denn Informationen über das Reich, Frankreich, Italien und die Türkenkriege nehmen quantitativ den ersten Platz ein, Spanien, England und Russland werden dagegen kaum erwähnt. Eine recht ähnliche Sicht der Dinge findet man in einer wenig späteren halboffiziellen dänischen Vers-Zeitung Den Danske Mercurius (Der dänische Merkur) von Anders Bording (1619-1677), die 1666-1677 monatlich in Alexandrinern auf vier Quartseiten erschien. Als Folge der zeitweiligen Abschwächung der Türkengefahr nach dem Sieg bei Sankt Gotthard 1664 und der expansiven Außenpolitik Ludwigs XIV. ist der Schwerpunkt der Nachrichten jetzt nach Westen gerückt. Dem Begriff Europa begegnet man aber nur in enger Verbindung mit dem Krieg, so ζ. B. in den Anfangszeilen der Dezember-Ausgabe 16748: „Ey lettelig en haard-ileben künde klefVes / Med raindre det och med vel haarde kiler prafves. Ret paa den same vis det gaaer / och siges kand Om voris haarde Tjds beskaffenhed och stand.

Det er den Jerne Tid / somandet ey medfarer / End det som Mennisken til mißforstand oprarer / Och der med kaster al fortrolighed omkring / Ja for / Jeg ved ey hvad / forvirrer alle ting. Jeg her / Evropa / dig til vidnißbyrd fremkalder / Om skent dit vidnißbyrd ey dem / maa skee / befalder / Som ingen anden jd och haandverk hafve laerd / En at ophidse Folk til strjd och aarlogs fasrd".

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Anders BORDING, Den Danske Mercurius vom 1. November und vom 1. Dezember 1674 (Zitat); Facsimile-Ausgabe von Anders BORDING, Den Danske Mercurius, hrsg. von Paul Ries, Kßbenhavn 1984, S. 409, 413 (Zitat).

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„Ein fest Zusammengewachsenes lässt sich nicht leicht spalten, es sei denn, man versucht es mit ganz harten Keilen. Genau auf diese Weise geht es, kann man sagen, mit der Beschaffenheit und dem Charakter unserer harten Zeit. Sie ist eine eherne Zeit, die nur solches hervorbringt, was den Menschen zu Zwietracht bewegt und dadurch jedes Vertrauen zerstört, ja, alles, ich weiß nicht warum, in Verwirrung bringt. Hier lade ich dich, Europa, als Zeugin vor, obwohl dein Zeugnis vielleicht denen nicht gefällt, die keine andere Arbeit und kein anderes Handwerk gelernt haben, als Leute zu Streit und Krieg ai hetzen".

Mit anderen Worten: Europa war für die dänische Öffentlichkeit des 17. Jahrhunderts vor allem das Europa der streitsüchtigen Fürsten und Völker - und wie könnte es auch anders sein! Aus dieser Perspektive muss man sagen, dass der moderne Europagedanke, der in Europa vor allem eine Friedensordnung sieht, zumindest in Dänemark keine direkten Wurzeln im 17. Jahrhundert hat. Dennoch gibt es Spuren eines anderen, eines utopischen Europabildes. Diese Sicht lässt sich in den oben zitierten Zeilen, wenn Bording Europa als eine den Kriegshetzern unbequeme Zeugin vorlädt, vielleicht andeutungsweise erkennen. Noch deutlicher spiegelt sich dies in unserem letzten Beispiel, dem Zeitgedicht Jomf. EUROPEE Mundtlige Berœtning Om Hendis forrige og nu vœrende Tilstand (Mündlicher Bericht der Jungfrau Europa über ihren vorigen und jetzigen Zustand) wider. Das Gedicht des sich als „hendis naerpaarerende" (ihren nahen Verwandten) stilisierenden Studenten Christian Höst stammt aus dem Jahr 1720, und die ersten beiden Verse lauten: „EUROPA Verdens Lius og Laere-Mesterinde! See! skal ieg Dem endnu i vanlig Sasde finde? O! unge Jomfru-Bloed / ey fulde 6000 Aar Jeg sparger / med Forlov / hvordan det Hende gaar! Hvad seer Hun gusten ud?hvor er de Purpur Kinder? De fordum trevne Bryst mand nu saa terre finder Jeg har tilforne hört Hun hyldig var og feed / Hvor Hun har saa satt af jeg ingenlunde veed". „EUROPA, Licht und Lehrmeisterin der Welt! Schau! soll ich Sie noch wie gewöhnlich finden? O! junges Jungfrau-Blut / nicht einmal 6000 Jahre alt Ich frage / wenn Sie es erlauben / wie es Ihnen geht! Wie sehen Sie bleich aus? Wo sind die purpurnen Wangen? Die früher prallen Brüste findet man jetzt ganz vertrocknet. Ich habe früher gehört, Sie seien wohlbeleibt und fett. Wie Sie so abgenommen haben, das weiß ich gar nicht".

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Auf die bekümmerte Frage des Dichter-Ichs antwortet die Jungfrau Europa mit einer Beschreibung ihres zwanzigjährigen Fiebers, das alle Teile ihres Körpers heimgesucht habe: den Kopf (Spanien), den linken Arm (Italien), die Brust (Frankreich), den rechten Arm (England), den Leib (Deutschland), die linke Seite (Ungarn), die rechte Seite (Schweden), den Rock (Moskau) usw. Das Fieber können wir mit dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1713/14) und dem Großen Nordischen Krieg (1700-1721) identifizieren, und das Gedicht bezieht sich eindeutig auf die damals sehr beliebten Darstellungen der europäischen Landkarte in der Gestalt einer königlichen Frau. Diese Gestalt lenkt selbstverständlich den Gedanken auf die früher erwähnten allegorischen Darstellungen der Erdteile, wie das auch im zweiten Vers des Gedichts zur Sprache kommt: „EUROPA, Licht und Lehrmeisterin der Welt"! Die Körper-Metapher weist jedoch grundsätzlich in eine andere Richtung. Der Krieg wird als Fieber gekennzeichnet, und daraus folgt implizit ein positives Ideal, denn die Gesundheit, die der Autor übrigens im letzten Vers des Gedichts ausdrücklich der Jungfrau Europa wünscht, kann ja nur in dem harmonischen, friedlichen Zusammenwirken der verschiedenen Glieder (Staaten) bestehen. Dass die Vorstellung eines friedlichen Europa, die hier mittels der Körpermetapher angedeutet wird, ex negativo auf dem Hintergrund des europäischen Großkriegs auftaucht, scheint übrigens eine Konstante zu sein, die sich immer wieder und zuletzt auch im 20. Jahrhundert nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg wiederholt hat.

II. Zwischenspiel: Schmidt-Phiseldecks Europa und Amerika (1820) Keine Regel ohne Ausnahme, so sagt man oft, und in der Tat gibt es aus dem frühen 19. Jahrhundert einen geradezu prophetischen Vorläufer der späteren internationalen Europa-Diskussion, nämlich die Europa-Schriften von Conrad Friedrich von Schmidt-Phiseldeck: Europa und Amerika oder die künftigen Verhältnisse der civilisirten Welt (Kopenhagen 1820 in zwei Auflagen, zweite Ausgabe 1832), Der europäische Bund (Kopenhagen 1821) und Die Politik nach den Grundsätzen der heiligen Allianz (Kopenhagen 1822). Das erste Buch, Europa und Amerika, erschien noch 1820 in Kopenhagen in dänischer, französischer und englischer Übersetzung, während eine niederländische Übersetzung 1821 in Amsterdam und eine schwedische Fassung 1821 in Stockholm gedruckt wurde9. In der Geschichte der Europa-Literatur erfreut sich Schmidt-Phiseldeck eines gewissen Ansehens, weil er als ein Vorläufer von Alexis de Tocqueville 9

Zu Person und Werk vgl. Carl Friedrich von SCHMIDT-PHISELDECK, Europe and America, hrsg. vom Royal Danish Ministry of Foreign Affairs, Nachwort von Thorkild Kjaergaard, Kjabenhavn 1976.

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auf das gewaltige Potential der Neuen Welt hingewiesen und deren baldige Emanzipation von der Alten Welt und den Aufstieg zur Weltmacht vorausgesehen hat 10 . Als Gegenmaßnahme der Alten Welt, so meinte er, sei die Errichtung eines europäischen Bundesstaates nach amerikanischem Muster unumgänglich. Dessen Grundlage sah er in der kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konvergenz aller europäischen Länder. Als erstes sollten alle auf das Recht, gegeneinander Krieg zu fuhren, verzichten, die Zollschranken sollten abgebaut werden, und ein allgemeiner Kongress sollte gemeinsame Fragen der Wirtschaft, der Kolonien, der Religion, des Rechts und der Politik behandeln. Rechtssicherheit, gemeinsame Währung, ein allgemeines europäisches Bürgerrecht und Freizügigkeit standen ebenfalls auf der Tagesordnung und am Ende die Bildung einer Bundesregierung, eines Bundesgerichts und eines Bundesheeres. Als Ersatz für die verloren gehenden Märkte und Emigrationsmöglichkeiten in der Neuen Welt könnte dieser europäische Bund dann die europäischen Teile des Osmanischen Reiches erobern. Die zeitgenössischen dänischen Rezensenten Schmidt-Phiseldecks zeigten aber für seine Visionen wenig Sinn und kritisierten vor allem das Schreckbild eines in naher Zukunft übermächtigen und selbstgenügsamen Amerika und der daraus folgenden negativen Auswirkungen für Europa 11 . Um die Schriften Schmidt-Phiseldecks richtig zu beurteilen, müssen einige biographische Tatsachen in Erinnerung gerufen werden12. Der 1770 geborene Sohn eines juristisch ausgebildeten Archivars und Hofrats stammte aus Braunschweig, begann 1787 sein Studium in Helmstedt und wurde 1789 Hauslehrer des erfolgreichen dänischen Kaufmannes Constantin Brun. Mit den Bruns machte er 1790-91 Reisen durch Deutschland, Frankreich und die Schweiz. Constantin Brun war ein Freund des einflussreichen Finanzministers und Mäzens Graf Ernst Schimmelmann (1747-1831), und bald verkehrte SchmidtPhiseldeck im (deutschsprachigen) Schimmelmann'schen Kreis und publizierte Beiträge im Deutschen Magazin, dem Organ der deutschsprachigen Kopenhagener Intelligenz. In Kopenhagen promovierte der überzeugte Kantianer dann 1792 in Philosophie und 1794 in Theologie und wirkte als Privatdozent der Philosophie, bis er 1794 die dänische Staatsbürgerschaft erwarb und im selben Jahr eine Beamtenlaufbahn im Dienst des dänischen Kö10 Heinz GOLLWITZER, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 2 1964, S. 197-200; Rolf Hellmut FOERSTER, Europa. Geschichte einer politischen Idee. Mit einer Bibliographie von 182 Einigungsplänen aus den Jahren 1306 bis 1945, München 1967, S. 264-271; Knud FABRICIUS, Betragtninger o\er det europasiske Forbund, in: Det tredje Standpunkt 4 (1941), S. 166-175. 11 Dansk Litteratur Tidende, 1820, Nummer 36-40; Nyeste Skilderie af Kjobenhavn 33 (1820), Nummer 70-71. 12 Wo die Angaben von der Deutschen Biographischen Enzyklopädie, Bd. 9, München 1998, S. 25, abweichen, folgen sie dem Artikel in Dansk biografisk Leksikon, Bd. 13, Kßbenhavn 1983, S. 157 f.

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nigs beginnen konnte. Er hatte verschiedene Posten in der zentralen Finanzverwaltung und war u. a. 1813-1818 Direktor der Nationalbank. Diese besondere Stellung Schmidt-Phiseldecks als hoher Beamter mit exzellenten Verbindungen zur deutschsprachigen politischen und kulturellen Elite in Kopenhagen erklärt auch, warum er das Buch publizieren konnte. Obwohl Dänemark in den Revolutionskriegen zwar erhebliche territoriale Verluste erlitten, jedoch keine inneren Erschütterungen erlebt hatte, war die Zeit nach dem Wiener Kongress 1814-15 bis zur bürgerlichen Revolution 1848 auch in Dänemark eine Periode der Reaktion. Die ohnehin schon eingeschränkte Pressefreiheit wurde schrittweise noch weiter eingeengt, und vor allem die Außenpolitik zählte zu den arcana imperii, über die sich die Bürger nicht äußern durften. Damit aber war jede Europa-Diskussion von vornherein ausgeschlossen, und ganz symptomatisch ging es in dem Aufsehen erregenden Prozess gegen den oppositionellen Journalisten Johannes Hage auch um eine Schrift, die außenpolitische Fragen in unakzeptabler Weise behandelt hatte, nämlich Hages Bidrag til Oversigt over Europas Historie i Aaret 1835 (Beitrag zu einer Übersicht der Geschichte Europas im Jahr 1835, Kopenhagen 1836)13. Hage wurde zunächst vom Landesober- samt Hof- und Stadtgericht freigesprochen, schließlich aber vom obersten Gericht zu einer Geldstrafe und lebenslänglicher Zensur verurteilt und beging wenig später Selbstmord. Vor diesem Hintergrund versteht man, welch auch in dieser Hinsicht einzigartiges Buch Schmidt-Phiseldecks Europa und Amerika ist.

III. Das 19. Jahrhundert: Die „europäische Notwendigkeit" Während im 17. und 18. Jahrhundert „Europa" und „europäisch" allgemein mit neutralen oder positiven Konnotationen behaftet waren, tritt um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Umschwung ein, der in zwei Schritten die bis heute zwiespältige Valenz der Begriffe einleitet14. Erstmals in den späten 1840er und in den 1850er Jahren begegnet man dem Begriff der „europäischen Notwendigkeit". Diese „europäische Notwendigkeit" war die Umschreibung der Tatsache, dass die damaligen Großmächte England, Russland, Frankreich, Österreich und Preußen die dänische Regie-

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Harald J0RGENSEN, Trykkefrihedsspergsmâlet i Danmark 1799-1848, Kebenhavn 1944, S. 201 f. 14 Die folgende begriffsgeschichtliche Analyse basiert auf Ordbog over det danske Sprog, 28 Bde., Kebenhavn 1918-1956, ND 1993; Ordbog over det danske Sprog. Supplement, [4] Bde., K0benhavn 1993—[2001]; sowie auf der den Ergänzungsbänden zugrunde liegenden umfangreichen Zettelsammlung im Besitz von Det danske Sprog- og Litteraturselskab. Dieses Wörterbuch, das dänische Pendant zu Grimms deutsches Wörterbuch, deckt die dänische Sprache 1700-1955 ab.

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rung zwangen, an dem sogenannten Gesamtstaat festzuhalten15. Das bedeutete vor allem, dass die verfassungsmäßige Autonomie der Herzogtümer Schleswig und Holstein im Gesamtgefüge der dänischen Monarchie aufrechterhalten wurde und alle Pläne eines „Großdänemark" durch Einverleibung Schleswigs in das Königreich Dänemark blockiert waren. Die politischen Wünsche der führenden dänischen national-liberalen Politiker liefen aber damals in genau die entgegengesetzte Richtung und zielten auf eine Sprengung des Gesamtstaats durch die engere Anbindung Schleswigs an Dänemark ab. Eben diesem Programm stand die „europäische Notwendigkeit" in Gestalt der international garantierten Londoner Verträge aus den Jahren 1851-52 zwischen Dänemark und den beiden deutschen Großmächten Preußen und Österreich, die den ersten schleswig-holsteinischen (Bürger-)Krieg aus Rücksicht auf die strategische Lage Dänemarks an den Meeresengen durch eine status quo ante bellum-Lösung beendeten, entgegen. Wie das in der dänischen Öffentlichkeit aufgenommen wurde, erkennt man ζ. B. aus der folgenden Worte des Abgeordneten D. G. Monrad im Folketing (der Abgeordnetenkammer des Reichstags)16: „Jeg skal ikke give den hejtxrede Finantsminister nogen Veiledning om den europasiske N0dvendighed(H0r!); men den europasiske Nedvendighed er Forholdenes Magt, naar Verdensudviklingen engang baerer noget ¡ sit Skjed, og det er dette, som det er saa saare vanskeligt for et lille Land tilborligt at modsaette sig". „Ich sollte dem hochgeehrten Finanzminister in der Frage der europäischen Notwendigkeit keine Ratschläge geben (Sehr richtig!), aber die europäische Notwendigkeit ist die Macht der Verhältnisse, wenn die Weltentwicklung nun einmal etwas im Schöße trägt, und eben diesem sich gebührend zu widersetzen ist so schwer für ein kleines Land".

Mit anderen Worten: Die „europäische Notwendigkeit" war das realpolitische Nein der Großmächte an die nationalen Wunschträume der Dänen. In Dänemark selbst wurde der Hinweis auf die „europäische Notwendigkeit" zu einer willkommenen Stütze der konservativen Verteidiger des Gesamtstaats in ihrem Rückzugsgefecht gegen die liberalen, eiderdänischen17 Gegner. Die Redewendung von der „europäischen Notwendigkeit" wurde so verbreitet, dass man ihr - meist in der Gestalt eines Diplomatenhuts auf einer Stange - wiederholt in Karikaturen der Zeit begegnet 18 . Sogar in der Belle15 Als erste Einfuhrung vgl. z. B. Der dänische Gesamtstaat. Kopenhagen. Kiel. Altona, hrsg. von Klaus Bohnen und S\en-Aage Jorgensen, Tübingen 1992. 16 Rigsdagstidende. Forhandlinger paa Folkethinget. 4de Session 1852, Kebenhavn 1852, So. 347. ' Eiderdänisch heißen diejenigen, die ein Dänemark „bis zur Eider" forderten, das heißt bis zur Grenze zwischen Schleswig und Holstein, was wiederum die Einverleibung des mindestens zur Hälfte deutschsprachigen Schleswig in das Königreich bedeutete. 18 C. E. JENSEN, Karikatur-Album. Den evropaeiske Karikatur-Kunst fra de asldste Tider indtil vore Dage. Vassentligst paa Grundlag af Eduard Fuchs: Die Karikatur, Bd. 2, K0benhavn 1912, S. 392-394.

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tristik trifft man die „europäische Notwendigkeit" mit ihren negativen Assoziationen der Fremdherrschaft. So schrieb der große dänische Märchendichter Hans Christian Andersen in einem Märchen Namens To Jomfruer (Zwei Jungfern, im Dänischen ist Jungfer auch die Bezeichnung für eine Ramme) aus dem Jahr 1853 19 : , „ D e k j e n d e r n o k i k k e N o g e t , s o m k a l d e s d e n europaeiske N e d v e n d i g h e d ! ' s a g d e d e t asrlige, g a m i e F a v n m a a l . , M a n m a a begraendses, u n d e r o r d n e sig, f e i e sig i T i d o g N e d v e n d i g h e d ' " . , „ D a s k e n n e n Sie w o h l nicht, d i e e u r o p ä i s c h e N o t w e n d i g k e i t ! ' , s a g t e d a s alte, e h r l i c h e K l a f t e r m a ß . , M a n m u ß sich b e g r e n z e n , sich u n t e r o r d n e n , d e r Zeit u n d d e r N o t w e n d i g k e i t f u g e n ' " .

Auch die Gegner der „europäischen Notwendigkeit" ergriffen das Wort, und der Theologe und Publizist N. F. S. Grundtvig schrieb 1853 ein bis heute bekanntes Gedicht mit dem Titel Den danske Nodvendighed (Die dänische Notwendigkeit). Da heißt es unter anderem20: „ F i r e , f e m A a r k u n tilbage, D e t b l e v o s i 0 j n e sagt: ,Vi e r staerke, I e r s v a g e , H v a d er R e t f o r u d e n M a g t ! T r o d s al V e r d e n s S k i f t e - B r e v e , Tysken hejt i Danmark leve!' [...] Ja, d e n stolte T o r d e n t a l e , S o m en T y s k e r b a r s k o g V r e d , Vakte op af Sevn og Dvale D a n s k e n s g a m i e Kjaerlighed, A f hvis M o d e r s k e d u d s p r i n g e r Ret og Magt med Englevinger. K j a s r l i g h e d til Faedrelandet er d e n s a n d e O d e l s r e t , Kjaerlighed o g intet a n d e t E l s k e r o p e n Helteast, Kjaerlighed i P a g t m e d A a n d e n D e n f a a r altid O v e r h ä n d e n ! [...] F r y g t ej f o r hvad Verden k a l d e r Sin N e d v e n d i g h e d af Staal! Anderledes dejlig faider Ord pâ Himlens Tungemaal, Dens Nedvendighed herneden D e t er n e t o p Kjaerligheden". 19 H . C . A n d e r s e n s eventyr, h r s g . v o n Erik D a l u n d E r l i n g N i e l s e n , B d . 2 ( 1 8 4 3 - 5 5 ) , K 0 b e n h a v n 1964, S. 3 1 8 . 20 Z u e r s t g e d r u c k t in D a n n e b r o g v o m 17. J u n i 1853, h i e r zitiert n a c h N i c o l e i F. S. GRUNDTVIG, P o e t i s k e S k r i f t e r , B d . 8, K a b e n h a v n 1 9 2 9 , S. 4 3 ^ 4 7 .

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„Nur vier, fünf Jahre zuvor wurde es uns ins Gesicht gesagt: ,Wir sind stark, Ihr seid schwach, was ist Recht ohne Macht! Gegen alle Verträge der Welt soll der Deutsche hoch leben!' Ja, die stolze Strafpredigt, wie ein Deutscher streng und zornig, hat erweckt von Schlaf und Schlummer die alte Liebe des Dänen, von deren Mutterschoß entspringt Recht und Macht mit Engelsflügeln. Liebe zum Vaterland ist das wahre Heimatrecht, Liebe und nichts anderes zieht ein Heldengeschlecht heran, Liebe im Bunde mit dem Geiste gewinnt immer die Oberhand!

[...] Fürchte nicht, was die Welt ihre eherne Notwendigkeit nennt! Anders schön lauten Worte in der Sprache des Himmels, ihre Notwendigkeit hier unten das genau ist die Liebe".

Hier wird also die Vaterlandsliebe als die wahre Quelle des Rechts, aber auch der Kraft gedeutet, um den Dänen Mut zu machen, sich jedem rationalen Kalkül der hier nicht explizit genannten, aber implizit verstandenen „europäischen Notwendigkeit" zu widersetzen. Das haben die Dänen zu ihrem Schaden letztendlich auch getan, als sie im November 1863 gegen alle Verträge Schleswig enger an das Königreich banden und durch den darauf folgenden zweiten schleswig-holsteinischen Krieg 1864 Bismarck einen ersten großen Erfolg auf dem Weg zur Reichsgründung in die Hände spielten. Erst vor dem Hintergrund der in breiten Kreisen so negativ erlebten „europäischen Notwendigkeit" wird die zweite Entwicklungsphase des Wortes „europäisch" verständlich. Denn ab ca. 1870 konnte „europäisch" auch als das Gegenteil von „national" verwendet werden. Wenn eine Gruppe von international inspirierten dänischen Architekten „Europaeer" genannt wurde, dann war das zunächst ohne Spitze21. Anders aber in der Politik, wo das Wort ab 1884 kennzeichnend für eine politische und kulturelle Frontstellung wurde. Im dänischen Folketing prägten die konservative Hetjre und die lose organisierten Gruppen der liberalen Venstre die politische Landschaft. Wegen der konservativen Mehrheit im Landsting (Herrenkammer des Reichstags) und 21

C. L. BORCHin: Architekten 1898-99, S. 183.

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der Unterstützung durch König Christian IX. bildete die Venstre, die im Folketing die Mehrheit besaß, die frustrierte und oft zerrissene Opposition. Im Herbst 1884 kam es zu einer Spaltung der Venstre, indem ein radikaler, intellektueller, pazifistischer, atheistischer Flügel in der Hauptstadt Kopenhagen unter Führung von Viggo Herup und Edvard Brandes durch die Gründung einer eigenen Zeitung (der bis heute blühenden Politiken) den national gesinnten, traditionstreuen, bäuerlichen Flügel herausforderte. Die Abweichler, die 25-30 Mitglieder im Folketing hatten, nannten sich fortan Folketinges Venstre („ Venstre des Folketings"), aber von der etwa 50 Mitglieder zählenden Mehrheit wurden sie gemeinhin „Europäer" genannt. Das war ganz bestimmt keine Ehrung, sondern eine Brandmarkung, um sie als unpatriotisch zu stempeln. Um den Unterschied deutlich zu machen, nannte sich die Mehrheit jetzt Det danske Venstre („Die dänische Venstre")22. Aber nicht nur im liberalen Bruderstreit wurde Europa zu einem Schimpfwort. Auf dem ganzen rechten Flügel der damaligen Politik wurde Europäismus mit fehlender nationaler Gesinnung gleichgesetzt23. Der publizistische Führer der Europäer, Viggo Herup, versuchte sich gegen diese Anklage des Europäismus zu wehren, indem er den Spieß umdrehte und den eigenen, wie er meinte, weitherzigen, freisinnigen Europäismus dem engen Nationalismus seiner Gegner entgegenstellte - ohne dauerhaften Erfolg allerdings24. Außerhalb der Sphäre der politischen und weltanschaulichen Kämpfe behielt Europa jedoch seine eindeutig positiven Assoziationen, vor allem wenn von der europäischen Kultur die Rede war. In einem dänischen Lexikon aus dem Jahr 1817 heißt es am Anfang und Ende des Artikels Europa 25 : „Europa er 170,000 Quadratmile stor i en Udstraekning fra 36 til 71 Ν. Β. og 8 til 80 0 . L. Befolkningen er 170 Mill, og Europa er den interessanteste Verdensdel, naar vi betragte hvad den er og hvorledes den er bleven det. Kan Asien kaldes Menneskeslaegtens Vugge, fortjener Europa at aeres som Vuggen for al Cultur; thi alerede Aarhundreder f0r Christi Fadsel havde Etrusker og Grasker naaet, en hai Grad af Cultur, som lidt efter lidt er meddeelt det 0vrige Europa og endog vandret til de andre Verdensdele. [...] Saaledes blev Europa hvad den nu er og den 0vrige Verdens Genius".

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Povl ENGELSTOFT/Frantz Wilhelm WENDT, Haandbog i Danmarks politiske Historie fra Freden i Kiel til vore Dage, Kebenhavn 1934, S. 256. 23 Vgl. Tilskueren, 1913, S. 1099-1101: „[...] en fordaegtig Europäer, der naeppe nok havde et Fasdreland" und „Misteenkeliggwelsen for Europaeisme, som fra konservativ Side jasvnlig er blevet slynget mod radikale Politikere". 24 Ν. BRANDSAGER, Den danske Regerings og Rigsdag 1901. Biografier og Portraetter, Kebenhavn 1901, S. 68. 25 Conversations-Lexicon eller encyclopsedisk Haandbog, Bd. 3, Kebenhavn 1817, S. 3 3 6 340. Dieses erste große Universallexikon in dänischer Sprache (28 Bände, 1816-1828) ist eine bearbeitete Übersetzung der 3. bzw. der 4. und 5. Ausgabe des Brockhaus. In der späteren dänischen Lexikon-Tradition sind die Artikel über Europa rein naturgeschichtlich und historisch ohne explizite Werturteile wie die hier zitierten.

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„Europa umfasst 170000 Quadratmeilen zwischen dem 36. und 71. nördlichen Breitengrad sowie dem 8. bis 80. Längengrad. Die Bevölkerung beträgt 170 Millionen, und Europa ist der interessanteste Erdteil, wenn wir darauf schauen, was es ist und wie es das geworden ist. Wenn man Asien die Wiege der Menschheit nennen kann, verdient Europa als die Wiege aller Kultur geehrt zu werden, denn schon Jahrhunderte vor Christi Geburt hatten die Etrusker und die Griechen ein hohes Maß an Kultur erreicht, das nach und nach dem übrigen Europa mitgeteilt wurde und sogar in andere Erdteile gewandert ist. [...] So wurde Europa, was es jetzt ist, und der Genius der übrigen Welt".

Drei Menschenalter später begegnen wir demselben Thema, aber mit zeittypisch verschobenen Akzenten in der populären und mehrfach aufgelegten Darstellung Evropa. En geografisk Fremstilling af vor Verdensdels Natur og Menneskeliv (Europa. Eine geographische Darstellung der Natur und des menschlichen Lebens unseres Erdteils) von 1895 26 : „Ingen Del af den gamie Verdens Fastland, j a ingen Del af Jordens Land har en Beliggenhed saa fortrinlig central, et Omrids saa fint, en indre Bygning saa mangfoldig, Naturforhold saa kulturbegunstigende,Folkeslag saa intelligente som denne. I Evropa lyser civilisationens Stjerne med klarest Glans. Evropa, der har opdaget Verden - og i dette 0jeblik maaske bererer selve Polen - , der ved Damp og Elektricitet knytter Verdensdele til hinanden, der gennemborer Alpekaeder og ved Kunst atter formaar at skille Verdensdele fra hinanden, - Evropa har lagt Verden for sin Fod, og naeppe gives der en Afkrog saa fjern, at den evropaeiske Civilisations Lys, om end svagt, ej naar derhid. [...] For Evropas overlegne Menneske er svagere Nationer bukket under, underlegne Kulturer tilintetgjorte. Raceblanding, udjaevning af Typerne er foregaaet og foregaar naesten overalt paa Jorden efter en udstrakt Maalestok: Evropaeeren tilf0rer nyt Blod og nye aandelige Muligheder, ligesom han selv for en stor Del skylder Raceblandingen sin Kraft. [...] Kun Qernt mod 0 s t staar Chinas Menneskevrimmel endnu helt afvisende overfor Evropa". „Kein Teil des Festlands der Alten Welt, j a kein Teil der Erde hat eine so vorzüglich zentrale Lage, einen so feinen Umriss und einen so vielfältigen inneren Bau, so die Kultur begünstigende Naturverhältnisse, so intelligente Völker wie dieser. In Europa leuchtet der Stern der Zivilisation mit hellstem Glanz. Europa, das die Welt entdeckt hat - und in diesem Augenblick vielleicht selbst den Pol berührt 2 7 -, das durch Dampf und Elektrizität die Weltteile verknüpft, das die Alpenketten durchbohrt und durch Kunst wieder die Weltteile zu scheiden vermag - Europa hat sich die Welt zu Füßen gelegt, und es gibt keinen Winkel, der so entlegen ist, dass das Licht der europäischen Zivilisation ihn nicht, wenn auch nur schwach, erreicht. [...] Dem überlegenen Menschen Europas sind schwächere Nationen erlegen, von ihm sind unterlegene Kulturen vernichtet worden. Umfassende Rassenmischung, Angleichung der Typen hat sich 26

Evropa. En geografisk Fremstilling af vor Verdensdels natur og Menneskeliv, hrsg. von C. C. Christensen und Holger Lassen, Bd. 1, Kebenhavn 1895, S. III—IV. 27 Gemeint ist die letztendlich erfolglose Nordpolexpedition Fridtjof Nansens 1893-1896.

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Jahrbuchfur Europäische Geschichte 5 (2004) vollzogen und vollzieht sich fast überall auf der Erde: Der Europäer führt neues Blut und neue geistige Möglichkeiten zu, so wie er auch selbst größtenteils der Rassenmischung seine Kraft schuldet. [...] Nur fern im Osten steht das Menschengewimmel Chinas Europa noch ganz ablehnend gegenüber".

Wie zu erwarten war, atmen diese Zeilen die für das späte 19. Jahrhundert charakteristische ungebremste Technikbegeisterung und das grenzenlose Vertrauen in die Überlegenheit der europäischen Zivilisation und Rasse. Dass die Überlegenheit der europäischen Rasse hier ausdrücklich aus Rassenmischung hergeleitet wird und sich also diese Variante der Rassenlehre vom späteren virulenten Rassismus des 20. Jahrhunderts unterscheidet, sei nur am Rande vermerkt. Was aber beim Vergleich mit den oben angeführten Beispielen aus den geographischen Handbüchern des 17. Jahrhunderts vor allem auffällt, ist, dass die Vorrangstellung Europas nicht länger mit der Dreifaltigkeit von Waffen, Wissenschaft und Politik umschrieben wird, sondern dem Monismus europäischer (technischer) Zivilisation gewichen ist. Die Ausblendung der militärischen sowie der politischen Komponente bei der Darstellung der europäischen Weltdominanz ist umso auffalliger, als die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts doch unübersehbar von dem weltumspannenden Erfolg europäischer Waffen und europäischen Organisationsvermögens in der Endphase des kolonialen Wettlaufs geprägt waren. Trotz aller Wissenschaftlichkeit, die das Werk im Übrigen prägt, scheint dieses populärwissenschaftliche Europabild in seinem Kern eher mythisch.

IV. Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg: Europa ist kein Thema Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs entstand in mehreren der kriegführenden Länder eine selbstkritische, oft auch antimoderne und geistig-elitäre Europabewegung, für die hier stellvertretend die Namen Paul Valéry und Aristide Briand genannt werden sollen28. Auf den ersten Blick gehörte auch Dänemark dazu, denn im Herbst 1918 erschien in Kopenhagen die erste Nummer einer neuen Zeitschrift parallel auf Dänisch, Det nye Europa. Internationalt Tidsskrift, und auf Deutsch, Das werdende Europa. Blätter för zukunftsfrohe Menschen. Der Herausgeber war ein gewisser Georg Nicolai zusammen mit namhaften Akademikern aus Dänemark (z. B. Georg Brandes, Bruder des oben erwähnten Edvard Brandes), Norwegen, Schweden und Österreich. Die Zeitschrift ging jedoch nach nur einer deutschen und zwei dänischen Nummern noch im selben Herbst ein, und ein Nachschlagen in der Deutschen Biographischen Enzyklopädie unter dem Namen des Herausgebers erklärt den 28

Jan IFVERSEN, Europe in Crisis - In Search of Europe after World War One, Aarhus 2001.

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ganzen Sachverhalt. Georg Nicolai (1874-1964) wir am Anfang des ersten Weltkriegs in Berlin als Militärarzt tätig, wurde aber wegen pazifistischer Propaganda an die Ostfront strafversetzt. Dort verfasste er 1916 Die Biologie des Krieges, das in viele Sprachen übersetzt wurde. 1918 entfloh er dem Militärdienst und ließ sich in Kopenhagen nieder, kehrte aber nach Kriegsende nach Berlin zurück. Die Zeitschrift ist also Ausdruck der Deutschland sehr kritisch beurteilenden Überzeugung eines entflohenen Pazifisten, dem der Senat der Berliner Universität übrigens später wegen Fahnenflucht die Lehrerlaubnis entzog. Nicolai emigrierte schließlich nach Argentinien und wurde Professor der Soziologie an der Rosario-Universität! Man darf diese Zeitschrift deshalb nicht als Zeugnis einer lebendigen skandinavischen EuropaBewegung beurteilen, sondern als Ausdruck der Solidarität der oben genannten liberalen Europäer mit einem ihnen sympathischen politischen Flüchtling. Einige Jahre später scheint die Europa-Diskussion in Dänemark doch noch Fuß gefasst zu haben, denn 1924 erschien Et nyt Europa. Om Middel og Vej til Samarbejde og politisk Fred i vor Verdensdel. Et Diskussionsgrundlag (Ein neues Europa. Über Mittel und Wege zu Zusammenarbeit und politischem Frieden in unserem Weltteil. Eine Diskussionsgrundlage) des Augenarztes C. F. Heerfordt. Zwei Jahre später kam ein zweiter Band mit einem noch umständlicheren Titel heraus: Et nyt Europa II. Et skandinavisk Forslag om snarlig Oprettelse af de europœiske Nationers forenede Stater som Led af Nationernes Forbund med et Udkast til Indhold og Form for en saadan Sammenslutning. En Redegerelse (Ein neues Europa II. Ein skandinavischer Vorschlag zur baldigen Errichtung der vereinigten Staaten der europäischen Nationen als Glied des Völkerbundes mit einem Entwurf zu Inhalt und Form einer solchen Einigung. Ein Bericht). Beide Bände erschienen in deutscher29, englischer und französischer Übersetzung, und Heerfordt machte zahlreiche Reisen nach England, Deutschland, Frankreich, Polen, in die Tschechoslowakei und die Niederlande, um für sein Projekt Werbung zu machen 30 . Überall versuchte er mit Staatsmännern und Parlamentariern in Kontakt zu treten, schickte ihnen seine Bücher und sonstigen Schriften, und es gelang ihm tatsächlich, bei Aristide Briand eine kurze Audienz zu bekommen. Heerfordts Projekt war ganz einfach Europa Communis, die Vereinigten Staaten Europas. Er plante einen Staatenbund, in dem alle Mitglieder auf die Möglichkeit, gegeneinander Krieg zu fuhren, verzichten sollten. Der Antrieb Heerfordts war ein doppeltter: erstens die Erfahrung des Ersten Weltkriegs und zweitens die Ohnmacht des Völkerbunds. Deshalb dachte er sich seinen Staatenbund mit gemeinsamen Streitkräften, gemeinsamer Währung, gemein29

Ein neues Europa, 2 Bde., Stuttgart/Berlin/Leipzig 1 9 2 6 - 1 9 2 7 . Die folgenden Ausführungen stützen sich auf das umfangreiche Privatarchiv Heerfordts, das sich im dänischen Reichsarchiv befindet: Rigsarkivet, privatarkiv nr. 6774, C.F. Heerfordts privatarkiv.

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samem Gericht und gemeinsam geregeltem Verkehr und Kommunikation. Alle Zollschranken sollten fallen, und ein aus den Parlamenten der einzelnen Mitglieder rekrutiertes gemeinsames Parlament und Präsidium sollte auf europäischer Ebene die gesetzgebende und ausfuhrende Gewalt ausüben. Auf den Einwand, diese Konstruktion sei unvereinbar mit dem Nationsprinzip, antwortete Heerfordt, dass sich das nationale Leben erst dann wirklich frei entfalten könne, wenn es von der Furcht vor Gewalt befreit sei. Diese Gedanken waren freilich weder neu noch originell - im Gegensatz zu Heerfordts Plan für deren Verwirklichung. Er meinte, der Weg zur Europa Communis sei nicht stufenweise zu gehen, sondern müsse in einem Schritt vollzogen werden, und er traute keiner einzelnen Gruppe von Ländern oder Parteien das Vermögen zu, diesen Schritt zu wagen. Diese Aufgabe, so Heerfordt, sei am besten von einer internationalen, privaten Bewegung wahrzunehmen, zu deren Gründung er mittels seiner Bücher und Reisen aufrief. Als alter Skandinavist meinte er, diese Bewegung könnte am besten von Norden, wo schon so viele Gemeinsamkeiten und Erfahrungen der Zusammenarbeit bestünden, ausgehen. Obwohl einige namenhafte dänische Intellektuelle, der Anglist und Phonetiker Otto Jespersen, der Romanist und Grammatiker Kristoffer Nyrop und der umstrittene Schriftsteller Karl Larsen, das Projekt empfahlen, waren die Bücher ein Paukenschlag ohne Widerhall, denn die von Heerfordt befürwortete Bewegung wurde nie mehr als ein Einmannunternehmen. Auch in der Tagespresse und in den maßgeblichen Zeitschriften sucht man vergebens nach einem Echo 31 . Bei dänischen und ausländischen Politikern wiederholte sich vielmehr das Muster des anfanglichen Interesses, der darauf folgenden höflichen Ablehnung und des schließlichen Ignorierens. Dennoch trieb Heerfordt bis zum Krieg mit großem Aufwand und erstaunlicher Energie seinen einsamen Feldzug voran und fühlte sich sogar von Briand hintergangen, als dieser 1929 den Plan einer europäischen Union innerhalb des Völkerbunds vorschlug! Das Schicksal Heerfordts ist damit ein Beispiel dafür, dass auch ein mit größter Energie und erheblichem Aufwand durchgeführter Anlauf in Dänemark kaum Erfolg erzielen konnte. Oder noch schlimmer: Dass in Dänemark nur ein unverbesserlicher Sonderling sich ein solches Projekt zu Eigen machen konnte. Es sei auch daraufhingewiesen, dass der tatsächliche, schrittweise Weg zur europäischen Union (staatliche Akteure, stufenweiser Ausbau, Bedeutung von etablierten Parteien und politischen Führern) den Vorstellungen Heerfordts Punkt für Punkt widersprach. Diesem Befund entspricht auch, dass keines der großen Europa-Manifeste der Zwischenkriegszeit in dänischer Übersetzung erschien, weder Richard 31 Ζ. B. sind in Fredsbladet (Das Friedensblatt), der Zeitschrift der dänischen Friedensbewegung, Heerfordts Bücher nicht rezensiert worden, während Coudenhove-Kalergis Paneuropa, das nicht auf Dänisch erschien, mehrfach erwähnt wird: Fredsbladet (1926), S. 38, 50 f.

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Coudenhove-Kalergis Paneuropa (1923) noch Hermann Keyserlings Das Spektrum Europas (1928) oder Georges Duhamels Entretien sur l'esprit européen (1928). Von Georges Duhamel erschien zwar 1931 eine dänische Übersetzung seiner Scènes de la vie future unter dem Titel Red dig Europa. Scener af Fremtidens Liv (Rette Dich Europa. Szenen aus dem Leben der Zukunft), aber in diesem halb polemischen, halb belletristischen Werk geht es dem Autor eher darum, die europäische Kultur vor der Verflachung drohender Amerikanisierung (Jazz, Materialismus, maßlose Technikbegeisterung) zu retten als positive Leitbilder zu entwerfen. Europa scheint in der dänischen Öffentlichkeit ganz einfach kein Thema gewesen zu sein. Wenn man nach den Ursachen für die fehlende dänische Europadiskussion in der Zwischenkriegszeit fragt, ist es nahe liegend, sie in der dänischen Erfahrung des Ersten Weltkriegs zu suchen. Damals hatte Dänemark mit Erfolg die strikte Neutralität beansprucht und an dem Verkauf von Lebensmitteln an Deutschland gut verdient. Nach dem Krieg war sogar der dänisch-sprachige Teil Nordschleswigs nach einer Volksabstimmung an Dänemark gekommen, gleichsam als Bestätigung seiner Politik. Die eindeutige Lehre schien zu sein: Lass nur die da unten in Europa sich gegenseitig windelweich prügeln, wir sind zu klein, um mitzumachen, und es gereicht viel eher zu unserem Vorteil, still zu sitzen. Diese halb defätistische, halb opportunistische Haltung, die zudem für den Staatshaushalt günstig war, prägte die dänische Politik bis in den Zweiten Weltkrieg, wo das Verhältnis zur deutschen Besatzungsmacht eher im Zeichen der Anpassung als des Widerstands stand. So dauerte es z. B. nur zwei Wochen, bis der umfangreiche Agrarexport nach England auf Deutschland umgestellt war, und in den letzten Kriegsjahren deckten dänische Bauern 10 Prozent des gesamten deutschen Bedarfs an Agrarprodukten. Dass Dänemark 1945 dennoch auf der Seite der Alliierten verortet wurde, darf als eine Spitzenleistung der PR-Arbeit der kleinen Widerstandsbewegung und des Geschicks der Politiker gelten. Auf die Versuche der NS-Propaganda, das Dritte Reich als den wahren Verteidiger Europas zu stilisieren, braucht hier nicht näher eingegangen werden, da sie die dänische Europadiskussion weder in der einen noch der anderen Richtung nachhaltig geprägt hat 32 .

V. Nach dem Zweiten Weltkrieg: Die europäische Vernunftehe Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kann man von einer dänischen Europadiskussion im eigentlichen Sinn reden, und das nicht einmal wie sonst in Süd32

Ein paar typische Titel: Det heroiske Europa. Soldaterberetninger fra 0stfronten, hrsg. von Hans Bähr, o. O. [1943]; Det nye Europa. Tidsskrift for dansk Nyorientering, 1-2. Jahrgang, 1940-1942.

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und Mitteleuropa als unmittelbare Reaktion auf die Greuel des Krieges und als Utopie für den Frieden. Als sich 1944 in Genf in der neutralen Schweiz Vertreter der Widerstandsbewegungen aus den europäischen Ländern versammelten, um die gemeinsame Zukunft zu planen, sprach sich der italienische Kommunist Altiero Spinelli fur die Errichtung überstaatlicher Organe und eines europäischen Parlaments aus. Alle Teilnehmer stimmten diesem Gedanken zu, nur die Vertreter Dänemarks und Norwegens waren dagegen 33 . Trotz des fur Dänemark überaus günstigen Kriegsausgangs war es aber nach 1945 allen klar, dass die Zeit der lukrativen Neutralität jedenfalls für ein kleines Land wie Dänemark endgültig vorbei war. Die Gedanken der dänischen Regierung und vor allem der dominierenden sozialdemokratischen Partei gingen aber in erster Linie in die Richtung eines nordischen Verteidigungsbundes und einer nordischen Zollunion34. Erst als der nordische Verteidigungsbund an den zu verschiedenen Interessen Schwedens und Norwegens scheiterte und der kalte Krieg nach dem kommunistischen Staatsstreich in der Tschechoslowakei 1948 schon eine unübersehbare Realität war, zog man die logische Konsequenz und trat 1949 dem Atlantikpakt bei, im Grunde aber als Akt der Resignation. Schon 1947 hatte man nach bisher aussichtslosen Verhandlungen um eine nordische Zollunion das Angebot der finanziellen Hilfe des Marshall-Plans angenommen. Auch der Beitritt zum Europarat 1949 gehört wesentlich in diesen Zusammenhang und muss eher als ein Bekenntnis zur westlichen, parlamentarischen Demokratie denn als Vorstufe zur späteren EGMitgliedschaft verstanden werden. Denn für die dänischen Sozialdemokraten wie auch für die Sozialdemokraten Norwegens, Schwedens und Englands war der Europa-Gedanke durch die Makel der drei K's (Kapitalismus, Konservatismus, Katholizismus) kompromittiert. Daraus erklärt sich auch, warum bis in die letzten Jahre der Widerstand gegen die EG/EUin Dänemark hauptsächlich in der politischen Mitte und auf dem linken Flügel beheimatet war. Erst mit der Entstehung der rechten, populistischen Fremskridtspartiet (Fortschrittspartei) 1973 und seit der Abspaltung der Dansk Folkeparti (Dänische Volkspartei) von dieser (1995) haben die EG/EU-Gegner ihre wirkliche politische Heimat auf dem rechten Flügel gefunden. Wie überall in Europa, gab es im Anschluss an die berühmte Rede Churchills im September 1946 in Zürich und den Europa-Kongress in Den Haag im Mai 1948 jedoch auch in Dänemark seit 1948 eine Europa-Bewegung. Die Geschichte dieser Bewegung ist für die dänische Europadiskussion sehr aufschlussreich35. Zum Ersten zählte die dänische Europa-Bewegung bis in die 33 Vibeke S0RENSEN, Fra Marshallplan til de store markedsdannelser, 1945-59, in: Danmark i Europa 1945-93, hrsg. von Tom Swienty, Kebenhavn 1994, S. 9 - 9 1 , hier: S. 11. 34 Holger VILLUMSEN, Det danske Socialdemokratis Europapolitik 1945-1949, Odense 1991; Johnny Nergaard LAURSEN/Thorsten Borring OLSEN, Et Nordisk Alternativ til Europa, Arhus 1999. 35 Europa. Idé - bevasgelse - fsellesskab. Europabevaegelsen og det europasiske samarbejde

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70er Jahre keinen wirklich prominenten dänischen Politiker zu ihren führenden Mitgliedern, was die Tatsache widerspiegelt, dass die dänische sozialdemokratische Partei in der Europafrage tief gespalten war. Es wäre politischer Selbstmord gewesen, hier klare Stellung zu beziehen. Der Gründer und zweite Vorsitzende der dänischen Europa-Bewegung in den Jahren 19491964 war der Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer Frode Jakobsen, der sein Leben lang in seiner Partei und in der dänischen Öffentlichkeit ein Außenseiter blieb. Darüber hinaus änderte Jakobsen in den 60er Jahren seine Einstellung und zählte 1972, als über die dänische EG-Mitgliedschaft abgestimmt wurde, zu den Gegnern36. Sein Nachfolger wurde der ebenfalls hoch profilierte, aber keineswegs eine Schlüsselposition einnehmende oder typische Sozialdemokrat und Mitglied des Europarats Erhard Jakobsen (Vorsitzender 1964-1974), der im Übrigen der Europabewegung nur einen recht geringen Teil seines politischen Engagements widmete. Die Zwiespältigkeit des politischen Establishments in der Europafrage äußerte sich zum Zweiten auch in der Person des Generalsekretärs der dänischen Europabewegung Anker Nielsen, der seit Mitte der 50er Jahre bis 1980 die Bewegimg maßgeblich und auch gegen die Wünsche vieler Mitglieder prägte. Im stillschweigenden Einvernehmen mit den politischen Führern im Folketing sorgte er dafür, dass die dänische Europabewegung zu brisanten Fragen keine Stellung nahm und sich z. B. weder für noch gegen die dänische EG-Mitgliedschaft einsetzte. Vor diesem Hintergrund kann es keineswegs überraschen, dass drittens die dänische Europa-Bewegung an Größe und Durchschlagskraft eher begrenzt blieb. Von Anfang an findet man in den internen Publikationen der Bewegung wiederholte Klagen über das fehlende Europa-Wissen und Europa-Interesse der Dänen. Stellvertretend für viele Stoßseufzer soll folgender aus dem Jahr 1955 zitiert werden37: „Interessen for europasiske problemer er ikke overvasldende herhjemme. Hvis man standser folk pâ gaden og sperger dem om deres mening ora Europarâd, Kul- og Stâlunion og lignende, vil svaret i 99 à 100 tilfaelde blive en hovedrysten. Det interesser ikke".

i 50 âr, hrsg. von Torben Hansen, Kebenhavn 1999. Jakobsen behandelt in seinen allerdings nicht sehr aufschlussreichen Erinnerungen den Haager Kongress von 1948 und seinen Wechsel auf die Seite der Gegner, aber nicht seine Zeit als Vorsitzender der dänischen Europabewegung: Frode JAKOBSEN, Jeg vil vaere en fugl fer jeg dar, Kubenhavn 1979, S. 51-58, 242-253. 37 Europa-Nyt, 1955-1956, Heft 2, S. 1. Vgl. auch die folgende Äußerung Frode Jakobsens im Folketing: „Europabevaegelsen har ikke mange modstandere, i denne sal forhâbentlig ikke andre end kommunisterne, men ligegyldighed og vantro er en mur, som Europabevasgelsen leber sit hoved imod", in: Rigsdagstidende. Forhandlingerne i folketinget i den 104. ordentlige samling 1952-53, Kebenhavn 1953, Sp. 763. 36

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Jahrbuch fìir Europäische Geschichte 5 (2004) „Das Interesse für europäische Probleme ist bei uns nicht überwältigend. Wenn man die Leute auf der Straße anhält, um sie über ihre Meinung über Europarat, Kohle- und Stahlunion und dergleichen zu befragen, dann wird die Antwort in 99 von 100 Fällen ein Kopfschütteln sein. Es interessiert nicht".

Alle Argumente der Politik, der Sicherheit, der Ökonomie und der Kultur (die nicht umsonst an letzter Stelle genannt werden38) verhallten ungehört, und wie so oft scheint ein bekannter Schlager die dänische Einstellung auf den Punkt gebracht zu haben. Das Lied aus dem Jahr 1948, das man noch heute gelegentlich hört, heißt Den sidste Turisi i Europa (Der letzte Tourist in Europa). Die beiden ersten Strophen lauten so 39 : „Jeg er kommet for at mede Huropa og den gamie Verden, somengang var min. Jeg er kommet for at se, om det er sandhed, at den nu kun er en rygende ruin. Jeg var lsenge borte - alt for lange borte fra det fjerne kun jeg harte brag og skrig, jeg vil ikke tro, at alt nu er ruiner, kun en gold arena for den η aste krig. Jeg er den sidste turist i Europa, jeg tynges hverken af guld eller spleen, men jeg mâ se, jeg mà vide, om Europa overho'det kan leve efter kri'en. De, der fer rejste af lyst eller lede bli'r borte nu, de seiger andetsteds hen. Jeg er den sidste turist i Europa, jeg er kommet for at mede det igen. Og j e g S0ger i det bledende Europa efter det, jeg dremte om i mit eksil: Kunstens evige og farverige blomster og de stille lardes gammelkloge smil. I en gyldenkuplet kirke i Warszawa, vil jeg tsende lampen under en ikon, og en aften vil j e g vandre i Venedig for at mede Tizian ved Rialtobroen. Jeg er den sidste turist i Europa. Og som en hvileles flakker jeg o m jeg vil til Wien for at modes med Mozart, jeg vil kasle for Rafael i Rom. Jeg vil til London - til Stratford on Avon, jeg vil se Antwerpen, Brughes og Bruxelles, og som den sidste turist i Europa se Paris i solnedgang fra Tour d'Eiffel".

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Frode JAKOBSEN, Europabevaegelse og Europarâd, Kebenhavn 1950. Hier zitiert nach Lystige viser, hrsg. von Else Larsen und B o Bramsen, Bd. 5, Kebenhavn 1979, S. 5 0 - 5 2 .

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„Ich bin gekommen, um Europa und die alte Welt, die einmal die meine war, zu treffen. Ich bin gekommen, um zu sehen, ob es wahr ist, dass es nur eine rauchende Ruine ist. Ich war lange weg - viel zu lange weg. Aus der Ferne hörte ich nur Geknalle und Geschrei, ich möchte nicht glauben, dass alles jetzt in Trümmern liegt, nur eine unfruchtbare Arena fur den nächsten Krieg ist. Ich bin der letzte Tourist in Europa, mich bedrückt weder Gold noch Weltschmerz, aber ich muss sehen, ich muss wissen, ob Europa überhaupt leben kann nach dem Krieg. Diejenigen, die früher aus Lust oder Ekel reisten, bleiben jetzt fern, die fahren anderswo hin. Ich bin der letzte Tourist in Europa, ich bin gekommen, um es wieder zu treffen. Und ich suche im blutenden Europa nach dem, wovon ich in meinem Exil geträumt habe: die ewigen und bunten Blüten der Kunst und das leise, altkluge Lächeln der Gelehrten. In einer Kirche mit goldenen Kuppeln in Warschau möchte ich eine Kerze unter einer Ikone anzünden, und eines Abends möchte ich in Venedig wandeln, um Tizian bei der Rialtobrücke zu treffen. Ich bin der letzte Tourist in Europa. Und wie ein Ruheloser irre ich herum ich möchte nach Wien, um Mozart zu treffen, ich möchte in Rom Rafael hätscheln. Ich möchte nach London - nach Stratford-on-Avon, ich möchte Antwerpen, Brügge und Brüssel sehen, und als der letzte Tourist in Europa den Sonnenuntergang vom Eiffelturm sehen".

Dieser Schlager stellt ein kulturelles Europa dar, kein politisches Europa, ein Europa zum Genießen, nicht zum Mitmachen. Europa liegt da draußen, aber das Ich des Liedes, der Tourist, ist anderswo zu Hause. Dieses Europa ist zwar schön, aber völlig unverbindlich und existiert auch ohne Kohle- und Stahlunion, ohne EG und erst recht ohne EU. Aber am 2. Oktober 1972 stimmten die Dänen mit 63 zu 37 Prozent für Europa und traten der EG bei 40 . Was war geschehen? Waren die Dänen endlich aus ihrem Schlummer erwacht und hatten ihre europäische Identität entdeckt? Keineswegs. Die EG-Mitgliedschaft war keine Liebesheirat, sondern eine reine Vernunftehe um des Geldes, des Exports und der Beschäftigung willen. Die Diskussion um die Mitgliedschaft wurde als eine wirtschaftliche 40

Zu diesem Thema generell: Danmark i Europa (Anm. 33) und The Odd Man Out? Danmark og den Europa:iske integration 1948-1992, hrsg. von Birgit Nüchel Thomsen, Odense 1993.

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Debatte geführt 41 . Mit anderen Worten: Lohnt es sich für uns, für die Landwirtschaft, für die Industrie? Wie viele Arbeitslose wird uns ein Nein kosten? Wie viel teurer wird der Kaffee? Die Politiker und die wirtschaftlichen Führer, die die EG-Mitgliedschaft wünschten, hatten das absichtlich so geplant, denn sie wussten, dass die Dänen, wenn überhaupt, aus fünktionalistischen Gründen und nicht aus föderalistischer Überzeugung EG-Anhänger waren. Für die meisten Dänen war der Gedanke einer politischen Union ganz einfach kein Ideal, sondern ein Alptraum. Die EG, besonders in ihren föderalistischen Perspektiven, wurde als eine Bedrohung nicht nur der Eigenstaatlichkeit, sondern auch der nationalen Identität empfunden. Mit anderen Worten: Die EG ließ sich nur als bloßer gemeinsamer Markt unter Verdrängung der politischen und sozialen Dimension verkaufen. Deshalb passte die relative Stagnation in der Entwicklung zur Union in den 70er Jahren auch der dänischen Öffentlichkeit und den dänischen Politikern außerordentlich gut 42 . Noch 1986 meinte der konservative Staatsminister Poul Schlüter der Sache der EG am besten zu dienen, indem er in der Schlussdebatte im Fernsehen am Tage vor der Abstimmung über den europäischen Binnenmarkt am 27. Februar 1986 erklärte: „Unionen er stended, nâr vi stemmer ja pâ torsdag" („Die [europäische] Union ist mausetot, wenn wir Donnerstag mit Ja stimmen"). Erst die Wende und die Aussicht auf eine ganze Reihe neuer osteuropäischer EU-Mitglieder haben die EU-Debatte in andere Bahnen gelenkt und den dänischen Politikern die Möglichkeit gegeben, sich auf einer neuen Grundlage für eine wirkliche politische Integration auszusprechen. Bis zu diesem Zeitpunkt galt nämlich, dass nur eine winzige Minderheit der EU-Befürworter echte Föderalisten waren, während die überwältigende Mehrheit Funktionalisten waren, die eher auf die praktische, vor allem wirtschaftliche Zusammenarbeit ausgerichtet waren43. Die Hypothek der EG-Abstimmung 1972 lastet dennoch bis heute auf der dänischen Europa-Diskussion. Die EG/EU-Anhänger haben mit wenigen Ausnahmen stets mit wirtschaftlichen, rationalen Gründen argumentiert, während die EG/EU-Gegner auf nationale, emotionale Argumente zurückgreifen konnten 44 . In vielen Kreisen hat sich das ungute Gefühl entwickelt, dass die Politiker und die Experten das Volk wider besseres Wissen auf die EU-Rutschbahn 41

Karen SIUNE, E F pâ dagsordenen, Arhus 1991; Steffen HEIBERG, Det begyndte med en legn, in: Politiken, 2. Sektion, vom 2. Oktober 2002; vgl. auch Ole BJEM KRAFT, Danmark skifter kurs. En konservativ Politikers erindringer 1947-50, Kebenhavn 1975, S. 76 f. Sucht man ζ. B. die EG-Debatte von 1972 in den Zeitungen, findet man sie regelmäßig im Wirtschaftsteil, wie das ζ. B. in der jährlichen Bibliographie Aviskronik-Index sichtbar wird. 42 Mögen RÜDIGER, Stagnation, 1973-79, in: Danmark i Europa (Anm. 33), S. 161-193. 43 N i k o l a j PETERSEN, Vejen til den europasiske Union 1980-93, in: Danmark i Europa ( A n m . 33), S. 1 9 5 - 2 7 1 . 44

Vgl. Katrine Haid KJELDSEN, Skenjomfruen og helvedsmaskinen, in: Historie 2001,

S. 5 4 - 7 6 .

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gelockt haben. Was das bedeutet, konnte man bei der Euro-Abstimmung 2000 sehen. Als es den EU-Gegnern gelang, die Debatte von der rationalen Ebene der Wirtschaft auf die emotionale Ebene des Nationalen zu verlagern, stand das Nein fest. Da die Stimmen sich zudem so verteilten, dass der geringer verdienende, schlechter ausgebildete, sozial schwächere Teil der Bevölkerung mit Nein stimmte, während die politische, wirtschaftliche und kulturelle Elite für den Euro war, war das für die dänische Demokratie ganz und gar kein schönes Erlebnis.

VI. Schluss Wie angedeutet, gibt es in den allerletzen Jahren Anzeichen dafür, dass die dänische Europadiskussion neue Wege geht. Die 1995 gegründete populistische, ausländerfeindliche Dänische Volkspartei ist zur Partei der EU-Gegner par excellence aufgestiegen, während auf dem linken Flügel der Widerstand gegen die EU bröckelt. In der früher prinzipienfesten Gegnerpartei SF (Sozialistische Volkspartei) gibt es jetzt einen EU-freundlichen Flügel, was im Grunde wohl auch dem traditionellen Internationalismus der Linken besser entspricht als der explizite oder implizite Isolationismus und Nationalismus der EU-Gegner45. Die Jahre 1992-93 sind in diesem Zusammenhang entscheidend gewesen. Mit dem Nein zum Maastricht-Vertrag bereitete die Bevölkerung nicht nur dem dänischen politischen Establishment eine böse Überraschung, sondern versetzte dem gesamten Unionsprozess einen Schock. Als Reaktion auf das Ergebnis der Abstimmung schlossen die konservativen Regierungsparteien einen sogenannten nationalen Kompromiss mit den Parteien der Mitte und der gemäßigten Linken (Sozialdemokraten und Sozialistischen Volkspartei), der dann in den vier dänischen Vorbehalten (bezüglich gemeinsamer Währung, gemeinsamem Militär, gesetzlicher Zusammenarbeit und Unionsbürgerschaft) des Edinburgh-Abkommens kodifiziert wurde. 1993 stimmten die Dänen dann dem Edinburgh-Abkommen zu. Das Nein zum Vertrag von Maastricht am 2. Juni 1992 war für die dänischen EU-Gegner und vor allem für die dominierende Gegenbewegung Folkebevcegelsen mod EF (Volksbewegung gegen die EG) ein riesiger Erfolg gewesen, und der nationale Kompromiss und das Ja zum Edinburgh-Abkommen wurde eine entsprechend große Enttäuschung. Als Reaktion spaltete sich die Folkebevcegelsen mod EF, und es bildete sich die JuniBevcegelsen (die Juni-Bewegung, eine Anspielung auf die Maastricht-Abstimmung 1992). Letztere hat den Austritt aus der EU als Nahziel aufgegeben und bemüht sich eher um eine kriti-

45

Einen aktuellen Überblick über die Einstellungen der dänischen Parteien findet man in Ib GARODKIN, Hândbog i dansk politik 2001, Kabenhavn 2000, S. 321-345.

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sehe, aber konstruktive Opposition46. Ein anderer Flügel der EU-Gegner hat sich allerdings den Antiglobalisten und ihren gewalttätigen Aktionsformen genähert. Ein vielleicht noch untrüglicheres Anzeichen einer tief greifenden Änderung in der dänischen Europadiskussion findet sich aber auf einer etwas anderen Ebene. In den letzten zehn Jahren haben es dänische meinungsbildende Intellektuelle außerhalb des Kreises der Berufspolitiker zum ersten Mal als ihre Aufgabe empfunden, über die grundsätzlichen Fragen der europäischen Identität und der EU ernsthaft und breit angelegt zu reflektieren und darüber Bücher zu schreiben mit Titeln wie Det evindelige forbehold (Der beständige Vorbehalt) Europa. Identitet og identitetspolitik (Europa, identität und Identitätspolitik), Europas sjcel (Die Seele Europas) und Europas ansigter (Die Gesichter Europas)47. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass es seit 1999 an der Universität Ârhus, aber erst seit 2003 an der Universität Kopenhagen die Möglichkeit gibt, das Fach Europa-Studien zu belegen 48 . Vielleicht sind die Dänen allmählich - manche würden vielleicht sogar sagen: endlich - in einem europäischen Aufwachen begriffen und haben angefangen, sich ernsthaft für Europa zu interessieren.

Summary Until the mid-19th century the concept of Europe as used in Danish literature was primarily geographical and secular, not religious. It denoted the military, scientific and political superiority of Europe in relation to the other parts of the world. Secondarily Europe was seen as a theatre of intense international rivalry with glimpses of (utopian) peace. Then, from the 1850s "European" in two stages also became a negatively connotated word: first when the Great Powers opposed the Danish plans to incorporate the duchy of Slesvic into the kingdom of Denmark proper, crushing Danish national aspirations. Secondly when a pacifist, atheistic splinter group of the liberal Venstre party were 46

Zu Ideologie und Selbstverständnis der EU-Gegner und besonders der JuniBevœgelse: Et navn forbundet med kampen mod EU. Festskrift til Jens-Peter Bonde, hrsg. von Ole Krarup [u. a.], Allingâbro 1998. Ein Beispiel für konstruktiv gemeinte Kritik ist: JensPeter BONDE, EU hvorhen? Union eller forbundsstat, Valby 1995. 47 Johannes SL0K, Europas sjael, Kebenhavn 1994; Uffe 0STERGARD, Europas ansigter, Kebenhavn 1992; Uffe 0STERGARD, Europa. Identitet og identitetspolitik, Kabenhavn 1998; Niels H0JLUND, Det evindelige forbehold, Kebenhavn 2000. 48 Als zweijähriger Master-Studiengang. Der Beginn dieses Studiums war in Kopenhagen ursprünglich für 2002 geplant, musste aber wegen mangelnden Zuspruchs um ein Jahr verschoben werden.

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stigmatized as "Europeans". During the interwar years the Danish public proved totally uninterested in ideas of European unification. This changed only slowly after World War II under the impression of the Cold War. Denmark joined the Common Market in 1972-3 on purely economic grounds. The "idea of Europe" has to this day only few ardent adherents. The last ten years have witnessed a growing interest in the history, the present character and the future of Europe and the EU. Maybe the Danes are on the way to become if not wholehearted, then at least conscious, informed, if still rather sceptical Europeans.

„Unser Europa" Russen über Europa und Russlands Platz in ihm (1697-1920)* Von

Sergey

Glebov

Zwei Ereignisse - die Auflösung der Sowjetunion und die Expansion der EU - haben die Aufmerksamkeit wieder verstärkt auf die alte Frage der Grenzen Europas gelenkt und die Erforschung der Geschichte der Europa-Idee wiederbelebt1. Zur gleichen Zeit haben neue Entwicklungen in der kultur- und geistesgeschichtlichen Forschung die „uranfänglichen" Wahrnehmungen der kontinentalen Idee in Frage gestellt und so unser Verständnis jener Prozesse vertieft, durch die in den vergangenen drei Jahrhunderten die europäische Identität und die Konturen des europäischen „Kontinents" und seiner „Zivilisation" sowohl in Westeuropa als auch andernorts gebildet worden sind. Diese neuen Entwicklungen haben auch eine spannende Übertragung von Einsichten der Post-Kolonialismus-Studien in die Osteuropa-Forschung nach sich gezogen, insbesondere von Edward Saids einflussreichem OrientalismusKonzept, was ein neues Licht auf den Beginn der Spaltung in Ost und West im Europa der Aufklärungszeit geworfen hat2. Diese Teilung wurde in der * Ich möchte Professor Seymor Becker von der Rutgers University danken, dessen Überlegungen über russische Vorstellungen von Europa sehr hilfreich gewesen sind, und Alexander Semyonov, dessen Anregungen wie immer nützlich gewesen sind. Alle Fehler werden von mir verantwortet. 1 An für Russland relevanter Literatur zu diesem Thema ist zu nennen Iver B. NEUMANN, Russia and the Idea of Europe: a Study in Identity and International Relations, London/New York 1996; Michael HEFFERNAN, The Meaning of Europe: Geography and Geopolitics, London/New York 1998; Mark BASSIN, Russia between Europe and Asia: The Ideological Construction of Geographical Space, in: Slavic Review 50 (1991), Nr. 1, S. 1-17; W. H. PARKER, Europe: How far?, in: Geographical Journal 126 (1960), S. 278-297; D . J . B . SHAW, Geopolitics, History and Russian National Identity, in: Geography and Transition in the Post-Soviet Republics, hrsg. von M. J. Bradshaw, Chichester 1997, S. 3 1 - 4 1 . 2 Edward SAID, Orientalism, New York 1978. Vgl. auch Orientalism: 20 years on, in: American Historical Review 105 (2000), Nr. 4, S. 1204-1249; Larry WOLFF, Inventing Eastern Europe: the Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford, Calif. 1994. Methodologisch wichtige Arbeiten zur Konstruktion des „Balkans" sind Maria TODOROV A, Imaging the Balkans, Oxford/New York 1997; Milica BAKIC-HAYDEN/Robert HAYDEN, Orientalist Variations on the theme „Balkans" in Symbolic Geography, in Recent Yugoslav Cultural Politics, in: Slavic Review 51 (1992), S. 1-15. Die Auswirkungen symbolischer Geographie im Kontext der Transformationen nach 1989 werden untersucht von Sorin ANTOHI, Habits of the Mind: Europe's Post-1989 Symbolic Geographies, in:

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geistigen Landkarte der modernen Zivilisation Europas verankert und diente gleichzeitig dazu, die Osteuropäer zu orientalisieren und eine kohärente „westliche" Identität zu erhalten. Larry Wolff, dessen bahnbrechendes Buch die Diskussion über „Osteuropa" in Gang setzte, bemerkte, dass es seine Aufgabe sei, die westeuropäische Perspektive zu illustrieren; er regte an, dass zukünftige Forschung jene Diskurse untersuchen sollte, die im Zuge der Verinnerlichung und Auseinandersetzung mit der westeuropäischen Projektion in Osteuropa selbst entstanden sind. Auch wenn ich mit diesem Aufsatz nicht das ehrgeizige Ziel verfolge, Wolffs Anregung im vollen Umfang aufzugreifen, sehe ich ihn als Versuch, einen knappen Überblick über ausgewählte Europabilder, die von Intellektuellen im modernen Russland entwickelt worden sind, zu geben und sie im Kontext der russischen Geschichte der Neuzeit zu verorten. Es würde eine umfangreiche Monographie erfordern, um russische Wahrnehmungen Europas zumindest einigermaßen detailliert zu fassen. Über die russische Ablehnung „Europas" ist viel geschrieben worden; scheinbar ist es sinnvoller, jene Bilder Europas als einer Zivilisation bzw. einer kulturellen oder politischen Gemeinschaft zu untersuchen, die in Wirklichkeit die russische intellektuelle Szene dominierten und verschiedenen Strategien von Intellektuellen entgegenkamen. In diesem Aufsatz werde ich mich auf vier bedeutende Europabilder konzentrieren, die meiner Meinung nach deutlich widerspiegeln, wie sich die Sichtweisen gebildeter Russen entwickelten. Zunächst werde ich die Eindrücke Petr Andreevich Tolstoys diskutieren, eines russischen Adligen, der auf Befehl Peters des Großen verschiedene europäische Länder besuchte. Als zweites werde ich die Entwicklung Nikolai Mikhalovich Karamzins von einem begeisterten Verfechter europäischer Gemeinschaft zu einem konservativen Verteidiger der gesellschaftlichen und politischen Ordnung Russlands darstellen. Karamzins Meinungswandel bereitete den Boden für die Hinwendung zum Nationalprinzip als Basis für die russischen Wahrnehmungen Europas. Folgerichtig werden die Ideen Aleksandr Dmitrievich Gradovskys über das Nationalprinzip das dritte Fallbeispiel meiner Analyse bilden. Abschließend werde ich mich dem Europabild Nikolai Sergeevich Trubetskois zuwenden, bei dem erstmals in der russischen Geistesgeschichte Russland und Europa als vollkommen getrennte

Between Past and Future. The Revolutions of 1989 and Their Aftermath, hrsg. von Sorin Antohi, Budapest 2000, S. 61-79. Zur Diskussion über die Anwendbarkeit des Orientalismus-Konzepts auf die russische Geschichte vgl. Adeeb K.HALID, Russian History and the Debate over Orientalism; Nathaniel KNIGHT, On Russian Orientalism. A Response to Adeeb Khalid, in: Kritika 1 (2000), Nr. 4, S. 701-715. Eine Diskussion, die Perspektiven auf Russland sowohl als Objekt wie als Subjekt orientalisierender Praktiken bei der Modernisierung multinationaler Reiche berücksichtigt, findet sich in Ab Imperio 2002, Nr. 1, S. 239-367.

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Einheiten wahrgenommen wurden, wobei Europa als ein aggressiver und verschlagener Feind der Menschlichkeit erschien. Eine kurze Bemerkung zur Wahrnehmung von Russlands Stellung im neuzeitlichen Europa - in politischer, wirtschaftlicher, militärischer und kultureller Hinsicht - erscheint angebracht - war und ist man sich wahrscheinlich vielfach doch immer noch sowohl in Europa als auch in Russland über die einfache Frage der Identifikation uneinig: War Russland wirklich ein Teil Europas? Als das Moskowiter Zartum die Bühne der europäischen Großmachtpolitik betrat, nahm es eine ungewöhnliche Position ein. Da Russland der einzige orthodoxe Staat in der Alten Welt war, der eine Großmacht im neuzeitlichen Europa wurde, haben Russen häufig festgestellt, dass ihnen ein besonderer Weg von weltgeschichtlicher Bedeutung eigne. Da Russland bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ein ziemlicher Nachzügler in der kulturellen Entwicklung Europas war, wurde seine „Europäizität" sowohl von Westeuropäern als auch von Russen in Frage gestellt. Viele Beobachter, Westeuropäer wie Russen, erkannten, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland zum Teil erheblich von denen in westeuropäischen Ländern unterschieden, wie eng die Verbindungen russischer Eliten mit ihren westlichen Gegenstücken auch immer waren. Vielfach korrespondierte die russische Kritik an „europäischen" Ideen und Einflüssen mit der gemeineuropäischen Kritik von konservativer oder romantischer Seite an sozialen, politischen oder ökonomischen Veränderungen, wodurch sie zusätzliches Gewicht und Glaubwürdigkeit erhielt. Diese ambivalente Stellung Russlands zu „Europa" hat den wechselvollen Diskurs ermöglicht, der Russland in den vergangenen drei Jahrhunderten zwar als integralen Bestandteil „unseres Europa", zugleich aber als nationalen Sonderfall behandelte. In der Entwicklung dieses Diskurses wurde die Bedeutung von Europa der Funktion angepasst, die dieser Begriff in den politischen und kulturellen Strategien der Intellektuellen einnahm. Ursprünglich ein Symbol des russischen Fortschritts auf dem Weg aller zivilisierten Nationen (und damit der mächtigen globalen Akteure), begann er zunehmend als Kennzeichen fur die privilegierte Stellung des Adels im Russischen Reich zu dienen. Gleichzeitig lieferte „Europa" auch den Rahmen für politische und kulturelle Identitäten innerhalb des Russischen Reiches selbst und half, Bedeutungs- und Machthierarchien unter den vielen ethnischen, konfessionellen und sozialen Gruppierungen des Reichs festzulegen. Es spielte eine Rolle in den konservativen Diskursen, die nach den Napoleonischen Kriegen darauf abzielten, Russlands archaische soziale und politische Ordnung zu bewahren, und beeinflusste später die Wahrnehmungen der neuen Welt der Nationen. „Europa" war ein Symbol des Fortschritts für unterschiedliche politische Strömungen: Russische Liberale „orientalisierten" das autokratische Regime, während Marxisten dazu tendierten, die gesamte soziale und politische Ordnung Russlands

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zu „orientalisieren". Selbst das späte russische autokratische Regime war, obwohl es sich eifrig eines ultra-nationalistischen und nativistischen Symbolismus bediente, um seine schwindende Macht zu behaupten, nicht geneigt, die Idee aufzugeben, dass Russland ein europäischer Staat sei. Nach der Revolution von 1917 wurde ein Europabild möglich, das Kolonialismus und den Zusammenbruch von Russlands „europäischem" Projekt miteinander verband. Die russischen Auseinandersetzungen mit Europa waren im Wesentlichen ein Phänomen der Moderne. Vor dem Zeitalter Peters des Großen waren Russen an „Europa" nicht interessiert. Natürlich war das moskowitische Zartum des 16. Jahrhunderts nicht völlig von westeuropäischen Einflüssen abgeschnitten, und Platonov argumentierte sogar, dass der Einfluss von Ausländern, Polen und Schweden während der unruhigen Zeit der Wirren gegen Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts eine Phase der Verwestlichung Russlands darstelle 3 . Dennoch waren die Russen des 17. Jahrhunderts sich kaum eines „Europa" als eines umfassenden kulturellen und geographischen Konzepts bewusst und hegten sogar für ihre engsten Nachbarn und militärischen und wirtschaftlichen Gegenspieler nur geringes Interesse. Der flüchtige diplomatische Beamte Grigorii Kotoshikhin (16307-1667) bemerkte in seiner Beschreibung Russlands in der Zeit Zar Aleksei Mikhalovichs, dass russische Thronerben keine ausländische Sprache lernten (Kotoshikhin, ein ehemaliger d'iak des Posol'ski Prikaz, zählte insbesondere solche Sprachen auf, die nicht gelernt wurden, von denen er aber annahm, dass ihre Kenntnis nützlich gewesen wäre: Latein, Griechisch und Deutsch). Kotoshikhin deutete auch an, dass die Diplomaten des Zaren nicht ermutigt wurden, sich mit fremden Lebensweisen auseinanderzusetzen, wenn er berichtete, dass sie instruiert wurden, sogleich nach Moskau zurückzueilen, wenn ihre Mission im Ausland erfüllt war 4 . Gewiss brachte die geopolitische Expansion des moskowitischen Staats Territorien in seinen Machtbereich, die in stärkerem Maße in Kontakt mit Westeuropa gestanden hatten als Moskau. 1654 wurde die Ukraine östlich des Dnjepr dem moskowitischen Zartum einverleibt. Das Zarenreich schloss nunmehr ein slawisches Land ein, dessen orthodoxe Kirche sich selbst durch die katholische und protestantische Konkurrenz als akut bedroht empfunden hatte. Unter anderem diese bitteren Rivalitäten waren Hauptgründe für die Einrichtung der berühmten Kiewer Akademie, die mit dem Namen von Petr Mohyla, dem Metropoliten von Kiew, verbunden ist 5 . Die Akademie, eine 3

Sergej Fedorovic PLATONOV, Moskva i Zapad [Moskau und der Westen], Leningrad 1926. Man muss allerdings bedenken, dass Kotoshikhin ein Flüchtling war und dass seine Wertungen möglicherweise von seinen persönlichen Erfahrungen beeinflusst worden sind. Grigorii KOTOSHIKHIN, O Rossii ν Tsarstvovanie Alekseia Mikhailovicha [Russland während der Regierung des Zaren Alexei Mikhalovich], hrsg. von Galina Leontieva, Moskva 2000 [russische Erstausgabe 1841], S. 39, 73. 5 Liudmila SHARIPOVA, The Man of Many Worlds: Petr Mogila, Reformer and Opportunist,

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der wenigen orthodoxen Bildungsinstitutionen, die das klassische Curriculum unterrichteten, brachte mehrere hervorragende Kirchenmänner hervor, die Peters Reformen wichtige geistige Anstöße geben sollten6. Somit bereiteten gegen Ende des 17. Jahrhunderts interne Zusammenstöße, die ihren Ursprung hatten in ausländischen Interventionen, in der geopolitischen Expansion und der Einverleibung von Territorien, die westlichen Einflüssen stärker ausgesetzt waren als Moskau, viele Russen darauf vor, die kulturellen Neuerungen von Peters Reformen zu akzeptieren, Neuerungen, die in einer Atmosphäre verstärkter Großmachtrivalitäten so dringend erforderlich waren. Das 18. Jahrhundert war für Russland das Schwellenjahrhundert, insofern als in dieser Zeit die russischen Eliten völlig europäisiert wurden und begannen, sich selbst als Teil der Welt der „zivilisierten europäischen Völker" zu fühlen 7 . Sie stellten Russlands Zugehörigkeit zu Europa noch nicht in Frage, und die Ideologie der Aufklärung hieß den Neuling, der den Triumph der Vernunft über Rückständigkeit, Aberglauben und Fremdenfeindlichkeit zu verkörpern schien, nach außen hin willkommen8. In den Jahrzehnten nach Peters Regierung gewöhnte sich der russische Adel allmählich an europäische Philosophie, Literatur und Kunst, während der russische Staat in die politischen Allianzen und Intrigen Europas einbezogen wurde so bescheiden und wenig inspirierend die ersten Eindrücke der Russen von Europa gewesen sein mögen9. Ganz am Ende des 17. Jahrhunderts wurde im Zuge von Peters Bemühungen zur Modernisierung Russlands eine Reihe von Adligen in europäische Länder geschickt, einige als Studenten der Wissenschaften und Künste, einige als Anwerber und Diplomaten und einige - erstmals in der Geschichte Russlands - als private Besucher, die zum Vergnügen und zur Information reisten. Diese Reisenden trafen bemerkenswert wenige allgemeine Feststellungen über das, was sie in fernen Ländern sahen. Tatsächlich zeichneten die meisten von ihnen minutiös die Details ihrer Unterbringung und Verpflegung in: Ab Imperio 2000, Nr. 1, S. 53-74 Von diesen ist insbesondere Feofan Prokopovich zu nennen, dessen intellektuelle und organisatorische Bemühungen eine wichtige Rolle bei der Modernisierung des geistigen Lebens in Russland spielten. Zur Bedeutung dieser Einflüsse fur Peters Reformen vgl. Max Joseph OKENFUSS, The Jesuit origins of Petrine education, in: The Eighteenth Century in Russia, hrsg. von John Gordon Garrard, Oxford 1973, S. 106-148, hier: S. 121 f. 6

7 Manfred HILDERMEIER, Russian „Long 19th Century": A „Special Path" of European Modernization?, in: Ab Imperio 2002, Nr. 1, S. 85-100. 8 Obwohl es im 18. Jahrhundert unterschiedliche Wahrnehmungen Russlands gab, sahen viele einflussreiche Philosophen der Aufklärung Peter I. und seine Erben als ideale aufgeklärte Monarchen. Vgl. als Überblick Martin MAUA, Russia under Western Eyes. From the Bronze Horseman to the Lenin Mausoleum, Cambridge 2000. 9 Zu den Eindrücken von Reisenden der petrinischen Epoche über Westeuropa vgl. Emmanuil WAEGEMANS, In de Beste der Werelden. Russen in het Westen, 1600-1800, Antwerpen/Baarn 1990.

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während der Reise auf; nur selten gaben einige Beschreibungen der militärischen Organisation westlicher Armeen, von Festungen und Städten10. In Einzelfállen, wie bei Petr Andrevich Tolstoy (1645-1729), der ungeachtet seines Alters sogar Fremdsprachen lernte, kann ein aufmerksamer Leser Urteile über staatliche Institutionen und Wohlfahrtseinrichtungen europäischer Länder finden sowie, noch seltener, den Versuch, diese implizit mit ihren russischen Gegenstücken zu vergleichen, was zum Vorteil letzterer ausschlagen mochte oder auch nicht11. Tolstoy, der „zum Studium der Kriegskunst in die christlichen europäischen Staaten" geschickt wurde, reiste 1697 bis 1699 nach Polen, ins Heilige Römische Reich und nach Italien12. Auch wenn Tolstoy in seinem Reisetagebuch keine allgemeinen Urteile über „Europa" fällte, können seine Wahrnehmungen der religiösen Unterschiede zwischen Moskowien und den europäischen Ländern einiges Licht auf seine Einstellung gegenüber der europäischen Welt werfen. Bei seiner detaillierten Beschreibung der Orte, die er besuchte, konzentrierte sich Tolstoy, wie ein guter moskowitischer Kirchgänger, zumeist auf Kathedralen und Klöster; bemerkenswerterweise zeigte er wenig oder keine Abscheu gegenüber der katholischen oder jüdischen Lebensweise, wie dies von einem Vertreter des traditionell fremdenfeindlichen Moskowien erwartet werden könnte. Man kann von Tolstoys Bericht sogar den Eindruck einer Pilgerreise in ein christliches Land gewinnen: Respektvoll hielt er lange Listen von christlichen Raritäten fest, die an solchen Plätzen aufbewahrt wurden, schilderte die Schönheit der Kathedralen und besuchte mit einer aufgeschlossenen Haltung Hospitäler und Bibliotheken. Tolstoy machte keine negativen Bemerkungen und verwendete niemals das Wort „häretisch", um katholische Institutionen oder Gebräuche zu beschreiben. Das einzige Beispiel, an dem Tolstoys negative Einstellung gegenüber dem Katholizismus sichtbar wird, ist seine Beschreibung einer ehemals orthodoxen Ikone, die in eine polnische Kathedrale gebracht worden war: Nach Tolstoy bekam die verlegte Ikone einen schwarzen Fleck, der nicht zu entfernen war13. Man kann annehmen, dass diese Geschichte, die in einem kühlen, wenig leidenschaftlichen Ton berichtet 10 Ebd., S. 9-52. Waegemans beschreibt unter anderem Reiseeindrücke von Boris Sheremetev, Boris Kurakin und Petr Tolstoy. 11 Puteshestvie stol'nika P. A. Tolstogo po Evrope 1697-1699 [Die Reisen des Stol'nik P. A. Tolstoy in Europa 1697-1699], hrsg. von L. A. Ol'shevskaia und S. N. Travnikov, Moskva 1992. Tolstoy, ein Vorfahr des großen Schriftstellers, befand sich unter Peters Herrschaft in einer zwiespältigen Situation: Während des Machtkampfs, der Peters Regierungsantritt voranging, hatte er auf der Seite von dessen Schwester und Erzrivalin Sofia gestanden und musste nun als 52jähriger meist junge Adlige, die nach Europa reisten, um die Wissenschaften zu studieren, begleiten, um seine Loyalität gegenüber Peter zu beweisen. 12 Tolstoy vermerkte in seinem Reisetagebuch das Dekret Peters, das ihm auftrug, in die „christlichen europäischen Staaten" zu reisen. Ebd., S. 5. 13 Ebd., S. 17.

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wurde, mehr mit dem Hass der Moskowiter gegen die Polen als mit Tolstoys spezifischem Misstrauen gegenüber dem Katholizismus zu tun hatte: Tolstoy missbilligte offen das politische System Polens als töricht und machte aus seiner Ablehnung der Polen kein Geheimnis 14 . Es ist bemerkenswert, dass die im vorpetrinischen Moskowien so verbreiteten konfessionellen Vorurteile sich in Tolstoys Text so wenig widerspiegeln. Bei der Beschreibung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen Venedigs wunderte sich Tolstoy über die Anwesenheit der Juden, den Wert und die Schönheit der jüdischen Häuser und nannte die venezianischen Juden „gut aussehend" 15 . Für seine Glaubensgenossen, die orthodoxen Griechen, hatte Tolstoy dagegen wenig mehr denn Verachtung übrig: Sie waren „nicht schön, Frauen wie Männer", sie waren keine zuverlässigen Geschäftspartner, und sogar als Anhänger der orthodoxen Kirche waren sie nicht beständig genug 16 . Noch wichtiger ist, dass Tolstoy eine sehr traditionelle Haltung einnahm, als er berichtete, dass er in der päpstlichen Bibliothek „den heidnischen Koran, geschrieben von der Hand des falschen Propheten Mohammed", gesehen habe 17 . Als er während seines Aufenthalts in Europa mit Vorstellungen vom Katholizismus und vom Islam konfrontiert wurde, zeigte Tolstoy keine sichtbare Abscheu vor lateinischen Christen, machte aber deutlich, dass solche Verbindungen zur Welt des Islam nicht bestehen könnten. Aufmerksamkeit gegenüber den kleinsten Details und das Fehlen von Verallgemeinerungen in den Schriften der ersten petrinischen Reisenden in den Westen erlaubte es Emmanuil Waegemans zu argumentieren, dass die narrative Methode, die von den ersten russischen Reisenden in Europa verwendet wurde, therapeutischer Natur war: Die Summe der zu verarbeitenden Information war so groß, und was sie sahen, unterschied sich so sehr von ihrer heimischen Lebenswelt, dass die tagtäglichen Tagebucheinträge, die die gesamte Erfahrung durch die Auflistung der kleinsten Einzelheiten beschrieben, einen Abwehrmechanismus des überforderten Reisenden darstellten18. Es kann noch hinzugefügt werden, dass, zumindest was das Beispiel Tolstoys betrifft, die lateinische Christenheit im Vergleich mit dem Islam bei einem russischen Reisenden bemerkenswert wenig Befremden hervorrief (was noch überraschender angesichts dessen ist, dass Russland bereits seit Jahrhunderten einen ansehnlichen muslimischen Bevölkerungsanteil hatte). Tolstoy war wie viele andere russische Reisende im Westen neuen Einflüssen gegenüber recht offen, auch wenn er so wenig über die Welt wusste, aus der sie kamen. In Kombination mit der Faszination der russischen Eliten über europäische 14 15 16 17 18

Ebd., S. 24 f. Ebd., S. 54. Ebd. Ebd., S. 196. Vgl. WAEGEMANS, In de Beste der Werelden (Anm. 9), S. 42.

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Lebensweisen, fortgeschrittene Technologie, Bequemlichkeiten und Kulturleben trug das Fehlen jeglicher Antipathie zum Beginn des langen Prozesses von Aufnahme, Studium und Verinnerlichung europäischer Kultur durch die Russen bei. Unter den frühen Teilnehmern an diesem Prozess ragt Vasilii Nikitich Tatishchev (1686-1750) als Schlüsselfigur heraus, die die geographische Grundlage für das neue Konzept von Russlands Platz in Europa lieferte 19 . Tatishchev, dessen wechselvolles Leben als ein Bürokrat im Dienst des Zaren ihm häufig großen Ärger einbrachte, schrieb eine „geographische Beschreibung Sibiriens" und begann an einer Russischen Geschichte zu arbeiten. Von letzterer vollendete er den Einleitungsteil. Er war ein sorgfältiger Leser, der Kommentare über antike Geographen und Historiker lieferte; bisweilen führte ihn seine Entschlossenheit, in Herodots oder Strabons Schriften nach den Ursprüngen des einen oder anderen slawischen Stamms zu suchen, zu bemerkenswerten Schlussfolgerungen. Als er in einem Text den Hinweis auf eine „Wüste" fand, wo er die Vorfahren der Russen zu lokalisieren gedachte, löste Tatishchev das Problem schnell und gründlich: „Wo diese Wüste lag, kann man heutzutage nicht sicher wissen. Vielleicht war Polen damals nur dünn bevölkert und wurde ,Wüste' genannt?" Zu Tatishchevs Ehre sei gesagt, dass er selbst realisierte, wie unwahrscheinlich seine Konstruktionen waren. Nachdem er argumentiert hatte, dass die Slawen aus dem alten Kolchis der griechischen Mythologie nach Europa gekommen seien (weil es in Georgien eine Gegend gibt, die Zikhien heißt, die Tatishchev in Verbindung mit Tschechien setzte), ergänzte er ehrlich: „Dies ist nur eine Vermutung, die solange gelten mag, bis eine wirkliche Erklärung gefunden wird ..."20. Dennoch war Tatishchev ein echter und engagierter Gelehrter; vielleicht war er der erste russische Gelehrte, dessen Text im Ausland publiziert wurde (Tatishchevs lateinisch verfasster Bericht über Mammutskelette, die man in Sibirien gefunden hatte, wurde zuerst in Schweden und dann in England gedruckt). Seine Bedeutung fiir die Entwicklung geographischer Kenntnisse in Russland steht außer jedem Zweifel. Zugleich mit Johann Tabbert von Strahlenberg, einem schwedischen Kriegsgefangenen, schlug Tatishchev vor, dass die Grenze Europas entlang des Uralgebirges festgelegt werden solle, wodurch Russland säuberlich in einen „europäischen" und einen „asiatischen" Teil geteilt wurde. Vor kurzem hat Mark Bassin argumentiert, dass diese Teilung einen neuen Rang des Russischen Reichs widerspiegelte und Peters Erneuerung des kaiserlichen Ranges Russlands ideologisch unterstützte. 19 Geographie war von erstrangiger Bedeutung für Russlands europäisierende Herrscher. Vgl. D. J. B. SHAW, Geographical Practice and its Significance in Peter the Great's Russia, in: Journal of Historical Geography 22 (1996), S. 160-176. 20 Vasilii Nikitich TATISHCHEV, Istoria Gosudarstva Rossiiskogo [Geschichte des russischen Staates], hrsg. von A. I. Andreev [u. a.], Moskva/Leningrad 1962, S. 161.

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Geteilt in „europäische" und „asiatische" Bestandteile, war Russland ein wirkliches Reich mit einer Metropole und einer Kolonie; allerdings widerspricht die Tatsache, dass Tatishchev die neue Grenze gleichzeitig mit Strahlenberg erfand, der kaum Grund hatte, ideologische Grundlagen für Peters Neuformierung Russlands zu liefern, Bassins These21. Ein anderer russischer Geograph, Ivan Kirillov (1689-1737), der Verfasser einer 1737 veröffentlichten detaillierten Beschreibung des Russischen Reichs, zollte der ethnischen Zuordnung der „europäischen" Russen und der sesshaften Völker der Wolga-Region keine besondere Aufmerksamkeit (obwohl er die Baschkiren gesondert beschrieb, unterschieden sie sich seiner Meinung nach nicht sehr von den Kosaken; außerdem wurden die Kalmücken eigens erwähnt); er hielt es jedoch für notwendig, die Gebräuche und Traditionen der Völker Sibiriens zu beschreiben, offenkundig als Demonstration der neuen Einstellung der kultivierten Russen gegenüber „wilden" Stämmen22. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kamen derartige Diskurse bei gebildeten Russen auf, und sie wurden rasch ein Bestandteil des gesamteuropäischen Phänomens der Beschreibung, Klassifizierung und Unterwerfung „primitiver Völker"23. Nachdem sie sich selbst zu „Europäern" erklärt hatten, begannen die Russen ihre Ansichten über Asien auszuarbeiten, um ihre neu erworbene Identität zu bekräftigen24. Im 18. Jahrhundert bezweifelten die Russen nicht, dass Russland ein Teil Europas sei. Sie schätzten und respektierten die „zivilisierten" Nationen Europas, die auf dem Pfad der Aufklärung weiter vorangeschritten waren als Russland, sie sahen aber keine unüberwindbaren Barrieren zwischen Russland und den anderen „europäischen christlichen Staaten". Im Verlauf des 18. 21

V. N. TATISHCHEV, Obshchee geograficheskoe opisanie Sibiri [Allgemeine geographische Beschreibung Sibiriens], in: DERS., Izbrannye trudy po geografii Rossii [Auswählte Werke über die russische Geographie], Moskva 1950, S. 36-76, bes. S. 50. Vgl. auch BASSIN, Russia (Anm. 1). 22 Ivan Kirillovich KIRILOV. Tsvetushchee sostoianie Vserossiiskogo gosudarsta [Die Blüte des allrussischen Staates], Moskva 1977. Kirilov nahm in seine Beschreibung Russlands auch einen historischen Essay über die Eroberung Sibiriens auf (S. 255-260 und im Folgenden). Für eine Diskussion dieser neuen Einstellungen vgl. auch Yuri SLEZKINE, Naturalists vs Nations. Eighteenth Century Russian Scholars Confront Etnie Diversity, in: Representations 47 (1994) (Sondernummer: National Cultures before Nationalism), S. 170— 195. 23 Möglicherweise die erste vollwertige Monographie über dieses Thema ist Stepan Petrovich KRASHENINNIKOV, Opisanie Zemli Kamchatki [Die Beschreibung des Landes Kamtschatka], 2 Bde., St. Petersburg 1755. Krasheninnikovs Monographie wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in verschiedene europäische Sprachen übersetzt. In Krasheninnikovs Beschreibung erscheinen die Koriaken und andere Völker als Phänomene derselben Art wie die heißen Quellen, für die Kamtschatka bekannt war. 24 Zur Geschichte der russischen Wahrnehmungen Asiens vgl. Nicholas V. RIASANOVSKY, Asia Through Russian Eyes, in: Russia And Asia. Essays on Russian Influence Upon Asian Peoples, hrsg. von Wayne S. Vuchinich, Stanford 1972, S. 3-29.

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Jahrhunderts träumten russische Gelehrte, wie etwa Mikhail Lomonosov, von den Zeiten, wenn Russland „seine eigenen Newtons und Piatos" hervorbringen werde, während russische Amateurhistoriker immer noch mit ausländischen Autoren über die russische Geschichte stritten, indem sie Russlands leuchtende Vergangenheit verteidigten, die der anderer europäischer Staaten gleichkomme. Einer dieser Historiker, General Ivan Boitin (1735-1792), behauptete Ende der 1770er Jahre, dass die russischen Eroberungen in Sibirien mit den nordamerikanischen Eroberungen der europäischen Mächte vergleichbar seien und dass es die Mission Russlands sei, den eroberten Ländern Zivilisation und Ordnung zu bringen. In Boitins mehrdeutiger Sicht war Russland ein wichtiger europäischer Staat mit Kolonien, die von Pizarroähnlichen Kosaken erobert worden waren. Gleichzeitig gehörte Boitin vielleicht zu den ersten russischen Intellektuellen, die sich der Frage von Russlands ethnischer und sprachlicher Verschiedenheit widmeten. Um zu beweisen, dass Russland nicht wie andere Großreiche der Vergangenheit zerfallen werde, behauptete Boldin, weil die Russen im Zuge ihrer Expansion nicht auf Völker mit staatlichen Traditionen oder starken Adelsschichten gestoßen seien, würden alle Minderheiten im Russischen Reich schließlich im „russischen Volk" aufgehen 25 . Sowohl die russische Monarchie als auch der Adel trugen zum Bild Russlands als eines europäischen Staates bei. Katharina II., die selbst ernannte Erbin von Peters des Großen Vermächtnis, erklärte im sechsten Paragraphen ihrer Instruktion für die Gesetzgebungskommission, die auf die Kodifizierung des russischen Rechts abzielte, unumwunden, dass Russland ein europäischer Staat sei. Selbst für den aristokratischen Opponenten der Kaiserin Fürst M. M. Shcherbatov (1733-1790) schien das Beispiel Englands am geeignetsten, um die neu erworbene Position des europäisch geprägten Adels im Russischen Reich zu verteidigen und zu schützen, die dieser im Verlauf des 18. Jahrhunderts allmählich erworben hatte26. Mitglieder dieser Adelsschicht, denen die Charta von 1765 Privilegien und Rechte verliehen hatte, erhielten regelmäßig eine europäische Erziehung und nahmen scheinbar voll an der Begegnung des Kontinents mit den Gedanken und der Kultur der Aufklärung teil. Ihr kulturelles Engagement führte dazu, dass sich in Russland eine säkularisierte, moderne Literatur zu entwickeln begann, deren Blüte im folgenden Jahrhundert offensichtlich werden sollte: Die Basis für die Werke 25

Ivan BOLTIN, Primechania na Istorili drevnia i nyneshneia Rossii g. Leklerka, sochinennyia general-maiorom Ivanom Boltinym [Bemerkungen zu Herrn Leclercks Geschichte des alten und modernen Russland, verfasst von Generalmajor Ivan Boitin], 2 Bde., St. Petersburg 1788. Zitiert nach dem Auszug in Sbornik materialov po istorii istoricheskoi nauki ν SSSR [Materialsammlung zur Geschichte der Geschichtswissenschaften in der UdSSR], Moskva 1990, S. 38-41. 26 Mikhail Mikhailovich SHCHERBATOV, Sobranie sochinenii [Gesammelte Werke], 2 Bde., St. Petersburg 1896.

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von Alexander Pushkin, Leo Tolstoy und Fjodor Dostojewski wurden durch Schriftsteller und Poeten des 18. Jahrhunderts gelegt, unter denen Nikolai Mikhailovich Karamzin (1766-1826) sicherlich eine Ausnahmeerscheinung ist27. Karamzin ist für unser Thema aus verschiedenen Gründen von Interesse. Er war der berühmteste Reiseschriftsteller und bewahrte seine Erfahrungen bei seinen Besuchen europäischer Länder in den eleganten und gefühlvollen Briefen eines russischen Reisenden. In einem auffälligen Gegensatz zu Petr Tolstoys Reisetagebuch zeigen Karamzins Briefe einen Reisenden, der mit allen Strömungen der europäischen Kultur vertraut ist. Im Gegensatz zu Tolstoy bewertete Karamzin Kunstwerke, Stadtbilder und philosophische Systeme nach ihren eigenen Gesetzen und pilgerte zu den bekanntesten Gelehrten und Poeten, mit denen er ungehemmt korrespondierte. Nirgends wird der Unterschied zwischen Tolstoy und Karamzin sichtbarer als in ihren Einstellungen gegenüber Kirchen und christlichen Raritäten. Als Karamzin in Mainz angeboten wurde, die Hoden des Heiligen Bonifaz zu sehen, lehnte er das Angebot sogleich ab und entschied sich für einen ruhigen Abend mit Blick auf den Rhein 28 . Bei mehreren Gelegenheiten musste Karamzin seinen französischen und deutschen Mitreisenden, die die Sprache trennte, als Dolmetscher dienen! Ausgestattet mit sprachlicher Gewandtheit und gründlicher Kenntnis der europäischen Literatur sowie des philosophischen Kanons, glaubte Karamzin fest daran, dass Russland zur Welt „unseres Europa" dazugehöre 29 . Leidenschaftlich verteidigte er die Reformen Peters des Großen, die er deswegen für erfolgreich hielt, weil sie von einem „in Europa geborenen" Monarchen in einem „europäischen Land" eingeführt worden seien 30 . Bei verschiedenen Gelegenheiten sprach er das Thema der russischen Entlehnungen von Europa an und äußerte sich überzeugt, dass diese Entlehnungen weder Russlands Wohlfahrt noch seiner Ehre schadeten. „Das Nationale ist nichts im Vergleich mit dem Menschlichen", behauptete Karamzin kühn, „und alles, was die Engländer oder Deutschen zum Wohl der Menschheit erfunden haben, ist mein, denn ich bin ein Mensch" 31 ! 27

Die Literatur zu Karamzin ist abundant. Als klassische Darstellung vgl. das Kapitel „Sotvorenie Karamzina" [„Die Erschaffung Karamzins"] in Yu. M. LOTMAN, Karamzin, St. Petersburg 1997. 28 Nikolai Mikhailovich KARAMZIN, Pis'ma russkogo puteshestvennika [Briefe eines russischen Reisenden], Moskva 1988, S. 141. Die Briefe wurden zunächst in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht. Eine selbständige Ausgabe erschien erst 1801 und wurde häufig nachgedruckt. 29 Als er Ferney besuchte, bewunderte er Voltaires Wohnhaus und rühmte ihn wegen seiner Kritik an dem „scheußlichen Irrglauben, dem zu Beginn des 18. Jahrhunderts in unserem Europa blutige Opfer dargebracht wurden". Ebd., S. 225. 30 Ebd., S. 341. 31 Ebd., S. 342.

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Der junge Karamzin billigte also die Vision Europas als einer christlichen, durch Zivilisation und Aufklärung veredelten Gemeinschaft. Ohne wahrnehmbaren Groll oder Unbehagen pries er Paris und London als sichtbarste Zeichen dieser Veredelung. In Karamzins geistiger Geographie Europas war Russland zusammen mit Deutschland, Dänemark, Schweden und Polen ein Land des Nordens32. Ost-westliche Trennungen erschienen ihm nicht als bedeutend, und in der Schweiz bedauerte er, dass nur wenige Menschen über die Ereignisse im Norden informiert waren (bemerkenswerterweise zählte er zu diesen „nordischen Ereignissen" nicht nur den aktuellen russisch-schwedischen Krieg, sondern auch den Fall von Belgrad!)33. Nichtsdestoweniger war Karamzins Europabild mehrdeutig. Einerseits akzeptierte er, dass Russland, was die Aufklärung betraf, ein Schüler Europas war. Andererseits entbehrte das Europabild Karamzins, der Herder besuchte und Rousseau verehrte, nicht eines romantischen Zugs, und er war davon besessen zu beweisen, dass Russland eine europäische Nation war, deren Ruhm nicht geringer war als derjenige der größten europäischen Mächte. Er gestand zu, dass die zeitgenössische russische Literatur dürftig war, erklärte dieses Defizit jedoch mit der fehlenden Zeit, sie zu entwickeln; nach Karamzin beinhaltete die russische Geschichte genügend heroische Momente und dramatische Ereignisse, um jeder anderen Nationalgeschichte in Europa ebenbürtig zu sein. Und so wird, um diese Gleichrangigkeit zu symbolisieren, in Karamzins Schriften gemäß der Anregung General Boldins der Eroberer Sibiriens, der Kosakenhetman Ermak, zum „russischen Pizzaro"34. Karamzins Europadiskurs wurde nicht nur durch die Genese nationalistischer Gedanken vor einem protoromantischen Hintergrund charakterisiert35. Wie viele Forscher festgehalten haben, besuchte Karamzin Frankreich zur Zeit der Revolution, und seine Reaktion auf diese Ereignisse war vielsagend. Er hegte kaum Interesse an den Debatten der Nationalversammlung in Paris, aber sehr viel Sympathie für die flüchtigen Aristokraten. Just in dem Augenblick, als die gebildete Schicht Russlands Intellektuelle hervorzubringen begann, die im geistigen Milieu Europas verwurzelt waren, wurde die politische Ordnung Europas in ihren Grundfesten erschüttert. Das Ancien Régime 32

Ebd., S. 256. Gelegentlich zählte er auch England zum „Norden". „Aber Du, unser armer Norden, wirst von einem Genfer nicht der Ehre seiner Aufmerksamkeit gewürdigt! Er, der alle Einzelheiten des Pariser Lebens kennt, ist sich kaum dessen bewusst, dass Russland im Krieg mit Schweden steht. Der Wesir wird zweimal besiegt, Belgrad wird erobert, und niemand spricht darüber, niemand zeigt Freude. Oh, freundliches Deutschland ... warum habe ich Dich so rasch verlassen?". Ebd., S. 226. 34 Nikolai Mikhailovich KARAMZIN, O liubvi k otechestvu i narodnoi gordosti [Über die Liebe zum Vaterland und den Nationalstolz], in: DERS., Izbrannye stat'i i pis'ma [Ausgewählte Aufsätze und Briefe], Moskva 1982, S. 92-97. 35 Hans ROGGER, National Consciousness in Eighteenth-Century Russia, Cambridge, Mass. 1960; Leah GREENFELD, Nationalism: Five Roads to Modernity, Harvard 1992, besonders das Kapitel „The Scythian Rome: Russia". 33

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begann im Westen zu zerbröckeln, während es in Russland immer noch fest stand und sogar in der Lage war, sich als eine Kraft der Aufklärung und des Fortschritts darzustellen. Diese tektonischen Verschiebungen spiegelten sich in der Entstehung eines differenzierteren russischen Europabilds wider, und wieder gab Karamzin hier einen zentralen Impuls. Die von vielen Russen geteilten Veränderungen im Europabild bedeuteten, dass Europa aufhörte, nur eine christliche Gemeinschaft von durch Aufklärung und Zivilisation geadelten Nationen zu sein. Europa war auch eine Quelle politischer Rivalität und Instabilität, die noch deutlicher wurden, wenn man sie mit der gefestigten Position des autokratischen Regimes in Russland verglich. Karamzin übernahm dieses neue Europabild in seiner berühmten Denkschrift über das alte und das neue Russland, die er der Hoföffentlichkeit 1811 in Twer, im Palast der Großfürstin Elena Pavlovna, der Schwester Kaiser Alexanders I., vorlas 36 . In den Jahren nach dieser Präsentation nahm Karamzin nicht nur das anspruchsvolle Projekt, eine Russische Geschichte zu schreiben, in Angriff (ein weiterer Versuch gebildeter Russen zu beweisen, dass ihre Vergangenheit derjenigen anderer europäischer Nationen gleichkomme), sondern entwickelte sich in einem ziemlich konservativen Sinn37. In seiner Denkschrift stellt Karamzin fest, dass Russland zusammen mit anderen germanischen Völkern, die auf den Trümmern des Römischen Reiches die neue europäische Ordnung aufbauten, Eingang in Europa gefunden habe. Als Folge des Apanagensystems, von dem Karamzin annahm, dass es allen germanischen Stämmen gemeinsam sei, wurde Russland geschwächt und durch „asiatische Horden" erobert. Seine Wiederherstellung als ein großer Staat verdankte es dem System der vollkommenen Autokratie, das den Moskowiter Fürsten erlaubte, ihre Kräfte zu konsolidieren und die mongolische Macht zu besiegen. Für Karamzin stand dieses neue, durch die Autokratie geeinigte Russland „zwischen den europäischen und asiatischen Königreichen" und repräsentierte eine Mischung von Einflüssen: „die asiatischen Sitten, die die Slawen nach Europa brachten und die durch unsere langfristigen Verbindungen mit den Mongolen wiederbelebt wurden, der byzantinische [Einfluss], den die Russen zusammen mit dem christlichen Glauben annahmen, und einige germanische [Gebräuche], die ihnen die Waräger vermittelten". Laut Karamzin spiegelten sich die germanischen Einflüsse in den Stammesrivalitäten, dem Verwandtschaftsbewusstsein und dem ritterlichen Kampf36

Zur Geschichte der Denkschrift vgl. Richard PIPES Einführung in Karamzin's M e m o i r on Ancient and Modern Russia: A Translation and Analysis, N e w York 1981. 37 Eine Auseinandersetzung mit der Rolle v o n Historikern bei der Erschaffung des russischen Nationalgefühls findet sich bei Seymour BECKER, Contributions to a Nationalist Ideology: Histories o f Russia in the First Half o f the Nineteenth Century, in: Russian History 13 ( 1 9 8 6 ) , S. 3 3 1 - 3 5 3 .

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geist der Russen. Die alten Beziehungen zu Asien waren in der Unterdrückung der Frauen sichtbar, während Hofzeremoniell und Hofleben den prachtvollen byzantinischen Stil nachahmten. Karamzin stellte fest, dass das Russland des 15. Jahrhunderts Architekten aus Rom eingeladen habe und dass Moskau Beziehungen zu europäischen Ländern unterhalten habe. Gleichwohl glaubte er, dass es eine bewusste und weise Politik der Souveräne Moskowiens gewesen sei, in relativer Abgeschiedenheit von den europäischen Angelegenheiten zu bleiben, die eher geeignet gewesen wären, die Ambitionen des Monarchen zu befriedigen als dem Staat zu nützen38. Diese positive Hervorhebung der Isolation Moskaus unter den letzten Rurikidenherrschern verkörperte einen neuen Aspekt in den russischen Wahrnehmungen von Europa, der die späteren Überlegungen slawophiler Denker vorwegnahm. Tatsächlich glaubte Karamzin immer noch, dass die durch die Dynastie der Romanovs 1613 wiederhergestellte Autokratie im Verlauf des 17. Jahrhunderts vorsichtig und allmählich die Distanz zwischen Russland und Europa verkürzt habe, das, wie er zugab, Russland in vielen Bereichen des menschlichen Denkens und Handelns weit voraus gewesen sei. Doch diese langsame Entwicklung sei durch Peters ungeduldige Reformen unterbrochen worden, die „Simulation zu Russlands Ehre erhoben .,."39. Karamzin, der während seiner Reisen nach Europa Peter den Großen gegen französische Kritiker verteidigt hatte, die glaubten, die Russen hätten auch ohne den großen Reformer die Aufklärung angenommen, klagte den Zaren nun an, er habe die nationalen Gebräuche und Traditionen verletzt und die Russen zu Kosmopoliten mit geringem Bezug zum eigentlichen Russland gemacht. Sogar die Gründung St. Petersburgs inmitten von Sümpfen und Mooren zählte Karamzin zu Peters Fehlern40. Aber die russische Autokratie war nicht notwendigerweise Despotismus. Karamzin behauptete, dass Katharina mit ihrem philosophischen Geist und ihrer aufgeklärten Regierung die Autokratie von Tyrannei gereinigt habe. Sie habe es geschafft, Europa an Russlands militärische Macht zu gewöhnen, während Peter der Große Europa lediglich mit seinen Erfolgen überrascht habe. Karamzins nannte die Epoche Katharinas die beste in der russischen Geschichte und rühmte den jungen Kaiser Alexander, der versprach, im Geist Katharinas zu regieren41. Der wichtigste Ratschlag, den Karamzin dem jungen Zaren gab, war, Russlands Autokratie zu erhalten, denn „Europa selbst wurde von den Träumen bürgerlicher Frei38

Nikolai Mikhailovich KARAMZIN, Zapiska o drevnei i novoi Rossii [Denkschrift über das alte und das neue Russland], zitiert nach DERS., IZ ,Zapiski o drevnei I novoi Rossii' [Auszüge aus der Denkschrift über das alte und das neue Russland] in: Sbornik materialov po istorii istoricheskoi nauki ν SSSR [Materialsammlung zur Geschichte der Geschichtswissenschaften in der UdSSR], Moskva 1990, S. 67-72. 39 Ebd., S. 77-81. 40 Ebd., S. 81. 41 Ebd., S. 83-86.

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heiten und Gleichheit durch die Schrecken der Französischen Revolution geheilt" 42 . Russland habe die Chance, diesen Schrecken zu entkommen, und Karamzin insistierte, dass es der Autokratie, jenem „Schutzheiligtum Russlands", zu verdanken sei, dass Russland stets den Zerrüttungen der Unruhe zu entgehen vermochte. „Wir verlangen mehr nach bewahrender als nach schöpferischer Weisheit", rief er aus und fugte hinzu, wenn man vor einem Jahrhundert Peter für seine Entlehnungen vom Ausland hätte kritisieren sollen, müsse man derartige Entlehnungen in Karamzins eigener Zeit um so mehr fürchten, denn es gebe kein europäisches Land, wo das Volk glücklich sei, die Justiz in Blüte stehe und die Gemüter ruhig seien 43 . Karamzins Stimme war wohl repräsentativ für die neue Hoffnung der gebildeten russischen Adligen; sie reihten sich ein in den Chor des antirevolutionären Denkens in Europa. Russische Adlige bezweifelten nicht, dass Russland ein europäisches Land sei; das zu tun hätte bedeutet, ihre eigene Position unter den „zivilisierten" Völkern und - was vielleicht noch wichtiger ist - damit ihr Recht auf gesellschaftliche Exklusivität in Russland in Frage zu stellen, denn letztere wurde in zunehmendem Maße durch Bildung und die Fähigkeit begründet, die rückständige Landbevölkerung zu zivilisieren. In der Tat unterschied sich die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Folgen der Einführung europäischen Gedankenguts nach der Französischen Revolution sehr von der Wahrnehmung derjenigen im Zeitalter des Absolutismus à la Ludwig XIV. An der Quelle der Entstehung der These von Russlands Sonderweg in Europa stand der grundlegende Unterschied zwischen dem Entwicklungstempo der sozialen und politischen Ordnung in Russland und den westeuropäischen Staaten, ein Unterschied, der im politischen Bereich immer deutlicher hervortrat, während die wirtschaftliche Komponente folgte. In der Folge änderte sich das Europabild in den Augen vieler Russen: Europa war von einem nachahmenswerten Beispiel zu einer möglichen Gefahrenquelle geworden. So erlebte im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts der russische Diskurs über Europa und Russlands Platz in ihm eine bemerkenswerten Wandel. Die tabula rasa Petr Tolstoys, der für europäische Neuerungen durchaus offen, wenn auch mit den europäischen Entwicklungsströmungen kaum vertraut gewesen war, wich einer Reihe von Denkern, die selbstbewusst behaupteten, dass Russland eine europäische Nation und jeder anderen europäischen Großmacht ebenbürtig sei. Russen beteiligten sich sogar daran, die Linie auf der geistigen Landkarte Europas zu ziehen, um ihr Reich auf dem europäischen Kontinent und in der europäischen Zivilisation fest zu verankern. Dieser „europäische" Diskurs wurde durch die Tatsache verstärkt, dass der russische Adel europäisch erzogen wurde und europäische Hauptstädte besuchte, 42 43

Ebd., S. 85. Ebd., S. 50.

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während er daheim seine eigene Macht damit legitimierte, dass er sich als eine „europäische" Kraft der Aufklärung darstellte. Der Bruch in diesem Diskurs erfolgte, als die Adligen mit den gesellschaftlichen Folgen ihrer kulturellen Übernahmen konfrontiert wurden, das heißt mit der Aussicht auf soziale und politische Veränderungen, die möglicherweise ihre eigene Stellung unterminieren konnten. An diesem Schlüsselmoment wurde von Karamzin die Idee von der russischen Autokratie als der Retterin des russischen Staats entwickelt, wurden die ersten kritischen Gedanken über Europäisierung geäußert und die ersten romantisierenden Bilder des vorpetrinischen Russland entworfen. Karamzins Vision von Russland als ungeachtet seiner nationalen Eigentümlichkeiten europäischer Staat, als integraler Bestandteil „unseres Europa" dominierte die intellektuelle Szene Russlands noch im 19. Jahrhundert. In der Tat korrespondierte sie vollkommen mit dem Selbstbild der russischen Elite als einer gebildeten Klasse im Gegensatz zu einer rückständigen Landbevölkerung 44 . Es passte auch gut zur Selbstdarstellung der Monarchie als einer Dynastie ausländischer Abstammung mit dem spezifisch russischen Auftrag, das Volk zu europäisieren und aufzuklären 45 . Karamzins zugleich europäisches wie nationales Konzept erlaubte es, Russlands Stellung unter den europäischen Großmächten und seine Ambitionen im Mittleren Osten, im Kaukasus oder, wesentlich später im 19. Jahrhundert, in Zentralasien zu sichern 46 . Gleichzeitig erlaubte es dieser Diskurs, ideologische Schutzwälle gegen bestimmte politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Neuerungen, die nach Russland einzudringen versuchten, zu errichten. Die napoleonischen Kriege hatten dem russischen Denken über Europa grundlegende Anstöße gegeben 47 . Einerseits ging Russland siegreich aus der napoleonischen Invasion hervor und versuchte in die Rolle des Anführers des europäischen Klubs der konservativen Monarchien zu schlüpfen. Die Vision von der Heiligen Allianz war in Hofkreisen und bis zu einem gewissen Grad auch in der gebildeten Gesellschaft populär, insbesondere in der Atmosphäre patriotischen Stolzes beim militärischen Sieg über Napoleon. In dem entspre44

Alexander ETKIND, The Shaved M a n ' s Burden, or the Inner Colonization of Russia, in: Ab Imperio 1 (2002), S. 265-298. 45 Vgl. Richard WORTMAN, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in the Russian Monarchy, 2 Bde., Princeton, N. J. 1995-2000, vor allem Bd. 1: From Peter the Great to the death of Nicholas I. 46 Dazu, wie diese Sichtweisen im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf die russischen Wahrnehmungen Asiens oder der muslimischen Völker übertragen wurden, vgl. Seymour BECKER, The Muslim East in Nineteenth-Century Russian Popular Historiography, in: Central Asian Survey 5 (1986), S. 2 5 - 4 7 ; DERS., Russia Between East and West: the Intelligentsia, Russian National Identity and the Asian Borderlands, in: Ebd. 10 ( 1991 ), S. 4 7 - 6 4 . 47 Alexandre KOYRE, La philosophie et le problème national en Russie au début du XIXe siècle, Paris 1929; Nicholas V. RJASANOVSKY, Russia and the West in the Teaching of the Slavophiles. A Study of Romantic Ideology, Cambridge 1952, insbes. die Einleitung.

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chenden Bild Europas als einer christlichen Gemeinschaft legitimistischer Staaten war Russland ein Wächter des Friedens und der Stabilität. Allerdings nahm in dem Klima des wachsenden Obskurantismus während der Regierung Alexanders I. die Unzufriedenheit in den gebildeten Klassen zu. Es waren in erster Linie die Dekabristen, unter denen ein Bild Europas als Symbol der Freiheit verbreitet war. Viele der Aufständischen, die am 14. Dezember 1825 den Senatsplatz in Sankt Petersburg betraten, hatten in den russischen Armeen in Frankreich und den deutschen Ländern gedient. Viele kehrten nach Russland mit einer explosiven Mischung aus französischen Ideen über politische Partizipation, deutsch-romantischer Faszination vom Volk und russischem Stolz auf die Siege über Napoleon zurück. Wie Nikita Mikhailovich Murav'ev (1795-1843) in seinem Plan einer russischen Verfassung behauptete, erlangten alle europäischen Völker Gesetze und Freiheit. „Das russische Volk verdient beides mehr als jedes andere Volk" 48 . Ein anderer Dekabrist, V. F. Raevsky (1795-1872), stellte Russlands Macht in Europa der Sklaverei gegenüber, die das russische Leben dominiere; P. G. Kakhovsky (1797-1826) beschuldigte Alexanders I. Heilige Allianz, statt der versprochenen Freiheiten den europäischen Völkern Beschränkungen aufzuerlegen und die Aufklärung zu unterdrücken: „Dasselbe Gefühl entflammt alle europäischen Völker, und selbst wenn es unterdrückt wird, ist es unmöglich, es zu töten: Solange es Völker gibt, wird es ein Streben nach Freiheit geben" 49 ! Der Dekabristenaufstand wurde niedergeschlagen, und die Hinrichtung der führenden Persönlichkeiten der Bewegung schockierte die russische Gesellschaft. Gleichwohl blieb die Regierung auf vielen Feldern kreativ, und Ideologie war nicht ungewöhnlich. Im vollen Bewusstsein der Gefahr, die „europäische Ideen" für Russlands soziale und politische Ordnung darstellten, suchten Nikolaus' I. Führungskreise nach Visionen, die ihre eigene Macht und ihre beharrliche Weigerung legitimieren sollten, sich mit gravierenden Problemen dieser Ordnung zu beschäftigen, selbst wenn diese Probleme offensichtlich waren. 1832 ernannte Nikolaus den jungen Grafen Sergei Semenovich Uvarov (1786-1855) zum deputierten Minister für Volksaufklärung. Uvarov schuf nicht nur die Grundlagen fur Russlands modernes Erziehungssystem, sondern auch die berühmte ideologische Trias „Orthodoxie, Autokratie und Volkstum". Diese ideologische Konstruktion, die die Vorstellungen Katharinas II. und Karamzins übernahm, dass Autokratie die ein48 Nikita Mikhailovich MURAV'EV, Proekt konstitutsii. Pervyi Variant [Verfassungsprojekt, erste Version], in: I dum vysokoe stremlen'e [Und der große Aufschwung des Denkens ...], Moskva 1980, S. 66. 49 V. F. RAEVSKY, O rabstve krest'ian [Über die Versklavung der Bauern], in: I dura vysokoe stremlen'e (Anm. 48), S. 73; P. G. KAKHOVSKY, Nachalo i koren' obshchestva dolzhno iskat' ν dukhe vremeni, [Der Beginn und die Wurzeln einer Gesellschaft sollten im Geist der Zeit gesucht werden], in: Ebd., S. 79.

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zige geeignete Herrschaftsform sei, um das riesige Russische Reich zu regieren, transformierte elegant die Bedeutung des französischen nationalité in das russische narodnost' (oft als „Nationalität" ins Deutsche übersetzt, hat narodnosf einen stärker ethnographischen Beiklang als das französische nationalité mit seiner Betonung auf Staatsbürgerschaft und politischer Partizipation)50. Wie Andrei Zorin festgestellt hat, „lag die intellektuelle Tragödie des russischen Staates darin, dass seine Schlüsselkategorie narodnost' (nationalité, Volkstum) vom westeuropäischen sozialen und politischen Gedankengut entwickelt worden war, um die neue Gesellschaftsordnung zu legitimieren, die die alten konfessionellen und dynastischen Prinzipien der staatlichen Organisation ersetzen sollte. Uvarovs Trias erklärte die Grundpfeiler der russischen Nationalität zu eben den Einrichtungen, die der Nationalgedanke zu zerstören suchte die herrschende Kirche und den kaiserlichen Absolutismus [...]. Uvarov versuchte die Erfordernisse der Zeit mit der Erhaltung des Status quo zu verbinden, doch seine europäische Erziehung erwies sich als stärker als sein übernommener Traditionalismus, und Nationalität triumphierte über alle beide, Orthodoxie und Autokratie, indem sie sie in ein volkstümliches und schmückendes Beiwerk der Nationalgeschichte umwandelte" 51 .

Doch selbst im Rahmen dieser Ideologie, die darauf abzielte, Russlands Regime zu konsolidieren und es vor den schädlichen europäischen Einflüssen zu schützen, wurde Russland immer noch als ein grundsätzlich europäischer Staat betrachtet; es gehörte lediglich zu einem anderen, legitimistischen und konservativen Europa des Ancien Régime. Uvarov „mag den europäischen Weg der Entwicklung als tödliche Gefahr betrachtet haben, aber er sah einfach keinen anderen Weg" 52 . Diese Betonung der alten Ordnung mit ihrer Bereitschaft, alle revolutionären Regungen zu unterdrücken, erwies sich als fruchtbar für pessimistische geistige Projekte. Petr Iakovlevich Chaadaevs (1794-1856) visionäre Texte, die er in den frühen 1830er Jahren schrieb, bezweifelten nicht nur Russlands Platz in Europa, sondern den grundlegenden Sinn von Russlands Existenz 53 .

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Der Begriff narodnost ' hat verschiedenste Bedeutungen: Er kann die Eigenschaften des einfachen Volkes im Gegensatz zu künstlichem Europäisch-Sein der Elite meinen, die Widerspiegelung des Volksgeistes in der Literatur oder nur nationale Besonderheiten. Zur Diskussion über Uvarovs berühmte Trias vgl. Andrei ZORIN, Kormia dvuglavogo orla. Literatura I gosudarstvennaia ideologia ν Rossii ν poslednei treti XVIII - pervoi treti XIX veka [Den Doppeladler futtern. Literatur und Staatsideologie in Russland vom letzten Drittel des 18. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts], Moskva 2001, vor allem das letzte Kapitel, das sich mit Uvarovs Memorandum beschäftigt (S. 337-374). 51 Ebd., S. 374. 52 Ebd. 53 Riasanovsky hielt Chaadaev für den ersten, der eine romantische Revolte gegen die Prinzipien der Aufklärung in Russland inszenierte. Vgl. Nicholas RIASANOVSKY, On Chaadaev, Lamennais and the Romantic Revolt in France and Russia, in: American Historical Review

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Chaadaev behauptete, dass es Russland an historischer Dynamik fehle und dass es überhaupt keinen Beitrag zum gemeinsamen Schatz der Menschheit geleistet habe. Chaadaevs Kritik an der russischen Geschichte ist wohl bekannt: Es ist sinnvoller, sein Europabild zu betrachten. Zunächst pries Chaadaev Europa als ein Reich des historischen Fortschritts, was besonders im Vergleich mit Russlands „Stagnation" sichtbar werde. Er schrieb diese Dynamik der Rolle der katholischen Kirche zu und stellte deren Bedeutung der niederen Stellung des orthodoxen Klerus gegenüber. Wichtige Aspekte der europäischen Geschichte, der Konflikt zwischen Papst und Kaisertum, die mittelalterlichen Gilden, die Orden, die Blüte der Künste und Literatur, zählten zu den Dingen, die Moskowien gefehlt hätten. „Wir entbehren dieser moralischen Erfahrung der Frühzeit", erklärte Chaadaev. Die 1830er Jahre waren die Zeit, als sich die Wege der gebildeten Gesellschaft und der Regierung trennten54. Chaadaev wurde vom Regime für verrückt erklärt (und wechselte später seine Gesinnung, indem er Russland eine leuchtende Zukunft als künftiger Führer einer christlichen Renaissance in Europa prophezeite), aber seine Ideen gaben den russischen Romantikern Anstöße55. Jene Denker, die von Chaadaevs Urteilen schockiert und von Schellings Philosophie inspiriert waren, insistierten, dass Russland eine Aufgabe in der Weltgeschichte habe, die Chaadaev vergeblich suchte. Chaadaev erklärte, dass die Wurzeln von Russlands Abirren von einem gemeinsamen europäischen Weg in seiner Übernahme des Christentums aus dem verderbten Byzanz lagen; die Slawophilen kehrten dieses Argument um und bestanden darauf, dass die byzantinische Version des Christentums Russlands nationale Einzigartigkeit bewahrt habe. Aber die Einzigartigkeit werde insbesondere von jenem Gefäß des Nationalgeistes geschützt, das die wahren christlichen Lebensgrundlagen bewahre: die Landgemeinde. Dementsprechend war es die Mission Russlands, Europa zurückzubringen, was es verloren hatte: die Prinzipien eines vom modernen Rationalismus unverdorbenen Christentums56. Ob Slawophile oder Protagonisten der Verwestlichung, die russischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts hatten eine präzise Vorstellung, die ihr Bild 82 ( 1977), S. 1165-1186. Chaadaevs Texte wurden publiziert von M. GERSHENZON (Hrsg.), Petr Iakovleviche Chaadaev, Sochineniai pis'ma[Werke und Briefe], 2 Bde., Moskva 1913. 54 Nicholas RIASANOVSKY, A Parting of the Ways: Government and the Educated Public in Russia, 1801-1855, Oxford 1976. 55 Zum Verhältnis zwischen Chaadaev und Khomiakov vgl. Raymond T. MCNALLY, Chaadaev vs Khomjakov in the late 1830s and the 1840s, in: Journal of the History of Ideas 27 ( 1966), S. 73-91 ; vgl. ferner Khomiakovs neue Biographie: V. KOSHELEV, Aleksei Stepanovich Khomiakov, zhizneopisanie ν dokumentakh, ν rassuzhdeniakh I razuskainaikh [Aleksei Stepanovich Khomoakov, eine Biographie in Quellen, Diskursen und Forschungen], Moskva 2000. 56

RIASANOVSKY, Russia and the West (Anm. 47); vgl. auch Andrzej WALICKI, The Slavophile Controversy: History of a Conservative Utopia in Nineteenth-Centuiy Russian Thought, Oxford 1975.

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von Europa und Russlands Platz in ihm bestimmte. Indem sie Hegels Vision der weltgeschichtlichen Entwicklung heraufbeschworen, verstanden sie die europäische Zivilisation als auf dem Nationalitätsprinzip aufgebaut 57 . Nationalität ist deswegen so wichtig geworden, weil sie oft als Maßstab für die Würde des einen oder anderen Volkes im „Weltgericht" betrachtet wurde. Die Russen benutzten das Wort narodnost um „Nationalität" zu übersetzen; und wenn die Modernisierer annahmen, dass narodnost' für die Prinzipien politischer Partizipation und Modernität stehe, die, dem westeuropäischen Beispiel folgend, in Russland entwickelt werden sollten, hielten die Slawophilen narodnost' für eine spirituelle, mit Kultur und Vergangenheit verbundene Besonderheit 58 . Eines der herausragenden Beispiele für die Idee eines im Nationalitätsprinzip gründenden Europa war die bemerkenswert moderne Analyse des bekannten Rechtsgelehrten und Opponenten Dostojewskis Aleksandr Dmitrievich Gradovsky (1841-1889) 59 . Gradovskys Aktivitäten fallen in die Phase der großen Reformen und ihrer Nachwirkungen; er repräsentierte damit eine Epoche, als Hoffnungen auf politische Partizipation zum Teil durch die Einführung lokaler Selbstverwaltung befriedigt und durch andauernde Diskussionen über ein mögliches Parlament verstärkt wurden. Die Leibeigenschaft wurde abgeschafft, und sowohl Slawophile wie Modernisierer stimmten darin überein, dass dies eine edle Tat Alexanders II. gewesen sei: Erstere glaubten, sie gebe dem russischen Volk eine Würde, die es lang entbehrte, während letztere die Reformen als einen weiteren Schritt auf dem Weg zum Fortschritt und einer weitgehend europäischen Entwicklung betrachteten. Gradovsky spiegelte diese Verschmelzung der Ideen perfekt wider und präsentierte seiner Zuhörerschaft eine moderne nationalistische Ideologie mit politischen, moralischen und ethnischen Dimensionen. Für Gradovsky bestimmte das Nationalitätsprinzip (natsional'nyi vopros) den Lauf der Ereignisse im 19. Jahrhundert, „als alle Mächte Europas sich vorbereiteten, an dem Spiel teilzunehmen" 60 . Gradovsky glaubte, dass Russland an der Schwelle eines Krieges stehe, um den slawischen Völkern des Osmanischen Reiches zu helfen, „deren nationale Rechte in der brutalsten und verabscheuungswürdigsten Weise unterdrückt worden waren". Er gab zu, dass das die Gefühle vieler Russen seien, doch er argumentierte, dass man die

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Zur Geschichte des Nationalismus als einer Idee vgl. Hans KOHN, The Idea o f Nationalism. A Study in its Origins and Background, N e w York 1945. 58 Wohlgemerkt hatte auch fur die Modernisierer das Nationalitätsprinzip oft eine rein kulturelle Konnotation. 59 Aleksandr Dmitrievich GRADOVSKY, Natsional'nyi vopros [Die nationale Frage], in: DERS., Sochinenia [Werke], St. Petersburg 2001, S. 3 6 4 - 4 0 3 . Der Aufsatz basiert auf drei Vorträgen, die Gradovsky im Dezember 1876 in St. Petersburg gehalten hat. 60 Ebd., S. 365.

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Logik der Prinzipien, für die man zu kämpfen bereit war, verstehen müsse 61 . Dementsprechend begann er mit der Untersuchung der Nationalitätsprinzipien, die ihre „Grundlagen in den Gesetzen der welthistorischen Entwicklung" hätten, und ruhte nicht, bis er das, was er eine „Theorie der Nationalität" (teoría narodnosti) nannte, skizziert hatte 62 . Indem er implizit Fichte zitierte, rief er die Idee der deutschen klassischen Philosophen wach, dass das Heimatland eines zivilisierten Christen Europa sei, während in Europa dieser zivilisierte Christ sich einem Land anschließen müsse, das zu diesem Zeitpunkt an der Spitze der Zivilisation stehe. Seine Aufgabe sei demnach, Errungenschaften dieses Vorkämpfers der Zivilisation in seine eigene Umgebung zu übertragen. Dieser Vision der deutschen Philosophie (vor allem Hegel und Fichte) stellte Gradovsky seine eigene Interpretation gegenüber, gemäß der jedes Volk in seiner Geschichte ein besonderes Element der allgemeinen Komponenten des menschlichen Geistes widerspiegelt. Nationalitäten sind also die Bedingung für die freie Entwicklung von Individualität in der Geschichte63. Gradovsky nahm an, dass Nationalität eine moderne Idee sei; sie habe ihren Weg in die meisten europäischen Länder gefunden, und zwar trotz der Wirkungen des europäischen Erbes, wie Feudalismus, Katholizismus und einem durch Eroberung geborenen Staat. Die Begründung des Staats durch Eroberung habe zur Entstehung der Aristokratie gefuhrt, die die Gesellschaften in ganz Europa in sich einander fremd gegenüberstehende Gruppen aufspaltete; der Feudalismus habe die Länder in winzige Staaten geteilt; der Katholizismus mit seinen paneuropäischen Bestrebungen habe zudem beigetragen, Unterschiede zwischen Nationen zu beseitigen. Dagegen hätten die Entwicklung eines staatsbürgerlichen Bewusstseins, die Zentralisierung der Staaten und die Entstehung nationaler Sprachen (insbesondere in Verbindung mit der Reformation) mitgeholfen, die „Idee der Nationalität" zu schmieden. Und dies seien zugleich die Kräfte gewesen, „denen Europa seine Zivilisation verdankt. Nationalität ist das Ergebnis jener Kräfte, die die durch Eroberung geschlagenen Wunden heilen und den Feudalismus zerstören, die übersteigerte Autorität des päpstlichen Stuhls zertrümmern, feste Grundlagen für die Gedankenfreiheit legen und Grundprinzipien fur den neuen Staatsaufbau ausarbeiten konnten. Sollten wir nicht diese Ergebnisse als der ganzen Menschheit gemeinsames Kulturgut im besten Sinne des Wortes bezeichnen" 64 ?

Nationalität war für Gradovsky in dem Phänomen der Französischen Revolution zusammengefasst. Frankreich konfrontierte Europe mit dem „Beispiel 61 62 63 64

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

365, 368. 368. 369 f. 377-388.

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eines Landes, wo freie Institutionen das Volk und die Regierung vereinigten"; Frankreich war ein „Land, das als eine Nation fühlte und handelte"65. Das leuchtende Drama der Französischen Revolution „stürzte die gesamte europäische Gesellschaft um". Zur gleichen Zeit stimulierten die napoleonischen Kriege den modernen Nationalismus: Gradovsky stellte fest, dass die hellsten Köpfe Europas in der Befreiung und Organisation von Nationalitäten die Garantie für eine bessere politische und soziale Entwicklung Europas erblickten. Die durch das Durcheinander der Jahre 1813 und 1814 geforderten großen Nationalbewegungen weckten in den europäischen Gesellschaften ein neues Gefühl von Selbstachtung. Trotz der konservativen Versuche in ganz Europa, den Nationalitätenkampf zu unterdrücken, zerstörten die Revolutionen von 1848, die Einigungen Italiens und Deutschland das Vermächtnis des Wiener Kongresses und damit die legitimistische Vision von Europa vollkommen66. Für Gradovsky war die Idee der Nationalität von gemeineuropäischer Bedeutung. Sie entstand zwar im Westen Europas, galt aber als universelles Prinzip auf dem ganzen Kontinent67. Da Nationalität der europäischen Kultur immanent war, konnten auch die Slawen Europas den Anspruch erheben, eine nationale Kraft zu sein, die den „kultivierten Völkern Europas" gleichberechtigt war. Gradovsky sah eine Zeit voraus, da die Gleichberechtigung der Slawen mit den anderen Völkern Europas akzeptiert und gefestigt sein würde. Da die Proklamation des Nationalitätenprinzips das Ergebnis einer Jahrhunderte langen kulturellen Entwicklung und ein gemeinsames Erbe aller europäischen Völker war, musste die nationale Wiedergeburt der Slawen für Gradovsky nicht notwendigerweise Separation und Isolation bedeuten. Doch nur durch die Entwicklung ihrer nationalen Besonderheit könnten sie wirklich den Rang europäischer Völker erlangen68. Die Kombination von slawophilem Interesse an der Landgemeinde und allgemeiner Akzeptanz des Nationalitätenprinzips als Interpretationsrahmen, innerhalb dessen die europäischen Entwicklungen zu erklären waren, entstand, als die Einigung Deutschlands, das Aufkommen des Nationalismus in den slawischen Gebieten des Habsburgerreichs und der Niedergang des Osmanischen Reichs die „slawische Frage" in das Zentrum der russischen Debatten über Europa rückten69. Das Ergebnis war, dass das panslawische Gefühl hohe Wogen schlug, insbesondere in der Atmosphäre im Vorfeld des 65

Ebd., S. 393. Ebd., S. 395. 67 Ebd., S. 397. 68 Ebd., S. 402 f. 69 Vgl. Hans KOHN, Pan-Slavism, Its History and Ideology, Notre Dame, Ind. 1953; Michael Boro PETROVICH,. The Emergence of Russian Panslavism, 1856-1870, N e w York 1956; Jelena MILOJKOVIC-DJURIC, Panslavism and National Identity in Russia and in the Balkans, 1830-1880: Images of the Self and Others, Boulder 1991.

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russisch-türkischen Kriegs von 1876-1877. Häufig wurden die Ideen von einer Einheit der Slawen mit sozialdarwinistischen Theorien vermischt; die Ergebnisse der russischen liberalen Reformen der 1860er Jahre erhöhten das Entwicklungstempo und untergruben traditionelle Lebensweisen. Aus dieser explosiven Mischung resultierten die ersten Vorstellungen von Russland als einer einzigartigen Welt, die sich zumindest von den westeuropäischen Ländern unterschied. Der wichtigste Repräsentant dieser Entwicklung war Nikolai Iakovlevich Danilevsky (1822-1885), der behauptete, dass die Russen zusammen mit anderen Slawen eine Zivilisation bildeten, die sich von der „romanisch-germanischen" Welt des Westens unterscheide und ihr entgegengesetzt sei 70 . Dennoch war Danilevsky, wie Mark Bassin gezeigt hat, hinsichtlich Russlands nicht-europäischer Natur mehrdeutig. Danilevskys Hauptanliegen war es, eine Gemeinschaft slawischer Völker zu behaupten, ein Abbild der pangermanischen Bewegung und eine Antwort auf sie 71 . Für Danilovsky schien Europa aus großen Zivilisationsblöcken zu bestehen, dem romanisch-lateinischen, dem germanischen und dem slawischen. Zwar hat Danilevsky als ideologischer Vorläufer des sowjetischen Totalitarismus, seines Autarkiestrebens und seiner anti-westlichen Einstellung viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, seine Schriften waren aber nicht besonders einflussreich 72 . Russlands Balkanpolitik änderte sich zu oft, als dass sie einen dauerhaften Einfluss auf die geistigen Entwicklungen hätte nehmen können, und für die Mehrheit der gebildeten Russen blieb die Zugehörigkeit ihres Landes zu Europa eine feststehende Tatsache 73 . Jedenfalls spielten viele russische Intellektuelle mit den Gedanken Chaadaevs einer messianischen Mission Russlands in Europa; für andere war es wichtiger, Russlands zivilisierende Aufgabe im Osten erneut zu betonen, die ihre Identifikation mit Europa unterstrich. Man erinnere sich an Dostojewskis Bekenntnis, dass jeder Russe „die alten Steine Europas" verehre, und an seine Auffassung, dass Russland sich auf Asien konzentriere solle, wo es als ein Herr handeln könne (wohingegen es in Europa oft ein Sklave sei). Diese Gefühle wurden auf offizieller Ebene geteilt, und in dem Memorandum, das die Einrichtung russischer Protektorate 70

Nikolai Iakovlevich DANILEVSKIII, Rossia i Evropa [Russland und Europa], Moskva 1871 ; Danilevsky war auch der Verfasser von Darvinizm [Darwinismus], Moskva 1885; zu Danilevskys Bedeutung für die Entwicklung von Zivilisationstheorien vgl. Robert E. MACMASTER, Danilevsky and Spengler: A New Interpretation, in: The Journal of Modern History 26 (1954), S. 154-161. 71 BASSIN, Russia (Anm. 1). 72 Robert E. MACMASTER, Danilevsky: A Russian Totalitarian Philosopher, Cambridge 1967. 73 Natürlich soll nicht bestritten werden, dass die slawische Frage viele russische Intellektuelle beschäftigte. Allerdings war dieses Interesse am Schicksal der slawischen Untertanen des Habsburger- und des Osmanischen Reiches kaum so groß, dass es Danilevskys Ansichten zum Allgemeingut gemacht hätte.

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in Zentralasien ankündigte, erinnerte Kanzler Gorchakov an das Recht und die Verpflichtung jedes zivilisierten Staates, an seinen Grenzen zu wilden Völkern die Ordnung aufrechtzuerhalten 74 . Im Gefolge der Großen Reformen diversifizierte sich das geistige Leben Russlands in extremer Weise, und man würde wahrscheinlich bei vielen Texten russischer Intellektueller vergeblich versuchen, spezifische Einstellungen gegenüber „Europa" herauszufiltern. Es scheint, dass in dieser Epoche in den Augen vieler Russen die Notwendigkeit schwand, der europäischen Öffentlichkeit zu beweisen, dass Russland ein europäischer Staat sei. Zur gleichen Zeit hörte das „Europäisch-Sein" des Adels auf, als Schlüssel für den sozialen Aufstieg zu dienen. Auch das neue geistige Klima mit seiner Betonung positivistischer Wissenschaften (sei es Soziologie oder die marxistische politische Ökonomie) anstelle von philosophischer Abstraktion begünstigte ein Nachdenken über „Europa" nicht gerade. Es scheint jedoch, dass für die meisten gebildeten Russen weiterhin das Bild Europas als eines fortgeschrittenen Erdteils, der aus verschiedenen Nationen bestand, die intellektuelle Szene dominierte. Die Entstehung der russischen Befreiungsbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts veränderte an der Wahrnehmung Europas zunächst nicht viel. Die russischen Freunde des Volks glaubten, selbst wenn sie mit den Ideen Saint-Simons, Fouriers oder Feuerbachs vertraut waren, an eine besondere Mission des russischen Volkes in Europa. Sie ersetzten Christentum durch Sozialismus und glaubten weiterhin fest an die welthistorische Mission des russischen Bauern. Dieser Partikularismus änderte sich jedoch mit dem Aufstieg des Marxismus. Letzterer war mit seinem Szientismus und mit seinem festen Fortschrittsglauben in seiner Substanz universalistisch. Überdies verortete er Russland unter den am wenigsten wahrscheinlichen Kandidaten fur die sozialistische Revolution, denn alles, was für die Revolution erforderlich war - die organisierte und zahlreiche Arbeiterklasse, ein hohes Niveau industrieller Entwicklung und eine kapitalistische Produktionsweise auf dem Land fehlte in Russland oder war auf einem niedrigen Entwicklungsstand. Zunächst verbanden die russischen Marxisten Europa mit einer fortgeschrittenen Entwicklung auf dem Weg zur sozialistischen Revolution, und das änderte sich erst 1917, als, wie Martin Malia bemerkte, die russische Troika in die unwahrscheinliche Position des weltweit Führenden in Bezug auf Fortschritt und Modernität katapultiert wurde 75 . Dementsprechend wurde Europa nun als Heimstatt „imperialistischer Mächte" oder als lediglich geographische Einheit betrachtet. Dagegen hätten am Vorabend des Ersten Weltkriegs nur wenige Russen bezweifelt, dass Russland ein europäischer Staat sei. Russi74

Gorchakovs Memorandum ist abgedruckt in: George VERNADSKY (Hrsg.), A Sourcebook for Russian History from Early Times to 1917, New Haven, Conn. 1972, S. 610. 75 MALIA, Russia under Western Eyes (Anm. 8), S. 3.

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sehe Liberale beschworen sogar den Gedanken, dass sich Russland in diesem Krieg mit den europäischen Demokratien verbinde, um die Kernsubstanz der Zivilisation und des Geistes Europas zu bewahren, während sie Autokratie oft mit „asiatischem" Despotismus gleichsetzten, insofern als sie verstärkt dahin tendierte, mit autochthonen Formen der Modernisierung zu experimentieren. Es bedurfte des Erlebnisses des Krieges und der folgenden Revolution, damit unter den russischen Emigranten, die die jüngsten Ereignisse verarbeiteten, ein völlig neues Europabild entstand. Dieses neue Europabild war mit der geistigen und politischen Bewegung der Eurasier verbunden76. In dem, was von einem modernen Historiker eine „entschiedene Verteidigung des Russischen Reiches" genannt wurde, legten sie nahe, dass Russland eine Welt fur sich sei, weder europäisch noch asiatisch (auch wenn ihrer Feindschaft gegenüber Europa keine offensichtlichen negativen Gefühle gegenüber Asien entsprachen)77. Die Eurasier glaubten, dass die Russen ethnisch, sprachlich, geographisch und wirtschaftlich den finno-ugrischen und den Turkvölkern Osteuropas und Nordasiens näher stünden als den mit ihnen genetisch verwandten Westslawen. Auch in geographischer Hinsicht sei Russland eine eigene Welt, ein neuer Kontinent, definiert durch Boden und Klimazonen mit der entsprechenden Flora und Fauna. Als eine eigentümliche Mischung aus Konservatismus und Avantgardismus schlug der Eurasianismus ein neues Europabild vor, das den „schrittweisen Verlust der beherrschenden Position der weißen Rasse" und die heraufziehende Auflösung der Kolonialreiche widerspiegelte 78 . In den Krisenjahren 76

Allgemeine Darstellungen der eurasischen Lehre finden sich bei: Otto BÖSS, Die Lehre der Eurasier. Ein Beitrag zur russischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1962; Nicholas V RIASANOVSKY, Prince Ν. S. Trubetskoi's .Europe And Mankind', in: Jahrbücher fur Geschichte Osteuropas 13 (1964), S. 2 0 7 - 2 2 0 ; DERS., The Emergence of Eurasianism, in: California Slavic Studies 4 (1967), S. 3 9 - 7 2 ; DERS., Asia through Russian Eyes, in: Russia and Asia. Essays on Russian Influence upon Asian Peoples, hrsg. von Wayne S. Vuchinich, Stanford 1972, S. 3 - 2 9 ; Leonid LuKS, Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 34 (1986), S. 3 7 4 - 3 9 5 . An neueren Arbeiten sind zu nennen: Exodus to the East: Forebodings and Events: An Affirmation of the Eurasians, hrsg. von Ilya Vinkovetsky and Charles Schlacks, Idyllwild, California 1996, S. 143-174; O Evrazii i evraziitsakh (bibliograficheskii ukazatel') [Eurasien und die Eurasier. Eine Bibliographie], Petrozavodsk 1996; Assen IGNATOW, Die Neubelebung des .Evrazijstvo'-Mythos, in: Berichte des B I O S 15 (1992); Sergei POLOVINKIN, Evraziistvo i Russkaia emigratsia [Eurasianismus und die russische Emigration], in: Nikolai Sergeevich TRUBETSKOI, Istoria. Kul'tura. Iazyk. [Geschichte. Kultur. Sprache], hrsg. von V. M. Zhivov, Einführung von N. I. Tolstoi und L. N. Gumilev, Moskva 1995, S. 731-762; David Chioni MOORE, Colonialism, Eurasianism, Orientalism: N. S. Trubetzkoy's Russian Vision, Besprechung von N. S. Trubetzkoy, T h e Legacy of Gengiz Khan and Other Essays on Russia's Identity, hrsg. von Anatoly Liberman (Ann Arbor 1991), in: Slavic and East European Journal 41 (1997), S. 3 2 1 - 3 2 9 . 77

Nicholas V. RIASANOVSKY, Asia Through Russian Eyes, in: Russia and Asia (Anm. 76), S. 3 - 2 9 . 78 RIASANOVSKY, Prince N.S. Trubetskoi's .Europe And Mankind' (Anm. 76), S. 2 0 7 - 2 2 0 .

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zwischen den beiden Weltkriegen waren es nicht nur die Eurasier, die Visionen supranationaler Strukturen mit einem versteckten imperialistischen Hintergrund entwarfen: Zur gleichen Zeit begann Richard von Coudenhove-Kalergi (ein anderer Vertreter eines zugrunde gegangenen multinationalen Reichs) seine Paneuropaideen zu propagieren (wobei nebenbei die Kolonialgebiete in Afrika in ein „Größeres Europa" einbezogen waren) 79 . Einer der Anstöße für die eurasische Lehre war eine entschiedene Ablehnung Europas. Anders als die russischen Konservativen des 19. Jahrhunderts, die sich dagegen wandten, dass Russland die europäische Entwicklung gemäß den Vorgaben eines aus einer positivistischen Weltsicht, demokratischen Verfahren und freiem Wirtschaftsunternehmertum zusammengewürfelten Ideenkomplexes mitvollziehen sollte, aber dennoch Russlands Platz in Europa zu finden suchten, erklärten die Eurasier Russland zu einer Zivilisation abseits von der romanisch-germanischen Welt. Überdies betrachteten die Eurasier die Welt als aus verschiedenen Kulturen zusammengesetzt und erklärten, dass jede von ihnen den anderen gleichwertig sei. Nikolai Sergeevich Trubetskoi (1890-1938), dessen Buch Europa und die Menschheit zu den ersten Publikationen der Eurasier zählte, äußerte sein Unbehagen über die in der Aufklärung wurzelnde positivistische Tradition, die die historische Überlegenheit der europäischen Kultur begründete 80 . Für Trubetskoi reichten die Schrecken des Ersten Weltkriegs aus, um die Barbarei der ,/omanisch-germanischen" Welt zu belegen, die die Barbarei nichteuropäischer Wilder übersteige. Die europäische Kultur stelle nicht den Maßstab für Fortschrittlichkeit dar; sie sei Ausdruck des spezifisch romanischgermanischen Geistes. Im Vorgriff auf die geistigen Entwicklungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich bemühten, die Verbindung zwischen Kultur und Imperialismus zu entlarven, argumentierte Trubetskoi, dass Europa nicht der Anführer des Fortschritts sei; vielmehr sei es ein gefahrlicher und aggressiver Plünderer, der „fortschrittliche Ideen" vorschütze, um seine eigene koloniale Herrschaft in der Welt aufrechtzuerhalten. Das durch die Revolution und den Bürgerkrieg geschwächte Russland habe keine andere Wahl, als ein Kolonialland zu werden, und die Aufgabe der Intelli79

Richard COUDENHOVE-KALERGI, Kommen die Vereinigten Staaten von Europa?, Wien 1934; schon vor dem Krieg gab es Diskussionen über „Eurafrika"; vgl. Charle-Robert AGERON, L'idée d'Eurafrique et le débat colonial Franco-Allemand de l'entre-deux-guerres, in: Revue d'Histoire Moderne et Contemporaine 22 (1975), S. 446-475. 80 Nikolai Sergeevich TRUBETSKOI, Evropa I chelovechestvo [Europa und die Menschheit], Sofia 1920. Trubetskoi ist angemessen analysiert worden von Nicholas V. RLASANOVSKYM, Prince Ν. S. Trubetskoi's „Europe and Mankind", in: Jahrbücher fur Geschichte Osteuropas 13 (1964), S. 207-220; Anatoly LIBERMAN, Postscript to N. S. Trubetzkoy, The Legacy of Gengiz Khan and Other Essays on Russia's Identity, hrsg. von Anatoly Liberman, Ann Arbor 1991. Vgl. auch die Besprechung der letztgenannten Publikation von MOORE, Colonialism (Anm. 76).

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gentsia sei es, gegen die Fortschrittsideologie anzukämpfen, die die koloniale Eroberung durch die Europäer erleichtere. Das eurasische Europabild war in der Tat bemerkenswert neu: Erstmals in der russischen Geschichte (und es war gleichzeitig ein sehr frühes Beispiel für Kritik an der Verbindung von Kolonialismus und Kultur in der europäischen Geschichte überhaupt) konstruierten russische Intellektuelle ein Europabild, in dem die europäischen Ansprüche, eine allgemeine Kultur zu repräsentieren, mit „Unzufriedenheit mit der Moderne", Unterdrückung und Ausschluss in Verbindung gebracht wurden. Mit dieser Konzeption nahm Trubetskoi die Kritik am „Westen" vorweg, die im späten 20. Jahrhundert ein Gemeinplatz im akademischen Diskurs wurde. Gleichzeitig hatte diese Kritik an der europäischen Moderne mit ihrer kapitalistischen Gesellschaft, ihrem standardisierenden Anspruch und ihrer liberalen Demokratie einen bemerkenswert „europäischen" Zug und ähnelte der konservativen Modernismuskritik im Europa der Zwischenkriegszeit81. Überdies wies die anti-modemistische und anti-europäische Rhetorik der Eurasier häufig allzu starke Anklänge an faschistische und von rechts kommende Angriffe auf die moderne europäische Kultur auf. Für Trubetskoi hatten die Erfahrung des Krieges und der Revolution eine globale Bedeutung, die die auf Russland bezogene Relevanz überstieg. In Wirklichkeit handelte sein Buch nicht von „Russland und Europa", wie Nikolai Danilevsky seine Abhandlung betitelte82. In Trubetskois antikolonialer Vision würde die neue Ära, die nach der Katastrophe Europas im Ersten Weltkrieg begann, den Aufstieg der Kolonialvölker erleben, allerdings nur, wenn ihre Anfuhrer die Gefahr erkannten, die in der Annahme europäischer Werte und Einstellungen durch Nichteuropäer liege. Außerdem verlangte Trubeskoi, dass Kategorien von Höher- und Minderwertigkeit aus der Anthropologie, Geschichte und Ethnographie getilgt würden und diese Wissenszweige wertfrei sein sollten. Solange das nicht erreicht sei, bleibe die europäische Gelehrsamkeit ein Werkzeug der kolonialen Herrschaft83. *

81 Ein Vergleich zwischen den Eurasiern und der deutschen konservativen Revolution ist zu finden bei Leonid LUKS, Die Ideologie der Eurasier im zeitgeschichtlichen Zusammenhang, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 34 (1986), S. 374-395. 82 Zum Verhältnis Danilevskys zum Eurasismus vgl. Stefan WIEDERKEHR, Der Eurasismus als Erbe N. Ja. Danilevskijs? Bemerkungen zu einem Topos der Forschung, in: Studies in East European Thought 52 (2000), S. 119-150. 83 TRUBETSKOI. Evropa i Chelovechestvo (Anm. 80). Zitiert nach Nikolai Sergeevich TRUBETSKOI, Evropa i Chelovechestvo [Europa und die Menschheit], in: DERS., Istoria (Anm. 76), S. 81 f.

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Die Konstruktion des Europabildes in Russland in den letzten beiden Jahrhunderten wurde durch das geistige Klima Europas, die Ziele deqenigen, die den Begriff „Europa" verwendeten und, in einem weit geringeren Maß, von denjenigen Bildern geprägt, die Europäer von Russland hatten. Als die Russen nach Europa kamen, hatten sie eine geringe Kenntnis von und eigentlich auch nur ein geringes Interesse an der Europaidee. Ihre ersten Eindrücke waren ein reines Potential, und im Verlauf der europäisierenden Reformen übernahm die russische gebildete Gesellschaft das Bild Europas als eines Reichs der Aufklärung und des Fortschritts in vollem Umfang. Veränderungen in der politischen und sozialen Ordnung in Westeuropa, die ihren Höhepunkt zu einer Zeit erreichten, als Russland seine eigene europäisch geprägte Oberschicht hervorbrachte, führten dazu, dass die Anwendbarkeit europäischer politischer Strukturen auf Russland in Zweifel gezogen wurde (was sich auch in einer positiveren Beurteilung von Russlands vorpetrinischer Vergangenheit widerspiegelte). Zur selben Zeit lieferte die entstehende romantische Philosophie einen passenden Kontext für die Entwicklung eines Nationalismus in den Reihen der Eliten. Das Bild Europas als eines gemeinsamen Raumes fur verschiedene Nationen sprach die Vertreter unterschiedlicher geistiger Richtungen an. Diese Idee mit ihrem Potential, das Raum sowohl für radikale politische Programme als auch für konservative Ideologien bot, beherrschte die russischen Europaperzeptionen, bis das Projekt der Europäisierung durch den Ersten Weltkrieg und die Revolutionen von 1917 zunichte gemacht wurde. Erst nach diesen Ereignissen trugen die russischen Intellektuellen den Gedanken vor, dass Russland kein Teil Europas sei, während Europa selbst aus einem Unbehagen über moderne Entwicklungen heraus als eine aggressive und kolonisierende Macht erschien, gegen die sich die gesamte Menschheit erheben sollte. Obwohl es ein gewaltiger Fehler wäre, die Geschichte der russischen Europaperzeptionen als eine kontinuierliche Entwicklung darzustellen, die durch aufeinander folgende paradigmatische Bilder geprägt wurde, ist man geneigt, diese vier Wahrnehmungen die tabula rasa Petr Tolstoys, die aufgeklärte europäische Gemeinschaft, die sich in die legitimistische, nationale und etatistische Gemeinschaft Karamzins verwandelte, das Europa der Nationen Gradovskys und schließlich das Trubetskoi'sche Europa des Kolonialismus, Imperialismus und der nivellierenden Modernität - als weitgehend repräsentativ für das zu betrachten, was Russen über „Europa" dachten. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützten verschiedene sowjetische Führer die Idee Charles de Gaulles' von einem „Europa vom Atlantik bis zum Ural". Wie bei Mikhail Gorbatschows Ruf nach einem „gemeinsamen europäischen Haus" waren das wenig mehr als politische Slogans ohne einen fruchtbaren geistigen Gehalt. Es bleibt abzuwarten, ob die Sympathie, die die

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heutigen Russen gegenüber Europa empfinden (wie uns die Soziologen versichern), zu konzeptionellen Neuerungen in diesem faszinierenden Thema fuhren wird. (Übersetzt von Matthias Schnettger)

Summary The article explores the development of Russian ideas about "Europe". Initially, Russian travellers to European states in the early 18th century approached Europe with a remarkable openness. Until the time of Nikolai Karamzin (and including his early writings), Russian intellectuals saw Europe as a realm of progress and Enlightenment, to which Russia undoubtedly belonged. With the emergence of the Russian leisured class and the crisis of the Ancien Regime in Western Europe, Nikolai Karamzin produced a more nuanced vision of Europe: it became a space for various nations, and secured Russia's difference from the changing West European states. Karamzin's vision of Europe as a community of different nations continued to dominate Russia's intellectual landscape until the time when the project of Europeanization was shattered by the revolutionary turmoil in the early 20th century. It was after the Revolution of 1917 that Nikolai Trubetskoi, one of the leaders of the Eurasianist movement, described "Europe" as an aggressive colonialist predator, and argued that Europe's colonial domination of the world was maintained through a particular understanding of history and culture.

„Following the Phases of the Moon" Der Europa-Gedanke in Bulgarien (1762-1939) Von

Ivan Parvev I. Einleitung Der moderne Europa-Begriff ist im Wesentlichen ein Produkt des aufgeklärten 18. Jahrhunderts. Für sein Entstehen, das sich im Übrigen über einen längeren Zeitraum hinzieht - etwa seit dem 15. Jahrhundert - , spielen sowohl interne als auch externe Faktoren eine beträchtliche Rolle. Zu den „außerkontinentalen" zählen unter anderem die Entdeckung der Neuen Welt, die osmanische Expansion, der Aufstieg des Russischen Reiches usw., zu den „innereuropäischen" hingegen die Entwicklung des Buchdrucks, die Reformation oder die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen seit dem 16. Jahrhundert. Natürlich sind diese Faktoren nicht immer ganz präzise voneinander zu trennen, so etwa im Fall von Überseeexpansion und wirtschaftlicher Entwicklung in Europa, doch um sich die Wechselwirkungen der verschiedenen konstitutiven Elemente zu vergegenwärtigen, ist eine solche Unterscheidung durchaus notwendig1. Betrachtet man die europäische Geschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts unter dem Blickwinkel des Aufkommens der „Europa-Idee", wird man unschwer ein Phänomen ausmachen, das als „implosive Genesis" bezeichnet werden könnte. Mit anderen Worten - ein Begriff, eine Idee wird durch eine starke Fremdeinwirkung ins Leben gerufen, das heißt durch einen „äußeren Druck". Im 8. und auch im 15. Jahrhundert ist dieses „Outer Impact" die muslimische Expansion - im ersten Fall sind es die Araber, im zweiten hingegen die Osmanen2. Und in beiden Situationen sprechen die sich als bedrängt 1 Zur Entwicklung der Europa-Idee in der Frühen Neuzeit vgl. Heinz DUCHHARDT, Europabewußtsein und politisches Europa - Entwicklungen und Ansätze im frühen 18. Jahrhundert am Beispiel des Deutschen Reiches, in: Der Europa-Gedanke, hrsg. von August Buck, Tübingen 1992, S. 120-131; allgemein zur Entwicklung in Deutschland vgl. Heinz GOLLWITZER, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1964; ein europäisches Bild zu diesem Thema bietet Rolf Hellmut FOERSTER, Europa. Geschichte einer politischen Idee, München 1967; Die Idee Europa 1300-1946. Quellen zur Geschichte der politischen Einigung, hrsg. von Rolf Hellmut Foerster, München 1963. 2 Vgl. neuerdings zur Geschichte der muslimischen Expansion im Mittelmeerraum Karen ARMSTRONG, Kleine Geschichte des Islam, Berlin 2001.

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fühlenden Christen von „Europa", das es zu verteidigen gilt. Dieser Begriff wird anfangs als Gegenbegriff gedacht gegen den „aggressiven Anderen", um später als Sinnbild für Zivilisation, Hochkultur und Modernität gerade jene Fremdeinwirkung zu verdrängen bzw. deren Einflussgebiete von Grund auf zu verändern. Zuerst die Gebiete des „ A b e n d l a n d e s " , die katholischen und protestantischen Länder umfassend, wächst der Gedanke von der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Zusammengehörigkeit des Alten Kontinents über jenes „Kern-Europa" hinaus, um im 19. und 20. Jahrhundert die geographischen Grenzen des Erdteils zu erreichen und sogar zu überschreiten. Es ist immer ein schwieriges Unterfangen, ein Land, das nicht durchgehend in seiner Geschichte als eigenständiger Staat existiert hat, in jenen Epochen genau zu verorten, als es ein Teil von Vielvölkerreichen gewesen ist. Im 18. Jahrhundert sind die meisten Bulgaren Untertanen des Osmanischen Reiches, und die von ihnen besiedelten Gebieten befinden sich südlich des Unterlaufs der Donau 3 . Natürlich kann der Begriff „Bulgarien" für die damalige Epoche allenfalls als Terminus technicus verwendet werden, da dieses Land im 18. Jahrhundert nur auf europäischen Karten, in einigen Enzyklopädien oder in der Titulatur mancher Reichsherrscher zu finden ist, nicht aber als eigenständige politische Entität auftritt. Anders verhält es sich nach der staatlichen Wiedergründung Bulgariens im Anschluss an den russisch-türkischen Krieg von 1877-1878, denn da hat das kleine Fürstentum ein konkretes Territorium, ein gekröntes Oberhaupt und wird, wenn auch vorerst als Vasall des Osmanischen Reiches, zum eigenständigen Mitglied der europäischen Staatenfamilie. Das osmanische, das „vorstaatliche Bulgarien" hat mit dem „eigentlichen Bulgarien" nach 1878 also relativ wenig gemeinsam, doch weil die „Vorstellung von Europa" in der bulgarischen Gesellschaft schon vor dieser Zeit zu finden ist, sollte eine solche Differenz eigentlich nicht stören, da bekanntlich langwierige historische Prozesse weder vor Epochen noch vor Staatsgrenzen Halt machen. Ziel dieses Beitrags ist es, die „Europa-Idee" in Bulgarien unter folgenden beiden Gesichtspunkten zu betrachten. Erstens: Als was haben die Bulgaren „Europa" aufgefasst - als einfachen geographischen Begriff, als Zivilisationsstätte, als nachahmenswertes Beispiel oder als etwas Negatives und Verwerf3

Für das Selbstverständnis der gebildeten Bulgaren des 19. Jahrhunderts ist, was ihre Siedlungsgebiete im Osmanischen Reich angeht, vielleicht die Meinung von Petko Slavejkov ( 1827-1895), einem der bekanntesten und produktivsten bulgarischen Literaten, kennzeichnend. In der Zeitung Makedonija (Nr. 6 vom 27. Januar 1868) schreibt er folgendes: „In einem Viereck von 240 000 Quadraten, das sich zwischen der Donau und dem Archipelagus, zwischen Albanien und dem Schwarzen Meer befindet, liegen die Länder, die im Altertum unter den Namen Mösien, Thrakien und Makedonien bekannt sind. Sie entsprechen heute den Vilajets Ruse/Rusçuk, Adrianopel/Edirne, Thessaloniki/Selänik, und sie machen Bulgarien aus". Petko SLAVEJKOV, Säöinenija. Tom Sesti. Publicistika, hrsg. von Stojanka Mihajlova und D o i o Lekov, Sofija 1980, Bd. 6, S. 47.

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liches? Und zweitens: Wie haben sie zum „politischen Europa" gestanden, d. h. zu „Europa" als Macht ausübendem Instrument in der Außenpolitik oder etwa im Sinn einer kontinentalen und supranationalen föderativen Staatengemeinschaft? Da die historiographische Aufarbeitung der bulgarischen EuropaProblematik sich noch im Anfangsstadium befindet, können die nachfolgenden Überlegungen für dieses große und interessante Thema selbstverständlich keinen endgültigen Schlusspunkt bilden 4 . Die Darstellung ist chronologisch in zwei Teile gegliedert. Die erste und zeitlich größere Periode setzt an mit der von dem Mönch Paisij Hilendarski (1722-1773) im Jahre 1762 verfassten Slawisch-bulgarischen Geschichte einem historischen Werk, mit dem man gemeinhin den Beginn der „Bulgarischen Wiedergeburt" verbindet 5 . Dieser Teil endet 1878, also mit dem Jahr der Wiedererrichtung des bulgarischen Staates durch den Berliner Kongress 6 . Die zweite Periode umfasst die eigenstaatliche Entwicklung Bulgariens von 1878 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wobei die Jahre 1918-19 eine natürliche Zäsur bilden. Selbstverständlich sind Epochenbildungen und Chronologien immer etwas Relatives, so dass eine andere Aufteilung bei der Erörterung dieses Problems durchaus möglich wäre. Das Beispiel „Bulgarien und Europa" eignet sich unter anderem dazu, sich die Möglichkeiten einer Gesellschaft zur Modernisierung und ihre Grenzen zu vergegenwärtigen. Dies wird insbesondere durch den Vergleich mit den anderen nationalen und konfessionellen Gesellschaften im Osmanischen Reich verdeutlicht, die sich zeitgleich zu reformieren versuchten. Dass soziale und ethnische Gruppen, die sich mit dem Christentum verbunden fühlten, dabei eine größere Bereitschaft zur „Europäisierung" zeigten, ist mehr als verständlich. 4

D i e bulgarische Geschichtsschreibung widmet sich erst in den letzten Jahren verstärkt der Europa-Rezeption in Bulgarien. V g l . den Sammelband D i e Bulgaren und Europa von der Nationalen Wiedergeburt bis zur Gegenwart, hrsg. v o n Harald Heppner und Rumjana Preshlenova, S o f i a 1999. D i e Arbeit von Nikolaj ARETOV, Bälgarskoto väzrazdane i Evropa, Sofija 1995, bezieht sich vor allem auf einen Teil der bulgarischen Literatur jener Zeit. D a s Problem des nationalen Selbstverständnisses in der W e c h s e l w i r k u n g mit den Nachbarn in Südosteuropa wird als Forschungsthema neuerdings auch von verschiedenen Stiftungen gefordert. V g l . den Doppelband Balkanski identiínosti ν bälgarskata kultura ot m o d e m a t a epoha ( X I X - X X vek). Cast I. i IL, 2 Teile, Sofija 2 0 0 1 . 5 D e r B e g r i f f „Wiedergeburt" hat in der bulgarischen Geschichtsschreibung eine sehr lang e Tradition. Daran anknüpfend, ist dieser Terminus in der heutigen Gesellschaft Bulgariens ebenfalls akzeptiert. Für manchen mittel- oder westeuropäischen Betrachter von heute mag vielleicht der Sinngehalt der „Bulgarischen Wiedergeburt" fur unterschwelligen N a tionalismus stehen, doch die historische A u s g a n g s l a g e im südosteuropäischen 18. Jahrhundert und die Entwicklung danach dürften eine solche Ansicht eigentlich relativieren. 6

Zu d i e s e m für die südosteuropäische und insbesondere für die Geschichte Bulgariens außerordentlich w i c h t i g e n Ereignis vgl. Der Berliner Kongreß von 1878. D i e Politik der Großmächte und die Probleme der Modernisierung in Südosteuropa in der z w e i t e n Hälfte des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Ralph Melville und Hans-Jürgen Schröder, Wiesbaden 1982.

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Um der möglichen Frage zuvorzukommen, warum denn die Darstellung mit 1939 abgeschlossen wird, ist noch Folgendes zu ergänzen: Die Zeit nach 1945 wäre für das Problem „Der Europa-Gedanke in Bulgarien" sicherlich wichtig, doch es scheint, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Fremdeinwirkung auf die bulgarische Gesellschaft, bedingt durch die ideologische Ost-West-Konfrontation und den „Kalten Krieg", viel zu stark gewesen ist, um diese Zeit ohne weiteres mit den vorangegangenen knapp 200 Jahren vergleichen zu können. Daher sollte man dieses spezifisch zeitgeschichtliche Thema eher gesondert untersuchen, um es z. B. in einem größeren Zusammenhang - etwa mit dem zeitgleichen Aufkommen der heutigen Europäischen Union - vergleichen zu können. Die dabei gewonnenen Einsichten hätten sicherlich einen höheren Forschungswert, als diese „Bulgarian Case Study" sozusagen „nahtlos" bis auf den heutigen Tag fortzufuhren.

II. Die „vorstaatliche Zeit" (1762-1878) In den 20er und 30er Jahren des 18. Jahrhunderts wurden die von Bulgaren bewohnten Gebiete Südosteuropas zum unmittelbaren Grenzland des Sultansreichs auf dem Alten Kontinent. Der Frieden von Passarowitz (1718) brachte einen Teil der bulgarischen Gesellschaft in einen direkten Kontakt zur Habsburgermonarchie, doch damit nicht genug: Die südosteuropäische Halbinsel wurde zugleich Zeuge einer historisch wichtigen Transformation, die zuerst das osmanische Ungarn und Siebenbürgen, später auch weite Teile Serbiens und der Walachei betraf und, so glaubten viele damalige Zeitgenossen, wohl erst vor Konstantinopel Halt machen würde. Auf den ersten Blick handelte es sich um nichts weiter als um Gebietsabtretungen, die eine unterlegene Kriegspartei dem Überlegenen als Siegespreis zu konzedieren hatte. Könnte man sich hingegen in die damalige Epoche hineinversetzen, würde man jene Zeit möglicherweise durchaus mit der „Großen Wende" der ausgehenden 80er Jahre des 20. Jahrhunderts vergleichen. Es gibt zwar genug Tatsachen, die belegen, dass die neuen kaiserlichen Untertanen in Südosteuropa mit den Steuern und den anderen Lasten wohl nicht immer zufrieden waren - orthodoxe Bauern haben in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts revoltiert in der Überzeugung, unter dem Türken zu leben sei erträglicher gewesen - , trotzdem setzte dieser Umbruch ein deutliches Zeichen für die nichtmuslimischen Untertanen des Sultans, dass im Südosten des Kontinents ein selbständiger christlicher Herrscher weite Teile der Halbinsel beherrschte bzw. in Zukunft noch weitere beherrschen würde. Die kaiserliche Niederlage im habsburgisch-osmanischen Krieg von 173739 brachte einen Großteil der in Passarowitz an Karl VI. abgetretenen Gebiete wieder unter die Herrschaft des Sultans. Auch die Bulgaren bewohnten

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von nun an nicht mehr eine Grenzregion, sondern ein Hinterland im Reich der Osmanen. Trotzdem perpetuierten allein die Tatsache, dass die Habsburgermonarchie sich unverändert über weite Teile Südosteuropas erstreckte, und selbstverständlich auch das immer mehr zunehmende militärisch-politische Engagement Russlands auf dem Balkan jene „Wende" und ließen sie greifbar werden. Es ist kaum ein Zufall, dass eben zu jener Zeit der M ö n c h Paisij Hilendarski seine Slawisch-bulgarische Geschichte verfasste. D i e s e s 1762 geschriebene Buch wird in der Forschung üblicherweise als der B e g i n n jener Epoche angesehen, die mit der Ausprägung der modernen bulgarischen N a tion, mit der allmählichen konfessionell-kulturellen Eigenständigkeit und der schließlichen Loslösung v o m Reichsgefiige der Osmanen in Südosteuropa verbunden ist. Im Übrigen suchte und fand Paisij einen Großteil seiner Bücher und Quellen in den südosteuropäischen Randgebieten des Heiligen Römischen Reichs. Der Versuch des Mönchs, seine Landsleute mit ihrer eigenen Geschichte bekannt zu machen, sie zur Benutzung der eigenen Sprache zu ermuntern, hat durchaus europäische Parallelen, sahen sich doch auch ζ. B. deutsche Literaten des 18. Jahrhunderts vor ähnlichen Problemen 7 . Ohne Zweifel ist die Idee von der modernen Nation ein „europäischer Gedanke". D i e bulgarische Wiedergeburt setzte, wenn auch nicht immer be7

Im Vorwort zur Slawisch-bulgarischen Geschichte ist Folgendes zu lesen: „Für euch ist es notwendig und nützlich, die Taten eurer Väter zu kennen, wie die anderen Völker ihre Vorfahren und Sprache kennen; diese haben eine Geschichte und jeder von ihnen, der des Schreibens und Lesens kundig ist, erzählt von seinen Vorfahren und seiner Sprache und ist stolz auf sie. [...] Leset und wisset, damit ihr nicht verhöhnt und getadelt werdet von anderen Völkern und Stämmen. [...] Doch es gibt einige, die mögen nichts über ihr bulgarisches Volk wissen, sondern wenden sich fremder Kultur und fremder Zunge zu und bekümmern sich nicht um ihre eigene bulgarische Sprache. Vielmehr lernen sie, Griechisch zu lesen und zu sprechen, und schämen sich, Bulgaren genannt zu werden. O, verstandslose Missgeburt! Warum schämst Du Dich, Dich Bulgare zu nennen, und liest und sprichst nicht in Deiner eigenen Sprache? Haben etwa die Bulgaren kein Kaisertum [Carstvo] oder keinen Staat gehabt? Sie haben so viele Jahre geherrscht und sind ruhirreich gewesen im ganzen Land, haben Tribut genommen von starken Römern und klugen Griechen. Und Kaiser und Könige haben ihnen ihre Töchter als Frauen gegeben, damit Frieden und Liebe sei mit den bulgarischen Kaisern. Von allen Slawen sind die ruhmreichsten die Bulgaren gewesen, sie haben sich als erste Kaiser genannt, sie haben als erste einen Patriarchen gehabt, sie haben als erste das Christentum angenommen, sie haben auch das meiste Land erobert. [...] Doch warum schämst Du Dich, Einfältiger, Deines Volkes und schleppst Dich zu anderen Sprachen hin? Aber, sagt er, die Griechen sind weiser und haben viel mehr Kultur, während die Bulgaren dumm und einfältig sind und keine feinen Wörter haben. Daher, sagt er, ist es besser, dass wir uns den Griechen anschließen. Doch siehe, Verstandsloser, es gibt viele Völker, die weiser und ruhmvoller sind als die Griechen. Gibt aber deshalb ein Grieche seine Sprache, sein Wissen und sein Volk auf, wie Du es machst, Schwachsinniger, um nichts von der griechischen Weisheit und Feinheit zu haben? Du, Bulgare, lass Dich nicht betrügen, wisse über Dein Volk Bescheid und lerne Deine Sprache!", in: Paisij HILENDARSKI, Istorija slavjanobälgarska, Zografska ¿emova 1762, Faksimile-Ausgabe, Sofija 1998, S. 157-159.

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wusst, auf europäische Vorbilder, wenn es darum ging, die eigene nationale Identität zu definieren - über Sprache, gemeinsame Religion und Kultur, gemeinsame Abstammung. Es ist hier allerdings zu berücksichtigen, dass bei der bulgarischen Nationswerdung im 18. und insbesondere im 19. Jahrhundert eine Überbetonung der slawisch-orthodoxen Komponente festzustellen ist. Dies geschah - was durchaus verständlich erscheint - mit Rücksicht auf die Rolle, die Russland, als Hauptfeind der Osmanen, bei der erwarteten Wiedergründung des bulgarischen Staates gebührte. Das hatte jedoch zur Folge, dass dabei „Orthodoxie", verknüpft mit „Bulgarischer Sprache", als Hauptmerkmal des Nationalen definiert wurde8. „Europa" als ein nachahmenswertes Beispiel rief inmitten der bulgarischen Gesellschaft auf mancherlei Weise Veränderungen hervor. Noch während der osmanischen Herrschaft, also vor 1878, und zeitgleich mit den seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts allmählich eingeleiteten Reformen im Reich des Sultans, insbesondere seit der sog. „Tanzimat-Epoche" (nach 1839), begann sich eine deutliche „Europäisierung" anzubahnen. Im Übrigen wiesen noch Anfang des 19. Jahrhunderts bulgarische Literaten daraufhin, wie wichtig es sei, sich die Errungenschaften der europäischen Zivilisation anzueignen9. Parallel zu den mühsamen und nicht immer sehr erfolgreichen institutionellen Veränderungen im Osmanischen Reich vollzog sich insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine „Europäisierung" auf einer niedrigeren Ebene, die vor allem die bulgarische urbane Gesellschaft erfasste. Das spiegelte sich im Äußeren wieder - etwa in der Kleidung, in der Küche, in der Art 8 Diese so verstandene „nationale Gemeinschaft" sonderte sich also, mehr oder minder bewusst, ab von den Katholiken und den Muslimen, die Bulgarisch sprachen, sowie von einigen kleinen Gruppen orthodoxer Türken, die sich in vorosmanischer Zeit im östlichen Südosteuropa niedergelassen hatten. 9 So schreibt etwa Sofronij VRACANSKI(1739-1815) im Jahr 1802: „ Ö f f n e t die Augen und den Verstand, ihr Bulgaren, meine lieben Kinder, und überlegt und versteht und betrachtet vernünftig, und denkt mit eurem Verstand und handelt bewusst. Handeln so auch die anderen christlichen Völker, welche gebildet und weise Philosophen sind? N u n schaut, und fragt, was sie tun. Seht, w o f ü r sie ihr Geld ausgeben! Geben sie das Geld nicht für Schulen und Akademien und fur Grammatik- und Philosophieunterricht aus? Und sind weise geworden und klug und gebildet und haben sich mit Ruhm und Blüte in der Wissenschaft ausgezeichnet. Und sind keine unterdrückten Sklaven wie wir - ungebildet, ohne Schrift, unwissend, ohne Stimme und Antwort etwa wie ein Vieh. Nun seht, ihr bulgarisches Geschlecht: Welches andere Volk ist so dumm und ungebildet, unter dem Joch so gehorsam und so vielen Völkern untergeben? W a r u m denn? Ist es nicht aus Unbildung? Ist es nicht aus Nachlässigkeit gegenüber den Büchern und Missachtung der Weisheit? Seht die Griechen und die Armenier, seht die Juden und die Europäer - sind es nicht Menschen wie wir? Aber mit der Lehre sind sie zu Herrschern und Gebietern geworden und mit dem Licht des Wissens leuchten sie durch die Welt - nicht wie wir, verdüstert und in geistiger und körperlicher Dunkelheit verfinstert. Oh, unsere Nachlässigkeit, oh, unsere Unvernunft, oh, unsere Sorglosigkeit!" Zitiert nach Plamen MITEV, Europa in den politischen Vorstellungen der Bulgaren zur Zeit der Nationalen Wiedergeburt, in: Die Bulgaren und Europa (Anm. 4), S. 15-26, hier: S. 15 f.

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zu leben, was auch groteske Formen annehmen konnte, da es sich dabei oft nur um oberflächliches Kopieren handelte10. Dieses fur manche überstürzte Aneignen von Europäischem wurde von einigen Literaten heftig kritisiert ζ. B. von Petko Slavejkov11 - , doch das hatte nicht zur Folge, dass man etwa „Europa" als Wertbegriff oder als Sinnbegriff der Zivilisation grundsätzlich infrage gestellt hätte12. 10 Dobri VOJNIKOV (1833-1878) hat ein bekanntes Theaterstück geschrieben, welches den bezeichnenden Namen Die falsch verstandene Zivilisation trägt und wo das blinde Kopieren europäischer Vorbilder im Alltagsleben aufs Korn genommen wird. 11 So schreibt er 1872 Folgendes in der in Konstantinopel erscheinenden Zeitschrift Citaliste („Lesegesellschaft"): „Das blinde Streben, uns den Ausländern anzugleichen, um angeblich wie sie werden zu können, hat dazu geführt, dass wir alles, was unser ist, verschmähen. Je weiter wir angeblich nach vorn schreiten, desto mehr entfernen wir uns vom Leben unserer Väter und Großväter, und desto mehr nähern wir uns dem Abgrund, ohne es zu ahnen". Zitiert nach Rumen D a s k a l o v , Meídu Iztoka i Zapada. Bälgarski kulturni dilemi, Sofija 1998, S. 20 f. (Anm. 47). 12 Petko Slavejkov äußerte sich im Jahr 1866 folgendermaßen über die Beziehung Bulgarien - Europa: „Es wäre sinnlos und schwachsinnig zu verlangen, dass wir, die heutigen Bulgaren, uns in der Zivilisation mit den anderen europäischen Völkern oder gar den Griechen vergleichen können. Abgesehen von unseren anliegenden Hosen und den breiten Krinolinen, durch die wir glauben, dass wir uns europäisiert haben, sind wir 60-70 Jahre hinter den Griechen zurück, 40-45 Jahre hinter den Armeniern, und von anderen europäischen Völkern trennen uns zwei-, dreihundert Jahre und sogar noch mehr. [...] Wir leben in Europa, doch wir sind keine Europäer, oder vielmehr - wir haben europäische Kleider angezogen, doch wir haben die groben Wollsachen der Unwissenheit noch nicht abgelegt, das ist wahr. Wir sehen und wollen den Fortschritt, doch wir verstehen die Grundlagen nicht, auf die er sich stützt, und die Mittel, mit denen er verwirklicht wird. Taten und keine Worte, oder einfacher ausgedrückt, arbeiten und nicht reden, das wird gebraucht. Das Interesse des Einzelnen zum Nutzen von Vielen; Tugend, Heldentum, Wahrheit, Recht, das ist, wessen es bedarf, während die Verneinung all dessen dem Fortschritt schadet. Das und viele andere Sachen haben wir immer noch nicht verstanden. Und vor allem, dass Arbeit, Fleiß, Werktätigkeit und Lebendigkeit verlangt wird! Doch trotz alledem sollten wir geduldig sein und fleißig, und wir werden auch nach vorn kommen. Was jedoch heute unsere Kleider angeht oder unsere lächerlichen Ansprüche aufs Europäische, sind wir nichts anderes als ein Anachronismus in Europa". Petko R. S l a v e j k o v , Säiinenija, Bd. 5: Publicistika, Sofija 1980, S. 229 - die Textpassage entstammt einem Kurzartikel, der unter dem Titel „De sme i kak sme" („Wo sind wir und was sind wir") in der Zeitung Gajda („Dudelsack", Nr. 7 vom 1. April 1866) abgedruckt worden ist. Ähnlich urteilt er auch in seinen späteren Arbeiten, etwa in dem Artikel „Die Grundlagen der heutigen Zivilisation", abgedruckt in der Zeitung Makedonija (Nr. 35 vom 29. Juli 1867), wo es u. a. heißt: „Daher ist es notwendig, dass der Mensch weiß, worin die heutige europäische Zivilisation besteht und welche Ursprünge sie hat. Nur unter dieser strengen Voraussetzung können diejenigen Völker von ihr Gebrauch machen, die sich hinsichtlich ihrer Bildung verspätet haben. Ansonsten sei ihnen der Allmächtige gnädig! Denn dann würden sie den falschen Glanz für wahres Gold halten, die gestellte Schönheit für lebendige Tugend, die leeren Worte für Beredsamkeit, die Versprechen für Taten und die geänderten Kleider und Orte für Gewänder und Wohnstätte der Zivilisationi" (Hervorhebung im Original). Etwas kritischer äußert sich Hristo Botev( 1848-1876), dem sozialistisches und anarchistisches Gedankengut nicht fremd sind, wenn er im Mai 1875 in der in Rumänien erscheinenden Zeitung Duma na bälgarskite emigranti („Wort der bulgarischen Emigranten") schreibt: „Bei uns, wie auch in den anderen Ländern, wird die europäische Zivilisation schon eingeführt. Es werden

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Die Vermittlung europäischer Lebensart geschah auf mannigfaltige Weise. War es im 18. und bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nur einzelnen bulgarischen Händlern vergönnt gewesen, nach Europa zu reisen - etwa nach Wien, Buda oder Leipzig 13 - , die dann, wenn sie in ihre Heimatorte zurückgekehrt waren, Gebrauchsgegenstände oder neue Lebensbräuche europäischer Provenienz mitgebracht hatten, so änderte sich in den folgenden Jahrzehnten die Situation wesentlich. So kam es, dass seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts „Europa" selbst immer mehr seinen Weg in die Gebiete südlich der unteren Donau fand, d. h. die Bulgaren waren nicht notwendigerweise auf sich selbst als Mittler für die Übernahme von „Europäischem" angewiesen. Gemeint sind hier z. B. die vielen ungarischen Flüchtlinge, die sich nach dem missglückten Aufstand von 1848-49 in der Gegend von Schumen ansiedelten und u. a. die erste Bierbrauerei in Bulgarien gründeten14. Gemeint sind auch die vielen Beamten in den europäischen Konsulaten, die in den größeren bulgarischen Städten eröffnet wurden15. Die Ausländer, die dort Posten inneWissens- und Lehranstalten eröffnet, Landwirtschaft und Handel verbessert, die Eisenbahnen durchqueren bereits unser schönes Vaterland, und so nähern wir uns den Europäern. Mit einem Wort: der Fortschritt ist bei uns in allem zu finden, und wir schreiten rasch unserem Glück und Wohlstand entgegen und holen Europa ein. Doch nicht zu hastig, meine Herren! Zusammen mit der Zivilisation kommen zu uns auch die sittlichen, geistigen und körperlichen Laster, die Moden, die Trunkenheit und die Syphilis. Die Bildung oder, wenn man will, die Wissenschaft, die Schulen und Lesegesellschaften [Citaliite] züchten neue Parasiten und Ausbeuter des Volkes und bieten nur den Reichen ein Mittel fiirs Leben. Die Verbesserung der Landwirtschaft und die Entwicklung des Handels wird das Land und dessen Erzeugnisse den Werktätigen aus den Händen nehmen und den Kapitalisten zufuhren. Und die Eisenbahn wird all dies beschleunigen und wird dem Volk so viel Schaden zufügen, wie sie ihren Erbauern und Schutzherren Nutzen bringen wird". Hristo BOTEV, Säbrani säöinenija ν dva toma, Redaktion Mihail Arnaudov, Sofija 1958, Bd. 2, S. 163. 13 Vgl. zu den Bulgaren in Leipzig Ivan PÀRVEV, Bälgarski sledi Ν S v e l e n a t a Rimska imperija na germanskata nacija prez XVIII ν. Iz aktivnostta na balkanskite tärgovci ν Saksonija, in: Balkanistiòen forum 4 (1997), S. 31-391. 14 Vgl. Rajna GAVRILOVA, Die Rolle Mitteleuropas fiir die Europäisierung des bulgarischen städtischen Lebens im 19. Jahrhundert, in: Die Bulgaren und Europa (Anm. 4), S. 27-51, hier: S. 43. - Der Vf. meint, die ungarischen Emigranten „hatten somit einen kleinen Teil der .europäischen' Zivilisation - von Bier und Wurst bis zur Theater- und Musikkunst - nach Bulgarien gebracht". 15 Österreich bzw. Österreich-Ungarn hatte seine Vertretungen in Vama (1844), Ruse (1849), Sofia und Vidin (1851), Plovdiv (1870); Russland in Sliven (1829), Tärnovo (1862), Ruse (1865) und Plovdiv (1857); Frankreich in Varna (1843), Plovdiv (1857), Ruse (1867) und Sofia (1875); England in Varna (1853) und Ruse (1860) usw. Vgl. dazu Marija MATEEVA, Konsulskite otnoSenija na Bälgarija 1879-1986, Sofija 1988, S. 14-16. Die europäischen Großmächte hatten natürlich auch ihre Konsulate in Makedonien - etwa in Thessaloniki (bulg. Solun), Skopje, Bitolja (Manastir) usw. Zu den Konsulaten der Donaumonarchie in Südosteuropa vgl. Leopold KAMMERHOFER, Das Konsulatswesen der Habsburgermonarchie (1752-1918). Ein Überblick mit Schwerpunkt auf Südosteuropa, in: Der Weg fuhr über Österreich ... Zur Geschichte des Verkehrs- und Nachrichtenwesens von und nach Südosteuropa (18. Jahrhundert bis zur Gegenwart), hrsg. von Harald Heppner, Wien/Köln/Weimar 1996, S. 7-35.

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hatten, brachten neben den offiziellen Weisungen ihrer Regierungen auch ihre Kleider, ihre Möbel, ihre Lebensweise mit - und all das wurde von der örtlichen Bevölkerung sehr wohl wahrgenommen. Hierbei ist besonders auf die Donau als einen der wohl wichtigsten Wege für den Transfer von „Europäischem" in Richtung Balkan hinzuweisen. Ein Großteil der bulgarischen Literaten - oder, wenn man so will, auch der bulgarischen Intelligentsija - absolvierte vor 1878 sein Hochschulstudium an europäischen Universitäten. Dabei war Russland mit etwa 32 % der Absolventen führend, gefolgt von Österreich-Ungarn und Preußen bzw. Deutschland mit etwa insgesamt 14 % 16 . Der Besuch von russischen Universitäten war im Übrigen kein Hindernis für das Aufgreifen von „europäischen Ideen", es erwies sich sogar eher als förderlich, insbesondere für das Aneignen von anarchistischem oder sozialistischem Gedankengut. Ein weiterer Beleg für den kontinentalen Einfluss auf die bulgarische Gesellschaft vor 1878 ist die Tatsache, dass in der bulgarischen Presse nach dem Krimkrieg „Europa" als ein fest verankertes Thema präsent ist. Natürlich hat dabei das „Europäische" unterschiedliche Schwerpunkte. Da sind zum einen Technik und Industrie, wobei der Buchdruck, die Seefahrt, die Elektrizität, der Telegraph, die Krupp-Kanonen und besonders die Dampfmaschine spezielle Beachtung fanden. Zum anderen etwa die Bildung, die Entwicklung von Wissenschaften oder ζ. B. das Aufkommen der bürgerlichen Freiheiten, Verfassungen und demokratischen Institutionen. Dabei ist festzustellen, dass Kritik an „Europa" in der damaligen bulgarischen Presse nur ganz selten zu finden ist17. Selbstverständlich nahm auch die Politik der europäischen Großmächte als Thema einen gebührenden Platz in dem damaligen bulgarischen Presse- und Buchdruckwesen ein 18 . Hierbei muss betont werden, dass die Länder des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation eine besondere Rolle bei der Vermittlung der Europa-Idee in der bulgarischen Gesellschaft spielten19. Das geht aller16 Die genauen Zahlen sind für Russland 31,7 %, Österreich-Ungarn 11,4 % und Deutschland 4,0 %. Die Berechnungen fußen auf den Angaben zu 628 Bulgaren, die von den 30er bis zu den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts einen Hochschulabschluss erwarben. Vgl. Nikolaj GENCEV, Bälgarska väzroidenska inteligencija, Sofija 1991, S. 225. Es ist interessant festzuhalten, dass etwa 17 % der Absolventen Hochschulen der Donaufürstentümer besuchten. 17 Vgl. DASKALOV, Meidu Iztoka (Anm. 11), S. 9-12. Ljuben Karavelov (1834/35-1879), ein bekannter Schriftsteller und Literat, rügt in diesem Zusammenhang all diejenigen „Frentzen" unter den Bulgaren, die jedes europäische Werk gutheißen und die sich überhaupt nicht vorstellen können, dass auch „gebildete Völker" Fehler machen können und dass es in der Welt „allzu viele gelehrte und fromme Dummköpfe gibt". Ebenda, S. 23. 18 In der Zeit von den 40er bis zu den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts sind insgesamt 650 Artikel, Broschüren und Bücher auf Bulgarisch erschienen, die sich dieser Problematik widmen. Vgl. MLTEV, Europa (Anm. 9), S. 22 f., der sich auf die Angaben von Manjo STOJANOV, Bälgarski väzroZdenski knigopis 1806-1878, Sofija 1957, stützt. 19 Vgl. dazu Virzinija PASKALEVA, Mitteleuropa und die Entwicklung der bulgarischen Kultur während der nationalen Wiedergeburt (18.-19. Jahrhundert), in: Österreichische

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dings nicht unbedingt direkt und deutlich aus den Zahlen der Bulgaren hervor, die an einer deutschen oder österreichischen bzw. österreichisch-ungarischen Universität studiert haben, sind doch die Absolventen russischer Hochschulen zahlenmäßig viel stärker vertreten. Es geht im „mitteleuropäischen Fall" auch nicht so sehr um den alleinigen Transfer von Europa-Gedanken, um es etwas mechanisch auszudrücken, sondern um die Möglichkeit, eine sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindende, gut funktionierende „europäische Gesellschaft" mit eigenen Augen sehen und darin, wenn auch für kurze Zeit, leben zu können20. Dass dabei Wien ein vollwertiges „Europa-Bild" für die Menschen aus dem Balkan gewesen ist, liegt auf der Hand. Demgegenüber war Russland mit seiner wohlhabenden, gebildeten und sicherlich europäisch denkenden Aristokratie, aber mit fast fehlendem Mittelstand und mit zum größten Teil immer noch entrechteten Bauern gesellschaftspolitisch gesehen eher ein Land, das sich noch in Richtung „Europa" fortbewegte - also fur die Bulgaren eigentlich kein vollwertiges „europäisches Beispiel". Es ist natürlich schwierig, mit Sicherheit festzustellen, welches europäische Land im Bulgarien der Wiedergeburtszeit am meisten assoziiert wurde mit Aufklärung und moderner Zivilisation. Wenn man von den Reformen im Osmanischen Reich selbst ausgeht, hatte Frankreich gewiss eine Sonderstellung. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Veränderungen im Alltagsleben, in der Art der Bekleidung und in den Manieren oft als „AlafrangaMode" bezeichnet21. Das mag man begrifflich auf Frankreich beziehen, doch zugleich kann man es auch auf die im Osmanischen Reich übliche Bezeichnung für Mittel- und Westeuropäer, die allgemein als „Franken" benannt wurden, zurückfuhren. Im Übrigen gab es gewiss bulgarische Literaten, die den Franzosen eine Vorreiterrolle im modernen Europa beimessen wollten, doch ob das als Gemeinplatz gegolten hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen 22 . O s t h e f t e 4 ( 1 9 8 1 ) , S . 4 1 2 ^ 1 2 9 ; u n d GAVRILOVA, D i e R o l l e M i t t e l e u r o p a s ( A n m . 1 4 ) . 20

Ein Bulgare schildert in seinen Erinnerungen auf folgende Weise den Eindruck, den ein Hotel in Pest bei ihm als damals löjährigem hinterlassen hat: „Der Luxus und die Sauberkeit des Zimmers, das mir zugeteilt wurde, faszinierten mich [...]. Das Bett war mit weichen Decken bezogen. Darauf lag ein sehr langes Kissen, dessen Bestimmung ich nicht sofort ausmachen konnte [...]. Für eine Decke war es zu schmal. Es war auch nicht vorgesehen, in diesen weichen Sack hineinzukriechen, da man ihn auftrennen und öffnen musste. Man musste es folglich als eine Decke ansehen und sich halbwegs damit zudecken. Am nächsten Morgen wachte ich allerdings ganz durchnässt auf, wie eine Maus aus dem Wasser, da ich es nicht gewohnt war, in solchen warmen Daunendecken zu schlafen". Vasil ATANASOV, Spomeni iz ¿ivota i dejnostta mi, Sofija 1936, S. 27 f. Vgl. GAVRILOVA, Die Rolle Mitteleuropas (Anm. 14), S. 35. Weiter schreibt Atanasov zu der 1873 in Wien eröffneten Weltausstellung: „Ich fühlte mich wie in einer neuen Welt, die ich kaum verstehen konnte, weil der Kontrast zwischen ihr und meiner Heimat [...] erschreckend groß w a r " . ATANASOV, S p o m e n i , S. 2 8 . 21

Vgl. zu diesem Phänomen Nikolaj GENCEV, Francija Ν bälgarskoto duhovno väzrazdane, Sofija 1979, S. 384-412. 22 So schreibt Petko Slavejkov anlässlich der Weltausstellung 1867 in Paris Folgendes:

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Dass Mitteleuropa auch politisch in der bulgarischen Gesellschaft vor der staatlichen Wiedergründung als eine Art Vorbild diente, ist auch einem bemerkenswerten Projekt aus der zweiten Hälfte der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts zu entnehmen. Das sog. „Geheime Bulgarische Zentralkomitee", eine 1866 in Rumänien gegründete Vereinigung konservativer bulgarischer Emigranten, verfasste ein Memorandum, in dem der Vorschlag unterbreitet wurde, der osmanische Sultan möge sich als „Tsar von Bulgarien" krönen lassen, um danach einen „bulgarisch-türkischen Ausgleich" nach dem Vorbild des gerade ins Leben gerufenen Österreich-Ungarn zu proklamieren. Im Übrigen meinen die meisten Forscher, dass diese Idee keine Chancen auf Verwirklichung gehabt habe, indem sie sowohl auf die inzwischen weit fortgeschrittene nationale Entwicklung der Bulgaren als auch auf die ablehnende Haltung der osmanischen Behörden hinweisen, die das Memorandum überhaupt nicht als erörternswert erachteten23. Das ist sicherlich auch wahr, nur muss man sich nicht im Nachhinein fragen, ob eine grundlegende Umwandlung, eine radikale Modernisierung des Osmanischen Reiches, auch wenn das unter Umständen den teilweisen, wenn nicht gar völligen Verlust seiner klassischen muslimischen Identität in Südosteuropa bedeute hätte, nicht die wohl einzige Möglichkeit gewesen wäre, dem Überleben dieser „Turkey in Europe" noch eine Chance zu geben? Es versteht sich von selbst, dass der radikale Flügel der bulgarischen nationalen Bewegung die Idee eines „bulgarisch-türkischen Dualismus" verwarf, denn den Revolutionären schwebte ein anderes „europäisches Beispiel" vor, das es zu befolgen galt - die durch Revolution und Krieg erzwungene staatliche Befreiung und Einigung Italiens und später auch Deutschlands24. Es ist „Seit langem ist Frankreich dasjenige Land, wo die heutige Zivilisation ihren herrschenden Thron aufgeschlagen hat und wo die unvergleichliche Lebendigkeit des französischen Elements den Blick aller europäischen Staaten, was die Politik angeht, und jeder Privatperson der vielen Völker Europas, was die geistige Entwicklung anbelangt, auf sich gezogen hat und heute noch auf sich zieht". SLAVEJKOV, Säiinenija (Anm. 12), Bd. 6, S. 37. Andererseits bezeichnet Slavejkov einige Monate später England als das „aufgeklärteste Land in Europa". Ebd., S. 142. Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870-71 äußert sich derselbe Literat auf folgende Weise über Preußen, indem er über die Bereitschaft der höheren und niederen Ränge, sich in Zeiten der Not denjenigen unterzuordnen, die über die Sachen besser Bescheid wissen, räsoniert: „Jeder an seinem Platz - das ist die Regel der vernünftigen Preußen, das ist die große Grundlage, die sie durch die tiefe Bildung gewonnen haben. Ehre und Ruhm den Deutschen, die zu solchen Aufopferungen fähig sind und die die Regel der Wissenschaft und der Erfahrung in ihrem Verhalten anwenden! Jeder kann nun sagen, dass die Macht und der Triumph solchen Völkern vorbehalten sind". Ebd., Bd. 6, S. 529 (Hervorhebung im Original). 23

Vgl. dazu MlTEV, Europa (Anm. 9), S. 25. Ljuben Karavelov verwirft den eventuellen bulgarisch-türkischen Ausgleich auch mit aufklärerischen Argumenten. So schreibt er in der ersten Nummer der Emigrantenzeitung Svoboda („Freiheit"), die am 7. November 1869 in Bukarest erschien, Folgendes: „Jeder weiß, dass der Wohlstand des Volkes von seiner Bildung und Aufklärung abhängt, und je gebildeter eine Nation ist, desto glücklicher ist sie. Doch kann ein Volk aufgeklärt, reich, 24

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wohl kein Zufall, dass Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts sogar eine Emigrantenorganisation mit dem N a m e n „Junges Bulgarien" gegründet wurde, dessen Abgesandte nach London und Genf reisten, um sich mit Mazzini, Herzen und Bakunin zu treffen 2 5 . Konkrete Beispiele für einen durch Waffen erzwungenen U m s c h w u n g gaben natürlich auch die Serben und Griechen, die es vor zwei Generationen geschafft hatten, ihre staatliche Selbstständigkeit wiederzuerlangen. Im Übrigen war der „Europa-Gedanke", zumindest in den Kreisen der bulgarischen Emigration, mit einer sehr deutlichen anti-osmanischen Tendenz verbunden 2 6 . D a s gilt z. B. für die Bewertung von „Aufklärung" und „Zivili-

glücklich und gebildet sein, wenn es Leute gibt, die ihm im Wege stehen und ihm kein Glück und nichts Gutes wünschen, weil dieses Glück und dieses Gute fur ihre Interessen verhängnisvoll ist? Können die Türken die bulgarische Wiedergeburt wünschen, das bulgarische Glück und Wohlergehen, wenn die bulgarische Wiedergeburt das türkische Reich zu Grabe tragen wird? Können sich die Türken über unsere bulgarische Aufklärung und unseren Fortschritt freuen, wenn sie nur allzu gut wissen, dass nur blinde und unaufgeklärte Völker sich an der Nase herumführen lassen? Wären die Bulgaren gebildet, so würden sie nicht dulden, dass sie von solchen Zigeunem wie den Türken mit Füßen getreten werden; doch damit sie gebildet sind, müssen sie zuerst frei sein. Es haben diejenigen wenig Ahnung von der türkischen Administration und dem türkischen Volk, die glauben, dass die Bulgaren unter der Schirmherrschaft von Sultan Azis [Abdul Azis (1861-1876), I. P.] Aufklärung und Fortschritt genießen können: ,Vom Käfer bekommt man keinen Honig!' Freiheit braucht das bulgarische Volk, und dies als volle, bulgarische Freiheit, und nichts anderes!" Ljuben KARAVELOV, Izbrani proizvedenija, Redaktion, Aleksandär Burmov, [u. a.], Bd. 3, Sofija 1956, S. 430. Konkret zu der geplanten Doppelmonarchie sagt Karavelov in der 8. Nummer derselben Zeitung vom 24. Dezember 1869 noch Folgendes: „Über eine Vereinigung der Bulgaren mit dem türkischen Volk können nur diejenigen nachdenken, die in ihren Köpfen kein einziges Gramm Hirn mehr haben, oder diejenigen, die türkische Goldstücke nehmen und türkische Spione werden wollen, ohne an ihr Volk, an dessen Glück und an das Wohl ihres Vaterlandes zu denken. Also, wenn es heute einen Bulgaren gibt, der eine Vereinigung zwischen Türken und Bulgaren predigt, so ist dieser Bulgare entweder hirnlos oder bloß Abschaum, oder er belügt die türkische Regierung und die Bulgaren, um seinen Geldbeutel zu füllen. Die ehrlichen und reinen Bulgaren wünschen nichts weiter, als ihr Vaterland frei, ihre Väter, Mütter, Brüder, Schwestern und Kinder als freie Bürger zu sehen". Ebd., S. 435. 25

Vgl. MITEV, Europa (Anm. 9), S. 25 f. Aus verständlichen Gründen hatten die bulgarischen Literaten, die in Konstantinopel tätig waren, eine andere Einstellung gegenüber dem Osmanischen Reich. Für Slavejkov haben die Bulgaren von den Türken nicht nur Schlechtes, sondern auch Gutes erfahren, und nur den Osmanen sei die „Erhaltung unseres Volkes" zu verdanken. Weiter meint er: „Mögen also die Bulgaren mit aufrichtiger Freundschaft und aus vollem Herzen heute die Hand dem ruhmvollen osmanischen Volk reichen. Doch lassen wir es gesagt sein, dass auch das osmanische Volk mit den gleichen Gefühlen das bulgarische aufnehmen soll. Niemand von beiden hat ein Interesse, dass ein Zerwürfnis unter ihnen aufkommt, während all das, was im Interesse beider Völker liegt, ihrer Vereinigung nützlich ist". SLAVEJKOV, SäCinenija (Anm. 12), Bd. 6, S. 177. Vgl. zur Entwicklung der bulgarischen Gemeinde in Konstantinopel vor 1878 mit Schwerpunkt im 19. Jahrhundert die neue Arbeit von Darina PETROVA, Carigradskite bälgari, Sofija 2000. 26

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sation", zu deren Aneignung die Osmanen als unfähig angesehen wurden27. Für die ins Exil gegangenen Bulgaren war das Reich des Sultans ein Staatsgebilde, das in Europa nichts zu suchen hatte und schleunigst nach Asien zurückgedrängt gehörte. So hatte der Dichter und Nationalrevolutionär Hristo Botev fur die Osmanen und ihren Staat nur Verachtung übrig28, für Ljuben Karavelov musste das Osmanische Reich entweder eine Wiedergeburt erleben oder ganz aus Europa verjagt werden29.

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So meint Karavelov in diesem Zusammenhang: „Wir, die Bulgaren, sind wirklich zu bemitleiden. Unsere kindliche und sklavische Angst verdunkelt uns den Blick und macht es unmöglich, die Wahrheit zu sehen, um zu erkennen, dass die Türken vier bis fünfmal weniger an der Zahl sind als wir; doch geistig sind sie um das Zehnfache schwächer. Die europäische Türkei hat 14 Millionen christliche Einwohner und 2 600 000 Mohammedaner; doch sollten wir nicht vergessen, dass fast eine Million dieser Mohammedaner slawischer oder arnautischer [= albanischer, I. P.] Herkunft sind. Nun stellt sich die Frage: Wie ist es möglich, dass in einem Staat 2 Millionen Menschen straflos 14 Millionen unterdrücken können? Oder haben vielleicht diese 2 Millionen größere physische Kraft oder mehr natürlichen Verstand und Bildung als die anderen 14 Millionen? Wir brauchen diese Frage nur zu stellen, um sie zu verneinen. Über die physische Kraft unserer Herren brauchen wir gar nicht zu sprechen. Was den natürlichen Verstand und ihre Bildung angeht, wenn ihr einen beliebigen von den Christen, der euch über den Weg läuft, ohne besondere Auswahl nehmt und ihn mit dem gebildetsten Türken vergleicht, werdet ihr sofort feststellen, dass der erste im Vergleich zum letzteren zehnmal mehr natürlichen Verstand und fünfmal mehr Bildung hat". KARAVELOV, Izbrani proizvedenija (Anm. 24), Bd. 3, S. 450 (aus Svoboda, Nr. 13 vom 29. Januar 1870). 28

So nennt er die Türken „asiatische Barbaren", ihr Reich „Geschwür Europas" und den Sultan den „Idioten am Bosporus". Die Publizistik Botevs bietet zahlreiche derartige Beispiele. So schreibt er im Juni 1871 Folgendes: „Wir wiederholen - die Türkei hat kein Leben mehr vor sich, keine Zukunft, sie ist eine Leiche auf einem Totenbett, die weder die Derwischbeschwörungen ihrer Mandarine noch die diplomatischen Gebete der westlichen Doktrinäre vor dem Anatomiemesser retten werden". Hristo BOTEV, Säbrani säCinenija, 2 Bde., Sofija 1958, hier: Bd. 2, S. 38. Für Botev sind die Osmanen unfähig, sich der modernen Zivilisation anzuschließen, und er meint dazu: „Doch auch die Wilden, die noch gestern Cook getötet und seine Leiche aufgegessen haben, sind heute Leute mit hoher Bildung und hoher Sittlichkeit, aber diese Horde, die die Balkanhalbinsel verwüstet hat, hat es in den ganzen fünfhundert Jahren nicht geschafft, wenigstens ein bisschen menschlicher zu werden. Der Türke ähnelt auch heute noch einer betrunkenen Bestie, die dich, egal was du ihr erzählst, mit blutunterlaufenen Augen ansehen und immer an das Eine denken wird: Bist du fett genug, umsie zu sättigen? ...". Ebenda, S. 48 f. 29 Zitiert nach DASKALOV, Me2du Iztoka (Anm. 11), S. 14 f. Karavelov äußert sich oft zu diesem Problem, und so ist in der Zeitung Svoboda, Nr. 4 vom 26. November 1869 zu lesen: „Viele glauben, dass das Osmanische Reich noch dieses oder jenes Jahr überleben kann und wenden alle möglichen Mittel an, um es zu festigen, damit es nicht einstürzt; andere hingegen meinen, dass dieses Reich verjüngt werden und weiter leben kann zur Freude des Herrn Beust [Friedrich Ferdinand Graf von Beust (1809-1886), Außenminister Österreich-Ungarns von 1867 bis 1871,1. P.]. Doch wir denken, dass das Türkische Reich schon immer und auch heute noch eine Wunde gewesen ist, die nie verheilen kann, und wenn man sie nicht wegschneidet, dann wird sie den ganzen Körper, der sie umgibt, vereitern. Solange diese vereiterte Wunde da ist, solange kann es auf der Balkanhalbinsel keine Zivilisation und kein Leben geben". KARAVELOV, Izbrani proizvedenija (Anm. 24), S. 434.

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Die „Europa-Idee" wurde in der Zeit von 1762 bis 1878 wohl kaum von der Mehrheit der Bulgaren tatsächlich rezipiert. Das ist bei der mehrheitlich von einfachen Bauern dominierten bulgarischen Gesellschaft im Osmanischen Reich auch nicht weiter verwunderlich. Was die Elite betrifft, so muss wohl zwischen den Anhängern konservativer und liberal-revolutionärer Denkströmungen unterschieden werden. Es wird mit einer gewissen Berechtigung angenommen, dass die Konservativen in der bulgarischen Gesellschaft mit der Gruppe der durch ihre Position oder durch den Handel im Staat des Sultans reich gewordenen Personen identisch waren, während die Liberalen und die Revolutionäre eher in den Kreisen der Bulgaren, die nach Rumänien oder Serbien emigriert waren, zu suchen waren. Doch gleich, ob man eine „Revolution" oder eine „Evolution" für die zukünftige Entwicklung der Bulgaren im Osmanischen Reich als angemessen ansah, in beiden Fällen handelte es sich um „europäische Vorbilder", die man anstrebte - der eigene und freie Nationalstaat oder eine moderne, zivilisierte, der wirtschaftlichen Entwicklung offen stehende und alle Bürger als gleichberechtigt betrachtende VielvölkerMonarchie. Mit anderen Worten, „Europa" bedeutete, nach markanten Veränderungen zu streben, zu versuchen, etwas zu sein, was man eigentlich hätte sein müssen, was man aber durch die historischen Umstände nicht hatte erreichen können 30 . Dabei ging es nicht unbedingt und nicht nur darum, die wirtschaftliche Rückständigkeit der bulgarischen Länder im Verhältnis zu Mittel- und Westeuropa abzugleichen. Denn eigentlich dürfte der Unterschied im Lebensstandard zwischen dem einfachen bulgarischen Bauern und dem Bewohner der ungarischen Puszta nicht gar so dramatisch gewesen sein. Es galt vielmehr, die Gesellschaft, in der man bisher gelebt hatte, zu verän30

Es ist im Übrigen bezeichnend, dass die Revolutionäre sich in ihren Appellen an die Bevölkerung auch auf „Europa" beriefen. So ist in dem von Botev verfassten Aufruf vom Juni 1876, d. h. einige Wochen nach dem missglückten Aprilaufstand und einige Tage, bevor der Revolutionär seinen Tod gefunden hat, u. a. Folgendes zu lesen: „Dieses Ungeheuer [die Regierung am Bosporus, I. P.] will bei seinem Zusammenbruch die ganze Balkanhalbinsel in Blut und Feuer ertränken. Die Zeiten Attilas und Dschingis-Khans sind in diesen unglücklichen Teil Europas zurückgekehrt. Brüder Christen! Dieser schreckliche Stand der Dinge darf nicht und kann nicht so weiter bestehen. Wenn in euren Adern jenes edle Blut fließt, das so oft fur die große Sache der Zivilisation vergossen worden ist, dann beeilt euch, euren unglücklichen Brüdern zu helfen, die genau solche Menschen sind wie ihr selbst. Seht nicht mehr gleichgültig zu, wie in einem der schönsten Gebiete Europas die Menschenrechte auf das scheußlichste mit den Füßen getreten werden. Vereint Euch mit uns, macht ein Ende dem asiatischen Barbarentum, das seit fünfhundert Jahren eine Schande ist fur Europa und seine christliche Zivilisation. Das bulgarische Volk als Teil der großen europäischen Völkerfamilie möchte teilhaben an den Errungenschaften der Zivilisation. Verwerft die egoistischen und engstirnigen Ansichten der barbarenfreundlichen Diplomatie und beweist mit Taten, dass die Gräber mit den Opfem der türkischen Barbarei nicht ungesühnt bleiben werden. Unsere Sache ist euch allen gemein, eure Interessen sind mit unseren identisch. Wir alle haben die Pflicht, diese zerstörerische Welle aufzuhalten, die seit einem halben Jahrhundert gegen die moderne Zivilisation ankämpft". BOTEV, Säbrani säCinenija (Anm. 28), Bd. 2, S. 757 f.

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dem, sie zu ersetzen durch etwas, was man als fortschrittlich, als zivilisatorisch überlegen, als „europäisch" auffasste 31 . Dass „Europa", dass das „Europäische Konzert" der Großmächte etwas anderes war als die abstrakt empfundene „moderne europäische Gesellschaft" des 19. Jahrhunderts, erkannten die Literaten, die Intelligentsija und das sich langsam entwickelnde bulgarische Bürgertum sowohl im Osmanischen Reich als auch in den benachbarten Staaten Südosteuropas, vor allem in den Donaufürstentümern, relativ früh. Die meisten dieser Bulgaren waren sich bewusst, dass die Spannungen zwischen den Großmächten, was die Zukunft des Balkans anbetraf, unter Umständen sehr groß werden konnten. Der Krim-Krieg von 1853-56 spielte dabei eine einschneidende Rolle. Vor allem Russland, dem aktivsten Gegner des Osmanischen Reiches, von dem die meisten Bulgaren auch ihre Befreiung erwarteten - im Übrigen nach dem Beispiel der Serben und Griechen, die sich erst durch das militärische Eingreifen der Russen von der osmanischen Herrschaft loslösen konnten - , wurde eine ganz besondere Rolle zugewiesen. Zur gleichen Zeit aber, und das trotz Heiliger Allianz und guter Beziehungen zu Preußen und Österreich, stieß das unverhüllte Streben Russlands nach Ausweitung der schon erreichten Vormacht in Südosteuropa auf den Widerspruch der anderen Großmächte des Kontinents. Als Folge dieser Entwicklung im europäischen Staatensystem, die mit dem Problem der Orientalischen Frage eng verbunden ist, begann sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine seltsame „Teilung Europas" in der bulgarischen Gesellschaft zu vollziehen. Russland wurde allmählich vom europäischen Gefiige losgelöst und in Opposition zum „anderen Europa" gestellt. Ob diese Dichotomie slawophile Ursprünge hatte, lässt sich mit Sicherheit kaum bestimmen. Eins steht jedoch fest, nämlich, dass während der Orientkrise der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts und insbesondere während des russisch-türkischen Krieges 1877-78 zwischen „Europa" einerseits und „Russland" andererseits sehr wohl unterschieden wurde. Dabei wurde natürlich nicht, wie es in den aufklärerischen Diskursen des 18. Jahrhunderts der Fall gewesen war, über die Zugehörigkeit Russlands zu Europa reflektiert, sondern es ging vielmehr um das für die Bulgaren jener Zeit spezifische Empfinden, dass die Russen für die Be31

Als typisch fur das, was für den gebildeten Bulgaren „Europa" gewesen ist, sind die Gedanken von Petko SLAVEJKOV ZU werten, der in der Zeitung Makedonija (Nr. 5 vom 1. Februar 1871) schreibt: „Der Bulgare, der zum Studium nach Europa kommt, sieht zuerst die Freiheit, die Freiheit zu denken, die Freiheit zu sprechen, die Freiheit zu handeln [...]. In Europa sieht er die Sicherheit, da es Gesetze gibt, die mächtiger sind als alles andere [...]. In Europa sieht er, wie jedes Jahr Volksvertreter sich versammeln, um über die öffentlichen Dinge Rechenschaft zu fordern [...]. In Europa sieht er die zahlreichen Fabriken, deren Erzeugnisse in der ganzen Welt vertrieben werden [...]. In Europa sieht er schöne Gebäude, gerade Straßen, beleuchtete Häuser, wunderschöne Städte [...]. Es gibt schließlich nichts von diesen guten, vorzüglichen Dingen, die dieser Bulgare sieht, die er nicht auf der Stelle für sein Vaterland wünschen würde". Zitiert nach GENCEV, Francija (Anm. 21), S. 388.

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freiung der Bulgaren in den Krieg gezogen seien, während „Europa" sich dem befreiten Land entgegengestellt und schließlich die Rückkehr einiger von Bulgaren bewohnter Gebiete unter die Herrschaft des Sultans erwirkt habe. Stellvertretend für diesen Standpunkt stehen die Passagen in dem 1911 erschienenen Buch von Simeon Radev (1879-1967), wo die Ereignisse seit 1878 thematisiert werden. Dieses im Nachhinein berühmt gewordene Werk, das den Titel Stroitelite na sävrmenna Bälgarija!Erbauer des modernen Bulgarien trägt, behandelt die innenpolitischen Probleme des wiedergegründeten Landes und natürlich auch die Politik der Großmächte. Wenn der Autor über die großen Veränderungen von 1877-78 auf dem Balkan spricht, so ist für ihn „Europa" ein Synonym für diejenigen Mächte, die Russland feindlich gesinnt sind 32 .

III. Die „Europa-Idee" im neuen bulgarischen Staat (1878-1939) 1. Zeit des Aufschwungs (1878-1918) Das „politische Europa" - oder vielmehr das, was die Bulgaren jener Zeit darunter verstanden - löste mit den Ereignissen von 1877-78 in der damaligen bulgarischen Gesellschaft eine Krise der „Europa-Identität" aus. Denn es war tatsächlich für die damaligen bulgarischen Zeitgenossen unverständlich, dass aufgeklärte Staaten, kluge und weitsichtige europäische Staatsmänner sich der bulgarischen Befreiung widersetzen konnten, statt sich über das Bulgarien von San Stefano zu freuen. Hatte nicht gerade dieses „Europa" im Herbst 1876 während der Botschafterkonferenz in Konstantinopel dieselben Gebiete - Thrakien, Makedonien, Nordbulgarien und die Dobrudáa - zu den beiden geplanten autonomen bulgarischen Provinzen geschlagen? Was war bloß aus „Europa" geworden, wo waren die schönen Worte über das Ende der Tyrannei geblieben 33 ? Dass man dabei in der bulgarischen Gesellschaft nicht 32

Vgl. Simeon RADEV, Stroitelite na sävremenna Bälgarija, 2 Bde., Sofija 1973, N D ebd. 1990, hier: Bd. 1: Caruvaneto na kn. Aleksandra 1879-1886, S. 36 ff. So wird auch die Meinung eines bulgarischen Zeitgenossen wiedergegeben, der meint, dass die „Bulgaren Europa zeigen müssen", dass sie kein wildes und unaufgeklärtes Volk seien, das „Russland zum Vorwand fur Kriege und Eroberungen" diene, sondern dass sie eine Nation mit Geschichte, aufgeklärtem Geist und fester Einheit seien. Vgl. ebd., S. 38. 33 Im Übrigen gibt es bulgarische Literaten, die noch vor 1878 die „europäische Politik" gegenüber dem Osmanischen Reich kritisieren. So schreibt Karavelov in der Zeitung Svoboda (Nr. 13 vom 29. Januar 1870): „Heute ist unser Zustand unter der türkischen Tyrannei ziemlich kritisch, und j e d e m ist bekannt, dass der Bulgare unterdrückt, entehrt und getötet wird, und all dies geschieht ohne Gerichtsverhandlungen und -beschlüsse. Die europäische Diplomatie in Carigrad [Konstantinopel, I. P.] erzählt jedoch, dass die Untertanen des Sultans selig seien und dass das Türkische Reich gestützt werden solle, weil seine christlichen Untertanen zur Freiheit unfähig seien. Doch das alles sind nichts als Lügen, gewissenlose Lügen. Diese Diplomaten urteilen nicht über andere, sondern über sich selbst, weil sie selbst Sklaven ihrer Regierungen und ihrer Despoten sind. Die Sklaven

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gut auf das auf die russenfeindlich gesinnten Großmächte reduzierte „Europa" zu sprechen war, versteht sich von selbst. Da sich die nach bulgarischer Auffassung missglückte Wiedergründung des Fürstentums Bulgarien auf dem Berliner Kongress abspielte, wurde kein sonderlich großer Unterschied gemacht zwischen der Position Englands, Österreich-Ungarns oder Deutschlands. Bismarcks Politik des „Ehrlichen Maklers" wurde also mehr oder minder auf eine Stufe gestellt mit den Revisionsforderungen Wiens und Londons. Selbstverständlich zeugt eine solche vereinfachte Einstellung zu den aktuellen tagespolitischen Ereignissen von den sterilen Zuständen, in denen sich die bulgarische Gesellschaft bis 1878 entwickelt hatte, und den ikonenhaften Vorstellungen, die man über das europäische Staatensystem und das Zusammenspiel der Mächte bis dahin gehabt hatte. Das undifferenzierte Bild „Europas" als Hochburg der Moral, der Ethik und der Gerechtigkeit konnte unter diesen neuen Umständen kaum aufrechterhalten werden. Im Übrigen stand diese spezifisch bulgarische Veränderung in einem seltsamen zeitlichen Zusammenhang mit dem Verblassen der Europa-Idee auf dem Alten Kontinent während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und insbesondere während dessen letzten Viertels34. Es ist daher verständlich, dass das Wort „Europa", gesehen als Politikum, in den ersten Jahren nach der staatlichen Wiedergründung Bulgariens keine besonders positiven Konnotationen hervorrufen konnte. Das „Unrecht", das „Europa" den Bulgaren in Berlin angetan hatte (Simeon Radev), setzte sich als Topos in weiten Schichten der bulgarischen Gesellschaft fest. Ganz anders wurde hingegen Russland wahrgenommen, dessen Beliebtheit sich einer Hochkonjunktur erfreute. Das Russische Reich wurde als die einzig mögliche Rettung für den jungen Staat angesehen, von Russland konnte für die Bulgaren nur Gutes kommen (von „Europa" dagegen nur Schlechtes), bekannte bulgarische Poeten wie Ivan Vazov (1850-1921) und Petko Slavejkov widmeten diesem Land Gedichte usw. 35 . Das hinderte allerdings die Bulgaren nicht daran, ihren ersten Fürsten, Alexander von Battenberg (1857-1893) - eigentlich ein „Europäer" aus dem Haus Hessen-Darmstadt - , bei seiner Ankunft 1879 im Land frenetisch zu bejubeln, war er doch ein Symbol für den wieder zum eigenständigen Leben erweckten Staat36. Natürlich begünstigte diesen Enthusiasmus auch die Tatsajedoch denken immer, dass jedermann ein Sklave sein soll, wie sie es sind". Karavelov, Izbrani proizvedenija (Anm. 24), S. 443. 34 Vgl. Geoffrey B a r r a c l O U G H , Die Einheit Europas als Gedanke und Tat, Göttingen 1964, S. 41 ff. 35 Vazovs Gedicht trägt den Titel „Russland", und dasjenige von Slavejkov heißt „Der Glaube und die Hoffnung der Bulgaren in Russland". Vgl. Väzrozdenski stranici. Antolog i a , Redaktion Petär Dinekov, Sofija 1969, Bd.2, S. 115, 210-214. 36 Über den Empfang des Fürsten in Bulgarien vgl. Adolf KOCH, Fürst Alexander von Bulgarien. Mittheilungen aus seinem Leben und seiner Regierung, Darmstadt 1887, S. 15 ff.;

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che, dass Alexander ein Neffe des russischen Zaren Alexander II. (1818— 1881) war37. Zum anderen ist dies auch ein Beleg dafür, dass die bulgarische Gesellschaft und ihre Elite die Besonderheiten der europäischen Aristokratie und die damit verbundenen dynastischen Herrschertraditionen, die meistens übernational waren, richtig einzuschätzen wusste. Die Situation änderte sich jedoch schlagartig, als 1885 gegen den Willen Russlands die Vereinigung des Fürstentums Bulgarien mit der unter osmanischer Herrschaft verbliebenen Provinz Ostrumelien durchgeführt wurde. Jetzt erfuhren die Bulgaren in praxi, was es hieß, europäische Politik zu machen. Denn nun traten gerade diejenigen Staaten als Beschützer der bulgarischen Sache auf, die noch vor gar nicht so langer Zeit die Berliner Beschlüsse hervorgerufen hatten - nämlich Großbritannien und weniger direkt ÖsterreichUngarn. Gerade ein Teil jenes „verpönten Europa" gewährte die für Bulgarien in diesem Moment so wichtige Hilfe. Russland hingegen verspielte durch seine widersprüchliche Haltung einen nicht geringen Teil seiner Sympathien in der bulgarischen Gesellschaft. Es kam auch zu Spannungen auf staatlicher Ebene, die im Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Sofia und St. Petersburg 1886 gipfelten. Der Versuch Serbiens, durch einen militärischen Einmarsch in Bulgarien territoriale Kompensationen für die vollzogene Vereinigung zu erlangen, scheiterte, und der 1885 ausgebrochene serbisch-bulgarische Krieg wurde, für viele unerwartet, zu einem Triumph für die junge bulgarische Armee. Simeon Radev erinnerte sich: „Der Krieg wurde im ganzen Land mit Freude aufgenommen. Noch waren die Tugenden der Wiedergeburtszeit lebendig: die Liebe zum Risiko, das Vertrauen in das Genie der Massen, diese jugendliche Abenteuerlust, mit der die auferstehenden Völker die Geschichte überwinden; und statt der Gefahr, Angst hervorzurufen, hat sie jetzt den Bulgaren einen unwiderstehlichen und wilden Vorwärtsdrang eingehaucht" . RADEV, Stroitelite (Anm. 32), Bd. 1, S. 162 ff. Dragan Cankov ( 1828-1911 ), ein bekannter Politiker aus der Zeit nach 1878, meinte später, als er über die Wahl des ersten Fürsten Bulgariens durch die Große Volksversammlung in Veliko Tärnovo im April 1879 reflektierte, die bulgarischen Gemüter seien damals in einer Verfassung gewesen, dass, wenn jemand einen Stock und darauf einen Hut aus Schafsfell aufgestülpt und dabei gesagt hätte: „Hier, den müsst ihr wählen, weil das der Wille des Zaren, des Befreiers, ist!", die Versammelten, ohne nachzudenken, dafür gestimmt hätten. Da der russische Kommissar in Bulgarien, Fürst Dondukov-Korsakov, mit dem Gedanken spielte, selbst Herrscher des Landes zu werden, war er über die Einmütigkeit der Entscheidung nicht sonderlich glücklich. Ein in seinen Diensten stehender General kritisierte danach einige der ihm bekannten bulgarischen Abgeordneten heftig, dass sie einen Deutschen gewählt hatten. „Aber ihr, die Russen, seid doch diejenigen, die uns den Mann empfohlen haben, oder?", lautete die verwirrte Antwort der Gefragten. „Wie könnt ihr nur so töricht sein!", meinte der General: „Wir haben euch nur gesagt, was ihr hättet tun müssen! Aber ihr hättet das machen sollen, was euch beliebt!" Vgl. RADEV, Stroitelite ( A n m 32), Bd. 1, S. 153. 37

38

Ebd., S. 586.

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Nach den Ereignissen von 1885-86 näherte sich der bulgarische EuropaBegriff also allmählich seinem europäischen Vorbild, d. h. sowohl Russland als auch Europa kehrten zu ihrer ursprünglichen Form zurück. „Gut" und „Böse" gab es in der kontinentalen Großmachtpolitik anscheinend nicht mehr, obwohl viele bulgarische Politiker sich als „russenfreundlich", „österreichfreundlich", oder „deutschfreundlich" verstanden oder verstanden werden wollten. Es blieb also vorwiegend die europäische Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft als Angelpunkt der Europa-Überlegungen. Die Jahrzehnte zwischen 1878 und 1918 verliefen, was die Verwertung der Europa-Idee in der bulgarischen Gesellschaft anbetrifft, mehr oder minder im typischen kontinentalen Rahmen, der vom Nationalismus und vom Streben nach wirtschaftlicher Modernisierung geprägt war. Eine alternative Gesellschaft gab es nicht, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Bulgaren sich gerade von einem „nichteuropäischen Sozius" losgelöst hatten, und das in der vollen Überzeugung, nie mehr zu ihm zurückzukehren. Natürlich blieb speziell im bulgarischen Fall ein riesiger Nachholbedarf, denn es galt, die sich während der osmanischen Herrschaft über Jahrhunderte angestaute Rückständigkeit in Wirtschaft, Kultur und Alltagsleben zu überwinden. Zuerst wurde diese „Abrechnung mit der Vergangenheit" im Rahmen des Äußeren und Augenscheinlichen vorgenommen - etwa durch den Aufbau neuer Stadtzentren, wobei Wien eindeutig als Vorbild fungierte. Hält man sich den durchaus verständlichen Eifer der neuen Staatsgründer Bulgariens, sich schnell des verpönten Orientalismus zu entledigen, vor Augen, überrascht es nicht, dass die für die Osmanenzeit typischen gesellschaftlichen und religiösen Gebäude langsam aus dem Stadtbild verschwanden 39 . Ein Beleg, dass Bulgarien inzwischen ein europäisches Land geworden sei, war beispielsweise in dem verstärkten Ausbau des Eisenbahnnetzes zu sehen, denn die Dampflok und die Schienen waren im 19. Jahrhundert das Sinnbild für Zivilisation schlechthin. Das gilt auch für die mit staatlichen Maßnahmen geforderte Entwicklung der nationalen Wirtschaft, die allerdings durch die Einfuhrung von Schutzzöllen und die teilweise gesicherten Abnahmen durch die offiziellen Behörden kaum der europäischen Konkurrenz gewachsen war 40 . 39

Vgl. zu diesen Veränderungen das umstrittene Buch von Bernard LORY, Le sort de l'héritage Ottoman en Bulgarie. L'exemple des villes Bulgares, 1878-1900, Istanbul 1985, das neuerdings ins Bulgarische übersetzt worden ist (Bernar LORI, Sädbata na osmanskoto nasledstvo ν Bälgarija. Bälgarskata gradska kultura 1878-1900, Sofija 2002). Lory ist auch von einigen bulgarischen Forschem (etwa Prof. Dr. Vera Mutaßieva) wegen seiner offensichtlichen Sympathien für das Osmanische Reich kritisiert worden. 40 Diese Politik wurde insbesondere während der Regierung von Stefan Stambolov ( 1 8 5 4 1895) durchgeführt, doch Bulgarien blieb, trotz positiver Zahlen, was die ökonomische Entwicklung und die Fabrikgründungen angeht, von den Importen aus Mittel- und Westeuropa abhängig. Vgl. Rumjana PRESHLENOVA, „Europa" in der bulgarischen Wirtschaftsliteratur (1878-1918), in: Die Bulgaren und Europa (Anm. 4), S. 113-139, hier: S. 117 ff. Für den wirtschaftlichen Sektor, der sich natürlich an europäischen Vorbildern orientierte,

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Europa blieb auch nach 1878 der Ort, wo sehr viele junge Bulgaren ihre Hochschulausbildung erhielten. Die 1888 in Sofia gegründete erste bulgarische Universität absolvierten bis 1912 insgesamt 1 967 Studenten, doch allein in der Zeitspanne 1889-1910 wurden insgesamt 1 586 Diplome, die Bulgaren im Ausland erworben hatten, anerkannt41. Mit anderen Worten: etwa die Hälfte der bulgarischen Hochschulabschlüsse wurde in Mittel- und Westeuropa erreicht. Im Zeitraum 1878-1912 promovierten etwa 600 Bulgaren an europäischen Universitäten, wobei die meisten Arbeiten auf Deutsch verfasst wurden42. Wie man sieht, gilt auch für die Jahre nach der staatlichen Wiedergründung, dass Europa in der bulgarischen Gesellschaft als Hort der entwickelten Wissenschaft und des Fortschritts angesehen wurde, d. h. es gibt diesbezüglich durchaus eine ununterbrochene Kontinuität aus der Epoche der Wiedergeburt43. Das nach 1878 aufgebaute politische und verfassungsrechtliche System Bulgariens kann ebenfalls als eine direkte „europäische Rezeption" angesehen werden. Das gilt sowohl für die Namen der ersten größeren Parteien im Parlament, die sich „Konservative" und „Liberale" nannten, als auch für die gewählte Staatsform - die konstitutionelle Monarchie. Damit soll nicht bestritten werden, dass die bulgarische Verfassung von 1879 in sich sehr viele demokratische Grundrechte verankerte, die keinesfalls für alle damaligen Staaten in Europa selbstverständlich waren. Es stimmt wohl auch, dass diese größere liberale Tendenz den für Bulgarien typischen Besonderheiten zu verdanken war, d. h. sie war etwas, das nicht „importiert" wurde, sondern an Ort und Stelle präsent war. Es geht dabei vielmehr um die Betonung des Prinzips, dass man sich auch bei dieser größeren Libertät im neuen Fürstentum nach „europäischen Vorbildern" richtete44. Das Aufkommen der Sozialdemokratie in kann man auch besonders gut feststellen, wie sich die „Europa-Idee" in den Köpfen der bulgarischen Unternehmer festsetzte. So findet man in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts kleinere Fabriken, die sich „Erste englische Textilfabrik Alexander" oder „Erste deutsche Streichgarnspinnerei" nannten. 41

42

PRESHLENOVA, „ E u r o p a " ( A n m . 4 0 ) , S . 1 1 4 f.

Konkrete Zahlen zu den Hochschulabschlüssen und den Promotionen im Ausland für diesen Zeitraum finden sich in der Untersuchung von Rajna MANAFOVA, Inteligencia s evropejski izmerenija, Sofija 1994; vgl. PRESHLENOVA, „Europa" (Anm. 40). Zur Entwicklung der bulgarischen Intelligentsia nach 1878 vgl. die Arbeiten von Jordan KOLEV, Bälgarskata inteligencija 1878-1912, Sofija 1992 und von Ivan TANCEV, Bälgarskata däriava i uöenieto nabälgarite ν Cuíbina (1879-1892), Sofija 1994. 43 Es ist allerdings festzuhalten, dass nach 1878 die Absolventen russischer Universitäten zahlenmäßig nicht mehr den ersten Platz einnahmen. Vgl. MANAFOVA, Inteligencija (Anm. 42), S. 43 f., S. 274. Von den erwähnten 1 586 legalisierten Diplomen wurden nur 185 in Russland erworben, was einer Verringerung von 32 auf etwa 11,5 % entspricht. 44 So wurde die erste bulgarische Verfassung zwar von russischen Juristen erarbeitet, aber als Vorbild diente vor allem das Grundgesetz Belgiens. Eine belgische Entlehnung ist auch der Wahlspruch auf dem Staatswappen Bulgariens - „Säedinenieto pravi silata"/„L'union fait la force".

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Bulgarien ist ebenfalls als eine direkte Übernahme einer „europäischen Idee" zu werten, und das umso mehr, als die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen für eine solche Bewegung eigentlich noch gar nicht gegeben waren, da Bulgarien ein Agrarland war und es noch Jahrzehnte bleiben sollte. Es darf natürlich nicht vergessen werden, dass Europa auch auf die kulturelle Entwicklung Bulgariens nach 1878 eingewirkt hat. Das gilt sowohl für die Dichtung als auch für die Malerei, hatten doch viele Künstler ihre Ausbildung in Mittel- oder Westeuropa abgeschlossen. Im Übrigen ist hier eine Entwicklung bemerkenswert, die mit dem Stellenwert Mitteleuropas für die bulgarische Gesellschaft in Zusammenhang steht: Grundsätzlich gilt das, was auch für die Zeit vor 1878 der Fall gewesen war: Mitteleuropa war für die Bulgaren „Europa" schlechthin. Allerdings besaß dabei Österreich-Ungarn nicht mehr die überragende Bedeutung, die es während der Osmanenherrschaft gehabt hatte, denn nach und nach wurde von der bulgarischen Elite Deutschland als die führende wirtschaftliche, wissenschaftlich-technische und auch militärische Macht in der Mitte des Kontinents erkannt. Dementsprechend wurde Österreich-Ungarn als Stätte für die höhere Ausbildung der Bulgaren, als Vorbild, dem es nachzuahmen galt, vom Deutschen Reich eingeholt und überflügelt 45 . Wien allerdings blieb auch weiterhin das Beispiel, das die urbane und zum Teil auch die kulturelle Entwicklung des bulgarischen Staates stark beeinflusste46. Der Erste Weltkrieg wurde, so makaber das auch auf den ersten Blick klingen mag, zu einer Möglichkeit für die einfachen Bulgaren, meist Bauern, sich mit „Europa" näher auseinander zu setzen. Bis dahin war es nur einer relativ kleinen Oberschicht vergönnt gewesen, Reisen nach Wien, Berlin oder Paris zu machen, um „Europa" unmittelbar kennen zu lernen47. Die Mehrheit der 45

Die konkreten Zahlen sprechen dabei für sich. Im Zeitraum 1898-1910 haben in Deutschland 250 Bulgaren promoviert, in Österreich-Ungarn hingegen nur 57. Die bulgarischen Absolventen in der Donaumonarchie werden im selben Zeitraum auf 271, an deutschen Universitäten auf 225 beziffert. MANAFOVA, Inteligencija (Anm. 42), S. 43 f. Die aufholende Tendenz Deutschlands als Studienort ist sehr deutlich, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass bis 1878 nur 20 Bulgaren im Deutschen Reich studiert hatten, in Österreich-Ungarn hingegen 57, d. h. mehr als doppelt so viel. Es ist durchaus möglich, dass der weit verbreitete Spruch, die Bulgaren seien die „Preußen des Balkans", die bulgarische Gesellschaft noch empfänglicher dafür machte, Deutschland als das Land anzusehen, von dem es sich lohnte, gesellschaftliche, wissenschaftliche, sozialpolitische - wahrscheinlich auch außenpolitische - Ideen zu entlehnen. Im Übrigen ist es sicher wert, der Frage nachzugehen, ob nicht Voltaire zu diesem Vergleich das Seine beigetragen hat, wird doch in seinem Roman Candide ( 1759) das eigentlich geschilderte Preußen als das „Land der Bulgaren" bezeichnet. Vgl. zu dieser seltsamen französischen Bulgarien-Rezeption GENCEV, Francija (Anm. 21), S. 22. 46

Vgl. Kaiin NLKOLOV, „Europa" und die nationale Kunst in Bulgarien (Von der Jahrhundertwende bis zu den fünfziger Jahren), in: Die Bulgaren und Europa (Anm. 4), S. 161-181. 47 Im Übrigen ist es gerade eine „europäische Geschäftsreise" eines bulgarischen RosenölHändlers am Ende des 19. Jahrhunderts, die zu einem literarischen Vorbild wird für Aleko Konstantinovs (1863-1897) Baj Ganjo. Man könnte den Vergleich wagen und meinen, was für die Tschechen der brave Soldat Schwejk ist, ist in ähnlicher Weise für die Bulgaren Ganjo Balkanski. Natürlich sträuben sich viele Tschechen und natürlich auch viele

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bulgarischen Bevölkerung hatte zwar Zeitungen lesen können, viele hatten auch sicher gewusst, wo Deutschland oder Österreich-Ungarn lag, hatten aber bis dahin wohl nie zuvor in ihrem Leben gesehen, wie der „Europäer" in seinem Alltag war, wie er sich verhielt, welche Bräuche er hatte, wie und womit er sich wusch usw. In den Jahren 1915-18, als Bulgarien Verbündeter der Mittelmächte geworden war, kam es in Makedonien und Rumänien zu gemeinsamen militärischen Aktionen der Mittelmächte. Es scheint, dass die militärische Ausbildung oder gar die Uniformen der bulgarischen Soldaten sich nicht sonderlich von denen ihrer mitteleuropäischen Verbündeten unterschieden. Wie ein deutscher Offizier damals feststellte, hatte die bulgarische Armee, wenn auch über Vermittlung der Russen, preußische Vorbilder bei ihrer Einkleidung gehabt48. Doch das notgedrungene Zusammenleben von bulgarischen, deutschen und österreichisch-ungarischen Soldaten an der Frontlinie offenbarte einige Züge des Alltagslebens, die, wie schon gesagt, den einfachen Bulgaren bis jetzt verborgen geblieben waren. Dadurch wurden bestehende Vorurteile abgebaut und auch intensivere Selbstreflexionen ermöglicht49. Ob es sich um das Anlegen von kleinen Pflanzungen, das Aufräumen der Baracken oder der Schützengräben, das Zimmern von Stühlen oder Tischen, das „SichHäuslich-Einrichten" (natürlich soweit es die Zustände erlaubten) ging - all das war neu und wurde mit der Zeit von den bulgarischen Soldaten auch gerne übernommen50. Bulgaren dagegen, dass man solche literarischen Bilder quasi als Stempel auf eine ganze Nation überträgt. Dennoch spiegeln solche fiktiven Personen sehr vieles von der Atmosphäre wider, in der sie geschaffen worden sind, und sie sind, wenn auch in eigentümlicher Weise, geschichtliche Zeugnisse jener Epoche. 48 Vgl. Iskra SCHWARCZ, Heinrich Felix Schmid und Bulgarien während des Ersten Weltkrieges, in: Österreichische Osthefte 3 (2001), S. 405-424. So schreibt Schmid, dass auch „in der bulgarischen Armee, wenn auch auf dem Umwege über Rußland, fur die Bekleidung das preußische Vorbild maßgebend gewesen war" (S. 416 f.). 49 So ist im Kriegstagebuch eines bulgarischen Offiziers folgende Eintragung zum 31. Dezember 1915 zu lesen: „Ich beobachte die Deutschen aufmerksam. [...] Ich habe bis jetzt gedacht, dass der Militarismus mit all seinen negativen Seiten ein Charakteristikum des Deutschtums ist. Nichts dergleichen. Die Beziehungen zwischen Soldaten und Offizieren sind ganz menschlich, würdevoll. Sie entsprechen einer richtig aufgefassten Disziplin, wofür sie sich geistig und nicht materiell einsetzen. Grobheit, Schläge, Beschimpfen, den Soldaten als Angehörigen einer fremden Rasse ansehen - das ist unsere Disziplin" (S. 337). Für den 17. März 1916 liest man: „Diesen Abend ging ich zum Markt [in Skopje, I. P.] spazieren, der abends beim Brunnen an der Brücke und auf der Wiese veranstaltet wird. Der Andrang ist groß: Die Mittelmächte und das bulgarische Zarentum sind mit all ihren Nationen und Sprachen vertreten - wie sie sich verständigen, weiß nur Gott. Hier wird alles verkauft: Brot, Eier, Schuhe, Stiefel, Decken, Uhren, Zigarren, Tabak, Riemen, Schnaps. Die Untertanen Franz Josephs stürzen sich vor allem auf Brot, die Deutschen auf Schnaps und Eier, die Unseren auf Bekleidung" (S. 340). Das Tagebuch ist veröffentlicht im Buch von SneZana DIMITROVA, Väzstanovjavane, reparacii, garancii. Francija i slavjanskite balkanski däriavi (septemvri 1918-januari 1920, Blagoevgrad 1998, S. 332-345. 50 Vgl. dazu Sneiana DIMITROVA, „Tvojata smärt" i „bezrazliinata smärt" öovekätna vojnata pred liceto na smärtta, 1915-1918 g. i krizite na modernata identiönost, in: Balkanistiöen

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2. Die Zwischenkriegszeit (1919-1939) Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs befand sich die bulgarische Gesellschaft an einem Scheideweg. Hatte doch die „Nationale Idee", die man von der Zeit der Wiedergeburt ohne wesentliche Modifikation fur die Jahre nach 1878 übernommen hatte, offensichtlich Schiffbruch erlitten. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass sich nach der Proklamation des Vertrags von Neuilly 1919 spontan eine große Menschenmenge vor dem Haus des bedeutenden bulgarischen Dichters Ivan Vazov, der vielen als Sinnbild des bulgarischen Patriotismus galt, versammelte, weil man sich von ihm Rat und vielleicht auch Trost in dieser schlimmen Stunde erhoffte. In einer ähnlichen Lage befanden sich im Übrigen nicht nur die Bulgaren, sondern wohl viele der Verlierer des Ersten Weltkriegs. Ähnlich wie in Deutschland trafen die extremen Linken und die extremen Rechten aufeinander, mit dem Unterschied, dass die Konfrontation in Bulgarien einige Jahre später stattfand. Die Versuche der von dem Bauernftihrer Alexander Stambolijski (1879-1923) geführten Regierung um eine Normalisierung der Beziehungen zu den Nachbarn in Südosteuropa, vor allem zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Jugoslawien), waren scheinbar etwas verfrüht und fanden keinen sonderlichen Rückhalt in der bulgarischen Gesellschaft - die serbisch-bulgarischen Animositäten waren immer noch sehr stark. Die Vision eines „bulgarischen Sonderwegs", der sich auf die kleinen Bauern, also die Mehrheit der Bevölkerung Bulgariens, stützte und die negativen Seiten der damaligen europäischen Gesellschaft, die auch die Oktoberrevolution in Russland von 1917 mitverursacht hatte, überbrücken sollte, zerschlug sich, und es kam zum Militärputsch vom 9. Juni 1923. Die bulgarischen Kommunisten, die sich zuerst neutral verhielten, bekamen von der Kommintern die Instruktion, die Bevölkerung zum bewaffneten Kampf aufzurufen, da der „Faschismus sich auf dem Vormarsch" in Bulgarien befinde 51 . Der Aufstand war nicht gut organisiert und misslang, was zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte, die mit gewissen Unterbrechungen bis ins Jahr 1925 fortdauerten. forum 1 - 2 - 3 (2001), S. 107-135, hier: S. 114. So steht Folgendes im Tagebuch eines Reservistenoffiziers über den Deutschen als Soldat: „Dank beständiger Arbeit schafft er sich überall gute Lebensbedingungen. Seine Gräben sind tief, seine Erdhütten sind fest, solide und bequem [...]. Die Deutschen machen sich Bequemlichkeiten, sie leisten sich sogar Luxus mitten im Krieg [...]. Der bulgarische Soldat beginnt von den Deutschen zu lernen, dass jede Erdhütte ein Gärtchen haben soll - doch nicht nur mit Zwiebeln und Knoblauch, sondern auch mit Blumen [...]. Das Gesicht des [bulgarischen, 1. P.] Soldaten begann sich zu verändern: öfter rasiert, den Schnurrbart gestutzt [...]. Man merkt ein Streben, das soldatische Aussehen des Deutschen nachzuahmen [...]. Der Soldat sieht deutlich, dass alle technischen Verbesserungen aus Deutschland kommen. Der Soldat freut sich über die Ankunft von neuen Maschinen an der Verteidigungslinie. Er weiß, dass dies nur den Deutschen zu verdanken ist". 51 Im Übrigen könnte dieser Gedanke, ungeachtet, ob er der Wirklichkeit entspricht oder nicht, als ein Beleg für die Aufnahme einerweiteren „europäischen Idee" auf bulgarischem Boden angesehen werden.

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Dass die Ergebnisse des Weltkriegs in Bulgarien als ein Unrecht empfunden wurden, ist kaum überraschend. Auf den ersten Blick sonderbar mag vielleicht die Tatsache erscheinen, dass ein Teil der bulgarischen Gesellschaft sich durch die eingetretenen Umstände bewogen fühlte, auf antieuropäisches Gedankengut zurückzugreifen, war doch das Europa-Verständnis seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts differenziert genug. Zum anderen veränderte die mit staatlichen Mitteln in Gang gesetzte Modernisierung die vorwiegend agrarische Gesellschaft Bulgariens nur oberflächlich, und das vorwiegend in den Städten. Allein die Tatsache, dass dieser Prozess einen hauptsächlich Urbanen Charakter hatte, bedeutete für ein Land, dessen Bevölkerung bis in die Vorkriegszeit zu 80 % aus Bauern bestand, dass in seinem gesellschaftlichen Gefüge zu viele vormoderne Traditionen, Sinnbilder, soziale Einstellungen und Reflexe bestehen blieben. Dies bedeutete zum einen, dass die voranschreitende Modernisierung auf einen nicht geringen Widerstand stoßen konnte. Zum anderen waren diese vormodernen Elemente im modernen Bulgarien ein Auffangbecken für all diejenigen, die aufgrund ihrer großen Enttäuschungen über ihre Erfahrungen mit „Europa", wie dies nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war, nach einem geistigen Rückhalt suchten. Das beste Beispiel für einen solchen Prozess ist die durch parlamentarische Wahlen an die Macht gekommene Bauernpartei52 von Alexandär Stambolijski53. Die Zeit nach 1919 wurde nicht nur von bürgerlichen Intellektuellen als Krise empfunden, die durch den „Westen und seine Zivilisation" verursacht worden war. Denn auch im Lager der Linken wurden anti-europäische Gedanken artikuliert, natürlich unter einem anderen Blickwinkel, hatte doch „Europa" die Revolutionen in Deutschland und Ungarn gewaltsam zu unterdrücken geholfen54. Gerade in der Zwischenkriegszeit bahnte sich eine Tendenz an, die in der neueren bulgarischen Forschung als „Anti-Europäismus" und Hinwendung zum „Bulgarismus" bezeichnet wird55. Dies war insofern etwas Neues, als bis dahin „Europa" trotz aller Schwierigkeiten im wirtschaftlichen und sozialen 52

Bulg. Bälgarski zemedelski naroden säjuz - Bulgarischer Volksbauembund. Vgl. Ivan ELENKOV, Anti-Europäismus: Bulgarische Kritik an der Modernisierung in der Zwischenkriegszeit, in: Die Bulgaren und Europa (Anm. 4), S. 182-194, hier: S. 186, der dazu schreibt: „Weil der Staat und seine Behörden gegen die Traditionen aufgetreten sind und die Modernisierung vorangetrieben haben, ist zwischen der um den Fortschritt bemühten Obrigkeit und dem in althergebrachten Kategorien und Handlungsmustern verbleibenden Volk unwillkürlich eine Kluft entstanden. [...] Diese Kluft hat [...] auch die Ideologie des Bulgarischen Bauernbundes mit Stoff versorgt; letztere zielte auf die „Erstürmung" des liberalen Staates hin, um ihn der .lichten' volkstümlich-antimodernen .Gesamtheit' (Bauern) unterzuordnen". 54 Vgl. ELENKOV, Anti-Europäismus (Anm. 53), S. 187-189. 55 Vgl. ebd., S. 182-194. „Bulgarismus" ist eigentlich ein Begriff, der in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts von Najden Sejtanov geprägt wurde. Vgl. DASKALOV, MeZdu Iztoka (Anm. 11), S. 40 f. 53

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Bereich in der bulgarischen Gesellschaft als etwas grundsätzlich Positives eingestuft worden war. Wenn Kritik geübt worden war, dann nicht so sehr an den „europäischen Ideen" an sich, sondern, wie schon oben erwähnt, vielmehr an der Art und Weise, wie sie von den Bulgaren in Bulgarien selbst verwirklicht worden waren. Die Enttäuschung über „Europa" bzw. über das, was gemeinhin als „europäisch" betrachtet worden war, spiegelte sich dabei auf unterschiedliche Weise wider, und es konnte passieren, dass einzelne Vertreter der intellektuellen Elite sonderbare Metamorphosen durchlebten56. In dieser fiir Bulgarien misslichen innenpolitischen Lage wurde 1923 der vom Grafen Rudolf Coudenhove-Kalergi (1894-1972) entworfene Plan für die politische Einigung des europäischen Kontinents der Öffentlichkeit bekannt 57 . In diesem Paneuropa, das auf wirtschaftlichem Austausch und Minderheitenschutz aufbauen und Garantien gegenüber den beiden mächtigen Flügel-Reichen bieten sollte - vor allem gegenüber der Sowjetunion und in zweiter Linie auch den Vereinigten Staaten - , hatte auch Bulgarien seinen Platz. Die Idee, dass der bulgarische Staat Mitglied einer größeren europäischen Föderation werden könne, wurde mit einer gewissen Skepsis betrachtet, und es gibt nur relativ wenige, die sich damit identifizieren und sich mit der Vision eines Paneuropa anfreunden konnten. Trotzdem errichtete die von Coudenhove-Kalergi ins Leben gerufene Bewegung bald Sektionen in Bulgarien, und bulgarische Vertreter nahmen auch am ersten Paneuropäischen Kongress in Wien teil (Oktober 1926)58. Ähnliche Reaktionen gab es auch, als im Herbst 1929 die Vorschläge Aristide Briands (1862-1932) zur Schaffung eines föderativen Bundes in Europa bekannt wurden59. Die Regierung von Andrej LjapCev (1866-1933) hieß die französische Idee grundsätzlich gut, Bulgarien entsandte auch einen Vertreter, der an den Sitzungen der Kommission teilnahm, die sich mit Fragen der euro56

Eines der interessantesten Beispiele dafür ist wohl der Poet und Belletrist Kiril Hristov (1875-1944), der 1914 ein Lobgedicht auf Deutschland verfasst hat mit dem Titel „Germanija". Vor dem Weltkrieg war Hristov der festen Überzeugung, dass das Reich der Deutschen das „Land der größten Tugenden" in der Welt sei. Für ihn waren „Europa" als Zivilisation und Stätte des Fortschritts einerseits und Deutschland andererseits zwei Seiten derselben Medaille. Wenn sich unter dem Eindruck des Krieges und der nachfolgenden Zeit seine allgemeine persönliche Einstellung zu Deutschland stark zum Negativen änderte, so vollzog sich damit auch eine Abkehr vom Europa-Verständnis der Vorkriegszeit. Vgl. Kiril HRISTOV, Säiinenija. Tom peti. Cast pärva. Vreme i sävremennici. Otkäsi ot dnevnik ν edinadeset toma, hrsg. von Svetla Gjurova und Tihomir Tahov, Bd. 5, Sofija 1967, S. 604, 614; S. 657 f. 57 Vgl. Die Idee Europa (Anm. 1), S. 226-236: Das Paneuropäische Manifest (1923). 58 Vgl. Richard COUDENHOVE-KALERGI, Kampf um Europa. Aus meinem Leben, Zürich 1949, S. 123: „Ehemalige Minister standen auch an der Spitze der Delegationen Ungarns, der Tschechoslowakei, Bulgariens, Estlands und Finnlands". 59 Am 1. Mai 1930 erarbeitete die französische Regierung ein entsprechendes Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung. Vgl. Die Idee Europa (Anm. 1), S. 237-244.

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päischen Einheit befassen sollte60. Doch da Frankreich dabei die Erhaltung des territorialen Status quo von 1919 als eine Voraussetzung für das Funktionieren des föderativen Bundes ansah, scheiterte diese Initiative schließlich. In einer von Nikola Rizov Anfang der 30er Jahre veröffentlichten Broschüre heißt es wörtlich: „Es ist eindeutig klar, dass diese Briand'sche Föderation eigentlich der Fuß eines Adlers ist, darstellend die französische Koalition, dessen Krallen die Besiegten fest umklammern wird" 61 . Das Streben, sich vom „Europäischen" zu emanzipieren und sich auf das „Nationale" zurückzubesinnen, um eine „zweite Wiedergeburt" einzuleiten, hat gewiss seine Parallelen in Europa - man braucht nur an das Italien der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts oder an Deutschland nach 1933 zu denken. Dennoch weist diese Hinwendung zum Nationalen Unterschiede zu ähnlichen Prozessen etwa in Rumänien auf, wo der Antisemitismus im Gegensatz zu Bulgarien eine außerordentlich wichtige Rolle spielte62. Neben den territorialen Dimensionen der „nationalen Rückbesinnung" war ζ. B. für Najden Sejtanov wichtig, Folgendes zu betonen: „Wir [die Bulgaren, I. P.] sind Wächter Europas vor den Toren Asiens, und wir sind Beschützer des Ostens vor der Invasion des Westens" 63 . Mit anderen Worten: auch wenn es den bulgarischen Intellektuellen um das Nationale ging, blieb „Europa" anscheinend immer ein wichtiger Bezugspunkt. Um den Sachverhalt noch weiter zu verdeutlichen, erscheint es hilfreich, einen Absatz aus einem Buch wiederzugeben, das der bulgarische Philosoph Janko Janev geschrieben und in den 30er Jahren auch in Deutschland veröffentlicht hat. In seinem 1934 in Sofia erschienenen Buch Der heldenhafte Mensch heißt es unter anderem: „Warum wollen wir nicht sein, wie wir sind? [...] Warum wollen wir nicht stolz und heldenhaft leben? Unsere gesamte Politik nach der Befreiung [1878, I. P.], unser Geistesleben, unser administratives Nachahmen, unsere theoretische Bildung, unser Staat, unsere Bücher und unser Bauwesen haben nichts gemeinsam mit der Herrlichkeit unseres Geistes, den die europäische Demokratie bis heute verhöhnt, indem sie versucht, ihm die Spontaneität zu 60

Die bulgarische Seite äußerte den Wunsch, die zukünftigen Mitglieder der Föderation möchten eine Deklaration unterschreiben, dass sie gegen den Krieg seien, die Rechte der nationalen Minderheiten einhielten und sich einer friedlichen Revision der Friedensverträge gemäß Paragraph 19 der Völkerbundakte nicht in den Weg stellen würden. Bulgarien wurde in der Kommission durch den Juristen Prof. Vladimir Mollov ( 1873-1933), übrigens ein Freimaurer, vertreten. Vgl. Veliiko Georgiev, Masonstvoto ν Bälgarija. Pronikvane, organizacija, razvitie i rolja do sredata na tridesette godini naXX vek., Sofija 1986, S. 255. Nikola Rizov, Brianovata Panevropa. Istinskite motivi i celi, Sofija 1931, S. 6. 62 Im Übrigen sind Versuche, sich vom „Europäischen" zum „Nationalen" hinzuwenden, nicht allein auf der literarischen Ebene zu finden. Auch die bildenden Künstler führten solche Diskussionen, allerdings setzte diese Auseinandersetzung früher ein - etwa Anfang des 20. Jahrhunderts. Vgl. Nikolov, „Europa" (Anm. 46), S. 165 ff. 63 Najden Sejtanov, Velikobälgarski svetogled, Sofija o. J. [1940], S. 7, der Vf. nennt die Bulgaren den politischen „Demiurgen Südosteuropas". Ebd., S. 241.

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rauben und ihm ein soziales und politisches Programm aufzuerlegen, das sowohl Briten als auch Negern [...] gleichermaßen auferlegt werden könnte. Soll unser äffisches Nachahmen weitergehen? Wir sind Heiden; unser Staat und unsere Staatlichkeit müssen von hier [Bulgarien, I. P.] ausgehen. Vom Leben des Stammes anstatt von den Satzungen internationaler Doktrinen; von der Kraft des bulgarischen Glaubens an die Erde anstatt vom Dogma des Jenseits; [...] Unsere Demokratie ist ein fremdes Werk; unsere Verfassung ist entlehnt; unsere Polizei ist uniformiert und vaterlandslos; unsere Politik des Geistes ist eine Politik der westlichen Universität; unsere Schule ist heimatlos, blutlos, abstrakt: In ihr könnten Kinder aller Völker lernen. Mit einem Wort: wir sind Anti-Bulgaren. Wir alle sind in eine fremde Landschaft eingebettet. Wir sprechen eine fremde Sprache, denken mit fremden Gedanken. Das ist unsere historische Sünde" 6 4 .

Solche Überlegungen, obwohl keinesfalls vorherrschend, aber dennoch bedeutsam in der Zwischenkriegszeit, hätten an sich eine Debatte innerhalb der bulgarischen Gesellschaft hervorrufen können, um das Problem „Europa", „Europa-Gedanke", „Europa-Verständnis" in seinem Verhältnis zu den Traditionen des vormodernen Bulgarien zu hinterfragen und auszuschöpfen, um möglicherweise Visionen für die Zukunft abstecken zu können. Die schwierigen innenpolitischen Probleme der 20er Jahre, gepaart mit den großen Veränderungen auf dem Kontinent in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, haben jedoch diesen Gedankenaustausch nicht zu einem echten gesellschaftlichen Diskurs werden lassen. Als dann 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, musste der „Europa-Gedanke", unabhängig davon, ob man „dafür" oder „dagegen" war, ganz anderen Sachverhalten weichen.

IV. Schluss Wenn man das Gesagte auf einige Stichpunkte reduzieren würde, ließen sich folgende Schlüsse ziehen: 1. Es gibt seit Mitte des 18. Jahrhunderts eine mehr oder weniger kontinuierliche Tradition in der bulgarischen Gesellschaft, „Europa" als einen Hort kulturellen, technischen und wirtschaftlichen Fortschritts anzusehen. Dabei ist „Europa" keinesfalls als geographische Einheit gemeint, sondern hat vor allem Mittel- und Westeuropa im Sinn. 2. Die Modernisierung oder die „Europäisierung" der bulgarischen Gesellschaft nach der staatlichen Wiedergründung 1878 war mit der Übernahme „europäischer Vorbilder" verbunden, die jedoch nicht immer mit Rücksicht auf die bulgarischen Verhältnisse angewandt wurden, was die Beständigkeit dieser Transformation durchaus infrage stellen konnte.

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Zitiert nach ELENKOV, Anti-Europäismus (Anm. 53), S. 191.

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3. Die Dichotomie „Europa - Russland", die sich bis Mitte der 80er des 19. Jahrhunderts feststellen lässt, hatte in Bulgarien nicht den für den europäischen Liberalismus und den Marxismus typischen russenfeindlichen Ursprung. Im Gegenteil - die Ausklammerung Russlands aus „Europa" und seine Gegenüberstellung zu den anderen Großmächten des Kontinents beinhaltete im bulgarischen Fall zwar auch ein deutliches Gut-und-Böse-Verständnis, jedoch mit umgekehrten Vorzeichen. 4. Nach 1885 näherte sich der bulgarische Europa-Begriff allmählich seinem europäischen Vorbild, d. h. sowohl Russland als auch Europa kehrten zu ihren Ursprungsformen zurück, was auch für die oben genannte Dichotomie gilt. „Gut" und „Böse" gab es nicht mehr, es blieb nur die „europäische Zivilisation" als Angelpunkt der Europa-Überlegungen. 5. Für viele Bulgaren der Vorkriegszeit war Mitteleuropa das Sinnbild für „Europa" schlechthin, wobei Deutschland in schnellem Tempo die Donaumonarchie einholte und in vieler Hinsicht auch überflügelte. 6. Trotz ihrer verhältnismäßigen Rückständigkeit auf wirtschaftlicher und politisch-kultureller Ebene im Vergleich zu den Ländern Mittel- und Westeuropas blieb die bulgarische Gesellschaft, was den großen Rahmen der sozialen Entwicklung angeht, im Bereich des Europäischen. Das gilt sowohl für die Bildung und das Selbstverständnis der fuhrenden Eliten als auch für die Ideen, die man vertrat, und die Politik, die man verfolgte. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist Bulgarien ein normales europäisches Land. 7. Was für die meisten anderen Länder des Kontinents für die damalige Zeit typisch war, lässt sich durchaus und ohne Schwierigkeiten auf Bulgarien übertragen - die Idee des Nationalismus, die Nationswerdung, das Sich-Loslösen-Wollen von einem Vielvölkerreich und das Streben nach einem einheitlichen nationalen Staat, die Pflege der Sprache als wichtiges Merkmal des Nationalen, daher auch eine gewisse Skepsis gegenüber Ideen, die einen vorher schon gewesenen Zustand wiederherstellen wollten, wenn auch unter anderen Vorzeichen - nämlich einer europäischen Föderation. 8. Die „Europa-Idee" wurde bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in Bulgarien nicht als eine zukünftige politisch-wirtschaftliche Einigung des Alten Kontinents gesehen. Diese Einstellung ist an sich ebenfalls „europäisch", weil in den meisten Staaten des Alten Kontinents zu jener Zeit ähnlich gedacht wurde. 9. Die in der bulgarischen Zwischenkriegszeit aufkommende Europa-Skepsis und die verstärkte Hinwendung zum Nationalen bzw. Internationalen hat klare „europäische Parallelen", spiegeln sie doch den besonders in der Mitte und im Süden des Kontinents anzutreffenden, nicht selten mit militärischen Mitteln ausgetragenen Links-Rechts-Konflikt wider. 10. Die bulgarische Gesellschaft der Zwischenkriegszeit stand den Projekten einer „Europäischen Föderation" mit Vorbehalten und Skepsis gegenüber,

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da die Nachkriegsordnung von 1919 als unrechtmäßig und revisionsbedürftig angesehen wurde. Die Ideen von Coudenhove-Kalergi und Aristide Briand wurden zwar nicht verworfen, doch ein allzu großer Enthusiasmus für ihre Verwirklichung lässt sich nicht feststellen. Insofern liegt Bulgarien auch hier durchaus im „europäischen Trend", erachteten doch die meisten europäischen Politiker die „Föderalisierung des Kontinents" als eine lobenswerte, doch auf alle Fälle als eine verfrühte Idee. Dem Leser mögen das „Europa-Verständnis" und der „Europa-Gedanke" in Bulgarien in der Zeit von 1762 bis 1939 erscheinen, als würde man den Phasen des Monds folgen, vom allmählichen Kennenlernen Europas Mitte des 18. Jahrhunderts, über den „Vollmond" der 50er bis Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, wo man nur das Licht und nicht die Schattenseiten wahrgenommen hat, bis hin zu den Zweifeln an der Allmacht des „europäischen Mondes" in der Zwischenkriegszeit. Selbstverständlich ist dies nur eine Metapher, und dennoch spiegelt sie einen historischen Prozess wider, der sich in Südosteuropa abgespielt hat. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Europa-Idee dem Beispiel ihres natürlichen Ebenbilds folgt und als „Vollmond" wieder erscheint, ohne jedoch jemals eine „Mondfinsternis" erleben zu müssen.

Summary There is a tradition within Bulgarian society since the mid-18th century to see "Europe" as an offspring of civilization. The modernization of Bulgaria after 1878 keeps with this pattern, and a lot of "European models" were transferred, though not always adjusted to the concrete reality in the country. For many Bulgarians Austria-Hungary and with the years more and more Germany became synonyms for "Europe". The history of the Bulgarians in the 18-19th centuries follows the European mainstream - building a nation with its own literature language, nationalism, and the will to form a separate state. Attitudes towards the "idea of Europe" are "European" as well. Scepticism towards it prevails until the end of World War I. As a defeated country Bulgaria shares the negative attitude towards the peace settlement, which it claims should be revised first. The projects for the creation of a European federation were therefore seen as very premature though laudable ideas.

ANDERE BEITRÄGE West-Ost-Kommunikation im 17. Jahrhundert in ihrem Kontext Joachim von Wicquefort als Korrespondent und Agent Herzog Jakobs von Kurland Von

Anuschka

Tischer

Die niederländische Familie Wicquefort (Wickevoort) repräsentierte in mindestens drei Generationen die vielfältigen internationalen Beziehungen der frühneuzeitlichen Niederlande in Handel, Diplomatie und Nachrichtenübermittlung1. Die genauere Kenntnis der zeitlich und räumlich weit gespannten Aktivitäten dieser Familie verdanken wir den erst kürzlich veröffentlichten Forschungen von Pierre-François Burger2. Zuvor war vor allem Abraham von Wicquefort ein Begriff, der Verfasser des 1681 erschienenen diplomatiehistorischen Standardwerks L'ambassadeur et ses fonctions und langjährige brandenburgische Resident in Paris. Eine bescheidenere Rolle in der Historiographie spielte neben ihm sein Bruder Joachim, der als Resident der Landgräfin Amalie Elisabeth von Hessen-Kassel in Den Haag in den 1640er Jahren eine Mittlerfunktion einnahm in den Beziehungen und der politischen Kommunikation zwischen den Generalstaaten, Hessen-Kassel und Frankreich. Nun wissen wir, dass weitere Mitglieder der Familie Wicquefort in der Generation Abrahams und Joachims international agierten und dass ihr Aktionsradius bis nach 1

Zu den frühneuzeitlichen Beziehungen der Niederlande in den Ostseeraum, von dem im Folgenden die Rede sein wird, siehe allgemein den Sammelband: Baltic affairs. Relations between the Netherlands and North-Eastern Europe 1500-1800, hrsg. von J. Ph. S. Lemmink und J. S. A. M. van Konigsbrugge, Nijmegen 1990. 2 Pierre-François BURGER. Res angusta Domi, les Wicquefort et leurs métiers bien délicats entre Paris, Amsterdam et Pärnu, in: Francia 27/2 (2000), S. 2 5 - 5 8 . Ergänzend zu der bei Burger zitierten Literatur siehe Georges DETHAN, Wicquefort et Callières à l'ombre de Mazarin, in: Guerre et pouvoir au XVlIe siècle, hrsg. von Viviane Barrie-Curien, Paris 1991, S. 9 5 - 1 0 3 ; Maurice KEENS-SORER, Abraham de Wicquefort and Diplomatie Theory, in: Diplomacy & Statecraft 8 (1997), S. 16-30; Derek CROXTON/Anuschka TISCHER, The Peace of Westphalia. A Historical Dictionary, Westport/London 2002, S. 321 f. (Art. Wicquefort, Abraham and Joachim de). Einzelne Erwähnungen Joachim von Wicqueforts finden sich auch in: Familienbriefe der Landgräfin Amalie Elisabeth von Hessen-Kassel und ihrer Kinder, hrsg. von Erwin Bettenhäuser, Marburg 1994.

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Italien im Süden und Livland im Osten reichte: Johann von Wicquefort, ein Bruder Abrahams und Joachims, engagierte sich als Kaufmann für den Ausbau der Handelsroute von Pleskau (Pskow) nach Pernau (Pärnu) und lebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert in Riga. Ein Pierre von Wicquefort war seit 1656 Bürger von Pernau und Besitzer livländischer Ländereien. Damit fugt sich eine weitere, bisher unbekannte geschäftliche Verbindung Joachim von Wicqueforts gut in den gesamten Rahmen der nun besser beleuchteten Familienaktivitäten ein: Joachim nämlich war Korrespondent Herzog Jakobs von Kurland über mindestens 17 Jahre hinweg, zeitweilig auch dessen Handelsagent. Joachims französischsprachige Schreiben an den Herzog sind im Historischen Staatsarchiv Lettlands (Latvijas Valsts Vestures Arhïvs = LVVA) in Riga an abgelegener Stelle überliefert, nämlich nicht im Fonds der ehemaligen kurländischen Archive, sondern im Bestand der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde zu Riga, in einer dreibändigen Sammlung der Korrespondenz der kurländischen Herzöge3. Diese Schreiben Wicqueforts sind stark verderbt, zum Teil sogar nur noch in Fragmenten vorhanden. Die Überlieferung setzt ein mit einem Brief vom 31. Juli 1646, in dem er über den aktuellen Feldzug der französischen und der niederländischen Armee sowie über den Stand der Friedensverhandlungen in Münster berichtete, zu einem Zeitpunkt also, da der Friedenskongress nach zwei Jahren Dauer allmählich in die entscheidende Phase trat4. Der Westfälische Frieden war ein epochales Großereignis, zu dem fast alle europäischen Potentaten mindestens kurzfristig Interessenvertreter entsandten. Wenn auch der Herzog von Kurland selbst niemanden schickte, so war doch sein Lehnsherr, der König von Polen, seit September 1646 mit dem Residenten Matthias von Krockow in Osnabrück vertreten5. Für Polen wie Kurland war der Dreißigjährige Krieg dabei von nachgeordneter Bedeutung. Die Auseinandersetzung, welche diese Region beherrschte, war der Kampf Schwedens um die Vormachtstellung im Ostseeraum, und ihr Interesse am Dreißigjährigen Krieg bestand vor allem darin, dass Schweden eine der Hauptkriegsmächte auch in diesem Konflikt war6. Die schwedische Expan3 LVVA Riga 4038, apraksts 2, lietas 2199, 2200 und 2201, die Briefe Wicqueforts in lieta 2199. 4 LVVA Riga 4038, ap. 2, lieta 2199, fol. 87-88v. Zum Gesamtverlauf des Westfälischen Friedenskongresses siehe Fritz DICKMANN, Der Westfälische Frieden, Münster 7 1998. Die bis 1996 erschienene Literatur zum Thema verzeichnet die Bibliographie zum Westfälischen Frieden, hrsg. von Heinz Duchhardt, bearb. von Eva Ortlieb und Matthias Schnettger, Münster 1996. Zu Überblicksartikeln der verschiedenen den Frieden betreffenden Themenkreise siehe CROXTON/TISCHER Peace of Westphalia (Anm. 2), wo zusätzlich die zum Jubiläum 1998 erschienene Literatur verzeichnet ist. 5 Franz SCHULTZ, Geschichte der gräflich Krockow'schen Familie, o. O. 1911, S. 45 ff. 6 Siehe dazu jetzt auch Der Westfälische Frieden von 1648 - Wende in der Geschichte des Ostseeraums. Für Prof. Dr. Dr. h. c. Herbert Ewe zum 80. Geburtstag, hrsg. von Horst Wernicke und Hans-Joachim Hacker, Hamburg 2001.

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sion hatte unter anderem zur Folge, dass Polen 1629 Livland abtreten musste. Dies bedeutete zugleich die Zerschneidung eines gewachsenen kulturellen Raumes, denn wenn auch Kurland seit 1561 ein selbständiges Herzogtum war, so waren diese beiden Fragmente des alten livländischen Ordensstaates doch bis dahin noch gemeinsam unter polnisch-litauischer Oberhoheit gewesen, während Estlands Nordosten bereits seit dem 16. Jahrhundert zu Schweden gehörte. Ab 1629 konstituierten nun Livland und Estland einen neuen gemeinsamen, nach Kurland hin abgegrenzten Raum 7 . Kurland, dessen Periode eigenständiger Existenz fast deckungsgleich ist mit der Frühen Neuzeit und das darum ein lohnendes Objekt für die Frühneuzeitforschung ist, gehört dennoch zu den lange vernachlässigten Forschungsgebieten. In den letzten Jahren hat sich dies, begünstigt durch die Öffnung der lettischen Archive, vor allem dank der von Erwin Oberländer unternommenen Untersuchungen geändert, der vor allem die Frage thematisiert, inwieweit das frühneuzeitliche Kurland ein frühmoderner Staat war, und der zahlreiche weitere Untersuchungen über Kurland angeregt hat 8 . Jakob, alleiniger Herzog von Kurland seit 1642, gehört dabei aber zu den erst in der Phase der vertieften Erforschung befindlichen und durch die ältere Historiographie mit Vorurteilen belasteten historischen Persönlichkeiten9. Ein formeller Vasall Polens, war er durch seine 1645 geschlossene Ehe mit Luise Charlotte von Brandenburg, einer Schwester des Großen Kurfürsten und Kusine Königin Christinas von Schweden, mit dem schwedischen Königshaus verwandschaftlich verbunden. Vor allem hatte er ein politisches Interesse, nicht in den dauernden Konflikt zwischen seinem neuen, übermächtigen Nachbarn und seinem polnischen Lehnsherrn hineingezogen zu werden: Polen und Schweden hatten 1635 in Stuhmsdorf einen Waffenstillstand ge7

Zur Auseinanderentwicklung Li viands und Kurlands im 16. Jahrhundert und ihren unterschiedlichen Formen der Lehensbeziehung zu Polen-Litauen siehe Almut BUES, Das Herzogtum Kurland und der Norden der polnisch-litauischen Adelsrepublik im 16. und 17. Jahrhundert, Gießen 2001, S. 38; Erwin OBERLÄNDER, Das Herzogtum Kurland 15611795, in: Regionen in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Peter Claus Hartmann, Berlin 1994, S. 193-207, hier: S. 193 f. 8 Siehe neben den in Anm. 7 zitierten Titeln: Das Herzogtum Kurland 1561-1795. Verfassung, Wirtschaft, Gesellschaft, Bd. 1, hrsg. von Erwin Oberländerund Ilgvars Misäns, Lüneburg 1993, Bd. 2, hrsg. von Erwin Oberländer, ebd. 2001; Erwin OBERLÄNDER, Kurzemes Hercogiste Eiropas Vestures kontekstä - pëtijumi perspektîvas [Das Herzogtum Kurland in der europäischen Geschichte - Perspektiven der Forschung], in: Ventspils Muzeja Raksti 1 (2001), S. 19-26. 9 Zur Historiographie Herzog Jakobs und seines Sohns und Nachfolgers Friedrich Kasimir siehe Mârïte JAKOVT.EVA. Kurzemes un Zemgales Hercogistes vestures mazpêtïtâs problemas: Kurzemes hercogu Jëkaba und Frïdriha Kazimira têlojums historiogräfijä [Die wenig erforschten Probleme der Geschichte des Herzogtums Kurland und Semgallen: die Darstellung der Herzöge Jakob und Friedrich Kasimir in der Historiographie], in: Ventspils Muzeja Raksti 1 (2001), S. 74-82. Für einen kurzen Überblick siehe den biographischen Artikel von Heinz MATTIESEN in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10, Berlin 1974, S. 313 ff.

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schlossen, der die latenten Spannungen aber nicht beilegte. Von einem Eingreifen in einen schwedisch-dänischen Krieg auf der Seite Dänemarks konnte Wladislaw IV. von Polen nicht zuletzt durch ein französisches Eheprojekt, das dann 1645 besiegelt wurde, abgehalten werden 10 . Frankreich, das schon den Stuhmsdorfer Vertrag vermittelt hatte, musste den polnisch-schwedischen Konflikt ruhig stellen, um nicht Schweden, seinen wichtigsten Verbündeten im Dreißigjährigen Krieg, anderweitig engagiert zu sehen. Schwedens verstärkte Konzentration auf diese Problematik - und sei es durch Friedensverhandlungen - konnte Frankreich aber aus dem gleichem Grund nicht gelegen kommen. Die französische Außenpolitik registrierte deshalb argwöhnisch die Bemühungen des Herzogs von Kurland um einen polnisch-schwedischen Frieden 11 , zumal es auch bilaterale französisch-kurländische Beziehungen gab: Herzog Jakob gilt als beispielhafter Merkantilist, und seine Politik war vor allem Wirtschafts- und Kolonialpolitik. So hatte er schon 1643 mit Frankreich einen Wirtschaftsvertrag geschlossen. 1647 ging er einen Neutralitätsvertrag mit Schweden ein. Als allerdings 1655 erneut ein polnischschwedischer Krieg ausbrach, gelang es dem Herzog nicht, diese Neutralität tatsächlich durchzusetzen, so dass die ersten Früchte seiner erfolgreichen Wirtschaftspolitik wieder zunichte gemacht wurden 12 . Der Herzog von Kurland hatte zahlreiche Kontakte nach Westeuropa: Ein Patensohn König Jakobs von England und Schottland, war er nach der Vertreibung seines Vaters aufgewachsen in Berlin und hatte im Reich studiert. Seine Kavalierstour führte ihn in den 1630er Jahren außer durch Deutschland auch nach Frankreich, wo er Kardinal Richelieu und dessen Nachfolger Mazarin kennenlernte, in die Niederlande und nach England. Engere Verbindungen dokumentieren die genannten Verträge mit Frankreich und Schweden und seine 1645 geschlossene brandenburgische Heirat. 1654 wurde der Herzog Reichsfurst 13 . Die brandenburgische Heirat bildete zudem den Grundstein auch einer „Achse Hessen-Brandenburg-Kurland", in der Brandenburg zunächst noch das dynastische Bindeglied zwischen Hessen und Kurland 10 Anuschka T I S C H E R , Eine französische Botschafterin in Polen: die Gesandtschaftsreise Renée de Guébriants zum Hofe Wladislaws IV. 1645/1646, in: L'Homme. Zeitschrift fur feministische Geschichtswissenschaft 12/2 (2001), S. 305-321. 11 Siehe dazu den Brief des französischen Staatssekretärs des Äußeren Brienne an die Kongressbotschafter Longueville und d'Avaux vom 18. Januar 1647 in Acta Pacis Westphalicae (APW), hrsg. durch Konrad Repgen, Serie II, Abt. B: Die Französischen Korrespondenzen, Bd. 5,1, bearb. von Guido Braun, Münster 2002, Nr. 65, S. 324 f. 12 Siehe dazu neben M A T T I E S E N (Anm. 9), O B E R L Ä N D E R , Kurland (Anm. 7), S. 205, und B U E S , Herzogtum Kurland (Anm. 7), S. 212-228: Mante J A K 0 V I , E V A , Merkantilismus und Manufakturen: Die Eisenwerke der Herzöge von Kurland, in: Das Herzogtum Kurland, Bd. 1 (Anm. 8), S. 99-128, hier: S. 102 f. Zur Festigung des französischen Ostseehandels bereits unter Richelieu siehe Miroslav HROCH, Handel und Politik im Ostseeraum während des Dreißigjährigen Krieges, Praha 1976, S. 25. 13 J A K O V I . . E V A , Merkantilismus (Anm. 12), S. 102 f.

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war, die aber dann in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch mehrere hessische Ehen kurländischer Prinzessinnen deutliche Konturen gewann. Die kurländisch-hessischen Beziehungen sind dabei ein Thema, das - anders immerhin als die kurländisch-brandenburgischen Beziehungen - weder in der hessischen noch der kurländischen Landesgeschichte angemessen thematisiert wurde, eine Lücke, auf die kürzlich Almut Bues erstmals hinwies sowie darauf, dass teilweise unausgewertete kurländische Akten außerhalb Lettlands in den Archiven nicht nur in Marburg, Darmstadt und Berlin für eine Aufarbeitung der europäischen Beziehungen Kurlands bereit liegen 14 . Auch wenn der Herzog von Kurland kein originäres Interesse am Westfälischen Frieden hatte, so war seine Politik doch mit wichtigen kriegftihrenden Parteien - Brandenburg und dem Reich allgemein, Schweden, Frankreich verknüpft. In den 1640er Jahren reiste Graf Fircks als außerordentlicher Gesandter durch Europa, um diese Kontakte, insbesondere die zu Frankreich, zu pflegen. Der Herzog von Kurland hielt wohl keine besonderen Berichterstatter, aber er nutzte die Informationsdienste zahlreicher Korrespondenten, die aus Den Haag, Wien, Paris, London, Warschau oder Stockholm zwar keine empfängerorientiert zugeschnittenen Nachrichten, jedoch die neuesten Ereignisse aus den Brennpunkten des Geschehens lieferten 15 . Zwischen den Briefen Wicqueforts im Archiv in Riga sind solche anderer Korrespondenten überliefert, die zum Teil von nicht minder guter Kenntnis der politischen Lage, wie zum Beispiel der Westfälischen Friedensverhandlungen, zeugen als die des Niederländers 16 . Keiner von ihnen aber scheint so langfristig wie Wicquefort berichtet zu haben. Kurland betrieb das ganze 17. Jahrhundert hindurch noch keine ständige Diplomatie, wie sie sich in Europa nach dem Westfälischen Frieden durchsetzte. Intensivere regelmäßige Kontakte unterhielt Herzog Jakob lediglich seit den 1650er Jahren zu England und Russland 17 . Ein Netzwerk aus Diplomaten und Informanten, welches zusammen mit geschickten dynastischen Verbindungen einigen kleineren Mächten - wie Hessen-Kassel, zu dessen Verbindungsleuten auch Wicquefort gehörte, oder Pfalz-Neuburg - zeitweilig 14 Almut BUES, Kurland - Brandenburg - Hessen, in: Ventspils Muzeja Raksti 1 (2001), S. 6 3 - 7 3 , hier: S. 66 f. 15 Otto von MIRBACH, Briefe aus und nach Kurland während der Regierungsjahre des Herzogs Jakob, Mitau 1844, S. 308 ff. 16 Siehe zum Beispiel den deutschen Brief eines nicht identifizierbaren Unterzeichners aus v o m 2. Februar 1647; L V V A Riga 4038, ap. 2, lieta 2199, fol. 8 9 - 9 0 v . Auch dieser Korrespondent berichtete von den spanisch-niederländischen Verhandlungen, dem französisch-niederländischen Verhältnis und den aktuellen Verhandlungen des französischen Diplomaten Servien in Den Haag. 17 Zu den diplomatischen Kontakten Kurlands in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts siehe Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), hrsg. von Ludwig Bittner und Lothar Groß, Bd. 1 ( 1 6 4 8 - 1 7 1 5 ) , Oldenburg i. O./ Berlin 1936, N D Vaduz 1976, S. 281 f.

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erlaubte, im Konzert der Großen mitzuspielen, baute Herzog Jakob nicht auf 18 . Damit fehlten auch die regelmäßigen Berichterstatter, welche für die Gestalter der europäischen Politik unerlässlich zu werden begannen. Selbst die existierenden regelmäßigen und unregelmäßigen Korrespondenzen und anderweitigen Kontakte sind aber, wie Almut Bues in ihrer Darstellung der ebenfalls noch unerforschten hessisch-kurländischen Beziehungen betont, bisher kaum ausgewertet worden, gerade auch im Hinblick auf moderne Fragestellungen wie solche der Kommunikationsgeschichte oder die der gegenseitigen Wahrnehmung 19 . Kommunikationshistorisch ist ein wichtiger Aspekt der Interaktion zwischen Joachim von Wicquefort oder anderen Korrespondenten bzw. Agenten einerseits und Jakob von Kurland andererseits hervorzuheben: Eine regelmäßige funktionierende Kommunikation wurde erst möglich durch eine einschneidende strukturelle Innovation, nämlich den Aufbau eines kur- und Inländischen Postwesens, über das wir dank der aktuellen Forschungen der lettischen Historikerin und Archivarin Pärsla Pêtersone hervorragend informiert sind 20 . Tatsächlich begann die Berichterstattung Wicqueforts mit 1646 gerade in dem Jahr, in dem die schwedisch-livländische Poststrecke 14 Jahre nach ihrer Errichtung durch die Etablierung einer eigenen brandenburgischen Strecke nochmals effektiver wurde 21 . Obwohl mit der schwedischen Inbesitznahme Livlands der gewachsene Kommunikationsraum Alt-Livlands nach Kurland hin durchschnitten wurde, profitierte die Kommunikation Kurlands mit seinen Nachbarn wie mit entlegeneren Mächten - und damit Kurland als politischer Faktor in Europa - von der schwedischen Herrschaft. Schweden erweiterte im Zuge seiner deutschen Eroberungen im Dreißigjährigen Krieg sein Kommunikations system und 18 Holger Thomas GRAF, Konfession und internationales System. Die Außenpolitik Hessen-Kassels im konfessionellen Zeitalter, Darmstadt 1993; Alexander KOLLER, Die Vermittlung des Friedens von Vossem (1673) durch den jülich-bergischen Vizekanzler Stratmann. Pfalz-Neuburg, Frankreich und Brandenburg zwischen dem Frieden von Aachen und der Reichskriegserklärung an Ludwig XIV. (1668-1674), Münster 1995. 19 BUES, Kurland - Brandenburg - Hessen (Anm. 14), S. 68-72. 20 Pârsla PETERSONE, Vidzemes pasta vesture 17.-19. gs. [Die Geschichte der livländischen Post vom 17. bis zum 19. Jh.], gedruckte lettische, deutsche und russische Zusammenfassung der Dissertation, Riga 1998 (Exemplare u. a. in der Lettischen Nationalbibliothek in Riga, Abteilung Lettonica, und im Herder-Institut in Marburg). Zum kurländischen Postwesen siehe DIES., Kurzemes un Zemgales Hercogistes pasta organizäcijas loma Baltijas Juras regiona sakaru attîstîbâ 17. gadsimtä [Die Rolle der Post im Herzogtum Kurland und Semgallen bei der Entwicklung der Verbindungen im Ostseeraum im 17. Jahrhundert], in: Ventspils Muzeja Raksti 1 (2001 ), S. 154-171. Vgl. des Weiteren DIES., Entstehung und Modernisierung der Post- und Verkehrsverbindungen im Baltikum im 17. Jahrhundert, in: Acta Baltica 35 (1997), S. 199-218 [Titel im Inhaltsverzeichnis des Bandes leicht abweichend]; DIES., Riga als ein bedeutender Knotenpunkt im schwedischen Post- und Verkehrssystem um die Ostsee im 17. Jahrhundert, in: Der Westfälische Frieden (Anm. 6), S. 4 0 1 - 4 1 5 . 21

PÊTERSONE, Riga (Anm. 20), S. 405 f.

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konnte dabei im livländischen Raum auf private Initiativen aufbauen. AltLivland hatte durch die Botennetze des Deutschen Ordens einerseits, der Hanse andererseits eines der besten Verbindungssysteme im Spätmittelalter gehabt, das sich über weite Teile Europas erstreckte und im Osten bis nach Russland reichte22. Zu Beginn der verstärkten Konzentration auf kommunikationshistorische Fragestellungen in den späten 1980er Jahren betonte deshalb Winfried Becker bereits die Bedeutung der Hanse für die Kommunikationsgeschichte im Allgemeinen23. Die mittelalterlichen Kommunikationssysteme waren allerdings letztlich nur eine „bunte Vielfalt von herrschaftlichen Boten", welche die Briefe persönlich vom Schreiber zum Empfänger beförderten 24 . Das System war orientiert am Bedarf der Organisatoren, nicht allgemeiner Kommunikation. So verkehrten zwischen Riga und Brügge hansische Boten am Ende des 15. Jahrhunderts nicht regelmäßig, ein Brief brauchte bei guten Bedingungen durchschnittlich 39 Tage, im Winter 74 Tage, und das Verschwinden einer Nachricht oder auch des Boten selbst war keine Seltenheit 25 . Der Niedergang der Hanse und der historische Rollenwandel von Nord- und Ostsee von einem Handels- und Kommunikationsraum zu einem Faktor in der Großmachtpolitik der Anrainerstaaten seit dem 16. Jahrhundert 26 markierten zusammen mit den strukturellen Innovationen im frühneuzeitlichen Kommunikationssystem das Ende der alten Botensysteme. Lediglich das städtische Botensystem im Reich entwickelte sich im 16. Jahrhundert so weit, dass auf dieser Basis zumindest zwischen Bewohnern deutscher Städte eine private Kommunikation blühte, die insbesondere von Kaufleuten und Gelehrten genutzt wurde. Diese Botendienste existierten auch im 17. Jahrhundert fort und unterhielten sogar internationale Verbindungen. 27 22

DIES., Vidzemes pasta vesture (Anm. 20), S. 39; Ekkehard ROTTER, Die Organisation des Briefverkehrs beim Deutschen Orden, in: Deutsche Postgeschichte, hrsg. von Wolfgang Lötz, Berlin 1989, S. 23-41, hier bes. S. 28; Matthias PUHLE. Das Gesandten- und Botenwesen der Hanse im späten Mittelalter, in: Ebd., S. 43-55, hier bes. S. 45 und S. 53; (mit im Einzelnen von Puhle leicht abweichender Darstellung:) Michael NORTH, Nachrichtenübermittlung und Kommunikation in norddeutschen Hansestädten im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 2/1991, S. 8 - 1 6 . 23 Winfried BECKER. Die Hanse und das Reich aus dem Blickwinkel der Kommunikation, in: Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. von Hans Pohl, Stuttgart 1989, S. 90-115. 24 Siehe dazu mit weiteren Hinweisen auf die weiterführende Literatur zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Botensystem Klaus GERTEIS, Das „Postkutschenzeitalter". Bedingungen der Kommunikation im 18. Jahrhundert, in: Entwicklungsschwellen im 18. Jahrhundert, hrsg. von Karl Eibl, Hamburg 1990, S. 55-78, h i e r S. 56 f. 25 PUHLE, Gesandten- und Botenwesen (Anm. 22), S. 52 f; NORTH, Nachrichtenübermittlung (Anm. 22), S. 10. 26 Zum geopolitischen Wandel des Nord- und Ostseeraumes siehe David KiRBY/Merja-Liisa HINKKANEN, The Baltic and the North Seas, London/New York 2000. 27 GERTEIS, „Postkutschenzeitaltei" (Anm. 24), S. 57; NORTH, Nachrichtenübermittlung ( A n m . 22), S. 1 2 - 1 5 .

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Die bahnbrechende Innovation nahm aber mit der Post in Westeuropa ihren Anfang, welche Ende des 15. Jahrhunderts als von der Familie Taxis betriebenes Kommunikationssystem für die habsburgischen Territorien begann 28 . Ein öffentliches Postwesen etablierte sich jedoch allgemein erst im 17. Jahrhundert. Livland war dabei unter seinen Nachbarn ein Vorreiter. 1632, drei Jahre nach dem Übergang Livlands an Schweden, errichtete Jacob Becker auf Anregung von Kaufleuten und mit Unterstützung von offizieller Seite als erster livländischer Postmeister eine private öffentliche Postlinie, wohl ein Anzeichen dafür, dass die althergebrachte Kommunikation mit den deutschen Städten nach Livland hin nicht mehr funktionierte. 1634 wurde diese private öffentliche Postlinie bis nach Schweden ausgebaut, wo eine Reform hin zu einer öffentlichen staatlichen Post nach langen Vorplanungen erst 1636 ins Leben trat. 1639 wurde die livländische Post dann in diese schwedische öffentliche staatliche Post integriert. Jacob Becker konnte sich dabei als Postmeister halten, aber seine künftigen Initiativen hatten keine Chance mehr gegen die schwedischen wie auch die brandenburgisch-preußischen obrigkeitlichen Bestrebungen, das Postwesen zu kontrollieren, aber auch, es als Mittel der obrigkeitlichen Kommunikation effektiv auszubauen 29 . Den Hauptnutzen der schwedischen Innovationen und Förderungen hatten so natürlich primär die schwedischen Herrschaftsgebiete Livland - und hier besonders das Zentrum Riga - und Estland, die durch die schwedische Herrschaft auch einen Aufschwung an Buchpublikationen und anderer kultureller Aktivität nahmen. Der Höhepunkt dieses Aufschwungs war zweifellos die Gründung der Universität Dorpat (Tartu) ebenfalls bereits im Jahr 1632 30 . Inwieweit sich diese kulturell-akademischen Entwicklungen auf Kurland auswirkten, kann hier nicht thematisiert werden. Die schwedisch-livländische Post jedenfalls bewirkte für Kurland zweifellos einen Modernitätsschub. Auch hier waren die Dimensionen für Livland selbst ganz andere, denn dieses wurde zugleich in das gesamte schwedische Kommunikationssystem integriert, das von diplomatischen Beziehungen bis hin zu familiären und politischen Verflechtungen reichte. Der schwedische Gouverneur für Livland, Gabriel Oxenstierna, war ein Cousin des Reichskanzlers Axel Oxenstierna, dessen Sohn Johan Botschafter auf dem Westfälischen Friedenskongress war, sein Sohn Erik Gouverneur für Estland. Gabriel Oxenstierna erhielt so als liv28

Siehe dazu Wolfgang BEHRINGER, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003; GERTEIS, „Postkutschenzeitalter" (Anm. 24), S. 57 ff.; Michael NORTH, Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der Frühen Neuzeit, München 2000, S. 2 - 5 und S. 4 7 - 5 1 (mit Überblick über die Literatur und die Forschungstendenzen und -kontroversen der Postgeschichte). 29 PETERSONE, Entstehung (Anm. 20), S. 2 0 2 - 2 0 8 . 30 Ojärs ZANDERS, Senäs Rigas grämatnieclba un kultüra Hanzas pilsêtu kopsakarä ( Ο Ι 7. gs.) [Die Buchdruckerkunst und die Kultur Alt-Rigas in ihrer Wechselwirkung mit den (deutschen) Hansestädten (13.-17. Jahrhundert)], Riga 2000, S. 2 3 7 - 3 0 2 .

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ländischer Gouverneur allein 1647 regelmäßige Berichte von Korrespondenten, zum Teil hochrangigen Diplomaten, aus 20 Orten - im genannten Jahr insgesamt 289 Briefe 31 . Auch wenn die Korrespondenz des Herzogs von Kurland solche Ausmaße nicht erreichen konnte, so lebte doch sein Kommunikationssystem wesentlich davon, dass sein Herzogtum von Anfang an in das schwedisch-estländischlivländische Postsystem integriert wurde, als ein unerlässliches Übergangsterritorium von Brandenburg-Preußen nach Livland hin. Während der ersten fünf Jahrzehnte des baltischen Postsystems funktionierte dieses Zusammenspiel mit Kurland, trotz entstehender Handelskonkurrenz Rigas zu den kurländischen Handelsstädten, reibungslos. Die livländische Post konnte Strecken in Kurland eröffnen, die Kurländer nutzten umgekehrt diese erste öffentliche Verbindung und leisteten ihren Beitrag zu ihrem Funktionieren. Erst als Herzog Friedrich Kasimir 1685 eine eigene kurländische Post errichtete, kam es zu Spannungen mit der schwedischen und auch der preußisch-brandenburgischen Post, welche im Übrigen ein konfliktreiches Verhältnis auch zur Reichspost hatte 32 . In den 1630er Jahren war Kurland an Verbindungslinien angeschlossen, die von Mitau (Jelgava) aus eine Korrespondenz mit Reval (Tallinn) in 7 Tagen, mit Kassel in drei Wochen, mit Amsterdam in 35 Tagen, mit Paris in 39 Tagen oder mit Venedig in 40 Tagen erlaubten33. Diese Verbindungen dürften umso besser funktioniert haben, als zu Beginn der 1640er Jahre auch die durch den Dreißigjährigen Krieg zerstörten Reichspostverbindungen im Vorfeld des Westfälischen Friedenskongresses wiedererrichtet wurden 34 . Wicquefort nutzte als Korrespondent Herzog Jakobs die reguläre Post, die, von Livland und Schweden aufgebaut, durch Kurland führte, und lediglich in einem besonders dringlichen, den Getreidehandel betreffenden Fall sandte er einen außerordentlichen Kurier 35 . Die normale Korrespondenz, die Informationen von keiner besonderen Dringlichkeit enthielt, hätte er so kaum befördern können. 31

PËTERSONE, Riga (Anm. 20), S. 414. DIES., Kurzemes un Zemgales Hercogistes pasta organizäcijas loma (Anm. 20); DIES., Entstehung und Modernisierung (Anm. 20), S. 212 f. Zu einer Auseinandersetzung mit dem Postmeister zu Königsberg kam es bereits am 18. Dezember 1684, als Herzog Friedrich Kasimir sich schriftlich über die angebliche Missachtung seines Privilegs der Portobefreiung beschwerte; LVVA Riga 5759, ap. 2, lieta 214. Zu Konflikten zwischen preußischbrandenburgischer und Reichspost siehe Martin DALLMEIER, Poststreit im Alten Reich. Konflikte zwischen Preußen und der Reichspost, in: Deutsche Postgeschichte (Anm. 22), S. 77-104. 33 PËTERSONE, Entstehung (Anm. 20), S. 203; der Postweg Mitau - Kassel laut BUES, Kurland - Brandenburg - Hessen (Anm. 14), S. 71. 34 Wilhelm FLEITMANN, Postverbindungen fur den Westfälischen Friedenskongreß 16431648, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 1/1972, S. 3-48. 35 Wicquefort an [Herzog Jakob], Den Haag 1663 Oktober 29; LVVA Riga 4038, ap. 2, lieta 2199, fol. 143-143v. 32

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Kurland wurde bald auch ein Faktor in der Kommunikation des Westens mit Russland, als ab den 1660er Jahren auf schwedisches und russisches Be treiben das Postnetz auch nach Russland hin ausgebaut wurde 36 . Das kleine Herzogtum an der politischen Peripherie profitierte von seiner geographisch günstigen Lage in der Ost-West-Kommunikation. Es wurde vor allem dank der Expansion und des Herrschaftsausbaus Schwedens zu einer Arterie in den Ost-West-Beziehungen und erhielt dadurch selbst verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten, wofür die Korrespondenz Joachim von Wicqueforts an Herzog Jakob ein Beweis ist. Paradoxerweise war es fur die Anbindung Kurlands an Europa günstig, dass der alt-livländische Kommunikationsraum politisch zerschnitten wurde, denn von dem durch Schweden errichteten neuen System profitierte das Herzogtum in dieser Hinsicht mehr als von der weiteren Gemeinschaft mit Livland unter polnischer Hoheit. Die livländische Eigeninitiative zur Errichtung eines vor allem dem Handel dienenden Kommunikationssystems, die Bereitschaft in Kurland, an einem solchen mindestens aktiv mitzuwirken, sind dabei zu unterstreichen, um nicht den Eindruck zu erwecken, Livland und Kurland seien bloße Objekte im Kommunikationssystem der Großmächte gewesen. Die Politik der Großmächte war jedoch ein entscheidender Faktor: Hatte Schwedens Kampf um die Vormachtstellung im Ostseeraum das baltische Kommunikationsnetz geschaffen, so war es der Kampf zwischen Schweden und Russland um eben diese Vormachtstellung im Nordischen Krieg zu Beginn des 18. Jahrhunderts, der es zunächst einmal wieder zerstörte. Nach dem Übergang Livlands an Russland allerdings war es nun Russland, das dieses Kommunikationssystem wieder aufbaute und dabei, wie zuvor Schweden, das nach wie vor unabhängige Kurland mit einbezog 37 . Die Initiative zum Aufbau eines Kommunikationsnetzes, das an die westeuropäischen Verbindungen anschloss, ging von den Ländern und Regionen, die an der bisherigen Peripherie Europas lagen bzw. die sich beim Niedergang des hansischen Kommunikationsraumes neu orientieren mussten, selbst aus: Schweden und Livland, Russland oder auch Brandenburg-Preußen. In Westeuropa aber registrierte man aufmerksam die neu entstandenen Verbindungen: Eine Karte der endgültigen Poststrecken im Ostseeraum im 17. Jahrhundert findet sich, einschließlich eines Verzeichnisses sämtlicher Poststationen zwischen Stockholm und Àbo, nicht in den Archiven der Ostseeregionen selbst, wohl aber im Archiv des Außenministeriums Frankreichs, wo spätestens die Bündnispolitik mit Schweden im Dreißigjährigen Krieg den Blick auf den Ostseeraum gelenkt hat 38 .

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PETERSONE, Entstehung (Anm. 20), S. 210 ff. DIES., Vidzemes pasta vesture (Anm. 20), S. 46 ff. 38 Archives du Ministère des Affaires Etrangères (AMAE) Paris, Serie Mémoires et Documents Allemagne, Bd. 9, fol. 339-342v. Vgl. daneben die rekonstruierten Karten der Post37

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In West- und Nordeuropa begann denn auch spätestens zur Mitte des 17. Jahrhunderts hin eine Epoche nicht nur allgemeiner, sondern auch öffentlicher Kommunikation über zahlreiche Themen, einschließlich Politik39. Der Postreiter, welcher die Nachricht vom Westfälischen Frieden in die europäischen Hauptstädte brachte, wurde nicht von ungefähr zum bis heute gültigen Symbol des Friedens selbst40. Die Voraussetzung dafür aber war das Zusammenwirken eines funktionierenden öffentlichen Kommunikationssystems wie der Post mit der über strukturelle Innovation hinausgehenden Kommunikationsrevolution des Buchdrucks41. Der Buchdruck gilt als entscheidender Faktor bei der Ausbreitung der Reformation, aber auch darüber hinaus hatten Flugblätter und Flugschriften bereits eine wichtige Rolle in den Diskussion des 16. Jahrhunderts gespielt und der Kommunikation in Art und Umfang einen neuen Charakter verliehen. Kaiser Maximilian I. nutzte als erster bereits vor der Reformation gedruckte Publizistik zur politischen Propaganda42. Politische Publizistik spielte dann in den Auseinandersetzungen in Westeuropa im 17. Jahrhundert vom Dreißigjährigen Krieg über die französische Fronde bis hin zum englischen Bürgerkrieg eine schon fast selbstverständliche Rolle43. Als neues Medium trat in dieser Epoche zunächst im Reich die gedruckte Zeitung44 hinzu, die einem allgemeinen Bedürfnis nach regelmäßiger Information auch über weniger spektakuläre Ereignisse Rechnung trug. Regelmäßige Information war im 17. Jahrhundert im Reich und in weiten Teilen Westeuropas eine ökonomisch interessante Ware mit einer breiten Käuferschicht. Die Obrigkeit, die das allgemeine Informationsbedürfnis nicht mehr unterbinden konnte, steuerte es durch Zensur und eigene Druckerzeugstrecken bei PETERSONE, Riga (Anm. 20), S. 412 f., und DIES., Kurzemes un Zemgales Hercogistes pasta organizäcijas loma (Anm. 20), S. 159 und passim. Zum Verhältnis von Politik und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit auch über den Bereich der gedruckten Medien hinaus siehe Andreas GESTRICH, Absolutismus und Öffentlichkeit, Göttingen 1994. 40 So zuletzt 2001 auf dem Titel des Sammelbandes Der Westfälische Frieden (Anm. 6). 41 Zu Kommunikationsrevolutionen durch technische Innovationen siehe: Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, hrsg. von Michael North, Köln/Weimar/Wien 1995. Zum Funktionieren des neuen Mediums Buchdruck unter den strukturellen Innovationen im Kommunikationssystem siehe (mit Hinweisen auf Forschungstendenzen und weiterfuhrende Literatur) NORTH, Kommunikation (Anm. 28), S. 46-49. 42 Peter DLEDERICHS, Kaiser Maximilian I. als politischer Publizist, Jena 1932. 43 Siehe dazu Olaf MÖRKE, Pamphlet und Propaganda. Politische Kommunikation und technische Innovation in Westeuropa in der Frühen Neuzeit, in: Kommunikationsrevolutionen (Anm. 41), S. 15-32; am Beispiel des Westfälischen Friedens: Konrad REPGEN, Der Westfälische Friede und die zeitgenössische Öffentlichkeit, in: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede, hrsg. von Franz Bosbach und Christoph Kampmann, München 1998, S. 723-765. 44 Für Hinweise auf die bereits zahlreiche neuere Literatur zum entstehenden Zeitungswesens siehe CROXTON/TISCHER, Peace of Westphalia (Anm. 2), S. 206 f. (Art. Newspapers). 39

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nisse, nach den Voraussetzungen in den verschiedenen europäischen Ländern in unterschiedlicher Form und mit unterschiedlichem Ergebnis45. In Kurland allerdings, wo der Aufbau eines modernen Kommunikationssystems im 17. Jahrhundert erfolgreich war, fehlte der Anschluss an die Weiterentwicklung der Medienrevolution des 16. Jahrhunderts und damit auch die Entwicklung einer regelmäßig informierten Öffentlichkeit 46 : Ein eigenes Zeitungswesen etablierte sich in Kurland - wie in Livland - ebenso wie ein publikumsorientiertes Druckwesen als dessen Voraussetzung erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - einer der Gründe, weshalb die Aufklärung in Livland und Kurland sich erst relativ spät entfaltete, da die Mittel des öffentlichen Diskurses fehlten. In der Mitte des 17. Jahrhunderts nahm in Kurland gerade erst der erste herzogliche Drucker überhaupt seinen Dienst auf 4 7 . Während das intensivierte Informationsbedürfnis in Schweden während des Dreißigjährigen Krieges neben einem effektiveren und allgemeinen Postsystem auch eigene Post-Zeitungen hervorbrachte48, entstand zur 45

Paradebeispiel flir eine politische Struktur, in der öffentliche Diskussion und Informationenweitergabe sich nicht verhindern ließen und wo darum - wie j a bereits das Beispiel Kaiser Maximilians I. zeigt - die politischen Entscheidungsträger früh lieber gestaltend als restriktiv in die Diskussion eingriffen, ist das Reich; siehe dazu Johannes ARNDT, „Pflichtmassiger Bericht". Ein medialer Angriff auf die Geheimnisse des Reichstags aus dem Jahre 1713, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 4 (2002), S. 1-31. - Französische Politiker dagegen konnten dank zentralstaatlicher Strukturen die einheimische Presse von Anfang an steuern, und eine verschärfte Zensur setzte sich unter Ludwig XIV. durch. Im Ausland dagegen nutzten sie die jeweiligen Möglichkeiten, sich via Presse und Publizistik an den Diskussionen zu beteiligen. Beispiele solcher Medienkontrolle einerseits, Mediennutzung und Öffentlichkeitsarbeit andererseits finden sich aus der Zeit des Westfälischen Friedenskongresses in Briefen von Mazarins Sekretär Lionne an Servien vom 6. Mai 1645 und vom 6. Januar 1646 (APW II Β [Anm. 11], Bd. 2, bearb. von Franz Bosbach, Münster 1986, Nr. 98, S. 318, bzw. Bd. 3, bearb. von Elke Jarnut [ | ] und Rita Bohlen, Münster 1999, Nr. 53), in einem Brief Briennes an die Kongressbotschafter vom 8. März 1646 (APW II Β 3, Nr. 152) oder in einem Brief Serviens an Lionne vom 7. April 1648 (Kopie: AMAE Paris, Serie Correspondance Politique Allemagne, Bd. 119, fol. 241-244v). 46

Zu den spezifischen Formen osteuropäischer Kommunikationsgeschichte siehe jetzt auch regionen- und epochenübergreifend: Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas, hrsg. von Nada Boäkovska [u. a.], Köln/Weimar/Wien 2002. Daneben für das 18. und 19. Jahrhundert nach wie vor aktuell: Buch- und Verlagswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Kommunikation in Mittel- und Osteuropa, hrsg. von Herbert G. Göpfert [u. a.], Berlin 1977. 47 Zu den Innovationen vor allem Johann Friedrich Steffenhagens und Johann Friedrich Hartknochs in Mitau und Riga im 18. Jahrhundert siehe Waltraud ROSENBERG, Johann Friedrich Steffenhagen als Verleger lettischer volkspädagogischer Bücher, in: Buch- und Verlagswesen (Anm. 46), S. 235-252; Henryk RIETZ, Vertrieb und Werbung im Rigaer Buchhandel des 18. Jahrhunderts, in: Ebd., S. 253-262. - Zum Druckwesen und der Buchpublikation in den vorangehenden Epochen im livländischen Raum siehe jetzt ausfuhrlich ZANDERS, Senäs Rigas grämatnieclba (Anm. 30). - Eine kleine Sammlung zur kurländischen Druck- und Zeitungsgeschichte findet sich LVVA Riga 5759, ap. 2, lieta 1181. 48

Günter BARUDIO, Zu treuen Händen. Schwedens Postwesen im Teutschen Krieg, in: Deutsche Postgeschichte (Anm. 22), S. 67-76, hier: S. 74 ff.

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gleichen Zeit in Kurland dank eines originären Bedürfnisses einheimischer Kaufleute nach einem funktionierenden Kommunikationssystem sowie dank der schwedischen Innovation zwar eines des modernsten allgemeinen Kommunikationssysteme in Europa, aber kein allgemeines Informationssystem. Wer im Baltikum im 17. Jahrhundert regelmäßige Informationen wünschte, musste sich ausländische Zeitungen wie die Dienstag und Freitag erscheinenden sächsischen Ordinari Post-Zeitungen, von denen sich Exemplare aus den Jahren 1692 und 1693 im Archiv in Riga aus dem ehemaligen Bestand der Kurländischen Gesellschaft fur Literatur und Kunst befinden, teuer und umständlich zuschicken lassen. Auf dieser Strecke wurden diese Zeitungen auch weiter bis Russland befördert 49 . Zum allgemeinen Medium wurden ausländische Zeitungen im Baltikum ebenfalls erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, mit der Einrichtung von Lesegesellschaften und Leihbibliotheken, die auch Zeitungsabonnements unterhielten50. Herzog Jakob von Kurland hatte somit schlechtere Voraussetzungen fur regelmäßigen Informationserwerb als ein beliebiger regelmäßiger Zeitungsleser in Westeuropa. Westeuropäische Politiker verfolgten die ausländische Presse ohnehin nur, um ein Stimmungsbild zu bekommen, nicht wegen ihres Informationswertes51. Ihre Diplomaten waren auf Zeitungsmeldungen lediglich angewiesen, wenn sie sich in sehr abgelegenen Gegenden und/oder in feindlicher Umgebung und somit abgeschnitten vom üblichen Informationsfluss befanden 52 , ansonsten waren sie eher pikiert, wenn sie Neuigkeiten erst aus der Zeitung erfuhren oder dort Informationen lasen, deren Wahrheitsgehalt sie noch nicht mittels verlässlicherer Berichte einschätzen konnten 53 . Auf die Methode, sich von einem Korrespondenten mit relativ unspezifischen Neuig49

LVVA Riga 5759, ap. 2, lieta 1182. Laut einer fol. 18 beigefügten Notiz wurden diese Exemplare 1866 zufallig in einer Kirche wiederentdeckt. Zu den nach Russland regelmäßig versandten deutschen und niederländischen Zeitschriftentiteln siehe PETERSONE, Entstehung (Anm. 20). 50 Gert von PlSTOHLKORS, Deutsche Geschichte im Osten Europas. Baltische Länder, Berlin 1994, S. 304 (mit Hinweisen auf die weiterfuhrende Literatur). 51 Dies ist erkennbar in einem Memorandum Mazarins für Servien vom 26. Juni 1648; Ausfertigung: AMAE Paris, Serie Correspondance Politique Allemagne, Bd. 120, fol. 4 7 9 484v. 52 So Lionne, als er sich 1656 zu Verhandlungen in Madrid befand. Siehe dazu sein Memorandum für Mazarin vom 9. August (Ausfertigung: AMAE, Serie Correspondance Politique Espagne, Bd. 35, fol. 3 7 - 3 9 ) und seine Tagebuchaufzeichnungen vom 23. September (ebd., fol. 392v-399v). Selbstredend entnahm Lionne seine Informationen der französischen Gazette, nicht der spanischen Presse. 53 Dazu ein Brief des französischen Botschafters in Stockholm, Chanut, an Lionne vom 22. September 1646 (AMAE, Serie Correspondance Politique Suède, Bd. 8, fol. 619-619v) sowie ein (eventuell nicht abgesandtes) Schreiben Serviens an Lionne vom 7. September 1648 (Konzept: AMAE, Serie Correspondance Politique Allemagne, Bd. 122, fol. 105106v). Chanut machte sogar deutlich, dass er die Zeitungslektüre üblicherweise für pure Zeitverschwendung hielt.

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keiten versorgen zu lassen, waren einflussreiche Politiker im 17. Jahrhundert längst nicht mehr angewiesen, denn sie besaßen ein Residenten- und Diplomatennetz, das regelmäßig exklusive Informationen lieferte, und solche Informationen waren ein entscheidender Faktor gerade auch fur erfolgreiche Politik. Variierende geographische Ausgangslagen und finanzielle Möglichkeiten eines Staatsmannes sorgten dabei allerdings für höchst unterschiedliche Voraussetzungen nicht nur innerhalb Europas, sondern schon alleine im Reich. Der Herzog von Kurland hatte mit Joachim von Wicquefort immerhin einen Korrespondenten, der interne Einblicke in wichtige Prozesse der Zeit hatte und an diesen in bescheidenem Maß selbst beteiligt war. Wicquefort, geboren 1596, stammte aus einer Amsterdamer Handelsfamilie. Er war über 33 Jahre hinweg, von 1632 bis 1665, Resident Hessen-Kassels in Den Haag und seit 1640 Rat der Landgräfin Amalie Elisabeth. Daneben war er - zeitweilig sehr erfolgreich - auch ökonomisch tätig. Den Höhepunkt seiner politischen Tätigkeit erreichte er in den beiden letzten Jahren des Westfälischen Friedenskongresses. Wicquefort war entschieden pro-französisch und vertrat nicht nur die Interessen Hessen-Kassels bei den Generalstaaten bzw. berichtete der Landgräfin von dort, sondern arbeitete - letztlich vergeblich - auch daran, die Generalstaaten im Bündnis mit Frankreich, dem Verbündeten Hessen-Kassels, zu halten. 1646 wurde Joachims Bruder Abraham, der spätere diplomatische Schriftsteller und dann Gegner Frankreichs, brandenburgischer Resident in Paris, so dass Joachim eine verlässliche Kontaktschiene dorthin besaß. Als 1647 der französische Kongressbotschafter Abel Servien in Den Haag über einen Verbleib der Generalstaaten an der Seite Frankreichs im Krieg gegen Spanien bzw. über eine niederländische Garantie für einen französisch-spanischen Frieden verhandelte, standen ihm auch Diplomaten Hessen-Kassels zur Seite, nämlich zeitweilig der Kongressbotschafter Adolf Wilhelm von Krosigk, der Servien begleitete, und eben der Resident Wicquefort. Wicqueforts Rolle als Gewährsmann und auch Korrespondent französischer Politiker erreichte in dieser Zeit ihren Höhepunkt 54 . Mit Joachim von Wicquefort besaß der Herzog von Kurland also einen durchaus wertvollen Korrespondenten, der unter Umständen auch eine Funktion in den kurländischen Beziehungen zu Frankreich haben konnte. Wie der Kontakt zwischen dem Herzog und dem Residenten zustande kam, wissen wir nicht, aber angesichts der intensiven Kontakte Herzog Jakobs nach Westen sowie der verwandtschaftlichen Beziehungen Joachims nach Livland 54

Zu dieser Funktion Wicqueforts vgl. seine verschiedenen Nennungen in den APW, Serie II Β (Anm. 11 und 45, bisher 5 Bände), und hier besonders in Bd. 5, wo die Zeit der Verhandlungen Serviens in Den Haag dokumentiert ist. Zu diesen Verhandlungen siehe auch Anuschka TISCHER, Französische Diplomatie und Diplomaten auf dem Westfälischen Friedenskongreß. Außenpolitik unter Richelieu und Mazarin, Münster 1999, S. 316 ff.

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kommen unterschiedliche Möglichkeiten in Frage: von einem persönlichen Kennenlernen während des Herzogs eigener Reise durch Europa über eine Vermittlung des Informanten durch Brandenburg als dem Mittler zwischen Kurland und Hessen bis hin zu einem Kontakt über den Grafen von Fircks oder aber über Joachims Bruder Johann. Joachim von Wicquefort wurde ein langfristiger Korrespondent des Herzogs, und er nahm schließlich mehr als Informationsdienste wahr: Spätestens in den 1660er Jahren, nachdem der Friede von Oliva den schwedisch-polnischen Konflikt endgültig beigelegt hatte, agierte er, der in dieser Zeit noch zusätzlich Resident BraunschweigLüneburg-Celles und Mecklenburg-Schwerins in Den Haag war, auch als Mittelsmann Herzog Jakobs im Getreidehandel55. Kurland hatte aufgrund der westeuropäischen Nachfrage bereits in den 1640er Jahren seine Getreideexporte beachtlich steigern können, und das Herzogtum wurde unter Jakob zum Handelskonkurrenten Rigas 56 . Wicquefort war auch hier ein kompetenter Vertreter, denn neben seinen eigenen Geschäften führte er als Resident auch für Landgräfin Amalie Elisabeth ökonomische Transaktionen durch 57 . Ob er für Herzog Jakob noch andere Aufgaben wahrnahm, sei dahingestellt, denn als Wicquefort 1663 auf Geldzahlungen drängte, tat er dies mit dem Hinweis, er müsse nach England reisen, was darauf hindeuten könnte, dass er auch während dieser Reise Interessen des Herzogs mit wahrzunehmen gedachte 58 . Politische Interessen Kurlands vertrat Wicquefort nicht. In Den Haag hatte Herzog Jakob lediglich für einige Monate des Jahres 1651 einen Gesandten59. Dass Wicqueforts Dienste für den Herzog allerdings eine durchaus feste Form besaßen, zeigt sich daran, dass er über mehrere Jahre hinweg von ihm eine Pension erhielt. Mit der Verschlechterung seiner ökonomischen Situation in den 1650er Jahren war Wicquefort auf diese Zuwendung sogar zunehmend angewiesen und drängte immer wieder auf die Auszahlung der zeittypisch nur stockend fließenden Gelder60. Wie regelmäßig Wicquefort und 55

Joachim von Wicquefort an [Herzog Jakob], Den Haag 1663 Oktober 29; LVVA Riga 4038, ap. 2, lieta 2199, fol. 143-143v. Zu Wicqueforts weiterer diplomatischer Tätigkeit siehe Repertorium der diplomatischen Vertreter (Anm. 17), S. 86 und S. 326. 56 BUES, Herzogtum Kurland (Anm. 7), S. 215; Arnold SOOM, Der baltische Getreidehandel im 17. Jahrhundert, Stockholm 1961, S. 104 ff. Sooms Monographie handelt allerdings fast ausschließlich den Getreidehandel und die Handelspolitik im schwedischen Baltikum ab. 57 Näheres dazu findet sich mehrfach in Familienbriefe der Landgräfin Amalie Elisabeth (Anm. 2). 58 Joachim von Wicquefort an [Herzog Jakob], Den Haag 1663 Oktober 29; LVVA Riga 4038, ap. 2, lieta 2199, fol. 143-143v. 59 Repertorium der diplomatischen Vertreter (Anm 17), S. 282. 60 Dazu mehrere stark verderbte Fragmente von Briefen Wicqueforts an [Herzog Jakob] aus den 1650er Jahren, davon einer aus Paris gesandt (LVVA Riga 4038, ap. 2, lieta 2199, fol. 105-107v), sowie der Brief aus Den Haag vom 29. Oktober 1663 (ebd., fol. 143-143v; vgl. Anm. 34 und 45).

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Herzog Jakob korrespondierten, lässt sich nicht sagen. Eine zeitweilig sehr hohe Brieffrequenz - allein im Juli 1658 berichtete Wicquefort dreimal 61 und die Tatsache, dass Wicquefort schon im Juli 1648 den mehrfachen Verlust seiner Schreiben und von Schreiben Herzog Jakobs beklagte 62 , deuten darauf hin, dass die Korrespondenz wesentlich umfangreicher gewesen sein könnte, als die aus 17 Jahren in Riga überlieferten etwa 15 Briefe Wicqueforts 63 auf den ersten Blick annehmen lassen. Die Überlieferung hat zwei deutliche Höhepunkte, nämlich die intensive Phase der Westfälischen Friedensverhandlungen 1646-1648 mit 3 Briefen 64 und stärker noch die Endphase des französisch-spanischen Krieges 1658 mit 5 Briefen 65 . Dass Wicquefort über die abschließenden Verhandlungen 1659 nicht berichtete, dürfte durch die schwedische Gefangenschaft Herzog Jakobs zu erklären sein. Insgesamt sind Wicqueforts Berichte stark geprägt von Nachrichten, die Frankreich betreffen, d. h. den französisch-spanischen Krieg und die anschließenden Friedensverhandlungen sowie die französisch-niederländischen Beziehungen. Ein weiterer Themenschwerpunkt ist England, wohin Wicquefort ja auch 1663 zu reisen beabsichtigte. Originäre Nachrichten über verschiedene Ereignisse aus Den Haag lieferte er in allen überlieferten Briefen nur einmal, in einem Brief vom 23. August 1658, in dem er über niederländische Verhandlungen mit Portugal und Heiratsverhandlungen des Brandenburgers Fabian von Dohna berichtete66. Politische Interna, zu denen Wicquefort mindestens während des Westfälischen Friedenskongresses Zugang hatte, berichtete er nicht an Herzog Jakob. Wicqueforts Briefe brechen ab mit einem Schreiben vom 29. Oktober 1663, zwei Jahre vor dem Ende seiner Residententätigkeit für Hessen-Kassel, sieben Jahre vor seinem Tod. Man kann bezweifeln, dass dieser Brief von 1663 tatsächlich der letzte Kontakt zu Herzog Jakob war, denn gerade diese Botschaft schickte der Niederländer durch einen außerordentlichen Kurier, weil er dringend auf Anweisungen für den Getreidehandel wartete67. Allerdings wissen wir insgesamt nicht viel über Joachim von Wicqueforts letzten Lebensabschnitt. Wie lange er tatsächlich für Jakob von Kurland als Korrespondent und Handelsagent tätig war, muss daher offen bleiben. Da außer den wenigen Briefe Wicqueforts an Herzog Jakob nichts von 61

A m 12., 15. und 25. Juli; L V V A Riga 4038, ap. 2, lieta 2199, fol. 1 3 7 - 1 3 8 , 1 3 9 - 1 3 9 v

und 62

140-140V.

Joachim von Wicquefort an [Herzog Jakob], Den Haag 1648 Juli 7; L V V A Riga 4038, ap. 2, lieta 2199, fol. 9 5 - 9 8 . Die genaue Zahl lässt sich nicht angeben, weil die stark verderbten Fragmente nicht mehr klar zuzuordnen sind. 64 L V V A Riga 4038, ap. 2, lieta 2199, fol. 8 7 - 8 8 v , 9 1 - 9 2 v , 9 5 - 9 8 . 65 L V V A Riga 4038, ap. 2, lieta 2199, fol. 135-136, 137-138, 139-139v, 1 4 0 - 1 4 0 v , 1 4 1 142. 66 L V V A Riga 4038, ap. 2, lieta 2199, fol. 141-142. 67 LVVA Riga 4038, ap. 2, lieta 2199, fol. 143-143v.

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ihrer Beziehung überliefert ist, diese sich aber über einen langen Zeitraum erstreckte, mehr als reine Informantentätigkeit umfasste und von Herzog Jakob mit einer regelmäßigen Pension honoriert wurde, besteht auch die Möglichkeit, dass Wicquefort tatsächlich kurländischer Resident war, eine semi-diplomatische Tätigkeit, die er ja auch fur mehrere deutsche Fürsten wahrnahm. Obwohl aber Wicquefort seine Tätigkeit mutatis mutandis für Jakob von Kurland wie für andere ausübte, zeigt sie doch deutlich die besonderen Formen und Bedingungen politischer und sonstiger Kommunikation in Kurland: Wie in Politik und Wirtschaft, so war Kurland auch in der Kommunikation abhängig von äußeren Faktoren, namentlich von den Vorgaben mächtigerer Nachbarn und Ostsee-Anrainerstaaten. Das Land selber aber suchte die Kommunikation nach den verschiedenen Seiten, und es nutzte die Vorgaben: Wicqueforts Tätigkeit für Herzog Jakob hatte als Voraussetzung den durch das schwedische Postsystem vereinfachten Kommunikationsfluss, aber die Initiative, sich in diesen einzubringen, kam auch aus dem Land selbst. Spürbar ist dabei vor allem ein ökonomisches Interesse bei Herzog Jakob, der ja in der Tat vor allem als Wirtschaftspolitiker hervortritt, wie bei der Bevölkerung in Kurland und Livland. Hinzu kommt ein allgemeines Interesse an Informationen und Kommunikation, aber ein vertieftes Bedürfnis nach regelmäßiger und tief schürfender Information oder politischer Verflechtung ist nicht erkennbar. Dies kann an den begrenzten Mitteln und Möglichkeiten ebenso gelegen haben wie daran, dass die Bedeutung dieser Faktoren überall erst allmählich erkannt wurden. Die Korrespondenz zwischen Wicquefort und Jakob von Kurland ist letztlich ein Zeugnis dafür, dass sich Kurland zwar in die verbesserten Kommunikationsstrukturen nach Westen einbrachte und ökonomisch international agierte, dass aber ein ständiger politischer oder auch kultureller Kommunikationsfluss und damit auch eine politische Öffentlichkeit sich zunächst nicht herausbildete und dass der Herzog auch nur bedingt Strukturen ständiger Kommunikation mit der internationalen Staatengemeinschaft aufbaute.

Summary We now know from about 15 letters from the Archives in Riga that Joachim de Wicquefort, a councillor of the landgrave of Hesse-Kassel and from 1632 to 1665 his representative in The Hague, was also for at least 17 years (16461663) a news correspondent and (economic) agent of duke Jakob of Courland. This new historical detail enlarges our - still insufficient - knowledge about the family of Wicquefort, which had diplomatic and economic interests

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all over Europe (Germany, Netherlands, Italy, Livonia), and about the foreign and economic policy of duke Jakob, which was directed (besides Russia) also to the north and west (England, France, Germany, Sweden). The Peace Congress of Westphalia was crucial for the relation between the duke and Wicquefort: Wicquefort started his reports with news on the Congress. And more importantly: this correspondence became available for the duke because Sweden improved its postal system for the Congress. Thus the Swedish expansion to Livonia in 1629 (notwithstanding its political impact) helped to integrate the duchy in one of the time's most developed systems of communication. As it was, however, depending on foreign factors and mainly used for economic purposes, this system still did not produce the flourishing news market that was growing in western Europe. Situated on the geographical periphery, Courland could not reach a key position in diplomacy and communication as did, for example, the more central Hesse-Kassel.

In Kontinenten denken, paneuropäisch handeln Die Zeitschrift Paneuropa 1924-1938 Von

Ina Ulrike Paul „Europäer! Europäerinnen! Europas Schicksalsstunde schlägt!", tönte das „Pan-Europäische Manifest" im April 1924 allen entgegen, die die Eröffnungsnummer der Monatsschrift Pan-Europa aufschlugen1. Aus Europas dreifacher Bedrohung durch Krieg, Bankrott und Unterjochung wollte ihnen Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi mit seiner Vision eines in Frieden, Wohlstand und Antikommunismus geeinten kontinentaleuropäischen Bundesreiches jenen rettenden Ausweg zeigen, den er bereits in seinem Buch Paneuropa formuliert und zu einer gleichnamigen Bewegung formiert hatte: Pan-Europa2. Der Name der neu gegründeten Zeitschrift war ihr Panier, sie 1 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Das Pan-Europäische Manifest, in: PanEuropa 1 (1924/25), H. 1, S. 3. Seit Paneuropa 2 (1925/26), H. 1/3 erschien die Zeitschrift Pan-Europa als Paneuropa. Folgende Autobiographien Coudenhoves werden mehrfach herangezogen: Europa erwacht!, Zürich/Wien/Leipzig 1934; Kampf um Europa. Aus meinem Leben, Zürich 1949; Eine Idee erobert Europa. Meine Lebenserinnerungen, Wien/ München/Basel 1958; Ein Leben für Europa, 2. veränd. u. erw. Aufl., Köln/Berlin 1966. 2 Ausgewählte Titel zur Biographie Coudenhoves wie zur Paneuropa-Bewegung: Anita ZIEGERHOFER-PRETTENTHALER, Botschafter Europas. Richard Nikolaus CoudenhoveKalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Graz 2004; Anne-Marie SAINT-GILLE, La „Paneurope". Un débat d'idées dans l'entre-deux-guerres, Paris 2003; DIES., Les réseaux paneuropéens, in: Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890-1960), hrsg. von Michel Grunewald und Uwe Puschner, Bern 2003, S. 556-573; Karl HOLL, Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi und seine Vision von „Paneuropa", in: Europäer des 20. Jahrhunderts. Wegbereiter und Begründer des „modernen" Europa, hrsg. von Heinz Duchhardt, Mainz 2002, S. 11-37; Franck THÉRY, Construire l'Europe dans les années vingt. L'Action de l'Union paneuropéenne sur la scène franco-allemande. 1924-1932, Genf 1998; Lubor JÍLEK, L'homme et le mouvement: esquisse biographique de Richard Coudenhove-Kalergi, in: Richard N. Coudenhove-Kalergi, Pan-Europe, Genève 1997, Annexe B, S. XIII-XVI (hier auch ältere Standardwerke); Art. Coudenhove Kalergi, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Biographischbibliographisches Handbuch, 3. neu bearb. Aufl., Ergänzungsband 3, Bern/München 1997, S. 62 f.; Yannick MUET, Le débat européen dans l'entre-deux-guerres, Paris 1997, S. 16 ff.; Pan-Europe (1923) et le mouvement paneuropéen. Richard N. de Coudenhove-Kalergi entre l'Empire d'Autriche-Hongrie et une Europe gaultienne. Guide de recherche, hrsg. von Lubor Jilek, Genf 1994; Emanuel RICHTER, Die Paneuropa-Idee. Die aristokratische Rettung des Abendlandes, in: Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse, Umwelt, Wirkung, hrsg. von Jürgen Nautz und Richard Vahrenkamp, Wien/Köln/Graz 1993, S. 789-812, hier: S. 790-795; Lubor JÍLEK, Paneurope dans les années vingt: la réception du projet en Europe centrale et occidentale, in: Relations Internationales, n°72, hiver 1992, S. 409-432.

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selbst als „offizielles Organ" der Paneuropa-Union bis 1938 Feder und Schwert des Propagandafeldzuges für Paneuropa: „Wer fur die Propaganda reden kann, rede! Wer für sie zahlen kann, zahle! Wer für sie schreiben kann, schreibe"3!

I. Im Oktober 1923 konnte Coudenhove das erste Mal erfolgreich eine breitere Öffentlichkeit für sein Europa-Projekt mobilisieren, als Tausende der Aufforderung seines Aufsehen erregenden Buches Pan-Europa4 folgten und die beiliegende Karte („Ich trete der Paneuropa-Union bei") unterschrieben zurückschickten: Damit war der bis dahin kaum über die Wiener gute Gesellschaft oder das europafreundliche intellektuelle Milieu Österreichs und Deutschlands hinaus bekannte Publizist nicht nur quasi über Nacht zum Bestseller-Autor geworden, sondern zugleich auch zum Begründer der Paneuropäischen Union (PEU) 5 . Nun waren ein paar tausend Anhänger der Paneuropa-Idee zwar ein Anfang, doch weit entfernt von jener ,,überparteilich[en] Massenbewegung zur Einigung Europas", die Coudenhove mit seinem der Jugend Europas gewid3

COUDENHOVE-KALERGI, Manifest (Anm. 1), S. 3 bzw. 18. Später in gewollter Analogie zum Kommunistischen Manifest als „Europäisches Manifest" zitiert, so Reinhard FROMMELT, Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933, Stuttgart 1977, S. 15. 4 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Pan-Europa, 12.-16. Tausend Wien, Leipzig 1926 (1. Aufl. 1923), Vorwort, S. 9. - S. Werbetext dazu, z. B. in: Pan-Europa 1 (1924/25), H. 2 und 3, Rückseite des Heftumschlags. - Zur Vorgeschichte s. SAINT-GILLE, Les réseaux paneuropéens (Anm. 2), S. 556-562. 5 Zur PEU s. neben ZIEGERHOFER-PRETTENTHALER, Botschafter Europas (Anm. 2) HOLL, Coudenhove-Kalergi (Anm. 2); JÍLEK, L'homme et le mouvement (Anm. 2); DERS., PanEurope (Anm. 2); DERS., Paneurope dans les années vingt (Anm. 2); MUET, Le débat européen (Anm. 2); RICHTER, Paneuropa-Idee (Anm. 2); Oliver BURGARD, Das gemeinsame Europa - von der politischen Utopie zum außenpolitischen Programm. Meinungsaustausch und Zusammenarbeit pro-europäischer Verbände in Deutschland und Frankreich 1924-1933, Frankfijrt a. M. 2000; Elisabeth du RÉAU, L'Idée d'Europe au XXe siècle. Des mythes aux réalités, Paris 1996; Patricia WIEDEMER, The idea behind CoudenhoveKalergi's Pan-European Union, in: History of European Ideas 16 (1992), S. 827-833; Ralph WHITE, The Europeanism of Coudenhove-Kalergi, in: European Unity in Context. The Internar Period, hrsg. von Peter M. R. Stirk, London/New York 1989, S. 23-40; Louis L. SNYDER, Macro-Nationalisms. A History of the Pan-Movements, Westport, Conn./ London 1984, S. 71-74; Carl H. PEGG, Evolution of the European Idea, 1914-1932, Chapel Hill/London 1983; Emil K ö v i c s , Coudenhove-Kalergi's Pan-European Mouvement on the Questions of International Politics during the 1920's, in: Acta Histórica Academiae Scientiarum Hungaricae 25 (1979), S. 233-264; FROMMELT, Paneuropa oder Mitteleuropa (Anm. 3). - S. die Standardwerke von Henri Brugmans, Jean-Luc Chabot, Heinz Gollwitzer u. v. a. in: COUDENHOVE-KALERGI, Pan-Europe, 1997, Annexe Β (Anm. 2).

Paul, In Kontinenten

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meten Buch erwecken wollte. In dem im Frühjahr 1924 als erstes Heft der Pan-Europa veröffentlichten Pan-Europäischen Manifest gab sich Coudenhove deshalb betont kämpferisch: Er wolle „alle" Männer und Frauen Europas für einen „paneuropäischen Feldzug" begeistern, dessen W a f f e n aus d e m Arsenal der Propaganda stammen sollten 6 . V o n der „Glaubens- und Werbekraft" dieser seiner „politischen Armee" hing nach Coudenhoves Überzeugung die exponentielle Ausweitung der Paneuropa-Bewegung und damit die Realisierung der Paneuropa-Idee ab: „Solange an Paneuropa Tausende glauben - ist es Utopie; wenn erst Millionen daran glauben - ist es politisches Programm; sobald hundert Millionen daran glauben - ist es verwirklicht" 7 . N e b e n der forcierten Mitglieder-Werbung durch Mitglieder kümmerte sich Coudenhove selbst während seiner weltweiten Vortragsreisen um die Gewinnung der Eliten aus Politik und Wirtschaft ebenso wie aus d e m Kultur- und Geistesleben; vor allem anderen aber setzte er zur Erzielung öffentlicher Aufmerksamkeit auf die propagandistischen Möglichkeiten der M a s s e n m o bilisierung mit Hilfe der Massenmedien 8 . Deshalb lancierte er seinen Aufruf nicht nur auf dem W e g e einer vielfach übersetzten Broschüre, sondern zugleich auch als erstes Heft einer eigenen Zeitschrift Paneuropa, die fortan als „offizielles Organ der B e w e g u n g und der Union" galt 9 . Der N a m e der neu 6

„Die Propaganda ist das Kriegsmittel des paneuropäischen Feldzuges. Deshalb kann sie nicht stark und intensiv genug betrieben werden". Die Paneuropa-Bewegung selbst bezeichnete Coudenhove als „Feldzug mit friedlichen Mitteln: ihre Waffen sind Überzeugung und Überredung, Geist und Geld". - Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGL, Die Pan-Europäische Bewegung, in: Pan-Europa 1 (1924/25), H. 2, S. 8, 13 (Hervorhebung im Text). - Zur Propagandapflicht der PEU-Mitglieder s. Anm. 13, 17. 7 Beide Zitate: COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa (Anm. 4), Vorwort, S. 9. - „Propaganda-Basis" war die PEU, die Coudenhove zufolge „weder Partei, noch Verein, noch Klub" sei, sondern „eine organisierte und disziplinierte Kampforganisation zur Durchsetzung einer ldee"\ Coudenhove liebte deshalb den Vergleich der PEU mit einer politischen Armee": Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Nachwort zum Kongress [Berlin 1926], in: Paneuropa 2 (1925/26), H. 15, S. 1-3, hier: S. 2 (Hervorhebung im Text). 8 Zu Coudenhoves Propagandastrategie gehörten neben den erwähnten, ein Drittel des Jahres ausfüllenden und von seiner Frau Ida Roland-Coudenhove - einer bekannten Schauspielerin - begleiteten „Propagandareisen" durch Europa und Amerika auch international gesendete Rundfunkansprachen, eigene Großveranstaltungen wie die Paneuropa-Tagungen oder -Kongresse sowie die massenhafte Verbreitung von Photographien Coudenhoves und Werbematerialien der PEU. Vgl. Anm. 28. - S. zu den Reisen: COUDENHOVE-KALERGI, Kampf um Europa (Anm. 1), S. 128 f. - Berichte darüber in der Rubrik „Die PaneuropaBewegung", später: „Aus der Bewegung". 9 Vgl. Kapitel 6 („Die Zeitschrift,Pan-Europa'") des ,,Pan-Europa-Programm[s]" in: PanEuropa 1 (1924/25), H. 2, S. 19; ab 1933 bezeichnete das Impressum die Paneuropa als „offizielles Organ der Paneuropa-Bewegung". Sie erschien mit Ausnahme der Monate Juli und August „allmonatlich", also in 10 Heften pro Jahr. Verlagsorte waren Wien und Leipzig (1924-1933), dann Zürich und Wien (1934-1938); mit dem Erscheinen der Paneuropa auch in französischer Sprache kam ab 1928 vorübergehend Paris als weiterer Verlagsort dazu. Vgl. Anm. 14. - Zur Zeitschrift Paneuropa s. Ina Ulrike PAUL, Die Monatsschrift Paneuropa 1933-1938 und Graf Coudenhove-Kalergi: Ein „getreues Spiegelbild seines

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begründeten Monatsschrift selbst war schon Programm und verwies auf den „politischen Begriff Europa", den Coudenhove „zur Unterscheidung von seinem geographischen Doppelgänger Paneuropa" genannt hatte 1 0 . D i e Paneuropa als Multiplikator der paneuropäischen Idee wandte sich nach Coudenhoves Willen mit einem dreifachen Aufgabenbereich gleichzeitig nach „innen" und „außen": Erstens sollten PEU-Mitglieder s o w i e Interessenten, Kritiker oder gar Gegner der (Pan-)Europabewegung „ v o m europäischen Standpunkt aus über die aktuellen Fragen der Politik und Wirtschaft" informiert werden 1 1 . Es war zweitens die ausdrückliche Aufgabe der in deutscher und später französischer Sprache erscheinenden Zeitschrift 1 2 , eine „ständige Verbindung" zwischen der Wiener Zentrale in der Hofburg und den nationalen Mitgliederorganisationen der P E U herzustellen und diese über die „Entwicklung der B e w e g u n g " ebenso zu informieren w i e sie drittens durch Beiträge „hervorragender Paneuropäer aller Zungen" fur die paneuropäische B e w e g u n g zu begeistern - und ihnen die Mitgliederwerbung als eine der ersten „Pflichten der Paneuropäer" zu versüßen 1 3 . Denkens und Wollens und Wirkens", in: Le discours européen dans les revues allemandes (1933-1939), hrsg. von Michel Grunewald und Hans Manfred Bock, Bern [u.a.] 1999, S. 160-193. 10

COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa (Anm. 4), S. 34. - Zur Finanzierung s. JÍLEK,

Paneurope dans les années vingt (Anm. 2), S. 419; Anita ZIEGERHOFER, Die PaneuropaBewegung in der Zwischenkriegszeit, in: Österreichisches Jahrbuch für Politik 1996, S. 573-594, hier: S. 588. 11 Nach der Ausgabe eines „Neuen Kurses" durch Coudenhove Anfang 1929 wandelte sich die Paneuropa im Zuge der Konsolidierung der PEU: Sollte sie zunächst „zu allen aktuellen Phasen der europäischen Frage" Stellung nehmen, so präzisierte das Impressum Anfang der 30er Jahre, sie solle dieses „vom europäischen Standpunkt aus zu den aktuellen Fragen der Politik und der Wirtschaft" tun. Wollte die Paneuropa anfangs durch Mitteilungen aus der Bewegung und Berichten über sie „eine ständige Verbindung herstellen zwischen der Zentrale und den Mitgliedern", so galt später, sie sei „unentbehrlich" für .jeden, der an der Bewegung teilnehmen, sie beurteilen oder kritisieren wolle". - Pan-Europa 1 (1924/25), H. 2, S. 19; vgl. PAUL, Die Monatsschrift Paneuropa (Anm. 8), S. 162, Anm. 4. 12 Paneuropa 1 (1924/25), H. 2, S. 19; einer Redaktionsmitteilung zufolge erschien die Paneuropa seit Januar 1927 zwar auch in französischer Sprache (Paneuropa 3 [1927], H. 4, S. 28), wobei es sich aber nur um das Paneuropa-Manifest handelte; die französische Ausgabe Paneurope als einzige in einer Weltsprache erschien unregelmäßig zwischen 1928 und 1934; JÍLEK, Le homme et le mouvement (Anm. 2), S. XXIX. - Ausgaben der Paneuropa in weiteren europäischen Sprachen kamen nicht zustande, obwohl 1924 geplant war, sie „künftig mehrsprachig" erscheinen zu lassen. 13 Etappen zu Paneuropa, in: COUDENHOVE-KALERGI, Die Pan-Europäische Bewegung (Anm. 6), S. 6 f.; auch in: COUDENHOVE-KALERGI, Kampf um Paneuropa (Anm. 1 ), S. 27. Formulare zur Abonnentenwerbung und Abonnementsbestellung lagen in unregelmäßigen Abständen, vorgedruckte Beitrittserklärungen zur PEU dagegen jedem Heft bei. Regelmäßig und immer an prominenter Stelle abgedruckt waren die Aufforderungen zur Mitteilung von Adressen möglicher Interessenten, die „Probenummern" der Paneuropa erhalten sollten. Die „Pflichten der Paneuropäer" erschienen in unregelmäßigen Abständen als Vorspann zu den Leitartikeln: „Werben Sie neue Mitglieder für die Union!"; „Werben Sie für die Idee!"; „Werben Sie in Vereinen und Organisationen!"; „Verbreiten Sie unsere Symbole!" etc.

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Coudenhove selbst knüpfte ab 1924 in rastloser Reise- und Vortragstätigkeit in Europa und den U S A ein feinmaschiges Beziehungsnetz, von d e m die Zeitschrift Paneuropa durch den Zugewinn illustrer Beiträger profitierte: International renommierte Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler und Journalisten ebenso w i e fuhrende Politiker aller europäischen Nationen liehen der Paneuropa ihre klingenden N a m e n und ihre Autorschaft. D i e einenden Elemente innerhalb des weiten, oft antagonistischen Spektrums ihrer politischen Auffassungen deckten sich mit denjenigen der Paneuropa-Anhänger und dessen Sympathisanten, die Anne-Marie Saint-Gille zutreffend als eine K o m p o sition aus „rejet de l'idéologie raciale et de la pensée völkisch; rejet de la guerre c o m m e m o y e n politique naturel; rejet du pangermanisme" beschrieben hat 1 4 . In demselben Maß, in dem g e g e n Ende der 1920er Jahre die wirtschaftspolitischen Aspekte des Paneuropa-Programms stärker akzentuiert wurden oder - mit den Worten Klaus Manns - „die Bankiers, Kardinäle und Industriellen den Grafen zu ihrem Schutzpatron machten" 1 5 , räumten sozialdemokratische und pazifistische Autoren das Feld zugunsten der Nationalökonomen, Bankiers und Industriellen 1 6 . D o c h vor d e m Hintergrund ihres 14 Paneuropa-Beiträge zwischen 1924 und 1938 verfaßten Künstler wie der Geigenvirtuose Bronislaw Hubermann, der Philosoph und Politiker Salvador de Madariaga, Schriftsteller wie Jules Destrée, der spätere Kollaborateur Pierre Drieu la Rochelle und Franz Werfel, Journalisten, Redakteure und Publizisten wie Ernst Benedikt (Neue Freie Presse), Hans Zehrer (Vossische Zeitung, Die Tat, Tägliche Rundschau) und der 1939 in die USA emigrierte Rudolf Keller (Prager Tagblatt, Aussiger Tagblatt), Politiker wie Aristide Briand, Edouard Herriot, Joseph Paul-Boncour, Winston Churchill oder der ehemalige britische Kolonialminister Colonel Leopold Stennett Amery, der 1933 emigrierte ehemalige Reichsminister und Vorsitzende der demokratischen Partei Erich Koch-Weser, der estländische Außenminister Charles R. Pusta, der ungarische Außen- und Wirtschaftspolitiker Paul von Auer, der österreichische Sozialdemokrat und Staatskanzler a. D. Karl Renner oder der österreichische Justizminister Hans Freiherr von Hammerstein-Equord, der griechische Diplomat und Völkerrechtler Nicolaos Politis oder der norwegische Außenminister Halvdan Koht. 15 Klaus MANN, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Reinbek b. Hamburg 1984, S. 209. Der katholische Klerus war in der Paneuropa einerseits mit dem kompromisslosen HitlerGegner Friedrich Muckermann S. J. vertreten, andererseits mit dem Rektor der deutschen Nationalkirche Sta. Maria dell'Anima in Rom, Bischof Alois Hudal, der eine Art Kollaboration mit dem Nationalsozialismus anstrebte; s. Alois HUDAL, Die Grundlagen des Nationalsozialismus, Wien 1937; DERS. Römische Tagebücher. Lebensbeichte eines alten Bischofs, Graz/Stuttgart 1976, S. 107-119. Kritisch dazu: Friedrich MUCKERMANN S. J., Im Kampf zwischen zwei Epochen. Lebenserinnerungen, bearb. u. eingeleitet von Nikolaus Junk, Mainz 1973, S. 621 ff. 16 Hier wären etwa zu nennen der ehemalige Präsident der National City Bank New York Sir Frank A. Vanderlip, Gaston Barbanson (Brüssel), Henry Deterding vom Royal-DutchShell-Konzern (London), Auguste Detoeuf als geschäftsführender Aufsichtsrat der AlsThom (Paris), der Nationalökonom und Vorsitzende der französischen PEU Francis Delaisi, Joakim Pukh als Präsident der IHK Reval, der Universitätslehrer und Präsident der unter der Schirmherrschaft Aristide Briands gegründeten Union Économique et Douanière Européenne Elemér Hantos (Budapest), der 1936 nach Frankreich emigrierte Bankier Hans Fürstenberg (Berlin), der Industrielle Robert Bosch (Stuttgart) und der Generaldirektor der

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verschärften Kampfes gegen den Nationalsozialismus seit der Mitte der 30er Jahre ließ die Paneuropa wieder vorwiegend namhafte Intellektuelle zur Feder greifen, um die kulturpolitische Einheit Europas in Freiheit zu beschwören. Mit der repräsentativen Adresse „Wien - Hofburg" und den damals modernsten Kommunikationsmitteln Telefon und Telegraph ausgestattet, vermittelte die Monatsschrift Paneuropa ihrem wohl zumeist gebildeten Publikum auf den ersten Blick das Erscheinungsbild der PEU als einer fortschrittsorientierten Bewegung - kein unwichtiges Kriterium für „die Jugend Europas", die Paneuropa Wirklichkeit werden lassen sollte 17 . Im Hinblick auf den hohen Wiedererkennungswert des werbegraphisch geglückten Äußeren der Paneuropa18 verwundert es nicht, dass die Präsentation der Zeitschrift in den anderthalb Jahrzehnten ihres Bestehens ebenso unverändert blieb wie der Umfang der Einzelhefte 19 . Unterdessen kamen und gingen drei Redakteure20, schrieben fast 150 Autoren und drei Autorinnen21, variierten ihre - gegendeutschen Linoleumwerke A.G. Richard Heilner oder der Altbundeskanzler und österreichische Industrielle Emst Ritter von Streeruwitz. - Die Frauenrechtlerin Anita Augspurg, der pazifistische Publizist Kurt Hiller oder der sozialdemokratische Politiker Max CohenReuss arbeiteten nur in den ersten vier Jahrgängen der Paneuropa mit. 17 Zur PEU als „großer politischer" oder gar „Massenbewegung" s. RICHTER, PaneuropaIdee (Anm. 2), S. 801 f.; FROMMELT, Paneuropa oder Mitteleuropa (Anm. 3), S. 50; und BURGARD, Das gemeinsame Europa (Anm. 5), S. 102 f. - Die „Jugend" und die „Massen" als Hoffnung der PEU: Paneuropa 2 (1925/26), H. 4, S. 13. - 1929 erklärte Coudenhove, dass, j e d e s Mitglied, das auch nur im geringsten warb,... der Union willkommen" gewesen sei; Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Neuer Kurs, Paneuropa 5 (1929), H. 1, S. 3-12, hier: S. 3. - Klaus Mann bestätigt, dass die PEU „trotz gewisser Mängel und Unklarheiten, die ihr eigen sein mochten", zunächst „viel Anklang bei der intellektuellen Jugend" gefunden habe. - MANN, Der Wendepunkt (Anm. 19), S. 209. - Zum Milieu der Leserschaft der Paneuropa vgl. SAINT-GILLE, Les réseaux paneuropéens (Anm. 2). 18 Die Paneuropa sieht dem Buch Pan-Europa in ihrer gediegen auffälligen Aufmachung der gleiche elfenbeinfarbene, gold-rot gerahmte und mit dem paneuropäischen Sonnenkreuz geschmückte Umschlag - frappierend ähnlich und spielt wohl auch mit der Bekanntheit des Vorbildes. - In den 30er Jahren kam es zu einer einheitlichen Gestaltung des Rückenumschlags, der abwechselnd das Paneuropa-Programm und die Paneuropa-Weltkarte zeigte. 19 Rund 30 Seiten im Oktavformat, zunächst pro Heft mit Seite 1 beginnend, seit 1930 jahrgangsweise paginiert. 20 Laut Impressum von Pan-Europa 1 (1924/25), H. 3 war Wilhelm Rath der erste Redakteur der Paneuropa - unter dem als „Chefredakteur" firmierenden Coudenhove. Ab Paneuropa 2 (1925/26), H. 1 hatte Wilhelm Schlesinger diesen Posten inne, der wiederum ab Paneuropa 3 (1927), H. 8 von Emil Lukacz abgelöst wurde, der bis 10 (1934), H. 1 „für die Redaktion" verantwortlich blieb. Danach übernahm der „Herausgeber, Chefredakteur und Eigentümer" Coudenhove selbst die Gesamtverantwortung für die Redaktion. - Nach freundlicher Auskunft (13. 4. 1999) von Anita Ziegerhofer-Prettenthaler (Universität Graz) ist über Emil Lukacz nur bekannt, dass Coudenhove ihn Anfang 1936 zum Leiter eines neu zu gründenden Sekretariats für paneuropäischen Minderheitenschutz machen wollte, was dieser jedoch ablehnte. 21 Von den insgesamt 146 Beiträgerinnen und Beiträgern zwischen 1924 und 1938 schrieben nur acht mehr als j e drei Artikel fur die Paneuropa, nämlich Oskar Acht, Colonel

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über anderen europäischen Rundschauzeitschriften wie der an eine vergleichbare Klientel gerichteten Europäischen Revue relativ hohen - Auflagen 22 . Die Paneuropa war ein so integraler Bestandteil der von Coudenhove initiierten paneuropäischen Kampagne, dass er von ihrer ersten Ausgabe vom April 1924 bis zu ihrer letzten in der Zwischenkriegszeit vom März 1938 als Eigentümer, Verleger, Herausgeber und Chefredakteur auftrat23. Im Rückblick erschien Coudenhove seine nie enden wollende Redaktionstätigkeit für die Paneuropa, um die er sich nicht nur habe „ständig kümmern", sondern auch - wie er beklagte - „mehr als die Hälfte" des Inhaltes selbst habe schreiben müssen, als einziger „Alpdruck"24. Die zunehmende Professionalisierung der Redaktion sowie die Etablierung der Paneuropa-Bewegung mögen beide dazu beigetragen haben, dass mit dem Jahr 1927 die Beiträge von international renommierten Wirtschaftsfachleuten und Politikern unterschiedlicher Couleur die einheitliche Paneuropa-Berichterstattung auflockerten und neue ständige Rubriken das Leserinteresse gefangen nahmen: Berichtete „Die Paneuropa-Bewegung" über Interna, so beobachtete „Stimmen über Paneuropa" die Reaktionen der Politik auf die PEU. Gezielt ausgewählte Buchbesprechungen wie diejenigen zum Thema „Frauen und Europa" vertieften einzelne Aspekte der Paneuropa-Meldungen25. Seit der Jahresmitte 1928 zeichnete der Redakteur der Berliner Vossischen Zeitung Hans Zehrer für die „Politische Chronik" der Paneuropa verantwortlich - zugleich betreute er übrigens die gleichnamige Rubrik des KonkurLeopold Stennett Amery, Otto Bankwitz, Ernst Benedikt, Francis Delaisi, Otto Deutsch, Wladimir Woytinsky und Hans Zehrer. - Anita Augspurg (1926), Dr. Vilma Kopp (1930) und die 1936 in Genf lehrende Privatdozentin Dr. Luise Sommer (1934, 1936) sind als Autorinnen zu nennen. 22 Nach Sperlings Zeitschriften- und Zeitungsadreßbuch. Handbuch der deutschen Presse, Leipzig 1928-1937, erreichte die Paneuropa ab 1928 regelmäßig 6 000er Auflagen, in den Jahren 1931 und 1933 sogar 8 000. - Zu Abonnements, Einzel-/Doppel- und Sonderheften sowie zur Preisgestaltung s. PAUL, Die Monatsschrift Paneuropa (Anm. 8), Anm. 32. - Die Auflagen der jungkonservativen, literarisch anspruchsvolleren Europäischen Revue des Prinzen Karl Anton Rohan erreichten in den 1930er Jahren durchschnittlich 3 680 Stück. S. Ina Ulrike PAUL, Konservative Milieus und die Europäische Revue, in: Le milieu intellectuel (wie Anm. 2), S. 509-555, hier: S. 506. 23

Seine rastlose publizistische Tätigkeit unterbrach Coudenhove vor dem Erscheinen der 125. Nummer der Paneuropa, um gemeinsam mit seiner Frau vor den einmarschierenden Nationalsozialisten aus dem nächtlichen Wien ins Ausland zu fliehen. - COUDENHOVEKALERGI, Kampf um Europa (Anm. 1), S. 202 f.; Coudenhoves (Leit-)Artikel waren bis Paneuropa 7 (1931), H. 2 namentlich, mit einem Dreistern *** gekennzeichnet, worauf jedes Impressum verwies. 24 COUDENHOVE-KALERGI, Kampf um Europa (Anm. I), S. 129. Tatsächlich dominierte Coudenhove als wichtigster Mitarbeiter und Leitartikler den Inhalt aller vierzehn Jahrgänge der Paneuropa, da ein Großteil der Artikel und aktuellen Berichte entweder von ihm stammte oder über ihn handelte. 25 Z. B. Buchbesprechungen in: Paneuropa 4 (1928), H. 4, S. 39 f.; vgl. auch weiter unten Abschnitt III.

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renzunternehmens Europäische Revue des Prinzen Karl Anton von Rohan redaktionell! - , Otto Deutsch für die „Wirtschafts-Chronik" und Oskar Acht für die „Presse-Chronik". Wurde Hans Zehrers Beobachtung der politischen Landschaft Europas schon ein Jahr später ersatzlos eingestellt - wohl auch, weil Zehrer ab 1929 die Redaktion der von ihm völlig neu gestalteten und konservativ radikalisierten „Tat" übernahm - , so erschienen die wirtschaftspolitische Rubrik und die mit dem neuen Titel „Pressespiegel" erscheinende „Presse-Chronik" zunächst ohne Autorennamen, um dann in den beiden Folgejahren aufgegeben zu werden 26 . Erst 1935/36 wurden mit den Rubriken „Rings um Europa" bzw. „Quer durch Europa" neue, anspruchsvolle und auf das global und europäisch ausgerichtete Paneuropa-Programm zugeschnittene Rubriken eingerichtet. „Rings um Europa" diente mit der in der PaneuropaTerminologie gehaltenen politischen Kurzberichterstattung aus den anderen vier Kontinenten der Vertiefung des paneuropäischen Weltbildes, das das Rückenschild jeder Paneuropa mit einer Weltkarte illustrierte. Die nur kurze Zeit existierende Rubrik „Quer durch Europa" nahm thematisch die von Hans Zehrer erheblich eindrucksvoller gestaltete „Politische Chronik" wieder auf, um zu innereuropäischen Krisenherden Stellung zu nehmen. Neben der Verbreitung der Paneuropa-Idee bot die Paneuropa auch das geeignete Forum für immer neue Werbekampagnen der PEU oder für die logistische Bewältigung aller bei der Organisation von paneuropäischen Großveranstaltungen entstehenden Probleme27. Nicht zuletzt diente sie dem heute „Merchandising" genannten Verkauf von Schmucknadeln und Ansteckem, Werbemarken, Fähnchen, Hemden oder Tüchern mit dem Paneuropa-Logo 28 , 26

Die drei Rubriken von Hans Zehrer, Oskar Acht und Otto Deutsch erschienen ab Paneuropa 4 (1928), H. 5 („Politische Chronik") bzw. Paneuropa 4 (1928), H. 8 „Presse-Chronik", „Wirtschafts-Chronik" und wurden mit Paneuropa 5 (1929), H. 6 bzw. H. 10 eingestellt. - Zu Otto Deutsch s. THÉRY, Construire l'Europe (Anm. 2), S. 81, Anm. 38, zu Hans Zehrer s. Anm. 14. 27 Die Paneuropa übernahm Mobilisierung, Transport und Unterbringung der internationalen PEU-Mitglieder; s. z. B. Paneuropa 10 (1934), H. 2 (= Februar), in dem die geplante PEU-Wirtschaftskonferenz(16.-18. 5.) sowie die Großkundgebung zum Europatag (17. 5.) in Wien angekündigt sowie über verbilligte Quartiere und Reiseermäßigungen berichtet wird. 28 Coudenhove wählte als Identifikationssymbol das von ferne an einen Reichsapfel erinnernde gold-rote Sonnenkreuz bereits in seinem Buch Paneuropa („das rote Kreuz auf goldenem Grunde, das Symbol der Menschlichkeit und des Geistes"), s. COUDENHOVEKALERGI, Paneuropa, (Anm. 4), S. 155; Paneuropa 2 (1925/26), H. 3, S. 155; DERS., Paneuropa ABC, Wien 1931, S. 13. Vgl. Maria SCHILD, Zur Symbolik des Emblems der Pan-Europa-Bewegung, in: Adler. Zeitschrift für Genealogie und Heraldik 15 (29) 1990, Nr. 5, S. 158 ff. - Motto und Hymne für die PEU fehlten nicht: Zu dem Augustinus zugeschriebenen Paneuropa-Motto („In necessariis unitas - in dubiis libertas - in omnibus caritas") kam im Oktober 1929 die Paneuropa-Hymne (Schillers/Beethovens „Freude schöner Götterfunken"); zur Begründung der Wahl eines „musikalischen Symboles" der paneuropäischen „Massenbewegung" s. Paneuropa 5 (1929), H. 9, S. 23.

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von papierenem Propagandamaterial wie dem „Paneuropa-ABC"29 oder Lesezeichen mit dem Bild Coudenhoves, endlich der Werbung für Coudenhoves Bücher oder für Publikationen von Mitarbeitern und PEU-Mitgliedern30. Koordiniert wurde der Werbefeldzug für Paneuropa in der „rastlos" arbeitenden und sich immer mehr zum Zentralorgan der paneuropäischen Bewegung aufschwingenden Wiener Propagandazentrale31. Welchen Umfang diese propagandistischen Unternehmungen schon bald annahmen, lässt sich an einer frühen, bereits im Herbst 1925 in die Paneuropa eingerückten Bekanntmachung Coudenhoves ablesen: Die zunächst beitragsfreie Mitgliedschaft in der PEU müsse zugunsten gestaffelter Beiträge aufgegeben werden, um die „Spesen der Propaganda, deren Umfang täglich wächst, zu decken und deren materielle Unabhängigkeit zu sichern". Anfang 1929 wurde der Bezug der Paneuropa fur PEU-Mitglieder in Deutschland schließlich obligatorisch - die Auflagenzahl der Paneuropa stagnierte damals bei 6 000 verkauften Exemplaren, um erst Anfang der 30er Jahre wieder anzusteigen32. 29 COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa ABC (Anm. 28) . - Zu den Propagandaartikeln s. ZLEGERHOFER, Paneuropa-Bewegung (Anm. 10), S. 593; FROMMELT, Paneuropa oder Mitteleuropa (Anm. 3), S. 49, erwähnt zudem Coudenhoves Versuch, die PEU-Mitglieder zu uniformieren; BURGARD, Das gemeinsame Europa (Anm. 5), S. 39 f., zu Coudenhoves gescheitertem Versuch von 1927, den Namen „Paneuropa" im Prozeß gegen die Filmregisseurin Rita Barré gerichtlich schützen zu lassen. 30 So wurde als „schönste Weihnachtsgabe" für das Weihnachtsfest 1930 Coudenhoves eben erschienene Schrift Los vom Materialismus! (Wien/Leipzig/Berlin 1930) beworben; Paneuropa 6 (1930), H. 10, Innenseite vor S. 339. - Gemeinsam mit den Schriften Coudenhoves wurden u. a. die Bücher von Wladimir Woytinsky oder Franz J. Zrzavy beworben. Als eine andere Form von Werbung mögen noch die positiven Rezensionen von der Paneuropa nahestehenden Autoren gelten. - Die letzten Seiten der Paneuropa dienten zudem als Werbeträger für Annoncen von Wiener und internationalen Hotels gehobener Kategorie, Kurorten, Reisebüros, Schiffslinien, Warenhäusern, Betrieben, Versicherungen und Gewerkschaften; auch warben darin Fabriken wie die Deutschen Linoleumwerke (Richard Heilner) oder der Witkowitzer Bergbau (Adolf Sonnenschein) und andere Mitglieder des im Juni 1929 installierten deutsch-französischen Wirtschaftskomitees. 31

Zitat: COUDENHOVE-KALERGI, Kampf um Europa (Anm. 1), S. 98; DERS., Eine Idee erobert die Welt (Anm. 1), S. 121. - Die 1923/24 eingerichtete Propagandazentrale in der Hofburg habe „durch Schaffung einer Paneuropaliteratur, durch ihre Zeitschrift, durch Propagandaartikel, Vorträge, Werbereisen, Besprechungen und Konferenzen die Bewegung nach allen Richtungen" verbreitet und vertieft, sei aber auf Kosten der zunächst gleichrangig neben ihr stehenden nationalen paneuropäischen Unionen „immer mehr zum Zentralorgan der Bewegung geworden"; um diese Entwicklung aufzufangen, gab Coudenhove 1929 den „Neuen Kurs" vor; s. COUDENHOVE-KALERGI, Neuer Kurs (Anm. 17), S. 4. 32 Paneuropa 2 (1925/26), H. 5; s. Aufruf „An alle Paneuropäer!" auf dem Rückenumschlag; „unbemittelten Paneuropäern" wurde aus „prinzipiellen Gründen" der Mitgliedsbeitrag „auf Wunsch [!] erlassen". Coudenhove zufolge wurden erst ab 1928 Mitgliedsbeiträge erhoben: COUDENHOVE-KALERGI, Ein Leben fur Europa (Anm. 1), S. 124. - 1929 schrieb Coudenhove, dass der Jahresbeitrag so niedrig gehalten worden sei, dass „fast jedes Mitglied der Union mehr kostete als einbrachte", s. DERS., Neuer Kurs (Anm. 17), S. 3. Obligatorischer Bezug durch Änderung § 20 Satzung der PEU Deutschlands: Rubrik „Die Paneuropabewegung", S. 31. - Zur Auflagenentwicklung s. Anm. 22.

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Coudenhove selbst führte seinen propagandistischen „Feldzug mit friedlichen Mitteln" wie ein selbstherrlicher Stratege, eine Entwicklung, die sich 1929 mit dem „neuen Kurs" und der Proklamation der „Führerbewegung" anstelle der ursprünglichen Massenbewegung für Paneuropa noch verstärkte33. Viele Jahre, glänzende Erfolge und bittere Niederlagen später sollte Coudenhove seine selbst gewählte paneuropäische Mission gar zur Crusade for Pan-Europe stilisieren. Der Untertitel Autobiography of a Man and a Mouvement unterstreicht die in Coudenhoves Selbstwahrnehmung vorhandene Einheit seiner Person mit der von ihm inaugurierten Bewegung und legt zugleich die Frage nach der tatsächlichen Verbindung beider nahe 34 . Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi wurde 1894 in Tokio als zweiter Sohn eines österreichisch-japanischen Diplomatenehepaars geboren. Verschmolzen allein im Klang seines Namens flämisch-österreichische mit griechisch-venezianischen Familientraditionen, so lernte er dank seines kosmopolitischen Elternhauses bereits in jungen Jahren das objektivierende Denken „in Kontinenten: Asien und Europa 35 ", das sein geistesaristokratisches, in seinen philosophisch-weltanschaulichen Veröffentlichungen expliziertes Menschenbild bestimmte und engstirnige Nationalismen, rassistische Vorurteile und Antisemitismus kategorisch ausschloss36. Seine in Tirol, Wien und München absolvierten Schul- und Universitätsjahre, seine gegen den Widerstand des Establishments durchgesetzte Heirat mit der gefeierten Burgschauspielerin Ida Roland und schließlich sein am Ende des Ersten Weltkrieges gefasster Entschluss, „sich ganz in den Dienst des Völkerfriedens zu stellen 37 ", hatten den inzwischen promovierten Philosophen und Historiker Coudenhove zu einer charismatischen Persönlichkeit reifen lassen, deren tadelloser Erscheinung und vielsprachiger Eloquenz sich Intellektuelle, Politiker, Wirtschaftsführer und viele andere nicht entziehen konnten 38 . Bei ihrer ersten 33

COUDENHOVE-KALERGI, Neuer Kurs (Anm. 17). Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Crusade for Pan-Europe: Autobiography of a Man and a Movement, New York, London 1943. - Vgl. RICHTER, PaneuropaIdee (Anm. 2), S. 788. 35 „Als Kinder eines Europäers und einer Asiatin dachten wir nicht in nationalen Begriffen, sondern in Kontinenten: Asien und Europa. In unseren Augen waren sie sehr verschieden, aber gleichwertig", in: COUDENHOVE-KALERGI, Kampf um Europa (Anm. 1), S. 23. - Zur Familiengeschichte s. HOLL, Coudenhove-Kalergi (Anm. 2), S. 12-16. 36 Zu den weltanschaulichen Grundlagen Coudenhoves: JÍLEK, Paneurope dans les années vingt (Anm. 2), S. 412-415; zu seiner Persönlichkeit und seinen frühen Schriften: HOLL, Coudenhove-Kalergi (Anm. 2), S. 12-20; PAUL, Die Monatsschrift Paneuropa (Anm. 8), 34

S. 1 6 4 - 1 6 7 ;

RICHTER, P a n e u r o p a - I d e e

(Anm.

2),

S. 7 9 0 - 7 9 5 . -

Vgl.

COUDENHOVE-

KALERGI, Kampf um Europa (Anm. 1), S. 78. 37 COUDENHOVE-KALERGI, Kampf um Europa (Anm. 1), S. 68. 38 Zur Wahrnehmung Coudenhoves: JÍLEK, Paneurope dans les années vingt (Anm. 2), S. 410; WIEDEMER, Coudenhove-Kalergi's Pan-European Union (Anm. 5), S. 830 („rather

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B e g e g n u n g in Paris i m Januar 1926 erschien der eben aus Amerika nach Europa zurückgekehrte Coudenhove Thomas Mann als einer der „merkwürdigsten und schönsten Menschen", den er j e getroffen habe - und auf den er in einer für die synästhetische Wirkung v o n Paneuropa-Idee und -Erfinder Coudenhove bezeichnenden W e i s e reagierte: „Seine Haltung w i e sein Wort geben Kunde von unerschütterlichem Glauben an eine politische Idee, v o n deren Fehlerlosigkeit ich nicht überzeugt bin, die er aber mit der klarsten Energie literarisch und persönlich in die Welt zu tragen und zu propagieren weiß" 3 9 . Coudenhove erinnerte sich dieses Zusammentreffens ebenfalls, allerdings deshalb, weil am Morgen desselben Tages seine für ihn ungleich wichtigere erste und ihn höchst optimistisch stimmende B e g e g n u n g mit d e m französischen Außenminister Aristide Briand stattgefunden hatte 4 0 . In ihm schien Coudenhove endlich den in so unterschiedlichen Politikern w i e Thomas Garrigue Masaryk und Benito Mussolini vergebens gesuchten Mann gefunden zu haben, der die „ersten praktischen Schritte zur Verwirklichung Paneuropas" unternehmen und „Paneuropa als Regierungsaktion" inaugurieren werde 4 1 .

intimidating and sleek"). - Stresemann vermerkte nach beider erster Begegnung am 11.6. 1925 in seinem Tagebuch: „Wie man auch über ihn [Coudenhove] denken mag, er ist jedenfalls ein Mann von außerordentlichem Wissen und großer Tatkraft. Ich bin überzeugt, daß er noch eine große Rolle spielen wird". Gustav STRESEMANN, Vermächtnis. Der Nachlaß in drei Bänden, hrsg. von Henry Bernhard [u. a.], Berlin 1932, Bd. 2, S. 307. 39 Thomas MANN, Pariser Rechenschaft, Berlin 1926, S. 55-57, hier: S. 57: „Zur Hälfte Japaner, zur anderen Hälfte gemischt aus dem internationalen Adelsgeblüt Europas, [...] stellt er wirklich einen eurasischen Typus vornehmer Weltmenschlichkeit dar, der außerordentlich fesselt und vor welcher der Durchschnittsdeutsche sich recht provinzlerisch fühlt. Zwei Falten zwischen den fernöstlich sitzenden schwarzen Augen, unter der reinen, festen und stolz getragenen Stirn, verleihen seinem Lächeln etwas Ernstes und Entschlossenes". Das „tiefe, liebenswürdige, eurasiatische Lächeln" spricht auch Kurt Hiller (vgl. Anm. 57) an. - Zum Vergleich das im Rückblick (1942/49) verfasste Coudenhove-Porträt Klaus Manns, der in den zwanziger Jahren überzeugter Paneuropäer gewesen war. „Der Gründer und Führer der paneuropäischen Bewegung überzeugte nicht nur durch seine Eloquenz und seine Argumente, sondern auch durch den ritterlichen Charme seiner Persönlichkeit. Der kosmopolitische Edelmann [...] machte mit seinem schönen Gesicht und seinen exquisiten Manieren für die Idee der Rassenmischung Reklame. Solche Artigkeit der Haltung und Erscheinung kann nicht umhin zu bestechen. Zumal, wenn sie sich mit rhetorisch-journalistischem Talent verbindet". - MANN, Der Wendepunkt (Anm. 15), S. 208. 40 S. COUDENHOVE-KALERGI, Kampf um Europa (Anm. 1), S. 121. - Vgl. zu der Begegnung mit Briand auch: DERS., Europa erwacht! (Anm. 1), S. 99. 41 COUDENHOVE-KALERGI, Kampf um Europa (Anm. 1), S. 92 ff., 121. - S. Coudenhoves 1922 in der Vossischen Zeitung (Berlin) und der Neuen Freien Presse (Wien) veröffentlichte Aufrufe zur Gründung einer paneuropäischen Union, in: Die europäische Frage, in: DERS., Krise der Weltanschauung, 1.-5. Tausend, Wien 1923, S. 105-113. - Zu Coudenhoves Kontaktversuchen aus der Sicht von Masaryk bzw. Mussolini s. JÍLEK, Paneurope dans les années vingt (Anm. 2), S. 417 f. - Empfehlungsschreiben des tschechischen Außenministers Eduard BeneS öffneten Coudenhove „den Weg zur französischen Politik"; zu den Kontakten mit Paul Painlevé, Louis Loucheur, Henry de Jouvenel, Joseph

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Tatsächlich konnte Coudenhove Briand schon im Mai 1927 als Ehrenpräsidenten für die PEU gewinnen und in der Paneuropa jubelnd „als Vorkämpfer der deutsch-französischen und der paneuropäischen Verständigung, als Mitschöpfer der Locarno-Verträge, als Repräsentanten europäischer Friedenspolitik, als guten Europäer" begrüßen 42 . Innerhalb der nächsten fünf Jahre verklärte die Paneuropa den französischen Außenminister zu einem der hellsten Sterne des paneuropäischen Firmaments43 - und zur Personifikation der französisch-deutschen Annäherung, die den archimedischen Punkt von Coudenhoves Paneuropa-Idee darstellte. Die Anfänge dieser Idee reichen in die Zeit um 1919 zurück, als Coudenhove auf der Suche nach einer Formel zur Einbeziehung der Vereinigten Staaten in den Völkerbund eine „gerade Linie" aufgefallen war, die das demokratische Europa von der kommunistischen Sowjetunion trennte und jenseits des Mittelmeers ihre Fortsetzung in der Grenze zwischen BritischAfrika und den Kolonien der anderen europäischen Staaten fand 44 . Die von der Existenz und Ausdehnung des britischen Empire, der Sowjetunion und des amerikanischen Doppelkontinents scheinbar vorgegebene geopolitische Gliederung der Welt in Großräume fand Coudenhove in Japans Bestrebungen bestätigt, „einen mongolischen Völkerblock mit China" - also den politischen Großraum Asien - zu schaffen. Den fünften, „noch völlig desorganisierten", seit Jahrhunderten von inneren Kämpfen zerrissenen 45 und ihm dennoch angesichts gemeinsamer äußerer Bedrohungen als Einheit erscheinenden Großraum Europa füllte Coudenhove nach dem überbewerteten VorPaul-Boncour, Edouard Herriot und Aristide Briand ebd., S. 419; du RÉAU, L'Idée d'Europe (Anm. 5), S. 81. Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Ehrenpräsident Briand, in: Paneuropa 3 (1927), H. 6, S. 2 f. 43 Briand t, in: Paneuropa 8 (1932), H. 3, S. 65-67. Die Erinnerung an Leben und Werk dieses großen Franzosen, großen Europäers und großen Menschen sei unzerstörbar, so schrieb Coudenhove, der tote Aristide Briand werde - zum Mythos geworden - noch größer sein als der lebende. - In „Briands Vermächtnis" (Paneuropa 8 [1932], H. 4, S. 9 3 111) ging er detailliert auch auf die Probleme von Briands Europa- und Deutschlandpolitik ein. Die „propagandistische Leistung Briands für Paneuropa" schien Coudenhove „unschätzbar". - Der später emigrierte Wiener Publizist und Freund Coudenhoves Emst Benedikt schloss seinen Artikel „Aristide Briand. Zum fünfundsiebzigsten Geburtstag" (Paneuropa 13 [1937], H. 5, S. 131-136) mit den nicht allein Coudenhoves Zukunftsmetapher aufgreifenden Worten: .ßriand ist tot. Es lebe Briand!".

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COUDENHOVE-KALERGI, Eine Idee erobert Europa (Anm. 1), S. 105-110; zu den Inspirationsquellen für Coudenhoves Paneuropa-Idee JÍLEK, L'homme et le mouvement (Anm. 2), S. XIV. 45 COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa (Anm. 4), S. 21; DERS., Kampf um Europa, (Anm. 1), S. 81 (Zitat). - Coudenhoves globale Gliederung in „Großräume", „Kraftfelder" oder „Reiche" nahm Maß an der politischen Weltordnung der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, als die Führung der Welt seiner Ansicht nach in Washington (Einflusssphäre: „Panamerika"), London („Reich des Südens"), Moskau („Reich des Nordens"), Tokio („Reich des Ostens") und Paris („Staaten des Westens") lag.

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bild „Panamerika" mit der Idee eines politisch einigen Europa, die sich mit dem Erscheinen seines Buches Paneuropa 1923 und der Zeitschrift Paneuropa 1924 zum Programm verfestigte46: Coudenhoves unermüdliches Bestreben galt fortan der „politischen und wirtschaftlichen Einigung" der kontinentaleuropäischen Staaten zu „Paneuropa" - programmatisch dreifach abgesetzt von der kommunistischen UdSSR, dem politisch, ökonomisch und kulturell auf den Commonwealth ausgerichteten „Groß-Britannien" und der wirtschaftlichen Dominanz der kapitalistischen Vereinigten Staaten von Amerika47. Mit vierzehn politischen und wirtschaftlichen Forderungen bestimmte der Wilson-Anhänger Coudenhove 1923 den Kurs, den die europäischen Nationen während der kommenden zwanzig Jahre gemeinsam halten und so auf das Ziel eines geeinten Europa zusteuern sollten, stets vorsichtig zwischen der Skylla der russischen Militärdiktatur und der Charybdis der amerikanischen Finanzdiktatur navigierend48. Nach verschiedentlichen Kurskorrekturen, die sowohl die zu vertrauensvoller Zusammenarbeit vertiefte Verbindung zu England als auch das antibolschewistisch verschärfte Verhältnis zu Sowjetrussland betrafen, verdichtete Coudenhove den Forderungskatalog49, den die 1923 als „über46

Das Buch Panamerika des überzeugten Pazifisten und Nobelpreisträgers von 1911 Alfred Hermann Fried (1864-1921) bezeichnete Coudenhove rückblickend als das erste Buch, das er „im Zusammenhang mit P a n e u r o p a " gelesen habe: „Mit Bewunderung folgte ich der Geschichte der panamerikanischen Union, die das Vorbild für Paneuropa werden sollte". Die Bezeichnung „Vereinigte Staaten von Europa" habe er verworfen, da das amerikanische Vorbild mit seiner starken Zentralregierung alle europäischen Regierungen abgeschreckt hätte. S. COUDENHOVE-KALERGI, Eine Idee erobert Europa (Anm. 1), S. 109; zur Rezeption Frieds durch Coudenhove: JÍLEK, Paneurope dans les années vingt (Anm. 2), S. 415 f.; Claus SCHÖNDUBE, Ein Leben fur Europa: Richard Graf CoudenhoveKalergi, in: Persönlichkeiten der Europäischen Integration. Vierzehn biographische Essays, hrsg. von Thomas Jansen und Dieter Mahncke, Bonn 1981, S. 27-70, hier: S. 36 f. Übrigens gebrauchte Coudenhove zumindest 1926 den Begriff „Vereinigte Staaten von Europa" bei seinen Umfragen synonym mit „Paneuropa", so JÍLEK, P a n e u r o p e dans les années vingt (Anm. 2), S. 420, Anm. 24. 47

Besonders prägnant zusammengestellt in: COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa A B C (Anm. 28), S. 7 f. (zur bolschewistischen Gefahr); S. 8 f. (die UdSSR, seit 1917 weder zu Europa noch Asien gehörig, bildet „einen eigenen politischen Erdteil, mit besonderen Lebensformen, besonderen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundsätzen"); S. 9 ff. (zur Doppelstellung Englands als „Europa benachbarte Insel" und „Haupt eines Weltreiches"); S. 13 (erst die Einigung Europas ermöglicht die „gleichberechtigte Zusammenarbeit" mit Amerika). 48 COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa (Anm. 4), S. 14 ff.; DERS., Das Pan-Europa-Programm, in: Pan-Europa 1 (1924/25), H. 2, S. 4, 6 f.; vgl. DERS., Paneuropa und Amerika, in: Paneuropa 2 (1925/26), H. 8/9, S. 3 - 1 4 , hier S. 6: Europa dürfe nie vergessen, dass es zwischen den USA und der Sowjetunion stehe, zwei großen geschlossenen Wirtschaftsimperien auf kapitalistischer bzw. kommunistischer Basis. - Die von Coudenhove veranschlagten zwei Jahrzehnte bis zum endgültigen Zusammenschluss der europäischen Staaten zu einem Staatenbund benötigte Sowjetrussland seiner Meinung nach, u m seine Kräfte zur Invasion Europas zu sammeln. 49

Eingehend dazu: ZIEGERHOFER, Paneuropa-Bewegung (Anm. 10), S. 579 f.; JÍLEK, Paneurope dans les années vingt (Anm. 2), S. 412 FF., 421 ff.

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parteiliche Organisation" gegründete PEU als Parteiprogramm übernommen hatte und der - wäre das Buch „Paneuropa" die Bibel der PEU - als die paneuropäischen „neun Gebote" angesprochen werden könnte: Gefordert wurden zunächst ein europäischer Staatenbund, dann die Installierung eines Bundesgerichtes und eines Militärbündnisses, die Schaffung eines europäischen Zollvereins, die gemeinsame Erschließung europäischer Kolonien, eine gemeinsame europäische Währung, die Sicherung aller nationalen und religiösen Minderheiten gegen Entnationalisierung und Unterdrückung und endlich die Zusammenarbeit Paneuropas mit „anderen Völkergruppen" im Rahmen eines weltumspannenden Völkerbundes. Nach dem absichtsvoll in Etappen angelegten, auf der deutsch-französischen Versöhnung aufbauenden und friedlich zu erreichenden Zusammenschluss der Nationen Kontinentaleuropas zu einem „europäischen Bundesreich" sollte dessen Streben „nicht Eroberung sein, sondern Wahrung des inneren und äußeren Friedens" 50 . Diesen 1923 vorgegebenen Parametern einer außenpolitisch-wirtschaftlich akzentuierten EuropaKonzeption war auch die Zeitschrift Paneuropa als „getreues Spiegelbild" von Coudenhoves „Denken und Wollen und Wirken" verpflichtet 51 . Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der Vergleich mit anderen, zumeist elaborierteren Modellvorstellungen zur europäischen Einigung fìir „Paneuropa" wenig schmeichelhaft ausfiele 52 . „Nachahmung taugt selten viel", hatte Coudenhoves europapolitischer Konkurrent Karl Anton Prinz Rohan 1926 mit Blick auf das am Leitbild Panamerika entworfene „Paneuropa" lakonisch festgestellt, der österreichische Publizist Friedrich Schreyvogl (kurze Zeit Redakteur und länger noch Beiträger von Rohans katholisch-jungkonservativer Europäischer Revue) belächelte es als „sehr geistreiche Mathematik der Oberfläche"53. Möglicherweise war es aber gerade die „mangelnde konzeptionelle 50

COUDENHOVE-KALERGI, Das Pan-Europa-Programm (Anm. 48), S. 3; DERS., Eine Idee erobert Europa (Anm. 1), S. 105 ff. - Die drei „Entwicklungsstufen" der „Vereinigten Staaten von Europa" nach dem Muster der U S A waren 1. eine paneuropäische, durch eine oder mehrere Regierungen einzuberufende Konferenz (Regelung der Fragenkomplexe Schiedsgericht, Garantie, Abrüstung, Minoritäten, Verkehr, Zoll, Währung, Schulden, Kultur), 2. durch obligatorische Schieds- und Garantieverträge Zusammenschluss Europas zu einem Friedensverbund, 3. Bildung einer paneuropäischen Zollunion. Als parlamentarische Vertretung des europäischen Bundesstaates mit eigener, am „panamerikanischen" Vorbild orientierter Verfassung sollten ein Staatenhaus mit den 27 Vertretern der Bundesmitglieder und ein Völkerhaus mit 300 Delegierten von j e einer Million Europäern fungieren. COUDENHOVE-KALERGI, P a n e u r o p a (Anm. 4), S. 141 ff. 51

Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, 10 Jahre „ P a n e u r o p a " , in: P a n e u r o p a 10 (1934), H. 3, S. 65-69, hier: S. 66. - Die paneuropäische Bewegung und die P E U als deren organisatorischer Arm beanspruchten kein innenpolitisches Profil - im Gegenteil beabsichtigte Coudenhove ausdrücklich, mit seiner Idee den Mangel außenpolitischer Programmatik der Parteiprogramme der „sozialen" und „bürgerlichen" Demokraten aufzufangen: DERS., P a n e u r o p a (Anm. 4), S. 142. 52 Dazu ausfuhrlich: RICHTER, Paneuropa-Idee (Anm. 2), S. 795 und ebd., Anm. 14. 53 Karl Anton ROHAN, System und Leben. Eine Auseinandersetzung mit Coudenhoves

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Raffinesse", die im Verein mit Coudenhoves facettenreicher Paneuropa-Öffentlichkeitsarbeit zunächst die Chance zu breitem gesellschaftlichen und internationalen Konsens eröffnet hatte. Als eines von vielen Beispielen erfolgreicher öffentlicher Selbstinszenierung der Paneuropa-Bewegung gilt der erste Paneuropa-Kongress in Wien (4.-9. Oktober 1926), der sowohl nach Einschätzung Coudenhoves als auch nach Meinung der modernen Forschung einen wichtigen Einschnitt für die paneuropäische Bewegung markierte54. Dieser internationale Kongress wurde weltweit wahrgenommen und von fast allen Regierungen Europas zumindest eines Grußwortes gewürdigt. Coudenhove ging aus ihm als durch Akklamation gewählter Präsident der drei Jahre zuvor in kühnem Handstreich begründeten PEU hervor, die er wenig bescheiden zu einem „der stärksten Impulse der Weltpolitik" erklärte55. Mag das auch übertrieben sein, so steht dennoch außer Zweifel, dass das überwiegend positive Echo auf den Paneuropa-Kongress nicht nur Briand zur Übernahme der Ehrenpräsidentschaft der PEU motivierte, sondern auch den Weg zu der lange angestrebten institutionellen Verwurzelung der Paneuropa-Bewegung durch Gründung eines französischen Paneuropa-Komitees in Paris ebnete, dessen Präsident Louis Loucheur wurde56. Doch während die paneuropäischen Fanfaren jeden Zuwachs an politischer Unterstützung für die paneuropäische Sammlungsbewegung ausposaunten, .Paneuropa', in: Abendland. Deutsche Monatsschrift fur europäische Kultur, Politik und Wirtschaft 1 (1926/27), H. 6, S. 173; Friedrich SCHREYVOGL, Paneuropa oder Abendland? Antwort auf einen zweifelnden Brief, in: Ebd., S. 175. - Einen Vergleich der EuropaKonzepte von Coudenhove und Rohan bereite ich gegenwärtig vor. 54 Zitat: RICHTER, Paneuropa-Idee (Anm. 2), S. 795. In der Paneuropa (Nachwort zum Kongress, in: Paneuropa 2 [1925/26], H. 10, S. 1) würdigte Coudenhove das Jahr 1926 als „Entscheidungsjahi" der Paneuropa-Bewegung; der Paneuropa-Gedanke habe „sein Echo in Washington, Moskau und Tokio gefunden", seine theoretischen Grundlagen seien in Politik und Wirtschaft vielfach bestätigt worden: „Die politische Theorie ist damit abgeschlossen: die politische Praxis beginnt". - Aus dem Rückblick rühmt er das „Weltecho des Kongresses" sowohl in den Medien („Auftakt einer neuen Politik" in Europa) als auch von Regierungsseite (von Briand als „Triumph seiner eigenen Verständigungspolitik empfunden"), dem nun Schritte der Regierungen - „Von Frankreich. Von Briand" - hatten folgen müssen; in: COUDENHOVE-KALERGI, Kampf um Europa (Anm. 1), S. 124. 55 COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa (Anm. 4), S. 159. - Zur Gliederung der PEU in nationale und internationale Sektionen etc. s. ZIEGERHOFER, Paneuropa-Bewegung (Anm. 10), S. 584. - Eli A. Nathans (Ann Arbor, MI) wies freundlicherweise auf die Autobiographie der deutschen Frauenrechtlerin und Parlamentarierin Marie-Elisabeth Lüders hin, die als Abgeordnete des Reichstages an dem Kongress teilgenommen hatte. Dieser sei „weit mehr als nur eine glänzende gesellschaftliche Veranstaltung" gewesen, sondern habe „zweifellos wesentlich zur Förderung des europäischen Gedankens in weitesten politischen Kreisen Europas beigetragen". Marie-Elisabeth LÜDERS, Fürchte dich nicht. Persönliches und Politisches aus mehr als 80 Jahren (1878-1962), Köln/Opladen 1963, S. 118. 56 Zur Bedeutung des Kongresses im Einzelnen: JÍLEK, Paneurope dans les années vingt (Anm. 2), S. 411,419.

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echote die Paneuropa selten unvermeidbare Reaktionen auf die Konsolidierung der PEU im Juste-milieu wie das Abbröckeln pazifistischer, sozialistischer und sozialdemokratischer Kreise seit den späten zwanziger Jahren, als Coudenhove offen und vielleicht mit einem Seitenblick auf die Taktik des Konkurrenten Rohan auf „einflußreiche Paneuropäer" an den Schalthebeln politischer und wirtschaftlicher Macht setzte. Wenn die Paneuropa im Fall des spektakulären Parteiaustritts eines ehemaligen Coudenhove-Bewunderers eine Ausnahme machte, dann weniger, um ihre Leser den Nachhall kritischer Stimmen zu Paneuropa vernehmen zu lassen: Mit dem Abdruck seiner Kontroverse mit dem pazifistisch-sozialistischen Gründer der Aktivismus-Bewegung Kurt Hiller in der Paneuropa 1929 konnte Coudenhove seiner Leserschaft nicht nur zum wiederholten Mal seine generelle Kurskorrektur fur die paneuropäische Bewegung vor Augen fuhren 57 . Er machte die Leser durch seine scharfe Replik auf die leidenschaftlich enttäuschten Vorwürfe Hillers auch mit Argumenten und Gegenargumenten vertraut, die den innerparteilichen" Diskurs ebenso wie die Wahrnehmung der paneuropäischen Bewegung in der Öffentlichkeit kennzeichneten: Fast jede von Hillers Vorhaltungen - er habe sowohl dem revolutionären Sozialismus wie dem revolutionären Aristokratismus abgeschworen, paktiere offen mit der Rechten und der kapitalistischen Demokratie, negiere die innenpolitische Neutralitätsklausel Paneuropas Sowjetrussland gegenüber - konterte Coudenhove unter Verweis auf den einer politischen Bewegung notwendigen Pragmatismus und Kompromisscharakter, um mit einem coup de grâce für jeden apolitischen Idealismus das Duell zu enden: Heinrich IV. sei deshalb ein großer Staatsmann, weil Paris fur ihn eine Messe wert gewesen sei, Hiller anstelle des großen Königs wäre dagegen zweifellos als braver Hugenotte vor den Toren von Paris gestorben 58 .

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Kurt Hiller contra Coudenhove. Zwei offene Briefe, in: Paneuropa 5 (1929), H. 7, S. 142 1 . - Dieser hochinteressante Briefwechsel (Hillers Brief war zunächst in der Weltbühne 25 [1929], Nr. 29 erschienen) verdiente mehr Aufmerksamkeit, als ihm hier zuteil werden kann. - Hiller bezog sich in seinen Ausführungen mehrfach auf Coudenhoves Essays „Krieg und Revolution" und „Atlantis", in: Paneuropa 4 (1928), H. 9, S. 1-9; Paneuropa 5 (1929), H. 3, S. 3 - 9 , die er beide wegen der scharfen Absage Coudenhoves an die Sowjetunion und deren Ausschluss aus seinem System der Weltmächte angriff. In seiner Replik wies Coudenhove darauf hin, dass er zwischen Marxismus und Sozialismus unterscheide und ersteren schon immer abgelehnt, seine soziale Einstellung aber nicht geändert habe; er unterstrich seine in „Krieg oder Revolution" (S. 6) getroffene Aussage, dass „Kriege [...] vertikale Revolutionen und Revolutionen horizontale Kriege" und die mit Revolutionen gleichgesetzten sozialen Bürgerkriege ebenso katastrophal wie Völkerkriege seien und dass Paneuropa gegen beides kämpfen müsse. 58

Coudenhove bezeichnet Hiller als „großen Idealisten", der am liebsten alle Ideale „Kommunismus, Pazifismus, Paneuropa, und vielleicht sogar, in der Idee, den Faszismus" - umarmen wolle, um sich dann von jedem Versuch zur Realisierung enttäuscht abzuwenden.

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Weltanschaulich trennte Coudenhove und die organisierten Pazifisten seiner Darstellung zufolge vor allem, dass er das Ideal der Freiheit über das des Friedens stellte: Jedes Volk verfalle unrettbar der Tyrannei, das nicht bereit sei, fur seine Freiheit zu kämpfen, hatte Coudenhove den Delegierten des internationalen Pazifistenkongresses 1924 in Berlin zugerufen und damit eine dramatische, von seinen Gegnern dominierte Debatte herausgefordert. Doch seine schon vorher im Paneuropa-Themsviheft Pazifismus im August 1924 zum zehnten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs dargelegte Ansicht, die real existierenden Pazifisten - „allesamt" Phantasten, Schwätzer, Feiglinge, überzeugungsschwache Egoisten und Drückeberger - seien „das größte Übel" des Pazifismus, der selbst unpolitisch, maßlos in seinen Zielen, unvernünftig in der Wahl seiner Mittel, planlos, zersplittert, eine gesellschaftliche Randerscheinung und zudem inkonsequent sei, ließen eher weniger als die von Coudenhove konzedierte „kühle" Beziehung beider politischen Bewegungen zu 59 . Coudenhove sprach selbst immer wieder von Pazifismus, ja sogar von der Pflicht jedes Europäers zum Pazifismus, der „heute in Europa die einzige Realpolitik" sei - er allerdings redete einem heroischen und militanten Pazifismus das Wort, wie er ihn selbst den Paneuropäerinnen nahe legte: Die „eigentliche politische Mission" der Frau sei es, „um den Frieden zu kämpfen", ließ sich Coudenhove während der in der Paneuropa vorgetragenen propagandistischen Kampagne für den Briand-Kellogg-Pakt vernehmen; nicht zufällig falle doch die Frauenemanzipation in eben dieselbe historische Epoche wie der „Kampf gegen den Krieg" 60 . Dass Kampf für den Frieden Not tue, betonten auch Militärs wie der französische General Denvignes oder ein deutscher Major a. D., die angesichts der technischen Perfektionierung von Kriegsrüstung und Kriegführung in der Paneuropa ihre Stimmen gegen den „Wahnsinn des modernen Krieges" erhoben 61 . Von der Hypothese ausgehend, dass für alle europäischen Nationen - ob Gegner oder Verbündete, ob nun Schuldner oder Gläubiger der Erste Weltkrieg nichts als eine europäische Chiffre fiir fürchterliche Verluste an Menschen und für wirtschaftlichen Ruin gewesen sei, errechnete der Berliner Wirtschaftswissenschaftler Wladimir Woytinsky anhand von Statistiken und Diagrammen den lastenden „Kriegstribut Europas". Wie die 59

Pan-Europa 1 (1924/25), H. 4/5, S. 3-39, zu den genannten Epitheta S. 6 - 8 . - Als Broschüre: Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Pazifismus, Wien/Leipzig 1924; wieder abgedruckt in: DERS., Praktischer Idealismus, Wien/Leipzig 1925. S. dazu DERS., Kampf um Europa (Anm. 1), S. 104 f. 60 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Weltfriede?, in: Paneuropa 4 (1928), H. 4, S. 4 - 1 9 , hier: S. 19.- Vgl. Coudenhoves Stellungnahmen zum Pazifismus in seinen philosophisch-politischen und autobiographischen Schriften. 61 Joseph Cyrille Magdelaine DENVIGNES, Krieg oder Frieden, in: Paneuropa 4 (1928), H. 1, S. 13-16; Major a. D. Franz Carl ENDRES, Wahnsinn des modernen Kriegs, in: Ebd., S. 17-23.

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beiden Offiziere, rief auch er zum Kampf gegen den Militarismus durch die unermüdliche Arbeit für die Vereinigung der Völker Europas auf 62 . Allerdings war die Paneuropa-Bewegung hier nicht viel erfolgreicher als die angeblich „programmatisch diffuse" und deshalb als erfolglos geschmähte pazifistische Bewegung: 1937 beantwortete Coudenhove die Frage „Krieg oder Frieden?" mit der von der Geschichte widerlegten Feststellung, die „großen Rüstungen des Jahres 1936 [hätten] den Frieden Europas für 1937 stärker untermauert als alle Verträge", und setzte hoffnungsvoll hinzu, diese Basis der Friedenssicherung werde sich 1938 noch verstärken, bis es zur definitiven, „eine großzügige Abrüstung" ermöglichenden Verständigung zwischen Deutschland und Europa komme 63 .

III. Betrachtet man die Photographie der Eröffnungssitzung des erwähnten öffentlichkeitswirksamen I. Paneuropa-Kongresses 1926 in Wien, so spielten bei dessen Inszenierung die riesige Flagge mit dem Sonnenkreuz und drei ebenfalls monumentale Porträts „großer Vorläufer des Paneuropa-Gedankens" die Hauptrolle. Davor und dennoch wie im Hintergrund saßen die illustren Veranstaltungsredner am langen Präsidialtisch, klein wirkte der österreichische Bundeskanzler bei seiner Ansprache - Napoleon, Kant und Nietzsche dominierten den photographisch komponierten Gesamteindruck. Die Paneuropäer sollten in Immanuel Kant den „Schöpfer der ersten Paneuropäischen Verfassung" sehen, in Napoleon Bonaparte den Autor eines politischen Testaments verehren, das den föderativen Zusammenschluss Europas fordere, und mit Friedrich Nietzsche einen großen Europäer und erbitterten Feind europäischer Kleinstaaterei würdigen. Die Paneuropa verlängerte diese internationale paneuropäische Ahnengalerie in ihrem Kongressbericht um weitere, auf der Photographie unsichtbare Bildnisse: Auf die Kongressteilnehmer blickten zusätzlich die ebenfalls eigens für den Kongress geschaffenen Gemälde des tschechischen Dichters Jan Amos Komensky und des Abbé de St. Pierre herab, dann dasjenige des „großen Vorkämpfers und Propheten der europäischen Einigung auf der Grundlage der Nation und der Freiheit"

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Wladimir WOYTINSKY, Europas Kriegstribut, in: Paneuropa 4 (1928), H. 5, S. 7-30. In einer Rezension von H. G. WELLS, Die Geschichte unserer Welt, in: Paneuropa 5 (1928), H. 9, S. 34 f., empfahl der Paneuropa-Redakteur Wfilhelm] Schlesinger] den programmatisch diffusen und so lange schon erfolglosen Friedensbewegungen das politisch realisierbare Paneuropa-Programm als eines der besten Friedensprogramme. 63 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, 1937: Krieg oder Frieden?, in: Paneuropa 13 (1937), H. 1, S. 1-5, hier: S. 5. - Zu Coudenhoves weitsichtigen Voraussagen zu den Folgen eines europäischen Krieges s. DERS., Paneuropa ABC (Anm. 28), S. 4 f.

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Giuseppe Mazzini und endlich das Victor Hugos als des ,,Seher[s] der Vereinigten Staaten von Europa" 64 . Diese und andere europäische Größen aus Vergangenheit oder Zeitgeschichte - Aristide Briand, Gustav Stresemann, Engelbert Dollfuß, Emile Mayrisch, Thomas Garrigue Masaryk - wurden im Sinne einer programmatischen und politischen Selbstverpflichtung der PEU regelmäßig eigener literarischer Portraits gewürdigt. Sie repräsentierten weniger die Größe ihrer Nation oder allgemeine europäische Werte als vielmehr bestimmte politische Ziele innerhalb des paneuropäischen Gedankenspektrums: Der französische Außenminister und erste Ehrenpräsident der PEU Aristide Briand symbolisierte die französisch-deutsche Annäherung und Paneuropas Verankerung in den europäischen Kabinetten, der bei einem nationalsozialistischen Putschversuch im Mai 1934 ermordete österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß Österreichs Zugehörigkeit zum freien Europa, der „größte Europäer" der Gegenwart, der tschechoslowakische Staatspräsident Thomas Garrigue Masaryk, den künftigen in Frieden vereinten Staatenbund Paneuropa 65 . In dreifacher Hinsicht überragte Jeanne d'Arc diese Schar säkularer Paneuropa-Heiliger: Die Staatsmänner, Philosophen und Politiker konfrontierte Coudenhove mit der ,,Heilige[n] der Politik" als Vorbild politischer Moral, während er den Politikerinnen die „Schutzheilige der politischen Frau" als Heldin voranstellte, die nicht siegte, obwohl sie eine Frau war, sondern weil sie eine Frau war. Den Paneuropäern aller Konfessionen sollte die katholische „Heilige Europas" als interkonfessionell-ewiges „Sinnbild des großen Menschen, seiner Berufung, seiner Einsamkeit, seines Unterganges, seines Sieges" vorschweben 66 . Und den Paneuropäerinnen? „La Pucelle" verkörperte wohl den Idealtypus des heroischen Menschen, allerdings das reine Mädchen und nicht das Ideal der Dame als der symmetrischen Entsprechung des neuen, klassenlosen, adelige mit bürgerlichen Erziehungsidealen vereinenden „Gentleman"-Europäers67. Dennoch konnte sie als Vorbild der ethi64

I. Paneuropa Kongress, in: Paneuropa 2 (1925/26), H. 13/14, S. 1-75, hier: S. 7 f.; Photographie s. in: COUDENHOVE-KALERGI, Europa erwacht! (Anm. 1), zwischen S. 100 u. 101. ®5 Zu Briand s. Anm. 42, 43. - Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Der Märtyrer Europas [Nachruf auf Engelbert Dollfuß], in: Paneuropa 10 (1934), H. 8, S. 129-131. - DERS., Masaryk. Der größte Europäer, in: Paneuropa 13 (1937), H. 9, S. 245-247; DERS., Der größte Europäer. Thomas G. Masaryk zum 85. Geburtstag, in: Paneuropa 11 (1935), H. 3, S. 65-68; DERS., In memoriam Masaryk, in: Paneuropa 13 (1937), H. 8, S. 217-219. Als Masaryks politisches Erbe bezeichnete Coudenhove den Auftrag, die nationale mit der europäischen Idee zu versöhnen und Europa zu einem Staatenbund gleichberechtigter, freier und friedlicher Völker zu machen. 66 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Jeanne d'Arc, in: Paneuropa 5 (1929), H. 5, S. 1-9. Vgl. DERS., Held oder Heiliger, Wien/Paris/Leipzig 1927. - Coudenhove schloss diesen Artikel mit einem Gebet („Sancta Johanna, ora pro nobis!"), eine Wendung, die er bei Nachrufen auf große Europäer in eine Art Fürbitte abzuwandeln pflegte. 67 S. dazu: COUDENHOVE-KALERGI, Held oder Heiliger (Anm. 66), S. 171-194, 203, 209.

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sehen und politischen Mission der Frau dienen, ein Thema, zu dem Coudenhove in den dreißiger Jahren in der Paneuropa wiederholt Stellung nahm 68 . Schon in „Held oder Heiliger" von 1927 hatte Coudenhove die Emanzipation der Frau prinzipiell bejaht, wobei er den Kampf um die Gleichberechtigung von Mann und Frau abgelöst wissen wollte von einem zweiten um die „Eigenart" der Frau - Schönheit und Mutterschaft. Diese „wahre" Frauenemanzipation setzte er von der „Frauenassimilation" ab, wobei diese eigenartige Begriffsschöpfung für das Streben der Frauen nach gleichen gesellschaftlichen Chancen und Rechten stand - und fur den damit angeblich einhergehenden „Triumph der Männlichkeit" über die dann restlos unterdrückte Weiblichkeit. Was vor diesem Hintergrund unter der „europäischen Mission der Frau" zu verstehen sei, breitete Coudenhove in einem im Januar 1936 gehaltenen und im gleichen Monat noch in der Paneuropa gedruckten Vortrag vor der „österreichischen Frauenschaft" aus: Die Europäerin habe „die Pflicht, die Möglichkeit und die Fähigkeit", an der Gestaltung des politischen Schicksals Europas mitzuwirken, wobei diese Forderung nach stärkerem Einfluss der Frau auf die einseitig männliche Politik Europas „aber nicht als Sehnsucht nach einem neuen Matriarchat" missverstanden werden dürfe: Dem männlichen Imperialismus hätten die Frauen den Pazifismus als „Ausdruck weiblicher Politik" entgegenzusetzen, wahre „Frauenpolitik" könne nichts anderes sein als Friedenspolitik69. Es wäre reizvoll, diese auf der Coudenhove'sehen „Hyperethik" basierenden, frauenpolitisch eher konservativen Ansichten mit der von ihm selbst stets betonten eigenständigen und gerade für die Organisation und PEU-Propaganda bedeutsamen Rolle Ida Roland-Coudenhoves zu vergleichen. Carl von Ossietzky jedenfalls bemerkte mit feinem Spott, dass

Ebd., S. 198, sprach Coudenhove die männliche Rolle des „Heldfen] und Revolutionary] der Welt" dem Erdteil Europa zu, Asien dagegen diejenige „der großefn] Mutter der Kultur und Weisheit", um aus dieser eigentümlichen Konnotation zu folgern, dass darum die Frau „in ihrem Wesen asiatischer als der Mann" sei. - S. PAUL, Die Monatsschrift Paneuropa (Anm. 8), S. 164 f. - Zu Coudenhoves Vision einer „internationalen und intersozialen Adelsrasse" s. Stephan MALINOWSKI, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003, S. 305 f. 68 Der einzige Artikel zum Thema „Die Frauen und Paneuropa" (Paneuropa 6 [1930], H. 1, S. 1-8) aus der Feder einer Frau stammt von der eher dem konservativen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung zuzurechnenden Dr. Vilma Kopp aus Stuttgart. Sie ist Autorin eines gedruckten Vortrages „Vom Kampf der Frau um sich selbst", Stuttgart 1925, worauf Dr. Irmingard Böhm (München) freundlicherweise hinwies. 69 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Die europäische Mission der Frau, in: Paneuropa 12 (1936), H. 1, S. 3-18. - S. zum Thema: Anita ZIEGERHOFER, Der Bau eines Frauenzimmers in Europa oder der langwierige Prozeß, das unsichtbare Geschlecht in Europa sichtbar zu machen, in: Recht, Geschlecht und Gerechtigkeit. Frauenforschung in der Rechtswissenschaft, hrsg. von Ursula Floßmann, Linz 1997, S. 35-66, hier: S. 44-48.

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die „paneuropäische Oberregie ... ja ganz in den Händen der weiblichen Linie" liege und „auf ihre Weise vollendet" sei 70 . Die „erste große Propagandaaktion unserer Bewegung", so schrieb Coudenhove 1931, sei von seinem Buch Paneuropa getragen worden, die zweite solle durch die Broschüre Paneuropa ABC „in die Massen getragen" werden 71 . Auf den zweiunddreißig Seiten wurde darin von „A. Was will Paneuropa?" bis „Z. Was ist die Paneuropa-Union?" Aufschluss über alle Fragen gegeben, die sich im Zusammenhang mit den politischen Zielen der PEU stellten. Mag man auch manches Mal mit Klaus Mann über die „zuversichtlich pointierte Simplizität" des hermetischen paneuropäischen Systems seufzen, so bietet doch bereits der zweigeteilte Rückenumschlag der Broschüre unten ein Bestellschein für die Zeitschrift Paneuropa, oben die PaneuropaWeltkarte - Anlass genug zu näherer Betrachtung. Paneuropa bleibt nicht auf den europäischen Kontinent beschränkt, sondern erstreckt sich über die Westhälfte Afrikas, den britischen vom (künftigen) paneuropäischen „Besitz" trennend: Europa in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts als „Herrin Afrikas" 72 ? Tatsächlich ist Coudenhoves viel kritisierter Verzicht auf einen sechsten Großraum seines Systems, nämlich „Panafrika", aufschlussreich nicht nur für seine Art neokolonialistischen Denkens, sondern auch für sein im Zeichen paneuropäischer Wirtschaftsideologie und europäischer Kulturmission stehendes Interesse an Afrika: Dessen Westhälfte „Eurafrika" (!) sollte gleichermaßen „Rohstoffreservoir" Europas wie (kolonial-)herrschaftsfreier Raum sein, in dem sich „die Europäer jenseits aller Nationalität als höhere Gemeinschaft fühlen" und in gemeinsamer, technikgestützter Anstrengung den Wert ihrer Kolonien zum Nutzen aller vervielfältigen könnten. Doch mit welchem Ernst Coudenhove auch seinen aufgeklärten Anspruch des „gemeinen Nutzens" betonte, der auf die lange Dauer auch für die afrikanische Bevölkerung gelten sollte - nicht Unterdrücker, sondern Befreier von Afrikas Elend, Hunger, Seuchen und Anarchie sollten die Europäer sein - , so wenig fand dieser Gesichtspunkt bei paneuropäischen Kolonialfachleuten selbst Aufmerksamkeit. Jede kulturmissionarische Anstrengung erschien als schmückendes Beiwerk für Europas gesicherten Profit an der Rohstoffquelle, dem Absatzmarkt und Siedlungsraum Afrika 73 . 70

Carl von OSSIETZKY, Coudenhove und Briand, in: Die Weltbühne 26 (1930), Nr. 22, S. 783-785. 71 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Europa-Konferenz, in: Paneuropa 7 (1931), H. 1, S. 1-5, hier: S.S. 72 Zitat: Klaus MANN, Rezension zu: „Europa erwacht!" 1934, in: Die Sammlung. Literarische Monatsschrift 2 (1935), Heft VIII, S. 442-444, hier: S. 443. - Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Afrika, in: Paneuropa 5 (1929), H. 2, S. 1-19; das vollständige Zitat des ersten Satzes lautet: „Europa ist die Tochter Asiens - die Mutter Amerikas - aber die Herrin Afrikas". 73 Neben dem erwähnten Afrika-Essay Coudenhoves besonders prägnant ausgeführt in:

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Ging es bei diesen Afrika-Vorstellungen eher um (pan)-europäische „Innenpolitik", so diente demgegenüber die Existenz und die politische Entwicklung der anderen „Großräume" Großbritannien, USA/Panamerika, UdSSR/ „Sowjet-Rußland" und Asien immer wieder zur argumentativen Erhöhung des Außendrucks auf Europas Einigung. „Den hebt Coudenhove also hervor, was das Zeug hält", schrieb Klaus Mann 1935 und sah „anti-sozialistisches Kreuzzugspathos" gegen die Sowjetunion walten 74 . An „Panamerika" nahm Coudenhove weniger in anti-kapitalistischer und schon gar nicht in anti-amerikanischer Weise Maß als vielmehr in pro-europäischer: Europa müsse wohl nach amerikanischem Vorbild seine wirtschaftliche und politische Struktur verändern, seine kulturelle Tradition dagegen wahren - nicht um Nachahmung, sondern um die authentische Interpretation des amerikanischen „pursuit of happiness" fur europäische Verhältnisse ging es im Paneuropa-Konzept. Ein in diesem Sinn geschriebener Leitartikel „Amerika und Paneuropa" vom Frühjahr 1926 erschien in einem PaneuropaThemenheft Amerika75. Erfolge und Erfahrungen seiner eben absolvierten Amerika-Rundreise präsentierend, führte Coudenhove „die überlegene föderative Organisation" Amerikas den Europäern zunächst als beispielgebend vor, um dann vor bloßer Übernahme zu warnen: Die europäische Föderation, eine Gemeinschaft von Nationen und nicht von Individuen wie Amerika, müsse „weitgehende Rücksicht" auf die sprachlichen und kulturellen DiffeCOUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa ABC (Anm. 28), S. 32 f.; ganz in diesem Sinne: Anton GALL, Europas Zukunft, in: Paneuropa 12 (1936), H. 10, S. 226-232; s. auch Alfred ZINTGRAFF, Die Besiedlungsfähigkeit Afrikas, in: Paneuropa 5 (1929), H. 10, S. 24-36; Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Reparationen und Kolonien, in: Paneuropa 8 (1932), H. 1, S. 7-11 (zu Kolonialmandaten für Deutschland); E. L. GUERNIER [Mitarbeiter von Marschall Lyautey], Afrika als Kolonisationsland, in: Paneuropa 11 (1935), H. 1, S. 7-11. - Zu weiteren Aspekten der paneuropäischen Afrikapolitik s. PAUL, Die Monatsschrift Paneuropa (Anm. 8), S. 190 f. 74 Zitat: MANN, Rezension zu: „Europa erwacht!" (Anm. 72), S. 443. - Der aufstrebenden Macht Japan galt die besondere Aufmerksamkeit der Paneuropa während der dreißiger Jahre, wobei einer asiatischen Monroe-Doktrin und der Nichteinmischung Europas in den japanisch-chinesischen Konflikt das Wort geredet wurde, da Europa nicht direkt berührt sei; s. Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Japans Monroe-Doktrin, in: Paneuropa 7 (1931), H. 9, S. 256-263; DERS., 1932, in: Paneuropa 9 (1933), H. 1, S. 12-19. Die „Kriegsgefahr in Ostasien" (Paneuropa 10 [1934], H. 3, S. 71-79) angesichts der japanischen Besetzung der Mandschurei und des damit zugespitzten russisch-japanischen Verhältnisses interpretierte Coudenhove als „Atempause" ftlr die Europäer: Vorübergehend „vom russischen Druck entlastet", sollten sie diese Zeit zum europäischen Zusammenschluss nutzen. S. auch DERS., Japans Alexanderzug, in: Paneuropa 14 (1938), H. 1, S. 5 9. Bereits mit dem Titel rief Coudenhove die Vorstellung vom Angriff eines kleinen Militärstaates gegen ein „morsches Riesenimperium" hervor. 75 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Amerika und Paneuropa, in: Paneuropa 2 (1925/26), H. 8/9, S. 3-14, hier: S. 4. Das Doppelergebnis seiner Propaganda- und Studienreise waren sowohl die Gründung des amerikanischen Hilfskomitees der PEU als auch Coudenhoves „Sammlung neuer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Argumente für die Notwendigkeit Paneuropas".

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renzen der europäischen Nationen nehmen. Auch der wirtschaftliche Vorsprung Amerikas dürfe Europa nicht „in seiner Kulturmission" beirren: „Die künftige Lebensform Europas darf weder amerikanisch, noch asiatisch, noch russisch sein: sondern europäisch"76. Aus diesem Grunde kam die ausschlaggebende Bedeutung für das Gelingen von Paneuropas Einigung der politisch-wirtschaftlichen Annäherung Frankreichs und Deutschlands zu. Das buchstabierte nicht nur das Paneuropa ABC von 1931, das lehrte nach Coudenhove der ganze Verlauf der Weltgeschichte: Da es „keine Erbfeindschaften zwischen Völkern" gebe und die Feinde von gestern heute Verbündete seien und umgekehrt, ja, da Erbfeindschaften nur so lange existierten, als sie geschürt würden 77 , müssten die französischen und deutschen Paneuropäer in unermüdlichem Kampf gegen die Nationalchauvinisten ihrer jeweiligen Nation der „Europäisierung" - dem friedlichen wirtschaftlich-kulturellen Aufschwung unter gleichzeitiger politischer Kooperation - ihrer beiden Länder den Weg bahnen; Frankreich als demokratischem Bannerträger der Menschenrechte und der Freiheit falle die führende Rolle zu 78 . Frankreich und insbesondere Briand, der am 5. September 1929 vor der zehnten Vollversammlung des Völkerbundes in Genf die viel zitierte und in ihrer Tragweite oft überschätzte Forderung nach une sorte de lien fédéral für die Staaten Europas formuliert hatte, beflügelten Coudenhoves kühnste Erwartungen - diese Worte gediehen in seiner euphorischen Einschätzung zum Impuls und zugleich zur Garantie für die Realisierung Paneuropas 79 . „Unsere Arbeit ist fruchtbar. Unsere Saat geht auf. Was wir seit Jahren wünschen und vorbereiten, tritt ein: ein großer Staatsmann und mit ihm ein großer Staat hat den Beschluß gefaßt, Paneuropa zu verwirklichen. [...] Die europäische Einigungsbewegung hat ihren Cavour und ihr Piémont gefunden" 80 . Diese hochgespannten Erwartungen wurden zunächst durch Stresemanns zurückhaltende Antwort gedämpft. Sein plötzlicher Tod 76

Ähnlich dazu COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa ABC (Anm. 28), S. 13 f. COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa ABC (Anm. 28), S. 19. 78 Alle Zitate aus: COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa (Anm. 4), S. 121. 79 JÍLEK, Paneurope dans les années vingt (Anm. 2), S. 411, 428 f.; ZIEGERHOFER, Paneuropa-Bewegung (Anm. 10), S. 585 ff.; BURGARD, Das gemeinsame Europa (Anm. 5), S. 165-191. 80 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Vor neuen Aufgaben, in: Paneuropa 5 (1929), H. 7, S. 8-13, hier: S. 8. - S. auch DERS., Briands Vorschlag und Deutschland, in: Ebd., S. 1-7; Coudenhove versucht darin, die deutsche Ablehnung durch ein Plädoyer für den beiderseitigen Vorteil aus einer europäischen Einigung zu entkräften; vgl. DERS., Herriot für Paneuropa, in: Paneuropa 5 (1929), H. 9, S. 1 ; DERS., Zum Vortrag Herriots, in: Ebd., S. 2-7. - DERS., Was will Briand?, in: Paneuropa 6 (1930), H. 1, S. 1-8; Briands Memorandum [Abdruck in deutscher Übersetzung], in: Ebd., S. 186-201. Briand ließ sein Memorandum am 17. Mai 1930 verschicken, der gleichzeitig der „Paneuropa-Tag" war und den Auftakt der Berliner Paneuropa-Kundgebung (17.-19. 5. 1930) bildete. In den Heften 8 und 9 erschienen die Regierungsantworten. 77

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wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Genf und die Folgen der Weltwirtschaftskrise bedeuteten dann schwere Rückschläge, die durch die Antwortnoten der europäischen Regierungen auf das Mémorandum sur l'organisation d'un régime d'union fédérale européenne und den verheerenden Ausgang der deutschen Reichstagswahlen noch empfindlicher trafen81. Mit dem Wissen des Jahres 1938 oder genauer: des Herbstes 1938, als die Flucht der Familie Coudenhove vor den Nationalsozialisten bereits ein halbes Jahr zurücklag, beurteilte Coudenhove die Initiative Briands zwar als „politisch erfolglos", aber als „wirksamste Propaganda fur die Europäische Idee und Bewegung". Immerhin seien die Weltpresse ebenso wie die Politiker und Parteien Europas während zweier Jahre gezwungen gewesen, sich intensiv mit der europäischen Idee auseinander zu setzen. Den schwersten Schlag für die PEU bedeutete deshalb nicht das Scheitern der französischen Regierungsinitiative, sondern „die Abkehr Deutschlands von Paneuropa durch den Anbruch des Dritten Reiches" 82 . „Was nun?", hatte Coudenhove schon im Februar 1933 die Paneuropa-Leser in tiefer Besorgnis über die Tatsache gefragt, dass in Hitler „der extremste Nationalist und Gegner Frankreichs" künftig die deutsche Politik bestimmen würde83. Während der folgenden beiden Jahre hielten Coudenhove und die Paneuropa zunächst noch an der programmatischen Selbstverpflichtung der PEU fest, dass europäische Regierungen einzig und allein nach ihrer „Einstellung zum europäischen Gedanken, nicht ihre[r] innenpolitische[n] Orientierung" zu beurteilen seien und so der italienische Faschismus als „ebenbürtige Tatsache" neben der französischen Demokratie zu gelten habe 84 . Doch 81 S. v. a. JÍLEK, Paneurope dans les années vingt (Anm. 2), S. 4 2 8 - 4 3 1 ; BURGARD, Das gemeinsame Europa (Anm. 5), S. 181-190, 2 0 2 - 2 3 0 zu den Reaktionen französischer und deutscher pro-europäischer Verbände und ihren Versuchen einer Neuorientierung. - Zu Österreich: Anita ZIEGERHOFER, Österreich und das Memorandum von Aristide Briand über die Einrichtung einer Europäischen Union von 1930, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 107 (1999), Heft 3 - 4 , S. 377-397, die das Memorandum wohl zu kritisch (von Anfang an eine „Totgeburt", S. 396) beurteilt. 82 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Kommen die Vereinigten Staaten von Europa?, Genf 1938, S. 40 f. - Das Buch wird von einem Zitat Victor Hugos eingeleitet und ist „dem großen Europäer" Aristide Briand gewidmet. 83 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Was nun?, in: Paneuropa 9 (1933), H. 2, S. 35-41, hier: S. 36 f. In seinem Leitartikel „Brüning - Hitler" (Paneuropa 7 [1931], H. 2, S. 3 5 - 4 5 ) hatte Coudenhove noch erklärt, Brüning werde siegen, weil Hitler sein Gegner sei. In „Brünings Sturz" (Paneuropa 8 (1932), H. 6, S. 160-163) erkannte Coudenhove das Menetekel bevorstehender welthistorischer Ereignisse; im Fall des Sieges der Nationalsozialisten prophezeite er das Ausscheren Deutschlands aus der antibolschewistischen in eine antidemokratische Einheitsfront - ein deutsch-russisch-italienisches Bündnis gegen Frankreich, das „die Zerreißung Europas" (S. 161) bedeute. - DERS., Der 30. Januar, in: Paneuropa 9 (1933), H. 2, S. 4 2 - 4 7 , hier: S. 42; vgl. auch DERS., Der deutsch-europäische Konflikt, in: Paneuropa 9 (1933), H. 8, S. 225-252, zu Frankreich: S. 234. 84 COUDENHOVE-KALERGI, Der 30. Januar (Anm. 83), S. 42; vgl. auch DERS., P a n e u r o p a und Faszismus, in: Paneuropa 9 (1933), H. 5, S. 129-133. Coudenhove schrieb dort

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im Gegensatz zum faschistischen Italien Mussolinis, dessen Unterstützung fur Paneuropa Coudenhove Ende Mai 1933 in Rom während einer persönlichen Begegnung gewinnen konnte, ließen sich im nationalsozialistischen Deutschland außer einem unterschiedlich begründeten Antibolschewismus keine Ansatzpunkte zugunsten paneuropäischer Politik entdecken: Coudenhove verachtete den Nationalsozialismus der Deutschen als absurde Mischung aus pangermanischer Großraumideologie, fanatischem Antisemitismus und „allein für die Tierzucht tauglicher" Rassenlehre. Gleichzeitig verkannte er dessen Gefahrenpotential und hielt sich zumindest noch 1934 überzeugt, dass „der deutsche Rasseglauben, geschaffen vom Franzosen Gobineau und vom Engländer Chamberlain, verkörpert vom dunkelhaarigen Propagandaminister Goebbels, eines Tages zu den historischen Curiosa einer europäischen Übergangsepoche zählen" werde 85 . Die politische Realität Deutschlands sah freilich anders aus, immer drängender klangen denn auch die Appelle der Paneuropa zur Wahrung des hohen europäischen Gutes Freiheit gegen staatlichen Despotismus, wie er sich in der zunehmenden Verfolgung und Unterdrückung der deutschen Juden zeigte 86 . Auf die rassistisch-antisemitischen Nürnberger Gesetze vom September 1935 reagierte die Paneuropa mit allgemeinen „Gedanken über Minderheitenrecht und überstaatlichen Rechtsschutz", deren Autor nur in einem kurzen Absatz konkret auf die „grotesken Rechtsfolgen" der „gegen die Juden gerichteten deutschen Gesetze" einging und von einer Stärkung des Haager Gerichtes Abhilfe erhoffte 87 . Coudenhove selbst bekräftigte zum dritten (S. 131), dass Paneuropa „neutral im Kampf zwischen Demokratie und Faszismus" sei: „Wir können nicht darauf warten, bis ganz Europa einheitlich faszistisch ist oder demokratisch, denn dies würde den europäischen Zusammenschluß auf Jahrzehnte vertagen. Darum muß Paneuropa so organisiert sein, daß es ein Nebeneinander von verschiedenartigen Verfassungsformen im Rahmen seines Staatenbundes duldet, mit gemeinsamer Außenpolitik, gemeinsamer Wirtschaftspolitik und gemeinsamer Militärpolitik. Auf diese Weise muß die innerpolitische Entwicklung Europas getrennt werden von seiner außenpolitischen: die paneuropäische Revolution von der faszistischen ". 85 In Europa erwacht! (1934) hatte Coudenhove noch geglaubt, die Völker Europas erkennten rechtzeitig den „ungeheuren Betrug" der Rassentheorien. - S. Coudenhoves Rückschau auf die „deutsche Spielart des Faschismus", den Nationalsozialismus, in: CouDENHOVE-KALERGI, Kampf um Europa (Anm. 1), S. 176 ff. 86 S. dazu Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Die deutsche Frage, in: Paneuropa 9 (1933), H. 3, S. 69-75; s. auch Coudenhoves Leitartikel „S. O. S." (ebd., S. 65-69), der mit dem Satz beginnt: „Europa treibt einem neuen Weltkrieg zu". - DERS., Europäisches Menschenrecht, in: Paneuropa 9 (1933), H. 4, S. 97-103 (mit angefugtem Abdruck der „Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers" vom 26. 8. 1789!). Vgl. PAUL, Die Monatsschrift Paneuropa (Anm. 8), S. 182. 87 Harald MANKIEWICZ, Gedanken zum Minderheitenrecht und zum überstaatlichen Rechtsschutz, in: Paneuropa 11 (1935), H. 9, S. 294-298. - Vgl. COUDENHOVE-KALERGI Europäisches Menschenrecht (Anm. 86); und Erich SCHIEFFER, Zur Frage der Anerkennung der neuen deutschen Ehegesetze in den übrigen europäischen Ländern, in: Paneuropa 12 (1936), H. 5, S. 128-130. - S. zur deutschen Politik: Richard Nikolaus Graf Cou-

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Mal nach 1929 und 1935 seine dezidierte Ablehnung des Antisemitismus mit dem im Dezemberheft der Paneuropa publizierten Vorabdruck seines Vorwortes zu Judenhaß!*8. Die Haltlosigkeit der noch 1933 von Coudenhove angemahnten, von der Innenpolitik abstrahierten Beurteilung faschistischer Regierungen führte schließlich zu einem erbitterten Kampf der Paneuropa gegen Hitler-Deutschland: „In Paneuropa kann es Monarchien neben Republiken geben ... Was es aber nicht geben kann, sind Staaten, die kein Menschenrecht anerkennen" 89 . Bis an die Wende der dreißiger Jahre diente die vielgescholtene Weltorganisation Völkerbund als Basis der programmatischen „freundschaftlichen Zusammenarbeit" Paneuropas „mit den übrigen Kontinenten" - und als internationales Forum für paneuropäische Politik: Den Völkerbund „nicht ersetzen, sondern ergänzen", lautete die Devise. Die paneuropäische Bewegung forderte sowohl eine - nach Art. 21 der Völkerbundsatzung eigentlich ausgeschlossene - „regionale" Gruppe Europa als auch eine europäische MonroeDoktrin als die zwei vermeintlichen Voraussetzungen für den Beitritt Amerikas zum Völkerbund. Nicht 1930 mit dem Scheitern des Briand-Memorandums, sondern das Jahr 1932 mit der misslungenen Abrüstungskonferenz und Japans völkerrechtswidriger Proklamation seines Protektorats Mandschukuo geriet in der Paneuropa zum annus horribilis des Völkerbundes: Von der „Agonie des Völkerbundes" schrieb Coudenhove, dessen Aufbau verfehlt und dessen globaler Anspruch gescheitert sei, weil die „kontinentale Phase [i. e. die Einigung Europas] sich nicht überspringen" lasse90. Als aber das folgende Jahr 1933 mit dem Beginn rücksichtsloser deutscher Revisionspolitik, dem Austritt Japans aus dem Völkerbund, dem Debakel erst DENHOVE-KALERGI, Wandlungen des Dritten Reiches, in: Paneuropa 11 (1935), H. 2, S. 26-39. 88 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Der Rassenmythos, in: Paneuropa 11 (1935), H. 10, S. 312-318; DERS., Judenhaß!, Wien 1937. - Vgl. die Vorworte zur 3. Aufl. („Antisemitismus nach dem Weltkrieg", 1929) bzw. 4. Aufl. („Judenhaß von heute", 1935) zur 1901 in Berlin erschienenen Dissertation seines Vaters Heinrich Coudenhove-Kalergi Das Wesen des Antisemitismus, einer scharfen Kritik der Theorien des Rasse-Antisemitismus. 89 Zitat in COUDENHOVE-KALERGI, Vereinigte Staaten von Europa (Anm. 82), S. 20 f. - S. DERS., Zur Hitler-Rede [vom 30. 1. 1937], in: Paneuropa 13 (1937), H. 2, S. 40-42; Druck und Kommentar der Rede in: Max DOMARUS, Hitler. Reden und Dokumente 1932-1945, Bd. 1, Würzburg 1962, S. 665-678. - Vgl. auch den eindrucksvollen Leitartikel von COUDENHOVE-KALERGI Kreuz oder Hakenkreuz, in: Paneuropa 13 (1937), H. 6, S. 153161, der jeden Kompromiss des Christentums der Paneuropäer mit dem Nationalsozialismus ausschloss: Unvereinbar sei es „mit der Rassentheorie, unvereinbar mit der Staatstotalität, unvereinbar mit dem parareligiösen Führer-Kult, unvereinbar mit dem nationalsozialistischen Sittengesetz". 90 COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa ABC (Anm. 28), S. 12; DERS., Agonie des Völkerbundes, in: Paneuropa 8 (1932), H. 7, S. 205-211, hier: S. 211. - Zu der Entwicklung 1930-1932 in Kürze ZLEGERHOFER, Paneuropa-Bewegung (Anm. 10), S. 585 f.

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der zweiten Abrüstungs-, dann der Wirtschaftskonferenzen nach Ansicht Coudenhoves das völlige Scheitern der politischen Weltordnung von 1919 offen zutage gebracht hatte, übergab er im Januar 1934 seinen eigenen „Coudenhove-Kalergi-Plan zur Reform des Völkerbundes" im Zentralorgan der PEU Paneuropa der Öffentlichkeit 91 . An die Stelle des ersten, zur Einigung Europas zu universalen, zur Anerkennung als Weltinstanz zu europäischen Völkerbundes wollte er einen reorganisierten Völkerbund mit ausdrücklich pazifistischer Fundierung treten lassen, dem die Konstituierung Paneuropas voranzugehen und die paneuropäische Gliederung der Welt in „British Empire-Sowjetunion-Panamerika-Ostasien-Paneuropa" zugrunde zu liegen hätte. Bis dahin gebe es trotz der ,,ungenügende[n] Friedenssicherung" des Völkerbundes in Europa zur Weiterarbeit mit dem bestehenden Völkerbund als „einziger europäischer Friedensorganisation" keine Alternative; seine vorzeitige Auflösung bedeutete internationale Anarchie und „sicheren Krieg". Immer stärker rückte die Paneuropa die gute Zusammenarbeit der PEU und der Völkerbundliga in den Vordergrund: Es gelte heute überall, „das Trennende zurückzustellen gegenüber dem Einenden, um gemeinsam darüber zu wachen, daß Europa ein neuer Weltkrieg erspart" bleibe 92 . Coudenhove war 1925 mit der paneuropäischen Bewegung angetreten, die nationale mit der europäischen Idee zu versöhnen und Europa zu einem Staatenbund gleichberechtigter, freier und friedlicher Nationen zu machen. Der Weg zu diesem Ziel erfuhr in den dreißiger Jahren allerdings zwei merkliche Korrekturen. Der von Coudenhove skizzierte Zeitraum „Paneuropa nach Briand (1932-1934)" markierte den ersten Kurswechsel; im Gefolge des Basler Paneuropakongresses von 1932 wurden die politischen Einigungsbestrebungen von einer paneuropäischen „Wirtschaftsoffensive" abgelöst, die 91

Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Coudenhove-Kalergi-Plan zur Reform des Völkerbundes, in: Paneuropa 10 (1934), H. 1, S. 1-7; in seinen sieben Vorschlägen setzt Coudenhove u. a. den Kellogg- an die Stelle des Völkerbundpaktes, da er „Verzicht auf Krieg" und auf die „praktisch undurchführbaren" interkontinentalen Sanktionen bedeute, kein Bestandteil der Friedensverträge sei und die Unterschriften fast aller Staaten der Welt vereine. Weitere Vorschläge gelten der Reorganisation des Völkerbundes und seiner Organe im föderalistischen Sinne, der Liquidierung der Völkerbundmandate und der Konstituierung eines europäischen Staatenbundes. - In seinem Artikel „Zusammenbruch des Internationalismus" (Paneuropa 10 [1934], H. 1, S. 8-17) sprach er das „Debakel des Völkerbundes" von 1933 als eines der drei Symptome für das Scheitern des Internationalismus an. 92 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Donaueuropa - Paneuropa - Völkerbund, in: Paneuropa 12 (1936), H. 3, S. 61-64, hier S. 64. - Selbst nach dem Austritt Italiens aus dem Völkerbund bestand Coudenhove auf dem Bekenntnis Paneuropas zur Völkerbundidee, „die es nie bekämpft, aber stets richtig eingeschätzt" habe: DERS., Der Völkerbund ohne Italien, in: Paneuropa 14 (1938), H. 1, S. 1-4. - In „Völkerbund - oder Abendland?" (Paneuropa 14 [1938], H. 2, S. 35-40) traf Coudenhove eine klare Entscheidung zugunsten der „Einigung des Abendlandes", also des kulturellen Kontinents im Unterschied zu dem vorher angestrebten wirtschaftlich-politischen Bündnis.

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propagandistisch und inhaltlich von vier paneuropäischen Wirtschaftskonferenzen der Jahre 1933-1935 getragen wurde93. Doch auch diese von großem Enthusiasmus beflügelten Versuche zur schrittweisen Verwirklichung eines gesamteuropäischen Wirtschaftssystems gerieten trotz massiver Unterstützung seitens der österreichischen Regierung bald ins Stocken. Die „Hauptfragen" europäischer Wirtschaft (Agrarprobleme, Arbeitslosigkeit, Rohstoffe, Kredite und Währung) blieben vor dem Hintergrund der weltwirtschaftlichen Strukturkrise unlösbar. Da zwang Coudenhove die Paneuropa und damit auch die PEU mit gleicher Verve zu einer neuerlichen, von der politischen Entwicklung in Deutschland und der zunehmenden Gefährdung der Souveränität Österreichs motivierten Neuorientierung: Seit 1936 schrieb sich die Paneuropa die kulturpolitische Einigung Europas und insbesondere die „Rettung der abendländischen Kultur vor ihrem drohenden Untergang" auf ihre Fahnen - fast eine (freilich nicht mit Reichsträumerei verbundene) Variante der europäischen Verständigungsidee, mit der Rohan 1924 angetreten war 94 . An die Stelle der gewohnten historisch-philosophischen Essays - über Einigungsprojekte in der Geschichte Europas, über Esperanto, über „Basic English" oder mehrsprachige Erziehung - , mittels derer die Paneuropa ihrer Leserschaft eine sehr allgemeine kulturpolitische Zielsetzung auf der Basis der historischen Kulturgemeinschaft Europas vorgeführt hatte, traten unter dem Eindruck von Hitlers offenem politisch-ideologischen „Krieg gegen 93

COUDENHOVE-KALERGI, Europa erwacht! (Anm. 1), S. 145. - Mit der Paneuropäischen Wirtschaftskonferenz Ende 1933 begann die „paneuropäische Wirtschaftsoffensive" zur „Überwindung der Krise in Europa und de[m] Zusammenschluß aller europäischen Staaten zu einem wirtschaftlichen Großraum"; Paneuropa 9 (1933), H. 9/10, S. 253-316. - Die II. Paneuropa-Wirtschaftskonferenz vom Mai 1934 erbrachte die Einrichtung der Kommissionen für Handels- und Agrarfragen, Währung, Kredit, Verkehr, Arbeitsbeschaffung, Rechtsangleichung; s. Paneuropa-Wirtschaftshefte 10 (1934) H. 6/7. Zu dem paneuropäischen „ökonomischen Mitteleuropa" auf der Basis einer Donau-Entente oder „Donaueuropas": COUDENHOVE-KALERGI, Donaueuropa - Paneuropa - Völkerbund (Anm. 92), S. 61-64. Mit der in Wien stattfindenden Novembertagung 1934 schloss „die erste Etappe" der paneuropäischen Wirtschaftsbewegung; Paneuropa-Wirtschaftshefte 10 (1934), H. 9 und 10, S. 157-187. - Dem IV. Paneuropa-Kongress vom Mai 1935 ging die Gründung der Paneuropäischen Wirtschaftszentrale in Wien voraus, die eine „engere europäische Zusammenarbeit durch wechselseitige Anpassung der agrarischen und industriellen Erzeugung" verbürgen sollte; Paneuropa 11 (1935), H. 6/8 - Vgl. ZIEGERHOFER, PaneuropaBewegung (Anm. 10), S. 589 f. 94

Die neue „Rangordnung" der Ziele in Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Die Europäische Schweiz, in: Paneuropa 13 (1937), H. 7, S. 187-189. - Es handelt sich hierbei um einen Vorabdruck von Coudenhoves Vorwort zu einer 1937 in Zürich und Wien veröffentlichten Broschüre Schweizer National- und Ständeräte zum Programm der Paneuropa-Union/L'opinion de l'Union Paneuropéenne. - Zu Rohans Europäischer Revue s. PAUL, Konservative Milieus (Anm. 22); Guido MÜLLER, Von Hugo von Hofmannsthals „Traum des Reiches" zum Europa unter nationalsozialistischer Herrschaft - Die „Europäische Revue" (1925-1936/44), in: Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien, hrsg. von Hans-Christof Kraus, Berlin 2003, S. 155-186.

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Europa" Mahnrufe zum Schutz der „Mutter Europa"95: Der europäische Geist und der europäische Mensch, die ganze europäische Kulturgeschichte legten Zeugnis ab für die Existenz der abendländischen Kulturgemeinschaft. Ihr drohe die Zerstörung „von innen" - die „Schleusen der Unterwelt sind geöffnet: die Barbarei steht vor den Toren der Kultur". Coudenhove und mit ihm die Paneuropa verfochten jetzt ein geistig-politisch akzentuiertes, aber kämpferisches Konzept des christlichen Abendlandes paneuropäischer, also philosophisch-hyperethischer Prägung: „Paneuropäisch sind Liberalismus und Nationalismus, Individualismus und Sozalismus. Paneuropäisch ist der Kampf gegen Klerikalismus und Antiklerikalismus und zuletzt der Kampf zwischen Demokratie und Fascismus"96. Bei der großen Wiener Paneuropa-Kundgebung „Abendländische Kulturgemeinschaft" vom März 1937 vermengten sich dann Coudenhoves österreichischer Patriotismus mit paneuropäisch-abendländischer Kulturpolitik zu der schillernden Melange „Oesterreichs deutsche Sendung im Abendland"97. Gemeint war, was Coudenhove anlässlich der Konfiskation des Vermögens 95

L. WOHLEB, Ein Paneuropa-Entwurf aus dem XVIII. Jahrhundert [Joh. Michael Loens, Von einem beständigen Frieden in Europa], in: Paneuropa 4 (1928), H. 6, S. 14-18; Oscar EWALD, Gibt es einen europäischen Menschen?, in: Paneuropa 5 (1929), H. 4, S. 17-21; Arthur WATTS, „Basic English". Die Universalsprache, in: Paneuropa 8 (1932), H. 2, S. 56-60. - Zwischen 1933 und 1935 erschienen kulturhistorische und -philosophische Artikel von H. Houwens Post [zum Abbé de Saint-Pierre], Salvador de Madariaga [zur kulturellen Einheit Europas], Ernst Benedikt [zum Wiener Kongress 1814/15 und zum Fürsten de Ligne], Hans von Landegg [Kreta als Wiege Europas], Alfred Kring [Sprachgrenzen] und Leo Matthias [Abdruck: Franz Baratier erzieht seinen Sohn]; ausführliche Angaben in PAUL, Die Monatsschrift Paneuropa (Anm. 8), Anm. 67. 96

Zitate: Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Europäische Dekadenz?, in: Paneuropa 13 (1937), H. 1, S. 15; DERS., „Europa erwacht!" (Anm. 1), S. 280 f. - Zum paneuropäischen Konzept des geistigen Europa s. Die Reden während der PaneuropaKundgebung „Der europäische Geist" [Wien, Haus der Bundesgesetzgebung, 17. 5. 1935] als Teil des IV. Paneuropa-Kongresses, in: Paneuropa 11 (1934), H. 6/8, S. 248-261. DERS., Paneuropa und christliches Abendland: Kreuz oder Hakenkreuz, in: Paneuropa 13 (1937), H. 6, S. 153-161; Heinrich MATAJA [ | 1935], Abendländische Kultureinheit, in: Paneuropa 13 (1937), H. 1, S. 17-21; zu dem ehemaligen christlich-sozialen Bundesminister des Äußeren (1924-26) Mataja als spiritus rector sowohl der Paneuropa-Kundgebung „Abendländische Kulturgemeinschaft" (Wien, 1 . 3 . 1937) als auch der Paneuropäischen Schulkonferenz (Wien, 25.-27. 11. 1937) s. Paneuropa 13 (1937), H. 2, S. 60 f. 97

Kundgebung Abendländische Kulturgemeinschaft [Wien, Großer Konzertsaal, 1.3. 1937], in: Paneuropa 13 (1937), H. 3, S. 65-90. - Das Grußwort des österreichischen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas hob die Rolle Österreichs als „Schutzwehr Europas und Bannerträger abendländischer Kulturgemeinschaft" hervor; Fürstin Fanny Starhemberg sprach über „Die Mission der österreichischen Frau in der abendländischen Kulturgemeinschaft", Coudenhove über „Die Wiedergeburt des Abendlandes", der ehemalige österreichische Justizminister Hans von Hammerstein-Equord über „Oesterreichs deutsche Sendung im Abendland" und Pater Friedrich Muckermann S. J. über das von Coudenhove vorgeschlagene Thema „Roma aeterna". Coudenhove zu Muckermann in COUDENHOVEKALERGL, Kampf u m Europa (Anm. 1), S. 198 f.; MUCKERMANN, Im Kampf (Anm. 15), S. 643 f.

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der deutschen PEU durch die nationalsozialistischen Machthaber niederschrieb: der Konflikt zwischen Österreich und Deutschem Reich, die Diskrepanz zwischen nationalsozialistischer und paneuropäischer Deutschlandpolitik, die schon in der Wahl Wiens als Mittelpunkt der Paneuropa-Bewegung ihren Ausdruck gefunden hatte, nämlich altösterreichisch-abendländisches gegen preußisch-imperialistisches Deutschtum 98 . Noch Ende des gleichen Jahres 1937 fand wiederum in Wien eine bereits 1935 angeregte PaneuropaKonferenz mit den besonderen Schwerpunkten Schul- und Pressewesen statt". Paneuropa entdeckte die Jugend Europas als viel versprechende Hoffnungsträger paneuropäischen Verständigungswillens wieder: Nicht „bloß einer Bildung des Geistes, sondern einer Bildung des Herzens, der Persönlichkeit 100 " sollte durch internationalen Austausch, durch Revision der Lehrmittel, durch Lehrerbildung und Bildungspolitik Vorschub geleistet werden. Die Lehrer sollten europaweit ihre Schüler aneinander interessieren, „europäischen Patriotismus" pflanzen und so die martialische Saat totalitärer Ideologien im Keim ersticken. Was die Schulen Europas als Multiplikatoren europäischen Gedankenguts für die Jugend zu leisten bestimmt waren, galt in ähnlicher Weise für die europäischen Journalisten gegenüber ihren Lesern: Sie sollten mit objektiver „europäischer" Berichterstattung chauvinistischer Hasspropaganda den Weg verlegen, junge Europäer gegen nationalistische Ideologie immunisieren und die älteren vom Wert europäischer Zusammenarbeit überzeugen. Und dass gerade den Massenmedien diese Überzeugungsarbeit gelingen würde, daran hatte Coudenhove nicht die geringsten Zweifel: „Alle großen Wandlungen der Weltgeschichte vollziehen sich zunächst in der öffentlichen Meinung" 101 . *

98

Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa-Union Deutschland, in: Paneuropa 13 (1937), H. 7, S. 185-187. - Vgl. Paul Michael LÜTZELER, Paris und Wien oder der kontinentale Grundkonflikt. Zur Konstruktion einer multikulturellen Identität in Europa, in: Europas Identitäten. Mythen, Konflikte, Konstruktionen, hrsg. von Monika Mokre [u. a.], Frankfurt a. M. 2003, S. 36-54, hier: S. 44. 99 Ankündigung der in drei Konferenzen (Schule, Presse, Wirtschaftszentrale) untergliederten Paneuropa-Konferenz (Wien, 25.-27. 11. 1937) in: Paneuropa 13 (1937), H. 6, S. 161. - Vgl. IV. Paneuropa-Kongress Wien (16.-19. 5. 1935), in: Paneuropa 11 (1935), H. 6/8. - Bei der Einrichtung zweier neuer, erstmals nicht-wirtschaftspolitischer Kommissionen hatte die Einsicht eine Schlüsselrolle gespielt, dass „eine der Hauptursachen der gegenwärtigen Zerklüftung Europas in der Fremdheit" zu suchen sei, mit der sich die europäischen Völker „trotz der raumüberwindenden Technik" gegenüberstünden. - Zu den Resolutionen der Kommissionen I „Geistige Zusammenarbeit" und II „Einfuhrung des Paneuropa-Gedankens in den Schulen" s. Paneuropa 11 (1935), H. 6/8, S. 161 ff. 100 COUDENHOVE-KALERGI, Europa erwacht! (Anm. 1), S. 287. 101 Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropäische Schulkonferenz, in: Paneuropa 13 (1937), H. 7, S. 207-210, hier S. 207.

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Coudenhove lancierte die Monatsschrift Paneuropa 1924 als „Organ der Bewegung", das er als moderne Waffe seines friedlichen Propagandafeldzuges für die politische Einigung Europas verstand. Während der vierzehn Jahrgänge ihres Erscheinens diente jeder einzelne Artikel, jeder Kommentar und jeder Aufruf in der Paneuropa dazu, die Europäer aller Nationen ebenso von der Richtigkeit und Dringlichkeit der Idee wie von der Wichtigkeit des Projektes, dem Gewicht der Bewegung und schließlich der Bedeutung von „Monsieur Paneurope" und seinem Einfluss auf breite gesellschaftliche Kräfte und staatliche Organe zu überzeugen. Nicht alle Europäer, doch Teile der europäischen Öffentlichkeit erreichte die Paneuropa in der Zwischenkriegszeit tatsächlich. Nicht oft propagierte die Paneuropa europäischen Enthusiasmus so erfolgreich wie zu Zeiten der Initiative Briands, doch lernte sie mit ihren - zuweilen allzu unbekümmert ins Positive gewendeten - publizistisch-propagandistischen Niederlagen geschickt umzugehen und sich bei allen Kurswechseln das Publikum treu zu erhalten. Dabei bestimmte Coudenhove in jeder seiner vielen Eigenschaften als Verleger, Chefredakteur, Leitartikler und als Präsident der PEU Konzept und Themenschwerpunkte der Paneuropa so umfassend, dass die inhaltliche Analyse der Zeitschrift Paneuropa immer wieder auf ihn und die PEU zurückverwiesen wird. Die „Geschichte dieser Zeitschrift ist, im Grunde genommen, die Geschichte der paneuropäischen Bewegung" - schrieb die Paneuropa prophetisch zu ihrem zehnjährigen Bestehen im Jahre 1934102. Wie die paneuropäische Bewegung, musste auch die Paneuropa im „Kampf zwischen Demokratie und Fascismus" im März 1938 zunächst kapitulieren: Gegen die rechten Massenparteien in den europäischen Nationalstaaten kam sie kaum an, der aggressiven nationalsozialistischen Diktatur musste sie weichen - nicht immer ist die Feder stärker als das Schwert.

Summary Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi launched the monthly journal Paneuropa in April 1924 as the "voice" of the Paneuropean Movement for the political unity of Europe (of which he was also the founder). During the fourteen years of the journal's existence, each line published in Paneuropa was devoted to the cause of impressing upon Europeans of all nations the righteousness of the idea and the importance of Coudenhove's project and the significance of Monsieur Paneurope himself and his influence on social 102

10 Jahre „Paneuropa", in: Paneuropa 10 (1934), H. 3, S. 65-69, hier: S. 65.

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forces and state institutions. Paneuropa did, in fact, reach considerable portions of the European public between the wars. Although seldom able to instigate European enthusiasm so successfully as during Briand's initiative, Paneuropa learned to handle its journalistic and propaganda defeats skillfully, while retaining a loyal audience through each change of course. In his numerous capacities as its publisher, editor-in-chief, leading writer and as president of the PEU, Coudenhove so completely determined the concept and central theme of the journal that analyses of Paneuropa's content are consistently traced back to him and the PEU. The history of the journal was analogous to the history of the Paneuropean Movement: like the movement, Paneuropa was forced to capitulate in the "battle between Democracy and Fascism" (Coudenhove-Kalergi) in March 1938. Pitted against the right-wing mass parties in the European nation states, the movement had no chance; it was forced to give way to the aggression of the National Socialist dictatorship - not always is the pen mightier than the sword.

Europa mit chinesischen Augen Die politische Lage Deutschlands beim Übergang zum Hitler-Regime im Spiegel der chinesischen Presse* Von

Kai Hu Mitte 1932 bis Anfang 1933 - in der deutschen Geschichte ist das eine denkwürdige Epoche. Das Jahr 1932 wurde als das „Jahr der Wahlen" bezeichnet1, weil die Deutschen in diesem Jahr insgesamt 13mal zu den Wahlurnen geschickt wurden, darunter zu zwei Reichstagswahlen und zwei Wahlgängen zur Bestimmung des Reichspräsidenten. Nimmt man die ersten drei Monate des Folgejahres hinzu, belaufen sich die Reichstagswahlen auf drei. Nach dem Sturz des Kabinetts Brüning wurden Franz von Papen, Kurt von Schleicher und Adolf Hitler nacheinander zum Reichskanzler ernannt, von denen zwei aber schon nach wenigen Monaten zurücktreten mussten. Diese einzigartigen Phänomene im Prozess der politischen Umwälzung Deutschlands haben selbstverständlich die Aufmerksamkeit aller Welt, mit Einschluss Chinas, auf sich gezogen. Die chinesischen Intellektuellen, die durch die Analyse Europas und des Kapitalismus einen Ausweg fur China finden wollten oder sich um den Weltfrieden und die Zukunft des chinesischen Volks sorgten, richteten ihr Augenmerk nachhaltig auf die politische Unruhe in Deutschland. „Zahlreiche Beiträge sind diesem Thema gewidmet worden, weil in der deutschen Politik der Schlüssel zum Begreifen der Europapolitik zu finden ist" 2 . Sieht man die damaligen Zeitungen in China durch, so findet man, dass es in dem zur Diskussion stehenden Zeitraum eine Menge Artikel über Deutschland gibt. Wegen des parallel laufenden Kriegs zwischen China und Japan stehen selbstverständlich Artikel über Japan an der Spitze der Häufigkeitsskala. Aber auf

* Die zitierten chinesischen Presseartikel werden in deutscher Übersetzung wiedergegeben. 1 In: Shen Bao Yue Kan, Bd. 1, Nr. 6 vom 15. Dezember 1932, S. 143. Shen Bao Yue Kan war in jener Zeit eine universale wissenschaftliche Zeitschrift, fur die viele angesehene Kritiker, Wissenschaftler und Schriftsteller schrieben. Diese Zeitschrift erschien 1932 zum 60. Jubiläum der Gründung der Shen Pao. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, über nationale und internationale Politik, Wirtschaft und Kultur zu berichten bzw. sie zu analysieren. 2 In: Shen Pao, vom 20. Juni 1932. Shen Pao war eine der ältesten und renommiertesten Zeitungen vor der Gründung der Volksrepublik in China. Veröffentlicht wurde sie seit April 1872.

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Japan folgte schon die politische Lage Deutschlands, die sowohl von den chinesischen Journalisten als auch von Politikern analysiert wurde. Im Folgenden werden die Kommentare in der damaligen chinesischen Presse untersucht. Dies dient einem doppelten Zweck: Erstens wird ein Überblick der chinesischen Kommentare zur politischen Lage Deutschlands gegeben; zweitens werden die Ursachen des gewaltigen Interesses der damaligen chinesischen Beobachter an der deutschen Politik herausgearbeitet.

I. Analyse der politischen Lage Deutschlands durch die chinesischen Kommentatoren 1. Die Juli-Wahlen und die Entwicklung der deutschen Politik Selbstverständlich rief die Reichstagswahl am 31. Juli 1932 ein gewaltiges Interesse der Presse aller Länder, einschließlich der Chinas, an der politischen Lage Deutschlands hervor, weil sich die Machtverhältnisse in Deutschland dem Wahlergebnis entsprechend grundlegend verändert hatten. Bei der Analyse der Juli-Wahlen beschäftigten sich die chinesischen Kommentatoren vor allem mit zwei Phänomenen: dem Erfolg der NSDAP bzw. der KPD und der Entwicklung der deutschen Politik nach der Wahl. Bereits vor den Juli-Wahlen versuchten einige chinesische Kommentatoren, die politischen Unruhen in Deutschland zu analysieren und das Wahlergebnis zu prognostizieren, wobei sie mehr oder weniger das Wahlergebnis in Preußen vom 24. April zugrunde legten. Es wurde vermutet, dass die NSDAP bei der Reichstagswahl einen großen Erfolg verbuchen und zur stärksten Partei im Reichstag aufsteigen werde. Doch eine absolute Mehrheit dürfe sie nicht erwarten. Ein von der NSDAP gebildetes Kabinett werde nicht zustande kommen, selbst wenn sie sich mit den anderen rechten Parteien zusammenschlösse. Bei der SPD ahnten die chinesischen Kommentatoren hingegen, dass sie ihre Position als stärkste Partei im Reichstag verlieren würde. Positive Bemerkungen widmeten die Chinesen auch der KPD, die im politischen Leben Deutschlands ständig an Bedeutung gewann 3 . 3

Vgl. XIAO Shuyu, Deutschland in der politischen Umwälzung, in: Xin Chuang Zao, Bd. 1, Nr. 5 vom 16. Juni 1932. Spekulationen über die Sitzverteilung der Parteien im Reichstag nach den Juli-Wahlen waren auch in einigen Zeitschriften und Zeitungen zu finden. Siehe z. B. die folgende Tabelle, in der die Prognosen zweier unterschiedlicher Quellen gezeigt werden: NSDAP

SPD

KPD

Z.+B.

DNVP

Zhang

220

120-130

77

93

35

Daily N e w s

232

112

70

92

33

Z.+B. = Die gesamte Sitzzahl von Zentrum und Bayerischer Volkspartei D N V P = Deutschnationale Volkspartei

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Vergleicht man die Prognosen der chinesischen Kommentatoren mit dem Wahlergebnis, sieht man, dass sie im Großen und Ganzen bestätigt wurden. Tatsächlich erzielte die NSDAP wiederum sensationelle Zuwächse, indem sie 37,4 % der abgegebenen Stimmen erhielt und mit 230 Sitzen zur stärksten Fraktion im Reichstag aufstieg. Im Vergleich zur letzten Wahl am 14. September 1930 hatte die NSDAP mehr als die doppelte Zahl von Sitzen im Reichstag gewonnen. Die SPD blieb mit 21,5 % der Gesamtstimmen immer noch zweigrößte Partei im Reichstag. Die KPD war mit 89 Mandaten die drittstärkste Partei. Neben dem raschen Aufstieg der NSDAP, der bereits in aller Munde war, wurde der Entwicklung der KPD in China große Aufmerksamkeit geschenkt. Die Entwicklung der KPD wurde von dem Journalisten der Kuowen Weekly als merkwürdigstes Phänomen der Reichstags wähl eingestuft 4 . Doch die größte Begeisterung kam - kaum überraschend - von den chinesischen Kommunisten, die den Stimmenzuwachs der KPD trotz aller Unterdrückung durch die Regierung als Riesenerfolg der Arbeiterklasse bezeichneten. So lautet der Kommentar in Hong Qi Zhou Bao, dem Organ der Kommunistischen Partei Chinas: „Obwohl die faschistische Diktatur der Regierung Papen den Wahlkampf der KPD mit aller Härte unterdrückt und gestört hat, obwohl die Nationalsozialisten unter Hitler schamlos selbstherrlich urteilende Propaganda betrieben und Terrormaßnahmen ergriifen haben, obwohl die Sozialdemokraten nicht nur Verrat an der Revolution begangen haben, indem sie versuchten, die rote Einheitsfront zu sabotieren und die Arbeiterklasse zu spalten, sondern auch den betrügerischen Slogan aufgebracht haben, dass ,Papen allerdings besser als Hitler ist', hat die deutsche Arbeiterklasse zweifellos großes Vertrauen und Unterstützung gewonnen, indem die deutschen Arbeiter tapfer kämpfen und die rote Einheitsfront ganz so funktioniert hat, wie es sich geziemt" 5 .

Der Grund, warum die KPD trotz großer Schwierigkeiten an politischem Einfluss gewinnen konnte, liegt laut Shen Pao daran: „Je größer die Unterdrückung, desto stärker der Unterdrückte"6. Die Gewaltmaßnahmen der Regie-

Zhang = Die vermutete Zahl im Beitrag von ZHANG Liangren, Die politische Lage Deutschlands nach dem Sturz Brünings, in: Xin Chuang Zao, Bd. 1, Nr. 6 vom 1. Juli 1932. Daily News = Die vermutete Zahl in The Central Daily News vom 1. August 1932. Diese Zeitung war damals das Parteiorgan der Kuomingtang unter der Leitung von Tschiang Kai-schek. 4 In: Kuowen Weekly, Bd. 9, Nr. 31 vom 8. August 1932. Die Hauptaufgabe dieser Zeitschrift bestand in der Entlarvung der Invasion des japanischen Imperialismus. 5 Hui SU, Die politische Lage Deutschlands nach der Reichstagswahl, in: Hong Qi Zhou Bao, Nr. 50 vom 10. September 1932, S. 49 f. Hong Qi Zhou Bao war das damalige Parteiorgan der KPCh, zu dessen Autoren auch die fuhrenden Persönlichkeiten der KPCh wie Mao Zedong und Liu Shaoqi gehörten. 6 Das Wahlergebnis und das Kabinett Papens, in: Shen Pao vom 3. August 1932.

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rung zur Beschränkung und Vernichtung der kommunistischen Revolution hätten ihr Ziel verfehlt. Hingegen wendeten sich immer mehr Menschen wegen der ständigen Verschlechterung der Lebenslage und der Unfähigkeit der Regierung, die Rezession einzudämmen, der von der Regierung als „Linksextremismus" bezeichneten KPD zu. Was die zukünftige deutsche Politik betraf, waren viele chinesische Kommentatoren der Meinung, dass die Reichstagswahl der deutschen Politik nicht aus der Sackgasse helfen könne. Da keine Partei mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhalten hatte und eine Koalition einiger großer Parteien unmöglich war, blieben die Aussichten der deutschen Politik verschwommen. Dong Zhixue stellte in seinem Kommentar ,,Die Entwicklung der deutschen Politik nach der Reichstagswahl" dar, dass einerseits die Zahl der Stimmen der NSDAP mit der ihres „Vasallen", der Deutschnationalen Volkspartei, nicht einmal 50 % erreichte, was die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland unmittelbar nach dieser Reichstagswahl verhindert habe. Andererseits betrug aber die Zahl der Sitze der SPD, des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei, die sich theoretisch zusammenschließen könnten, auch nur ca. 230, was einen erheblichen Abstand von der 50 %-Marke darstellte, so dass eine Koalition zwischen der SPD und dem Zentrum wie in Müllers und Brünings Regierung nicht zu erwarten sei. Und angesichts der politischen Haltung des Bolschewismus werde sich die KPD weder dem NSDAP-Lager noch einer Koalition der SPD und des Zentrums anschließen7. In diesem Sinn war das Wahlergebnis nach der Meinung von Dong Zhixue fur Papen keineswegs von Nachteil, weil er Vorteile aus dem Gleichgewicht der Linken, der Rechten und der Mitte ziehen könne, um seine parteipolitisch unabhängige Regierung fortzusetzen, auch wenn er nur mit geringer Unterstützung des Reichstags rechnen könne. Die chinesischen Kommentatoren hatten bereits erkannt, dass die NSDAP mit ihren Erfolgen bei den Juli-Wahlen die Entwicklung der deutschen Politik maßgeblich bestimmen würde. Auf die Frage, warum die NSDAP trotz großen politischen Einflusses im ganzen Land die ersehnte absolute Mehrheit im Reichstag nicht erreicht hatte, reagierten die chinesischen Kommentatoren wie folgt: Zunächst habe es an der Konzeptlosigkeit der NSDAP gelegen, dass sie keine effektiven Maßnahmen zur Lösung der innen- und außenpolitischen Probleme Deutschlands habe finden können8. In den Augen einiger chinesischer Kommentatoren bestand die NSDAP „eigentlich aus denjenigen Deutschen, die mit der Realität nicht zufrieden sind, die große Zerstörungskraft haben, denen aber Ideen zum Aufbau fehlen" 9 . Sodann meinten einige 7

DONG Zhixue, Die Entwicklungstendenz der deutschen Politik nach der Reichstagswahl, in: Shen Bao Yue Kan, Bd. 1, Nr. 3 vom 15. September 1932, S. 63 f. 8 Vgl. XIAO, Deutschland (Anm. 3). 9 Das Wahlergebnis (Anm. 6).

Hu, Europa mit chinesischen Augen

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Kommentatoren, dass die Übergriffe der NSDAP vor der Reichstagswahl Antipathien in der Bevölkerung hervorgerufen hätten10. „Die NSDAP übte eine tyrannische Herrschaft aus und missbrauchte die Gewalt, so dass sie überall Bluttaten verursachte und sich dadurch den Hass der Massen zugezogen hat" 11 . Nach Meinung der chinesischen Kommunisten war Hitler diesmal nicht ans Ruder gekommen, weil die deutschen Kapitalisten die direkte Diktatur Hitlers vermeiden wollten. Sie hofften vielmehr, dass sie eine Koalition von NSDAP, SPD und Zentrum mit der SPD an der Spitze bilden könnten, die die Masse der Wähler an sich ziehen würde. Die SPD behauptete, dass diese Koalition nicht (oder zumindest nicht ganz) die Interessen der NSDAP verträte. Durch eine solche Koalition würde es möglich, die Anhänger der einflussreichsten Parteien zusammenzufuhren. Was die Kapitalisten nicht sehen wollten, sei, dass die Arbeiterklasse die SPD im Stich lasse und zur KPD überlaufe, wodurch die kapitalistische Herrschaft in Deutschland in Gefahr gerate12. Aufgrund dieser Analyse versuchten die chinesischen Kommentatoren, die möglichen Reaktionen der NSDAP vorherzusehen. Dong Zhixue ζ. B. hat in seinem Beitrag drei Alternativen genannt. Erstens: Die Regierung Papen habe bereits vieles getan, was die NSDAP eigentlich auch tun wolle. Die Maßnahmen der Regierung, die zur Zentralisierung und Diktatur führten, entsprächen dem Wunsch der NSDAP. Es ist nach seiner Meinung deshalb möglich, dass Hitler den Nationalismus bzw. Sozialismus weiterhin propagiere und den Hass der Masse auf den Kanzler, Papen, zu leiten versuche. Er werde eine günstige Gelegenheit ausnutzen, um auf den Sturz der Regierung Papen wegen ihrer Unfähigkeit zur Lösung der in- und ausländischen Probleme zu bewerkstelligen. Zweitens: Hitler würde im Hinblick darauf, dass die Entwicklung der NSDAP bereits den Gipfel erreicht habe und die Funktionäre der Partei den Herrschaftsübergang wollten, auf gewaltsame Weise die Staatsmacht übernehmen, um das „Dritte Reich" zu errichten. Drittens: Hitler würde angesichts des großen Einflusses seiner Partei im Reichstag einfach in ein Koalitionskabinett eintreten. Nach Meinung des Autors würde die NSDAP nicht im Verborgenen bleiben. Bei den beiden letzten zwei Alternativen würden Hitler und seine Partei die entscheidende Rolle im Kabinett spielen. Würden die gesellschaftlichen Verhältnisse Deutschlands in Betracht gezogen, so meinte Dong Zhixue, sei die gewaltsame Machtergreifung angesichts der Tatsache, dass schon das ganze Land unter dem Einfluss der NSDAP stehe, überflüssig und werde Hitler sich mit der Kooperation mit Papen zufrieden

10

Vgl. Shen Pao vom 3. September 1932. Das Wahlergebnis (Anm. 6). 12 Hui SU, Die politische Lage Deutschlands nach der Reichstagswahl, in: Hong Qi Zhou Bao, Nr. 50 vom 10. September 1932, S. 51. 11

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geben 13 . Auch in dem Artikel „Das Schicksal des Kabinetts Papen" wurden zwei mögliche Szenarien dargestellt. Entweder würde Hitler auf gewaltsame Weise „auf Berlin marschieren", oder die NSDAP würde der Regierung Papen ihre Unterstützung versagen und versuchen, sie zu stürzen. Der Verfasser meinte, dass die NSDAP höchstwahrscheinlich den zweiten Weg wählen werde 14 . Jedenfalls werde die politische Unruhe in Deutschland nicht gänzlich losgelöst vom Verhalten der NSDAP beendet werden können. Zu erwähnen ist, dass alle Verfasser der eingesehenen Kommentare zu dieser Zeit der Meinung waren, dass Hitler und seine Partei früher oder später die Staatsmacht übernehmen würden. Nur hinsichtlich des Zeitpunkts gab es Meinungsunterschiede. Bei der Prognose des Wahlergebnisses schrieb Xiao Shuyu, dass „die NSDAP in einem oder zwei Jahren bestimmt die Chance zur Machtergreifung bekommen wird, obwohl sie diesmal bei der Wahl nicht die absolute Mehrheit erhalten" werde15. Auch Li Zhifu äußerte in seinem Kommentar „Vom modischen Faschismus zur Wiederbelebung der Revolution in China", dass „der Einfluss der NSDAP sich bereits über das ganze Land erstreckt, so dass die Übernahme der totalen Staatsmacht nur eine Frage der Zeit ist" 16 . Auch Gao Xin brachte unmissverständlich zum Ausdruck: „Hindenburg hat Hitler die Staatsmacht nicht verliehen, weil es seiner Meinung nach noch zu früh ist und Hindenburg noch warten will, bis Hitlers Partei stark genug wird. In naher Zukunft wird Hitler bestimmt das Schicksal Deutschlands bestimmen" 17 . Zhu Xie teilte die Meinung von Li Zhifu und wies darauf hin, dass nach Hindenburgs Tod niemand in der Lage wäre, mit Hitler um die Macht im Staat zu konkurrieren18. Andererseits waren viele Kommentatoren der Auffassung, dass die NSDAP schließlich scheitern werde. So wie die Machtergreifung, sei das totale Scheitern der Nationalsozialisten nur eine Frage der Zeit. Sowohl Zhu Xie als auch Xiao Shuyu machten in ihren Beiträgen deutlich, dass die NSDAP nach der Machtergreifung bestimmt Niederlagen erleiden werde. Bei der Begründung dieser Ansicht konzentrierte sich Zhu Xie auf die wirtschaftlichen Probleme. 13

Vgl. DONG, Entwicklungstendenz (Anm. 7). Schicksal des Kabinetts Papen, in: Shen Bao Yue Kan, Bd. 1, Nr. 3 vom 15. September 1932, S. 162.

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15

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XIAO, D e u t s c h l a n d ( A n m . 3 ) .

Li Zhifu, Vom modischen Faschismus zur Wiederbelebung der Revolution in China, in: Zheng Zhi Ping Lun, Nr. 14 vom 31. August 1932, S. 16. Diese Zeitschrift war ein von der Kuomingtang-Regietung herausgegebenes politisches Wochenblatt. Das Wort „modisch" hat der Verfasser benutzt, weil über den Begriff „Faschismus" im damaligen China viel diskutiert wurde und dieser Begriff damals in Mode war. Mit diesem Ausdruck war nicht gemeint, dass es auch einen „alten" oder „altmodischen" Faschismus gebe. 17 GAO Xin, Hitlers Politik der Wiedergewinnung der Kolonien in Ostasien, in: Zheng Zhi Ping Lun, Nr. 22 vom 26. Oktober 1932, S. 4 f. 18 Vgl. ZHU Xie, Politische Programme und Aussichten der NSDAP, in: Shen Bao Yue Kan, Bd. 1, Nr. 4 vom 15. Oktober 1932, S. 97.

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Seiner Meinung nach könne die NSDAP der extrem schlechten Wirtschaftslage Deutschlands nicht Herr werden. Wenn 6 Millionen Arbeitslose unter der Regierung Hitlers immer noch keine Perspektiven für ihr Leben finden könnten, werde die NSDAP das Vertrauen der Massen, mit deren Hilfe sie die Macht erobert habe, nach und nach wieder verlieren19. Xiao Shuyu wies daneben noch auf die diplomatischen Schwierigkeiten hin und vermutete, dass die Grundpositionen der NSDAP, der Antibolschewismus, der Antisemitismus und der Hass gegen die Sowjetunion und Frankreich, nicht nur zu stärkeren inneren Unruhen, sondern auch zu außenpolitischen Spannungen fuhren würden. Angesichts so vieler Probleme, auf die die NSDAP nach der Machtergreifung treffen würde, schätzte Xiao die politischen Aussichten Hitlers und seiner Partei nicht besonders hoch ein und prognostizierte sogar ein Scheitern20. 2. Chinesische Kommentare zur deutschen Politik nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler Die chinesischen Kommentatoren ahnten, wie gezeigt, dass Hitler früher oder später zum Reichskanzler ernannt werden würde. Aber dass Hitler mit verblüffender Schnelligkeit auf legalem Weg die Macht eroberte, übertraf ihre Vermutungen. So begannen die chinesischen Kommentatoren, die Entwicklung der politischen Lage Deutschlands angesichts dieses neuen Ereignisses von neuem zu evaluieren. Im Vergleich zur Analyse vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler lässt sich eine klare Unterschätzung Hitlers und seiner Partei durch einige chinesische Kommentatoren verspüren. Diese Unterschätzung zeigt sich zunächst in der Analyse des Wesens des neuen Kabinetts, wobei behauptet wurde, dass Hitlers Regierungsantritt dem politischen Leben Deutschlands nichts Neues bzw. Positives bringe. Im Allgemeinen wurde Hitlers Kabinett als eine Koalition der Rechtsparteien, der NSDAP und der Deutschnationalen Volkspartei, angesehen, die sich unter bestimmten Bedingungen zur faschistischen Diktatur entwickeln werde. Zhang Mingyang stellte in seinem Kommentar eindeutig fest, dass dieses Kabinett eigentlich eine Koalition der konterrevolutionären Kräfte Deutschlands sei 21 . Laut seines Artikels „Die Aussichten von Hitlers Regime" blieb dieses Kabinett im Großen und Ganzen das gleiche wie das Papens. „Hitlers Regime hat offensichtlich das Wesen des Kabinetts Papen nicht geändert. Immerhin vertritt seine Regierung die Interessen der 19

Ebd. XlAO, Deutschland (Anm. 3). 21 Vgl. ZHANG Mingyang, Das Regime der Koalition der deutschen konterrevolutionären Kräfte, in: Dong Fang Za Zhi, Bd. 30, Nr. 5 vom 1. März 1933. Dong Fang Za Zhi war eine allgemeine Zeitschrift, die erstmals bereits 1904 unter der Qing-Dynastie herausgegeben worden war. In dieser Zeitschrift sind viele wertvolle historische Materialien über China in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu finden. 20

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Gutsbesitzer, Industrie- und Finanzkapitalisten"22. Und die führenden Personen in diesem Kabinett seien Hitler, Vizekanzler Papen und der Parteiführer der Deutschnationalen Volkspartei Hugenberg. Diese Unterschätzung Hitlers wird auch bei der Analyse seiner Funktion im neuen Kabinett evident. Nach Meinung nicht weniger chinesischer Kommentatoren wurde der von General Schleicher gesteuerte Hampelmann Franz von Papen nun der Manipulator im Kabinett, der Hitler nach seinem eigenen Belieben lenken konnte. „Hitlers Politik, außer der Unterdrückung der Revolution, hält sich voll und ganz an Papens Richtlinien. Deshalb ist Hitlers Regime im Wesen das Regime von Papen. Die Aufgabe Hitlers, der als Reichskanzler an der Spitze des Kabinetts sitzt, besteht nur darin, seine Anhänger zu führen und für Papen die Ordnung aufrechtzuerhalten"23. Auch Du Ruo bemerkte in einem Kommentar in Shen Bao Yue Kan, dass Hitler erst dank Vermittlung und Unterstützung Papens den Regierungsauftrag erhalten habe. „Aus diesem Grund würde Hitlers Regime wackeln, falls er bei Papen und den Großgrundbesitzern, die Papen vertritt, Anstoß erregte. [...] Papen Schaden zuzufügen wäre nichts anderes als der Selbststurz seiner Regierung" 24 . Denn „die reale Macht [wird] von Papen ausgeübt. Alle Pläne und politischen Schritte können nur mit Genehmigung des Vizekanzlers reibungslos durchgeführt werden" 25 . Diese Ansichten bilden einen eindeutigen Kontrast zur Beurteilung Papens durch die Kommentatoren zu Hitlers Regierungsantritt, wobei Franz von Papen als absolut unfähiger Politiker gekennzeichnet wurde. Dass Franz von Papen zum Nachfolger Brünings gewählt wurde, hatte die Kommentatoren mehr oder minder überrascht. Im Allgemeinen hat „der geistig unbedeutende, oberflächliche, eitle, dem streng katholischen Adel Westfalens angehörige Intrigant Franz von Papen" 26 nach seiner Ernennung nur sehr wenige posi22

Li Jingqing, Die Aussichten von Hitlers Regime, in: Kuowen Weekly, Bd. 10, Nr. 12 vom 27. März 1933. 23 Ebd. Ähnlich auch in: LÜ Hongqi, Die Entwicklung des Hitlerismus und die diplomatischen Richtlinien Deutschlands nach Hitlers Regierungsantritt, in: Foreign Affairs, Bd. 2, Nr. 5 vom 15. Mai 1933. Diese Monatszeitschrift war ein Periodikum zur internationalen Politik. In ihr wurde hauptsächlich über die Politik auf der internationalen Bühne und die diplomatischen Beziehungen zwischen verschiedenen Ländern diskutiert. 24 Du Ruo, Analyse der gegenwärtigen Politik in Deutschland und Frankreich, in: Shen Bao Yue Kan, Bd. 2, Nr. 3 vom 15. März 1933, S. 30. 25 Der Wechsel des deutschen Kabinetts, in: Da Zhong Guo Zhou Bao, Bd. 1, Nr. 4 vom 6. Februar 1933. Ähnlich in: SHU Guofan, Deutschland nach dem Wahlsieg der NSDAP, in: South China Weekly Review, Bd. 4, Nr. 9 vom 18. März 1933, S. 27. Die South China Weekly Review war das Sprachrohr der Wangjingwei-Clique, die sich als gegnerische Fraktion in der Kuomingtang der Herrschaft von Tschiang Kai-schek in den Weg stellte. Wang Jingwei war eine fuhrende Persönlichkeit in der Kuomintang. Doch nach dem Scheitern im Machtkampf mit Tschiang Kai-schek wandte er sich an die Japaner und wurde deshalb als Verräter angesehen. 26 Vgl. Diether RAFF, Deutsche Geschichte - Vom Alten Reich zur Zweiten Republik, München 1985, S. 258.

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tive Beurteilungen in den chinesischen Zeitungen und Zeitschriften erfahren. In einem Bericht von Shen Pao wurde über das Zerwürfnis zwischen Papen und seiner Partei, dem Zentrum, berichtet, das dadurch verursacht worden sei, dass Papen sein Wort, dass er als Parteimitglied das Kanzleramt nicht annehmen würde, gebrochen habe 27 . Während Papen in Shen Pao als doppelter Lügner bezeichnet wurde, war die Kritik in dem Artikel „Die politische Lage Deutschlands nach dem Sturz Brünings" noch schärfer. In diesem Artikel wurde die Dummheit und politische Ungeschicklichkeit sowie Unfähigkeit Papens sehr ausfuhrlich behandelt. Es wurde dargelegt, dass Papen Ende 1915 als Militârattaché nach Amerika zur deutschen Botschaft geschickt worden sei. Sein Auftrag habe darin bestanden, einige Verbrecher zu Terrormaßnahmen gegen Brücken sowie zur Beschädigung von Straßen zu veranlassen. Da seine illegalen Tätigkeiten von den amerikanischen Behörden entdeckt worden seien, sei er 1916 nach Deutschland zurückberufen worden. Als er sich unterwegs in England aufhielt, wurden einige geheime Dokumente, die er aus mangelnder Sorgfalt nicht verbrannt hatte, von den Engländern gefunden und an die Amerikaner weitergeleitet. Das habe zu Verstimmungen zwischen Deutschland und den USA gefuhrt und die Teilnahme der USA am Ersten Weltkrieg mitverursacht28. Erwähnt wurde zudem, dass Papen beim Rückzug der Truppen erneut aus Nachlässigkeit wichtige Dokumente verloren habe, in denen es um seine illegalen Tätigkeiten in den USA ging 29 . Über dieselben Ereignisse äußerte sich auch ein anderer Autor, der eine relativ neutrale Haltung zu Papen hatte, allerdings mit einem etwas verschwommenen Satz: „Aus gewissen Gründen wurde Papen vor dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg auf Aufforderung der amerikanischen Regierung vom Außenministerium Deutschlands zurückberufen" 30 . Papen war in den Augen der chinesischen Kommentatoren eigentlich nur eine Marionette des damaligen Reichspräsidenten Hindenburg und des Chefs des Ministeramtes des Reichswehrministeriums General Kurt von Schleicher31. In dieser Hinsicht ist es besonders merkwürdig, dass Papen, der vor seinem Rücktritt von den chinesischen Kommentatoren deutlich unterschätzt wurde, einige Monaten nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler von ihnen als der hinter den Kulissen steckende Steuermann der deutschen Regierung eingestuft wurde. Es ist nicht erstaunlich, dass die chinesischen Kommentatoren der Ansicht waren, dass Hitler unter der Kontrolle der konservativen und deutschnationa27

In: Shen Pao vom 5. Juni 1932. Vgl. ZHANG Liangren, Die politische Lage Deutschlands nach dem Sturz Brünings, in: Xin Chuang Zao, Bd. 1, Nr. 6 vom 1. Juli 1932. 29 Ebd. 30 JING Ci, Zahlreiche Probleme hinsichtlich der Zukunft der deutschen Politik, in: Kuowen Weekly, Bd. 9, Nr. 32 vom 15. August 1932. 31 Vgl. DONG Zhixue, Die Bedeutung der neuen Reichstagswahl Deutschlands, in: Shen Bao Yue Kan, Bd. 1, Nr. 6 vom 15. Dezember 1932, S. 54. 28

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len Politiker, Papens und Hugenbergs, nicht frei schalten und walten könne. Diese Einschätzung gründete darin, dass Hitler laut der Presseberichte nur dank Papens Vermittlung und Hindenburgs Einverständnis an die Macht gekommen war und es deswegen nicht wagen würde, Papens bzw. Hindenburgs Unterstützung zu riskieren und extreme Dummheiten zu begehen. Zweitens darf nicht vergessen werden, dass die chinesischen Kommentatoren Hitler und seine Partei nach den Stimmenverlusten der NSDAP bei der Novemberwahl bereits einmal unterschätzt hatten. Im Hinblick darauf, dass die NSDAP bei der Reichstags wähl am 6. November mehr als 2 Millionen Stimmen und 34 Sitze im Reichstag verloren hatte, waren nicht wenige Kommentatoren zu der Einschätzung gelangt, dass die Entwicklung der NSDAP bei den JuliWahlen ihren Gipfelpunkt erreicht habe und danach auf einen Tiefstand zurücksinken werde 32 . In Shen Pao wurde der Misserfolg der NSDAP bei der Novemberwahl für einen tödlichen Schlag gehalten, der wahrscheinlich zum Zerfall der faschistischen Bewegung unter Hitlers Leitung fuhren werde 33 . „Nicht nur war es der NSDAP deswegen unmöglich, die Staatsmacht zu ergreifen, sondern ihr faschistischer Einfluss wird auch Schritt für Schritt nachlassen"34. Dong Zhixue wies in seinem Beitrag daraufhin, dass „der NSDAP angesichts dessen, dass immer mehr Mitglieder aus der Partei ausgetreten sind, die Auflösung droht, falls die Partei nicht durch die Machtergreifung die Verfallstendenz aufzuhalten versuchen wird" 3 5 . Daher bezeichneten die chinesischen Journalisten Hitlers Ernennung zum Reichskanzler als auf Gegenseitigkeit beruhenden Kompromiss und meinten, dass Hitler in dieser schwierigen Situation den „fuhrenden Mächtigen" gehorchen und kein Risiko eingehen werde, das seine Partei und sein eigenes politisches Leben in die Katastrophe fuhren könnte. Allerdings sollte man die damaligen Kommentatoren wegen dieser Unterschätzung Hitlers nicht zu sehr kritisieren. Sogar Papen und Hugenberg ahnten damals wahrscheinlich nicht, dass sie Hitler sehr bald nach seiner Ernennung nicht mehr unter Kontrolle halten konnten. Eigentlich hatten beide beabsichtigt, Hitler und seine Partei sowie seine paramilitärischen Verbände fur ihre eigenen Zwecke zu gebrauchen, indem sie Hitler und noch einige andere Nationalsozialisten in die Regierung aufnahmen. Allerdings war es auch selbstverständlich, dass die Kommentatoren angesichts der Kabinettsbildung Hitler als Schachfigur Papens und der deutschen Kapitalisten charak32

Vgl. z. B. ZHU, Politische Programme (Anm. 18), S. 96 f. Auch in: DONG, Entwicklungstendenz (Anm. 7), S. 68; Kuowen Weekly, Bd. 9, Nr. 31 vom 8. August 1932. 33 YAN An, Das Wahlergebnis des deutschen Reichstags, in: Shen Pao vom 17. Dezember 1932. 34 Die letzte Reichstagswahl, in: Shen Bao Yue Kan, Bd. 1, Nr. 6 vom 15. Dezember 1932, S. 145. 35 DONG Zhixue, Das Schicksal des neuen Kabinetts Deutschlands, in: Shen Bao Yue Kan, Bd. 2, Nr. 2 vom 15. Februar 1933, S. 57.

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terisierten. Damals nahm nicht jeder Ludendorffs Prophetie ernst, die er in seinem Brief an Hindenburg nach der Ernennung Hitlers äußerte: „Sie haben durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler unser heiliges deutsches Vaterland einem der größten Demagogen aller Zeiten ausgeliefert. Ich prophezeie Ihnen feierlich, daß dieser unselige Mann unser Reich in den Abgrund stürzen und unsere Nation in unfaßbares Elend bringen wird. Kommende Geschlechter werden Sie wegen dieser Handlung im Grabe verfluchen"^.

Nach Hitlers Regierungsantritt beschäftigten sich die chinesischen Kommentatoren eifrig mit der Analyse der zukünftigen deutschen Politik und der Aussicht von Hitlers Regime. Was den Einfluss von Hitlers Machtergreifung auf die Innen- bzw. Außenpolitik Deutschlands betraf, so änderten sich die Meinungen der chinesischen Journalisten dazu im Lauf der Zeit. Hinsichtlich der zukünftigen deutschen Innenpolitik blieben die chinesischen Kommentatoren anfangs wegen ihrer allgemeinen Unterschätzung Hitlers relativ zurückhaltend: Unter der Kontrolle Papens und Hugenbergs sei es Hitler nicht möglich, alle radikalen politischen Programme der NSDAP ungebremst durchzufuhren. Doch in Bezug auf die Unterdrückung der KPD und die Erstickung der „roten Revolution" lägen Hitler und Papen auf einer Linie. Darin sei auch der Grund zu sehen, warum Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war. Deswegen waren alle Verfasser der eingesehenen Quellen der Meinung, dass Hitlers Regierungsantritt den totalen Kampf gegen die Kommunisten signalisierte. Hitler würde sich dafür einsetzen, die KPD aus dem politischen Leben Deutschlands auszumerzen, und danach versuchen, alle gegnerischen Parteien auszuschalten37, um seine Diktatur zu etablieren. Nach ihrer Meinung hätte man Papens Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft noch fortsetzen können. Obwohl Hitler im Wahlkampf mit großem Nachdruck seine Wirtschaftspolitik zugunsten der Arbeiter propagiert habe, habe er nach seiner Machtergreifung sein Wort nicht halten können bzw. wollen. Denn eigentlich sei er ja dank der Unterstützung des Industrie- und Finanzkapitals an die Macht gekommen. Außerdem habe er noch Rücksicht auf Papen und Hugenberg zu nehmen, was dazu führe, dass er nicht gleich nach seinem arbeiterfreundlichen Wirtschaftsprogramm handeln könne 38 . Aber es wurde mit jedem Tag deutlicher, dass die nationalsozialistische Diktatur unter Hitler unaufhaltbar war. Dementsprechend änderten die chinesischen Journalisten ihre Meinungen. Mehr und mehr wurde in den Zeitungen 36

Gerhart BINDER, Epoche der Entscheidungen, 5. Aufl. Stuttgart 1960, S. 234, zitiert nach: RAFF, Deutsche Geschichte (Anm. 26), S. 261. 37 Vgl. ZHANG, Regime der Koalition (Anm. 21). Auch in: ZHAO Jingyuan, Die letzte Reichstagswahl und die instabile Situation in Europa, in: Xin Zhong Hua, Bd. 1, Nr. 6 vom 25. März 1933. 38 Vgl. DU, Analyse (Anm. 24), S. 30 f.

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und Zeitschriften über Hitlers Maßnahmen und Taktiken zur Sicherung seiner alleinigen Herrschaft im ganzen Land diskutiert. Dass Hitler den Reichstag auflöste und seine Partei bei der Wahl Anfang März 1933 43,9 % der abgegebenen Stimmen erhielt, brachte einige Kommentatoren zu der Überzeugung, dass die Diktatur der NSDAP Schritt für Schritt errichtet werde. Nach dem Sieg bei der Reichstagswahl werde Hitler versuchen, die Länderparlamente und Gemeindevertretungen zu entmachten und die gesamte Administration der Reichsregierung zu unterstellen, so dass Deutschland zu einem zentralisierten Einheitsstaat würde. Außerdem würden die in der Verfassung gesicherten Menschenrechte der Diktatur und der Meinungseinheit geopfert werden39. Hitler bestand strikt darauf, ein „Großdeutsches Reich" zu gründen und Deutschland zu einer Weltmacht zu erheben. Was ihm zum Kanzleramt verholfen hatte, waren u. a. seine entschieden feindliche Haltung gegen den Bolschewismus und seine Expansionspolitik, die den Kampf gegen Versailles und die Zerschlagung der Versailler Ordnung als Ausgangspunkte hatte. Freilich war zu befürchten, dass seine Kanzlerschaft politische Spannungen zwischen Deutschland und dem Ausland verursachen würde, wenn er als Reichskanzler die von ihm seit langem propagierten außenpolitischen Programme durchzufuhren versuchen würde. Auf die Frage, ob Hitlers Regierungsantritt Deutschland in diplomatische Konflikte und sogar in Kriegsgefahr bringe, fanden sich in den damaligen Zeitungen und Zeitschriften in China unterschiedliche Meinungen. Wegen des radikalen Antibolschewismus der NSDAP schien die Beziehung zwischen Deutschland und dem kommunistischen Russland nach Hitlers Machtergreifung extrem kritisch zu sein. Die meisten Kommentatoren meinten, dass Hitlers Politik der Vernichtung des deutschen Kommunismus zu unversöhnlichen Konflikten zwischen den beiden Staaten fuhren werde40. Seit Gründung der Weimarer Republik hatten sich die deutsch-russischen Beziehungen positiv entwickelt. Von allen Staaten des kapitalistischen Lagers hatte Deutschland die Sowjetunion als erstes diplomatisch anerkannt und mit ihm den Rapallo-Vertrag abgeschlossen. Aber es war jedermann klar, dass Hitlers Machtergreifung die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern nachhaltig verschlechtern werde. Außerdem bestand die Möglichkeit,

39

Vgl. ZHAO, Reichstagswahl (Anm. 37). Auch in: ZHANG Mingyang, Anfang der Diktatur in Deutschland, in: Dong Fang Za Zhi, Bd. 30, Nr. 7 vom 1. April 1933, S. 3. 40 Vgl. ZHAO, Reichstagswahl (Anm. 37), S. 11 f. Ähnlich in: ZHANG, Anfang (Anm. 39), S. 3; MEI Gongbin, Politische Veränderung in Deutschland bzw. Frankreich und die politische Lage in Europa, in: Xin Zhong Hua, Bd. 1, Nr. 4 vom 25. Februar 1933, S. 7 f.; GUAN Shuzhi, Deutschlands Lage nach Hitlers Regierungsantritt, in: Foreign Affairs, Bd. 2, Nr. 6 vom 15. Juni 1933; YAN Jiguang, Die Weltpolitik in diesem Jahr, in: Min Zu, Bd. 1, Nr. 12 vom 1. Dezember 1933. Min Zu war eine wissenschaftliche Zeitschrift, die sich hauptsächlich mit der Politik dritter Länder beschäftigte.

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dass Hitlers Deutschland als gedungener Handlanger des kapitalistischen Lagers als erster das kommunistische Russland angreifen würde. Dass Hitler nachdrücklich auf dem Kampf gegen Versailles bestand, musste nach seinem Regierungsantritt nach Ansicht der chinesischen Kommentatoren auch zu politischen Spannungen mit Frankreich sowie seinen Partnerländern fuhren. Einerseits würde voraussichtlich Deutschland wegen des Anspruchs auf Aufhebung oder Revision des Vertrags von Versailles direkt mit Frankreich in Konflikt geraten, andererseits würde Hitlers Expansionspolitik die Beziehungen zwischen Deutschland und den Staaten der Kleinen Entente verschlechtern, was indirekt negative Auswirkungen auf die deutsch-französischen Beziehungen haben würde 41 . Doch zu den deutsch-französischen Beziehungen gab es auch andere Stimmen. Mei Gongbin schrieb in einem Kommentar, dass die NSDAP während der Papenzeit einen Geheimvertrag mit Frankreich geschlossen habe und Frankreich sowie England deswegen seine Machtergreifung unterstützt hätten. „Das begreift man, wenn man bemerkt, dass es weder in England noch in Frankreich scharfe Kritik an Hitlers Regierungsantritt gegeben hat" 42 . Die These, dass sich die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und dem faschistischen Italien nach dem Sieg der Nationalsozialisten noch verbessern würden, ist in den meisten Kommentaren zu finden. Aber das bedeutete in den Augen der chinesischen Journalisten nicht, dass es keine Interessenkonflikte zwischen beiden Ländern gab. „Italien setzt sich für eine neue Verteilung der Kolonien und eine neue Festlegung der Staatsgrenzen in Europa ein, nicht weil es Deutschland helfen will, das abgetretene Gebiet zurückzugewinnen, sondern weil es seinerseits expandieren will. Wir können höchstens sagen, dass Italien im Kampf gegen Frankreich ein Bündnis mit Deutschland eingehen würde" 43 . Sollte Deutschland mit seiner Expansionspolitik die Interessen Italiens verletzen, würde Italien das nicht einfach hinnehmen. Der Wunsch Hitlers zum Beispiel, Österreich zu annektieren und dadurch einen germanischen Staat deutscher Nation zu gründen, würde Unzufriedenheit auf Seiten der Italiener hervorrufen, weil die Italiener Mitteleuropa einschließlich Österreichs für ihre Einflusssphäre hielten 44 . Angesichts der Verschärfung der innenpolitischen Konflikte und der allgemeinen Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen Deutschlands zu den anderen europäischen Ländern machten sich viele chinesische Kommen41

Vgl. ZHAO, Reichstagswahl (Anm. 37), S. 11 f. Ähnlich in: ZHANG, Anfang (Anm. 39), S. 3; GUAN, Deutschlands Lage (Anm. 40); YAN, Weltpolitik (Anm. 40); ZHANG Mingyang, Die Etablierung der faschistischen Diktatur in Deutschland, in: Shen Bao Yue Kan, Bd. 2, Nr. 4 vom 15. April 1933, S. 28; D u , Analyse (Anm. 24), S. 32. 42 MEI, Änderung (Anm. 40), S. 9. 43 CHENG Yucang, Der Kampf u m die Hegemonie in Mitteleuropa, in: Da Shang Hai Ban Yue Kan, Bd. l , N r . 1 vom 20. Mai 1934, S. 10. 44 Vgl. ebd. Ähnlich in: YAN, Weltpolitik (Anm. 40).

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tatoren große Sorgen um den Frieden. Sie befürchteten, dass Deutschland wegen Hitlers aggressivem außenpolitischen Auftreten zum Ausgangspunkt eines neuen europäischen Kriegs werden würde. Einige waren sogar fest davon überzeugt, dass auf Hitlers Aufstieg notwendig der Kriegsausbruch folgen werde. Die Frage war in ihren Augen nur, ob Deutschland zuerst Russland, Polen oder Frankreich und dessen Anhänger angreifen würde 45 . Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es gleichzeitig eine ganz andere Denkrichtung gab. Lü Hongqi legte ζ. B. in seinem Kommentar dar, dass sich die Außenpolitik Deutschlands nach Hitlers Regierungsantritt im Großen und Ganzen nicht ändern werde. Weder beabsichtige Deutschland, Russland zum Krieg herauszufordern, noch sei es in der Lage, mit Italien und Österreich gemeinsam gegen Frankreich Krieg zu fuhren und damit den zweiten europäischen Krieg auszulösen46. Der Autor nannte hierfür einige Argumente, nämlich dass einerseits Hitlers Handeln von Hindenburg kontrolliert und überwacht werde, andererseits Hitler mit zahlreichen internen Problemen konfrontiert sei, so dass er es nicht riskieren werde, in solch schwieriger Lage die politischen Beziehungen zur Außenwelt zu verschlechtern47. Ein anderer Kommentator wies darauf hin: „Wenn Hitler wirklich die Staatsmacht ergreifen könnte, würde er auch bestimmt zum Befürworter des Versailler Vertrags und zum Lakai der französischen Imperialisten"48. Doch diese These erschien manchen zweifelhaft. Auf die Wirksamkeit von Hindenburgs Kontrolle dürfe man sich ebenso wenig wie auf die Papens verlassen. Und gerade weil die internen Konflikte so scharf seien, werde Hitler versuchen, die Aufmerksamkeit der Massen von den innenpolitischen Problemen abzulenken, indem er einen Krieg vom Zaun breche. Alles in allem war es nur eine Illusion zu glauben, dass die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Außenwelt nach Hitlers Machtergreifung verbessert werden könnten. In diesem Sinn hatte Zhang Mingyang Recht, wenn er schrieb: „In der Zukunft könnte kein Staat außer Italien mit Deutschland freundschaftliche Beziehungen aufrechterhalten" 49 . In Anbetracht der Stellungnahmen der chinesischen Journalisten zum Einfluss von Hitlers Machtergreifung auf die Innen- und Außenpolitik Deutschlands versteht es sich von selbst, dass sie Hitlers Regierung für aussichtslos hielten. So las man angesichts der extremen Verschärfung der Konflikte zwischen der NSDAP und den Linksparteien in einem Kommentar „Vor und nach 45

Vgl. ζ. B. Du, Analyse (Anm. 24), S. 32; JIANG Yuan, Über den imperialistischen Krieg, in: Hong Qi Zhou Bao, Nr. 63 vom 20. November 1933, S. 70 usw. 46 LÜ, Entwicklung (Anm. 23), S. 122. 47 Vgl. ebd., S. 114-122. Ähnlich in: BAO Guohua, Deutschland nach Hitlers Regierungsantritt, in: South China Weekly Review, Bd. 4, Nr. 5 vom 18. Februar 1933, S. 17. 48 Hu Qingyu, Trotzkijs Bewertung der Hitler-Bewegung, in: The Central Daily News vom 28. August 1932. 49 ZHANG, Anfang (Anm. 39), S. 3.

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Hitlers Regierungsantritt": „Ein paar Tage nach Hitlers Machtergreifung entstehen schon im ganzen Land Tumulte. [...] Hitlers Regierung kann der deutschen Politik keine glänzende Zukunft bringen. Die politische Lage Deutschlands hingegen wird in zunehmendem Maße in größeres Chaos geraten" 50 . Als Gründe für diese Einschätzung führten die chinesischen Kommentatoren fünf Punkte an: 1. Wie oben bereits erwähnt, könne Hitler nicht alles verwirklichen, was er der Masse versprochen habe. Das werde dazu führen, dass die Masse aus Enttäuschung über Hitler und seine Versprechungen Abneigungen gegen ihn entwickeln werde. „Sobald die Masse bemerkt, dass die Gutscheine, die ihr Hitler gegeben hat, nicht einlösbar sind, wird Hitlers Kabinett gestürzt" 51 . 2. Dass Hitler nach seinem Regierungsantritt die politischen Programme der NSDAP nicht in die Tat umsetzen könne, werde Unzufriedenheit auch innerhalb der Partei hervorrufen. Strassers Austritt aus der Partei habe die NSDAP bereits geschwächt. Wenn die Parteimitglieder das Vertrauen zu ihrem Führer verlören, wäre das für die Herrschaft der NSDAP von großem Nachteil 52 . 3. Nur mit der Deutschnationalen Volkspartei zusammen konnte die NSDAP im Reichstag den Anschein der Legalität wahren. Auch bei der Reichstagswahl am 5. März, vor der Hitler mittels der Staatsgewalt den Wahlsieg seiner Partei zu sichern versuchte, erhielt die NSDAP nicht einmal die Hälfte der abgegebenen Stimmen. Deshalb musste sich die NSDAP mit der Koalition mit der Deutschnationalen Volkspartei einverstanden erklären. Aber nach der Meinung einiger chinesischer Kommentatoren konnte diese Koalition nicht lange halten. „Denn die NSDAP ist ihrem Namen entsprechend eine Mischung von radikalem Nationalismus und Sozialismus. Die Deutschnationale Volkspartei hingegen neigt zur Monarchie. Unterschiede gibt es ζ. B. schon in den Ansichten, wie die Juden behandelt werden sollen und ob der internationale Handel gefördert werden soll. In diesem Sinn ist es äußerst zweifelhaft, ob die Zusammenarbeit zwischen den beiden Parteien beständig fortleben kann" 5 ·'.

Wenn die Koalition zusammenbreche, werde die Existenz von Hitlers Regierung in Frage gestellt. 4. Die antisemitische Politik der NSDAP, die Hitler bei den Wahlen immer propagandistisch eingesetzt hatte, war nach Meinung von Jiang Xuekai fatal für Deutschlands Wirtschaft. Den Grund sah er darin, dass die Juden im wirt50

TENG Xia, Vor und nach Hitlers Regierungsantritt, in: Kuowen Weekly, Bd. 10, Nr. 7 vom 20. Februar 1933. Ähnlich in: ZHAO, Reichstagswahl (Anm. 37), S. 12. 51 X u Jinzhai, Die Zukunft von Hitlers Kabinett, in: Review of Foreign Affairs, Bd. 2, Nr. 3 vom 20. März 1933, S. 40. Ähnlich in: ZHANG, Regime (Anm. 21), S. 12; Li, Aussicht (Anm. 22); JiANG Xuekai, Analyse der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland, in: Min Zu, Bd. 1, Nr. 5 vom 1. Mai 1933. 52 Vgl. ZHANG, Regime (Anm. 21), S. 12. 53 DERS., Etablierung (Anm. 41), S. 28. Ähnlich in: JIANG, Analyse (Anm. 51).

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schaftlichen und finanziellen Bereich außerordentlich einflussreich seien. Wenn sie sich zusammenschlössen und gegen das nationalsozialistische Deutschland kämpften, indem sie die deutschen Erzeugnisse boykottierten oder ihr Kapital zurückzögen, würde das zum totalen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft fuhren. Deswegen schrieb Jiang Xuekai: „Wenn die NSDAP als herrschende Partei eine antisemitische Politik treibt, begeht sie nichts anderes als Selbstmord"54. 5. Die ungünstigen diplomatischen Beziehungen Deutschlands würden Hitlers Regierung zusätzlich in große Schwierigkeiten stürzen. Aus diesen fünf Faktoren zogen die Kritiker die Schlussfolgerung, dass sich das politische Chaos in Deutschland weiter zuspitzen werde. Sie sahen zudem die Gefahr, dass Hitler und seine Partei das deutsche Volk schließlich zum Bürgerkrieg oder zum Ausbruch der Revolution fuhren würden55. II. Die Gründe für das Interesse der chinesischen Kommentatoren an der deutschen Politik 1. Der Stellenwert der Kommentare über die deutsche Politik in China Es ist nur schwer nachzuvollziehen, dass die damaligen chinesischen Kommentatoren den politischen Unruhen in Deutschland, das wegen der gewaltigen geographischen Distanz zwischen Deutschland und China scheinbar weder direkten Einfluss auf China ausüben konnte noch nach dem Ersten Weltkrieg eine bedeutende Macht auf der internationalen Bühne war, so große Aufmerksamkeit geschenkt haben. Aber es ist eine Tatsache, dass die chinesische Presse die politische Umwälzung in Deutschland mit großem Interesse verfolgt hat. Bereits nach Brünings Sturz konzentrierten sich die chinesischen Journalisten auf Deutschland. Zahlreiche Artikel sind in den damaligen Zeitungen zu finden. Selbstverständlich schenkten die chinesischen Presseagenturen, die sich mit ausländischen Angelegenheiten beschäftigten, wegen des Kriegs zwischen China und Japan ihre größte Aufmerksamkeit nicht Deutschland. Japan blieb weiterhin ihr „Lieblingsthema". Aber unter den anderen Ländern rangierte Deutschland in den chinesischen Zeitungen in quantitativer Hinsicht auf dem zweiten Platz. Die Hinwendung der Chinesen zur deutschen Politik zeigte sich nicht nur in den Zeitungsartikeln, sondern auch in den politischen Kommentaren in den Zeitschriften. Bei diesen Kommentaren handelte es sich nicht nur um neutrale Darstellungen der historischen Ereignisse. Vielmehr versuchten die Autoren, mit ihren Analysen und Untersuchungen der deutschen Politik auf den Grund zu gehen. 54 55

Ebd. Vgl. Li, Aussicht (Anm. 22). Ähnlich in: Du, Analyse (Anm. 24), S. 30.

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Es ist sinnvoll, den Gründen des riesigen Interesses der damaligen chinesischen Journalisten an der deutschen Politik nachzugehen. Hierzu soll zunächst erläutert werden, welchen Einfluss die politische Umwälzung Deutschlands auf China hatte, insbesondere auf den chinesisch-japanischen Konflikt, der das chinesische Volk im höchsten Maße prägte. 2. Der Einfluss der politischen Umwälzung Deutschlands auf den Konflikt zwischen China und Japan Was Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts dem chinesischen Volk die größten Leiden gebracht hat, war außer dem langen Bürgerkrieg die japanische Invasion. Im Jahr 1931 hatte Japan begonnen, den Nordosten Chinas zu erobern. Danach wurde aufgrund der militärischen Überlegenheit Japans das Territorium Chinas Stück für Stück annektiert. Ganz China stand unter der Drohung der japanischen Aggression. Die Regierung der Kuomingtang hatte sich an den Völkerbund gewandt, in der Hoffnung, dass dieser die Westmächte zum Eingreifen zugunsten Tschiang Kai-scheks bewegen und damit seine Herrschaft in China stützen und dies den Konflikt zwischen Japan und China schlichten würde. Die chinesischen Kommentatoren verfolgten die politische Entwicklung in Deutschland genau, weil sie bemerkt hatten, dass die These, die deutsche Politik stehe in keinem Zusammenhang mit China, nur oberflächlich war. Die politische Umwälzung Deutschlands würde gleichzeitig den Kontakt zwischen China und seinen Nachbarländern verändern, was unmittelbare Auswirkungen auf den Streitfall zwischen Japan und China haben musste. Die Entwicklung der politischen Unruhe in Deutschland ließ erkennen, dass die in der Mitte angesiedelten Parteien in Deutschland unfähig und ohnmächtig waren. Die Frage war nur, ob die Kommunisten oder die Faschisten letztlich die Staatsmacht an sich reißen würden. Betrachtete man vor diesem Hintergrund die politische Lage Chinas, wäre für die Regierung der Kuomingtang die Machtergreifung weder der Kommunistischen Partei Deutschlands noch der NSDAP von Vorteil. Falls die KPD die Macht übernähme, würde in der Mitte Europas ein rotes Deutschland entstehen. Das müsste dazu fuhren, dass sich das kommunistische Deutschland der Sowjetunion anschließen und sich die kommunistische Bewegung in der ganzen Welt ausbreiten würde. Anfang der 30er Jahre setzte sich die Kuomingtang mit allen Mitteln für die Ausrottung der kommunistischen Revolution in China ein. Sollte der Sieg der Kommunisten in Deutschland eine weltweite kommunistische Revolution nach sich ziehen, würde die Republik Nationalchina unter Führung der Kuomingtang mit ihrem Nachbarn im Norden, der Sowjetunion, in Konflikt geraten. In Hinsicht darauf, dass China bereits unter der japanischen Invasion zu leiden hatte, wäre es für Tschiang Kai-schek selbstverständlich alles andere als günstig, sich einen neuen mächtigen Feind zu schaffen.

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Falls aber die NSDAP bei diesem Kampf obsiegte, würde der Einfluss des Faschismus erheblich verstärkt. Es ließ sich nicht ausschließen, dass sich Deutschland nach der Machtergreifung der NSDAP mit dem faschistischen Italien und Japan, das ja auch militarisiert und gewissermaßen faschistisiert war, zusammenschließen würde. Daher würde Japan mutmaßlich mit Unterstützung des faschistischen Deutschland noch skrupelloser als bisher den Invasionskrieg in China weiterfuhren. Am günstigsten schien es für China, wenn sich die parlamentarische Demokratie in Deutschland behaupten und der Aufstieg sowohl des Linksradikalismus als auch des Rechtsradikalismus verhindert würde. Doch erkannten die meisten chinesischen Kommentatoren bereits vor der Machtergreifung Hitlers, dass das nur ein Wunschtraum war 56 . Weil die Regierung der Kuomingtang nicht fähig war, den Konflikt mit Japan beizulegen, war das Eingreifen des Völkerbundes und der einflussreichen Mächte für China unverzichtbar. Tatsache war aber, dass die politische Umwälzung in Deutschland die Aufmerksamkeit der westlichen Länder zum großen Teil auf sich gezogen hatte, so dass sie sich kaum noch um den Streitfall im Fernen Osten kümmern konnten. Nicht nur stiegen Kommunismus und Faschismus in Deutschland auf, die die parlamentarische Demokratie bedrohten und den Frieden gefährdeten, sondern die deutsche Regierung versetzte auch mit ihren Aufrüstungsankündigungen die Welt in große Sorge. Im Hinblick darauf beklagte sich Zhang Shenxiu in seinem Beitrag darüber, dass die deutsche Politik die Welt abgelenkt und die Tatkraft der fuhrenden Mächte zu sehr in Anspruch genommen habe. Gerade Japan habe daraus Nutzen gezogen 57 . Aus diesem Grund ist aus den Kommentaren vieler chinesischer Kritiker die Hoffnung abzulesen, dass die politische Unruhe in Deutschland möglichst bald beigelegt würde, damit sich der Völkerbund und die Weltmächte für die Schlichtung des Konflikts zwischen China und Japan einsetzen könnten. Aber das politische Chaos in Deutschland dauerte ungefähr ein Jahr, bis es schließlich scheinbar mit Hitlers Machtergreifung beendet wurde. Freilich: das Problem wurde bekanntlich nicht endgültig gelöst. Hitlers Machtergreifung brachte der Welt noch mehr Probleme und stürzte die Westmächte in die ärgste Bedrängnis, so dass es den Chinesen immer schwerer fiel, mit Hilfe des Völkerbunds bzw. der Westmächte den Streitfall mit Japan beizulegen und das von den Japanern eroberte Gebiet zurückzugewinnen. Den Einfluss von Hitlers Regierungsantritt auf die Beilegung des Konflikts zwischen China und Japan analysierten die chinesischen Kommentatoren hauptsächlich unter zwei Aspekten. Einerseits erläuterten sie, wie Hitlers 56

Siehe oben I. 2. Vgl. ZHANG Shenxiu, Das gegenwärtige politische Chaos in Deutschland und seine Außenpolitik während der Abrüstung, in: Foreign Affairs,Bd. l , N r . 6 v o m 15.Dezember 1932. 57

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Machtergreifung die Einstellung der Westmächte dem chinesisch-japanischen Konflikt gegenüber beeinflusste bzw. veränderte. Andererseits thematisierten einige Kritiker auch, dass Hitlers Politik der Rückeroberung der Kolonien unmittelbaren Einfluss auf die Kontroverse zwischen China und Japan haben würde. Gu Binglin hat sich in seinem Beitrag „Der Einfluss von Hitlers Erfolg auf den Konflikt zwischen China und Japan" eingehend mit diesem Thema beschäftigt. Er deutete zunächst an, dass die Regierung der Kuomingtang seit dem Ausbruch des Krieges zwischen China und Japan versuche, mit Hilfe des Völkerbundes den Konflikt zu schlichten. Tatsache aber sei, dass „sich England und Frankreich, die den Völkerbund manipulieren, mit Blick auf ihre Geldschulden aus dem letzten Krieg immer nach der Politik der USA im Fernen Osten gerichtet haben" 58 . Aus diesem Grund sei die Haltung der USA zu dem Konflikt von entscheidender Bedeutung. Die USA seien das Gläubigerland der europäischen Siegermächte, die durch die Reparationen Deutschland auszubeuten suchten. Hitler und seine Partei hätten lange behauptet, dass die hohe Reparationssumme, die Deutschland an die Siegermächte zahlen müsse, aufzuheben sei. Daher meinte der Verfasser, dass Hitlers politischer Erfolg direkt oder indirekt den europäischen Siegermächten einen bitteren Schlag in Hinsicht auf ihre Schuldenzahlung gegenüber den USA versetze. Angesichts des finanziellen Verlusts, der nach Hitlers Machtergreifung auf sie zukomme, müssten sich sowohl England und Frankreich als auch die USA auf Hitlers Außenpolitik konzentrieren, so dass der Streitfall im Fernen Osten für sie an Bedeutung verliere. Außerdem erläuterte der Verfasser, dass sich Frankreich nach Hitlers Regierungsantritt voll auf den Revanchekrieg vorbereiten müsse, der angesichts der aggressiven Politik der NSDAP höchstwahrscheinlich entfesselt würde. Andererseits deutete Gu Binglin an, dass es bereits eine Tendenz gebe, dass sich Deutschland und Italien gegen Frankreich zusammenschlössen. Auch England neige dazu, sich angesichts seiner Interessen in Europa der Koalition von Deutschland und Italien anzuschließen. Im Hinblick darauf glaubte der Verfasser, dass „Frankreich wie auf glühenden Kohlen sitzt, so dass es alle Mittel darauf verwenden muss, um sich selbst aus der Not zu helfen, und daher weder Muße noch Lust hat, in die Ereignisse im Femen Osten einzugreifen" 59 . Was die USA betrifft, so meinte der Verfasser, dass die Erklärungen einiger amerikanischer Politiker gezeigt hätten, dass die USA ihre kompromisslose 58

Gu Binglin, Der Einfluss von Hitlers Erfolg auf den Konflikt zwischen China und Japan, in: Xin She Hui Ban Yue Kan, Bd. 4, Nr. 8 vom 16. April 1933, S. 186. Diese Zeitschrift wandte sich gegen jede Kompromisspolitik der japanischen Aggression gegenüber, und ihr Ziel bestand darin, das chinesische Volk zum Kampf gegen die japanische Invasion zu vereinigen. 59 Ebd.

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Politik im Femen Osten angesichts der politischen Umwälzung in Deutschland bis zu einem gewissem Maße modifizieren würden. Einerseits habe der ehemalige Außenminister der USA gesagt, dass es nicht völlig ausgeschlossen sei, dass die USA das von Japan unterstützte Mandschu-Reich im Nordosten Chinas anerkennen würden. Andererseits habe aber ein Mitglied der amerikanischen Regierung geäußert, dass die Politik der amerikanischen Regierung im Fernen Osten immer noch nicht festgelegt und geklärt sei. Das waren nach Meinung des Verfassers eindeutige Beweise dafür, dass die Entschlossenheit der amerikanischen Regierung in Hinsicht auf den chinesisch-japanischen Konflikt zu schwanken begann 60 . Werde die Politik der britischen Regierung ins Auge gefasst, so vertrat Gu Binglin die Position, dass sich die britische Regierung auf der internationalen Bühne oft klug und geschickt verhalten habe. Einerseits richte sie sich nach dem Willen der Amerikaner, andererseits drehe sie ihr Fähnchen immer nach dem Wind. Angesichts der Änderung der Haltung der amerikanischen und der französischen Regierung habe die britische Regierung ebenfalls begonnen, sich bei Japan beliebt zu machen. So habe sie jüngst im Völkerbund für Japan Partei ergriffen 61 . Der Verfasser erwähnte weiter, dass der positive Einfluss der Sowjetunion auf die Beilegung des chinesisch-japanischen Konflikts nach Hitlers Regierungsantritt erheblich beeinträchtigt werde. Hitlers Machtergreifung bedeute für die Sowjetunion den totalen Sieg des Faschismus in Deutschland und den Beginn der Ausrottung der dortigen kommunistischen Bewegung. Das sei zweifellos ein schwerer Schlag für das kommunistische Russland, der die Konsequenz habe, dass „die Sowjetunion einen wichtigen Befürworter in Europa verloren hat und dass die Gefahr größer wird, vom Aggressionskrieg seitens des Westens heimgesucht zu werden, so dass es für die Sowjetunion nicht möglich ist, sich mehr um die Probleme im Fernen Osten zu kümmern" 62 . Damit werde China auch ein bedeutender potentieller Partner entzogen, der Japan bei seiner Invasion gewissermaßen in Schach halten könnte. Angesichts der veränderten Haltung der wichtigen Mächte zeichne sich die Gefahr ab, dass China ohne Hilfe bleibe. Auch wenn die Großmächte China und Japan selbst den Konflikt lösen ließen und nicht eingriffen, wäre das für Japan von großem Vorteil und extrem ungünstig für China, weil China sowohl politisch und wirtschaftlich als auch militärisch Japan weit unterlegen sei. Wenn man diese Faktoren aber genauer analysiert, wird man sagen müssen, dass sie alle mehr oder minder vom Sieg der NSDAP in Deutschland und Hitlers Machtergreifung verursacht wurden. Während die führenden Mächte vor Hitlers Regierungsantritt, wie oben erwähnt, in Sorge waren, welche 60 61 62

Vgl. ebd., S. 186 f. Vgl. ebd., S. 187. Ebd., S. 186.

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Richtung die deutsche Politik fortan nehmen würde, und versuchten, negative Auswirkungen der deutschen politischen Umwälzung möglichst zu begrenzen und die Entwicklung der deutschen Politik in ihrem Sinn zu lenken, mussten sie nach dem Sieg der NSDAP Hitlers Regime mehr Aufmerksamkeit schenken, um der Expansion Deutschlands Einhalt zu gebieten oder sie doch einzuschränken. Tatsache war jedoch, dass der Einfluss der Westmächte auf die Beilegung des Konflikts im Fernen Osten und auf die Beendigung des japanischen Invasionskriegs in China abnahm, weil die politische Lage Deutschlands ihre Aufmerksamkeit absorbierte. Es lag den deutschen Politikern stets am Herzen, die überseeischen Kolonien, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg gezwungenermaßen abgetreten hatte, zurückzugewinnen. Um ihre Anhängerschaft zu vergrößern, hatte die NSDAP mit aller Entschiedenheit propagiert, dass Deutschland die Kolonien zurückerhalten müsse, um wieder zu einer Weltmacht zu werden. Hitler war der fanatischste Befürworter dieser Politik. Seine Gier, die überseeischen Kolonien zurückzugewinnen, war unverkennbar. So analysierten die damaligen chinesischen Kommentatoren diese Politik der NSDAP, insbesondere die zur Restitution der Kolonien in Asien, und versuchten, einen Zusammenhang zwischen der deutschen Kolonialpolitik und China herzustellen. Bereits vor Hitlers Machtergreifung hob ein Kommentator Hitlers Entschlossenheit zur Rückeroberung der Kolonien in Ostasien hervor. Hitlers Bemerkung in einer Broschüre mit dem Titel Wirtschaftsaufbau hatte tiefen Eindruck auf den Verfasser gemacht. Diese Bemerkung wurde von ihm so wiedergegeben: „Um die wirtschaftlichen Probleme zu lösen, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Kolonien in Ostasien zurückzuerobern. Falls wir bei der Durchführung dieser Politik auf Hindernisse stoßen, müssen wir uns mit Gewalt durchsetzen" 63 . Der Verfasser leitete daraus eine große Gefahr für das chinesische Volk ab. Die deutschen Kolonien in Asien vor dem Ersten Weltkrieg bestanden hauptsächlich aus zwei Teilen: einigen Inseln im Pazifischen Ozean und der Kiautschou-Bucht einschließlich Tsingtau. Um die deutsche Wirtschaft zu entlasten, brauche Deutschland neue Quellen für Rohstoffe und neue Absatzmärkte, die die Deutschen aber nicht auf den Inseln im Pazifischen Ozean finden könnten. Aus diesem Grund war der Verfasser der Meinung, dass die NSDAP mit ihrer Kolonialpolitik in Ostasien eindeutig auf Kiautschou und Tsingtau ziele, weil Deutschland nicht nur eine gewisse Kontrolle über den Pazifischen Ozean ausüben, sondern auch die Möglichkeit bekommen wolle, sich Schritt für Schritt ins Einzugsgebiet des Gelben Flusses auszudehnen, sofern Tsingtau und Kiautschou Deutschland wieder zur Verfügung stünden64. Weiter meinte der Verfasser: 63

GAO Xin, Hitlers Politik zur Zurückeroberung der Kolonien in Ostasien, in: Zheng Zhi Ping Lun, Nr. 22 vom 26. Oktober 1932, S. 3. 64 Vgl. ebd., S. 4.

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Jahrbuch fiir Europäische Geschichte 5 (2004) „Es ist doch die Sehnsucht der Deutschen, Tsingtau wiederum zurückzuerobern. Wer in Deutschland gewesen ist, kann das leichter begreifen. Jedes Mal, wenn ich mit Deutschen spreche, lenken sie, mit Ausnahme einiger Intellektueller, direkt das Thema auf Tsingtau und behaupten unhöflich, dass Tsingtau ihr Territorium sei, das sie unglücklicherweise verloren hätten" 65 .

Der Kommentator fühlte sich auch deswegen in seiner Meinung bestärkt, weil Tsingtau und Kiautschou wie die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika sowohl auf den Landkarten als auch in den Schulbüchern der Grundschule in besonderer Farbe gekennzeichnet würden 66 , was unübersehbar widerspiegele, dass die Deutschen Tsingtau und Kiautschou nie als Chinas Hoheitsgebiet anerkannt und immer beabsichtigt hätten, ihre Herrschaft dort wiederherzustellen. Der Verfasser wollte mit seinem Beitrag die Chinesen vor dieser Gefahr warnen, damit sich das chinesische Volk auf Hitlers Regierungsantritt, der höchstwahrscheinlich kurz bevorstehe, und die nachfolgende Angriffsaktion vorbereiten könne. Jiang Xuekai vertrat in seinem Beitrag eine abweichende Meinung. Er führte aus, dass sich manche Chinesen über Hitlers Regierungsantritt und Japans Austritt aus dem Völkerbund gefreut hätten, weil sie meinten, dass China zur Politik zurückfinden könne, aus den Konflikten zwischen den Mächten Nutzen zu ziehen und dadurch Angriffe der fremden Mächte zu verhindern 67 . Jene Chinesen hofften, dass Deutschland von Japan verlangen würde, die Inseln im Pazifischen Ozean, die bis zum Ausbruch des Weltkriegs Deutschland gehört hatten, zurückzuerstatten. Sie erwarteten, dass Japan Deutschlands territoriale Forderung ablehne und Deutschland in einen direkten Krieg mit Japan geraten werde 68 . Dann könnte China davon profitieren und relativ leicht die von Japan eroberten Provinzen Nordostchinas zurückgewinnen. Aber der Verfasser wies zugleich darauf hin, dass diese These nur Illusion sei, weil „der Hitler als Führer einer oppositionellen Partei nicht dem Hitler im Amt gleicht" 69 . Er würde sich nicht in einen direkten Konflikt mit Japan verwickeln lassen. Der Verfasser hatte völlig Recht. Deutschlands Streitkräfte waren aufgrund des Versailler Vertrags streng begrenzt. Auch wenn Hitler direkt nach seinem allfälligen Regierungsantritt trotz des Widerstands anderer Mächte Aufrüs65

Ebd. Vgl. ebd. 67 Diese Politik formulierte der Kanzler der Qing-Dynastie Li Hongzhang. Er versuchte auch, auf diese Weise dem Mandschu-Reich aus der Krise zu helfen. Diese Politik brachte dem chinesischen Volk aber nur eine noch größere Katastrophe, verstärkte die Ausbeutung und die Angriffe der fremden Mächte. 68 Ζ. B. wurde in Shen Pao vom 23. März 1933 berichtet, dass Japans Erklärung, es wolle die nach dem Weltkrieg eroberten Gebiete nicht aufgeben, große Aufmerksamkeit in Deutschland erregt habe. 66

69

JIANG, A n a l y s e (Anm. 51 ).

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tungsmaßnahmen ergreifen sollte, würde er noch viel Zeit brauchen, um auf militärischem Gebiet die Weltmächte einzuholen. Bevor Deutschland militärisch den anderen Großmächten überlegen wäre, würde Hitler kein Risiko eingehen, einen Krieg nach außen zu fuhren. Auch wenn Hitler einen Krieg entfesseln würde, wären mit höchster Wahrscheinlichkeit die Nachbarländer sein erstes Ziel 70 . Es sei deshalb schlechterdings unvorstellbar, dass Hitler in kurzer Zeit mit einem asiatischen Staat in Krieg geraten werde. Denn erstens besitze Deutschland keine starken Seestreitkräfte, mit denen es ein militärisches Unternehmen nach Asien organisieren könnte. Zweitens sei das faschistische Japan ein wichtiger Partner, auf dessen Unterstützung das ebenso faschistische Deutschland nicht verzichten wolle. Wegen Hitlers Expansionspolitik würde das faschistische Deutschland auf der internationalen Bühne isoliert. Somit sei es nicht vorstellbar, dass Deutschland auf Kosten eines wichtigen Partners die Kolonien zurückerobere, die ihm einst gehört, aber keinen nennenswerten Gewinn eingebracht hätten. Die obige Analyse fuhrt zu dem Ergebnis, dass es den damaligen chinesischen Kommentatoren aufgefallen war, dass die politische Umwälzung nicht nur Rückwirkungen auf den Weltfrieden haben würde, sondern auch auf die Beilegung des Konflikts zwischen China und Japan und damit das Schicksal des chinesischen Volks. Darin liegt der eigentliche Grund, warum die chinesischen Kritiker der deutschen Politik trotz der enormen geographischen Distanz zwischen den beiden Ländern so große Aufmerksamkeit schenkten. 3. Ähnlichkeiten zwischen China und Deutschland in der politischen Lage Die chinesischen Kommentatoren hielten die politische Umwälzung in Deutschland für besonders analysebedürftig, weil es zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und China gab. Diese Annahme führte die chinesi70

Einige damalige chinesische Publizisten kamen zu der illusorischen Einschätzung, dass Hitler-Deutschland wegen des Anspruchs auf die ehemaligen Kolonien in Asien mit Japan in Streit geraten werde, wahrscheinlich weil die aggressive Politik im Parteiprogramm der NSDAP von 1920 bekannt war, insbesondere Punkt 3: „Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses". Aber in Mein Kampf, das ebenfalls häufig von den chinesischen Kommentatoren erwähnt bzw. zitiert wurde, hatte Hitler eindeutig erklärt, dass sein Landanspruch vor allem auf Europa zielte. „Es ging Hitler in erster Linie um ,eine Vergrößerung des Lebensraumes unseres Volkes in Europa. Denn nicht in einer kolonialen Erwerbung haben wir die Lösung dieser Frage zu erblicken, sondern ausschließlich im Gewinn eines Siedlungsgebietes, das die Grundfläche des Mutterlandes selbst erhöht ... (S. 741).' Das von Hitler formulierte, politische Testament der deutschen Nation für ihr Handeln nach außen' enthält den kategorischen Satz (S. 754):,Sorgt dafür, daß die Stärke unseres Volkes ihre Grundlagen nicht in Kolonien, sondern im Boden der Heimat in Europa hält!'" Günter MOLTMANN, Weltherrschaftsideen Hitlers, in: Europa und Übersee, Hamburg 1961, S. 213 f. Erst später verfiel Hitler auf den Gedanken der Restitution der überseeischen Kolonien. Daher spiegelte diese Hoffnung der chinesischen Kritiker nur ihr eigenes Wunschdenken wider.

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sehen Journalisten zu der Überzeugung, dass sie durch die genaue Beobachtung der deutschen Politik Erkenntnisse gewinnen könnten, die ihnen bei der Lösung der aktuellen Probleme in China helfen würden. Shu Guofan z. B. hat in einem Beitrag zwei solche Ähnlichkeiten benannt. Erstens wies er darauf hin, dass die Lage Deutschlands in Europa der Chinas in Asien ähnele. „Beide Länder wurden von den imperialistischen Mächten sowohl als Objekt der Ausbeutung wie auch als in einen Käfig gesperrter Löwe angesehen" 71 . Mit dieser Bemerkung war zunächst gemeint, dass beide Länder unter großem Druck stünden und das deutsche und das chinesische Volk in großer Armut um ihre Existenz kämpften. Deutschland werde von den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg geknebelt, China seit dem Opiumkrieg von den imperialistischen Mächten ausgebeutet. Weil Deutschland den Krieg verloren habe und allein die Kriegsschuld tragen müsse, stehe es unter strenger Überwachung der Siegermächte, was dazu führe, dass ihm erstens seine Position als Weltmacht und zweitens seine Freiheit zum Handeln auf der internationalen Bühne entzogen worden seien. Betrachte man die politische Lage in China, so sei es unübersehbar, dass die Regierung der Kuomingtang von den Großmächten gesteuert werde, hauptsächlich weil sie nicht nur finanziell, sondern auch politisch von ihnen abhängig sei. Beide, Deutschland und China, verfugten aber noch über ein gewisses Potential, um wieder aufzuerstehen, wenn ihnen eine günstige Gelegenheit verschafft würde. Sowohl Deutschland als auch China hätten eine ruhmreiche Geschichte vorzuweisen. Deutschland sei seit der Reichsgründung eine wichtige Macht in Europa und in der Welt gewesen. Für lange Zeit sei das Deutsche Reich einer der stärksten Staaten auf dem europäischen Kontinent gewesen, mit dem, insbesondere im militärischen Bereich, kein einziges Land in Europa habe konkurrieren können. China habe eine viel längere Geschichte von ungefähr 5000 Jahren. Das Reich der Mitte habe unvergleichliche Blütephasen erlebt und sei in den Augen vieler Europäer ein Traumland. Die glorreiche Vergangenheit habe die Völker tief geprägt und führe dazu, dass sie sich immer an Ruhm und Ehre erinnerten und hofften, die Vergangenheit zurückzuholen. In diesem Sinn dürfe man sagen, dass die beiden Völker still unter ihrer schweren historischen Last litten und eine Erbitterung aufstauten, die sich früher oder später in einer alles umwälzenden Revolution entladen könnte. Zweitens bemerkte der Verfasser, dass es sowohl dem chinesischen als auch dem deutschen Volk an einer einheitlichen Ideologie mangele: Zu viele Geistesströmungen herrschten im Lande, so dass die Bürger mit unterschiedlichen ideologischen Aufladungen oft gegeneinander kämpften und dadurch einander schwächten. Hauptsächlich ging es dem Verfasser um den Nachweis, dass es in Deutschland nicht nur Konflikte zwischen der kapitalistischen 71

SHU Guofan, Unklarheiten über die Entwicklungstendenz der deutschen Politik, in: South China Weekly Review, Bd. 4, Nr. 3 vom 4. Februar 1933, S. 22.

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Klasse und dem Proletariat gebe, sondern auch die verschiedenen Parteien mit diktatorischen Zielsetzungen sich kompromisslos bekämpften, was zu erheblicher politischer Unruhe geführt habe 72 . Das sei in Deutschland so und auch in China. Mit diesen Bemerkungen hat Shu Guofan die Ähnlichkeiten zwischen den Chinesen und den Deutschen eigentlich nicht treffend dargestellt. Diese Ähnlichkeiten zeigten sich hauptsächlich in zwei Momenten. Erstens waren beide Völker zutiefst monarchisch gesinnt. Die Deutschen riefen sich ständig voll Wehmut die Blüte des Kaiserreichs ins Gedächtnis zurück, weil die Prosperität des deutschen Volks unter der Herrschaft des Kaisers in einem vereinigten Reich einen deutlichen Kontrast zur Situation während der Zersplitterung vor der Einigung bzw. der Not nach dem Weltkrieg bildete. Die Chinesen hingegen waren so lange der absoluten Monarchie untergeordnet, dass viele Menschen bewusst oder unbewusst zum autokratischen System hinneigten. Aus diesem Grund konnten Restaurationsgedanken und die Idee der autoritären Alleinherrschaft in beiden Ländern leicht Anhänger finden. Zweitens: Gerade weil die beiden Länder dringend auf tief greifende Reformen angewiesen waren, wirkten unterschiedliche Ideologien und verschiedene politische Strömungen hier wie dort zusammen. Daher gewannen sowohl die bürgerlich- demokratischen und die konservativen Parteien als auch die kommunistische bzw. faschistische Bewegung in Deutschland abwechselnd an Einfluss. In China wurden unterschiedliche Ideologien jeweils mit der Aura eines Heilmittels für das arme Volk versehen. Die Verwestlichungsbewegung, der Reformismus, die bürgerliche Revolution, die Alleinherrschaft Tschiang Kai-scheks und die kommunistische Revolution unter der Führung der KPCh: einige dieser Konzepte hatten sich Anfang der 30er Jahre bereits als ungeeignet für das damalige China erwiesen, während die Chinesen in anderer Hinsicht immer noch im Dunkeln herumtappten. „Nachdem die Geschütze der Imperialisten die im uralten Grab tief schlafende Geisteswelt [Chinas] aufgeweckt hatten, geriet sie in eine Epoche, in der nach Auswegen gesucht wurde. [...] So wurden verschiedene Ideologien, die in Europa und Amerika in Mode waren, wie Waren nach China exportiert bzw. auf dem chinesischen Markt verkauft" 73 . In diesem Sinn gab es in Hinsicht auf den ideologischen und geistigen Wirrwarr Parallelen zwischen dem deutschen und chinesischen Volk. Aus den dargelegten Gründen lässt sich leicht schlussfolgern, warum die damaligen chinesischen Kommentatoren der politischen Umwälzung in Deutschland so große Aufmerksamkeit geschenkt haben. Die Entwicklung der deutschen Politik beeinflusste nicht nur Deutschland oder Europa. Es war der innere Zusammenhang zwischen Deutschlands Politik und der Chinas, der 72

Vgl. ebd. WAN Mingyi, Faschismus und China, in: South China Weekly Review, Bd. 3, Nr. 1 vom 13. August 1932, S . 2 1 .

73

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die chinesischen Kommentatoren zur Analyse der politischen Umwälzung in Deutschland bewog. III. Zusammenfassung Aufgrund der obigen Analyse lässt sich festhalten, dass die chinesischen Publizisten die politische Lage Deutschlands genau beobachteten und in gehaltvolle Beurteilungen bzw. Thesen münden ließen. Die meisten Kommentatoren sagten vor Hitlers Machtergreifung den Sieg der NSDAP in Deutschland voraus. Außerdem ahnten sie, dass der Sieg der faschistischen Bewegung in Deutschland nicht nur gefährlich fiir das deutsche Volk, sondern verhängnisvoll für die ganze Welt werden würde. Außerdem erkannten die chinesischen Journalisten die Kettenreaktionen, die von der politischen Umwälzung in Deutschland auslöst wurden und die die ganze Welt, einschließlich Chinas, beeinflussen würden. Sie sahen die deutsche Politik nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit der Situation in China. Dabei leisteten sie in gewisser Hinsicht auch einen Beitrag zur Lösung der inneren bzw. auswärtigen Probleme Chinas. Selbstverständlich haben die chinesischen Publizisten auch unangemessene und irrige Thesen vertreten. Nicht alle Kommentatoren konnten Vorhersagen treffen, die überwiegend mit der kommenden Wirklichkeit übereinstimmten. Nicht alle konnten auch Thesen entwickeln, die heute anerkannt sind. Aber allzu hohe Anforderungen dürfen an die Beiträge der damaligen Journalisten auch nicht gestellt werden. Die historische Wahrheit ist die Tochter der Zeit. Man darf nicht von denjenigen verlangen, die sich unmittelbar im Sturm befinden, ganz nüchtern zu bleiben bzw. aufgeklärt zu reagieren. Die Analysen der früheren Intellektuellen zu untersuchen und zu bewerten, um den positiven Teil zu erkennen und den fehlerhaften zu verbessern, das ist gerade die Aufgabe der nachfolgenden Historikergeneration.

Summary From mid-1932 to the turn of 1933, the German governments alternated frequently. After two general elections in 1932, at the beginning of 1933 Hitler eventually became Reich Chancellor following upon Papen and Schleicher. Due to its turbulent political situation, Germany became the focus of the world and also attracted the attention of Chinese scholars thousands of kilometers away. In this article, the author first investigates how Chinese scholars

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in the 1930s analyzed the strengths of German political parties, and how they anticipated the political situation and policies in Germany would develop after Hitler rose to power. Then the effects on China of the changes of political power in Germany are analyzed, as well as the reasons why the development of the German political situation drew so much attention of Chinese scholars. Through analyzing historical materials, the article reveals the views and opinions of Chinese scholars in that period.

EUROPA-INSTITUTE UND EUROPA-PROJEKTE Das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main Von

Marie Theres Fögen I. Gründung und Geschichte des wissenschaftlichen Profils des MPIeR Das Institut für europäische Rechtsgeschichte wurde 1964 von der MaxPlanck-Gesellschaft gegründet. Gründungsdirektor war Helmut Coing (1912— 2000), Professor für Bürgerliches Recht und Römisches Recht an der Universität Frankfurt am Main seit 1948. 1957 waren die Römischen Verträge geschlossen, die EWG und die EURATOM ins Leben gerufen worden. Die Nachkriegszeit endete mit der Idee eines vereinten Europa, die in den folgenden Jahrzehnten umgesetzt werden sollte. Vereintes Europa, das hieß auch und besonders Vereinigung durch und im Recht. Ein solches europaweites Recht hatte es einst gegeben: das ius commune, welches, auf dem römischen Recht aufbauend, in ganz Europa bekannt und teils subsidiär, teils konkurrierend zu lokalen Rechten geltendes Recht war. Erst die nationalen Rechtsordnungen und Kodifikationen seit dem 18. Jahrhundert hatten diese Einheit gesprengt. Das Recht wurde positiviert, und dies in jeder Nation ein wenig oder auch sehr anders. Zur Zeit der Gründung des Instituts in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts galt es, wieder zusammenzufügen, was im Lauf von zwei bis drei Jahrhunderten getrennt worden war. Genaue Kenntnis der einzelnen nationalen Rechte und ihrer Entwicklung seit den Zeiten des ius commune war Voraussetzung, um zum Vergleich und damit auch zur Prüfung von Kompatibilitäten und Unvereinbarkeiten, von Verwandtschaften und Sonderentwicklungen der europäischen Rechte zu gelangen. So wie es in Europa zunächst um wirtschaftliche Vereinigung ging, so stand auch das dazugehörige Recht, nämlich das Privatrecht - das Recht der Verträge, der Gesellschaften, des Handels, des Eigentums - , im Vordergrund. Helmut Coing und seine zunächst nur sechs wissenschaftlichen Mitarbeiter machten sich ans Werk. Entstanden sind von 1973 bis 1988 neun (Teil-)Bände Handbuch der Quellen

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und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Nach seiner Emeritierung fügte Helmut Coing noch eine Synthese der europäischen privatrechtlichen Rechtsinstitute hinzu, das zweibändige Werk Europäisches Privatrecht (München 1985, 1989). Die Grundlagen des Privatrechts der europäischen Länder waren damit flächendeckend aufgearbeitet. Wer immer Rechtsvereinheitlichung im Schuldrecht, Handelsrecht, Deliktsrecht oder anderen Gebieten anstrebte, verfügte nun über ein zuverlässiges Mittel, sich über den Rechtszustand der einzelnen Länder zu informieren. Als Helmut Coing 1980 emeritiert und Dieter Simon zusammen mit Walter Wilhelm zu neuen Direktoren ernannt wurden, konnte das Forschungsgebiet des Instituts ausgeweitet werden. Auch hatte sich das wissenschaftliche Klima verändert: Ob Rechtsgeschichte eine historische oder eine juristische, eine geistes- oder eine sozialwissenschaftliche Disziplin sei, war, wie an den Universitäten, so auch am MPIeR eine lebhaft umstrittene Frage. Das Pendel schlug in Richtung einer entschlossenen Historisierung des Rechts als einer sozialen Erscheinung aus, womit an die Stelle der privatrechtlichen Dogmenund Kodifikationsgeschichte zunehmend die Erforschung der Genese der europäischen (einschließlich byzantinischen und slawischen) Rechte seit der Antike trat. Das Mittelalter im östlichen und im westlichen Europa bildete einen komparatistischen Schwerpunkt nicht nur in Hinblick auf die Privatrechte, sondern auf die historischen Bedingungen des Rechts an sich. Damit traten die Entstehung von Normen und die Ausdifferenzierung von juristischen Normen sowie die Techniken der Normdurchsetzung in den Mittelpunkt des Interesses. So wie die europäische Einigung sich von der Wirtschaftseinigung allmählich zu einer politischen Einheit fortbewegte, so kamen auch die europäischen politischen Rechte - Verfassungen, Staats- und Verwaltungsrecht, Policeyordnungen, Völkerrecht - in den Blick. Ermöglicht wurde diese Erweiterung der Kompetenz des MPIeR durch die Berufung von Michael Stolleis, Professor für Öffentliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Universität Frankfurt, zum Direktor am MPIeR im Jahr 1991. Er hat mit der Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland (3 Bände, 1988, 1992 und 1999) das paradigmatische Werk für diesen Sektor des europäischen Rechts vorgelegt. Der Aufarbeitung des „öffentlichrechtlichen" historischen Materials, zum Beispiel der unzähligen Policeyordnungen der frühen Neuzeit, sind zahlreiche Studien, auch vieler Nachwuchswissenschaftler, gewidmet. Wiederum eher dem Privatrecht der Antike und des Mittelalters nahe stehend, versucht Marie Theres Fögen, Professorin für Römisches Recht, Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Zürich und Direktorin am Institut seit Oktober 2001, rechtshistorische Forschung der Epistemologie moderner Gesellschaftstheorien anzugleichen. Dies geschieht mit dem Anspruch und in der Hoffnung, dass System- und Evolutionstheorie einen hoch

Fögen, Das Max-Planck-Institutfür

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geeigneten Rahmen für die Erforschung des Rechts gleich welcher Zeiten anbietet, ja, dass Rechtsgeschichte nichts anderes ist als die Geschichte der Evolution eines sozialen Systems. In seiner 40jährigen Geschichte hat das MPIeR also durch seine Direktoren und seine (zur Zeit) 17 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und zahlreichen Gäste aus dem In- und Ausland die jeweils politisch und wissenschaftsgeschichtlich aktuellen Strömungen und Anliegen aufgegriffen und seine Kompetenz entsprechend erweitert. Es ist so unstreitig zum europäischen Zentrum der Rechtsgeschichte geworden.

II. Arbeitsfelder und aktuelle Projekte Das MPIeR widmet sich zum einen langfristigen Erschließungsarbeiten, zum anderen gezielten mittelfristigen Projekten. Zum ersten Aufgabengebiet gehören zum Beispiel die Pflege, Beschreibung und Edition mittelalterlicher, byzantinischer und westlicher, Handschriften des Rechts, die kritische Bibliographie der gesamten humanistischen Rechtsliteratur Europas, die Erfassungjuristischer Dissertationen des 16. bis 18. Jahrhunderts, der sog. „Staatskalender" vor 1806 sowie die Digitalisierung privatrechtlicher Schriften und Zeitschriften des 19. Jahrhunderts. Das MPIeR sichert und systematisiert damit die Bestände der Überlieferung und bietet der wissenschaftlichen Community einen bequemen und zuverlässigen Zugriff auf das Material an. Unter den aktuellen, mittelfristig angelegten Projekten seien hervorgehoben: Geschichte des modernen Völkerrechts. Die vergleichsweise spät einsetzende Geschichte des Völkerrechts wird vornehmlich durch einzelne Dissertationen zu europäischen und amerikanischen Autoren und Werken aufgearbeitet. Damit werden die internationalen Beziehungsgeflechte und die Grundlagen sehr aktueller Auseinandersetzungen um Möglichkeit und Bedeutung des internationalen öffentlichen Rechts offen gelegt. Es ist deshalb nur konsequent, dass in Kürze das Journal of the History of International Law vom Frankfurter MPIeR mitherausgegeben werden wird. Policeyordnungen. Noch ehe europäische Staaten ein formelles Staats- und Verwaltungsrecht ausdifferenzierten, die Politik sich also selbst dem Recht unterwarf, entstanden territoriale Ordnungen, welche detaillierte Vorschriften zum Verhalten der Bürger sowie Verbote und Gebote im alltäglichen Leben enthielten. Diese Policeyordnungen sind Bestandteil einer Geschichte der Sozialdisziplinierung ebenso wie erste Anläufe, die Gesellschaft durch Recht zu steuern und zu verwalten. Das Europa der Diktatur. Seit 1999 bearbeitet eine international zusammengesetzte Forschergruppe die zahlreichen (faschistischen und kommunisti-

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sehen) Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts. Komparatistische Untersuchungen klären auf über die Besonderheiten und auch die Gemeinsamkeiten diktatorischer Regimes, insbesondere in Hinblick auf das Schicksal - die Steuerungskraft oder das Versagen - des Rechts unter der Bedingung von politischem und wirtschaftlichem Totalitarismus. Die Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers. Im Gegensatz zu den westeuropäischen Ländern ist über die Rechtskulturen der osteuropäischen Länder nicht sehr viel bekannt. Bemerkenswert ist insbesondere, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein massiver Transfer- und Rezeptionsprozess stattfand, in dessen Verlauf ganz Osteuropa mit westlichen Kodifikationen und Rechtsschulen vertraut wurde. Diesen Prozess in seinen verschlungenen Wegen, Binnenzirkulationen und Vermischungen mit lokalen Rechten zu erfassen, ist die vordringliche Aufgabe des Projekts. Präzise Kenntnis der juristischen Bedingungen - des materiellen Rechts, der Gerichtsverfassung, der rechtswissenschaftlichen Ausbildung - ist dringend nötig, um auch die gegenwärtigen Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Implementation neuesten europäischen Rechts beurteilen zu können. Evolutionstheorie. Seit 2001 hat sich eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe von Wissenschaftlern konstituiert und veranstaltet in loser Folge Tagungen und Seminare zu den Chancen und Problemen einer facherübergreifenden Theorie der Evolution. Für Recht und Geschichte gleichermaßen bedeutend sind Fragen von Stabilität und Mutation, von Strukturbildung und Strukturänderung, von Equilibrium und Jumps, von Autopoiesis und Umweltanpassung, von systemischer Autonomie und struktureller Kopplung mit anderen Systemen. Rechtsgeschichte. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte. Die 2002 gegründete Zeitschrift ersetzt die frühere Publikation des Instituts lus Commune. Sie erscheint halbjährlich mit etwa 300 Seiten, enthält eine „Debatte" zu je aktuellen Themen, wissenschaftliche Aufsätze und eine Abteilung mit kurzen Rezensionen. Inhalt und Charakter der Zeitschrift zu gestalten ist eine Gemeinschaftsaufgabe der Mitarbeiter des MPIeR, wobei die Zeitschrift selbstverständlich sehr zahlreiche Beiträge auswärtiger Kolleginnen und Kollegen enthält. Rechtsgeschichte publiziert in deutsch, französisch, englisch und italienisch.

III. Organisationsstruktur des MPIeR Als Institut der Max-Planck-Gesellschaft ist das MPIeR der Grundlagenforschung verpflichtet, welche es in eigener Verantwortung gestaltet. Die Leitung obliegt zwei Direktoren, die gleichzeitig als Professoren (an der Universität Frankfurt am Main bzw. an der Universität Zürich) tätig sind. Das Institut ist

Fögen, Das Max-Planck-Institut fiir europäische Rechtsgeschichte

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nicht in zwei Abteilungen gegliedert, sondern wird als Ganzes in wechselnder Geschäftsführung der Direktoren geleitet. Evaluierend und beratend ist ein internationaler Fachbeirat von neun Kolleginnen und Kollegen aus der Rechtsgeschichte tätig. Den Kontakt zu einer breiteren Öffentlichkeit intensiviert das MPIeR durch ein Kuratorium, dem zehn Personen aus Politik, Wirtschaft, Medien und Justiz angehören. Von den 17 hauptamtlichen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist etwa die Hälfte dauerhaft für „Stabsaufgaben" tätig (langfristige Aufgaben sowie Redaktion der Publikationen: Zeitschrift und die Monographienreihe Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, ca. 15 Bände jährlich, nebst speziellen Publikationsreihen). Die andere Hälfte forscht in mittelfristigen Projekten. Habilitiert sind sechs Mitarbeiter, weitere fünf bereiten die Habilitation vor. Dementsprechend sind Berufungen von (ehemaligen) Mitarbeitern des Instituts auf Lehrstühle für Rechtsgeschichte häufig. Durch den Stipendienhaushalt können jährlich etwa 30 Wissenschaftler vorwiegend aus dem europäischen Raum, aber auch aus den USA, aus Japan und Südamerika, zu mehrmonatigen Forschungsaufenthalten am Institut eingeladen werden. Für selbst organisierte und finanzierte Besuche auswärtiger Wissenschaftler ist das Institut jederzeit offen 1 . Die Verwaltung einschließlich der Öffentlichkeitsarbeit untersteht einem Verwaltungsleiter und seinen Mitarbeiterinnen. Die Bibliothek umfasst zur Zeit fast 300 000 Bände sowie 3 000 Mikrofilme mittelalterlicher Handschriften. Diese europa-, wenn nicht weltweit einzigartige Sammlung historischer juristischer Bücher bildet das Herz des Instituts und ist Anziehungs- und Treffpunkt der internationalen rechtshistorischen Forschung. Die aufwendige Pflege und Weiterführung der Bibliothek einschließlich der umfangreichen Digitalisierungsprojekte obliegt einer Bibliotheksleiterin und ihren Mitarbeitern. Der Katalog aller Bücher ist online zu erreichen2.

IV. Nachwuchsförderung Den Nachwuchs in der rechtshistorischen Forschung zu fördern ist ein großes Anliegen des Instituts und umso dringender, seitdem sich die Forschungsbedingungen für die Rechtsgeschichte an den Universitäten verschlechtert haben. Das MPIeR verfügt über vier (teils kumulativ zu gebrauchende) Instrumente der Nachwuchsförderung: Doktorandenstipendien. Ausgestattet mit einem (nicht üppigen, aber ausreichenden) Stipendium, können Doktoranden ein bis drei Jahre unabhängig 1 2

Zum Doktorandenprogramm s. unten IV. http://sunrise.mpier.uni-frankfurt.de/webOPAC/ [Zugriff am 10. Dezember 2003].

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Jahrbuchfìir Europäische Geschichte 5 (2004)

und von belastenden Aufgaben befreit ihre Doktorarbeit verfassen. Durchschnittlich sind 12-15 inländische Doktoranden am Institut tätig3. Selbständige Nachwuchsgruppe. Ein Sonderprogramm der Max-PlanckGesellschaft hat es ermöglicht, einen qualifizierten und promovierten Mitarbeiter zum Leiter einer von der Direktion unabhängigen Nachwuchsgruppe zu ernennen. In deren Programm zur Geschichte des Verhältnisses von Technik und Recht im 19./20. Jahrhundert arbeiten bis zu vier Doktoranden. Sommerschule. Seit 1997 findet jährlich eine einwöchige Sommerschule im MPIeR statt, bei der sich etwa 20 Nachwuchswissenschaftler aus ganz Europa treffen, um ihre Projekte vorzustellen und sich auszutauschen. Auf diese Weise entsteht frühzeitig ein wissenschaftliches Netzwerk. Die Leitung der Sommerschule wird jährlich wechselnden Kollegen aus Europa anvertraut. International Max Planck Research School for European Legal History. Diese ebenfalls durch die Max-Planck-Gesellschaft in Verbindung mit den Sitzländern der Universitäten ermöglichte und zum Wintersemester 2002/03 gegründete Research School erlaubt es, die personellen Kompetenzen von MPIeR und den einschlägigen Lehrstühlen der Universität zu verbinden, um etwa 15 Doktoranden aus ganz Europa für ein bis zwei Jahre in einem Forschungskolleg zusammenzufuhren. Das Programm der Research School wird von Semester zu Semester neu erstellt.

V. Europäisches Recht In Zeiten der Globalisierung ist es angebracht und nahe liegend, die Forschungsfelder über die Grenzen Europas hinaus auszudehnen. Das MPIeR hat sich dementsprechend auch fur rechtshistorische Studien zum Beispiel zum Kolonialrecht und zum Recht Lateinamerikas geöffnet. Unverkennbar liegt sein Schwerpunkt jedoch weiterhin auf Europa und nun insbesondere auf den Herausforderungen, die sich aus der „Osterweiterung" Europas ergeben. Dass diese „Osterweiterung" avant la lettre im Recht schon stattgefunden hat - auf allen Umwegen und mit großen Komplikationen - , bietet sich deshalb als paradigmatisches Studienfeld an. Gleichzeitig sind rechtshistorische Forschungen so anzulegen, dass sie, ob sie nun europäisches oder außereuropäisches, antikes, mittelalterliches oder neuzeitliches Recht betrachten, ein gewisses Maß an generalisierbaren Einsichten in Prozesse und Strukturen eröffnen. Andernfalls würde Studien zum europäischen Recht ein neuer „europäischer Provinzialismus" drohen. Beiden Anliegen, der Beobachtung des Rechts eines größeren Europa und der Beobachtung der Evolution von Recht an sich, versucht das MPIeR gerecht zu werden. 3

Ausländische Doktoranden können über das Stipendienprogramm gefördert werden, s.oben.

Fögen, Das Max-Planck-Institutfiir europäische Rechtsgeschichte

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Summary The Max-Planck-Institute for European Legal History, founded in 1964, focussed its research in the first 15 years of its existence on the development of private law in the European nation states and thereby contributed to what was then the new idea of a unified Europe. It then extended its competence and interests to the history of law from Antiquity through the Middle Ages (both Eastern and Western) up to the age of legal humanism. Since 1990 the history of public, constitutional and international law has become a significant research topic. Thus, the Institute also seeks to understand and analyse recent political developments in the field of international relations. Finally, the Institute participates continuously in the debates on the methodology of historiography and on social theory in order to assure the connection between its own legal research and other disciplines in the humanities. The Institute has two directors and 17 permanent researchers. Up to 30 PhD students and 30 fellows and guest researchers from Europe and abroad carry out research at the Institute every year. One of the main attractions is its unique library of almost 300 000 books.

Europa digital Der Kartenserver IEG-MAPS am Institut für Europäische Geschichte in Mainz Von

Andreas Kunz Vorbemerkung Die politische Landkarte Europas, ihre Veränderungen über die Jahrzehnte und Jahrhunderte, hat schon immer Historiker und Geographen/Kartographen gleichermaßen beschäftigt, nicht zuletzt, weil diese Veränderungen sehr häufig mit Kriegen und Friedensschlüssen einhergingen. Historische Atlanten oder auch Einzelkarten - waren bisher in der Regel die Hauptquelle, um die Veränderungen der „political map of Europe" räumlich-visuell zu ergründen. Spezialwerke, die Raum- und Zeitabläufe miteinander verbinden, waren und sind dagegen eher selten, sieht man einmal von dem 1875 erschienenen grundlegenden Werk von Edward Hertslett ab1. Die digitale Welt unserer Tage bietet nun die Möglichkeit, dem Ansatz Hertsletts zu folgen und die politischen Veränderungen Europas seit dem späten 18. Jahrhundert in Form von digitalen Kartenserien neu aufzubereiten und dem interessierten Benutzer online im Internet zur Verfugung zu stellen. Dies hat der Kartenserver IEG-MAPS am Institut für Europäische Geschichte in Mainz sich zum Ziel gesetzt.

I. Das Projekt „Kartenserver IEG-MAPS" Das Institut für Europäische Geschichte ist seit Mai 2001 Standort eines Internet-Servers für digitale historische Karten, der - nach dem Akronym des Instituts - „IEG-MAPS" heißt und über die Internet-Adresse http://www.iegmaps.uni-mainz.de zu erreichen ist. Das Projekt wird von der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, gefordert und in Kooperation mit der Universität Mainz durchgeführt, die Plattenplatz und Kommunikationsverbindungen zur Verfügung stellt. Die Projektgruppe ist über ganz Deutschland verteilt: Neben Mainz, wo die Leitung und inhaltliche Konzeption des Projekts liegt sowie 1 Edward HERTSLETT, The Map of Europe by Treaty, 3 Bde., London 1875. Hertslett war Keeper of the Papers im britischen Foreign Office und konnte daher auf originales Kartenmaterial zurückgreifen. Das Werk erstreckt sich auf die Jahre 1814 bis 1875.

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Jahrbuchför Europäische Geschichte 5 (2004)

die notwendigen historischen Recherchen durchgeführt werden, sind Berlin (Kartographie) und Frankfurt am Main (Webseiten-Design) weitere Arbeitsorte2. Bei den auf dem Server bereitgestellten Karten handelt es sich um digitale Grundkarten zur deutschen und europäischen Geschichte seit 1789, und zwar flir die Themenbereiche Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Verkehr. Konzeption und inhaltliche Betreuung liegen bei den im Projekt tätigen Historikern; die digitale Erfassung und geoinformatische Aufbereitung übernehmen die Geographen. Eingescanntes Material wird nicht verwendet. Die Webseite schließt damit eine noch bestehende Lücke, denn nahezu sämtliche bereits im Netz liegenden historischen Kartensammlungen haben in der Regel wenig Karten zum deutschen Raum, oder aber es handelt sich um mehr oder minder brauchbare (teilweise unter Umgehung des Copyrights) direkt aus Geschichtsatlanten eingescannte Karten. Die hier zusammengestellten Karten sind demgegenüber neu erarbeitet und bilden einen in sich geschlossenen Datensatz, der aber durchaus erweiterungsfähig ist und in der Zukunft zu einem umfassenderen historisch-geographischen Informationssystem ausgebaut werden soll.

II. Kartenserien zur politischen Entwicklung Europas 1789 bis 2003 Der Kartenserver hat sich zum Ziel gesetzt, sämtliche - beim Standard-Ausgabemaßstab von etwa 1:24 Millionen - wahrnehmbaren Gebietsveränderungen zwischen souveränen Staaten seit 1789 abzubilden. Zusätzlich geschieht dies - im größeren Detail - in den ebenfalls auf dem Server bereitgestellten Ausschnittskarten von sechs europäischen Großregionen (z. B. Deutschland, Italien, Griechenland). Für ausgewählte Staaten werden darüber hinaus Einzelserien vorgehalten, in denen die Entwicklung der nationalstaatlichen Ebene nachgezeichnet wird. Ausschlaggebend fur die Gestaltung der Karten ist die Staatenvielfalt: 1815, also zur Zeit des Wiener Kongresses, gab es beispielsweise in Europa noch 65 Staaten, darunter viele Klein- und Kleinststaaten im deutschen und im italienischen Raum. Deren Aufgehen in neuen Nationalstaaten ist das eine Thema dieser Serien, das andere das Auseinanderbrechen multinationaler Reiche (Habsburgermonarchie und Osmanisches Reich) und die Bildung kleinerer Nationalstaaten. Auch die Verhältnisse in Nordafrika werden in den Serien mitbeobachtet. 2

Projektleitung: Andreas Kunz, Ph. D., Mainz (e-mail: maps@,iep.uni-mainz.de): Kartographie: Dipl. Geogr. Joachim Robert Moesehl, Berlin (e-mail: [email protected]): Internet-Auftritt: Linhard-Consulting (Dr. Frank Linhard), Frankfürt a. M. (email: [email protected]): Historische Recherche: Bettina Johnen, M. A. (e-mail: [email protected]): Geoinformatik/GIS: Wolf Röss (e-mail: [email protected]).

Kunz, Europa digital

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Die Europakarten des Servers IEG-MAPS sind in vier Serien unterteilt: • • • •

Übersichtskarten von Gesamteuropa Serien zu europäischen Großregionen Serien zu europäischen Einzelstaaten Umriss- und Layerkarten.

Die Übersichtskarten zu Gesamteuropa werden in zwei Varianten angeboten. Die eine zeigt den Kontinent insgesamt, also bis hin zum Nordkap, die andere zeigt einen im Vergleich zur ersten Serie etwas veränderten Blattschnitt, der im Norden nur bis zur norwegischen Stadt Trondheim reicht. Dadurch werden die Verhältnisse im restlichen Europa etwas vergrößert - und damit am Bildschirm besser darstellbar - wiedergegeben. Für den Gesamtzeitraum 1789 bis 2003 sind etwa 40 Schnittjahre geplant; davon wird sich im Juni 2004 etwa die Hälfte abrufbereit auf dem Server befinden. Karten zu den Schnittjahren im Beobachtungszeitraum 1789 bis 1819 sind in Bearbeitung und werden in der zweiten Jahreshälfte 2004 ins Netz gestellt. Neben den Karten zu Gesamteuropa werden, wie bereits erwähnt, auch sog. europäische Großregionen abgebildet. Diese sind: Nordeuropa, Westeuropa, Mitteleuropa, Ostmitteleuropa, Südeuropa und Südosteuropa (vgl. dazu auch die Abbildung). Die hierfür gewählten Schnittjahre sind auf die historische Entwicklung in den jeweiligen Regionen bezogen und unterscheiden sich daher sowohl untereinander wie auch - teilweise zumindest - gegenüber denen der Serien Gesamteuropas. Bisher (Stand März 2004) liegen etwa 60 Regionalkarten im Netz; weitere - sicher ca. 100 - werden noch folgen. Die politische Entwicklung Mitteleuropas zwischen 1812 und 1937 wird zudem in einer animierten Karte dargestellt. Schließlich stellt IEG-MAPS auch Karten zu einzelnen europäischen Staaten zur Verfügung. Neben Deutschland, das einen Themenschwerpunkt des Kartenservers bildet, sind Serien zu Italien, zum vormaligen Jugoslawien, zu Griechenland und zu den Benelux-Staaten geplant. Auch Serien zur Auflösung großer, multinationaler Staaten (Osmanisches Reich, Habsburgermonarchie) werden im Angebot des Servers erscheinen. Außerdem bietet IEG-MAPS noch Umriss- und Layerkarten Europas an. Die Umrisskarten geben nur die Küstenverläufe wieder, sind also für Benutzer gedacht, welche die historischen Grenzen nicht benötigen. Die Layerkarten beinhalten Zusatzinformationen wie etwa Flussnetze oder Hauptstädte, die der Benutzer getrennt herunterladen und mit den Übersichtskarten in OverlayTechnik verbinden kann.

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Jahrbuchför Europäische Geschichte 5 (2004) III. Funktionalität des Servers

Der Besucher von IEG-MAPS wird interaktiv durch den Kartenbestand geführt. Nach der Auswahl einer Karte erscheint deren Eingangsseite mit einer Verkleinerung des Kartenbilds (Thumbnail) und verschiedenen Texten und Ansprungpunkten. Von hier aus können die Karten zum Betrachten und Downloaden abgerufen werden. Auch Texterläuterungen zu den Karten können angewählt werden. Weiterhin kann mittels eines Pfeil-Browsers durch Kartenserien geblättert werden. Karten im Rasterformat (GIF) veranschaulichen die vom Server abrufbaren Karten, die dort im Postscript-Format (PS) zum Download bereitliegen. Die GIF-Images sind in ihrer Qualität allerdings mit den Postscript-Versionen nicht vergleichbar. In der Regel können zwei GIF-Versionen abgerufen werden, die sich durch die Größe (DIN A4 bzw. A3) unterscheiden, so dass eine Art Zoom-Effekt entsteht. Eine zweite Möglichkeit zur Visualisierung der Karten besteht im Downloaden von Dateien im PDF-Format. Da diese Dateien wesentlich größer sind als die GIF-Images, sind hier die Ladezeiten allerdings durchweg länger. Auch muss der Acrobat Reader von Adobe als Plug-in des benutzten Internet-Browsers vorhanden sein. Nach dem Laden ermöglicht der Acrobat Reader stufenloses Zoomen sowie das grafikgestützte Navigieren in den Karten, deren Qualität denen der PS-Version sehr nahe kommt. Der Ansprungpunkt zum Laden der PDF-Version befindet sich unterhalb des Thumbnails auf der Karten-Eingangsseite (Adobe Acrobat Signet). Die Kartenserien des Mapservers werden vornehmlich unter Einsatz des Karten-Erstellungsprogramms THEMAK2 erarbeitet. Der Ausgabemaßstab variiert, je nachdem, ob es sich um Übersichtskarten oder um Ausschnittskarten handelt. So haben die Übersichtskarten zu Gesamteuropa den Ausgabemaßstab 1:24 Millionen (im DIN A4-Format) bzw. 1:19 Millionen (im DIN A3-Format); eine Ausschnittskarte zu Südosteuropa hat dagegen den Ausgabemaßstab von 1:9 Millionen.

Ausblick Mit dem Kartenserver IEG-MAPS hat das Institut für Europäische Geschichte in Mainz eine Infrastruktur geschaffen, die weltweit nachgefragt wird und deren kontinuierlicher Ausbau auch nach der Projektförderung seitens der Gerda Henkel Stiftung sichergestellt werden muss und wird. Tendenziell wird der Bedarf an elektronischen Quellen und Materialien in den kommenden Jahren eher zunehmen, so dass auch mit einer steigenden Nachfrage gerechnet werden kann. Auch kleinere Forschungseinrichtungen müssen sich in Zeiten einer sich verändernden nationalen und internationalen

Kunz, Europa digital

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Forschungslandschaft zunehmend Fragen nach ihrer Dienstleistungsfunktion öffnen. Das Institut für Europäische Geschichte in Mainz hat mit seinem international ausgerichteten Kartenserver IEG-MAPS eine Antwort auf diese Frage gegeben.

Summary At the Institute of European History in Mainz, Germany, a new server for digital historical maps has been in operation since May 2001 and can be visited at the URL http://www.ieg-maps.uni-mainz.de. The server IEG-MAPS contains digital maps on five general themes: 1. The territorial and political development of Europe since 1789 2. The territorial and political development of Germany since 1812 3. The economic integration of Germany in the 19th century 4. The administrative development of German territorial states since 1808 5. The development of lines of transport (rail, road, inland navigations and canals) All maps can be downloaded in Postscript and PDF formats. There is no fee for personal use of the maps; institutional fees are subject to negotiation. At the present there are about 350 maps to be viewed. Of these, c. 150 relate to series of maps depicting all major changes in the political map of Europe since 1789. The project is sponsored in part by the Gerda Henkel Foundation, Düsseldorf, Germany.

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Jahrbuch fiir Europäische Geschichte 5 (2004)

Abbildung: IEG-MAPS: Auswahlkarte für die europäischen Großregionen

AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE1 Europa-Schrifttum 2003 (mit Nachträgen) Zusammengestellt

Matthias

von

Schnettger

Allgemeines. S. 235 - Epochenübergreifend. S. 236 - Mittelalter (500-1500). S. 237 Frühe Neuzeit (1500-1789). S. 238 - Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert (17891815). S. 240 - 19. Jahrhundert (1815-1918). S. 240 - 20. Jahrhundert I: Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg (1918-1945). S. 242 - 20. Jahrhundert II: Zeit nach 1945. S. 244 - Beziehungen zu Außereuropa, Kolonialismus, Entkolonialisierung. S. 247 Ideen-, Kultur-, Wissenschafts- und Mentalitätsgeschichte. S. 249 - Frauen- und Geschlechtergeschichte. S. 252 - Europäisches Judentum. S. 253 - Kirchengeschichte. S. 254 - Militärgeschichte. S. 255 - Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. S. 256 Sozialgeschichte. S. 257 - Wirtschaftsgeschichte. S. 258 - Mitteleuropa. S. 260 - Osteuropa. S. 261 - Skandinavien. S. 262 - Südeuropa. S. 263 - Südosteuropa. S. 263 - Westeuropa. S. 264.

Allgemeines: Etienne BALIBAR, Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, aus dem Französischen von Holger Fliessbach und Thomas Laugstien, Hamburg: Edition Hamburg, 2003. Beiträge zum modernen Europa. Sitzung der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse in der Europäischen Zentralbank am 21. Februar 2003, hrsg. von Helmut Hesse, Stuttgart: Steiner, 2003 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur 5/2003). Blicke auf Europa: Kontinuität im Wandel, hrsg. von Andreas Michler und Waltraud Schreiber, Neuried: ars una, 2003 (Eichstätter Kontaktstudium zum Geschichtsunterricht 3). Honoré COQUET, Les Alpes, enjeu des puissances européennes. L'union européenne à l'école des Alpes?, Paris/Budapest/Torino: L'Harmattan, 2003. Les Etats-Unis d'Europe: Un projet pacifiste//The United States of Europe: A Pacifistic Project, hrsg. von Marta Petricioli [u. a.], Bern [u. a.]): Lang, 2003 (L'Europe et les Europes. 19e et 20e siècles 6). Europas Identitäten. Mythen, Konflikte, Konstruktionen, hrsg. von Monika Mokre [u. a.], Frankfurt a. M.: Campus, 2003.

' Die vorliegende Bibliographie versteht sich ausdrücklich als Auswahlbibliographie. Erfasst wurden ausschließlich Monographien und Sammelbände. Übersetzungen sind nur dann berücksichtigt worden, wenn es sich um Übertragungen ins Deutsche handelt. Die Gliederung der Bibliographie kann nach wie vor diskutiert werden; der eine oder andere Titel hätte ohne weiteres auch in eine andere Rubrik eingeordnet werden können. Auf Querverweise wurde verzichtet. Dem Benutzer wird daher empfohlen, gegebenenfalls auch thematisch verwandte Rubriken einzusehen.

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Jahrbuch fiir Europäische Geschichte 5 (2004)

Experiment Europa. Ein Kontinent macht Geschichte, hrsg. von Stefan Aust und Michael Schmidt-Klingenberg, München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2003. Pietro GRILLI DI CORTONA, Stati, nazioni e nazionalismi in Europa, Bologna: Il Mulino, 2003 (Saggi 597). Christine LANDFRIED, Das politische System der Europäischen Union, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2003. Regionen Europas - Europa der Regionen. Festschrift fur Kurt-Ulrich Jäschke zum 65. Geburtstag, hrsg. von Peter Thorau [u. a.], Köln/Weimar: Böhlau, 2003. Versuchung Europa. Stimmen aus dem Europäischen Forum, hrsg. von Ulrike Ackermann, Frankfurt a. M.: Humanities Online, 2003.

Epochenübergreifend: Asa BRIGGS/Patricia CLAVIN, Modern Europe 1789-2002, Harlow: Longman, 2 2003. Britain and the Baltic. East Coast Connections 1500-2000, hrsg. von Tony Barrow und Patrick Salmon, Sunderland: Business Education Publishers, 2003. Deutschland - Italien 1789-1849. Zeitgenössische Texte, bearb. von Dietmar Stiibler, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2003. Europe in a Wider World, 1350-1650, hrsg. von Robin W. Winks und Palmer Wandel, Oxford: [u. a.]: Oxford University Press, 2003. Ute FREVERT, Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Fischer, 2003 (Europäische Geschichte). Gesichter Europas, hrsg. von Michael Salewski und Heiner Timmermann, Münster [u. a.]: Lit, 2002 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen 105). Guerres et paix en Europe centrale aux époques moderne et contemporaine. Mélanges d'histoire des relations internationales offerts à Jean Bérenger, hrsg. von Daniel Tollet, Paris: Presses de l'Université de Paris-Sorbonne, 2003. Harold JAMES, Europe reborn: a history, 1914-2000, Harlow: Longman, 2003 (Longman history of modern Europe). Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, hrsg. von Nikolaus Buschmann und Dieter Langewiesche, Frankfurt a. M.: Campus, 2003. Peter KRÜGER, Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union, Stuttgart: Kohlhammer, 2003. John LANDERS, The Field and the Forge. Population, Production, and Power in the Preindustrial West, Oxford: Oxford University Press, 2003. Stephen J. LEE, Europe, 1890-1945, London: Routledge, 2003 (Spotlight history). Roberto LODI/Amedeo MONTANARI, Repertorio della cornice europea: Italia, Francia, Spagna, Paesi Bassi. Dal secolo 15 al secolo 20, Modena: R. Lodi, 2003. Nürnberg und das Griechentum. Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Evangelos Konstantinou, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2003 (Philhellenische Studien 9). La présence des Bourbons en Europe, X V I e - X X I e siècle, hrsg. von Lucien Bély [u. a.], Paris: Presses universitaires de France, 2003. Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Philipp Ther und Holm Sundhausen, Marburg: Herder-Institut, 2003 (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 8).

Schnettger, Europa-Schrifttum

2003

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L'umanità offesa. Stermini e memoria nell'Europa del Novecento, hrsg. von Gustavo Corni und Gerhard Hirschfeld, Bologna: Il Mulino, 2003 (Annali dell'Istituto storico italogermanico in Trento, Quaderni 60). Robert W. WiNKS/Thomas E. KAISER, Europe, 1648-1815. From the Old Regime to the Age of Revolution, Oxford: Oxford University Press, 2003. Robin W. WINKS/R. J. Q. ADAMS, Europe, 1890-1945. Crisis and Conflict, Oxford: Oxford University Press, 2003. Oliver ZIMMER, Nationalism in Europe, 1890-1940, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2003 (Studies in European history). Mittelalter

(500-1500):

Clifford R. BACKMAN, The worlds of Medieval Europe, New York/Oxford: Oxford University Press, 2003. Dieter BERG, Die Anjou-Plantagenets. Die englischen Könige im Europa des Mittelalters (1100-1400), Stuttgart: Kohlhammer, 2003 (Urban-Taschenbücher 577). Die „Blüte" der Staaten des östlichen Europa im 14. Jahrhundert, hrsg. von Marc Löwener, Wiesbaden: Harrassowitz, 2003 (Quellen und Studien des Deutschen Historischen Instituts Warschau 14). Peter DINZELBACHER, Europa im Hochmittelalter 1050-1250. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003. Ulf DLRLMEIER/Gerhard FOUQUET/Bernd FUHRMANN, Europa im Spätmittelalter 12151378, München: Oldenbourg, 2003 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 8). Thierry DUTOUR, La ville médiévale. Origines et triomphe de l'Europe urbaine, Paris: Odile Jacob, 2003. Michael FRASSETTO, Encyclopedia of barbarian Europe. Society in transformation, Oxford: ABC-Clio, 2003. Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa, hrsg. von Rainer C. Schwinges und Klaus Wriedt, Ostfildern: Thorbecke, 2003 (Vorträge und Forschungen 60). Johannes GRABMAYER, Europa im späten Mittelalter 1250-1500. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003. Guy HALSALL, Warfare and society in the barbarian west, 450-900, London: Routledge, 2003 (Warfare and history). Matthias HARDT, Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten Jahrtausend, Berlin: Akademie Verlag, 2003 (Europa im Mittelalter 6). Michael JONES, Between France and England. Politics, Power and Society in Late Medieval Brittany, Aldershot: Ashgate/Variorum, 2003 (Variorum collected studies 769). Jacques LE GOFF, L'Europe est-elle née au Moyen Age?, Paris: Editions du Seuil, 2003 (Faire l'Europe). Simon MACLEAN, Kingship and Politics in the Late Ninth Century. Charles the Fat and the End of the Carolingian Empire, Cambridge: Cambridge University Press, 2003 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, Fourth Series 57). Michael MITTERAUER, Europa erklären. Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München: Beck, 2003.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 5 (2004)

Les princes angevins du XlIIe au XVe siècle: un destin européen. Actes des journées d'étude des 15 et 16 juin 2001 organisées par l'Université d'Angers et les Archives départementales de Maine-et-Loire, hrsg. von Noël-Yves Tonnerre und Elisabeth Verry, Rennes: Presses universitaires de Rennes, 2003 (Collection „Histoire"). Das Reich und Polen. Parallelen, Interaktionen und Formen der Akkulturation im hohen und späten Mittelalter, hrsg. von Thomas Wünsch, Ostfildern: Thorbecke, 2003 (Vorträge und Forschungen 59). Michel ROUCHE, Les racines de l'Europe. Les sociétés du haut Moyen Âge 568-888, Paris: Fayard, 2003. Schnittpunkte. Deutsch-niederländische Literaturbeziehungen im späten Mittelalter, hrsg. von Angelika Lehmann-Benz [u. a.], Münster: Waxmann, 2003 (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 5). Il secolo XII: la „renovatio" dell'Europa cristiana, hrsg. von Giles Constable [u. a.], Bologna: Il Mulino, 2003 (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, Quaderni 62). Sociétés en Europe. Mi Vie-fin IXe siècle, hrsg. von Noëlle Deflou-Leca [u. a.], Neuilly: Atlande, 2003 (Clefs concours. Histoire médiévale). Alain STOCLET, Les sociétés en Europe du milieu du Vie à la fin du IXe siècle, mondes byzantin, slave et musulman exclus. Choix de textes, Lyon: Presses universitaires de Lyon, 2003 (Collection d'histoire et d'archéologie médiévales 12). Joanna STORY, Carolingian connections. Anglo-Saxon England and Carolingian Francia, c. 750-870, Aldershot: Ashgate, 2003 (Studies in early medieval Britain). Gábor VARGA, Ungarn und das Reich vom 10. bis zum 13. Jahrhundert. Das Herrscherhaus der Arpáden zwischen Anlehnung und Emanzipation, München: Ungarisches Institut, 203 (Studia Hungarica 49). Zwischen Habsburg und Burgund. Der Oberrhein als europäische Landschaft im 15. Jahrhundert, hrsg. von Konrad Krimm und Rainer Brüning, Ostfildern: Thorbecke, 2003 (Oberrheinische Studien 21). Frühe Neuzeit

(¡500-1789):

L'Allemagne et la France des Lumières/Deutsche und französische Aufklärung. Mélanges offerts à Jochen Schlobach f , hrsg. von Michel Delon und Jean Mondot, Paris: Champion, 2003 (Colloques, congrès et conférences sur le Dix-huitième SièclelO). Heike M. E. ANDREE, Katharina II. im Spiegel der deutschen Zeitschriftenpublizistik des 18. Jahrhunderts, Hamburg: KovaC, 2003 (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit 35). Ronald G. ASCH, Nobilities in transition. Courtiers and rebels in Britain and Europe, London: Hodder & Stoughton, 2003 (Reconstructions in early modern history). Pierre-Yves BEAUREPAIRE, L'espace des francs-maçons. Une sociabilité européenne au XVIIIe siècle, Rennes: Presses universitaires de Rennes, 2003 (Histoire). Robert BIRELEY, The Jesuits and the Thirty Years War. Kings, courts, and confessors, Cambridge: Cambridge University Press, 2003. Jeremy BLACK, The British abroad. The grand tour in the eighteenth century, Stroud: Sutton, 2003. Ders., Kings, Nobles and Commoners. States and Societies in Early Modern Europe. A Revisionist History, London: Tauris, 2003.

Schnettger, Europa-Schrifttum

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Geschlechtergeschichte:

Architecture and the Politics of Gender in Early Modem Europe, hrsg. von Helen Hills, Aldershot: Ashgate, 2003 (Women and Gender in the Early Modern World).

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Écrire l'histoire des femmes en Europe du sud, XIXe-XXe siècles/Writing women's history in southern Europe, 19th—20th centuries, hrsg. von Gisela Bock und Anne Cova, Oeiras: Celta Editora, 2003. Eva FODOR, Working Difference. Women's Working Lives in Hungary and Austria, 1945-1995, Durham, N. C.: Duke University Press, 2003. Die gläserne Decke. Frauen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa im 20. Jahrhundert, hrsg. von Marija Wakounig, Innsbruck: Studien Verlag, 2003 (Querschnitte 11). Thomas KÜSTER, Aufstieg und Fall der Mätresse im Europa des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Darstellung anhand ausgewählter Persönlichkeiten, Herzberg: Bautz, 2003. Wolfgang SCHMALE, Geschichte der Männlichkeit in Europa 1450-2000, Wien: Böhlau, 2003. Denise TSCHARNTKE, Re-educating German Women. The work of the Women's affairs Section of British Military Government 1946-1951, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2003 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 967). Claire WALKER, Gender and politics in early modern Europe. English convents in France and the Low Countries, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2003 (Early modern history). Widowhood and Visual Culture in Early Modern Europe, hrsg. von Allison Levy, Aldershot: Ashgate, 2003 (Women and Gender in the Early Modern World). Women, art and the politics of identity in eighteenth-century Europe, hrsg. von Melissa Hyde und Jennifer Milam, Aldershot: Ashgate, 2003 (Women and Gender in the Early Modern World). Women, gender and fascism in Europe, 1919-45, hrsg. von Kevin Passmore, Manchester: Manchester University Press, 2003. Europäisches

Judentum:

A Book of Remembrance. The German, Austrian, and Czechoslovakian Jews deported to the Baltic States, bearb. von Wolfgang Scheffler und Diane Schulle, 2 Bde., München [u. a.]: Saur, 2003. William BRUSTEIN, Roots of hate. Anti-semitism in Europe before the Holocaust, Cambridge: Cambridge University Press, 2003. Ecriture de l'histoire et identité juive: l'Europe ashkénaze, XIXe-XXe siècle, hrsg. von Delphine Bechtel [u. a.], Paris: Belles lettres, 2003 (Histoire 55). The emergence of modem Jewish politics: Bundism and Zionism in Eastern Europe, hrsg. von Zvi Gitelman, Pittsbugh, Pa.: University of Pittsburgh Press, 2003 (Pitt series in Russian and East European studies). Rachel ERTEL, Brasier de mots, Paris: L. Levi, 2003. Jewish Emancipation Reconsidered. The French and German Models, hrsg. von Michael Brenner [u. a.], Tübingen: Mohr-Siebeck, 2003 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts). Viktor KARÁDY, Jewry in Europe in the Modern Age. A socio-historical overview, Budapest/New York: Central European University Press, 2003. Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte, hrsg. von Susanna Buttaroni und Stanislaw Musial, Wien: Böhlau, 2003. Hiltrud WALLENBORN, Bekehrungseifer, Judenangst und Handelsinteresse. Amsterdam,

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The Protestant clergy of early modern Europe, hrsg. von C. Scott Dixon und Luise Schorn-Schütte, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2003. Religion im Nationalstaat zwischen den Weltkriegen 1918-1939. Polen - Tschechoslowakei - Ungarn - Rumänien, hrsg. von Hans-Christian Maner und Martin Schulze Wessel, Stuttgart: Steiner, 2002 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 16). Religions- und Kulturgeschichte in Nordost- und Mitteleuropa. Initiativen, Methoden, Theorien, hrsg. von Rainer Bendel [u. a.], Münster [u. a.]: Lit, 2003 (Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 2). Ulinka RUBLACK, Die Reformation in Europa, Frankfurt a. M.: Fischer, 2003 (Europäische Geschichte). Mark TAPLIN, The Italian Reformers and the Zurich Church, Aldershot: Ashgate, 2003 (St Andrews Studies in Refoimation History).

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Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890. Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan, hrsg. von Michael Epkenhans und Gerhard P. Groß, München: Oldenbourg, 2003 (Beiträge zur Militärgeschichte 60). Lawrence V. MOTT, Sea Power in the Medieval Mediterranean. The Catalan-Aragonese Fleet in the War of the Sicilian Vespers, Gainesville, Fl.: University Press of Florida, 2003 (New Perspectives on Maritime History and Nautical Archaeology). Martin MÜLLER, Vernichtungsgedanke und Koalitionskriegsführung. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn in der Offensive 1917/1918, Graz: Stocker, 2003. Reinhard NACHTIGAL, Rußland und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen (1914-1918), Remshalden: Greiner, 2003. Helen J. NICHOLSON, Medieval European warfare, c. 300-1500, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2003 (European history in perspective). Edith PETSCHNIGG, Von der Front aufs Feld. Britische Kriegsgefangene in der Steiermark 1914-1945, Graz: Selbstverlag des Vereines zur Förderung der Erforschung von Folgen nach Konflikten und Kriegen, 2003 (Kriegsfolgen-Forschung 7). Alexander B. ROSSINO, Hitler Strikes Poland. Blitzkrieg, Ideology, and Atrocity, Lawrence, Kan.: University Press of Kansas, 2003. The Royal Navy and the Malta and Russian Convoys, 1941-1942, London: Frank Cass, 2003 (Naval Staff Histories). The Royal Navy and the Mediterranean, Bde. 1-2, London: Frank Cass, 2003 (Naval Staff Histories). The Royal Navy and the Raids on St Nazaire and Dieppe, London: Frank Cass, 2003 (Naval Staff Histories). Michael SALEWSKI, Der Erste Weltkrieg, Paderborn [u. a.]: Schöningh, 2003. Peter SIMKINS, The First World War, Bd. 2: The Westem Front 1914-1916, London/ New York: Routledge, 2003 (Routledge Essential Histories). DERS., The First World War, Bd. 3: The Western Front 1917-1918, London/New York: Routledge, 2003 (Routledge Essential Histories). Leonard V. SMITH/Stéphane AUDOIN-ROUTEAU/Annette BECKER, France and the Great War, 1914-1918, Cambridge: Cambridge University Press, 2003 (New Approaches to European History 26). Michael UNGER, Die bayerischen Militärbeziehungen zur Türkei vor und im Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2003 (Militärhistorische Untersuchungen 5). Unraveling the European Security and Defense Policy Conundrum, hrsg. von Joachim Krause [u. a.], Bern: Lang, 2003 (Studien zu Zeitgeschichte und Sicherheitspolitik 11). Rechts-, Verfassungs- und

Verwaltungsgeschichte:

Christof BERTHOLD, Die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) 1953 und die Europäische Union (EU) 2001. Eine rechtsvergleichende Betrachtung, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2003 (Studien zum Öffentlichen Recht, Völker- und Europarecht 7). Crime, punishment, and reform in Europe, hrsg. von Louis A. Knafla, Westport, Conn./ London: Praeger, 2003 (Criminal justice history 18). Darker legacies of law in Europe. The shadow of National Socialism and Fascism over

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Europe and its legal traditions, hrsg. von Christian Joerges und Navraj Singh Ghaleigh, Oxford: Hart, 2003. „From Paris to Nice". Fifty years of legal integration in Europe. International Pallas Conference, Nijmegen, May 24, 2002, hrsg. von Martijn van Empel, The Hague/London: Kluwer Law International, 2003. Rainer GITH, Die Entstehungsgeschichte des europäischen Kartellrechts, Münster [u. a.]: Lit, 2003 (Juristische Schriftenreihe 221). Judicial tribunals in England and Europe, 1200-1700, hrsg. von Maureen Mulholland [u. a.], Manchester: Manchester University Press, 2003 (Trial in history 1 ). Bernd MARQUARDT, Umwelt und Recht in Mitteleuropa. Von den grossen Rodungen des Hochmittelalters bis ins 21. Jahrhundert, Zürich: Schulthess, 2003 (Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 51). Parlamento e Costituzione nei sistemi costituzionali europei ottocenteschi/Pariament und Verfassung in den konstitutionellen Verfassungssystemen Europas, hrsg. von Anna G. Manca und Luigi Lacchè, Bologna: Il Mulino, 2003 (Annali dell'Istituto storico italogermanico in Trento, Contributi 13). Ulrike SEIF, Recht und Justizhoheit. Historische Grundlagen des gesetzlichen Richters in Deutschland, England und Frankreich, Berlin: Duncker & Humblot, 2003 (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 44). Antonia SEITZ, Die Todesstrafe ist keine Strafe. Von der Beteiligung bedeutender Mediziner an Fragestellungen um Verbrechen und Strafe, unter besonderer Berücksichtigung der Todesstrafe 1865 bis 1933 im deutsch-italienischen Vergleich, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2003 (Criminalia 35). Sozialgeschichte: Aspekte und Komponenten der städtischen Identität in Italien und Deutschland (14.-16. Jahrhundert)/Aspetti e componenti dell'identità urbana in Italia e in Germania (secoli XIVXVI, hrsg. von Giorgio Chittolini und Peter Johanek, Berlin: Duncker & Humblot, 2003. Deutsche Handwerker, Arbeiter und Dienstmädchen in Paris. Eine vergessene Migration im 19. Jahrhundert, hrsg. von Mareike König, München: Oldenbourg, 2003 (Pariser Historische Studien 66). Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien, hrsg. von Christophe Duhamelle und Jürgen Schlumbohm, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts filr Geschichte 197). Ethnic cleansing in twentieth-century Europe, hrsg. von Steven Béla Várdy [u. a.], Boulder: Social Science Monographs, 2003. European encounters. Migrants, migration and European societies since 1945, hrsg. von Rainer Ohliger [u. a.], Aldershot: Ashgate, 2003 (Research in migration and ethnic relations). Experiencing wages. Social and cultural aspects of wage forms in Europe since 1500, hrsg. von Peter Scholliers und Leonard Schwarz, New York/Oxford: Berghahn Books, 2003 (International studies in social history 4). Thomas FLEGLE, Von der Solidarité zur Solidarität. Ein deutsch-französischer Begriffstransfer, Münster [u. a.]: Lit, 2003 (Europäische Politik 18). Histoire de l'Europe urbaine, 2 Bde., hrsg. von Jean-Luc Pinol, Paris: Editions du Seuil, 2003.

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History of social work in Europe (1900-1960). Female pioneers and their influence on the development of international social organizations, hrsg. von Sabine Hering und Berteke Waaldijk, Opladen: Leske + Budrich, 2003. Stefan-Ludwig HOFFMANN, Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft 1750-1914, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003 (Synthesen. Probleme europäischer Geschichte 1). International Historical Statistics: Europe 1750-2000, hrsg. von Β. R. Mitchell, Houndmills/Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2003. Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. von Reiner Prass [u. a.], Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fur Geschichte 187). Patrick LE GALES, Le retour des villes européennes. Sociétés urbaines, mondialisation, gouvernement et gouvernance, Paris: Presses de sciences po, 2003. Life after death. Approaches to a cultural and social history of Europe during the 1940s and 1950s, hrsg. von Richard Bessel und Dirk Schumann, Cambridge: Cambridge University Press, 2003 (Publications of the German Historical Institute). Jerzy LUKOWSKI, The European nobility in the eighteenth century, Houndmills/New York: Palgrave Macmillan, 2003 (European culture and society). Katherine A. LYNCH, Individuals, Families and Communities in Europe, 1200-1800. The Urban Foundation of Western Society, Cambridge: Cambridge University Press, 2003 (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time). Michael MILLER, The Representation of Place. Urban planning and protest in France and Great Britain, 1950-1980, Aldershot: Ashgate, 2003 (Historical Urban Studies Series). Leslie Page MOCH, Moving Europeans. Migration in Western Europe since 1650, Bloomington, Ind.: Indiana University Press, 2 2003 (Interdisciplinary studies in history). Neapel, Bochum, Rimini - Arbeiten in Deutschland. Urlaub in Italien. Italienische Zuwanderung und deutsche Italiensehnsucht im Ruhrgebiet. Ausstellungskatalog, hrsg. von Anke Asfur und Dietmar Osses, Essen: Klartext, 2003 (Westfälisches Industriemuseum, Sonderbd.). David M. POMFRET, Young People and the European City. Age relations in Nottingham and Saint-Etienne, 1890-1940, Aldershot: Ashgate, 2003 (Historical Urban Studies Series). Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen, Vergangenheitspolitik Zukunftskonzeptionen, hrsg. von Dieter Bingen [u. a.], Wiesbaden: Harrassowitz, 2003 (Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts 18). Adolf WENEMANN, Arbeit im Norden. Italiener im Rheinland und Westfalen des späten 19. und 20. Jahrhunderts, Osnabrück: Universität Osnabrück, 2003 (IMIS-Schriften 2). Wirtschaftsgeschichte: Business and Politics in Europe, 1900-1970. Essays in Honour of Alice Teichova, hrsg. von Terry Gourvish, Cambridge: Cambridge University Press, 2003. The City and the Railway in Europe, hrsg. von Marie-Noëlle Polino und Ralf Roth, Aldershot: Ashgate, 2003 (Historical Urban Studies Series) The European linen industry in historical perspective, hrsg. von Brenda Collins und Philip Ollerenshaw, Oxford: Oxford University Press, 2003 (Pasold studies in textile history 13).

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Michel FIOR, Les Banques suisses, le franc et l'Allemagne. Contribution à une histoire de la place financière suisse (1924-1945), Genève: Droz, 2003 (Travaux de Sciences Sociales 196). Daniel GROS/Alfred STEINHERR, Economic Transition in Central and Eastern Europe. Planting the Seeds, Cambridge: Cambridge University Press, 2 2003. Heinz-Gerhard HAUPT, Konsum und Handel. Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003. Eric JONES, The European Miracle. Environments, Economies and Geopolitics in the History of Europe and Asia, Cambridge: Cambridge University Press, 3 2003. Heike KNORTZ, Ökonomische Integration und Desintegration am Oberrhein. Eine clustertheoretisch-wirtschaftshistorische Dokumentation und Analyse zum Europa der Regionen, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2003 (Studien zur Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte 13). David S. LANDES, The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present, Cambridge: Cambridge University Press, 2 2003. Georges LIVET, Histoire des routes et des transports en Europe. Des chemins de SaintJacques à l'âge d'or des diligences, Strasbourg: Presses universitaires de Strasbourg, 2003. Markets in early medieval Europe. Trading and productive sites, 650-850, hrsg. von Tim Pesteil und Katharina Ulmschneider, Macclesfield: Windgather, 2003. Les migrations du travail en Europe, hrsg. von Klaus Morgenroth [u. a.], Bern [u. a.]: Lang, 2003 (Travaux Interdisciplinaires et Plurilingües en Langues Etrangères Appliquées 1). Nation, State and the Economy in History, hrsg. von Alice Teichova und Herbert Matis, Cambridge: Cambridge University Press, 2003. Politiques et pratiques des banques d'émission en Europe (XVIIe-XXe siècle). Le bicentenaire de la Banque de France dans la perspective de l'identité monétaire européenne, hrsg. von Olivier Feiertag und Michel Margairaz, Paris: Albin Michel, 2003 (Bibliothèque Albin Michel Histoire). G. V. SCAMMELT, Seafaring, Sailors and Trade, 1450-1750, Aldershot: Ashgate/Variorum, 2003 (Variorum collected studies 755). Martin STANILAND, Government birds: air transport and the state in Western Europe, Lanham, Md./Oxford: Rowman & Littlefield, 2003. Der Tiroler Bergbau und die Depression der europäischen Montanwirtschaft im 14. und 15. Jahrhundert. Akten der internationalen bergbaugeschichtlichen Tagung Steinhaus, hrsg. von Rudolf Tasser und Ekkehard Westermann, Innsbruck: Studien Verlag, 2003 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 16). Tourismus und Entwicklung im Alpenraum, 18.-20. Jahrhundert, hrsg. von Andrea Leonardi und Hans Heiss, Innsbruck: Studien Verlag, 2003 (Tourismus & Museum 1). Urban Public Debts, Urban Government and the Market for Annuities in Western Europe (14th—L8th Centuries), hrsg. von M. Boone [u. a.], Turnhout: Brepols, 2003 (Studies in European Urban History 3). Vor- und frühindustrielle Arbeitsmigration. Massenmigrationen in Zentraleuropa im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. von Josef Ehmer, Gütersloh: Eimer, 2003. J. P. ZIEG, Jan Jacob van Klaveren (1919-1999). Lebensstationen und Werk eines niederländisch-deutschen Wirtschaftshistorikers, Frankfurt a. M.: Herchen + Herchen, 2003.

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Hartmut ZÜCKERT, Allmende und Allmendaufhebung. Vergleichende Studien zum Spätmittelalter bis zu den Agrarreformen des 18./19. Jahrhunderts, Stuttgart: Lucius & Lucius, 2003 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 47). Mitteleuropa: Magda ÁDÁM, The Versailles System and Central Europe, Aldershot: Ashgate/Variorum, 2003 (Variorum collected studies 762). Marek ANDRZEJEWSKJ, Schweizer in Polen. Spuren der Geschichte eines Brückenschlags, Basel: Schwabe, 2003 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 174). Bibliographie zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen 1999/Bibliografia historii stosunkow polsko-niemieckich 1999, bearb. von Stanislaw Jedryka, Marburg: Herder-Institut, 2003 (Bibliographien zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas 31). Wlodzimierz BORODZIEJ, Das kurze 20. Jahrhundert Polens. Bilanz eines europäischen Sonderwegs? Oskar Halecki-Vorlesung 2001, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2003. Detlef BRANDES, Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer" der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, München: Oldenbourg 2 2003 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 94). Creating the other. Ethnic conflict and nationalism in Habsburg Central Europe, hrsg. von Nancy M. Wingfield, N e w York/Oxford: Berghahn Books, 2003 (Austrian history, culture, and society 5). Deutsche in Ungarn - Ungarn und Deutsche. Interdisziplinäre Zugänge, hrsg. von Frank Almai und Ulrich Fröschle, Dresden: w.e.b. Universitätsverlag, 2003 (Mitteleuropa-Studien 6). Das deutsche Kulturerbe in den polnischen West- und Nordgebieten, hrsg. von Zbigniew Mazur, Wiesbaden: Harrassowitz, 2003 (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 34). Edvard Beneä und die tschechoslowakische Außenpolitik 1918-1948, hrsg. von Arnold Suppan und Elisabeth Vyslonzil, Frankfurt a. M.: Lang 2003 (Wiener Osteuropastudien 12). Europas Mitte. Mitteleuropa. Europäische Identität? Geschichte, Literatur, Positionen, hrsg. von Barbara Breysach, Berlin: Buchholtzund Pöschel, 2003. Barbara J. FALK, The Dilemmas of Dissidence in East-Central Europe. Citizen Intellectuals and Philosopher Kings, Budapest/New Y o r k Central European University Press, 2003. Martin GEHLER, Der lange Weg nach Europa, 2 Bde., Innsbruck: Studien Verlag, 2002. Peter GLOTZ, Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück, München: Ullstein, 2003. Grenzerfahrungen. Jugendliche erforschen deutsch-polnische Geschichte, hrsg. von Alicja Wancerz-Gluza, Hamburg: Körber-Stiftung, 2003. Waldemar GROSCH, Deutsche und polnische Propaganda während der Volksabstimmung in Oberschlesien 1919-1921, Dortmund: Universität Dortmund, 2003 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 23). Árpád von KLIMÓ, Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860-1948), München: Oldenbourg, 2003 (Südosteuropäische Arbeiten 117). Bogdan KOSZEL, Francja i Niemcy w procesie integracji Polski ze Wspólnotami Europejskimi/Unia Europejska (1989-2002), Poznan: Inst. Zachodni,2003 (Studia europejskie 9). Alix LANDGREBE, Wenn es Polen nicht gäbe, dann müsste es erfunden werden. Die

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Entwicklung des polnischen Nationalbewusstseins im europäischen Kontext von 1830 bis in die 1880er Jahre, Wiesbaden: Harrassowitz, 2003 (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 35). Andreas LAWATY/Hubert ORLOWSKI, Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik, München: Beck, 2003 (Beck'sche Reihe). Mitteleuropa. Politische Kultur und europäische Einigung, hrsg. von Gábor Erdödy, Baden-Baden: Nomos, 2003 (Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung 54). Österreich in der Europäischen Union. Bilanz seiner Mitgliedschaft, hrsg. von Michael Gehler [u. a.], Wien: Böhlau, 2003 (Schriftenreihe des DDr.-Herbert-Batliner-Europainstitutes 7). Preußen in Ostmitteleuropa. Geschehensgeschichte und Verstehensgeschichte, hrsg. von Matthias Weber, München/Wien: Oldenbourg, 2003 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 21). Joachim von PUTTKAMER, Schulalltag und nationale Integration in Ungarn: Slowaken, Rumänen und Siebenbürger Sachsen in der Auseinandersetzung mit der ungarischen Staatsidee 1867-1914, München: Oldenbourg, 2003 (Südosteuropäische Arbeiten 115). Eric ROMAN, Austria-Hungary and the Successor States. A Reference Guide from the Renaissance to the Present, New York: Facts on File, 2003 (European nations). Hans-Joachim SEELER, Die Deutschen. Opfer und Alptraum Europas, Baden-Baden: Nomos, 22003. Karzyna STOKLOSA, Grenzstädte in Ostmitteleuropa. Guben und Gubin 1945 bis 1995, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2003 (Frankfurter Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas 9). Ferenc SzÁVAl, Die Folgen des Zerfalls der österreichisch-ungarischen Monarchie, St. Katharinen: Winkel, 2003. Vision Europa. Deutsche und polnische Föderationspläne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, hrsg. von Heinz Duchhardt und Matgorzata Morawiec, Mainz: Zabern, 2003 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Beiheft 60, Abteilung für Universalgeschichte). Zwangsverordnete Freundschaft? Die Beziehungen zwischen der DDR und Polen 19491990, hrsg. von Basil Kerski [u. a.], Osnabrück: fibre, 2002 (Veröffentlichungen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband e. V. 1). Osteuropa: Inge AUERBACH, Der hessische Löwe und der russische Bär. Die Beziehungen zwischen Hessen-Kassel und Russland 16.-20. Jahrhundert, Marburg: Jonas Verlag, 2003. Die baltischen Staaten im Schnittpunkt der Entwicklungen. Vergangenheit und Gegenwart, hrsg. von Carsten Goehrke und Jürgen von Ungern-Sternberg, Basel: Schwabe, 2003 (Texte und Studien 4). Gedächtnisorte in Osteuropa. Vergangenheiten auf dem Prüfstand, hrsg. von Rudolf Jaworski [u. a.], Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2003 (Kieler Werkstücke 6). Klio ohne Fesseln? Historiographie im östlichen Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, hrsg. von Aloijz Ivanisevic [u. a.], Frankfurt a. M.: Lang, 2003 (Österreichische Osthefte 16).

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Jobst KNIGGE, Kontinuität deutscher Kriegsziele im Baltikum. Deutsche Baltikum-Politik 1918/19 und das Kontinuitätsproblem, Hamburg: Kovai, 2003 (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit 34). Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit. Mit einem Ausblick in die Moderne, hrsg. von Klaus Garber und Martin Klöker, Tübingen: Niemeyer, 2003 (Frühe Neuzeit 87). Alexei MILLER, The Ukrainian Question. Russian Nationalism in the 19th Century, Budapest/New York: Central European University Press, 2003. Münchener Forschungen zur Geschichte Ost- und Südosteuropas. Werkstattberichte, hrsg. von Hermann Beyer-Thoma [u. a.], Neuried: ars una, 2003 (Münchner Kontaktstudium Geschichte 5). Oppositions- und Freiheitsbewegungen im früheren Ostblock, hrsg. von Manfred Agethen und Günter Buchstab, Freiburg i. Br.: Herder, 2003. Donald O'SULLIVAN, Stalins „cordon sanitaire". Die sowjetische Osteuropapolitik und die Reaktionen des Westens 1939-1949, Paderborn [u. a.]: Schöningh, 2003. Thomas SCHMIDT, Die Außenpolitik der baltischen Staaten. Im Spannungsfeld zwischen Ost und West, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2003. Jason Campbell SHARMAN, Repression and resistance in Communist Europe, London: RoutledgeCurzon, 2003 (BASEES/RoutledgeCurzon series on Russian and East European studies 4). Timothy SNYDER, The reconstruction of nations: Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569-1999, New Haven, Conn./London: Yale University Press, 2003. Stalin wollte ein anderes Europa. Moskaus Außenpolitik 1940-68, Nach einer Dokumentation von W. K. Wolkow, hrsg. von Harald Neubert, Berlin: Das Neue Berlin, 2003. Traum und Trauma. Deutsche und Russen im 20. Jahrhundert, hrsg. von Dagmar Herrmann [u. a.], München/Paderborn: Fink, 2003 (West-östliche Spiegelungen, Auswahlbd. 2). Skandinavien: H. Arnold BARTON, Sweden and Visions of Norway. Politics and Culture, 1814-1905, Carbondale, 111.: Southern Illinois University Press, 2003. Britain and Denmark: Political, Economic and Cultural Relations in the 19th and 20th Centuries, Kebenhavn: Museum Tusculanum Press, 2003. Gösta A ERIKSSON, DDR, Stasi und Schweden, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2003. Jana FLETZ, Nordische Studenten an der Universität Greifswald in der Zeit von 1815 bis 1933, Stuttgart: Steiner, 2003 (Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald 5). Sofia MURHEM, Turning to Europe: a new Swedish industrial relations regime in the 1990's, Uppsala: Uppsala universitet, 2003 (Acta Universitatis Upsaliensis. Uppsala studies in economic history 68). Frank NESEMANN, Ein Staat, kein Gouvernement. Die Entstehung und Entwicklung der Autonomie Finnlands im russischen Zarenreich, 1808 bis 1826, Frankfurt a. M. [u.a.]: Lang, 2003 (Europäische Hochschulschriften, Reihe: 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 949). Jo SAGLIE, Standpunkter og strategi. EU-saken i norsk partipolitik, 1989-1994, Oslo: Unipax, 2002 (Thesis-serien 4).

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Südeuropa: Gérard DELILLE, Le maire et le prieur: pouvoir central et pouvoir local en Méditerranée occidentale, XVe-XVIIIe siècle, Rome: Ecole française de Rome, 2003 (Bibliothèque des écoles françaises d'Athènes et de Rome 259-2/Civilisations et sociétés 112). Deutsche Kulturpolitik in Italien. Entwicklungen, Instrumente, Perspektiven, Ergebnisse des Projektes „ItaliaGermania", hrsg. von Charlotte Schuckert [u. a.], Tübingen: Niemeyer, 2003 (Reihe der Villa Vigoni 14). Giulio GUDERZO, L'altra guerra. Neofascisti, tedeschi, partigiani, popolo in una provincia padana. Pavia, 1943-1945, Bologna: Il Mulino, 2002. José M. MAGONE, The developing place of Portugal in the European Union, New Brunswick, N. J.: Transaction Publishers, 2003. Ders., The Politics of Southern Europe. Integration into the European Union, Westport, Conn.: Praeger, 2003. Lorenzo MECHI, L'Europa di Ugo La Malfa: la via italiana alla modernizzazione, 19421979, Milano: Angeli, 2003 (Temi di storia 42). 1992: Ende eines Streits. Zehn Jahre Streitbeilegung im Südtirolkonflikt zwischen Italien und Österreich, hrsg. von Siglinde Clementi und Jens Woelk, Baden-Baden: Nomos, 2003. Rolf STEININGER, South Tyrol. A Minority Conflict of the Twentieth Century, New Brunswick, N. J.: Transaction Publishers, 2003. Südtirol im Dritten Reich. NS-Herrschaft im Norden Italiens /L'Alto Adige nel Terzo Reich. Occupazione nazista nel Italia del Nord 1943-1945, hrsg. von Gerald Steinacher, Innsbruck: Studien Verlag, 2003 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 18). Rolf WÖRSDÖRFER, Krisenherd Adria 1915-1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Gren2raum, Paderborn [u. a.]: Schöningh, 2003. Südosteuropa: Ulrich BÜRGER, Zwischen Konfrontation und Kooperation. Die „historischen" Parteien Rumäniens in der politischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion in den Jahren 1944 und 1945, St. Augustin: Gardez!, 2003. Katerina CHARALAMPOUS-MORÉ, Die pädagogischen Denker Griechenlands im 19. und 20. Jahrhundert und ihre Beziehung zur deutschen Pädagogik, Dresden: Rethberg, 2003. Cyprus and Europe. The long way back, hrsg. von Vassiiis K. Fouskas, Mannheim [u. a.]: Bibliopolis, 2003 (Peleus 22). Nicoleta DANDU, Intrarea românilor ìn modemitatea europeana. Presa, modele, mentalitatii, imagine, 1848-1866, Bucuresti: Anima, 2002. Karl GABRIEL, Bosnien-Herzegowina 1878. Der Aufbau der Verwaltung unter FZM Herzog Wilhelm v. Württemberg und dessen Biographie, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2003 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 973). Greece and the Balkans. Identities, Perceptions and Cultural Encounters since the Enlightenment, hrsg. von Dimitris Tziovas, Aldershot: Ashgate, 2003. Mehmet HACISALIHOGLU, Die Jungtürken und die Mazedonische Frage (1890-1918), München: Oldenbourg, 2003 (Südosteuropäische Arbeiten 116). Ideologies and National Identities. The case of twentieth-century Southeastern Europe, Budapest/New York: Central European University Press, 2003.

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Jahrbuch fiir Europäische Geschichte 5 (2004)

National Identities and National Memories in the Balkans, hrsg. von Maria Todorova, London: Hurst, 2003. Akiho SHIMIZU, Die deutsche Okkupation des serbischen Banats 1941-1944 unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Volksgruppe in Jugoslawien, Münster [u. a.]: Lit, 2003 (Regensburger Schriften aus Philosophie, Politik, Gesellschaft und Geschichte 5). Cees WIEBES, Intelligence and the War in Bosnia, Münster [u. a.]: Lit, 2003 (Studies in Intelligence History 1). Westeuropa: Een beeld van een congres. Belgisch-Nederlandse/Nederlands-Vlaamse Historische Congressen 1939-2003, hrsg. von F. W. N. Hugenholtz [u. a.], Den Haag: Instituut voor Nederlandse Geschiedenis, 2003. Ulrich BIELEFELD, Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich, Hamburg: Hamburger Edition, 2003. Erik BLEICH, Race Politics in Britain and France. Ideas and Policymaking since the 1960s, Cambridge: Cambridge University Press, 2003. Anne DULPHY, La politique de la France à l'égard de l'Espagne de 1945 à 1955. Entre idéologie et réalisme, Paris: Imprimerie Nationale, 2002 (Diplomatie et Histoire 2). Bernhard ESCHERICH, Herausforderung Deutschland. Zum Deutschlandbild französischer Historiker 1945-1989, Hamburg: KovaC, 2003 (Studien zur Zeitgeschichte 29). European Immigrants in Britain 1933-50, hrsg. von Inge Weber-Newth und JohannesDieter Steinert, München [u. a.]: Saur, 2003. Exceptionalism and Industrialisation. Britain and its European Rivals, 1688-1815, hrsg. von Leandro Prados de laEscosura, Cambridge: Cambridge University Press, 2003. Carl F. FLESCH, „Woher kommen Sie?" Hitler-Flüchtlinge in Großbritannien damals und heute, Hamburg: Krämer, 2003 (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte 30). Guillaume van GEMERT, Gegenseitigkeiten. Deutsch-niederländische Wechselbeziehungen von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Bottrop: Peter Pomp, 2003 (Der Kulturraum Niederrhein 5). Harold Wilson and European Integration. Britain's Second Application to the EEC, hrsg. von Oliver Daddow, London: Frank Cass, 2003 (Foreign and Colonial Policy). Histoire du Luxembourg. Le destin européen d'un petit pays, hrsg. von Gilbert Trausch, Toulouse: Privat, 2003 (Histoire des territoires de France et d'Europe). Irish migrants in Europe after Kinsale, 1602-1820, hrsg. von Thomas O'Connor und Mary Ann Lyons, Dublin: Four Courts Press, 2003. Kurt KLUXEN, England in Europa. Studien zur britischen Geschichte und zur politischen Ideengeschichte der Neuzeit, hrsg. von Frank L. Kroll, Berlin: Duncker & Humblot, 2003 (Historische Forschungen 77). Alexander LASKA, Presse et propagande allemandes en France occupée: Des Moniteurs officiels (1870-1871) à la Gazette des Ardennes (1914-1918) et à la Pariser Zeitung (1940-1944), München: Utz,2003. Jean-Pierre POPELIER, L'immigration oubliée. L'histoire des Belges en France, Lille: La Voix du Nord, 2003. Quellen zu den deutsch-französischen Beziehungen 1919-1963, hrsg. von Ralph Erbar, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003 (Quellen zu den Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert).

Autorenverzeichnis

Dr. David ALLAN, University of St Andrews, Department of Scottish History, St Katharine's Lodge, The Scores, St Andrews, Five KY 16 9AL, Großbritannien. Antonio Martins DA SILVA, Av. Urbano Duarte, Qta. da Estrela, Lt. 8, 12°, 3030-250 Coimbra, Portugal. Professor Dr. Marie Theres FÖGEN, Max-Planck-Institut fur Europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, D-60489 Frankfurt am Main. Dr. Serguei GLEBOV, Rutgers University, History Department, 16 Seminary Place, New Brunswick, NJ 08903, USA. Kai Hu, Yu-Yao-Road 585-1303, 200042 Shanghai, Volksrepublik China. Dr. Andreas KUNZ, Institut für Europäische Geschichte, Alte Universitätsstraße 19, D-55116 Mainz. Dr. Sebastian OLDEN-J0RGENSEN, Kebenhavns Universitet, Institut for Historie, Njalsgade 80, 2300 Kabenhavn S., Dänemark. Dr. Ivan PARVEV, University of Sofia, Faculty of History, 15 Tzar Osvoboditel Bd., 1504 Sofia, Bulgarien. PD Dr. Ina-Ulrike PAUL, Freie Universität Berlin, Fachbereich Geschichtsund Kulturwissenschaften, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstraße 20, D14195 Berlin. PD Dr. Matthias SCHNETTGER, Institut fur Europäische Geschichte, Alte Universitätsstraße 19, D-55116 Mainz. Dr. Anuschka TLSCHER, Universität Marburg, Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften, Wilhelm-Röpke-Str. 6C III, D-35032 Marburg/Lahn.