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German Pages 257 [260] Year 2015
Jahrbuch für Europäische Geschichte
Jahrbuch für Europäische Geschichte Herausgegeben am Institut für Europäische Geschichte von Heinz Duchhardt in Verbindung mit Wlodzimierz Borodziej, Peter Burke, Ferenc Glatz, Georg Kreis, Pierangelo Schiera, Winfried Schulze
Band 3
2002
R. Oldenbourg Verlag München 2002
Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung der Landesbank Rheinland-Pfalz.
Redaktion: Matthias Schnettger, Marina Meurer
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jahrbuch für Europäische Geschichte / hrsg. am Institut für Europäische Geschichte. - Bd. 1. 2000-. - München : Oldenbourg, 2000
© 2002 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: WB-Druck, Rieden am Forggensee ISBN 3-486-56621-0
Inhaltsverzeichnis
Schwerpunktthema: Europäische lieux de mémoire? Peter Funke, Münster: Europäische lieux de mémoire oder lieux de mémoire fur Europa im antiken Griechenland? Jean-Marie Moeglin, Paris: Hat das Mittelalter europäische lieux de mémoire erzeugt? Bernd Schneidmüller, Bamberg: Europäische Erinnerungsorte im Mittelalter Robert J. W. Evans, Oxford: Europa als Peripherie in der Frühen Neuzeit Günther Lottes, Potsdam: Europäische Erinnerung und europäische Erinnerungsorte? Gustavo Corni, Trento: Umstrittene lieux de mémoire in Europa im 20. Jahrhundert
Andere Beiträge Volker Jarren, Kathmandu: Europäische Diplomatie im Zeitalter Ludwigs XIV. Das Beispiel Johann Daniel Kramprichs von Kronenfeld (1622-1693) Wolfgang Burgdorf, München: „Süße Träume". Vorbehalte gegen europäische Einigungskonzeptionen in der Frühen Neuzeit Marie-Emmanuelle Reytier, Caluire et Cuire: Die deutschen Katholiken und der Gedanke der europäischen Einigung 1945-1949. Wende oder Kontinuität?
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Karl Otmar Freiherr von Aretin, München: Die deutsch-sowjetischen Historikerkolloquien in den Jahren 1972-1981. Ein Erfahrungsbericht
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Forschungsbericht Roman Czaja, Toruü: Die historischen Atlanten der europäischen Städte
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Europa-Institute und Europa-Projekte J. Robert Wegs, Notre Dame, Indiana: Das Nanovic Institute for European Studies an der University of Notre Dame
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Auswahlbibliographie Matthias Schnettger, Mainz: Europa-Schrifttum 2001 (mit Nachträgen)
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Autorenverzeichnis
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SCHWERPUNKTTHEMA Europäische lieux de mémoire?
Vom 20. bis 23. März 2000 veranstaltete das Institut für Europäische Geschichte, Abteilung Universalgeschichte, mit finanzieller Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung in der Villa Vigoni/Loveno di Menaggio einen Workshop, der der Frage nachging, ob es so etwas wie „europäische" lieux de mémoire gebe, also Gedächtnisorte - dies in Anlehnung an Pierre Nora freilich in einem weiten Sinn verstanden und auch Personen und geistig-kulturelle Prozesse einschließend - , die für ganz Europa oder doch wenigstens große Teile des Kontinents einen symbolischen Wert besitzen. Für jede der großen historischen Epochen sollte diese Frage von zwei Historikern untersucht werden, im Idealfall je einem deutschen und einem nichtdeutschen Wissenschaftler. Aus verschiedenen Gründen ließ sich das skizzierte Modell zwar nicht ganz in der beabsichtigten Form verwirklichen, und leider sahen sich auch nicht alle Referenten in der Lage, ihre Manuskripte zu überarbeiten und für den Druck freizugeben. Die hier abgedruckten Beiträge eines Althistorikers, zweier Mediävisten, zweier Frühneuzeitler und eines Zeithistorikers lassen aber doch etwas davon ahnen, wie sehr die Fragestellung die Beteiligten herausforderte und wie lebendig die Diskussion war. Die Fragestellung kann man vor dem Hintergrund eines nicht nur zusammenwachsenden, sondern auch sich ausweitenden Europa und mit Nachdruck betriebener Bemühungen der Europäischen Union, eine Art europäisches Gemeinschaftsbewusstsein zu befördern, sicher nicht mit einer Handbewegung abtun. Das Bedauern über das „Mythendefizit" Europas (Wolfgang Schmale) ist das eine, der Blick über den nationalen Tellerrand hinaus und in bewusster „Europäisierung" des Nora'schen Ansatzes die Hinwendung zu den „Orten" und Topoi, die für eine sehr große, wenn nicht sogar kontinentale Erinnerungsgemeinschaft identitätsbildend und -verstärkend waren, das andere. Letzteres kann zunächst einmal ohne jeden (europa)politischen Nebengedanken und jeden Legitimitätsdruck geschehen, wiewohl es jedermann, der Geschichte betreibt, klar ist, dass die Themen und Probleme der Gegenwart die Sujets der Historiker zu einem guten Teil vorgeben. Diese Herausforderung und Brisanz, über „europäische" lieux de mémoire nachzudenken, ist
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ganz unabhängig von der genannten Konferenz inzwischen auch von anderer Seite erkannt worden; soeben ist unter dem Obertitel „Gedenken im Zwiespalt" ein Sammelband erschienen (Göttingen 2001), der den „Konfliktlinien europäischen Erinnerns" nachgeht. Das Thema steht auf der Agenda der europäischen Geschichtswissenschaft. Über die Tagung in der Villa Vigoni ist in den AHF-Informationen (Nr. 22 vom 8. Mai 2000) und in den Kommunikationen/Mitteilungen der Villa Vigoni (IV, Mai 2000, S. 67-72) berichtet worden, beide Male von Maigorzata Morawiec. Brigitte Mazohl-Wallnig hat in der Zeitschrift L'homme (Jahrgang 11 [2000], Heft 2, S. 284-288) aus ihrer Sicht über den „tentativen Workshop" berichtet.
Europäische lieux de mémoire oder lieux de mémoire für Europa im antiken Griechenland?* Von
Peter Funke Vorderhand erschien eigentlich alles ganz einfach und einleuchtend und in gewisser Weise auch selbstverständlich. Wer mit Blick auf das Ziel einer Konferenz über „.Europäische' lieux de memoire?" danach fragte, „ob es so etwas gebe wie .europäische' lieux de mémoire, also historische Ereignisse oder Prozesse bzw. Symbole oder Persönlichkeiten, die das Zusammenwachsen des Kontinents befördern könnten"1, der musste doch wohl ganz zwangsläufig - um nicht zu sagen natürlich - auch die Alte Geschichte in seine Überlegungen mit einbeziehen; und auch der befragte Althistoriker sah keine Veranlassung, sich dieser Frage zu entziehen. Es ist sogar im Gegenteil zu konstatieren, dass sich gerade die Althistoriker in den vergangenen Jahren verstärkt den Fragen einer adäquaten Darstellung einer europäischen Geschichte gestellt haben, die „mehr sein will und soll als eine Addition von Nationalgeschichten"2. So wurde 1992 - bezeichnenderweise in Delphi - vom Braunschweiger Georg-Eckert-Institut fur internationale Schulbuchforschung eine europäische Konferenz durchgeführt, die nach der Stellung der Antike im Geschichtsunterricht der europäischen Länder fragte und die antike Geschichte nach Paradigmen durchmusterte, die geeignet sein könnten, als Elemente eines Grundkanons für ein in allen europäischen Ländern akzeptiertes Geschichtsbuch für den Schulunterricht zu dienen3. Zum gleichen Zweck hat sich 1995 auf Initiative des deutschen Ge* Die mir zugedachte Aufgabe, zu Beginn der internationalen Konferenz „ .Europäische' lieux de mémoire?" nach solchen „europäischen" Erinnerungsorten in der griechischen Antike zu fahnden, habe ich genutzt, um durch einen bewusst skeptischen Einstieg in die Diskussion über die Erörterung antiker Spezifika hinaus auch auf die Grundproblematik einer „Europäisierung" des von Pierre Nora entwickelten Ansatzes hinzuweisen. Der Vortrag wurde daher als ein Impulsreferat konzipiert, dessen essayistischer Stil hier beibehalten wird. Aus diesem Grund und auch angesichts der kaum noch überschaubaren Fülle einschlägiger Publikationen bleiben die Literaturverweise auf einige wenige weiterführende Titel beschränkt. 1 Zitiert nach einem von Heinz Duchhardt verfassten Thesenpapier, mit welchem der Konferenzrahmen abgesteckt und die der Tagung zugrunde gelegten Arbeitshypothesen skizzenhaft dargestellt werden sollten. 2 Heinz DUCHHARDT, Thesenpapier (Anm. 1) 3 Die Ergebnisse dieser Tagung wurden vorgelegt in dem Sammelband: Unity and Units of Antiquity, hrsg. von Kostas Buraselis, Athen 1994.
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schichtslehrerverbandes und einiger althistorischer Fachkollegen die Initiative ,Alte Geschichte für Europa" (AGE) gebildet. Von lieux de mémoire war bei allen diesen Unternehmungen noch nicht die Rede; aber die dort gestellten Fragen zielten zweifellos in die gleiche Richtung, in die wir uns erklärter Maßen auch hier bewegen wollen. Die Reihe vergleichbarer Aktivitäten ließe sich durchaus noch weiter fortsetzen. Sie sind aber keineswegs in erster Linie einer puren Europabegeisterung entsprungen, sondern haben auch eine sehr pragmatische Seite: Es ist der Versuch, einer in allen europäischen Ländern zu beobachtenden zunehmenden Konzentration des historischen Unterrichtsstoffes auf die Geschichte der neueren und neuesten Zeit und einem damit verbundenen grundlegenden Wandel des Geschichtsverständnisses entgegenzuwirken. Die ideologiekritischen und rezeptionsgeschichtlichen Aspekte dieser Entdeckung und Instrumentalisierung Europas für einen als neu ausgegebenen Geschichtsunterricht böten schon für sich genommenen eine geeignete Ausgangsbasis für die Analyse der Grundlagen einer - oft auch nur vermeintlichen - europäischen Gedächtnislandschaft und ihrer auch von Pierre Nora letztlich geforderten Dekonstruktion4. Ich werde aber diesen Weg nicht beschreiten, der auf eine kritische Durchmusterung des von vielen Seiten immer wieder aufs Neue bereitgestellten Arsenals europabezogener Eckdaten und Schlüsselereignisse aus der Antike hinauslaufen würde. Im abschließenden Teil meiner Ausführungen werde ich zwar auch meinerseits den Versuch unternehmen, zumindest in Umrissen mögliche europäische lieux de mémoire im Bereich der griechischen Antike ausfindig zu machen. Vorab möchte ich aber doch einige allgemeinere Erwägungen in den Vordergrund stellen, um auch das Unbehagen deutlich zu machen, das sich bei mir sowohl auf der Suche nach dem Anteil des antiken Griechenland an einer „europäischen Geschichte" wie insbesondere auch im Umgang mit dem dabei zugrunde gelegten theoretischen Ansatz Pierre Noras 5 eingestellt hat. Überaus bemerkenswert erscheint mir zunächst einmal die große Selbstverständlichkeit, mit welcher bis heute offenbar allenthalben vorausgesetzt wird, dass die griechisch-römische Antike ein unabdingbarer Bestandteil einer für das heutige Europa konstitutiven Geschichte ist. Die Reihung der Zitate könnte schier endlos ausfallen, um dies zu untermauern. Dabei ist auffällig, 4
Zum Übergang von der Rekonstruktion der Gedächtnisorte zu deren Dekonstruktion vgl. Les lieux de mémoire, hrsg. von Pierre Nora, 7 Bde., Paris 1984-1992, hier: III: Les France, Bd. 3, 1992, S. 13 ff.; siehe dazu auch Klaus GROSSE-KRACHT, Gedächtnis und Geschichte: Maurice Halbwachs - Pierre Nora, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 28 f. 5 Neben dem siebenbändigen Werk: Les lieux de mémoire (Anm. 4) sei hier vor allem verwiesen auf: Pierre NORA, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990; weitere Literatur bei GROSSE-KRACHT (Anm. 4).
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dass sich der Argumentationshaushalt über die Zeiten hinweg kaum verändert hat. Beliebig herausgegriffen sei ein Zitat von Hugo von Hofmannsthal: „Das [...] ist der Geist der Antike, ein so großes Numen, dass kein einzelner Tempel, obwohl viele ihm geweiht sind, es fasst. - Es ist unser Denken selber, es ist das, was den europäischen Intellekt geformt hat. [...] Ohne Piaton und Aristoteles nicht Augustin noch Thomas. [...] Es ist der Mythos unseres europäischen Denkens, die Kreation unserer geistigen Welt. [...] Es ist kein angehäufter Vorrat, der veraltern könnte, sondern eine mit Leben trächtige Geisteswelt in uns selber".
Und für Paul Valéry stand fest: „Unbedingt europäisch ist alles, was von drei Quellen - Athen, Rom und Jerusalem - herrührt". Was hier vor allem seit dem 19. Jahrhundert - im Übrigen durchaus auch im nationalsozialistischen Deutschland zum Teil mit entsprechenden unheilvollen ideologischen Konnotationen6 - gedacht und gesagt wurde, findet seine Fortsetzung etwa dort, wo der Rheinische Merkur sein 50-jähriges Bestehen im März 1996 mit einer 36-seitigen Sonderbeilage feierte unter dem Titel: „Wurzeln. Die Grundlagen der europäischen Kultur und Zivilisation in der Welt der Antike". Auf der gleichen Linie argumentierte - um nur noch ein weiteres Beispiel zu zitieren - Konrad Adam in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um eine Lanze für den altsprachlichen Unterricht an den Gymnasien zu brechen: „Wenn man im Ernst bei Schülern so etwas wie einen europäischen Patriotismus wachrufen möchte, wird man auf diese Fächer [= Latein und Altgriechisch] nicht ganz und gar verzichten können. Europa ist eine Erfindung der Griechen, aus der die Römer etwas Handfestes gemacht haben, einen Staat nämlich, dessen Grenzen bis heute kulturell stilbildend wirken" .
Wäre es wirklich so simpel und selbstverständlich, wie es hier behauptet wird, wäre es in der Tat ein leichtes Spiel, über europäische lieux de mémoire im antiken Griechenland zu sprechen. So eindrücklich und einprägsam das Diktum Konrad Adams aber auch sein mag, so fraglich bleiben gleichwohl seine Grundaussagen. Von der problematischen These der bis heute kulturell stilbildenden Grenzen des Imperium Romanum möchte ich erst gar nicht sprechen, zumal zunächst einmal zu fragen wäre, welche Grenzen Adam da vor Augen hat. Dabei möchte ich keineswegs in Abrede stellen, dass sich darüber diskutieren ließe, inwieweit zwar nicht gerade die räumliche Er6
Eine umfassende ideologiekritische Auseinandersetzung mit der propagandistischen Verwendung des Europagedankens in der Zeit des Nationalsozialismus ist immer noch ein Forschungsdesiderat. 7 Konrad ADAM, Im Netz. Die gefangene Bildung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Dezember 1 9 9 9 , S. 4 9 ; vgl. im Übrigen etwa auch Heike SCHMOLL, Latein und Griechisch als Grundlagen der europäischen Identität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Mai 2 0 0 0 , S. 3.
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Streckung des Imperium Romanum, aber vielleicht doch die Prinzipien und Mechanismen der römischen Reichsbildung auch einen Vorbildcharakter für ein vereintes Europa haben könnten. Hierüber hat sich erst kürzlich Geza Alföldy in einer Abhandlung allerdings aus einer weitaus differenzierteren Perspektive geäußert8. Er legte dabei besonderes Gewicht auf die integrative Kraft von Kultur und Politik im zusammenwachsenden Imperium Romanum und betonte zugleich die allgemeine Prosperität als Resultat der globalisierten Wirtschaft des Römischen Reiches mit einem ausgebauten Verkehrswegenetz, einer einheitlichen Währung und einem Recht auf freie Niederlassung und Arbeitsnahme. Ich möchte diesen Aspekt hier aber nicht weiter vertiefen, zumal man bei solchen Vergleichen allzu rasch Gefahr läuft, sich in vordergründigen Analogien zu verlieren. Wie aber steht es um die - nicht nur von Konrad Adam aufgestellte - Behauptung, Europa sei eine Erfindung der Griechen? Für die geographische Bezeichnung und Raumvorstellung trifft dies in begrenztem Umfang fraglos zu, auch wenn das Wort selbst wahrscheinlich aus dem Semitischen übernommen wurde. An der syrischen Küste verorteten die Griechen bekanntlich auch die Heimat Europas, der schönen Tochter eines phönikischen Königs, die Zeus in der Gestalt eines Stiers nach Kreta entführte. Ich möchte auf diesen Mythos aber gar nicht näher eingehen, in dem sich die Erinnerung der Griechen an die frühen, sehr engen kulturellen und auch politischen Verbindungen zwischen Griechenland, der Levante und dem übrigen Vorderen Orient widerspiegelt. So besehen war dieser eigentliche und ursprüngliche „europäische" Mythos zwar für die Griechen der Antike zweifellos so etwas wie ein lieu de mémoire; heute eignet er sich allen Zitaten zum Trotz allerdings kaum, um als lieu de mémoire eines zusammenwachsenden Europa zu dienen, das sich allemal schwer tut, seine südöstlichen Grenzen genauer zu bestimmen. Auch ist hier nicht der Ort, die Genese des griechischen Europabegriffes nachzuzeichnen, da er mit dem unsrigen kaum mehr als den Namen und eine ungefähre geographische Vorstellung gemeinsam hat9. Und diese geographi-
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Geza ALFÖLDY, Das Imperium Romanum - ein Vorbild für das vereinte Europa?, Basel 1999; vgl. auch Klaus Martin GlRADET, Bundesstaaten im antiken Griechenland und das römische Imperium als .supranationale' Ordnung - Modelle für ein vereintes Europa von morgen?, in: Europa. Traditionen - Werte - Perspektiven, hrsg. von Roland Martin, St. Ingbert 2000, S. 13-48. 9 Aus der reichen Filile einschlägiger Abhandlungen zur Genese des EuropabegrifTs in der Antike und zur Frage, inwieweit eine der unsrigen vergleichbare Europaidee bereits in der Antike nachzuweisen ist, seien hier nur zwei jüngere, in ihrer Ausdeutung durchaus kontroverse Arbeiten genannt, die auch Hinweise auf weiterführende Literatur enthalten: Justus COBET, Europa und Asien - Griechen und Barbaren - Osten und Westen. Zur Begründung Europas aus der Antike, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 405-419; Alexander DEMANDT, Europa: Begriff und Gedanke in der Antike, in:
Funke, Europäische lieux de mémoire
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sehe Vorstellung ist in der Antike bekanntlich auch erst allmählich über Jahrhunderte hinweg gewachsen. Zunächst nur einen kleinen nordöstlichen Teil des griechischen Festlands bezeichnend, wird der Name Europa dann vor allem in der Zeit der Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Persern vom 6. bis 4. Jahrhundert v. Chr. auf immer größere Bereiche der nördlichen Mittelmeerwelt ausgedehnt, um schließlich im Weltbild des Claudius Ptolemaios (um 150 n. Chr.) von Gibraltar im Westen bis an die Krim und den Ural im Osten und von „ultima Thüle" im Norden bis nach Kreta und Sizilien im Süden zu reichen. Diesem geographischen Begriff von Europa korrelierte im antiken Griechenland nie ein entsprechender kultureller oder gar politischer Begriff. Selbst in der Zeit der griechisch-persischen Auseinandersetzungen erwies sich der Europabegriff letztlich als ungeeignet, die zunehmend auch als politischer und kultureller Gegensatz empfundene Konfrontation allein auf die oppositionelle Gegenüberstellung von Asien und Europa zuzuspitzen. Bezeichnend ist eine Anmerkung im Geschichtswerk Herodots: .Asien eignen sich die Perser zu; Europa und die hellenische Welt sind aber nach persischer Auffassung davon abgesondert"10. Europa und to Hellenikón werden hier differenziert, da beide Begriffe sowohl in geographischer als auch in politischer und kultureller Hinsicht nur zum geringeren Teil als deckungsgleich empfunden wurden. Noch deutlicher wird das bei Aristoteles, der die Griechen in der Mitte zwischen Asien und den kalten Regionen Europas ansiedelt11. Ein so weit gefasster und eben vor allem geographischer Begriff taugt daher selbst im weiteren Sinne ebenso wenig als Fokus zur Bestimmung antiker europäischer lieux de mémoire wie der Mythos von der phönikischen Prinzessin aus dem fernen Syrien - es sei denn, man nutzt sie zur Dekonstruktion eines vielleicht dann doch zu engen und starren Europabegriffs. Mit dieser Einschränkung berühre ich aber die eigentliche Problematik bei der Bearbeitung der Frage nach europäischen lieux de mémoire im antiken Griechenland. Eine angemessene Antwort auf diese Frage setzt zunächst einmal voraus, dass es eine Vorstellung von dem gibt, was in diesem Fall mit „europäisch" gemeint ist. Der Leitfaden, der zur Vorbereitung auf die Konferenz „,Europäische' lieux de mémoire?" diente, weist über die bloße geographische Verortung europäischer lieux de mémoire hinaus auf deren inhaltliche Bezüge zu einer als Ganzheit verstandenen Geschichte Europas. Hier aber liegt die eigentliche Crux. Denn wenn die „Orte der Erinnerung" die rerum imagines sind, die das kollektive historische Gedächtnis eines Staates oder auch einer anderen Gemeinschaft formen und in denen solche Kommunitäten Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezeption. Festschrift für Karl Christ zum 75. Geburtstag, hrsg. von Peter Kneissl und Volker Losemann, Stuttgart 1998, S. 137-157. I0 HERODOT 1.4.4. 11 ARISTOTELES, Politik 1320 b 20 ff.; vgl. hierzu auch DEMANDT, Europa (Anm. 9), S. 145 f.
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ihre Identität finden und historisch legitimiert werden, dann setzt die Identifizierung dieser Orte ein Grundwissen über das Selbstverständnis der Gruppen, oder besser gesagt: ein gewisses Vorverständnis über den Zusammenhalt der Gruppen voraus, die sich dieser Orte bedienen. Jedenfalls müssen aber zumindest einige wesentliche Faktoren fixiert sein, die die jeweilige Gruppe konstituieren. Für das von Pierre Nora initiierte Projekt der Deskription französischer lieux de mémoire ergab sich durch den Bezug auf die französische Nation eine relativ klare und bestimmte Vorgabe, ohne dass von vornherein - auch dialektisch bedingte - Wechsel zwischen dem, der sich erinnert, und dem, was erinnert wird, ausgeschlossen werden. Man kann aber zunächst grundsätzlich von bestimmten Fixpunkten innerhalb eines variablen Bezugssystems ausgehen. Unter einer nationalstaatlichen Perspektive wäre daher auch die Frage nach lieux de mémoire im antiken Griechenland weitaus leichter zu beantworten gewesen als unter dem europäischem Aspekt. Zur Verdeutlichung sei hier nur ein Beispiel angesprochen, ohne es näher auszufuhren. Die Griechenbegeisterung des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts war zwar eine europaweite, aber damit noch keineswegs eine europäische Bewegung12. Jeder Staat suchte und fand seinen eigenen Zugang zu den antiken Stätten und wies diesen einen Platz in seinem kollektiven Gedächtnis zu. Die Entdeckung der griechischen Antike war ein wichtiges Element nationaler Selbstvergewisserung im 19. Jahrhundert; hiervon zeugt exemplarisch die Geschichte der großen nationalen archäologischen Ausgrabungen jener Zeit, die ein Spiegelbild dieses Prozesses abgibt13. Die Archäologen schufen neue lieux de mémoire, indem sie diese entdeckten. Sinnsuche und Sinngebung standen dabei in einem untrennbaren dialektischen Bedingungsgefiige. Mochten auch Ausgangs- und Zielpunkte bei allen Nationen im Wesentlichen gleich gewe12 Vgl. zum Folgenden mit weiterführender Literatur: Wilhelm BARTH/Max KEHRIGKORN, Die Philhellenenzeit. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Ermordung Kapodistrias' am 9. Oktober 1831, München 1960; Regine QUACK-EUSTATHIADES, Der deutsche Philhellenismus während des Freiheitskampfes 1821-1827, München 1984; Europäischer Philhellenismus. Ursachen und Wirkungen, hrsg. von Evangelos Konstantinou und Ursula Wiedemann, Neuried 1989; Europäischer Philhellenismus. Die europäische Literatur bis zur 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Evangelos Konstantinou, Frankfurt a. M. [u. a.] 1992; Der Philhellenismus in der westeuropäischen Literatur 1780-1830, hrsg. von Alfred Noe, Amsterdam/Atlanta 1994; Die Rezeption der Antike und der europäische Philhellenismus, hrsg. von Evangelos Konstantinou, Frankfurt a. M. [u. a.] 1998; George MARGAR1TIS, Griechenland. Wiedergeburt aus dem Geist der Antike, in: Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, hrsg. von Monika Flacke, Berlin 1998, S. 152— 173; Gerhard GRIMM, „We are all Greeks". Griechenbegeisterung in Europa und Bayern, in: Das neue Hellas. Griechen und Bayern zur Zeit Ludwigs I., hrsg. von Reinhold Baumstark, München 1999, S. 21-32. 13 Vgl. hierzu etwa die ideologiekritische Untersuchung von Suzanne L. MARCHAND, Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany, 1750-1970, Princeton 1996.
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sen sein, so verharrte man doch stets im Rekurs auf die eigenen nationalen Belange. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschlossen sich die Eigenarten der griechischen Poliswelt den in den Dimensionen ihres Empires denkenden Briten anders als den Deutschen, die in der Vielgestaltigkeit der griechischen Staatenwelt ein verbindendes Element sahen, das als tertium comparationis den Gedanken einer griechisch-deutschen Verwandtschaft stützen konnte. Beherrschend war (zunächst noch) die Idee von einer durch die gemeinsame Sprache und Kultur verbundenen Nation, deren kleinstaatliche Binnenstruktur eher eine notwendige Voraussetzung als ein störendes Hindernis darstellte gerade so, wie man sich die Gegebenheiten in der griechischen Poliswelt der klassischen Zeit vorstellen zu können glaubte14. Eine europäische Dimension erlangte der Philhellenismus allenfalls in der Zeit der griechischen Freiheitskriege ab 1821, als sich allenthalben in Europa Kräfte regten, um die Griechen in ihrem Kampf gegen die osmanische Herrschaft zu unterstützen. Die europäische Dimension blieb aber letztlich sowohl von ihrem Ursprung her wie auch im Ergebnis nationalstaatlich orientiert. Die lieux de mémoire der antiken griechischen Geschichte von Marathon, den Thermopylen und Salamis über Delphi und Olympia bis nach Chaironeia, die in den westeuropäischen Staaten und auch in den USA zu historischen Orientierungspunkten geworden waren, wurden nun als solche auf Griechenland rückprojiziert und zur schöpferischen Grundlage einer neuen nationalen griechischen Identität gemacht. Es sei nur am Rande bemerkt, dass dies eigentlich ein contradictio in se war, da der Hellenenname in der Antike zu keiner Zeit mit einer nationalstaatlichen Konnotation versehen war15. Aus den Bewohnern des Landes, die sich in der Nachfolge des untergegangenen Byzantinischen Reiches stolz als Rhomioi - „Römer" - bezeichneten, wurden nun wieder Hellenen gemacht, was Jacob Philipp Fallmerayer zu der spöttischen und damals vielfach Empörung hervorrufenden Bemerkung veranlasste, dass doch eigentlich kaum noch ein Tropfen althellenischen Blutes in den Adern der Bewohner des Landes fließe16. Bis heute ist die (neugriechische Gedächtnislandschaft von einem tiefen Zwiespalt zwischen einer oft immer noch geradezu zwanghaften Rückbesinnung auf die antiken Wurzeln und 14
Peter FUNKE, Das antike Griechenland - eine gescheiterte Nation? Zur Rezeption und Deutung der griechischen Geschichte in der deutschen Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Storia della Storiografia 33 (1998), S. 17-32. 15 Hierzu immer noch grundlegend Hans Erich STCER, Die geschichtliche Bedeutung des Hellenennamens, Köln/Opladen 1970. 16 Jacob Philipp FALLMERAYER, Welchen Einfluss hatte die Besetzung Griechenlands durch die Slaven auf das Schicksal der Stadt Athen und der Landschaft Attica? Oder nähere Begründung der im ersten Bande der „Geschichte von Morea während des Mittelalters" aufgestellten Lehre Uber die Entstehung der heutigen Griechen: gelesen in der öffentlichen Sitzung der königlich-bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart/Tübingen 1835.
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einer fast völligen Ignoranz der eigenen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte geprägt. Jedoch geraten wir damit schon wieder viel zu weit in die Gefilde der lieux de mémoire nationaler Prägung. Wie aber lässt sich Noras Ansatz auf eine europäische Fragestellung übertragen? Die Problematik eines solchen Unterfangens hat Nora selbst gesehen. Er hat sich immer dagegen verwahrt, in der Geschichte der französischen Gedächtnisorte nur eine Verteidigung der nationalen Mythen Frankreichs zu sehen. Vielmehr betrachtet er seine Inventarisierung der französischen Gedächtniskultur als eine Materialvorlage auch für einen internationalen Vergleich. Was er dabei im Blick hat, sind mémoires comparéesn, Elemente einer vergleichenden Geschichte europäischer Gedächtnisorte. Die Themenstellung der Konferenz weist aber darüber hinaus, indem der prinzipiell nationalstaatliche Bezug des Nora'schen Ansatzes auf eine gesamteuropäische Perspektive ausgeweitet wird: Der Blick richtet sich auf europäische lieux de mémoire eben nicht im nationalstaatlichen Vergleich oder als Addition nationaler Gedächtnisorte, sondern als konstitutive Faktoren einer spezifisch europäischen Gedächtniskultur. Hier beginnen aber die eigentlichen Schwierigkeiten. In dem eben skizzierten Beziehungssystem zwischen dem, der sich erinnert, und dem, was erinnert wird, bleibt der Fixpunkt des Erinnerungssubjekts - eben das „Europäische" - sehr unbestimmt, so dass auch die Frage nach dem Erinnerungsobjekt und seiner materiellen Verortwig zwangsläufig vage bleiben muss. Das gilt jedenfalls fur eine vorrangig historisch orientierte und historisch argumentierende Erschließung der Fragestellung. Solange die Entscheidung auch politisch noch offen ist, in welchen Grenzen und auf welchen Grundlagen letztlich ein vereintes Europa verwirklicht werden wird, das Kollektiv, das sich erinnern soll, sich noch gar nicht endgültig herausgebildet hat, kann es eigentlich auch noch keine kollektive historische Erinnerungskultur geben - wenigstens nicht als historisch begreifbares Objekt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bleibt daher die Bestimmung dessen, was europäische lieux de mémoire sein „könnten" (so ja auch die vorgegebene Themenstellung der Konferenz), von der subjektiven Einschätzung des Betrachters und dessen Europabegriff abhängig. Damit schlüpft der Historiker aber unversehens in eine politische Rolle und wird selbst zum Baumeister und Gestalter einer europäischen Gedächtnislandschaft. Eine solche politische Rolle ist zwar weder neu noch grundsätzlich verwerflich; sie gehört in gewisser Weise sogar zum Beruf des Historikers - zumindest solange sie kritisch positioniert bleibt. Man muss sich aber dieser Rolle bewusst sein, wenn man sich darauf einlässt, das von Pierre Nora entwickelte Deutungsmuster auf eine europäische Dimension zu übertragen.
17 So der Titel eines Themenheftes der von Pierre Nora herausgegebenen Zeitschrift Le Débat 78 (1994); vgl. im Übrigen GROSSE-KRACHT, Gedächtnis (Anm. 4), S. 29 f.
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Ich möchte mich mit diesen Ausführungen auch keineswegs der eigentlichen Aufgabe entziehen, nach europäischen lieux de mémoire in der griechischen Antike zu fahnden. Ich wollte aber doch meine Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der Fragestellung und meine daraus resultierenden Vorbehalte formulieren. Mir schien dies auch um so mehr angebracht, als gerade das antike Griechenland - wie eingangs angemerkt - anscheinend unbestritten und fraglos als fester Bestandteil einer europäischen Geschichts- und Gedächtnislandschaft gilt. Bei einer genaueren Betrachtung stellt sich der Sachverhalt allerdings doch schwieriger dar. Zumindest sahen das so auch einige Teilnehmer eines Kongresses, der im Oktober 1999 im Gebäude des Europaparlaments in Brüssel tagte, um die Gründung eines „Europa-Museums" im Jahr 2003 vorzubereiten. Auf der Tagung, an der zahlreiche Wissenschaftler und Politiker teilnahmen - darunter der Kommissionsvorsitzende Prodi sowie die deutschen Altbundeskanzler Schmidt und Kohl - , wurde das Fazit gezogen, dass die Geschichte Europas, wie wir sie heute kennen, eigentlich erst mit der Kaiserkrönung Karls des Großen begonnen habe. Wie es in den - noch unverbindlichen - Empfehlungen zu Inhalt und Umfang der darzustellenden europäischen Geschichte hieß, sei das moderne Europa der sich unter einem Dach vereinigenden Nationalstaaten „die Tochter des Katholizismus und der Barbaren", welche das Weströmische Reich unter sich aufgeteilt hatten. Die griechisch-römische Antike wird in diesen Vorschlägen hingegen nur als Vorstufe und eher randständig abgehandelt, da die Griechen sich im Gegensatz zu den übrigen Völkern, den Barbaren, gesehen hätten - also kein Bewusstsein von der Gemeinsamkeit der Kulturen hatten - und die römischen Bürger Vorrechte gegenüber allen anderen Untertanen des Reiches besaßen. Byzanz wird hier sogar als Gegenmodell - ähnlich dem Islam und Asien - gesehen18. Auch wenn kaum damit zu rechnen ist, dass sich diese - auch aus historischer Sicht kaum haltbaren - Vorstellungen unverändert durchsetzen werden, machen sie doch sehr deutlich, wie ideologiebefrachtet das Problem einer historischen Positionierung Europas immer noch ist. Die genannten Kriterien für die Gestaltung eines künftigen „Europa-Museums" können aber durchaus 18
Dazu der Artikel von Andreas KRAUSE, Wo beginnt Europa?, in: Athener Zeitung, 5. November 1999, S. 7; bezeichnend war auch die Reaktion der Griechisch-Orthodoxen Kirche auf diese Museumspläne: In einem Appell an „alle Griechen und vor allem die kulturelle Elite des Landes" rief der Ständige Heilige Synod in Athen zu „Mobilisierung und Wachsamkeit" auf. Der Westen müsse verstehen, dass „die geistigen Grundlagen Europas die gesunden Elemente der antiken griechisch-römischen Zivilisation, die griechisch-orthodoxe, byzantinische Kultur, die griechisch-christliche oder griechisch-orthodoxe ostkirchliche Tradition und das unter deren unzweifelhaftem Einfluss ausgebildete, lateinisch-römische, westkirchliche Erbe" seien (zitiert nach Athener Zeitung, 12. November 1999); vgl. auch Nikolaos WENTOURIS, Der diachrone Beitrag Griechenlands zur Bildung des europäischen Bewusstseins, in: Neafon 1 (2001), S. 12-20.
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als eine Art Negativliste dienen, um vor ihrem Hintergrund dennoch mögliche Formen von lieux de mémoire in der griechischen Antike ausfindig zu machen. Dabei wäre es allerdings sinnlos zu fragen, welche Personen oder Orte hier unmittelbar europäisch konnotiert sind. In der Antike wäre kein Grieche je auf den Gedanken gekommen, im heutigen Sinne „europäisch" zu denken und zu handeln, was auch immer wir darunter verstehen mögen. Europa war für die antiken Griechen - wie schon kurz dargelegt - allenfalls eine geographische Bezugsgröße, niemals aber Bezugspunkt politischen Handelns. Das war allenfalls to hellenikön, die griechische Staatenwelt, in der Regel aber die einzelne Polis, die den Griechen als eigentliche patris - „Vaterland", Heimatstaat - galt; und Poleis gab es in klassischer Zeit mehr als 800. Alle Versuche, im politischen Handeln der antiken Griechen so etwas wie eine europäische Idee, ein „concetto di Europa", oder den Wunsch nach einem „grando stato europeo" auszumachen19, erweisen sich daher als untauglich20. Dass sich aber dennoch Mythen, Orte und auch Personen der griechischen Antike „europäisieren" lassen, steht ganz außer Frage. Ich möchte diesen Weg hier aber nicht beschreiten, da er vorab eine entsprechende „europäische" Idee voraussetzt und dann allzu rasch zu einer bloßen Instrumentalisierung zu verkommen droht und Gefahr läuft, sich in völliger Beliebigkeit zu verlieren - gerade weil das Arsenal der griechischen Geschichte so überreich gefüllt ist mit Objekten, die sich für eine (aber eben nicht nur) „europäische" Aus- bzw. Umdeutung anbieten. Für was alles haben in dieser Hinsicht nicht schon Sparta und Athen, Delphi und Olympia, Miltiades, Themistokles, Leonidas und Perikles - von Homer, Aischylos und Sophokles oder Sokrates, Piaton und Aristoteles ganz zu schweigen - herhalten müssen! So besehen, mögen sie in einem Europa-Museum verzichtbar sein, zumal wenn sie als bloße Versatzstücke und Nachwehen eines überkommenen Philhellenismus und Klassizismus daherkommen. Es sei in diesem Zusammenhang jedoch klar hervorgehoben, dass hiermit nicht in Abrede gestellt wird, dass das, was heute ein (in welchen Grenzen auch immer) vereintes Europa auszeichnet, in vielerlei Hinsicht auf antiken Traditionen beruht und tief im antiken Erbe verwurzelt ist21. Ohne die stete 19 Amoldo M O M O G L I A N O , L'Europa come concetto politico presso Isocrate e gli Isocratei, in: Rivista di Filologia e d'Istruzione Classica 61 (1933), S. 494; vgl. auch - allerdings vorsichtiger abwägend - C O B E T , Europa und Asien (Anm. 9). 20 Vgl. hierzu auch Manfred F U H R M A N N , Europas fremdgewordene Fundamente. Aktuelles zu Themen aus der Antike, Zürich 1995, S. 40: „Zwar verwendet schon Herodot, der,Vater der Geschichte', zu Beginn seines Werkes die Namen Europa und Asien, um hiermit zwei grundverschiedene Lebens- und Kulturräume zu bezeichnen. [...] Trotzdem darf man behaupten, dass die Antike ohne einen Europagedanken ausgekommen ist: Die Welt der Griechen und Römer war mediterran, so dass es schon an der geographischen Basis fehlte". 21 In diesem Zusammenhang hat zuletzt noch wieder Richard S C H R Ö D E R , Einheit der Vielfalt. Europa - was ist das?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. August 2001, S. 7, hingewiesen auf die Aufzählung von spezifisch Europäischem bei Max W E B E R , Vorbemerkung,
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Vergewisserung dieser weit in die Antike zurückreichenden Bindungen verlöre Europa zweifellos ein Stück seiner kulturellen Identität; gleichwohl scheint auch diese Annahme keineswegs mehr unstrittig und selbstverständ22
lieh zu sein . Die nähere Bestimmung dieses griechisch-römischen Erbes Europas steht jedoch auf einem anderen Blatt und ist im Zusammenhang der Fragestellung des Kongresses, soweit diese auf von ihrem Wesen her bereits europäisch konnotierte lieux de mémoire in der griechischen Antike abzielt, nicht zu erörtern. Streng genommen ist die Frage nach „europäischen" lieux de mémoire in der griechischen Antike also abschlägig zu beantworten. Anders aber verhält es sich, wenn man nach lieux de mémoire für Europa, also nach konstitutiven Faktoren einer spezifisch europäischen Gedächtniskultur, im antiken Griechenland sucht. Unter diesem Blickwinkel wird dann auch die Frage nach dem griechisch-römischen Erbe wieder relevant, ohne dass allerdings die im Vorangegangenen dargelegten Prämissen außer Betracht bleiben dürfen. Einfache Antworten sind angesichts der Komplexität einer solchen Betrachtungsweise jedoch auch hier nicht zu finden; und es soll daher im Folgenden nur ein Aspekt exemplarisch herausgegriffen werden, um abschließend zumindest die Richtung zu weisen, in welche lieux de mémoire für Europa im antiken Griechenland zu verorten sind. Ich habe hier die originär politischen Dimensionen der griechischen Antike im Blick, die unter europäischer Perspektive eine neue Aktualität gewinnen und im weiteren Sinne durchaus als lieux de mémoire betrachtet werden können - auch im Sinne Pierre Noras, der im Laufe seines Projektes den materiellen Aspekt der Gedächtnisorte immer weiter gefasst hat und schließlich auch kollektive Abstrakta sowie geistige, ökonomische und politische Prozesse in seine Materialsammlung mit aufgenommen hat23. Ich möchte das, was ich unter den politischen Dimensionen verstehe, abschließend knapp skizzieren, ohne ins Detail zu gehen. Dabei kommt es mir vor allem auf zwei Aspekte an: Der erste betrifft das, was Jochen Martin die „Verstaatlichung der Polis" und Christian Meier die „Entstehung des Politischen" genannt haben24. Vor dem Hintergrund hier nicht näher zu erläuternder, tiefgreifender politischer und sozialer Umbrüche erschlossen sich die Griechen in archaischer Zeit mit der Polis nicht nur einen neuen Lebens-, sondern zugleich auch einen neuen in: DERS., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, S. 1 ff. Zu dieser Problematik jüngst noch Egon FLAIG, Unsere fremd gewordene Antike. Warum wir ihr mehr verdanken, als wir noch wahrhaben wollen, in: Neue Zürcher Zeitung, 6. Oktober 2001, S. 85; vgl. im Übrigen auch die grundlegenden Überlegungen von Arbogast SCHMITT, Die griechische Antike und das moderne Europa, in: Griechenland in Europa, hrsg. von Gilbert H. Gomig [u. a.], Frankfurt a. M. [u. a.] 2000, S. 9-37. 23 GROSSE-KRACHT, Gedächtnis (Anm. 4), S. 29 f. 24 Jochen MARTIN, Zur Entstehung der Sophistik, in: Saeculum 27 (1976), bes. S. 154 ff.; Christian MEIER, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 3 1995. 22
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politischen Raum, der zum einzigen Bezugspunkt politischen Handelns wurde und zum bestimmenden Merkmal der politischen Identität seiner Bewohner, der politai ( „ B ü r g e r " ) . Die Ablösung der alten gentilizischen Strukturen ging einher mit der politischen Institutionalisierung der Polis. Rat und Volksversammlung wurden in ein festes Regelwerk eingebunden, dessen schriftliche Fixierung zusätzliche Rechtssicherheit schuf25. Die Formalisierung der politischen Entscheidungsprozesse verband sich eng mit der Frage der politischen Teilhabe. Die Auseinandersetzungen um diese Frage, die in den einzelnen Poleis ganz unterschiedliche Lösungen hervorbrachte, macht deutlich, dass Politik zu einem Objekt geworden war, dessen Verfügbarkeit eine Frage der Macht war, das grundsätzlich aber in der Gestaltungsgewalt der Bürger lag. Die jeweils zeitgenössischen politischen Schlagworte der eunomia („angemessene Zuteilung"), isonomia („gleichmäßige Zuteilung") und demokratia („Herrschaft des demos = Gesamtbürgerschaft) kennzeichnen in Athen den von Solon über Kleisthenes bis Perikles fuhrenden Weg einer steten Erweiterung des Kreises der Bürger, denen uneingeschränkt die Teilhabe an allen politischen Entscheidungsprozessen zugestanden wurde26. Als europäischer lieu de mémoire ist aber nicht allein die Verfassungsform der Demokratie attischer Prägung anzusehen, sondern, weiter gefasst, das Phänomen der Politisierung des öffentlichen Raums der Polis und damit auch ihrer Bürger. Hier liegt der eigentliche Ursprung nicht nur der demokratischen Idee, sondern überhaupt des verfassungspolitischen Denkens und Handelns, die wiederum die unabdingbaren Voraussetzungen für die bis heute gültigen Leistungen der Griechen in Kunst, Literatur und Philosophie bildeten. Ich möchte aber noch einen zweiten, gerade für die europäische Dimension bedeutsamen politischen Aspekt in das imaginäre Museum Europas stellen. Die Politisierung der Polis korrelierte mit der Atomisierung der griechischen Staatenwelt. Das unbedingte Beharren der Griechen auf der Freiheit und Autonomie der Einzelstaaten bedingte dauernde Spannungen und Konkurrenzen und eine stete Destabilisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, dieses Defizit zu überwinden und das zwischenstaatliche Miteinander in eine umfassendere, polisübergreifende Ordnung einzubinden. Damit wurde das Problem der politischen Teilhabe in den zwischenstaatlichen Bereich verlagert, was die Entwicklung ganz neuer Formen des politischen Zusammenlebens in einer Vielstaatenwelt erforderlich machte - eine Konstellation, die im gegenwärtigen Europa allenthalben prä25
Das früheste Beispiel einer solchen regulierten Polisverfassung ist die als sogenannte Große Rhetra überlieferte spartanische Verfassung des 8./7. Jahrhunderts v. Chr. (PLUTARCH, Lykurgos 6.2). 26 Grundlegend hierzu (mit weiterführender Literatur): Jochen BLEICKEN, Die athenische Demokratie, Paderborn [u. a.] 41995; Mogens Herman HANSEN, Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis, Berlin 1995.
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sent ist. Alle Bemühungen, möglichst viele Poleis in eine eher locker gefügte koiné eiréne („allgemeine Friedensordnung") zu integrieren, erwiesen sich allerdings letztlich als Fehlschlag27. Ein weitaus größerer Erfolg war hingegen der Ausbildung wirkkräftiger Bundesstaaten beschieden, die im 3. Jahrhundert v. Chr. schließlich die politische Landkarte ganz Griechenlands prägten, als so gut wie alle ehemals eigenständigen Poleis Mitglieder bundesstaatlich organisierter Verbände geworden waren28. Die Anfänge reichen aber schon ins 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. zurück. Vor allem an den Randzonen der Poliswelt - in Achaia, Aitolien und Akamanien und besonders früh in Böotien - entwickelten sich neuartige Staatengebilde, die im Hinblick auf die Organisation des zwischenstaatlichen Miteinanders der Poleis zukunftsweisende Formen aufwiesen. Die Schaffung föderativer Staatsstrukturen bot neue Möglichkeiten, die offenkundigen Schwächen der Vielstaatenwelt Griechenlands zu überwinden, da sie die Eigeninteressen der Poleis und die Erfordernisse polisübergreifender Politik in Einklang zu bringen versprachen. Schon in klassischer Zeit waren Bundesstaaten wie der Arkadische Bund, der Boiotische Bund und der Chalkidische Bund neben den zahllosen eigenständigen Poleis ein bedeutender politischer Faktor. Die antiken Bundesstaaten waren geprägt von dynamischen Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Poleis und der Zentralgewalt. Aufgrund gemeinsamer Vereinbarungen hatten die Poleis als Gliedstaaten einen Teil ihrer eigenstaatlichen Kompetenzen auf die Bundesebene übertragen und in die Verfügungsgewalt des gesamten Bundes gestellt. Das betraf vor allem Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik sowie der Wirtschaft und Finanzen, aber auch große Bereiche der Gesetzgebung und der Rechtsprechung. Die Kompetenzbereiche des Bundes und der Gliedstaaten waren dabei nicht immer scharf voneinander getrennt, sondern konnten durchaus - wie auch in modernen Bundesstaaten - in einem konkurrierenden Verhältnis zueinander stehen und bedurften dann einer wechselseitigen Abstimmung. Wie in den einzelnen Gliedstaaten, gab es auch auf der Bundesebene eigene Magistrate und Entscheidungsorgane (Bundesversammlungen als Primärversammlungen und Bundesräte als Repräsentativorgane). Die Mitwirkung jedes Bürgers auch 27
Martin JEHNE, Koine Eirne. Untersuchungen zu den Befriedungs- und Stabilisierungsbemühungen in der griechischen Poliswelt des 4. Jahrhunderts v. Chr., Stuttgart 1994. 28 Zur Geschichte der griechischen Bundesstaaten (mit weiterführender Literatur): Jakob A. O. LARSEN, Greek Federal States. Their Institutions and History, Oxford 1968; Hans BECK, Polis und Koinon. Untersuchungen zur Geschichte und Struktur der griechischen Bundesstaaten im 4. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 1997; Peter FUNKE, Die Bedeutung der griechischen Bundesstaaten in der politischen Theorie und Praxis des 5. und 4. Jh. v. Chr. Auch ein Kommentar zu Aristot. pol. 1261a22-29, in: Theorie und Praxis der Politik im Altertum, hrsg. von Wolfgang Schuller, Darmstadt 1998, S. 59-71; GLRADET, Bundesstaaten (Anm. 8); Gustav Adolf LEHMANN, Ansätze zu einer Theorie des griechischen Bundesstaates bei Aristoteles und Polybios, Göttingen 2001.
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an den Entscheidungen auf der Bundesebene wurde dadurch garantiert, dass er zusammen mit dem Erwerb des Bürgerrechts eines Gliedstaates immer auch das Bundesbürgerrecht erhielt („doppeltes Bürgerrecht"). Die Bundesversammlungen, an denen in der Regel alle Bürger teilnehmen konnten, verloren angesichts der Größe vieler Bundesstaaten im Laufe der Zeit vielfach gegenüber den Bundesratsgremien an Bedeutung, in denen die Gliedstaaten proportional zu ihrer Größe durch Abgeordnete vertreten waren. So wurde bereits in der griechischen Antike das bundesstaatliche Prinzip mit den Ideen von Proportionalität und Repräsentative verbunden, die heute zu den Grundgedanken des modernen Parlamentarismus gehören und auch von entscheidender Bedeutung fur die Schaffung einer politischen Einheit Europas sind. Nachdem die Römer ihre Herrschaft über die östliche Mittelmeerwelt ausgedehnt hatten, verloren die hier nur überaus knapp skizzierten politischen Entwicklungen in der griechischen Staatenwelt ihre Dynamik und kamen schließlich sogar ganz zum Stillstand, so dass sie in ihrer Zeit längerfristig keine nachhaltigen Wirkungen mehr entfalten konnten. Das mindert allerdings nicht deren Relevanz und Modellcharakter für ein auch politisch zusammenwachsendes Europa. So besehen, stellt die Entwicklung neuer politischer Strukturen im antiken Griechenland wenn schon nicht einen europäischen lieu de mémoire, so doch einen (und keineswegs den einzigen) lieu de mémoire für Europa dar.
Summary The search for actual "European" lieux de mémoire in ancient Greece appears to be in vain, since the ancient geographical representation of Europe was never connoted culturally or even politically. In contrast to the national movements of the 19th century, for which ancient Greece was an important element of self-assertion, a European movement in politicis cannot therefore make reference to ancient Greek lieux de mémoire. However, we can look for lieux de mémoire for Europe, i. e. for constitutive factors of a specific European memory culture, in ancient Greece. Yet even so, one does not find lieux de mémoire in the sense of materially tangible places, but at most in the sense of collective abstracta as well as cultural and political processes. This is demonstrated in the last part of this article with two examples from the political realm: the "emergence of the political" (Chr. Meier) and the development of federal forms of organization according to the principles of proportionality and representation.
Hat das Mittelalter europäische lieux de mémoire erzeugt? Von
Jean-Marie Moeglin Das Ziel dieses Beitrags besteht weniger darin, ein Inventar der im Mittelalter entstandenen europäischen lieux de mémoire aufzustellen, als zu überprüfen, inwiefern das Mittelalter solche Erinnerungsorte erzeugen konnte.
I Zu allererst muss man sich fragen, was ein sogenannter lieu de mémoire sein mag. Pierre Nora, der Erfinder dieses Begriffs 1 , definierte ihn 1984 in der Einleitung zu La République auf folgende Weise: „[...] die Orte, wo unsere nationale Erinnerung sich selektiv verkörpert hatte und die, durch den Willen der Menschen oder die Arbeit der Jahrhunderte, deren glänzendste Symbole geblieben sind, wie Feste, Embleme, Denkmale und Feiern, aber auch laudationes, Wörterbücher und Museen". Darauf stellte er ein knappes Inventar dieser französischen lieux de mémoire und zwar
auf
„[...] zunächst die Republik mit ihren Symbolen, Denkmalen, ihrer Pädagogik, ihren Feiern und den Orten ihrer Gegenerinnerung. Dann kommt die Nation, in zwei Bänden, die um die wesentlichen Themen, die ihre Repräsentation ausmachen, herum aufgebaut sind: das ferne Erbe, die großen Epochen ihrer historiographischen Umstrukturierung; die Grenzen, in denen sie ihre Souveränität und ihr Miteinandersein definierte, die Art, wie man als Künstler oder als Gelehrter ihre Landschaften und Räume entziffern konnte. Aber auch die Orte, wo sich die Idee, die sie sich von der Rolle des Staates, ihrer Größe und ihren militärischen und zivilen Berühmtheiten, ihrem künstlerischen und monumentalen Patrimonium und schließlich ihrer Literatur und ihrer Sprache machte, verdichtete. Im vierten Band erscheinen schließlich Les France", die politischen, sozialen, religiösen und regionalen Frankreiche" .
1 Les Lieux de mémoire, I. La République, hrsg. von Pierre Nora, Paris 1984; Les lieux de Mémoire, II. La Nation, hrsg. von dems., 3 Bde., Paris 1986, Les lieux de mémoire, III. Les France - de l'archive à l'emblème, hrsg. von dems., 3 Bde., Paris 1992; ND des gesamten Werks: Les lieux de mémoire, hrsg. von dems., 3 Bde., Paris 1997. 2 Pierre NORA, Présentation, in: Les lieux de mémoire (Anm. 1), I, S. 16 (eigene Überset-
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Wenn wir diese Definition übernehmen, so kann man sagen, dass Pierre Nora zufolge der Begriff eines Erinnerungsorts sich zuerst als ein unbestimmter materieller oder nicht materieller Gegenstand definieren lässt, wie ζ. B. Emblem, Lied, Denkmal, Feiern, Buch usw., dann und vor allem aber durch die Erinnerung, die dieser Gegenstand in sich trägt und auf die er sich bezieht, da sie seine Existenz rechtfertigt, die er aber auch, durch eine Art logischen Zirkel, zu einem wirklich existierenden Wesen macht; dieses Wesen, das heißt die französische Nation, war nämlich stricto sensu nur eine ideelle Abstraktion, bestenfalls eine rein politische und juristische Realität, eine Sammlung von verstorbenen und lebendigen Menschen, die eigentlich einander nicht kennen. Dank dieser Erinnerungsorte wird diese Abstraktion eine nicht materielle Wirklichkeit. Mit anderen Worten, um Pierre Nora erneut zu zitieren: „die Erinnerungsorte stellen für sich selbst ihre eigene Bezugswirklichkeit dar"3; sie bekommen und gründen gleichzeitig ihre Legitimität von bzw. in dem Glauben an die Existenz einer Realität, die sie selbst erzeugen. Daher auch ihre Bedeutung: Sie sind das Produkt des Willens, das, worauf sie sich beziehen, dadurch existieren zu lassen, dass man seine Gründung, seine Sternstunden, seine großen Themen feiert; sie sind zugleich der Ausdruck einer „vigilance commémorative" und die „bastions sur lesquels on s'arc-boute". Diese Erinnerungsorte der französischen Nation hat Pierre Nora dann in zwei Etappen erfasst: 1) die Definition von drei großen strukturierenden Bezugsfeldern, Republik, Nation und „Les France", in denen sich die französische Nation spiegelt; 2) innerhalb dieser großen strukturierenden Rahmenvorgaben das Inventar der einzelnen Orte der Erinnerung, die, um es zu wiederholen, als „arbeitende Erinnerungen" („mémoires au travail"), die die Realität, an die sie erinnern, selbst erzeugen, zu verstehen sind; das heißt natürlich auch, dass es hinter diesen Erinnerungsorten „Trägerschichten" gibt, die sie existieren lassen. Ist das auf das mittelalterliche Europa übertragbar? Darf man sagen, dass das Mittelalter europäische Erinnerungsorte erzeugt hat? Dafür muss man am Anfang eine zweifache Frage stellen und beantworten: zunächst, ob der Begriff Erinnerungsort im Mittelalter einen Sinn hat, dann, ob Europa eine mittelalterliche Realität ist, oder, genauer gesagt, ob es einen mittelalterlichen Willen gegeben hat, Europa existieren zu lassen und infolgedessen europäische Erinnerungsorte zu erzeugen. Die erste Frage lässt sich ziemlich leicht beantworten. Der Begriff Erinnerungsort ist unbestreitbar mittelalterlich, auch wenn es das Wort selbst nicht gibt. Man darf sogar annehmen, dass die großen mittelalterlichen Institutionen ihre Legitimität mehr als auf immer ungewisse juristische und politische Definizung). 3 Pierre NORA, Entre mémoire et histoire, in: Les lieux de mémoire (Anm. 1), I, S. 29 (eigene Übersetzung).
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tionen auf die Ausarbeitung und Bildung von Erinnerungsorten gegründet haben. Nehmen wir z. B. die Institutionen, die wahrscheinlich das europäische Mittelalter lange Zeit am deutlichsten gekennzeichnet haben, nämlich die Klöster und geistlichen Stifte: Diese Institutionen legten größten Wert auf die Erstellung zahlreicher Schriftstücken, die zwar nicht nur, aber doch ebenfalls und vielleicht vor allem Erinnerungsorte waren. Der Nekrolog eines Klosters ist offensichtlich ein wichtiger Erinnerungsort dieser Institution; er verewigt die Erinnerung an seine früheren Angehörigen und Wohltäter, denen gegenüber das Kloster Verpflichtungen hat. Er erzeugt also auf diese Weise die Gemeinschaft der Verstorbenen und Lebenden, Angehörigen und Wohltäter, die einen wichtigen Aspekt der Wirklichkeit des Klosters darstellt4. Desgleichen ist das Urkundenbuch, in dem ein Kloster oder eine andere Institution, oft nach einer historischen Einleitung über die Gründung des Klosters, die für seine Existenz als Institution kostbarsten Urkunden aufbewahrt, an sich selbst ein Erinnerungsort der Institution, der sie als solche existieren lässt5. Die zweite Frage ist dagegen viel schwieriger zu beantworten: Gibt es „europäische" Erinnerungsorte, gibt es den Willen, solche zu erzeugen? Die Antwort lässt sich nicht in einem Wort geben. Eigentlich muss man versuchen, denselben Weg wie Pierre Nora zu gehen, indem man damit beginnt, einige große Bereiche zu identifizieren, die die großen Themen der europäischen Wirklichkeit im Mittelalter sein könnten, um darauf ein Inventar der einzelnen Erinnerungsorte innerhalb dieser großen Bereiche aufzustellen. Als Ergebnis wird sich dann, wie mir scheint, herausstellen, dass diese Grundbezüge einer europäischen Wirklichkeit im Mittelalter nur als immer wieder in Frage gestellte, unsichere Entwürfe existiert haben. Man wird sich schließlich fragen müssen, ob nicht die wirklichen vom Mittelalter erzeugten europäischen Erinnerungsorte bei dem zu suchen sind, was wenigstens anfanglich am wenigsten europäisch war, nämlich in den Erinnerungsorten des vom Mittelalter gegründeten nationalen bzw. nationalistischen Staats. Fragt man sich nämlich, was Europa im Mittelalter darstellt6, so muss man von 4
Dazu die zahlreichen Arbeiten über die früh- und hochmittelalterlichen klösterlichen Nekrologe und Gedenkbücher, die von Gerd Tellenbach, Karl Schmid, Joachim Wollasch, Otto Gerhard Oexle und ihren Schülern in den letzten Dezennien und Jahren durchgeführt worden sind; vgl. zusammenfassend Karl SCHMID, Gebetsdenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter, Sigmaringen 1983; Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hrsg. von Karl Schmid und Joachim Wollasch, München 1984; Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, hrsg. von Otto Gerhard Oexle und Dieter Geuenich, Göttingen 1994; Memoria als Kultur, hrsg. von Otto Gerhard Oexle, Göttingen 1995. 3 Dazu der Sammelband Les Cartulaires. Actes de la table ronde organisée par l'Ecole Nationale des Chartes et le G.D.R. 121 du CNRS, Paris, 5 - 7 décembre 1991, hrsg. von Olivier Guyotjeannin [u. a.], Paris 1993. 6 Zum Begriff Europa im Mittelalter vgl. Helmut GOLLWITZER, Zur Wortgeschichte und
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vornherein feststellen, dass es sich im Wesentlichen um eine geographische Realität handelt. Europa ist einer der drei Erdteile, aus denen die bewohnte Erde besteht. Diese Idee stammt bekanntlich von den Geographen des Altertums. Sie wurde von den Gelehrten des Mittelalters wieder aufgenommen, die ihr eine eigene Färbung gaben, indem sie mit den drei Söhnen des Noah jedem dieser Erdteile eine Art Stammgründer verliehen: Sem sei der Ahnherr der Völker, die sich nach der Zerstörung des babylonischen Turms in Asien angesiedelt hatten; Cham der Ahnherr der Afrikaner und Japhet schließlich der der Europäer7. Eigentlich stimmt das nicht ganz, denn Isidor von Sevilla und Beda Venerabiiis, von den späteren Autoren immer wieder abgeschrieben, schränkten dieses einfache Prinzip im gleichen Atemzug sofort wieder ein, indem sie erklärten, dass Japhets und Chams Nachkommen auch einen Teil Asiens, das an sich allein die Hälfte der Welt ausmache, besiedelt hätten8. Wie dem auch sei, Europa ist während des ganzen Mittelalters ein geographischer Begriff geblieben9, der zugleich die Weltgeschichte und die geographische Weltbeschreibung darzustellen erlaubte, was besonders in den zahlreichen Weltkarten in T-Form zum Ausdruck kommt10. Von einem geographischen Begriff zu einer Bewusstseinswirklichkeit, Sinndeutung von Europa, in: Saeculum 2 (1951), S. 161-171; Jürgen FISCHER, Oriens Occidens - Europa. Begriff und Gedanke „Europa" in der späten Antike und im frühen Mittelalter, Wiesbaden 1957; Denys HAY, Sur un problème de terminologie historique: „Europe et Chrétienté", in: Diogène 17 (1957), S. 50—62; DERS., Europe, the emergence of an idea, Edinburgh 1957; Federico CHABOD, Storia dell'idea di Europa, Bari 2 1971; Ovidio CAPITANI, Gregorio VII e l'unita d'Europa, in: Aevum 60 (1986), S. 183-192; Karl J. LEYSER, Concepts of Europe in the Early and High Middle Ages, in: Past and Present 137 (1992), S. 25-47; Basileios S. KARAGEORGOS, Der Begriff Europa im Hoch- und Spätmittelalter, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 48 (1992), S. 137-164; Agostino PARAVICINI BAGLIANI, Il papato medievale e il concetto di Europa, in: Storia d'Europa, Bd. 3, Turin 1994, S. 819-845; DERS., Lo sguardo dal centro, in: Vita religiosa e identità politiche: universalità e particolarismi nell'Europa del tardo Medioevo, hrsg. von Sergio Gensini, San Miniato (Pisa) 1998, S. 13-32. 7 Dazu allgemein Arno BORST, Der Turmbau von Babel - Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 4 Bde., Stuttgart 1957-1963. 8 BEDA VENERABILIS, Opera, pars II: Opera exegetica - libri quatuor in principium Genesis usque ad natiuitatem Isaac, hrsg. von Charles W. Jones, Turnhout 1967, lib. 2, ν, 31, S. 98 f.: „Sem etenim filii maxime asiam, cham liberi africani, iapheth posteri europam possedere"; ebd., lib. 3, χ, 1-2: „Filii autem filiorum noe qui commemorantur creduntur singuli singularum gentium progenitores extitisse, qui ita inter se orbem diuiserunt ut sem primogenitus asiam obtineret, cham secundus africani, iafeth ultimus europam - ita dumtaxat ut, quia maior est, multo asia terrarum situ quam europa uel lybia; progenies cham et iafeth etiam nonnullam in asia portionem teneret"; ISIDOR VON SEVILLA, Etymologiarum sive Originum libri XX, hrsg. von W. M. Lindsay, Oxford 1911, ND ebd. 1989, IX, 2 37: „hec sunt gentes de stirpe Iaphet, quae a Tauro monte ad aquilonem mediam partem Asiae et omnem Europam usque ad Oceanum Brittanicum possident, nomina et locis et gentibus relinquentes". 9 Ein Beispiel unter vielen: Im 13. Jahrhundert schreibt der Chronist Balduin von Ninove: „ 1180. Factus est terre motus in Francia et Lotharingia et per totam fere Europam quod rarissime contingere solet" (MGH SS 25, S. 535 ). 10 Zu den Mappae Mundi als Darstellung der großen Orte der Weltgeschichte vgl. Anna-
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die fähig ist, Erinnerungsorte zu erzeugen und dank ihrer zu existieren, ist es eigentlich ein langer Weg. Man darf sich fragen, ob das Mittelalter ihn gegangen ist. Fragt man sich, was dem Begriff Europa im Mittelalter einen solchen Inhalt zu geben und Erinnerungsorte zu erzeugen vermochte, so scheint mir, dass man sich auf zwei Grundbegriffe beziehen muss, die übrigens miteinander verbunden sind, und zwar den der Christianitas und den von Romanitas/Latinitas. Diese zwei Wirklichkeiten haben im Mittelalter zweifellos zahlreiche Erinnerungsorte erzeugt, aus denen sie selbst ihr Leben gezogen haben. Die ganze Frage besteht aber darin zu ergründen, ob sich durch sie auch eine europäische Wirklichkeit definieren lässt.
II Beginnen wir mit dem Begriff der Christianitas, um zu überprüfen, inwiefern er zur Erzeugung von Erinnerungsorten mit europäischem Bezug führte. Als erstes kommt der Begriff Christianitas selbst in Betracht, mit seinen Synonymen wie Cristiana respublica, Christiana plebs, christianus orbis, Christianorum genus, provinciae ubi colitur nomen christianum, terrae christianorumx \ viele andere sind aber mit ihm zu verbinden: der Papst als Haupt der Christenheit; die ökumenischen Konzilien, von Lateran IV 1215 bis zu Konstanz und Basel in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts; die großen Pilgerzüge nach Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela, und die bewaffneten Pilgerzüge, die Kreuzzüge, die nach Palästina natürlich, aber auch und mit einem, was den Adel betrifft, vermutlich mindestens ebenso wichtigen europäischen Effekt wie die Kreuzzüge nach Palästina, die „Reise" nach Litauen12 und die nach Granada. Man darf sagen, dass all diese mit der Christenheit verbundenen Wirklichkeiten objektiv die notwendigen Bedingungen erfüllten, um europäische Erinnerungsorte zu werden: die Christianitas reichte kaum über Europa hinaus, aber je mehr die Zeit fortschritt, desto mehr deckte sie sich tatsächlich mit ganz Europa, mit der Bekehrung der litauischen Heiden 1387 und der Eroberung von Granada 1492; Pilger- und Kreuzzüge sahen während eines gemeinsamen Zugs die Beteiligung von Menschen aus ganz Europa, die durch die Feindschaft gegen einen gemeinsamen außereuropäischen Gegner miteinander verbunden waren. Die Konzilien versammelten die klerikale und geistige Elite Europas. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass diesen Erinnerungsorten im Mittelalter Dorothee VON DEN BRINCKEN, Mappa mundi und chronographia. Studien zur imago mundi des abendländischen Mittelalters, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 24 (1968), S. 118-186, sowie Patrick GAUTIER DALCHÉ, Un problème d'histoire culturelle: perception et représentation de l'espace au Moyen Age, in: Médiévales 18 (1990), S. 5-15. " KARAGEORGOS, Begriff Europa (Anm. 6), S. 137. 12 Dazu Werner PARAVICINI, Die Preußenreisen des europäischen Adels, 2 Bde., Sigmaringen 1989-1995.
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manchmal eine europäische Konnotation, ja wenigstens zu gewissen Zeiten ein europäischer Inhalt gegeben wurde. Eine erste Zeit, in der sich das Papsttum behauptet, namentlich zur Zeit Gregors des Großen, und dies gegenüber Byzanz, lässt einige Indizien in Erschei13
nung treten. Agostino Paravicini Bagliani hat kürzlich alle Belege , in denen das Papsttum in Verbindung mit Europa tritt, gesammelt; er zeigt, dass die frühesten Texte, in denen sich diese Verknüpfung beobachten lässt, mit dem Heiligen Kolumban und Gregor dem Großen vom Ende des 6. Jahrhunderts stammen: 595 nennt Kolumban Gregor den Großen „domino sancto et in Christo patri, Romanae pulcherrimo Ecclesiae decori, totius Europae Flaccentis augustissimo quasi quidam fiori, egregio speculatori"14. Derselbe Kolumban greift diese Worte in einem Brief an Papst Bonifatius IV. wieder auf: „pulcherrimo omnium totius Europae Ecclesiarum capiti, papae praedulci"15. Bei Kolumban erscheint die Identität zwischen Europa und Latinitas, Europa und römischer Christianitas einfach und selbstverständlich. Gregor der Große schreibt 595 einen Brief an den byzantinischen Kaiser Mauricius, um dagegen zu protestieren, dass der Patriarch von Konstantinopel, Johann, sich den Titel eines Patriarchen für die ganze Welt gegeben hat. Gregor macht darauf aufmerksam, dass der Patriarch sich nicht als universell bezeichnen dürfe, weil er nicht über die Autorität in einem den Barbaren unterstellten und der Romanität entzogenen Europa verfüge: „ecce cuncta in Europae partibus barbarorum iuri sunt tradita, destructae urbes, eversa castra, depopulatae provinciae, nullus terram cultor inhabitat, saeviunt et dominantur quotidie in necem fidelium cultores idolorum"16. Europa kann sich nun nicht mehr mit dem Römischen Reich und Recht identifizieren, da es ganz nach dem barbarischen Recht lebt. Gregor der Große betrachtet sich aber selbst als einen Römer, mehr denn als einen Europäer, und für ihn ist der Begriff Europa, anders als für Kolumban, mehr mit dem Barbarentum als mit dem Christentum verbunden. 850 schreibt Papst Leo IV. dem Patriarchen von Konstantinopel, dass er das Pallium, das dieser ihm schicken wolle, nicht annehmen könne, denn die römische Kirche, „magistra et caput omnium [...] aeclesiarum", ist viel mehr gewohnt, dieses Pallium selbst „per totam Europam" denen zu schicken, die es empfangen sollen17. Wie bei Gregor dem Großen, ist also Europa durch seine Unabhängigkeit gegenüber Byzanz definiert. Der Bruch mit Byzanz hätte zu einer Bewusstwerdung der Identifizierung: römisches Christentum gleich Europa, beitragen können, wie der Brief Leos IV. es bezeugt. Papst Nikolaus I. 13
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PARAVICINI BAGLIANI, IL papato medievale (Anm. 6).
Columbae sive Columbani [...] epistolae, MGH Epistolae Karolini Aevi III, Epistolae III, hrsg. von Wilhelm Gundlach, Berlin 1892, S. 156. 15 Ebd., S. 170. 16 MGH, Epistolarum tomus I, Gregorii I registri L. I—VII, hrsg. von Paul Ewald und Ludwig M. Hartmann, Berlin 1887-1891, S. 322 (V, 37). 17 MGH Epistolae Karolini Aevi III, Epistolae V (Anm. 14), S. 607, Nr. 41.
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(858-867) erwähnt aber nicht Europa, sondern lieber das Abendland, und gerade unter diesem Papst sowie unter Johann I. (872-882) erscheint das Wort Christianitas zum ersten Mal in päpstlichen Urkunden mit prägnanterer und ge18
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nauerer Bedeutung . Die Identifizierung von Europa mit der Christenheit blieb also problematisch. Die Beziehung wird deutlicher zur Zeit der Kreuzzüge und in Verknüpfung mit ihnen. Das Wort Europa kommt zwar nicht häufig vor, ist aber trotzdem belegt. Man liest ζ. B. in den Gesta Francorum expugnantium Iherusalem: „[...] anno dominicae Incamationis millesimo nonagésimo sexto, regnante in Alemannia Henrico imperatore, in Francia Philippo rege, in Graecia Alexio, in Anglia Willelmo juniore, quum in universis Europae partibus mala multimoda inolescerent, praeerat urbi Romae papa Urbanus secundus [...]" .
Wilhelm von Malmesbury zufolge hätte Papst Urban Π. in seiner Rede in Clermont auf das Band zwischen Europa und der Christenheit hingewiesen: „[...] illi [die Moslems] Asiam tertiam mundi partem, ut hereditarium nidum inhabitant quae a majoribus nostris aequa duabus residuis partibus et tractuum longitudine et provinciarum magnitudine, non immerito aestimata est [...] illi Africani, alteram orbis partem, ducentis annis et eo amplius armis possessam tenent [...]. Tertiam mundi clima restât Europa, cujus quantulam partem inhabitamus Cristiani?" .
Es handelt sich um eine etwas lockere Beziehung; Wilhelm stellt aber fest, dass Urbans II. Aufruf gehört wurde: Zu unserer Zeit, schreibt er, haben die Franken und die Völker von ganz Europa einen großen Teil Asiens und sogar Jerusalem zurückerobert. Die Kreuzfahrer finden ihre Einheit darin, dass sie im Abendland, in Europa, wohnen und darin, dass sie zur Christianitas, zum Occidens und zur Latinitas gehören. Balderich von Dol beschreibt die Bewegung der Kreuzfahrer „ab occidentali in orientalem plagam"21; Ordericus Vitalis schildert das Werk Papst Urbans II. „in omni latinitate"22 und, Tudebod zufolge, rühmte sich der Atabeg von Mossul Kerbogha, die Christen, „orti in occidentali terra, scilicet in Europa que est mundi pars tercia"23, vernichten zu können. Indem man den Hellespont überquert, verlässt man das Abendland und Europa, um in Asien anzukommen, so schreibt jedenfalls der Verfasser der Historia de expe18
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PARAVICINI BAGLIANI, Il p a p a t o m e d i e v a l e ( A n m . 6), S. 823.
Recueil des Historiens des Croisades, I: Historiens occidentaux, 5 Bde., Paris 18441895, Bd. 3, S. 491. WILLIAM OF MALMESBURY, Gesta regum Anglorum, hrsg. und übers, von R. Α. Β. Mynors [u. a.], 2 Bde., Oxford, 1998-1999, IV, 347, Bd. 1, S. 600. 21 BALDERICH VON DOL, Historia Ierosolymitana, in: Recueil des Historiens des Croisades (Anm. 19) I, Bd. 4, S. 9. 22 ORDERICUS VITALIS, Historia ecclesiastica, L. 9, hrsg. von Maqorie Chibnall, 6 Bde., Oxford 1975, Bd. 5, S. 268. 23 PETRUS TUDEBODUS. Historia de Hierosolymitano itinere, L. 4, hrsg. von John Hugh und Laurita L. Hill, Paris 1977, S. 91. 20
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ditione Friderici: „[...] de occidente in orientem fuimus transpositi et, sicut dictum est, de europa in asiam moxque romanie partes terere coepimus"24. Diese Belege sind zwar nicht sehr zahlreich, und ihre Bedeutung bleibt oft weitgehend geographisch, aber die Verwendung des Wortes durch die Chronisten der Kreuzzüge verweist auf eine Wirklichkeit, die nicht nur geographisch ist, sondern auch eine Einheit lateinischer, christlicher Völker bedeutet. Durch die Kreuzzüge werden sich die Einwohner des Abendlands zugleich ihrer tiefen Unterschiede wie der Tatsache, dass sie durch ihre Zugehörigkeit zur Christianitas miteinander verbunden sind, bewusst. Diese ist als eine lateinische, europäische Christianitas begriffen, aus der die Griechen ausgeschlossen sind, da der Grieche „rem Christianitatis non habet sed nomen" (Odo von Deuil)25. Das Itinerarium peregrinorum erklärt, dass „multa Graii veteres et armis sunt aggressi et studiis assecuti; sed omnis ille virtutum fervor refrigit in posteris, et in orbem latinum migravit"26. Ist der orbis latinus denn nicht Europa? Dank der Kreuzzüge werden die europäischen Völker „haec gens Christiana [die] cunctis gentibus militari actu et audacia praefertur et nulli eis fide et honore comparante" (Albert von Aachen, der diese Rede den Türken in den Mund legt)27. Sind dann die Wahrzeichen, die Schauplätze dieser Frömmigkeit und dieser Kreuzzugsbewegungen keine europäischen Erinnerungsorte? Der europäische Adel wird noch lange im Laufe des Mittelalters einen Ritterschlag am heiligen Grab als besonders ehrenhaft betrachten28. Dieses Bewusstsein einer engen Verknüpfung zwischen Europa und der Christianitas nimmt im 14. und 15. Jahrhundert wirklich deutliche Umrisse an. Die Teilung Europas erscheint 1336 in der in den extravagantes communes stehenden päpstlichen Bulle Vas electionis wieder. Der Papst gliederte Europa in vier Teile und legte für jeden dieser Teile den Betrag, den er der römischen Kurie zu bezahlen hatte, fest. Die Überseeländer und Inseln gehörten zum 29 vierten Teil . Die Rede des französischen Gesandten Ancel Choquart, um die 24
Historia de expeditione Friderici imperatoris, in: MGH rer. germ. NS 5: Quellen zur Geschichte des Kreuzzuges Kaiser Friedrichs I., hrsg. von Anton Chroust, München 1989, S. 72. 25 ODO VON DEUIL, Epistola Odonis ad venerandum Abbatem suum Sugerium, hrsg. von Henri Waquet, Paris 1949, S. 47. 26 Itinerarium Peregrinorum et gesta regis Ricardi, in: Chronicles and Memorials of the Reign of Richard I, hrsg. von William Stubbs, 2 Bde., London 1864, Bd. 1, Kap. 21, S. 292. 27 Alberti Aquensis Historia Hierosolymitana, L. 5, in: Recueil des Historiens des Croisades (Anm. 19), I, Bd. 4, S. 437. 28 Vgl. ζ. Β. den Bericht des Aeneas Silvius Piccolomini über die Kaiserkrönung Friedrichs III. 1452 in Rom, der den Wert, den die Deutschen dem an einem der drei Haupterinnerungsorte Rom, Aachen und Jerusalem empfangenen Ritterschlag verliehen, erwähnt (AENEAS SILVIUS PICCOLOMINI, Historia Frederici III. Sive Historia Austriaca, in: Analecta Monumentorum omnis aevi vindobonensia, hrsg. von Adam Franz Kollar, 2 Bde., Wien 1761-1762, Bd. 2, Sp. 293). 29 Extravagantes communes, III, tit. X, in: Corpus Juris Canonici, hrsg. von Emil Fried-
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Rückkehr der Päpste nach Rom zu verhindern, behauptet nicht nur, dass die Christenheit sich gegenwärtig auf Europa beschränke („sola Europa modo est cristiana"), sondern versichert auch, daß, wenn Rom einst der Mittelpunkt der Christenheit gewesen sei, dies nun nicht mehr zutreffe, sondern dass Marseille jetzt der Mittelpunkt Europas sei30. Ein englischer Anonymus, der bei dem Konzil zu Konstanz anwesend war, behauptet: „[...] ex quo sola Europa modo est Christiana, tunc ejus divisio secundum quatuor plagas terrae satis patet"31. Diese gegenseitige Beziehung verstärkt sich, als sich die in der Defensive befindliche Christenheit durch den Vorstoß der Türken in ihrem europäischen Bollwerk bedroht fühlt. Der Fortsetzer der Chronik des Ranulph Higden erzählt zum Jahre 1388 den Traum eines französischen Ritters, der die verfeindeten Europäer zum Frieden bringen wollte32, was stark an das von Philippe de Mézières in seinem Songe du vieil Pèlerin entwickelte Projekt eines allgemeinen Kreuzzugs der Europäer zur Rettung der Crestiente erinnert33. Papst Pius II. ist wahrscheinlich derjenige, der diese Äquivalenz zwischen Europa und der Christenheit am deutlichsten betont hat34; er erwähnt Konstantinopel ein erstes Mal als „alteram Europe oculum" (61. Brief), ein zweites Mal als „ex duobus Christianitatis luminibus alterum" (109. Brief, geschrieben nach dem Fall von Konstantinopel), was deutlich daraufhinweisen soll, dass die europäische Identität auf dem Bezug zur Christenheit beruht. Der Kampf mit den Türken ist dringend notwendig, um Europa, als ein gemeinsames Vaterland begriffen, zu verteidigen: „[...] retroactis namque temporibus in Asia et Aphrica, hoc est, in alienis terris vulnerati fiiimus, nunc vero in Europa, id est in patria, in domo propria, in sede nostra percussi caesique sumus" (Rede vor dem Frankfurter Reichstag am 15. Oktober 1454). Er schreibt an den Sultan Mahomet Π., um ihn aufzufordern, sich zu bekehren, und beteuert, dass im Fall einer Bekehrung „sie te omnis Graecia, omnis Italia, omnis Europa demirabitur". Im gleichen Brief zählt er die Ressourcen Europas auf und verneint, dass es außerhalb Europas wirkliche Christen gebe. Er erwähnt die „Europaii". Er war überzeugt, dass die berg, Bd. 2, S. 1280-1284; vgl. dazu PARAVICINI BAGLIANI, IL papato medievale (Anm. 6), S. 8 4 3 - 8 4 4 . 30
Dazu PARAVICINI BAGLIANI, Il papato medievale (Anm. 6), S. 844. Dazu PARAVICINI BAGLIANI, LO sguardo dal centro (Anm. 6), S. 32. 32 Ranulph HiGDEN Polychronicon Ranulphi Higden monachi cestrensis, Rer. Britt. 41, 9 Bde., London 1865-1886, hrsg. von Joseph Rawson Lumby, Bd. 9, S. 201: „[...] item relatum est tunc temporis de quodam milite Francigena existente in Terra Sancta, ubi habuit in visione quod transiret ad quoslibet Christiane« in Europae partibus habitantes ut ipsi omnino dimitterent eorum bella et ad pacis redeant unitatem". PHILIPPE DE MEZIERES chancellor of Cyprus, Le songe du vieil pelerin, hrsg. von G. W. Coopland, 2 Bde., Cambridge 1969. 34 Dazu PARAVICINI BAGLIANI, Il papato medievale (Anm. 6); s. auch Corrado VIVANTI, Pio II e la cultura geografica del suo tempo, in: Europa e Mediterraneo tra medioevo e prima età moderna: l'osservatore italiano, hrsg. von Sergio Gensini, San Miniato 1992, S. 125-140. 31
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Christenheit und Europa ein und dasselbe sind; sein Ziel in Mantua war, die Ungläubigen aus Europa zu vertreiben. Gewisse Zeitpunkte in der Geschichte des Mittelalters zeigen uns also, wie der Begriff Christenheit Erinnerungsorte mit objektiv europäischem Inhalt erzeugt hat und wie die Zeitgenossen ihnen tatsächlich eine europäische Konnotation ausdrucklich verliehen haben. Dennoch sieht man deutlich, dass das nur mit bemerkenswerter Zurückhaltung geschah, was sich eigentlich daraus erklärt, dass es im ganzen Mittelalter eine grundlegende Zweideutigkeit in der Beziehung der Begriffe Christenheit und Europa zueinander gegeben hat. Die Christenheit hatte grundsätzlich eine universalistische Berufung, die sich letzten Endes einer Reduzierung auf die europäische Wirklichkeit nur widersetzen konnte, auch wenn diese Reduzierung im Mittelalter tatsächlich stattfand. Deshalb war die Identifizierung des Begriffs Europa mit dem der Christenheit nie oder fast nie eine positive Behauptung, sondern immer nur eine von der Konjunktur abhängige Antwort auf eine Bedrohung oder ein Mittel, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. So haben sich im Frühmittelalter Gregor der Große und Leo IV. des Begriffs Europa bedient, um die byzantinischen Ansprüche zu widerlegen bzw. um sich von Byzanz zu distanzieren. Das triumphierende gregorianische Papsttum des 12. und 13. Jahrhunderts greift dagegen keineswegs auf die Identifizierung Orbis latinus/Europa/Christianitas/Occidens zurück, die die Kreuzzüge zu fördern schienen; ganz im Gegenteil. Man hat darauf hingewiesen, dass Gregor VII. nie den Begriff Europa in seinen Briefen verwendet35. Er hat sich sehr für die skandinavischen Königreiche interessiert; wenn er aber Dänemark, Schweden und Norwegen erwähnt, betrachtet er sie nicht als in Europa, sondern „quasi in extremo orbe terrarum positi". Eigentlich geht Gregor VII. von der nötigen Ausbreitung der Christianitas über die ganze Erde aus, wobei er die führende Rolle für sich beansprucht. Die Christenheit kann also nicht mit Europa identisch sein; sogar Asien ist potentiell christlich. Wie er an Sven II. von Dänemark schreibt: „Plus enim terrarum lex Romanorum pontificum quam imperatorum obtinuit; in omnem terram exivit sonus eorum et quibus imperavit Augustus, imperavit Christus"36. Der Papst herrscht über alle Königreiche der Welt; was fur Gregor VII. auf dem Spiel steht, ist nicht die politische Einheit Europas, er erwähnt sie gar nicht, sondern die der Christianitas, die durch eine Politik lateinisch-römischer kultureller Vereinheitlichung unterstützt werden soll. Desgleichen erwähnt Innozenz III. auch nicht Europa in seinen Briefen, sondern bezeichnet sich als das „caput et fimdamentum totius chris-
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CAPITANI, Gregorio VII (Anm. 6), S. 184 ff.; s. auch PARAVICINI BAGLIANI, Il papato medievale (Anm. 6), S. 824 ff. 36 Register, II, 75 (17. Aprii 1075), hrsg. von Erich Caspar, Das Register Gregors VII., 2 Bde., Berlin 1920-1922, Bd. 1, S. 237 f.
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tianitatis"; Ecclesia und Christianitas sind für ihn gleichbedeutend37; der Orbis christianus bezeichnet die Gesamtheit der christlichen Völker und der Königreiche. Die Person des Papstes selbst wird als identisch mit der Kirche, das heißt mit dem Corpus Christi, erklärt. Man neigt dazu, die Universalität der Christenheit zu betonen und nicht ihre Reduzierung auf Europa oder das Abendland. Wenn die Identifizierung der Christenheit mit Europa im 14. und 15. Jahrhundert mehr und mehr betont wurde, sogar in den Äußerungen der Päpste, ist das auf zwei Ursachen zurückzuführen. Einerseits gab es den mehr oder weniger vergeblichen Versuch, die endgültige Emanzipierung der europäischen Fürstentümer und Monarchien von den früheren Universalmächten, dem Kaisertum und vor allem dem Papsttum, zu bremsen, was das Papsttum dazu führte, sich auf Europa als auf einen sozusagen realistischen Bezugsrahmen zu berufen, der ihm erlauben sollte, diese Emanzipierung zu bremsen, und zwar um so mehr, als die päpstliche Zentralisierung im 13. Jahrhundert ein wirklich europäisches Regierungssystem der Kirche eingeführt hatte (was auch das Schwanken zwischen der traditionellen Hauptstadt Rom und einer neuen, Lyon, die ein wirklicher Mittelpunkt Europas wäre, erklärt). Andererseits wurde man sich seit Ende des 14. Jahrhunderts einer aus Asien kommenden türkischen Bedrohung bewusst, die zugleich die Christenheit und Europa betraf, die also gemeinsame Sache machen mussten. Auch da erfolgte die Annäherung zwischen Christenheit und Europa mangels einer besseren Lösung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Christenheit wesentlich dazu beigetragen hat, Erinnerungsorte im Mittelalter zu schaffen, und dass diese Erinnerungsorte objektiv europäisch sind, in dem Maße, wie eine Art europäische Internationale sie besucht: die Ziele der Pilgerfahrten und der Kreuzzüge einschließlich Granadas und Litauens; die Universalchroniken, die sich bald auf die Geschichte Europas begrenzen, und, was dazu gehört, die Weltkarten; das Latein als kirchliche und als internationale Sprache der Gelehrten wie der Diplomaten. Offen bleibt aber die Frage, ob diese Erinnerungsorte tatsächlich auf Europa bezogen werden können, ob sie tatsächlich ein absichtlich auf Europa bezogenes Gedächtnis vermitteln können. In dieser Hinsicht darf man sagen, dass es in der Tat eine Beziehung zwischen den Begriffen Christenheit und Europa gibt, insofern die Menschen im Mittelalter sich bewusst waren, dass die Christenheit sich effektiv auf Europa beschränkte. Aber diese Beziehung ist zweideutig. Einerseits steht die im 12. und 13. Jahrhundert sehr starke Auffassung einer potentiell unbegrenzten Christianitas im Widerspruch zu der Idee einer auf Europa beschränkten Christenheit. Andererseits drängt sich, als das Papsttum diese Idee einer auf Europa beschränkten Christenheit annimmt, gleichzeitig die Idee eines Europa der Besonderheiten 37
Dazu PARAVICINI BAGLIANI, Il papato medievale (Anm. 6), S. 830.
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und der verfeindeten Nationen auf. Europa wird dann ein rein geographischer Begriff, der dazu dient, das päpstliche Steuerwesen zu organisieren oder die Teilnehmer des Konstanzer Konzils in Nationen aufzuteilen.
m Die gleiche Analyse lässt sich mit dem anderen großen mittelalterlichen Erzeuger europäischer Erinnerungsorte anstellen: dem römischen Erbe. Mit seinen zwei Komponenten, der politischen, dem Imperium Romanum, und der kulturellen, der alten lateinischen Sprache und Kultur als das, worauf sich eine Art europäischer „Republik der Kleriker" berufen kann, die seit dem Aufschwung des Humanismus im 14. Jahrhundert in Italien immer mehr dazu neigt, eine europäische République des lettres zu werden, deren Einheit auf die Berufung auf Rom gegründet ist. Karl der Große, einer der bedeutendsten Erinnerungsorte, die das Mittelalter erzeugt hat, und seine Nachfolger haben manchmal Europa mit ihrem Reich gleichgestellt, jenem Römischen Reich, das sie zu erneuem beanspruchten. Bei Karl dem Großen hat man den Eindruck, dass Europa mehr als ein geographischer, nämlich auch ein politischer Begriff werden kann38. Karl der Große wird von verschiedenen Autoren als „pater Europae" bezeichnet. Schon 775, wendet man sich an ihn: „[...] quod ipse [Gott] te exaltavit in honorem glorie regni Europae"39. 799 nennt ihn das Gedicht Karolus magnus et Leo Papa: „Europae venerandus apex, pater optimus, héros"40, „Europae veneranda pharus"41 sowie „rex, pater Europe [...]"42. Der Poeta Saxo präzisiert sogar „[...] adde to Europae populos, quos ipse subegit, quorum Romani nomina nescierant"43: Er ist deqenige, der die Völker Europas, die das Römische Reich nicht einmal kannten, unterworfen hat; mit ihm werden Rom, der Krönungsort, und Aachen, die Hauptstädte seines europäischen Reichs, zu europäischen Erinnerungsorten. Diese europäische Komponente des Reichs Karls des Großen wird in der Folgezeit nicht vergessen. So schreibt Adam von Bremen im 11. Jahrhundert: „[...] dignum memoria videtur, quod victoriosissimus imperator Karolus, qui omnia regna Europae subiecerat, novissimum cum Danis bellum suscepisse
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Dazu P A R A V I C I N I - B A G L I A N I , Il papato medievale (Anm. 6), S. 821 ff. MGH Epistolae Karolini Aevi III, Epistolae IV, S. 502, Nr. 7. 40 Karolus Magnus et Leo Papa, in: Karolus Magnus et Leo Papa - Ein Paderbomer Epos vom Jahre 799, mit Beiträgen von Helmut B E U M A N N [U. a.], Paderborn, 1966, ND ebd. 1999, S. 66, v. 93. 41 Ebd., S. 70, v. 169. 42 Ebd., S. 94, v. 504. 43 Poeta Saxo, Annalium de gestis Caroli Magni imperatoris libri quinqué, hrsg. von Paul von Winterfeld, MGH Poetae IV, Berlin, 1890, S. 70, w . 651-652. 39
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narrata" 44 . Dasselbe gilt für einige seiner Nachfolger. So beschreiben die Annales quedlinburgenses die Machtübernahme Ottos ΙΠ. 995 wie folgt: „[...] Non solum romano, sed et pene totius Europae populo acclamant"45. Auch noch zu Beginn des 15. Jahrhunderts kann das erhoffte erneuerte Römische Reich als eine Art europäisches Bollwerk gegen die türkische Gefahr dargestellt werden: Ein aus dem Jahr 1404 stammendes Gedicht eines gewissen Ambrogio Migli setzt sich dafür ein, dass der französische Herzog Ludwig von Orléans zum Kaiser werde; er stellt fest, dass jedes Volk sich nur um sich selbst kümmere; deshalb verblasse der Ruhm des Königreichs Europas („[...] hinc Europei vanescit gloria regni") und droht die Gefahr der Knechtschaft, das heißt der Eroberung durch die Türken. Die Nachfahren Cäsars, denen Gott die Universalmonarchie anvertraut hat, sind jetzt die zwei Brüder, die die Lilien im Wappen fuhren (also der König von Frankreich und sein Bruder). Wenn die christlichen Völker den Frieden wiederfinden und das in Trümmer gegangene Europa wieder aufrichten wollen, müssen sie den kaiserlichen Thron Ludwig anvertrauen: „[...] vos igitur prorsus reliquam postponite prolem Christicole populi, placida si pace potiri vultis, et Europe vestre reparare ruynas" .
Auch in diesem Fall aber, und sogar noch viel deutlicher als bei der Christianitas, erweist sich jedoch die Spannung zwischen einem universalistischen Bestreben, dem Römischen Reich als dem vierten und letzten Universalreich, und dem Auftauchen der nationalen Besonderheiten als verhängnisvoll für eine Identifizierung Europas mit dem Römischen Reich und seinen mittelalterlichen Erscheinungen, also für eine europäische Inbesitznahme der damit verknüpften Erinnerungsorte. Karl der Große verbleibt einer der großen Erinnerungsorte des Mittelalters, aber die Nationalisierung seines Bilds ist ein wohlbekannter Vorgang. Karl den Großen zu feiern bedeutet nicht, dass man ihn zu einem europäischen, sondern daß man ihn zu einem nationalen Erinnerungsort macht. Karl der Große ist der unmittelbare Ahnherr der französischen Könige wie auch, ein Beispiel unter vielen anderen, der bayerischen Herzöge; jedes Königreich, ja jedes Fürstentum nimmt ihn für sich in Anspruch, als eine wesentliche Komponente seines historischen Gedächtnisses. So empörte sich Ende des 14. Jahrhunderts Johann von Montreuil, der zur Kanzlei der französischen Könige gehörte, darüber, dass auf dem Reliquiar des Haupts Karls des Großen in Aachen die französischen Lilien einen geringeren Platz als die Reichsadler einnehmen47. 44
MGH SS 7, S. 291. MGH SS 3, S. 73. 46 Gilbert OUY, Les premiers humanistes français et l'Europe, in: La Conscience européenne au XVe et au XVIe siècle, Paris 1982, S. 280-295. 47 JEAN DE MONTREUIL, Opera, hrsg. von Ezio Ornato, 4 Bde., Turin 1963, Bd. 1.1: Epistolario, Nr. 209, S. 317. 45
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Das Römische Recht, das ebenfalls ein Erinnerungsort ist, hätte ein Ersatz für diese Schwäche sein können. Es hat tatsächlich ganz Europa geprägt aber, wie man weiß, auf sehr unterschiedliche Weise48. Auf dem Gebiet der Kultur ist das europäische Erbe des Römischen Reichs deutlicher bemerkbar. Die lateinische Kultur ist während unserer ganzen Periode und darüber hinaus ein Bezugspunkt für eine zuerst klerikale, dann klerikale und gelehrte und dann einfach gelehrte europäische Elite geblieben. War das System der Artes liberales und besonders alles, was mit den Artes des Trivium, der Grammatik, der Rhetorik und der Dialektik, in Verbindung steht, nicht in seiner Gesamtheit und in seinen einzelnen Elementen (die „Donat'-Bücher als Handbücher für Grammatik z. B.) ein europäischer Erinnerungsort? Als der Humanismus mit seinem Programm der Erneuerung des klassischen Latein und der Rückkehr zu den von den Autoren des Altertums definierten ästhetischen und literarischen Normen sich in Italien verbreitete, wurde doch die erneuerte antike Kultur einschließlich ihrer Grundlage, des klassischen Latein, die den geistigen Eliten in allen europäischen Ländern als gemeinsames Modell vorgetragen wurde, ein exemplarischer europäischer Erinnerungsort. Dafür liefert das begeisterte Lob des klassischen Latein durch Lorenzo Valla in seiner Oratio clarissimi viri D. Laurentii Vallae habita in principio sui studui die XVIII Octobris MCCCCLV sowie in seinen Elegantiarum Linguae Latinae Libri VI von 1442 ein treffliches Beispiel49. Er stellt die glücklichen Folgen der römischen Eroberungen fest, denn sie haben den Gebrauch der lateinischen Sprache bei allen Völkern verbreitet50. Es ist die größte Tat der Römer, wodurch sie allen 48
Der trojanische Ursprung der einzelnen europäischen Völker (so HEINRICH VON HUNTINGTON um die Mitte des 12. Jahrhunderts, Historia Anglorum: „[...] sicut pleraeque gentes Europae, ita Franci a Trojanis duxerunt originem", hrsg. von Thomas Arnold, Rer. Brit. 74, London 1879, S. 248) hat sich nicht zu einem europäischen Erinnerungsort entwickelt, sondern gibt vielmehr den verschiedenen Völkern die Gelegenheit, ihr Überlegenheitsgefühl ihren Nachbarn gegenüber zu betonen. 49 Jacques CHOMARAT, Aspects de la conscience européenne chez Valla et Erasme, in: La Conscience européenne (Anm. 46), S. 64-74, hier: S. 65; Hanna-Barbara GERL, Rhetorik als Philosophie - Lorenzo Valla, München 1974, S. 231-250. 50 Vorwort der Elegantiae linguae latinae: „Quum sepe mecum nostrorum maiorum res gestas, aliorumque vel regum, vel populorum considero: videntur mihi non modo ditionis nostri homines, verum etiam lingue propagatione ceteris omnibus antecelluisse. Nam Persas quidem, Medos, Assyrios, Grecos, aliosque permultos longe, lateque rerum potitos esse: quosdam etiam, ut aliquando inferius quam Romanorum fuit, ita multo diuturnius imperium tenuisse constat: nullos tamen ita linguam suam ampliasse, ut nostri fecerunt: qui (ut oram illam Italie, que magna olim Greçia dicebatur, ut Siciliam, que Grecia etiam fuit, ut omnem Italiani taceam) per totum pene Occidentem, per Septentrionis, per Aphricae non exiguam partem, brevi spatio linguam romanam (que eadem Latina à Latió, ubi Roma est, dicitur) celebrem, et quasi reginam effecerunt, et quod ad ipsas provincias attinet) velut optimam quandam frugem mortalibus ad faciendam sementem praebuerunt: opus nimirum multo praeclarius, multoque speciosisu, quam ipsum imperium propagasse", in: LAURENTIUS VALLA, Opera omnia, con una premessa di Eugenio Garin, 2 Bde., Torino 1962, Bd. 1: Scripta in editione Basiliensi anno MDXL collecta, S. 3.
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übrigen erobernden Völkern überlegen sind; die Besiegten haben die Sprache ihrer Eroberer behalten; das Imperium Romanum haben sie wohl als ein Werkzeug der Unterdrückung betrachtet, aber die lateinische Sprache haben sie „für süßer gehalten als jeden Nektar, für leuchtender als jeden Seidenstoff, für kostbarer als alle Sorten von Gold und Edelsteine, und gleichsam wie eine vom Himmel heruntergestiegene Gottheit bewahrt". Er macht also der lateinischen Sprache ein großes Lob: „Groß ist das Sakrament der lateinischen Sprache, groß sicherlich seine göttliche Macht, seit so vielen Jahrhunderten Gegenstand einer frommen, heiligen Verehrung bei den Fremden, den Barbaren, den Feinden; deshalb müssen wir Römer nicht so sehr jammern, sondern vielmehr uns freuen und rühmen, während das Universum selbst uns zuhört; wir haben Rom verloren, wir haben das Reich und die Herrschaft verloren [...], aber durch diese heller glänzende Herrschaft beherrschen wir noch immer einen weiten Teil der Erde. Unser ist Italien, unser Frankreich, unser Spanien, Germanien, Pannonien, Dalmatien, Illyrien und manch andere Nation. Denn das Römische Reich lebt weiter überall, wo die lateinische Sprache herrscht" 51 .
In welchem Maß ist dieses Latein ein Erkennungszeichen der Europäer? Valla macht darauf aufmerksam, dass, wenn das Reich die Sprache propagiert hatte, die Zerstörung des Reichs den Rückfall in die Barbarei verursacht hat; dies ist in Asien und Afrika geschehen, wo gleichzeitig mit dem Latein die artes liberales zugrunde gegangen sind. Dieser Rückfall ist aber in Europa durch die christliche Religion verhindert worden. Das Latein war nämlich durch die Übersetzung der Bibel geheiligt. Allerdings ist dieses Latein barbarisiert worden, und man muss ihm die Reinheit der ursprünglichen Sprache zurückgeben52. Dass Europa, und 51
„Illud pridem, tamquam ingratum onus, gentes, nationesque abiecerunt: hunc omni nectare suaviorem, omni serico splendidiorem, omni auro, gemmaque preciosiorem putaverunt, et quasi Deum quendam e coelo demissum, apud se retinuerunt. Magnum ero Latini sermonis sacramentum est, magnum profecto numen, quod apud peregrinos, apud barbaros, apud hostes, sánete ac religiose per tot sécula custoditur, ut non tarn dolendum nobis Romanis, quam gaudendum sit, atque ipso etiam orbe terrarum exaudiente gloriandum. Amisimus Romam, amisimus regnum, amisimus dominatum, tametsi non nostra sed temporum culpa: verumtamen per hunc splendidiorem dominatum in magna adhuc orbis parte regnamus. Nostra est Italia, nostra Gallia, nostra Hispania, Germania, Pannonia, Dalmatia, Illyricum, multaeque aliae nationes. Ibi namque Romanum imperium est, ubicunque Romana lingua dominata" (ebd., S. 4). 52 „Ita dum lingua latina abicitur, omnes propemodum cum illa liberales artes, ut licet videre ex Asia atque Africa, ex quibus quia lingua latina cum imperio eiecta est, ideo omnes bonae artes pariter eiectae sunt et prístina barbaries rediit in possessionem. Quod cur in Europa non contingit? Nempe, ut reddam, quod tertium est quod initio promisi, quia id fieri sedes apostolica prohibuit. Cuius rei sine dubio caput et causa extitit religio Christiana" (Oratio clarissimi viri D. Laurent» Vallae habita in principio sui studui die XVIII Octobris MCCCCLV, hrsg. von Johannes Vahlen, Laurentii Vallae opuscula tria, in: Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der Kaiserlichen Akdademie der Wissenschaften 61, Wien 1869, S. 93-98, hier: S. 96 f.; LORENZO VALLA, Opera omnia [Anm. 50], Bd. 2, S. 281-286).
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zwar nicht zuletzt dank des Überlebens der lateinischen Sprache, über die beiden anderen Kontinente „in omni prope genere dignitatis" erhoben ist, steht jedenfalls fest53. Das Latein sollte tatsächlich in den späteren Zeiten und bis heute ein unbestreitbarer Erinnerungsort bleiben (was das Englische nicht sein kann!) aber ein durch den Aufschwung der Nationalsprachen als Kultursprachen in Frage gestellter Erinnerungsort. So erfolgt zum Beispiel im Königreich Frankreich zwischen dem Ausgang des 13. Jahrhunderts und dem Ende des 14. Jahrhunderts eine gewaltige Übersetzungsarbeit der antiken Auctoritates ins Französische. Es ist zugleich die Zeit, in der sich das Französische durch die Schaffung zahlreicher Neologismen als eine gelehrte nationale Sprache behauptet54. Ein Gelehrter wie Nicole Oresme hat deutlich betont, dass dieser Vorgang gewissermaßen eine Distanzierung gegenüber der alten europäischen Koiné, dem Latein, ist. In seiner kurzen „Excusation et commandacion", die seiner Übersetzung der Ethik und der Politik des Aristoteles vorangeht, geht er sogar so weit, eine wirkliche Philosophie der gelehrten französischen Kultur und Sprache vorzutragen; das Französische, schreibt er, ist „eine edle Sprache, die von Leuten von großem Scharfsinn und Weisheit" praktiziert wird, und es ist nützlich für diese Leute, gerade wie es für die Römer in der Zeit, in der das Griechische die Sprache des Wissens war, nützlich war, sich in ihrer Muttersprache Zugang zum Wissen zu verschaffen; aus diesem Grund hat man „die artes und das Wissen ins Französische zu bringen", und damit geschieht eine wirkliche translatio studii vom Latein zum Französischen55. Die Christianitas, das Imperium Romanum und die Latinitas waren im Mittelalter bedeutende Erzeuger von Erinnerungsorten. Hatten dieselben eine europäische Konnotation, so konnten sie als europäische Erinnerungsorte dargestellt werden. So hat man auf die europäische Dimension des Werks des Astrologen Conrad Heingartner hingewiesen 6. Dieser schreibt gleichzeitig 1476 die Commentarti zum Quadripartitum des Ptolemaeus und das Judicium anni für den König von Frankreich Ludwig XI. In seinen Abhandlungen ist Europa vermess53 „Nos vero, receptam opinionem et plurimum auctoritatem de numero sequentes, sicut magnitudinis questionem in ambiguo relinquimus, quia parvi refert hic de ea pluribus dicere, ita palmam Europe tribuimus in omni prope genere dignitatis. Quod nisi et planum esset et aures Latinorum Grecorumque assentirentur, multis doctorum hominum testimoniis demonstrarem. Nunc publica persuasione communique consensu contentus sum" (LORENZO VALLA, Gesta Ferdinandi regis Aragonum, hrsg. von Ottavio Besomi, Padua 1973, S. 9, zit. von Francesco TATEO, Gli stereotipi letterari, in: Europa e Mediterraneo [Anm. 34], S. 13, Anm. 1). 54 Dazu Serge LUSIGNAN, Parler vulgairement - Les intellectuels et la langue française aux XlIIe et XlVe siècles, Paris/Montréal 1987. 55 Ebd., S. 154 ff. 56 Colette BEAUNE, La notion d'Europe dans les livres d'astrologie au XVe siècle, in: La Conscience européenne (Anm. 46), S. 1-7.
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bar und vorstellbar und hat eine echte Konsistenz erworben. Es ist der edelste Teil der Welt (was der griechisch-lateinischen Tradition entspricht); es ist ausschließlich von Christen bewohnt. Es besitzt den anderen Erdteilen gegenüber eine offensichtliche Überlegenheit, eine militärische, (er nennt Herkules, Augustus, Alexander, Karl den Großen und Gottfried von Bouillon, also europäische Erinnerungsorte), eine geistige (er nennt Aristoteles, Galianus und Albrecht den Großen) und eine kulturelle („in diesem nordwestlichen Erdteil erschienen die Gesetze und entwickelte sich der christliche Glaube"). Europas Kultur ist älter als die asiatische; es handelt sich um eine christliche, römische (die Leges) und griechische Kultur (die Wissenschaft des Ptolemäus). Dieses sehr neue Gefühl erklärt den langen Absatz am Anfang des Quadripartitum, in dem er die 1453 in Byzanz verbrannten Handschriften als ein sozusagen zugrunde gegangenes Gedächtnis Europas betrauert57. Doch weiß er noch nicht, wie diese Gemeinschaft zu bezeichnen ist. „Europei", von Pius II. geschaffen, steht noch nicht in seinem Vokabular; er schreibt einfach „nati in Europa, homines Europae". Bei Heingartner erscheint also ein europäisches Bewusstsein, das sich auf eine ganze Reihe von europäischen Erinnerungsorten gründet, die aus der Christianitas und der lateinischen Kultur stammen. Er bildet jedoch eine Ausnahme. Tatsächlich sind die grundsätzlichen Zweideutigkeiten nicht zu übersehen. Die zwischen dem universalistischen Anspruch und der Behauptung der nationalen Besonderheiten schwankenden Begriffe Christianitas und Imperium Romanum können nicht als Erscheinungsformen des mittelalterlichen Europa gelten, wie es Republik, Nation und les France in den Lieux de mémoire von Pieire Nora sind.
IV Wo sind also im Mittelalter entstandene Erinnerungsorte wirklich zu finden? Nach meiner Auffassung da, wo man sie am wenigsten vermutet: die Gestalten von europäischem Rang, z. B. Karl der Große, die die nationalen Historiographien am stärksten „nationalisiert" haben, sowie die Schlachtfelder, auf denen die Europäer gekämpft haben und die lange Zeit als Erinnerungsorte des nationalen Staats gedient haben, können jetzt auch als europäische Erinnerungsorte betrachtet werden. Ich will hier nur einen einzigen Fall aufgreifen, mit dem ich mich in den letzten Jahren viel beschäftigt habe, und zwar den der Kapitulation der Stadt Calais am 4. August 1347 vor König Eduard ΙΠ. und der angeblich heldenhaften Haltung, durch die sich in dieser Lage sechs Bürger der Stadt verdient gemacht haben sollen, indem sie sich für die anderen Bewohner opfer-
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Paris, BNF lat. 7305, f. 4.: „[...] ut enim constantinopolitane cladi consulas qua nuper crudelis turci seuicia tot optimarum litterarum volumina naufragio submersit [...]".
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ten und nur durch das unerwartete Eingreifen der Königin begnadigt wurden58. Die Kapitulation der Stadt, ein knappes Jahr nach der Aufsehen erregenden Niederlage des Königs von Frankreich in der Schlacht bei Crecy, war wiederum ein Ereignis, das ein breites Echo in ganz Europa hatte, sogar da, wo man mit der Sache eigentlich nichts zu tun hatte. Im Deutschen Reich zum Beispiel ist die Übergabe von Calais von mehreren Chronisten mehr oder weniger ausfuhrlich und exakt registriert worden. Dennoch darf man nicht von einem europäischen Erinnerungsort sprechen. Er wird nämlich in sehr unterschiedlichen, ja manchmal widersprüchlichen Berichten von den Chronisten der verschiedenen Länder erwähnt. Da, wo man keinen direkten Bezug zum Ereignis hatte, wie in Deutschland, ist die Erwähnung nur auf das Sensationelle der Nachricht zurückzuführen, und das Echo schwächte sich danach rasch ab. In den betroffenen Ländern erscheint dagegen die Kapitulation als ein Ereignis der nationalen Geschichte und darf vielleicht sogar den Rang eines nationalen Erinnerungsorts beanspruchen. In England ist dieser Vorgang allerdings ziemlich schnell abgebrochen, wahrscheinlich weil die Rückeroberung der Stadt Calais 1558 durch die Franzosen das ruhmreiche Ereignis von 1347 sozusagen annulliert hatte; in Frankreich hingegen hat es lange gedauert, bis man die Kapitulation von Calais zu einem Erinnerungsort gemacht hat: Vernichtende Niederlagen werden nämlich oft lieber verschwiegen als zu Erinnerungsorten gemacht, jedenfalls in der ersten Zeit nach dem Ereignis. Dies änderte sich erst im Lauf des 16. Jahrhunderts. Wie das geschah, ist kurz zu erläutern. Im 14. und 15. Jahrhundert hatte die französische Chronistik übereinstimmend die Kapitulation als ein trauriges, aber nicht bemerkenswertes, ein fast banales Ereignis geschildert: Die Einwohner der Stadt hatten nur ihr nacktes Leben retten können; nach den harten, aber üblichen Nonnen des Kriegs hatten sie alle die Stadt verlassen müssen. Dennoch hatte ein Lütticher Chronist, Jean le Bel, einen ganz anderen Bericht verfasst, und zwar schilderte er das oben erwähnte heldenhafte Verhalten von sechs Bürgern, die durch ihr Opfer das Leben der anderen Einwohner gerettet hätten. Die Erzählung von Jean Le Bel wurde einige Jahre später von dem berühmten Chronisten Jean Froissait übernommen und kam so zu einer ziemlich großen Verbreitung. Nun hatten aber Jean Le Bel und Froissart eigentlich nur die Anwendung eines ganz gewöhnlichen Kapitulationsrituals in eine heldenhafte Szene umgedeutet. Fast zwei Jahrhunderte lang hat man ihren Bericht offensichtlich für das, was er eigentlich war, gehalten: eine plumpe Fälschung. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurde allerdings das Ritual nicht mehr praktiziert, und man las den Bericht von Froissart mit anderen Augen als früher: Für die Historiker hatten die sechs Bürger von Calais tatsächlich, wie Froissart erzählte, ein bewundernswertes Beispiel von Heroismus gegeben; sie waren Helden des pro patria morì und waren als solche zu zele38 Dazu in Kürze Jean-Marie MOEGLIN, Les bourgeois de Calais — essai sur un mythe historique.
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brieren. Ich lasse die zahlreichen Peripetien der neuzeitlichen Karriere der sechs Bürger von Calais beiseite, um zu dem, was zugleich am wichtigsten und am bekanntesten ist, zu kommen. Am Ende des 19. Jahrhunderts fand die damals für solche Helden normale Konsekration statt: Es wurde ihnen durch den Bildhauer Auguste Rodin ein Denkmal errichtet und am 3. Juni 1895 feierlich inauguriert. Dieses berühmte Denkmal von Rodin war aber eigentlich überhaupt nicht das, was die Auftraggeber, die Ratsherren von Calais, erwartet und vor allem sich gewünscht hatten. Für diese Auftraggeber hätte Rodin die sechs Bürger, ganz nach der historiographischen Tradition, als heldenhafte Männer darstellen sollen, die stolz und sogar froh, für ihr Vaterland zu sterben, waren; anstatt dessen hatte Rodin Menschen auftreten lassen, deren Gesichter und körperliche Haltung die tiefe Angst und geradezu die Verzweiflung, sterben zu müssen, unmissverständlich zeigten; das Opfer von sechs Helden freilich, aber sechs Helden, die keine Übermenschen waren, sondern ganz normale Menschen, die ihr tragisches Schicksal als eine schwere, erdrückende Last trugen. So kam, von Rodin dargestellt, die Episode der Kapitulation von Calais in ein ganz anderes Licht als früher; es war nicht mehr die Apologie des französischen Patriotismus, sondern der Ausdruck eines Gefühls, das jeder Mensch ohne nationale Unterschiede verstehen und empfinden konnte. Auf diese Weise hatten die Kapitulation von Calais und die sechs Bürger aufgehört, ein rein nationaler Erinnerungsort zu sein, konnten aber ein europäischer Erinnerungsort werden, und zwar ein Erinnerungsort eines aus den Spannungen, Kriegen und Feindschaften zwischen seinen einzelnen Teilen entstandenen Europa. Und dazu ist es tatsächlich gekommen. Mehrere Museen und Städte suchten um ein Exemplar des Bronzedenkmals von Rodin nach, und die Bürger von Calais sind so nicht nur in Calais zu sehen, sondern auch in mehreren anderen Ländern, darunter England (hinter dem Londoner Parlament aufgestellt), Belgien, Dänemark, Schweiz. Andererseits haben die Bürger von Calais nach der Errichtung von Rodins Denkmal eine internationale literarische Karriere begonnen; zu zitieren sind das bekannte Theaterstück von Georg Kaiser (1878-1945), Die Bürger von Calais, geschrieben 1912/1913, erschienen 1914, dessen erste Aufführung am 29. Januar 1917 im Neuen Theater von Frankfürt am Main stattfand, sowie das kurze Stück von George Bernard Shaw, The Six of Calais, 1936 erschienen, oder noch die Oper von Rudolf WagnerRégeny, Die Bürger von Calais, Oper in 3 Akten (Text von Caspar Neher), 1938 in Wien publiziert und 1939 in Berlin aufgeführt. Die Bürger von Calais waren damit ein europäischer Erinnerungsort geworden - eines Europa, dessen Gedächtnis von den internen Kriegen und ihren Dramen tief geprägt war. Dieser Übergang von einem nationalen Erinnerungsort zu einem europäischen ist von Rodin selbst begrüßt worden59, wurde aber nicht immer leicht hinge59
Zu Lebzeiten von Rodin selbst wurden die Denkmäler in Kopenhagen 1900-1903, in Mariemont (Belgien) 1905-1906, in London (in den Victoria Tower Gardens) 1911-1915
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nommen, was unter anderem ein ziemlich alberner Zwischenfall zeigt. Am 29. Oktober 1948 wandte sich der Bürgermeister von Calais an das schweizerische nationale Fremdenverkehrsamt: „Sehr geehrter Herr Direktor, durch ihr Nachrichtenheft vom 12. Oktober 1948, Nr. 5, Seite 3, letzter Absatz unter dem Titel ,die Bürger von Calais in Basel' erfahre ich, dass das Werk des berühmten Bildhauers Auguste Rodin von den Behörden in Basel gekauft worden sei. Ich wäre Ihnen dankbar, mir die Quelle dieser Nachricht anzugeben, da das betroffene Denkmal immer noch im Besitz der Stadt Calais ist und, übrigens von jedem zu sehen, auf dem Rathausplatz steht Mit bestem Dank im voraus usw".
Das Fremdenverkehrsamt antwortete kurz darauf, dass es den Brief an das Museum Rodin in Paris weitergeleitet habe, und tatsächlich kam am 12. November 1948 die Antwort des Leiters des Museums, des bekannten Kunsthistorikers Marcel Aubert: „Sehr geehrter Herr Bürgermeister, das schweizerische Fremdenverkehrsamt hat uns ihren Brief vom 29. Oktober übermittelt. Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, es wäre mir lieber gewesen, Sie hätten sich direkt an uns gewandt, um Auskünfte über den Kauf einer Gruppe der Bürger von Calais durch die Stadt Basel zu erhalten. Sie sollten wissen, dass Rodin den französischen Staat zu seinem Universalerben gemacht hat, unter der Bedingung, dass der Staat ein seinem Werk gewidmetes Museum errichte. Dieses Museum lebt finanziell von dem Verkauf der Eintrittskarten und von dem Verkauf der Werke des Meisters, die in einer begrenzten Zahl von Bronzeexemplaren vervielfältigt worden sind. Das erste Gussstück der Bürger von Calais wurde zwar für Ihre Stadt gefertigt, aber das Werk wurde, noch zu Rodins Lebzeiten und von ihm selbst, in London aufgestellt; andere Exemplare gibt es in einigen Museen Europas und Nordamerikas. Der Kauf dieses Werks durch die Schweiz, dessen Sinn von der Baseler Bevölkerung vollkommen verstanden wurde, dient unserer Selbstdarstellung im Ausland durch die Verbreitung unseres nationalen künstlerischen Erbes. Außerdem ist, neben der moralischen Genugtuung, die aus einem solchen Geschäft entsteht, der Gewinn an ausländischen Devisen für die Staatskasse nicht zu verachten. Mit freundlichen Grüßen, verbleibe ich usw". .
Dies ist übrigens kein Einzelbeispiel; die Geschichte der Bürger von Calais wurde 1939-1940 von der deutschen Propaganda benutzt, um zu versuchen, eine anti-englische Stimmung in der französischen Bevölkerung zu erregen61. Und noch am 22. März 1996 publizierte die englische Zeitung The Times eine aufgestellt. Nach seinem Tod wurden Bronzeexemplare der Bürger von Calais von verschiedenen Museen in der Welt angekauft. 60 Beide Dokumente in den Archives municipales von Calais, Briefbücher des Bürgermeisters. 61 Freundliche Mitteilung von Pierre Bony (Paris).
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Karikatur von Peter Brooks, die den durch das von der französischen Regierung verfügte Einfuhrverbot von Rindfleisch aus Großbritannien wegen des „RinderWahn' '-Verdachts ausgelösten Streit zwischen beiden Regierungen dadurch illustrierte, dass sie die Bürger von Calais von Rodin beim Wegwerfen von Hamburgern zeigte62! Die alten nationalen Erinnerungsorte in europäische Erinnerungsorte zu verwandeln bleibt also doch keine so leichte Sache ...
Summary The question of whether the Middle Ages produced "European places of remembrance" can be analyzed on two levels, that of the medieval period itself and that of the picture which later periods made themselves of the Middle Ages. As far as the medieval period itself is concerned, one can say that places of remembrance based on the reference to objective European realities such as the Christianitas and the Romanitas/Latinitas came to fruition; nevertheless, their "European" quality remains throughout the Middle Ages only faintly perceived or affirmed. In fact, Medieval Europe was far more marked by the assertion of the states and nations than by the beginning of a European consciousness. Paradoxically, it is however possible that the old "national" celebration of the great men and great battles of the Middle Ages might be replaced by the idea that these heroes and witnesses of old fights are the veritable European "places of remembrance" common to Europe's various peoples. This contribution tries to show this through analysis of the modifications in the story of the "six bourgeois of Calais", who were immortalized through a famous sculpture by Auguste Rodin in 1895.
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Abgedruckt in: Die Zeit vom 31. Mai 1996, S. 31.
Europäische Erinnerungsorte im Mittelalter1 Von Bernd
Schneidmüller
Das Konzept der Erforschung von Erinnerungsorten im weiteren Sinn, jenen lieux de mémoire, wie sie die französische Forschung definiert hat, bezieht seinen Reiz aus der Verknüpfung unterschiedlicher Bezugsfelder2. Im Hintergrund steht sogar ein totales System, das Erinnerung und Gedächtnis, Vergangenheit wie deren Aktualisierung als anthropologische Grundgegebenheit begreift. Alle Kultur ist Erinnerungskultur, ob sie historisch ausgestaltet wird oder sich gegen die Geschichte definiert. Die deutsche Forschung hat dieses Phänomen neuerdings aus der Totalität von Memoria und aus der gegenwartsbezogenen Kraft der Gedächtniskultur beschrieben3. Erinnerung macht sich nicht allein an historischen Plätzen, Stein gewordenen Monumenten der Vergangenheit, Herrschaftszeichen oder zu Symbolen erwachsenen Gegenständen fest. Auch Ideen, Institutionen, Imaginationen oder Konstrukte können zum produktiven Ausgangs- wie Anknüpfungspunkt eines Interesse-geleiteten Gedenkens werden. Es entfaltete besondere Wirk-
1 Mit Anmerkungen versehener Text eines Vortrage vom 21.3. 2000 in der Villa Vigoni (Loveno di Menaggio/Italien), der für eine epochenübergreifende Diskussion griffige Thesen zuspitzen, mediaevistische Positionen abstecken, Perspektiven aufzeigen und keine monographische Breite vorwegnehmen wollte. 2 Les lieux de mémoire, hrsg. von Pierre Nora, 3 Bde. in 6 Teilen, Paris 1984-1992. - Vgl. jetzt auch: Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., hrsg. von Etienne François und Hagen Schulze, München 2001. Im Gegensatz zum französischen Vorbild bindet der deutsche Versuch vormoderne Erinnerungsorte nur sehr knapp ein. Dieser Befund liefert damit einen weiteren Beleg dafür, dass die deutsche Erinnerung für ihre Gegenwart im europäischen Vergleich ungewöhnlich dicht, für ausgreifendere Epochen ungewöhnlich bescheiden verbleibt. Welche Auswirkungen dieses - im Licht aktueller Herausforderungen durchaus einsichtige - Ungleichgewicht für die Stabilität politischer Kultur besitzt, wird sich erst aus künftigen Entwicklungen belegen lassen. Schon jetzt erscheinen Zweifel daran angebracht, wenige Jahrzehnte des vergangenen 20. Jahrhunderts zum ReferenzmaBstab für die ganze nationale Erinnerung zu erheben. Diese Einschränkung will über das Grauen deutschen Handelns in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keinesfalls hinweggehen. Die Wirkkraft einer längeren Geschichte erfordert gleichwohl ihre eigene Berücksichtigung. In der Auflösung nationaler Strukturen unserer Gegenwart müssen die Deutschen - anders als andere europäische Völker - ihre Erinnerungen des 19. und 20. Jahrhunderts vielleicht nochmals leisten? 3 Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, hrsg. von Dieter Geuenich und Otto Gerhard Oexle, Göttingen 1994; Memoria als Kultur, hrsg. von Otto Gerhard Oexle, Göttingen 1995; Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.
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kraft, wenn sich Institutionen und abstrakte Wertvorstellungen mit konkreten Orten, Gegenständen oder Symbolen verknüpfen ließen. Die meisten Beispiele sind nicht umsonst aus der französischen Geschichte entwickelt worden: die Erfahrbarkeit der Institution Monarchie in der Königsgrablege von St-Denis oder in der Weihehandlung von Reims, die Projektion der Nation auf den Monarchen oder auf monarchisch-ständische Ritualhandlungen, die Verknüpfung des historischen Bewusstseins vom Vorrang bei Gott und den Menschen mit den Heiligen und ihrer Präsenz in den Grabeskirchen von StDenis, St-Remi in Reims oder St-Martin in Tours, die Materialisierung kollektiven Bewusstseins in Symbolhandlungen wie der Verehrung des Himmelsöls in der „sainte ampoulle" von Reims oder wie der Einholung der Oriflamme von St-Denis4. Das von Pierre Nora aus der französischen Geschichte entwickelte Modell der lieux de mémoire wirkt deshalb mit hoher Suggestionskraft, weil sich Historikerinnen und Historiker vielerorts an den Diskussionen um Denkmäler, um das Sichtbarmachen von Institutionen oder erfahrbarer Vergangenheit für die Gegenwart beteiligen. Wieviel Mythos braucht die Moderne noch, wieviel Erinnerung unsere Gegenwart? Welchen Anteil besitzen die Geschichte und ihre Hüter am Funktionieren unserer Gemeinwesen und am supranationalen Experiment der Europäischen Gemeinschaft? Wer die Bedeutung von Erinnerungsorten in der Geschichte studiert hat, der lässt sich mit guten Gründen von dem Gedanken erfüllen, dass alle Großgruppen-, Staaten- und Gemeinschaftsbildungen ihre lieux de mémoire benötigen. Ob Historikerinnen und 4
Alain ERLANDE-BRANDENBURG, Le roi est mort. Études sur les funérailles, les sépultures et les tombeaux des rois de France jusqu'à la fin du XlIIe siècle, Genève 1975; Joachim EHLERS, Kontinuität und Tradition als Grundlage mittelalterlicher Nationsbildung in Frankreich, in: Beiträge zur Bildung der französischen Nation im Früh- und Hochmittelalter, hrsg. von Helmut Beumann, Sigmaringen 1983, S. 15-47; Anne LOMBARD-JOURDAN, „Montjoie et saint Denis!" Le centre de la Gaule aux origines de Paris et de Saint-Denis, Paris 1989; Percy Ernst SCHRAMM, Der König von Frankreich. Das Wesen der Monarchie vom 9. zum 16. Jahrhundert, 2 Bde., Darmstadt 2 1960; La royauté sacrée dans le monde chrétien, hrsg. von Alain Boureau und Claudio Sergio Ingerflom, Paris 1992; Colette BEAUNE, Naissance de la nation France, Paris 1985; Jacques LEGOFF, Ludwig der Heilige. Aus dem Französischen von Grete Osterwald, Stuttgart 2000; Marc BLOCH, Die wundertätigen Könige. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Märtl, München 1998; kritisch dazu Joachim EHLERS, Der wundertätige König in der monarchischen Theorie des Früh- und Hochmittelalters, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hrsg. von Paul-Joachim Heinig [u. a.], Berlin 2000, S. 3-19. Bernd SCHNEIDMÜLLER, Nomen patriae. Die Entstehung Frankreichs in der politischgeographischen Terminologie (10.-13. Jahrhundert), Sigmaringen 1987, S. 104 ff.; Thomas G. WALDMAN, Saint-Denis et les premiers Capétiens, in: Religion et culture autour de l'an Mil. Royaume capétien et Lotharingie, hrsg. von Dominique Iogna-Prat und JeanCharles Picard, Paris 1990, S. 191-197; Joachim EHLERS, Politik und Heiligenverehrung in Frankreich, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hrsg. von Jürgen Petersohn, Sigmaringen 1994, S. 149-175; Saint-Denis et la royauté. Études offertes à Bernard Guenée, hrsg. von Françoise Autrand [u. a.], Paris 1999.
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Historiker solche Kreationen nur beobachten oder sich an deren Schaffung und Pflege beteiligen sollen, hängt gewiss vom gewollten Ort der Geschichtswissenschaft in der Gesellschaft oder vom Bewusstwerden der Kulturwissenschaften um ihre materiellen Abhängigkeiten wie um ihre intendierte sinnstiftende Rolle ab. Wenn in dieser Sammlung auch die Mediaevistik zu Wort kommt, dann sollte sie zunächst den Zauber der Konfiguration „Erinnerungsorte" relativieren, bevor sie ihre Befunde ausbreitet. Die internationale Forschung zehrt von französischen Methoden und Ergebnissen, welche die Richtung des Blicks einstellen. In einem langen, komplizierten und keineswegs geradlinigen Prozess entstand seit dem 9. Jahrhundert die französische Königsnation, die lieux de mémoire aus ganz unterschiedlichen Wurzeln und Regionen zu einem scheinbar homogenen Ganzen zusammenfügte: Monarchie, Adel, Nation, StDenis, St-Martin und St-Remi, den Zauber von Weihe und Salbung, das Wissen um den besonderen Ort bei Gott und den Menschen, die kulturelle, sprachliche, literarische, künstlerische Überlegenheit und Vorbildfunktion für Europa, in den nachmittelalterlichen Jahrhunderten dann die Gewissheit der Vorreiterrolle in der historischen Freiheitsdynamik und in der Schaffung der modernen Nation aus der Französischen Revolution. Eine solche historische Konsistenz lässt sich in anderen Teilen Europas nur schwer finden, weil dort personalisierte Institutionen ungleich weniger integrationsmächtig waren. Damit tritt eine Verknüpfung von Institution, Trägergruppe, Rezeption, Propaganda und pflegender Entfaltung in den Blick, die für die abendländische Erinnerungsgeschichte von entscheidender Bedeutung wurde. Gewiss sind in vielen Teilen des mittelalterlichen Europa vergleichbare Entwicklungen wie in Frankreich zu beobachten, doch das viel strapazierte Modell bezieht seinen Glanz gerade aus der Einzigartigkeit5. Auch andernorts stilisierte man Heilige durchaus zu Integrationsfiguren von Gruppen, Städten, Verbänden oder Völkern. Der heilige Dionysius stand neben manchen anderen, dem heiligen Olaf, dem heiligen Wenzel, dem heiligen Heinrich und den vielen Stadtheiligen6. Der Kult um Gräber oder Reliquien diente als Anknüpfungspunkt von Erinnerung für die Gegenwart. Auch im Wissen um das Alter 5
Joachim EHLERS, Mittelalterliche Voraussetzungen für nationale Identität in der Neuzeit, in: DERS., Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1996, S. 414-432; Benedykt ZIENTARA, Frühzeit der europäischen Nationen. Die Entstehung von Nationalbewusstsein im nachkarolingischen Europa. Aus dem Polnischen von Jürgen Heyde, Osnabrück 1997. 6 Robert FOLZ, Les saints rois du moyen âge en occident (VIe-XIIIe siècles), Bruxelles 1984; Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hrsg. von Jürgen Petersohn, Sigmaringen 1994; André VAUCHEZ, La sainteté en occident aux derniers siècles du moyen âge d'après les procès de canonisation et les documents hagiographiques, Rome 1988; Wilfried EHBRECHT, Die Stadt und ihre Heiligen. Aspekte und Probleme nach Beispielen west- und norddeutscher Städte, in: Vestigia Monasteriensia. Studien zur Regionalgeschichte 5 (1995), S. 197-261.
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des eigenen Volkes besaßen die Franzosen mit ihrer Idee der trojanischen Herkunft selbstbewusste Partner in Europa7. Die Sachsen führten sich auf das Heer Alexanders des Großen, die Bayern auf armenische Vorfahren zurück. Doch mit der räumlichen Konzentration des französischen Königtums und seiner Sakralisierung konnten sich nur wenige Monarchien messen. Selbst die ostfränkisch-deutschen Könige, die seit 962 aus der Hand des Papstes die Kaiserkrone empfingen und damit in eine von Karl dem Großen begründete und auf antiken Vorbildern ruhende einzigartige Tradition hineinwuchsen, ließen sich bei allem Selbstbewusstsein im Spätmittelalter vom Glanz der Allerchristlichsten Könige beeindrucken. Das beruhte gewiss weniger auf dem Rang vornehmer Reliquien, sondern eher auf einem Modernisierungsvorsprung auf Grund des ökonomischen, administrativen, demographischen, sozialen und kulturellen Gefälles in Europa von West nach Ost8. Die Entfaltung der materiellen und immateriellen Erinnerungsorte wurde wesentlich von politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gesteuert. Also gewannen die westeuropäischen Höfe ihren Modellcharakter für die ritterliche Kultur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit9. Wer das von Pierre Nora entwickelte Modell auf das Alte Reich übertragen wollte, geriete wegen der offensichtlichen Unterschiede rasch in Bedrängnis: Ein dominierendes Reichsvolk, das seine Geschichte, Sprache10 und Literatur mit normativer, höfischer Strahlkraft im Reich ausbreitete, gab es ebensowenig wie einen besonderen, verbindlichen Reichsheiligen". Selbst der wichtige Erinnerungsort Aachen, wo mit Karl dem Großen der Begründer des West-
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Maria KLIPPEL, Die Darstellung der Fränkischen Trojanersage in Geschichtsschreibung und Dichtung vom Mittelalter bis zur Renaissance in Frankreich, Phil. Diss. Marburg 1936; Gert MELVILLE, Troja: Die integrative Wiege europäischer Mächte im ausgehenden Mittelalter, in: Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit, hrsg. von Ferdinand Seibt und Winfried Eberhardt, Stuttgart 1987, S. 415-432; Troia. Traum und Wirklichkeit, hrsg. vom Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg, Stuttgart 2001. 8 Peter MORAW, Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen lind europäischen Mittelalter. Ein Versuch, in: DERS., Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, hrsg. von Rainer Christoph Schwinges, Sigmaringen 1995, S. 293-320. Künftig: Deutschland und der Westen Europas, hrsg. von Joachim Ehlers (in Vorbereitung für 2002/03). ^ Wemer PARAVICINI, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, München 1994. 10 Dazu jetzt mit der älteren Literatur Heinz THOMAS, Sprache und Nation. Zur Geschichte des Wortes deutsch vom Ende des 11. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Andreas Gardt, Berlin/New York 2000, S. 47-101. 11 Vgl. Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter, hrsg. von Joachim Ehlers, Sigmaringen 1989; Joachim EHLERS, Die Entstehung des deutschen Reiches, München 1994; Bernd SCHNEIDMÜLLER, Reich - Volk - Nation: Die Entstehung des deutschen Reiches und der deutschen Nation im Mittelalter, in: Mittelalterliche nationes neuzeitliche Nationen. Probleme der Nationenbildung in Europa, hrsg. von Almut Bues und Rex Rexheuser, Wiesbaden 1995, S. 73-101.
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kaisertums ruhte und seit 1165 auf Betreiben Friedrich Barbarossas der Heiligenkult gepflegt wurde, vermochte auf Grund seiner Randlage im Reich nicht jene integrative Kraft wie das Ensemble von St-Denis und Paris - mitten in Frankreich - zu entfalten. Der Wahl- und Erinnerungsort Frankfurt am Main verknüpfte sich zwar mit Kurfürstenkolleg und Königswahl, später auch mit der Kaiserkrönung. Doch eine institutionelle Instrumentalisierung in weitgehender spätmittelalterlicher Königsferne gelang hier ebensowenig wie im noch ferneren Rom. Die von Luxemburgern, Wittelsbachern oder Habsburgem geförderten Erinnerungsorte oder Grablegen in Prag, München oder Wien gewannen ihre Wichtigkeit zuvorderst für die Dynastien und ihre Territorien. Für das Reich erlangten sie allenfalls als Aufenthaltsorte der Herrscher und damit als Zielpunkte beschwerlicher Reisen Bedeutung. Weil im Reich der Aktionsraum der Könige nur bedingt mit den Erinnerungsorten des Reichs zusammenfiel, entfaltete sich selbst der Kult der heilig gesprochenen Kaiser und Amtsvorgänger vor allem als Angelegenheit des Klerus ihrer Grabeskirchen. So fand die Heiligenverehrung Heinrichs II. zuvorderst in Bamberg, die Karls des Großen zuvorderst in Aachen statt und wurde nur zeitweilig für die Idee einer transpersonalen Monarchie instrumentalisiert12. Es wäre durchaus interessant, im Gefolge von FrantiSek Graus und seinem in der deutschen Forschung ziemlich vereinzelt stehenden Buch über Lebendige Vergangenheit13 Leitfiguren des Verhaltens, Herkunfts- und Abstammungssagen, heilige Repräsentanten, mittelalterliche Vergangenheitsbilder oder Helden und ihre lokale „Materialisierung" vergleichend zu studieren14. Doch hier gilt es nach europäischen, nicht nach nationalen, regionalen, lokalen oder gruppenbezogenen Erinnerungsorten zu fahnden. Gleichwohl waren diese einleitenden Gedanken unerlässlich, um für das offene Forschungsprojekt lieux de mémoire zunächst Abhängigkeiten der Erkenntnis von Interesse und nationalen Wissenschaftstraditionen zu ermitteln und als Korrektiv fur rasche übernationale Erwartungen herauszustellen. Sodann bleibt die Kenntnis personaler wie institutioneller Bindungen bei Entstehung, Wandel und Pflege von Erinnerungsorten unerlässliche Voraussetzung allen weiteren Nachdenkens. 12
Über Reisewege und Raumerfassung Carlrichard BRÜHL, Fodrum, Gistum, Servitium Regis. Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, 2 Bde., Köln/Graz 1968. Über die multizentrale Kulttradition Jflrgen PETERSOHN, Kaisertum und Kultakt in der Stauferzeit, in: Politik und Heiligenverehrung (Anm. 6), S. 101-146. 13 FrantiSek GRAUS, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Köln/Wien 1975. 14 Zu einer vergleichenden Geschichte Europas vgl. jetzt Michael BORGOLTE, Vor dem Ende der Nationalgeschichten? Chancen und Hindernisse für eine Geschichte Europas im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 561-596.
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Darum müsste man redlicherweise die Einladung zu einem weit gefassten Beitrag über europäische Erinnerungsorte im Mittelalter angesichts der Überlieferung, des Forschungsstandes und der Probleme bei der Instrumentalisierung von Geschichte ablehnen. Denn wer sollte in einem Europa, das sich im Mittelalter nur schwerlich als politische Einheit verstand15, Erinnerungsorte europäischer Prägung und Strahlkraft hervorbringen und entfalten? An welcher Person oder welcher Institution hätte sich die Idee Europa im Mittelalter überhaupt kristallisieren können? Sowohl das Papsttum als auch das Kaisertum verstanden sich wenigstens in der Theorie als universale Mächte. Rom wurde als caput mundi, nicht als Haupt Europas bezeichnet. Panegyriker der Karolingerzeit hatten den ersten Westkaiser, den Frankenherrscher Karl den Großen, zwar als pater Europae, als Vater Europas, schließlich als Gipfel oder Leuchtturm Europas gepriesen. Doch das erfolgte an der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert aus den Debatten um die angemessenen Bezugspunkte seines Kaisertums, um Rombindung und fränkische Traditionswahrung16. So wie Karl Martell mit den christlichen Europenses bei Tours und Poitiers die Araber bezwungen hatte17, so konnten sich insulare und fränkische Dichter in einem europäischen Kaisertum des großen Karolingers verbunden sehen. Als Karls Erben den römischen Kaisertitel aufnahmen, war die rasche Konjunktur Europas fast schon beendet. Zu verlockend gestaltete sich die strahlende Wirkung des antiken Römerreichs, zu lebendig die Anziehungskraft der römischen Apostelgräber auf die Franken, als dass sich die bloße Beschränkung auf Europa als den dritten Teil der Welt (tertia pars mundi) hätte als Alternative durchsetzen können. Zwar zögerte Otto der Große bei der Wiedererrichtung eines machtvollen Westkaisertums mit dem Rombezug, doch auch hier erlagen der Sohn und seine Erben in Konkurrenz zu Byzanz dem römischen Kaisernamen und damit der Geltung einer Stadt, die durch die Jahrhunderte als Haupt des Erdkreises gefeiert wurde18. Als Zierde Europas, als decus Europae, benannte ein apulischer Fürst noch im frühen 11. Jahrhundert Kaiser Heinrich II.19. Doch die politische Instrumentalisierung des Europagedan15
Bernd SCHNEIDMÜLLER, Die mittelalterlichen Konstruktionen Europas. Konvergenz und Differenzierung, in: „Europäische Geschichte" als historiographisches Problem, hrsg. von Heinz Duchhardt und Andreas Kunz, Mainz 1997, S. 5-24. 16 Manfred FUHRMANN, Europa - Zur Geschichte einer kulturellen und politischen Idee, Konstanz 1981; Rudolf HIESTAND, Europa im Mittelalter - vom geographischen Begriff zur politischen Idee, in: Europa - Begriff und Idee. Historische Streiflichter, hrsg. von Hans Hecker, Bonn 1991, S. 33-48; Peter SEGL, Europas Grundlegung im Mittelalter, in: Europa - aber was ist es? Aspekte seiner Identität in interdisziplinärer Sicht, hrsg. von Jörg A. Schlumberger und Peter Segl, Köln/Weimar/Wien 1994, S. 21-43. 17 Continuatio Hispana von 754 zu Isidors Historia, MGH. Auetores Antiquissimi, Bd. 11, hrsg. von Theodor Mommsen, Berlin 1894, S. 362. 18 Ottonische Neuanfänge. Symposion zur Ausstellung „Otto der Große, Magdeburg und Europa", hrsg. von Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter, Mainz 2001. 19 Vgl. Renate BAUMGÄRTEL-FLEISCHMANN, Der Stemenmantel Kaiser Heinrichs II. und
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kens vollzog sich erst unter dem Eindruck der Türkengefahr im 15. Jahrhundert20. Wer durfte für den bedrohten Kontinent denken, sprechen oder handeln: der Papst, der Kaiser, ein Konzil der Kirche oder ein Bund der Fürsten? Den verwirrenden Konzepten des ausgehenden Mittelalters entsprachen die Vagheit der Kristallisationspunkte und der geringe Grad der Institutionalisierung in der politischen Willensbildung. Längst hatten Kaiser oder Papst ihre Integrationsfähigkeit eingebüßt. Die Christenheit mochte zwar faktisch auf Europa beschränkt sein, verstand sich in ihrem Missionsauftrag wie in ihren Bezugspunkten aber stets als universale Religion21. Die lateinische Kultur mit der Vatersprache Europas, ihr Bildungsmonopol an den europäischen Universitäten noch zäh verteidigend, wurde damals zunehmend durch nationale oder regionale Literatur- und Kommunikationssysteme abgelöst. Die Raumerfahrungen griffen längst über den dritten Teil der Welt hinaus, nach Osten, nach Süden und schließlich nach Westen. Die Kenntnis der antiken Mythologie und der Geschichte von der geraubten Königstochter22 ist durch die Jahrhunderte zwar nachzuweisen, formte aber keine gemeinschaftsstiftende Herkunftsgeschichte über den vielfältigen Abstammungssagen der europäischen Völker aus. Darum führt die bloße Bezugnahme von Erinnerungsorten auf den Europabegriff ins Leere. Eine Gedächtniskultur, die sich an Wort oder Idee Europa festmachte, existierte allenfalls temporär, situations- und ortsbezogen, nie durchgehend oder mit integrativer Kraft. Alle Beschwörungen europäischer Kontinuitäten seit unvordenklichen Zeiten erweisen sich darum als Konstrukte, die Geschichte flott für eine aufnahmebereite Gegenwart instrumentalisieren. Diese Hinweise auf die Vielfalt täuschen freilich nicht darüber hinweg, dass das europäische Mittelalter aus gemeinschaftlichen Elementen lebte, die Gruppen und Völker, Regionen, Länder und Nationen verbanden und überwölbten. Von entscheidender Bedeutung für die historische Arbeit an den daraus erwachsenden lieux de mémoire sind weniger unsere Kenntnisse eines gemeinschaftsstiftenden kulturellen Gedächtnisses, sondern mittelalterliche Wahrnehmungen gemeinsamer Voraussetzungen, Verlaufsformen und Anknüpfungspunkte. Sie stifteten nicht etwa europäische Identitäten, sie wur-
seine Inschriften, in: Epigraphik 1988. Fachtagung fur mittelalterliche und neuzeitliche Epigraphik, Graz, 10.-14. Mai 1988. Referate und Round-Table-Gespräche, hrsg. von Walter Koch, Wien 1990, S. 105-125. 20 Dorothy Margaret VAUGHAN, Europe and the Turks. A Pattern of Alliances 1350-1700, Liverpool 1954; La conscience européenne au XVe et au XVIe siècle, Paris 1982. 21 Michael BORGOLTE, „Europa ein christliches Land". Religion als Weltstifterin im Mittelalter?, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 1061-1077. 22 Zu den antiken Wurzeln Justus COBET, Europa und Asien - Griechen und Barbaren Osten und Westen. Zur Begründung Europas aus der Antike, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 405-419.
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den noch nicht einmal als spezifisch europäisch bewusst. Aber sie gehörten zur Identität der in Europa lebenden Menschen hinzu. Für den Diskurs mit Historikern, die sich mit der Antike oder der Neuzeit beschäftigen, muss der Mediaevist darum mit einem weiten qualitativen Raster von „Erinnerungsorten" arbeiten. Dieses Vorgehen besitzt zwar den Nachteil des Unspezifischen, fuhrt aber gerade deshalb in den Kern der Diskussion über die epochenübergreifende Tauglichkeit des Forschungskonzepts lieux de mémoire. Aus europäischen Perspektiven sollen fünf zentrale Bezugsfelder einer gemeinschaftsstiftenden Gedächtniskultur knapp angesprochen werden.
1. Der dritte Teil der Welt Die Gliederung der Welt in die drei Erdteile Asien, Europa und Afrika machte die entscheidende Grundlage mittelalterlicher Wahrnehmungskonzepte aus. Auf den Weltkarten in T-Form23 nahm Asien die Hälfte des Erdkreises ein, Europa und Afrika jeweils ein Viertel. Jerusalem bildete den Mittelpunkt der Welt. Diese Deutung aus dem Ganzen wurde entscheidend für das geographische wie heilsgeschichtliche Bewusstsein des Mittelalters und verhinderte lange eine auf Europa beschränkte Kartographie. Erst seit dem 12. Jahrhundert, beginnend mit dem Liber Floridus des Lambert von StOmer, ordnete man der eigenen Lebenswelt ein größeres Darstellungsinteresse zu. Honorius Augustodunensis unterschied Europa bereits in unserem modernen Sinn von Ost nach West nach Scithia, Germania Superior und Germania Inferior (mit Dania und Norweia), Grecia, Italia, Gallia, Hispania und Britannici. Isidor von Sevilla hatte dem Mittelalter das biblische Wissen von der Aufteilung der Welt unter Sem, Japhet und Cham, den drei Söhnen Noahs, überliefert und präzisiert. In Abwandlung der Völkertafel des Alten Testaments (Gen 10) billigte Isidor Japhet und seinen Nachkommen das Land vom Taurus nach Westen zu, nämlich die Hälfte Asiens und ganz Europa bis zum britischen Meer25. Auch diese Lehre fügte in biblischer Tradition die europäischen Völker mit den Brudervölkern der übrigen Welt zusammen, vom gleichen Urahn Noah abstammend. So entstand allmählich die Deckungsgleich-
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Anna-Dorothee VON DEN BRINCKEN, Europa in der Kartographie des Mittelalters, in: Archiv filr Kulturgeschichte 55 (1973), S. 289-304; DIES., Kartographische Quellen: Welt-, See- und Regionalkarten, Tumhout 1988; DIES., Fines terrae. Die Enden der Erde und der vierte Kontinent auf mittelalterlichen Weltkarten, Hannover 1992. 24 HONORIUS AUGUSTODUNENSIS, Imago mundi, hrsg. von Valerie I. J. Flint, in: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 27 (1982), S. 7-151, hier: S. 59-63. 25 ISIDOR VON SEVILLA, Etymologiae, hrsg. von W. M. Lindsay, Bd. 1, Oxford 1911, IX 2.
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heit von drei Kontinenten mit drei Völkergruppen26. In seiner Imago mundi legte Honorais Augustodunensis eine entscheidende Fährte, wenn er das im Mittelalter weiterentwickelte geographische Wissen der Bibel sozialgeschichtlich auflud und aus seiner Lektüre der Genesis verkündete: Schon in biblischer Zeit wurde das Menschengeschlecht in drei Stände aufgeteilt, in Freie, Krieger und Sklaven. Die Freien stammten von Sem, die Krieger von Japhet und die Sklaven von Cham ab. Im Gegensatz zu den Kindern Chams (Gen 9) besaßen Japhets Nachkommen Anteil am Heil27. Isidor zählte mit der Heiligen Schrift (Gen 10, 2-4) noch 15, Gottfried von Viterbo verzeichnete dann schon 23 Völker in der Nachfolge Japhets28. Es ist kennzeichnend, dass seit dem 12. Jahrhundert auch die Geschichte der Europa als Tochter Agenors in die enzyklopädischen Zusammenstellungen eines Wissens verwoben wurde, dessen Zweck Sammlung wie Ordnung von Geographie, Geschichte und Heilsgeschichte war. In einem solchen Modell konnte - der Landnahme von Japhets Erben folgend - die christliche Botschaft von ihrem Ursprung im Osten zu ihrer Erfüllung im Westen wandern. Europa wurde zum Ziel- und Höhepunkt des Heils, blieb aber geographisch wie ethnisch stets in den Kosmos von Erdteilen und Völkern eingebunden.
2. Ausgang und Ziel des Heils Der wichtigste europäische Erinnerungsort des Mittelalters lag in Asien. In Jerusalem hatte der Bund Gottes mit den Menschen seinen sichtbaren Niederschlag erfahren. Diese Stadt wurde zum Modell für die heiligen Städte des Mittelalters. Ihre Erfahrungen schöpften die vielen Imitatoren aus der Bibel. Die Schriften des Alten Testaments stilisieren Jerusalem zum Ort der Gegenwart Gottes, zur Stadt der Dynastie Davids (2 Sam 6), des Herrn (Is 60, 14), der Gerechtigkeit, nach der Erneuerung schließlich zum Thron des Herrn (Jr 3, 17) und zum Herrschaftssitz des messianischen Davidsohns (Is 9, 6). Weil Gott hier „mitten unter den Israeliten" leben will (Ex 29, 43-46; Sach 8, 3), wird Jerusalem zum Zielort der großen Pilgerschaft aller Völker (Is 2, 2-5; 26
Jürgen FISCHER, Oriens - Occidens - Europa. Begriff und Gedanke „Europa" in der späten Antike und im frühen Mittelalter, Wiesbaden 1957. Weiterfiihrungen zum Hochund Spätmittelalter bietet jetzt Klaus OSCHEMA, Der Europa-Begriff im Hoch- und Spätmittelalter. Zwischen geographischem Weltbild und kultureller Konnotation, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 2 (2001), S. 191-235. Herrn Oschema (Bamberg/Dresden) bin ich für wichtige Hinweise sehr verbunden. 27 HONORIUS AUGUSTODUNENSIS, Imago mundi (Anm. 24), S. 125. 28 ISIDOR VON SEVILLA, Etymologiae (Anm. 25), IX 2 , 2 6 - 3 7 ; GOTTFRIED VON VITERBO, Speculum regum, hrsg. von Georg Waitz, in: MGH. Scriptores, Bd. 22, Hannover 1872, S. 21-93, hier: S. 32.
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60-62). Die spätjüdische Tradition versetzt Jerusalem dann ins Transzendente, macht es zum Ort des Lebensbaums wie des Paradieses; ein jenseitiges, ewiges Jerusalem bildet den Aufenthaltsort der Gerechten. Das Neue Testament kündet zwar davon, dass Jerusalem seinen Heiland verschmähte, doch die Stadt birgt weiter alle Heilshoffhung in sich. Der Hebräerbrief erhebt Jerusalem in eine obere oder zukünftige Sphäre und lässt Christus als den wahren Hohepriester zum Wegbereiter ins zukünftige Allerheiligste erwachsen (Hebr 13, 14). In der Offenbarung des Johannes wird Jerusalem schließlich zur Braut des Lammes und zum Gegenbild der Hure Babylon (Apoc 21, 2-22, 5). Die mit Gold und Edelsteinen geschmückte Stadt dient als Sinnbild der zwölf Stämme Israels wie der zwölf Apostel Christi und wird zum Paradies mit dem Baum des Lebens29. Immer wieder schufen sich Theologie, Philosophie, Literatur und Kunst ihre Abbilder dieses himmlischen Jerusalem. Buch- wie Wandmalerei und die mittelalterliche Sakralkunst bezeugen die mittelalterlichen Vorstellungen von den Paradiesflüssen oder vom Lebensbaum, in der Bamberger Apokalypse, im Vierungsgewölbe des Braunschweiger Doms, auf dem Wirkteppich von Angers oder im Flügelretabel des Genter Altars Jan van Eycks. Die berühmten Radleuchter aus dem Hildesheimer Dom oder der Aachener Marienkirche setzen das Bild der türmebewehrten Stadt in Szene und vervielfältigen für die schauenden Gläubigen das himmlische Jerusalem als zentralen Erinnerungsort der mittelalterlichen Christenheit. Die Kirchenväter lehrten zwar die Unterschiede zwischen dem realen und dem himmlischen Jerusalem. Doch schon Hieronymus ließ sich vom Zauber Palästinas gefangen nehmen, als er sich in Bethlehem ansiedelte. Der zunehmenden Präsenz des Erinnerungsorts auf Pergamentseiten und Kunstwerken entsprach das Wegrücken Jerusalems aus der realen Erfahrung. 614 wurde die Stadt erstmals von den Sassaniden erobert, 638 gelangte sie endgültig in den Herrschaftsbereich des Islam. Im 7. Jahrhundert entstand hier der Felsendom, Zeugnis für Jerusalems Rang als dritter heiliger Stadt des Islam, bald darauf die Al-Aqsa-Moschee. Wenige Pilger des lateinischen Westens kündeten im Frühmittelalter von ihren Jerusalemerfahrungen30. Vereinzelte Pilgerreisen erwuchsen im 11. Jahrhundert zu einem kollektiven Phänomen, das seinen Höhepunkt in wiederholten Kreuzzügen der abendländischen Christenheit nach Palästina erreichte31.
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Artikel „Jerusalem", in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 16, Berlin/New York 1987, S. 590-635; Otto BÖCHER, Artikel „Himmlisches Jerusalem", in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, Freiburg [u. a.] 3 1996, Sp. 129 f. 30 Ekkehart ROTTER, Abendland und Sarazenen. Das okzidentale Araberbild und seine Entstehung im Frühmittelalter, Berlin/New York 1986. 31 Carl ERDMANN, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart 1935; Hans Eberhard MAYER, Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart/Berlin/Köln ®2000; Jonathan RILEY-
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1099 wurde Jerusalem von den Kreuzfahrern erobert, die bald darauf ein lateinisches Königreich um die Grabeskirche des Herrn errichteten und Nichtchristen aus der Stadt wiesen32. Alte und diffuse Sehnsüchte fanden damals ihre Erfüllung, ohne dass reale Dauerhaftigkeiten europäischer Existenz im wichtigsten Erinnerungsort der Christenheit wirklich zu garantieren gewesen wären. Immerhin gehörte im 12. und 13. Jahrhundert die Wallfahrt ins Heilige Land zum Standardprogramm der christlichen Ritterschaft und ergriff auf bisweilen tragische Weise nahezu alle Gruppen der Bevölkerung: Arme und Kinder, Städter und Bauern, Kleriker und Mönche, Adlige, Könige und Kaiser. Der Zauber der heiligen Stadt überdauerte auch die Eroberung Jerusalems durch Sultan Saladin im Jahr 1187 und erlebte im 14. und 15. Jahrhundert einen gewaltigen Aufschwung. In nahezu tausend Jahren, zwischen 333 und 1291, waren ungefähr 200 Pilgerführer entstanden, allein im 15. Jahrhundert kamen etwa 400 neue hinzu. Nur für wenige Jahrzehnte beherrschten Christen im Hochmittelalter den Schauplatz von Leiden und Sterben Jesu, den Ort ihrer Hoffnung im Jüngsten Gericht. 1229 inszenierte Kaiser Friedrich II. seine Krönung - konzeptionell vielfältig umstritten - in der Grabeskirche des Herrn zur Demonstration seiner imperialen Macht in der Heiligen Stadt33. Doch seit 1244 blieb der über die Jahrhunderte weitergeführte Titel eines Königs von Jerusalem (rex Iherusalem) nur noch inhaltsleerer Anspruch. Die Gelehrten kannten freilich die Prophezeiungen vom Antichristen, die im 10. Jahrhundert Adso von Montier-en-Der in seiner fiktiven Biographie („Vom Erscheinen und von der Zeit des Antichristen" - De ortu et tempore Antichristi) aus älteren Quellen erstmals zusammenstellte: Als Jude vom Stamme Dan in Babylon geboren und von Magiern erzogen, werde der Antichrist nach Jerusalem ziehen und von dort aus mit der Behauptung, Gottes Sohn zu sein, seine Herrschaft über die ganze Welt etablieren. Endlich werde ihn Gott auf dem Ölberg durch den Hauch seines Mundes und durch den Erzengel Michael töten34. Mit dem apokalyptischen Wissen vom Ende der Welt, von der Herrschaft des Antichristen und vom Jüngsten Gericht lebte das christliche Mittelalter. Man mag dieses Endzeitbewusstsein auch in die Reihe der lieux de mémoire ordnen. Entscheidend wurde seine Verknüpfimg mit Jerusalem als dem zentralen Erinnerungsort der christlichen Botschaft. Seit dem 4. Jahrhundert entstand die Lehre vom letzten römischen Kaiser vor dem SMITH, The First Crusaders, 1095-1131, Cambridge 1997; Jerusalem im Hoch- und Spätmittelalter, hrsg. von Dieter Bauer [u. a.], Frankfurt a. M./New York 2001. 32 Guy LOBRICHON, Die Eroberung Jerusalems im Jahre 1099. Aus dem Französischen von Birgit Martens-Schöne, Sigmaringen 1998. 33 Klaus van ELCKELS/Tania BRÜSCH, Kaiser Friedrich II. Leben und Persönlichkeit in Quellen des Mittelalters, Düsseldorf 2000, S. 164 f f ; Wolfgang STÜRNER, Friedrich II., Teil 2: Der Kaiser 1220-1250, Darmstadt 2000, S. 157 ff. 34 ADSO VON MONTIER-EN-DER, De ortu et tempore Antichristi necnon et tractatus qui ab eo dependunt, hrsg. von Daniel Verhelst, Turnhout 1976, S. 20-30.
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Weltende, der alle Nichtchristen entweder bekehren oder vernichten, ein irdisches Friedensreich schaffen und endlich nach Jerusalem ziehen werde, um dort seine Herrschaftszeichen niederzulegen und seine Macht an Gott zurückzugeben. So wurde die Heilige Stadt zum Ausgangs- wie zum Zielpunkt der christlichen Heilsgeschichte35.
3. Fremde Ursprünge Durch die Übernahme der antiken Buchreligion fand das mittelalterliche Europa den Wurzelgrund seines Glaubens wie den Zielpunkt seiner Geschichte im fernen Palästina. Dem entsprach durchaus das Wissen um die Herkunft der eigenen Völker und Nationen aus weiträumigen Verlagerungen. Seit der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert entwickelte sich das Frankenreich von einer spätantiken Randkultur zum selbstbewussten Gestalter des europäischen Mittelalters36. Diese Großreichsbildung veränderte die politische Geographie und die Kultur der bekannten Welt, schloss das lange Ende der Antike endgültig ab und bahnte durch Schwerpunktverschiebungen nach Norden und Westen der Idee des Abendlands entscheidende Wege. Zur Akkulturation der Franken in der okzidentalen Welt gehörte die Kreation einer angemessenen Abstammungslehre. Wie die Römer, versicherten sich die Franken nämlich ihrer Herkunft aus Troja und rückten damit an Alter und Würde als Brudervolk neben die Römer. In seiner Frankenchronik berichtete der sogenannte Fredegar unter Hinweis auf scheinbare Quellen wie Hieronymus und Vergil die folgende Herkunftsgeschichte: „Ihr erster König sei Priamus gewesen; als Troja durch die List des Odysseus erobert wurde, seien sie von dort fortgezogen und hätten dann Friga als ihren König gehabt; sie hätten sich geteilt, und der eine Volksteil sei nach Mazedonien gezogen, der andere habe unter Friga - sie wurden als Frigier bezeichnet - Asien durchzogen und sich am Ufer der Donau und am Ozean niedergelassen; dann hätten sie sich nochmals geteilt, und die Hälfte von ihnen sei mit ihrem König Francio nach Europa gezogen. Sie durchwanderten Europa und besetzten mit ihren Frauen und Kindern das Ufer des Rheins; nicht weit vom Rhein versuchten sie, eine Stadt zu erbauen, die sie nach Troja benannten. Dieses Werk wurde zwar begonnen, aber nicht vollendet. Der andere Teil, der am Ufer der Donau zurückgeblieben war, erwählte sich Torcoth zum König, nach dem sie in diesem Lande Türken genannt wurden; und die anderen wurden nach Francio als Franken bezeichnet" .
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Hannes MÖHRING, Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung, Stuttgart 2000. 36 Karl HAUCK, Von einer spätantiken Randkultur zum karolingischen Europa, in: Frühmittelalterliche Studien 1 (1967), S. 3-93. 37 FREDEGAR, Cronicae, hrsg. von Bruno Krusch, in: MGH. Scriptores rerum Merovingicarum, Bd. 2, Hannover 1888, III 2, S. 93. Übersetzung aus: Quellen zur Geschichte des 7.
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Die fränkische Trojanersage erfuhr im Lauf des Mittelalters vielfältige Entfaltung und Aktualisierung, die immer wieder an die unmittelbare Gegenwart heranführte: Mit dem Urahnen Priamus verließen die trojanischen Vorfahren der Franken die zerstörte Stadt zu einer abenteuerlichen Reise durch die Asowschen Sümpfe und das Land an der Donau. In Thrakien, in der sagenhaften Stadt Sicambria, siedelten sie unter ihren Königen Francio und Turchus. Vom römischen Kaiser Valentinian wegen ihrer Freiheitsliebe vertrieben, eroberten sich die Franken ihre neue Heimat an den Ufern des Rheins, um von hier aus ein Großreich in Nordgallien zu bilden. Flexibel wurde dieses Grundgerüst der Sage fortentwickelt, in die man sogar einen Parisius hineinkomponieren konnte. Er wurde für einen raschen Trojanerzug nach Paris und für die dadurch herausgehobene historische Stellung der späteren französischen Hauptstadt verantwortlich gemacht38. Mit beachtlicher Kreativität sicherten sich Dynastien wie die Kapetinger, die Weifen oder die Habsburger ihre trojanische Abstammung. Hinzu trat das bayerische Wissen vom armenischen, das sächsische vom makedonischen Ursprung39. Die Herkunft aus Asien garantierte im Völkerkontinuum der alten Welt allemal Vornehmheit und Gleichrangigkeit, vermittelte aber auch die Einsicht von raumgreifender Landnahme als Grundlage der mittelalterlichen Ordnung. Schon im 6. Jahrhundert hatte Jordanes die permanente Wanderung und die wiederholte Landnahme als Prinzip der Volksgeschichte beschrieben. „Wie ein Bienenschwarm" waren die Goten aus „dem Schoß der Insel" Skandinavien nach Europa aufgebrochen („ab huius insulae gremio velut examen apium erumpens in terram Europae"). Dort, im Norden, befinde sich die „Produktionsstätte der Völker und der Geburtsort der Nationen" („officina gentium" „vagina nationum")40. Das Wissen um die Volksentstehung in Wanderschaft und Landnahme bewahrten sich auch die anderen mittelalterlichen Völker, die auf dem Boden des Imperium Romanum ihre Reiche errichteten41. Noch im und 8. Jahrhunderts, Darmstadt 1982, S. 85. 38 KLIPPEL, Darstellung (Anm. 7); GRAUS, Lebendige Vergangenheit (Anm. 13), S. 81 ff. 39 Eine Zusammenstellung des Herkunftswissens der deutschen Völker und der Deutschen von Julius Caesar nahmen erstmals das Annolied im 11. und die mittelhochdeutsche Kaiserchronik im 12. Jahrhundert vor: Das Annolied, hrsg. von Eberhard Nellmann, Stuttgart 4 1996, S. 24-34; Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hrsg. von Edward Schröder, Hannover 1892, S. 84-86. Vgl. Heinz THOMAS, Julius Caesar und die Deutschen. Zu Ursprung und Gehalt eines deutschen Geschichtsbewußtseins in der Zeit Gregors VII. und Heinrichs IV., in: Die Salier und das Reich, Bd. 3, hrsg. von Stefan Weinfurter, Sigmaringen 1991, S. 245-277. 40 JORDANES, Romana et Getica, hrsg. von Theodor Mommsen, Berlin 1882, S. 56, 60. Vgl. Margit PFEIFER, Skandinavien - Officina gentium ... vagina nationum (Jordanis Getica, IV, 25). Die Herkunft der Germanenstämme aus Skandinavien in den Geschichtswerken des Mittelalters und der Humanisten, Phil. Diss, (masch.) Innsbruck 1967. 41 Reinhard WENSKUS, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalter-
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12. Jahrhundert brachte der unbekannte süddeutsche Verfasser der Historia Welforum die Lehre von der gewaltsamen Eroberung aufs Pergament, als er von der trojanischen Herkunft der Weifen und ihrer Herrschaftsbildung berichtete: „Wem das nicht glaubwürdig erscheint, der lese die Geschichten der heidnischen Völker. Da wird er finden, dass fast alle Länder gewaltsam von Fremden erobert und in Besitz genommen worden sind. Das pflegten die Trojaner zu tun, nachdem sie aus ihren Sitzen vertrieben worden waren, dies die Goten und die Alanen, dies die Hunnen und Wandalen, dies auch die Langobarden und die übrigen Volksstämme, besonders aber die nördlichen"42.
Hier bewahrte sich ein Autor des 12. Jahrhunderts das Wissen um die Wanderungsdynamik im Übergang von der Antike zum Mittelalter. Für Jordanes bildete Skandinavien die Geburtsstätte der Völker, für andere war es Asien. Das Wissen um diese Landnahme wie um die ungeheure Migrationsdynamik europäischer Völker wirkte auf die folgenden Jahrhunderte. Für solche lieux de mémoire bildete das Bewusstsein fremder Ursprünge der eigenen Welt und ihres Glaubens geradezu den Wurzelgrund. Passt dieser Befund noch zu unserem modernen Europa-Gedanken? Die Liebhaber einer Festung Europa möchten enttäuscht sein, denn die mittelalterlichen Länder und Kulturen Europas existierten gerade aus ihrer ungeheuren Sogkraft und der Aufnahmebereitschaft gegenüber fremden Völkern und Überzeugungen. Keine Ideen ethnischer Gleichförmigkeit, unveränderlicher Heimat oder beständiger Herrschaft drangen in die Köpfe. Europa lebte im Werden aus Umbruch, Zuwanderung und Eroberung, letztlich aus der „Europäisierung Europas" 43 . Die völlige Neuformierung des Kontinents, seiner in Wanderungen gewordenen Völker und seiner aus multipolaren Elementen erwachsenen Kultur wurde zum entscheidenden Fundament der mittelalterlichen Erinnerung. Erst als sich die aufgeklärte Neuzeit von den Mythen der alten Herkunftssagen löste, verwurzelte sie ihre Nationen in europäischer Erde und entwickelte den eigenen Kontinent zum Ausgangspunkt und Maß aller Zivilisation. liehen gentes, Köln/Graz 1961; Herwig WOLFRAM, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnogenese, München 2 1990; Ethnogenese und Überlieferung. Angewandte Methoden der Frühmittelalterforschung, hrsg. von Karl Brunner und Brigitte Merta, Wien/München 1994; Historiographie im frühen Mittelalter, hrsg. von Anton Scharer und Georg Scheibelreiter, Wien/München 1994; Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300-800, hrsg. von Walter Pohl mit Helmut Reimitz, Leiden/Boston/Köln 1998; Walter POHL, Die Germanen, München 2000; Ernst PITZ, Die griechisch-römische Ökumene und die drei Kulturen des Mittelalters. Geschichte des mediterranen Weltteils zwischen Atlantik und Indischem Ozean 270-812, Berlin 2001. 42 Historia Welforum, hrsg. von Erich König, Sigmaringen 2 1978, S. 2/4. 43 Friedrich PRINZ, Von Konstantin zu Karl dem Großen. Entfaltung und Wandel Europas, Düsseldorf Zürich 2000. Für die Folgezeit Robert BARTLETT, The Making of Europe. Conquest, Colonization and Cultural Change 950-1350, Princeton 1993.
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4. Das römische Erbe Im scheinbaren Gegensatz zum Wissen um die ständige Wanderungsdynamik stand die auf antiken Vorbildern gründende Romidee, die sich an der unverrückbaren Stadt wie am Kaiser- oder Papsttum festmachte. Neben Jerusalem wurde Rom zum entscheidenden Erinnerungsort44 des mittelalterlichen Europa, der zudem den Vorzug größerer Zugänglichkeit und konkreter Erfahrbarkeit genoss. Mit vielen Epitheta wie urbs aeterna, urbs aurea, caput orbis oder domina mundi geschmückt, verbanden sich aus unterschiedlichen Interessenfeldern vielfältige Vorstellungen mit der Stadt, ihrer Geschichte und ihrer Sendung45. Im Anspruch prinzipiell auf die Welt ausgerichtet, reduzierten sich Rom und Romidee faktisch auf Europa. Drei wesentliche Traditionsstränge dieser Romidee sind hervorzuheben46. Die kommunale Variante ging von der Vorstellung aus, dass die Bewohner Roms als Erben des antiken populus Romanus dessen Befugnisse in Gesetzgebung und Herrschaft übernommen hätten. Daraus wurde seit der Akklamation bei der Kaiserkrönung Karls des Großen das Anrecht auf die Vergabe des Kaisertums abgeleitet, mit dem Papst oder ohne den Papst. Da dieses Kaisertum seit der Erhebung Karls des Großen und Ottos des Großen faktisch auf das Abendland reduziert wurde, konkretisierte sich das universal formulierte Postulat tatsächlich auf das lateinische Europa. Die kaiserliche Romidee griff zwar auf die universale Herrschaftsauffassung der antiken Imperatoren zurück, fugte aber die römische Kaiserkrönimg seit 962 nahezu ausschließlich mit der Geschichte des ostfränkisch-deutschen Reiches zusammen, das sich nach Anspruch und Namen römisch darstellte. In der Wirklichkeit blieb Rom indes eine ferne Sonne, die dem Reich Licht und Leben einhauchte, ohne von ihm eigentlich erreicht zu werden. Die spätmittelalterliche Verfassungsrealität mit der Wahl des Römischen Königs in Frankfurt am Main, seiner Krönung in Aachen und seinem anschließenden Romzug zur Kaiserkrönung unterstrich diese multipolare Prägung. Sie führte im Imperium mit seinen weiten Denk- und Handlungsspielräumen zum Verzicht auf eine nationale Konzentration nach dem Modell Frankreichs, Englands, Spaniens, Dänemarks, Ungarns oder Polens. Für Otto III. wurde die 44
Johannes FRIED, Römische Erinnerung. Zu den Anfängen und frühen Wirkungen des christlichen Rommythos, in: Studien zur Geschichte des Mittelalters. Jürgen Petersohn zum 65. Geburtstag, hrsg. von Matthias Thumser [u. a.], Stuttgart 2000, S. 1-41. 45 Arturo GRAF, Roma nella memoria e nelle immaginazioni del medio evo, Torino 1923; Eugenio DUPRÉ THESEIDER, L'idea imperiale di Roma nella tradizione del medioevo, Milano 1942; Robert FOLZ, L'idée d'Empire en occident du Ve au XrVe siècle, Paris 1953; Gerd TELLENBACH, Die Stadt Rom in der Sicht ausländischer Zeitgenossen (8001200), in: Saeculum 24 (1973), S. 1-40; Michele MACCARRONE, Romana ecclesia cathedra Petri, hrsg. von Piero Zerbi [u. a.], 2 Bde., Roma 1991. 46 Jürgen PETERSOHN, Artikel „Romidee", in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 1995, Sp. 1007-1009.
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aurea Roma an der Jahrtausendwende zum wesentlichen Ausgangspunkt seiner Herrschaftsauffassung. Seit dem Kaisertum Konrads Π. (1024-1039) trat dieser Rombezug in der Umschrift der Herrscherbullen hervor: „Roma caput mundi regit orbis frena rotundi" - „Rom, das Haupt der Welt, regiert den Erdkreis"47. Ein konkreter „Griff nach der Weltmacht" lässt sich im Mittelalter indes nicht nachweisen, auch wenn einige Juristen oder Dichter manchmal ihre luftigen Gedankengebäude vom „Herrn der Welt" („mundi dominus") oder vom gottgewollten „König über andere Könige" auf das Pergament formulierten48. Am geschichtsmächtigsten entwickelte sich die kirchliche Romidee, die sich mit dem Primatsanspruch des Papsttums aus der Nachfolge Petri verknüpfte. Die römischen Apostelgräber waren Zielpunkt kontinuierlicher Pilgerschaft aus allen Teilen der lateinischen Christenheit. In Europa konnte sonst nur noch ein weiteres illustres Apostelgrab verehrt werden, die vermeintliche Sepultur des ersten Apostelmärtyrers Jakobus in Santiago de Compostela49. Seit dem 12. Jahrhundert zog es eine zunehmende Pilgerschar an. Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela wurden damit zu den wichtigsten Zielen des mittelalterlichen religiösen Unterwegsseins und traten über die vielen regionalen oder lokalen Wallfahrtszentren und bedeutsamen Wegstationen hinaus50. Pilger und Pilgerstraßen machten diese Trias zu den zentralen Begegnungs- und Erinnerungsorten der mittelalterlichen Christenheit. Von einem sonst unbekannten Jonas kündete sein dänischer Grabstein, er sei zweimal nach Jerusalem, dreimal nach Rom und einmal nach Santiago gepilgert51. Ähnliche Frömmigkeitsleistungen - wenigstens einmal Jerusalem und 47
Percy Ernst SCHRAMM, Kaiser, Rom und Renovatio. Studien zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit, Leipzig 1929, S. 87 ff. Neuere Deutungen (mit wichtigen Modifikationen und Korrekturen) bei Knut GÖRICH, Otto III. Romanus Saxonicus et Italicus. Kaiserliche Rompolitik und sächsische Historiographie, Sigmaringen 1993; Gerd ALTHOFF, Otto III., Darmstadt 1996; Herwig WOLFRAM, Konrad II. 990-1039. Kaiser dreier Reiche, München 2000. 48 Beispiel: Die Lieder des Archipoeta. Lateinisch und deutsch, hrsg. von Karl Langosch, Stuttgart 1973, S. 36. Vgl. Hans Joachim KLRFEL, Weltherrschaftsidee und Bündnispolitik. Untersuchungen zur auswärtigen Politik der Staufer, Bonn 1959. Korrekturen bei Karl Ferdinand WERNER, Das hochmittelalterliche Imperium im politischen Bewußtsein Frankreichs (10.-12. Jahrhundert), in: Historische Zeitschrift 200 (1965), S. 1-60. 49 Klaus HERBERS, Der Jakobusweg, Tübingen 6 1998. 50 Unterwegssein im Spätmittelalter, hrsg. von Peter Moraw, Berlin 1985; Raymond OURSEL, Pèlerins du Moyen Age. Les hommes, les chemins, les sanctuaires, Paris 1978; Jean RICHARD, Les récits de voyages et de pèlerinages, Turnhout 1981. 51 Edmond-René LABANDE, Recherches sur les pèlerins dans l'Europe du Xle et Xlle siècles, in: Cahiers de civilisation médiévale 1 (1958), S. 159-169, hier: S. 167; korrigierte Datierung von V. Almazán bei HERBERS, Jakobusweg (Anm. 49), S. 19. Vgl. auch Ursula GANZ-BLÄTTLER, Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger (1320-1520), Tübingen 1990.
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Santiago, Rom vielleicht öfter - erbrachten im 12. Jahrhundert Herzog Heinrich der Löwe und viele seiner fürstlichen Standesgenossen52. Am Petrusgrab orientierten sich Ansprach und Wirklichkeit des römischen Papsttums. Sein Geltungsanspruch blieb auch in erzwungener Reduktion stets universal, erfasste aber faktisch nur jenes Abendland, fur das der Ordnungsbegriff „Papsteuropa" vorgeschlagen wurde53. Das Papsttum als Institution wie die römische sedes bildeten vor allem im Hoch- und Spätmittelalter den entscheidenden Bezugspunkt kirchlicher Existenz. Die internationale Forschung deckt derzeit beharrlich das in der Kurie zusammenlaufende Koordinatensystem der Papstkirche wie die daran anknüpfenden vielschichtigen Kommunikationsnetze auf 54 . Bei aller Nähe und Ferne zu den Nachfolgern Petri blieb im ganzen Mittelalter der Rang jener lieux de mémoire unstrittig, die sich mit den Päpsten und ihrem Hof verbanden, ob in Rom, in Viterbo oder in Avignon materialisiert, ob zeitweise durch die großen Konzilien in Konstanz oder Basel substituiert55. Der Erinnerungsort Rom konnte wandern: Der institutionelle Abstraktionsprozess war so weit vorangeschritten, dass Henricus de Segusio den berühmten Rechtssatz formulierte: ubi papa, ibi Roma - wo der Papst ist, da ist Rom.
5. Die Vielfalt europäischer Erinnerungsorte im Mittelalter Viele lieux de mémoire wurden in diesem knappen Abriss, der eher Perspektiven aufzeigen als das Thema abschließen wollte, nicht behandelt. Genannt werden sollen wenigstens: • Das Wissen um die monarchische Organisationsform politischer Verbände und die christliche Sendung der abendländischen Monarchien. Völker ohne Könige, wie die Alemannen oder Sachsen, gingen unter. Selbst im sozialen und institutionellen Wandel des Spätmittelalters wurde
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Reinhold RÖHRICHT, Die Deutschen im Heiligen Lande, Innsbruck 1894. Hans-Joachim SCHMIDT, Kirche, Staat, Nation. Raumgliederung der Kirche im mittelalterlichen Europa, Weimar 1999. 54 Vgl. Brigide SCHWARZ, Klerikerkarrieren und PfrQndenmarkt. Perspektiven einer sozialgeschichtlichen Ausweitung des Repertorium Germanicum, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 71 (1991), S. 243-265; DIES., Römische Kurie und PfrQndenmarkt im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für Historische Forschung 20 (1993), S. 129-152. Im Druck zu erwarten ist die Kölner Habilitationsschrift von Götz-Rfldiger TEWES, Rom und Europa vor der Reformation (masch. 1997). 55 Erich MEUTHEN, Das 15. Jahrhundert, München/Wien 1980; Walter BRANDMOLLER, Das Konzil von Konstanz 1414-1418, 2 Bde., Paderborn [u. a.] 1991-1997; Johannes HELMRATH, Das Basler Konzil 1431-1449. Forschungsstand und Probleme, Köln/Wien 1987; Heribert MÜLLER, Die Franzosen, Frankreich und das Basler Konzil (1431-1449), 2 Bde., Paderborn [u. a.] 1990. 53
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Jahrbuch ßXr Europäische Geschichte 3 (2002) die monarchische oder wenigstens hierarchische Ordnung nicht prinzipiell in Frage gestellt56. Die Lehre von der abendländischen Funktionsverteilung von Priestertum, Königtum und Gelehrsamkeit (sacerdotium, regnum, Studium), konkretisiert in der Zuordnung des Priestertums zu Italien, des Königtums zu Deutschland, des Studiums zu Frankreich57. Die Vorstellung von der gesellschaftlichen Gliederung in drei Geburtsstände, die von geistlichen Autoren des frühen 11. Jahrhunderts als Grundlage aller Ordnung seit Anbeginn des Menschengeschlechts stilisiert wurde58. Das Netz vornehmer europäischer Bildungsstätten, im 10. und 11. Jahrhundert der Domschulen von Lüttich, Magdeburg, Reims oder Bamberg, im 12. und 13. Jahrhundert der entstehenden Universitäten in Bologna, Padua, Paris oder Oxford, Zielpunkte von Scholarenwanderungen und Erinnerungsorte einer europäisch agierenden Bildungsgesellschaft59. Endlich die Hierarchie unterschiedlicher Erinnerungsorte wie Aachen, St-Denis, Prag, Krakau oder Westminster mit Geltung für die entstehenden europäischen Nationen des Mittelalters, wie Nancy, Dijon, Florenz, Braunschweig, Wien oder St-Gilles mit integrierender Bedeutung für die
56 Matthias BECHER, Non enim habent regem idem Antiqui Saxones. Verfassung und Ethnogenese in Sachsen während des 8. Jahrhunderts, in: Studien zur Sachsenforschung, hrsg. von Hans-Jürgen Häßler, Oldenburg 1999, S. 1-31; Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich, hrsg. von Reinhard Schneider, Sigmaringen 1987; Bernhard TÖPFER, Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie, Stuttgart 1999. 57 ALEXANDER VON ROES, Noticia seculi, hrsg. von Herbert Grundmann und Hermann Heimpel, Stuttgart 1958, cap. 12, S. 159. Dazu Manfred FUHRMANN, Alexander von Roes: ein Wegbereiter des Europagedankens?, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1994, 4, Heidelberg 1994; SCHMIDT, Kirche (Anm. 53), S. 525. Vgl. auch Werner GOEZ, Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958. 58 Georges DUBY, Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt a. M. 1981; Otto Gerhard OEXLE, Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens, in: Mentalitäten im Mittelalter, hrsg. von FrantiSek Graus, Sigmaringen 1987, S. 65-117. 59 C. Stephen JAEGER, The Envy of Angels. Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe, 950-1200, Philadelphia 1994; Joachim EHLERS, Dom- und Klosterschulen in Deutschland und Frankreich im 10. und 11. Jahrhundert, in: Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts, hrsg. von Martin Kintzinger [u. a.], Köln/Weimar/Wien 1996, S. 29-52; DERS., Die hohen Schulen, in: DERS., Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1996, S. 115-142. Peter CLASSEN, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hrsg. von Johannes Fried, Stuttgart 1983; Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hrsg. von Johannes Fried, Sigmaringen 1986; A History of the University in Europe, Bd. 1: Universities in the Middle Ages, hrsg. von Hilde de Ridder-Symoens, Cambridge 1992; Jacques VERGER, Les gens de savoir dans l'Europe à la fin du Moyen Age, Paris 1997.
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werdenden Territorien und Fürstentümer60. Ihre Vielfalt wie ihr Rang belegen die Tauglichkeit des auf Multizentralität zielenden Forschungsmodells lieux de mémoire und seine Bedeutung für die europäische Geschichte, die für die mittelalterliche Geschichte Europas vor allem die seiner Teile meint. Wir haben in diesem Beitrag Erinnerungsorte des Mittelalters von unterschiedlicher Qualität in den Blick genommen. Am Anfang stand das Wissen um die Einfügung Europas als dritter Teil der Welt in den Erdkreis. In der heilsgeschichtlichen Deutung wie im historischen Selbstbewusstsein wurde Europa zum Zielraum des größtmöglichen Fortschritts. Von den drei wichtigsten Erinnerungsorten Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela ausgehend, fragten wir nach Städten, Menschen und Institutionen mit ihren Vorstellungen und Ansprüchen. Als wichtiges Ergebnis konnten die strukturelle Offenheit wie flexible Anpassungsfähigkeit der hier betrachteten lieux de mémoire benannt werden. Schließlich fassten wir das typisch mittelalterliche Wissen von der Dynamik und Veränderlichkeit der eigenen Welt. Sie entstand in gewaltigen Wanderungen der Völker, blieb erfüllt von der Kenntnis des Ausgangs wie des Zielpunkts des göttlichen Heils in Palästina, ließ sich niemals auf ein (wie auch immer geartetes) Kerneuropa eingrenzen und wurde getragen von Institutionen mit einem nicht auf Europa beschränkten, sondern über Europa hinausweisenden Geltungsanspruch. Vom Ursprung wie von der Idee her ließen sich solche Erinnerungsorte kaum auf Europa reduzieren. Freilich formten sie die europäische Gedächtniskultur des Mittelalters, die sich aus ihrem Wissen um fremde Ursprünge und fremde Ziele nie in separierender Enge einrichten konnte. Erste Ideen von der Festung Europa blieben dem Ausgang des Mittelalters vorbehalten, als unter dem Eindruck der türkischen Bedrohung der Kontinent als Ideen-, Geschichts- und Wertegemeinschaft publizistisch entdeckt und propagiert wurde61. Just bei seinem faktischen Ausgriff auf die Welt richtete er sich in sendungsgeschichtlicher Selbstzufriedenheit ein, als er das universale Christentum faktisch für sich reklamierte und sein Konzept von Nation, Religion und Kultur über die Erdteile exportierte. Dabei ging das Wissen um die weiten multikulturellen Ursprünge Europas verloren. Erst die Migration der Moderne holt das neuzeitlich konstruierte Bollwerk des Glaubens, des Fortschritts und der Werte wieder ein. Heute würde man kaum noch die alte Verwandtschaft der trojanischen Brudervölker von Franken und Türken be-
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Vgl. die Bände der Reihe „Residenzenforschung". Oberblick für das Reich: Materialien zum Werk: Fürstliche Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastischtopographisches Handbuch, bearb. von Jan Hirschbiegel und Jörg Wettlaufer, Kiel 1999. 61 Die Idee Europa 1300-1946. Quellen zur Geschichte der politischen Einigung, hrsg. von Rolf Hellmut Foerster, München 1963; HlESTAND, Europa (Anm. 16); SEGL, Europas Grundlegung (Anm. 16).
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schwören, die mit ihren frühmittelalterlichen Vorläufern ohnehin kaum noch etwas gemein haben. Das gezielte oder unbewusste Vergessen der weiten Wurzeln für das Werden Europas aus asiatischem Aufbruch erfahrt derzeit auf ganz neue Weise sein hartes ökonomisch-demographisches „Update". Aus längst vergangenen Zeiten könnte der Mediaevist einer Forschung über europäische Erinnerungsorte berichten, dass die Alten schon längst um die universalen Zusammenhänge, um die Selbstverständlichkeiten der verändernden Kraft von Migration und um die multikulturelle Prägung des in erster Linie nehmenden Europa wussten. Wer solche weiten Wurzeln kannte, durfte den Prozess der christlichen Heilsgeschichte von Ost nach West mit einer gewissen Selbstsicherheit beschreiben. Borniertheiten aus einer ängstlichen Festungsmentalität, die weder ernsthaft zu empfangen noch zu geben vermochte, hätten die Konkurrenzfähigkeit der mittelalterlichen Kultur Europas dagegen rasch beendet. Die fuhrenden Köpfe jenes Jahrtausends zwischen 500 und 1500, die ihr Europa ins universale Ensemble einfügten, wussten das noch.
Summary This contribution discusses the concept of national places of remembrance places in a wide sense and tries to apply it to European Medieval History. Because of the period's long duration and its considerable spatial divergences this approach can only be partly successful, the more so as in the Middle Ages Europe was only exceptionally understood as a binding element. In spite of all differences, one can nevertheless identify European lieux de mémoire which reach beyond tribal or national constructs or geographical limitations: the inclusion of Europe into the greater whole of World and History stressing God's saving grace, the knowledge that Europe had been built by the migration of foreign peoples and of its Asian origin (Trojan myth) as well as Jerusalem as the starting- and focal point of Christian history. Moreover, many community-building, European points of reference can be found in the traveling habits of the medieval people, in their forms of living, and in their integrating perception of culture and society. Only during the modem period was this extensive knowledge about European conditions buried, and the Occident elevated to the measure of all things.
Europa als Peripherie in der Frühen Neuzeit Von Robert J. W. Evans Die Frühmoderne entbehrt der leicht erkennbaren Gedächtnisorte späterer Jahrhunderte, seien es Standbilder, Straßenzeichen oder was auch immer. Die geschichtliche Erinnerung bezog sich damals weniger auf konkrete loci communes. Ob es solche mit europäischer Tragweite überhaupt gab, hängt davon ab, inwieweit Europa in diesem Sinn präsent war, inwieweit nicht das Trennende das Verbindende in der Praxis fast immer überwog, ungeachtet dessen, dass im literarischen und philosophischen Schrifttum europabezogene Idealvorstellungen gang und gäbe waren. Da jeder Fachhistoriker auf diesem Gebiet seine eigenen Erfahrungen mit den wechselnden Konjunkturen der Europafrage zwischen Renaissance und Aufklärung gemacht haben dürfte, erscheint zu Anfang eine persönliche Verortung angebracht. Als Spezialist für Ostmitteleuropa möchte ich eine entsprechende empirische Fallstudie bieten, gleichzeitig aber als Historiker aus Großbritannien - knapper - über Aspekte der Rezeption des Europabewußtseins in meiner eigenen patria nachdenken. Dabei ist mit Blick auf unsere Fragestellung zu hoffen, dass die in erster Linie semantische Ausrichtung meiner Beobachtungen das Thema nicht zu eng fasst. Damit soll einer bestehenden Tendenz entgegengearbeitet werden, denn eigentlich ist der Gebrauch des Terminus „Europa" in meiner bisherigen akademischen Karriere größtenteils verhältnismäßig unreflektiert geblieben, wie wohl bei den meisten meiner Kollegen. Deshalb bedeutete die Mitwirkung an diesem Band des Jahrbuchs für Europäische Geschichte für mich eine Herausforderung - wenn ich auch einen Anflug von Skepsis gegenüber allzu weit gehenden Behauptungen über den Stellenwert von lieux de mémoire in der Epoche der Frühen Neuzeit immer noch nicht ablegen kann. Natürlich haben britische Historiker, die sich mit der Geschichte kontinentaler Länder befassen - übrigens ein vergleichsweise hoher Anteil der einheimischen Zunft - , „europäische" Geschichte betrieben wie Monsieur Jourdain die Prosa. Gewissermaßen (und auf diese Problematik ist später zurückzukommen) gilt das auch für die Geschichtsschreibung der britischen Inseln selber, als Bestandteile desselben Kontinents. Darüber hinaus kennen wir „gesamteuropäische" Geschichte als additive Gattung, welche grosso modo die Vergangenheit der verschiedenen Staaten und ihrer Beziehungen zueinander unter Nutzung gelegentlicher komparatistischer Elemente untersucht. Diese Sichtweise bildete sich zunächst besonders in der Zwischenkriegszeit heraus.
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Berühmt wurde die zuerst 1935 erschienene Zusammenfassung von H. A. L. Fisher, ehemals Universitätsrektor und Kultusminister, dann Warden von New College in Oxford. Fishers History of Europe behielt ihre Gültigkeit Jahrzehnte hindurch. Wer erinnert sich dagegen noch an European Civilization, its Origin and Development, herausgegeben von Edward Eyre, eine Serie des Oxforder Universitätsverlags in acht Bänden und fast 8.000 Seiten, die gleichzeitig mit Fisher vom Stapel lief?1 Seitdem gab es - um ein weiteres Beispiel herauszugreifen - The European Inheritance, ein ähnliches, wiewohl weniger ausladendes und weitschweifiges Unternehmen desselben Verlags, diesmal als Ergebnis einer Initiative der allierten Regierungen während des Zweiten Weltkriegs. Im vergangenen Jahrzehnt versuchten sich mehrere Autoren wieder - wie Fisher - im Alleingang an dem Thema2. All diese Abhandlungen erwiesen sich allerdings als weitgehend unergiebig für die Frage „europäische Idee". „We Europeans are the children of Hellas. [...] There is an European civilization. We know an European when we meet him", schrieb Fisher am Anfang seiner Darstellung. Aber er bot kaum festere Anhaltspunkte. Eyre begnügte sich mit einem Vorwort, wo er eine „long period, from Augustus and the beginnings of Christian Europe down to the seventeenth century" unterschied, „in which the sense of unity was keenly alive in the consciousness of European Society", und dies im Gegensatz zu „recent centuries in which an exclusive nationalism [man schrieb das Jahr 1934] has taken the front of the stage". Auch später begegnen wir nicht viel mehr als allgemeinen Hinweisen auf gemeinsame Traditionen. Eine Ausnahme unter den einschlägigen britischen Beobachtern bilden die bekannten Ausführungen von Denys Hay, die 1957, gleichzeitig mit den Schriften von überzeugten Verfechtern europäischen Gemeinguts wie Federico Chabod, Heinz Gollwitzer, Bernard Voyenne und Carlo Curcio veröffentlicht wurden3. Hay gelangte jedoch nicht über das 16. Jahrhundert hinaus - und fand kaum Nachfolger. In Großbritannien war - außer vielleicht in einigen katholischen Zirkeln - keine prise de conscience européenne wie bei
1 Eyres 7 Bände, 1934-39, führen von der Prähistorie über Griechenland und Rom, Mittelalter und Reformation (ein dicker Band für sich!) bis zur neuzeitlichen Entwicklung innerhalb des Kontinents und in seinen Kolonien. 2 The European Inheritance, hrsg. von Ernest Barker, 3 Bde., Oxford 1954. Vgl. in jüngster Zeit Norman DAVIES, Europe. A History, Oxford 1996; John ROBERTS, A History of Europe, Oxford 1996. 3 Denys HAY, Europe. The Emergence of an Idea, Edinburgh 1957, Neuausgabe ebd. 1968. Vgl. Federico CHABOD, Storia dell'idea d'Europa, Neuauflage hrsg. von Emesto Sestan und Armando Saitta, Bari 1962; Heinz GOLLWITZER, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1951, Neuauflage 1964; Bernard VOYENNE, Histoire de l'idée européenne, Paris 1952, Neuauflage 1964; Carlo CURCIO, Europa. Storia di un'idea, 2 Bde., Firenze 1958.
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den deutschen Nachkriegshistorikern zu verzeichnen4. Können wir daraus etwa auf die überaus wichtige Frage der (noch kaum geklärten) Einstellung damaliger Briten zum frühneuzeitlichen Europa Rückschlüsse ziehen? Darauf ist ebenfalls noch zurückzukommen. *
Unser Anliegen betrifft nicht nur „europäische Geschichte", nicht nur eine mutmaßliche „europäische Idee", sondern die Frage eines europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstseins, eine Vorbedingung für die Ausbildung einer gemeinsamen Erinnerungskultur. Man nimmt, so stelle ich mir vor, „europäische" Wesenszüge an - laut einer neueren Formulierung Heinz Duchhardts gehörten dazu Christentum, Recht oder Rechtsgefühl beziehungsweise Gesetzeskonformität, politische Repräsentation und namentlich Volksvertretung, Rechte des Individuums, die Verwendung von Linguae francae, grenzübergreifende gesellschaftliche Verbindungen, Überheblichkeit und Konkurrenzdenken5. Dann versucht man, die zeitgenössische Wahrnehmung dieser Charakteristika abzumessen. Da andere Autoren dieses Bandes die Aufgabe auf sich genommen haben, die zentralen Traditionen des christlichen Europa zu erläutern, möchte ich mich diesbezüglich mit einer kurzen Stellungnahme zufrieden geben, um die frühneuzeitliche Ausgangssituation darzulegen. Kernstück dieser Traditionen blieb weiterhin die zwar abgeschwächte, aber selbst nach dem Ausgang des Mittelalters auf allen Seiten noch anerkannte Universalmission Roms, die im Heiligen Römischen Reich ihre Verkörperung fand. Es gab kein anderes Reich (mit der teilweisen Ausnahme von Byzanz und seinem Erbe - wie noch anzusprechen sein wird - in Russland). Aber die romanischen Länder hatten ihren Anteil an denselben Traditionen, besonders Italien mit der Wiedergeburt klassischer Zivilisation in der Form des Humanismus und dann Frankreich im politischen Kräftespiel des 16. und 17. Jahrhunderts. Allmählich ersetzten freilich Rivalitäten das Ideal einer Universalmonarchie durch das frühmoderne Gleichgewicht der Kräfte, das Europa wie ex hypothesi als einen politischen oder diplomatischen Rahmen auf den Plan rief, wobei das Reich 4
Fritz FELLNER in: Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, hrsg. von Ernst Schulin, München 1989, S. 213-226; Winfried SCHULZE, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, bes. S. 211 ff.; Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, hrsg. von Hartmut Lehmann und James van Hom Melton, Washington DC 1994, bes. S. 12 ff. Von den britischen Katholiken hat Christopher Dawson am ehesten versucht wenigstens die Frühgeschichte „Europas" unter diesem Gesichtspunkt aufzuarbeiten. 5 Heinz DUCHHARDT, Was heißt und zu welchem Ende betreibt man - europäische Geschichte?, in: „Europäische Geschichte" als historiographisches Problem, hrsg. von Heinz Duchhardt und Andreas Kunz, Mainz 1995, S. 191-202.
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deutscher Nation noch gelegentlich als Muster herangezogen werden konnte. Diese Sachlage bildete eine Quelle der viel erörterten utopischen Europapläne der Epoche, von der Renaissancezeit über Sully (und den viel früher konzipierten, aber erst dann veröffentlichten Dubois) bis Penn, Saint Pierre und ihresgleichen. Die andere Quelle war die veränderte religiöse Lage im gespaltenen Christentum mit den daraus entstehenden Versuchen eines konfessionellen Ausgleichs. Letztlich begann dieses „alte" Europa sich gegen überseeische und koloniale Kontrastbilder abzuheben. Die Folge war eine Anmaßung in Bezug auf Europäertum, die ich im Zusammenhang mit britischen Perspektiven noch kurz veranschaulichen werde6. Aber schon früher hatte es eine Expansion, allerdings eine weit weniger anmaßende, gegeben, und zwar im Hochmittelalter und innerhalb des europäischen Kontinents. Genauer gesagt: als Hauptfaktor in der geistigen Ausgestaltung dieses Erdteils. Gemäß einer vor kurzem von Robert Bartlett aufgestellten und als „the making of Europe" umschriebenen These wurden „europäische" Werte zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert hauptsächlich im Kerngebiet erschaffen, jedoch insbesondere an der (neuen) Peripherie, unter Kolonisten und Konvertiten, nachgeahmt und infolgedessen verinnerlicht7. Diese Einsicht schöpft wahrscheinlich aus heutigen Erfahrungen mit der Europäischen Union, beschreibt jedoch keine bloße Randerscheinung und eignet sich besonders für eine Betrachtung der Frühen Neuzeit. Diesem Phänomen möchte ich folglich in einigen Ländern nachgehen, die nicht, oder nur in reduzierter Form, an den herkömmlichen politischen und kulturellen Herrschaftsgebilden der Territorien des Reichs und des Mittelmeerraums teilgehabt hatten. Meine längere Fallstudie gilt dem Werden eines Europabewusstseins in den östlichen Königreichen Ungarn, Polen und Böhmen (in gewisser Hinsicht könnte die Analyse auch auf Teile des Reichs - zu dem Böhmen formell gehörte - ausgedehnt werden). Hier hatten die Wiederbelebung des Vermächtnisses der Antike und dann das Vermächtnis des Humanismus selber für die eigenständige Entwicklung eines Europabegriffs ganz besondere Brisanz. Und dieser Stellenwert war nicht nur ein selbstbezogener. Letzten Endes räumte deqenige Denker und Politiker, der im Nachhinein häufig als geistiger Ahnherr Europas gepriesen wurde, der Prälat und
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Außer den oben angegebenen Zusammenfassungen, s. jüngst Heinz DUCHHARDT, Europabewußtsein und politisches Europa - Entwicklungen und Ansätze im frühen 18. Jahrhundert am Beispiel des Deutschen Reiches, in: Der Europa-Gedanke, hrsg. von August Buck, Tübingen 1992, S. 120-131; Winfried SCHULZE, Europa in der Frühen Neuzeit - begriffsgeschichtliche Befunde, in: „Europäische Geschichte" als historiographisches Problem (Anm. 5), S. 35-65. 7 Robert BARTLETT, The Making of Europe. Conquest, Colonization and Cultural Change, 950-1350, Harmondsworth 1993.
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spätere Papst Enea Silvio, in seinem Schaffen diesen Gebieten einen hervorragenden Platz ein8. *
Damit wurde der erste der drei Hauptgründe für diese Entwicklung schon angesprochen: das frühzeitige Auftreten einer intensiven und gut organisierten humanistischen Bewegung in den ostmitteleuropäischen Ländern, nicht zuletzt infolge günstiger geographischer und gesellschaftlicher Gegebenheiten. Man denke an Ungarn, das in Enea Silvios Text über Europa an erster Stelle erscheint. Hier gab es schon seit den 1460er Jahren ein Aufleben antiker Werte unter seinem Renaissancefursten Matthias Corvinus: mit dem Contubernium um Jan Vitéz, mit Einschluss des meisterhaften Dichters Janus Pannonius; mit der Bibliotheca Corvina und dem Mäzenatentum am Hof; mit vielen direkten Kontakten zu italienischen Akademien und Bildungsstätten9. In Böhmen wurde gleichzeitig die Erinnerung an Petrarcas Aufenthalt in Prag gepflegt und die intellektuelle Aufbruchsstimmung durch die bahnbrechende Landesgeschichte von Enea Silvio bestärkt, in der die Schlüsselrolle des Königreichs im europäischen Zusammenhang trotz der Verwüstungen der Hussitenkriege klar herausgearbeitet wurde. Gegen Ende des Jahrhunderts folgte eine Generation von einheimischen Humanisten, mit dem an der KarlsUniversität tätigen Gregor von Prag und seinen Schülern an ihrer Spitze. Unter ihnen ragten hervor die zwei leicht miteinander zu verwechselnden Vsehrds, Viktorin Kornel (sonst als Cornelius bekannt) und Jan Slechta, sowie Gregor Hruby von Jeleni and dann sein Sohn Sigismund (oder Gelenius), der später in Basel mit Froben zusammenarbeitete. Als die namhaftesten von allen galten bei ihren Zeitgenossen als Schriftsteller der adelige Dichter Johannes Hassenstein von Lobkowitz und als Mäzen Stanislaus Thurzo, über vier Jahrzehnte Bischof von Olmütz10. 8
Enea Silvios unvollendet gebliebene Schrift liegt in seinen Opera omnia, Basel ISSI, S. 387-471 vor. Vgl. Werner FRITZEMEYER, Christenheit und Europa, München/Berlin 1 9 3 1 , S. 1 8 - 2 9 ; HAY, E u r o p e ( A n m . 3 ) , S . 8 3 - 8 7 . 9
Tibor KLANICZAY, Egyetem Magyarországon Mátyás korában, in: Irodalomtôrténeti Közlemények 94 (1990), S. 575-611; DERS., Le mouvement académique à la Renaissance et le cas de la Hongrie, in: Hungarian Studies 2/1 (1986), S. 13-34; DERS., Das Contubernium des Johannes Vitéz, in: Forschungen über Siebenbürgen und seine Nachbarn, hrsg. von Kálmán Benda [u. a.], München 1988, Bd. 2, S. 227-243. 10 Allgemein: Studien zum Humanismus in den böhmischen Ländern, hrsg. von Hans-Bernd Harder und Hans Rothe, Köln 1988; Peter WÖRSTER, Der Olmützer Humanistenkreis unter Stanislaus Thurzó, ebd., S. 39-60 (zu Thurzó); Rado LENCEK, The Slavs, in: Renaissance Humanism: Foundations, Forms and Legacy, hrsg. von Albert Rabil, 3 Bde., Philadelphia 1988, Bd. 2, S. 335-375; Franüäek SMAHEL, Die Anfänge des Humanismus in Böhmen, in: Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa vor der Reformation, hrsg. von Winfried Eberhard und Alfred A. Stmad, Köln 1996, S. 189-214.
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Unterdessen übte die neue internationale Wissensrichtung eine tiefgreifende Wirkung auch in Polen aus. Über einheimische - wie Grzegorz von Sanok und zugewanderte Gelehrte - wie Callimachus und Celtis - wurde der Humanismus auf eine feste Basis gestellt, besonders an der Universität Krakau. Dies gelang schon zur Zeit des jungen Copernicus, bis er dann unter Sigismund I. und seiner Gemahlin Bona Sforza die königliche Gunst erlangte und an den Höfen mehrerer gebildeter Prälaten Aufnahme fand". Überall, aber speziell unter den Polen, wurde Erasmus zum höchstbewunderten Modell, und es gab vielerlei persönliche Kontakte zu ihm. Jan Laski (Lascovius), ein Neffe des polnischen Primas, wohnte bei ihm und kaufte seine Bibliothek auf, die er nach Erasmus' Tod in seine Heimat zurückschickte12. Es wurde hingegen - und hier sind wir schon beim zweiten Grund angelangt - immer schwieriger, diese Initiativen auf Dauer zu stellen. Drei Momente sind hier festzuhalten. Zum einen erlitt die Region eine Serie von Zerstörungen, die in Europa ihresgleichen suchten. In Böhmen hatte schon die Hussitenzeit die Musen schwer mitgenommen und die Wissenschaften zwischen theologische Kampflinien eingezwängt13. Aus diesem Konflikt erwuchs übrigens der Friedensplan des ähnlich wie Matthias Corvinus zum König aufgestiegenen Georg von Podëbrad, der sich zum ersten Mal auf explizit europäischer Ebene bewegte14. Dann kamen die türkischen Angriffe, die Ungarns kulturelle Infrastruktur weitgehend hinwegfegten und im ganzen südöstlichen Grenzgebiet auf zweihundert Jahre für verwilderte Verhältnisse sorgten. Das Schicksal der Bibliotheca Corvina nach 1541 wurde zum Topos - und generell diente diese Konfrontation weithin zur Verdichtung bewusst christlich-europäischer Traditionen15. Einige Jahrzehnte später, ab 1600, erlebte Böhmen als besonders exponierter Schauplatz des ruinösen Dreißigjährigen Krieges einen drastischen Niedergang. Gerade als dieser Konflikt seinem Ende zuging, fing es schließlich auch in Polen zu gären an. Massiv verschlimmerte sich der Zustand dort um 1700. 11 Harold B. SEGEL, Renaissance Culture in Poland. The Rise of Humanism, 1470-1543, Ithaca, NY 1989; und die sich überschneidenden Einführungen von Paul W. KNOLL in: The Copernican Achievement, hrsg. von Robert S. Westman, Berkeley 1975, S. 137-56; in: Science and Society: Past, Present and Future, hrsg. von Nicholas H. Steneck, Ann Arbor 1975, S. 19-44, und in: The Polish Renaissance in its European Context, hrsg. von Samuel Fiszman, Bloomington 1988, S. 189-212. 12 Polski slownik biograficzny 18 (1973), S. 237 f. 13 Vgl. die (etwas übertriebene) Argumentation bei Josef MACEK, Hlavni problémy renesance ν Cechách a na Moravi, in: Studia Comeniana et Histórica 35 (1988), S. -842. 14 Bekanntlich stammte dieser Entwurf von Georgs französisch-italienischem Ratgeber Antoine Marin/Antonio Marini. Vgl. The Universal Peace Organization of King George of Bohemia, hrsg. von J. Kejf undVáclav VanêCek, Praha 1964. 15 Allgemein: Marianna D. BIRNBAUM, Humanists in a Shattered World. Croatian and Hungarian Latinity in the Sixteenth Century, Columbus, Ohio 1986 (nicht sehr ergiebig für das Gesamtbild); Zusammenfassung DIES., in: Renaissance Humanism (Anm. 10), Bd. 2, S. 293-334.
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Zu gleicher Zeit - ein weiteres Moment - ging die staatliche oder überhaupt institutionelle Unterstützung infolge politischer und gesellschaftlicher Veränderungen ständig zurück. Die königlichen Höfe zogen sich aus der Region zurück oder büßten an Renommee ein. In Ungarn residierten nach 1526 keine Herrscher mehr, abgesehen von der verhältnismäßig bescheidenen Residenz der Fürsten von Siebenbürgen. Gleiches gilt fur Böhmen, mit der wichtigen, aber transitorischen Ausnahme des Rudolfinischen Prag. Nach dem Aussterben der Jagiellonen und dem Verfall der königlichen Autorität war die Lage in Polen kaum besser. Die quasi-höfische Rolle einzelner Magnaten und Kirchenfürsten konnte hier kaum Abhilfe schaffen. Dies alles gehört - drittes Moment - in einen breiteren Rahmen. Inner- und außerhalb der Höfe konnten die Verwaltungsstrukturen Ostmitteleuropas mit der allgemeinen Entwicklung nicht Schritt halten. Deshalb gab es vergleichsweise immer weniger Stellen und Kontakte für die nichtadelige Intelligenz mit humanistischer Ausbildung16. Der relative Rückgang des Städtewesens hatte ähnliche Folgen; darüber hinaus reduzierte er das Publikum für einheimische Drucker und für den Buchmarkt insgesamt. Dabei verkümmerten die schon bestehenden Universitätseinrichtungen - und neue kamen kaum hinzu. So unterhielt zum Beispiel das Prager Carolinum bis 1620 ein Netz von sogenannten „Partikularschulen", deren Lehrerschaft als Teil des humanistischen Engagements des Landes eine erstaunliche Menge von lateinischen Gelegenheitsgedichten und ähnlichem hervorbrachte, was jedoch dann völlig abbrach17. *
Wir haben es folglich mit früh erblühten Errungenschaften zu tun, die rasch wieder dahinwelkten - These und Antithese, die eine für Ostmitteleuropa eigentümliche Synthese ergaben. Wie wir als Historiker diese Leistungen auch 16
Vgl. Tibor KLANICZAY, Les intellectuels dans un pays sans universités, in: Intellectuels français, intellectuels hongrois, Xffle-XXe siècles, hrsg von Jacques LeGoff und Béla Köpeczi, Budapest 1985, S. 99-109. ' 7 Die Universität Prag diente nur der Religionsgemeinschaft der Utraquisten, aber ihre Schüler legtenen eine außerordentliche Produktivität in der Gattung lateinische' carmina an den Tag: Unter den zwischen 1550—1620 Graduierten scheinen nicht weniger als 65 Prozent der Bakkalaurei und 92 Prozent der Magister als Dichter im Handbuch von Jifi HEJNIC und Jan MARTÍNEK, Rukovëf humanistického básnictvi Ν Cechácha naMoravè,5 Bde., Praha 1966-1982, auf. Vgl. Frantiìek S M A H E L , Regionální pùvod, professionální uplatnëni a sociální mobilita graduovanych studentù praáské univerzity ν letech 1433-1622, in: Zprávy Archivu Univerzity Karlovy 4 (1983), S. 3-28; DERS., Die Karlsuniversität Prag und böhmische Humanistenkarrieren, in: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, hrsg von Rainer Christoph Schwinges, Berlin 1996, S. 505-513. Zu den ostmitteleuropäischen Universitäten vgl. allgemein Robert J. W. EVANS, Die Universität im geistigen Milieu der habsburgischen Länder, 17.-18. Jahrhundert, in: Die Universität in Alteuropa, hrsg von Alexander Patschowskyund Horst Rabe, Konstanz 1994, S. 183-204.
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beurteilen, sie lebten in der Region als Goldenes Zeitalter des Wissens und der Gelehrsamkeit weiter. Man war auf „nationale" Assoziationen oder Verbindungen erpicht; aber die Stimmung war im Grunde kosmopolitisch. Europa als Ganzes stellte den einzigen echten Maßstab für die Verdienste der Patria dar. Als unwesentliches, aber gerade deshalb typisches Beispiel führe ich die Prahlereien des gelehrten ungarischen Prälaten Nikolaus Olahs an zu den „aves rostratae, quas Galli begasas [bécassine], Germani vero sneppas vocant", also Schnepfen, die unter diesen Völkern als Delikatesse betrachtet würden, die in Ungarn jedoch unberücksichtigt blieben, weil dort überall noch feinere Leckerbissen zu finden seien18. Heftige, jedoch unruhige Loyalitäten, die aus Gefühlen der Verschanzung und Isolation schöpften. Die Beliebtheit von Justus Lipsius und des Neostoizismus in der Region um 1600 wird auf diese Weise erklärlich19. Hierher gehört das Vokabular vom „ B o l l w e r k " , vom antemurale oder scutum des Christentums oder des christlichen Europa. Diese Bezeichnung hatte ihre besondere Konjunktur anlässlich des polnischen Entsatzes Wiens im Jahr 1683, aber sie war nicht nur auf Polen gemünzt20. Auch Ungarn im Allgemeinen oder Kroatien als besonders anfälliger Punkt konnten auf die Anerkennung einer Märtyrerrolle Anspruch erheben. Umgekehrt gab es Anspielungen auf eine exotische Abstammung, wobei Polen, Ungarn und Südslawen als Nachfahren der Sarmaten beziehungsweise Hunnen oder Illyrer gelten wollten, also antiker Völker, die angeblich Erhebliches zum Fortschritt der Zivilisation beigesteuert hätten - eine deutliche Parallele zur deutschen Begeisterung für Tacitus. Die Rumänen besaßen hier eigentlich eine durchaus privilegierte Position, indem sie wahrhaftige „römische" Vorfahren geltend machen konnten. Zur damaligen Zeit waren es jedoch meist Fremde, welche diese Ansicht verfochten - und bekanntlich war für ihren berühmtesten klassischen Bewohner, Ovid, die Provinz Dacia lediglich ein bitteres Exil gewesen21. Bedenken wir zudem in diesem Zusammenhang Erasmus' bekannte zweischneidige Aussage über Polen: „Ich gratuliere einem Volk (gens), das einst wegen Barbarei in Verruf gekommen war, nun aber in der Literatur, in Geset18 Nicolaus OLAHUS, Hungaria - Athila, hrsg. von Coloman Epeqessy und Ladislaus Juhász, Budapest 1938, S. 31. Zu Olah allgemein: BIRNBAUM, Humanists (Anm. 15), S. 125-167, und die leider nur in rumänischer Übersetzung vorgelegte Edition seines Briefwechsels: Coresponden(ä cu umanisti batavi çi flamanzi, hrsg. von Comeliu Albu, Bucure$ti 1974. 19 Lipsius usw.: Gerhard OESTREICH, Antiker Geist und moderno' Staat bei Justus Lipsius. Der Neustoizismus als politische Bewegung, hrsg. von Nicolette Mout, Göttingen 1989. 20 Janusz TAZBIR, Polskie przedmurze chrzeácijañskiej Europy. Mity a rzeczywistoáóhistoryczna, Warschau 1987; Lajos HOPP, Aζ .antemurale' és ,conformitas' humanista eszméje a magyar-lengyel hagyományban, Budapest 1992. 21 Kroaten: BIRNBAUM, Humanists (Anm. 15); Draáen BUDISA in: Renaissance Humanism (Anm. 10), Bd. 2, S. 265-292; Branko FRANOLIÓ, Works of Croatian Latinists, Zagreb 1997. Rumänen: Adolf ARMBRUSTER, La romanità des roumains. Histoire d'une idée, Bucureçti 1977.
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zen, Sitten und Religion und in allem anderen, was vom Makel der Barbarei reinwäscht, derart erblüht, dass es mit den vornehmsten und berühmtesten Nationen (nationes) wetteifern kann"22. Diese Breite der Bezugnahme wurde durch die Vielgestaltigkeit der ostmitteleuropäischen Länder zusätzlich bestätigt. Multinationalität galt als besonders charakteristisch für die ungarischen und polnischen Länder und bis zu einem gewissen Grad auch für Böhmen; und sie wurde im Grunde noch für eine Tugend gehalten. Darüber hinaus bot sie Gelegenheit, vielseitige humanistische Karrieren zu gestalten, wie etwa im Fall von Andreas Dudith (oder Dudié, oder Sbardellato: erhellend sind schon die unterschiedlichen Formen seines Namens), der es vom am Tridentinum beteiligten ungarischen Bischof bis zum Krypto-Antitrinitarier in Breslau brachte23. Dementsprechend stark war für solche Menschen der territoriale Patriotismus, nicht nur gegenüber neuzeitlichen Staatsgebilden wie Ungarn, sondern auch gegenüber ihren ehemaligen oder vermeintlich klassischen Entsprechungen, wie der Provinz Pannonia24. Die sprachliche Dimension dieses Tatbestands war eine herausgehobene Stellung des Lateinischen, und zwar sowohl in praktischer als auch in symbolischer Hinsicht. Bis ins 18. oder sogar ins 19. Jahrhundert hinein behielt es seine übergeordnete Rolle im ganzen Bildungswesen, wobei patriotische Humanisten eine Symbiose mit den Volkssprachen anstrebten. Als Erläuterung zu seiner Geschichte Polens beschreibt Marcin Kromer seinen onomastischen modus operandi folgendermaßen: „Wir haben die barbarischen Ortsund Personennamen nach dem Exempel der alten griechischen und lateinischen Autoren so gebeugt, dass sie einen römischen Klang und sozusagen Staatsbürgerschaft gewinnen, jedoch ihre ursprüngliche Natur möglichst beibehalten konnten"25. In seiner Bearbeitung von Castigliones Cortegiano ersetzt Lukasz Górnicki die ursprüngliche Debatte über das Verhältnis des Toskanischen zu den anderen italienischen Mundarten durch Erörterungen zum Thema Polnisch und die klassischen Sprachen. 22
„Genti gratulor, quae quum olim ob barbariem male audierit, nunc et Uteris et legibus et moribus et religione, et se quid aliud est quod a barbariei probro vindicet, sie floreat et cum praeeipuis ac laudatissimis nationibus certare possit". Zitiert nach: SEGEL, Renaissance Culture (Anm. 11), S. 13. 23 Die äußerst „europäische" Gestalt Dudiths wird jetzt durch die Herausgabe seiner weitläufigen Korrespondenz neu beleuchtet: Epistulae, hrsg. von Lech Szczuckiund Tibor Szepessy, Budapest 1992 ff., bis jetzt 3 Bde. für 1554-73 und 1575. 24 Vgl. die einfühlsame semantische Untersuchung von Tibor KLANICZAY, Die Benennungen Hungaria und Pannonia als Mittel der Identitätssuche der Ungarn, in: Antike Rezeption und nationale Identität in der Renaissance; hrsg. von Tibor Klaniczay [u. a.], Budapest 1993, S. 83-110. 25 „Caeterum locorum & hominum barbara nomina exemplo veterum Graecorum & Latinorum scriptorum infleximus, ita ut Romanum quidem sonum & quasi civitatem aeeiperunt indolem tarnen suam genuinam, quoad fieri posset, retinerent [...]". Marcin KROMER, De Origine et rebus gestis Polonorum, Basel 1558, Vorwort
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Das Wörterbuch Albert Szenci Molnárs, des hervorragenden ungarischen Gelehrten der Jahrzehnte um 1600, sollte vorrangig ungarischen Studenten das Lateinische zugänglich machen; aber die Widmung an Kaiser Rudolf II. bringt in Form eines Stoßseufzers auch das Umgekehrte zum Ausdruck: „Wenn wir Ungarn in der Schmückung und Propagierung unserer Sprache nur die Mühe und den Fleiß der Lateiner und Griechen und derjenigen nachahmen könnten, die als ihre Nachfolger sich den Studien der Humanität hingegeben haben"26. Entsprechendes treffen wir in den zwei- oder dreisprachigen böhmischen Ländern an, wo Humanisten wie Hassenstein von Lobkowitz und Collinus in gebildeten Kreisen den ausschließlichen Gebrauch des Lateinischen befürworteten, während Cornelius als Wortführer seiner Umsetzung auftrat: .Mögen andere Leute neue Bücher auf Lateinisch verfassen und Wasser ins Meer gießen, um diese Sprache zu verbreiten. Ich ziehe es vor, mit meinen tschechischen Übersetzungen die Armen zu erreichen, statt mich mit schlechten und unerwünschten Geschenken bei den Reichen einzuschmeicheln"27. Unter diesen Verhältnissen nimmt es nicht Wunder, dass die neulateinische Dichtung nicht nur im Zeitalter von Janus Pannonius, sondern weit länger ihren Reiz für Ostmitteleuropa bewahrte. Sie entwickelte sich in Polen besonders intensiv. Dort gab es im 16. und sogar im 17. Jahrhundert eine Schar von europaweit bekannten Figuren wie Szymon Szymonowicz (Simonides) und Maciej Sarbiewski (Sarbievius). Letzterer, gemeinhin als „Christlicher Horaz" apostrophiert (er war übrigens Jesuit), diente König Wtadislaw IV. als Hofprediger. Seine Lyrik, geistlichen Lieder und sonstigen Gedichte wurden nicht nur in Mittel-, sondern auch in Westeuropa häufig aufgelegt28. Ahnliche Tendenzen lassen sich mutatis mutandis auch in deutschen Ländern beobachten, wo das durch römische Reminiszenzen verstärkte Reichsbewusstsein als Teil der gebildeten Selbstidentifikation fungierte und wo eine anders geartete, aber parallele Divergenz zwischen kultureller und territoria26
„Utinam vero et nos Ungari in ornanda et propaganda nostra lingua Latinorum Graecorumque et qui hos sunt secuti, populorum humanitatis studiis excuttorum, possemus imitan studia et diligentiam [...]". Albert MOLNÁR, Dictionarium Latino-Ungaricum et UngaricoLatinum, Nürnberg 1604, Vorwort 27 Zitiert bei MARTÍNEK in: Studien zum Humanismus (Anm 10), S. 294. 28 Lukasz GÓRNICKI, Dworzanin polski, Kraków 1566; vgl. Peter BURKE, The Fortunes of the Courtier. The European Reception of Castiglione's Cortegiano, Cambridge 1995, S. 90-93. Zu Sarbievius gibt es eine reichhaltige neuere Literatur, sowohl Krystyna STAWECKA, Maciej Kazimierz Sarbiewski, prozaik i poeta, Lublin 1989, und Studia Sarbeviana, Gniezno 1998, als auch die Editionen seiner Dii gentium/Bogovie pogan, hrsg. von Krystyna Stawecka, Wroclaw 1972, und seiner Liryki oraz Droga rzymska i fragment Lechiady, hrsg. von MiroslawKorolka, Wroclaw 1980; vgl. Polski slownik biograficzny35 (1994), S. 179-184. Zu Simonides vgl. die Editionen von Castus Ioseph, hrsg. von K. Górski [u. a.], Wroclaw 1973, und Dichtungen Sielanki, hrsg. von Jacek Sokolski, Wroclaw 1985. Vgl. allgemein Andreas ANGYAL, Die slawische Barockwelt, Leipzig 1961, bes. S. 88 ff.
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1er Zugehörigkeit aufkam, indem die Patria entweder vage supranational oder ausgesprochen „subnational", das heißt regional oder kleinstaatlich aufgefasst wurde. Im Reich trug dies bekanntlich zu der ebenfalls lange andauernden Herrschaft einer Fremdsprache bei. Überall nahm der lateinische Buchdruck in der gesamten Region wieder überhand: Die Zahl polnischsprachiger Ausgaben ging nach 1560 zurück; der Anteil lateinischer Titel an der ungarischen Buchproduktion stieg von rund 25 Prozent Mitte des 16. Jahrhunderts auf mehr als 60 Prozent noch im Jahre 173029. Es handelte sich um eine verspätete Übertragung des Stolzes eines Lorenzo Valla oder Erasmus auf die Kultur auf den Rest des Kontinents - eine europäische Kultur? - , die sich erstreckte, „soweit die lateinische Zunge klingt"30. Dazu kam noch die religiöse Vielfalt Ostmitteleuropas. Auch das begünstigte Formen der geistigen Toleranz, machte aus dieser Not, besonders im 16. Jahrhundert, häufig eine Tugend und legte vielen Intellektuellen (denken wir nur an Dudith zurück) kulturelle und politische Lösungen nahe, die allmählich als „europäisch" bezeichnet werden könnten und konnten. Nicht zufallig brachte diese Region die utopischen Betrachtungen eines Comenius hervor, die sich zwar - wie er schrieb - an „das Menschengeschlecht", aber „vor allen anderen an die Gelehrten, Geistlichen und Machthaber Europas" richteten31. Selbst nach endgültiger Festlegung der konfessionellen Spaltung blieb vieles noch gemeinsam, wenngleich abweichende Vorstellungen von kultischen Stätten unterschiedliche Orte des Gedächtnisses entstehen ließen.
Halten wir inne. Diese humanistische Begeisterung mit europäischem Anstrich ging Hand in Hand mit einem Mangel an kulturellen Landesinstitutionen und mit einer Undurchsichtigkeit der lokalen Verhältnisse. Natürlich gab es Neugründungen, sowohl unter katholischer als unter protestantischer Ägi29
Alodia KAWECKA-GRYCZOWA, Ζ dziejów polskiej ksiq2ki w okresie Renesansu, Warszawa 1975, S. 7-163, schildert den Aufstieg und den Niedergang des polnischen Buchwesens in der Renaissancezeit; Edit MADAS/István MONOK, A könyvkutaira Magyarországon a kezdetektôl 1730-ig, Budapest [1998], S. 165 ff.; vgl. MONOK, Leser oder Sammler? Die Veränderungen der Lesegewohnheiten an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert, in: Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich 12 (1997), S. 127-142, und DERS., Nationalsprachige Lesestoffe in Ungarn im 16. und 17. Jahrhundert, in: Latein und Nationalsprachai in der Renaissance, hrsg. von Bodo Guthmüller, Wiesbaden 1998, S. 137-149. 30 Vgl. Jacques CHOMORAL, Aspects de la conscience européenne chez Valla et Erasme [...], in: La conscience européenne au XVe et au XVIe siècle, hrsg. von der Ecole Normale Supérieure de Jeunes Filles, Paris 1982, S. 64-74; Marie Madeleine PAYEN DE LA GARANDERIE, Erasme: quelle conscience européenne? [...], ebd., S. 296-308. 31 „[...] ad genus humanuni, ante alios vero ad eruditos, religiosos, potentes Europae". Zit. nach: GOLLWITZER, Europabild und Europagedanke (Anm. 3), S. 43,350.
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de: Jesuitenkollegien in Böhmen oder Polen und die reformierten und lutherischen Schulen Siebenbürgens im 17. Jahrhundert. Das einheimische Bibliothekswesen und örtliche Verleger behaupteten sich. Vereinzelt und befristet konnten großartige Bildungsanstalten gestiftet werden, wie die Akademie des polnischen Kanzlers Jan Zamoyski - der bei Carlo Sigonio in Bologna studiert hatte und Gönner des Simonides war32 - in seiner neuen Renaissancestadt Zamoáé. Gelegentlich gab es königliche, fürstliche, ständische Unterstützung und nicht zuletzt städtische Patronage; ζ. Β. in Oberungarn, wo Städte wie Kaschau und Leutschau reich an Bibliotheken und Druckereien und die ethnisch meist deutschen Bürger mit viersprachigen kulturellen Traditionen konfrontiert waren. Am auffallendsten sind jedoch die Studienreisen ins Ausland und die gelehrten Verbindungen, die daraus entstanden. Für die Länder im Osten war die peregrinano académica noch wichtiger als für das Reich - kein Zufall, dass ihre Historiker dieses Phänomen schon ziemlich genau nachgezeichnet haben. Es handelte sich um Abertausende von Studenten, oft junge Adelige mit ihren bürgerlichen Präzeptoren, die eine Vielzahl von Universitäten and Akademien sowie gymnasia illustria aufsuchten, namentlich in Italien (an erster Stelle Padua) und Deutschland (an erster Stelle Wittenberg). Ein typischer Höhepunkt war 1615-1616 die Wittenberger Rektorschaft von Imre Thurzó, einem Sohn des ungarischen Palatins: Fast 200 unlängst veröffentlichte Briefe zeugen von dieser engen Verbindung, die jedoch infolge von Todesfällen und des Kriegsausbruchs nur von kurzer Dauer war33. Vieles aus der Tätigkeit dieser Studentenschaft ist uns erhalten geblieben: ihre alba amicorum und Tagebücher; ihre dissertationes und orationes\ ihre Gesellschaften (die coetus und sodalitates) und Bücherlisten; ihre Korrespondenz - ab Mitte des 16. Jahrhunderts können wir zum Beispiel die Briefe der Schüler zur Kenntnis nehmen, die sich als Stipendiaten der Stadt Leutschau im Reich aufhielten34. Es stellt wohl eine Art Bekenntnis zum Europäertum avant la lettre dar - selbst wenn die Leutschauer Briefschreiber häufig aus dem Latein ins Deutsche wechseln, um über ihre Geldnöte zu klagen. Und die 32
Zamoyski: Jerzy KOWALCZYK, W krçgu kultury dworu Jana Zamoyskiego, Lublin 1980; Stanislaw LEMPICKI, Mécénat wielkiego kanclerza: Studie O Janie Zamoyskim, hrsg. von Stanislaw Grzybowski, Warszawa 1980; Stanislaw GRZYBOWSKI, Jan Zamoyski, Warszawa 1994. Vgl. William A. McCUAiG, Carlo Sigonio. The Changing World of the Late Renaissance, Princeton 1989, S. 53 f., 70 f.; KAWECKA-GRYCZOWA, Ζ dziejów polskiej k s i ^ k i
( A n m . 2 9 ) , S. 2 2 9 - 3 0 9 . 33
A Thurzó család és a wittenbergi egyetem. Dokumentumok és a rektor Thurzó Imre írásai, 1602-24, hrsg. von Edit Dományházi [u. a.], Szeged 1989. 34 Lócsei stipendiánsokés literátusok. KülfÖldi tanulmányutakdokumentumai, 1550-1699, hrsg. von Tünde Katona und Miklós Latzkovits, Szeged 1990. Zu ihrem Verein in Wittenberg s. Andrés SZABÓ, Die soziale Struktur der Universitätstudentenschaft im Spiegel der ungarischen Studenten zu Wittenberg, in: Sozialgeschichtliche Fragestellungen in der Renaissanceforschung hrsg. von August Buck und Tibor Klaniczay, Wiesbaden 1992, S. 41-48.
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Zieluniversitäten wurden mit den Besuchergenerationen zu Tempeln oder gleichsam zu Gedächtnisorten dieser kosmopolitischen Anhänglichkeit. Das Wort Europa kam dagegen nur ziemlich zögerlich auf. Beim bahnbrechenden polnischen Topographen Maciej von Miechow, genannt Miechowita oder Miechovius, war es ganz früh vorhanden (1517), aber lediglich um die „europäische" von der „asiatischen" Sarmatia zu unterscheiden. Ebenso gebrauchte Erzbischof Olah den Terminus lediglich, um die zwei als verschiedenen Erdteilen zugehörig hingestellten Heimaten der Skythen auseinanderzuhalten35. Als ,Antemurale Christianitatis" (nicht „Europae") wurde diese Verteidigungsfunktion zumeist noch bis tief in die frühe Neuzeit hinein bezeichnet. Des öfteren - was schon angedeutet worden ist - sagte man Jota Europa" oder Ahnliches, um einen positiven Vergleich anzustellen36. Erst im 18. Jahrhundert setzte sich jedoch, wie mir scheint, der volle Wortgebrauch durch. Überhaupt gipfelte diese Entwicklung im Zeitalter der Aufklärung. In Ostmitteleuropa mündete der Humanismus organisch in den Neohumanismus ein. An die Stelle von Erasmus und Lipsius traten die großen philosophes. Bei den am stärksten französisch orientierten Polen kamen sogar der Landessprache angepasste Buchstabierungen (das Gegenteil des Verfahrens Marcin Kromers!) in Mode: „Monteskiusz" „Wolter", und „Russo". Die dauernde Identitätssuche leitete ins modern anmutende Minderwertigkeitsgefühl der ostelbischen Intelligenz über, die von einer zunehmend herablassenden Haltung des Westens begleitet wurde. Angeblich entstand damals aus dieser Beschaffenheit der Dinge heraus sogar die Bezeichnimg „osteuropäisch" - ein wichtiger Schluss für unsere Zwecke, obwohl die Beweisführung nicht einwandfrei ist37. Auf jeden Fall hob bis Anfang des 19. Jahrhunderts eine beeindruckende Verselbständigung der Nationalkulturen des Ostens an, die mit ihrer Europäisierung eng zusammenhing. Diese Entwicklung mit ihren dramatischen politischen Folgen gehört nicht hierher, wird uns aber am Ende dieses Essays noch beschäftigen. Statt chronologisch voranzuschreiten, möchte ich geogra-
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Maciej MIECHOWITA (Miechovius), Tractatus de duabus Sarmatiis Asiana et Europianea, Krakau 1517; Neuauflage als Descriptio Sarmatiarum Asiana atque Europea, ebd. 1521; dann als De Sarmathia Asiana atque Europea in: Novus Orbis regionum ac insularum veteris incognitarum, hrsg. von Simon Grynaeus, Basel/Paris 1532. OLAHUS, Hungaria - Athila (Anm. 18), S. 2. 36 Z. B. in Szikszai Fabricius Vazuls Vorwort zur vollständigeren Neuausgabe von Antonio Bonfínis Chronik (1565); s. Humanista tôrténetirôk, hrsg. von Péter Kulcsár, Budapest 1977, S. 14-28. 37 Larry WOLFF, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford, Cal. 1994. Zu den sich wandelnden westlichen Ansichten über Polen ist immer noch grundlegend Stanislaw KOT, Rzeczpospolita Polska w literaturze politycznej Zachodu, Kraków 1919; vgl. auch Die gelehrte Welt des 17. Jahrhunderts über Polen, hrsg. von Elida M Szarota, Wien 1972.
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phisch ausweichen, mit einem sehr kurzen Abstecher weiter nach Osten, dann einem Abschluss im Westen. Die hier erörterte lateinisch-humanistische Kultur des frühmodernen Ostmitteleuropa übte ihre Wirkung nicht nur innerhalb der Region aus. In den Provinzen Ruthenien, Wolhynien und Kiew - also in der heutigen Ukraine diente sie der Orthodoxen Kirche als Herausforderung. Die geistigen Sprecher dieser Kirche übernahmen wesentliche Bestandteile davon, gerade um ihren Widerstand gegen Rom und gegen westliche Einflüsse zu verfestigen. Klassisches Beispiel dafür ist das Kollegium, das später in eine Akademie umgetauft wurde, das um 1631 in Kiew von Peter Mogila (Mohila oder Movilä) gegründet wurde. Mogila selber war - wie die abweichenden Formen seines Namens widerspiegeln - eine äußerst internationale Figur mit humanistischer Ausbildung, ein Schützling des polnischen Königs und seines Kanzlers Zamoyski. Er sprach perfekt Latein, bewunderte die jesuitische Pädagogik und vermittelte beides seinen Schülern38. Nach der Eingliederung der Ukraine in den moskowitischen Staat ab den 1650er Jahren trug diese Kiewer Akademie viel zur Verwestlichung der russischen Kirche und des russischen Staats bei, worauf hier jedoch nicht näher einzugehen ist. Damit sind wir indessen bei der Frage angelangt, ob das damalige Russland überhaupt zu Europa gehörte. Bis dahin kaum: Namentlich das ostmitteleuropäische Beweismaterial sowie die fast einhellige Meinung der Humanisten sprechen dagegen39. Selbst die hochtönende Losung von Moskau als drittem Rom hatte wenig mit einem Europagedanken zu tun. Im 18. Jahrhundert änderte sich diese Situation grundsätzlich; nicht nur durch Russlands Mitgliedschaft im europäischen Gleichgewichtskalkül, sondern auch in der einheimischen Perspektive. Peter I. rief sich zum „Imperator" aus, mit betontem Anspruch auf die Reichstradition; sein Geograph Vasily Tatiâôev und andere verlegten die Grenze Europas vom Don an den Ural. Die Legenden um die zwei Sarmathien oder Skythien verblassten. Dann, wenn auch etwas verspätet, nahmen sogar Russen wie Desnitzky und Malinovsky am Pläneschmieden für ein befriedetes Europa Anteil40. 38
Teofil IONESCO, La vie et l'oeuvre de Pierre Movila, Paris 1944, liefert eine biographische Einführung. Zur Akademie: Ambroise JOBERT, De Luther à Mogila. La Pologne dans la crise de la chrétienté, 1517-1648, Paris 1974, S. 367 ff.; Alexander SYDORENKO, The Kievan Academy in the Seventeenth Century, Ottawa 1977. Mogilas ökumenische Ideale werden von Arkadji ZHUKOVSKII, Petro Mogila i pitannya ednosti tserkov, Paris 1969, hervorgehoben. 39 Gute Einführung bei Marie-Louise PELUS, Un des aspects de la naissance d'une conscience européenne: La Russie vue d'Europe occidentale au XVIe siècle, in: La conscience européenne (Anm. 30), S. 309-328. 40 Zur Akademie als Verwestlichungsanstalt: Ζ. I. KHYZHNIAK, Kievo-Mogilyanskaya Akademiya, Kiev 1988. A. O. CuBARYAN, Evropeiskaya idea ν istorii. Problemy voiny i mira, Moskva 1987, S. 65 f. (zu Tatiäiev), S. 125-145. Vgl. Conrad GRAU, Der Wirtschaftsorganisator, Staatsmann und Wissenschaftler Vasilii N. Tatiäiev, Berlin 1963. Peter als Imperator: Isabel de MADARIAGA Tsar into emperor. The title of Peter the Great, in: Royal and
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Ebenso wichtig wurde ein anderes, ebenfalls unvollständiges Bekenntnis zum frühneuzeitlichen Europa. 1620 (also im Jahr der Schlacht am Weißen Berg) veröffentlichte in Kaschau einer der fahrenden Studenten, Martin Szepsi Csombor, eine Beschreibung seiner Studienreise: überhaupt das erste ungarischsprachige Reisebuch. Sein Titel aber ist lateinisch: Europica Varietas - das Adjektiv (nur einmal verwendet im ganzen Band) hängt offensichtlich mit dem Hauptwort zusammen und deutet auf die Vielfältigkeit des Kontinents41. Es kam ihm wohl besonders deshalb in den Sinn, weil Szepsi Csombor nicht nur Polen, Deutschland und andere kontinentaleuropäische Länder kennengelernt hatte, sondern auch über den Ärmelkanal nach England vorgedrungen war.
England war gleichzeitig Zentrum der britischen Inseln und europäische Peripherie. Als Peripherie blieb seine Lage zweideutig. Auf der einen Seite betrachtete sich das England der Königin Elizabeth noch bewusst als Bestandteil der Christenheit; und die Literatur seines Goldenen Zeitalters wäre ohne europäische Bezugspunkte geradezu unvorstellbar42. Auf der anderen Seite hingegen gab es kartographisch in der bekannten Darstellung der „europäischen Jungfrau", mit Kopf in Spanien und Herz in Böhmen (zur Ermutigung der Tschechen) und mit Armen in Italien und Dänemark, keinen Platz für Britannien43. Einerseits erlebte seit Anfang des 17. Jahrhunderts der Grand Tour, die kontinentale Bildungsreise der englischen Oberschicht, mit ihren wenn man so will - „Orten der Erinnerung" (hauptsächlich Paris, Venedig und Rom) eine rasante Entwicklung. Andererseits herrschte daheim jedoch die merkwürdig schwache Latinität, die von Szepsi Csombor und vielen anderen Besuchern als Manko des dortigen Unterrichts und als Hindernis der Verständigung aufgefasst wurde. Wie verhielt sich überhaupt England zu Europa? Die Deutungsprobleme spiegeln sich in der Sprache wider44. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts geRepublican Sovereignty in Early Modern Europe, hrsg. von Robert Oresko [u. a.], Cambridge 1997, S. 351-381. 41 Márton SZEPSI CSOMBOR, összes müvei, hrsg. von Sándor Iván Kovács und Péter Knlcsár, Budapest 1968, S. 116-291. Bemerkensweiterweise bleibt in dieser äußerst akribischen Edition gerade das wichtigste Wort des Titels, „Europica", unberücksichtigt. 42 Franklin L. BAUMER, England, the Turk and the Common Corps of Christendom, in: American Historical Review 50 (1944-1945), S. 26-48. Jean-Phüippe GENET und MarieThérèse JONES-DAVIES, L'Europe pour les Anglais de la Renaissance. Figure de discours ou réalité?, in: La conscience européenne (Anm. 30), S. 144-169, S. 176-188. 43 Abbildungen in HAY, Europe (Anm. 3), Titelblatt, und La conscience européenne (Anm. 30), fig. 9. 44 Für das Folgende habe ich im Oxford English Dictionary und in anderen Standardwerken
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brauchte man immer öfter die Wendung „continent of Europe". Aber gehörte England dazu? „Continent" bedeutete ursprünglich Festland (so wie „Europa" zu Beginn das griechische Festland gegenüber den Ägäischen Inseln bezeichnet hatte); also beispielsweise „continent of England" gegenüber Isle of Wight. In diesem Sinn fing also der „Continent [of Europe]" bei Calais oder Ostende an. Die geographische, inklusive Bedeutung von „continent" entwickelte sich parallel, ohne die engere zu verdrängen. 1760 wird „continental" als Eigenschaftswort im engeren Sinn belegt; Napoleons „Continental System" - die verhasste Kontinentalsperre, blocus continental - hat diese Sinngebung sicher bestärkt. Noch heute unterscheidet man (aber lediglich in gepflegtem - und selbstverständlich schriftlichem - Englisch) zwischen „continent(al)" und „Continent(al)". Leider besitzen wir keine ähnlichen Maßstäbe für den Eigennamen „Europe" allein (einschlägige Arbeiten zur Semantik stehen meines Wissens noch aus). „European" findet sich schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts, wie in der 1593 entstandenen Verszeile „O pearle of rich European bounds"45. Später kam der inklusive Gebrauch auf, besonders unter der Oranier-Partei der Whigs im Kampf gegen Ludwig XIV. England hatte wichtigen Anteil an dieser Gleichgewichtsliteratur, Frucht eines „europäischen" Bewusstseins, das hier vermutlich stärker ausgeprägt war als vergleichsweise in Deutschland46. Bei den großen kosmopolitischen Autoren des 18. Jahrhunderts wird Europa sicher als umfassende Kulturgemeinschaft aufgefasst: so von Edward Gibbon als „realm of civilization", als „one great republic". Er äußert die Sorge, ob „Europe is still threatened with a repetition of those calamities which formerly oppressed the arms and institutions of Rome"47. Edmund Burke spricht noch häufiger von „this European world of ours" und ähnlichem. An einer berühmten Stelle seiner Kritik der Französischen Revolution, wo er sich dem kontinentalen Ancien régime besonders verbunden fühlt, fällt er sein Urteil über die gemeinsame Sache: „The age of chivalry has gone. That of sophisters, economists and calculators, has succeeded, and the glory of Europe is extinguished for ever"48. Solche Hinweise legen von einem inklusiven Europaverständnis klares Zeugnis ab. Mittlerweile ist dennoch sehr zu vermuten, dass der exklusive Sinn des Worts mindestens ebenso lebendig geblieben ist, speziell im Zunachgeschlagen. 45 John EUOT, Ortho-Epia Gallica: Eloit's Fruits for the French, London 1593. 46 A. D. SCHMIDT, The Establishment of „Europe" as a Political Expression, in: Historical Journal 9 (1966), S. 172-178; DUCHHARDT, Europabewußtsein (Anm. 6); SCHULZE, Europa (Anm. 6), S. 60. 47 Edward GIBBON, Decline and Fall of the Roman Empire, hrsg. von J. B. Bury, 7 Bde., London 1896-1900, Bd. 4, S. 163 f 48 Edmund BURKE, Reflections on the Revolution in France, in: Works, hrsg. von H. Rogers, 2 Bde., London 1827, Bd. 1, S. 409 f
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sammenhang mit der Verbreitung des Begriffs „(Groß-)Britannien". Die Anfänge dessen, was allmählich als „Britishness" empfunden wurde, sind in den letzten Jahren viel diskutiert worden, namentlich unter dem Einfluss von Linda Colley, die diese Identitätskonstruktion in Gegenüberstellung zu Frankreich, also zum Bild eines katholischen, absolutistischen, sogar geknechteten Europa, eindrucksvoll beschrieb49. An ihrer Auffassung ist manches auszusetzen, aber man braucht nicht allen Argumenten Colleys zuzustimmen, um in diesem Falle auf eine Art emotionelle Verselbständigung oder Entfernung vom Festland zu schließen, deren mit eigener urwüchsiger Ikonographie wirkende Mobilisierungskraft durch die hannoversche sowie weitere protestantische Verbindungen nicht aufgewogen werden konnte. An sich ist dieser Sachverhalt merkwürdig, denn die mitteleuropäische Reformation hatte der anglikanischen Weltanschauung starke Gedächtnisimpulse geliefert. Foxe's Acts and Monuments, im Volksmund das „Book of Martyrs", enthält eine Ahnengalerie von hussitischen, lutherischen und reformierten Blutzeugen. Mit der Zeit ging jedoch diese Zusammengehörigkeit in einer umfänglicheren auf, in der sich das Verhältnis zwischen einheimischen und fremden Elementen geändert hat. Wir können diesen Prozess an zwei britischen Beobachtern verfolgen. Anfang des 17. Jahrhunderts äußerte sich Samuel Purchas, Herausgeber einer langen Reihe von Beschreibungen weltumspannender Entdeckungsreisen, die er bezeichnenderweise „Pilgerfahrten" nannte, zu unserem Thema folgendermaßen: „The Qualitie of Europe exceeds her Quantitie, in this the least, in that the Best of the world. [...] If I speake of Arts and Inventions [...] what hath the rest of the world comparable? [...] Nature hath yielded herself to Europaean industry [...]". Hier wiederholt Purchas die Gemeinplätze von Humanisten wie Botero. Er fahrt jedoch in einer frommen Lobeshymne fort: „And is this all? Is Europe onely a fruitfull Field, a well watered garden, a pleasant Paradise in Nature? A continued Citie for habitation? Queene of the World for power? Nay, these are the least of Her praises, or His rather, who hath given Europe more than Eagle's wings, and lifted her above the Starres. [...] Europe is taught the way to scale Heaven, not by mathematical! principles, but by Divine veritie. Jesus Christ is their way, their truth, their life; who haft long since given a Bill of Divorce to ingrateñill Asia where hee was borne, and Africa the place of his flight and refuge and is become almost wholly and onely European" 50 .
Purchas, ein Londoner Geistlicher, der selber seinen Lehnsessel nie verließ, steigert also die herkömmliche religiöse Begründung des europäischen Zu49
Linda COLLEY, Britons. Forging the Nation, 1707-1837, New Haven 1992. Hakhiytus Posthumus or Purchas his Pilgrimes, 20 Bde., Glasgow, 1905-1907, Bd. 1, S. 244-255. Vgl. HAY, Europe (Anm. 3), S. 110,120 ff., und Jean-Claude MARGOLIN, L'Europe dans le miroir du Nouveau Monde, in: La conscience européenne (Anm. 30), S. 235-264. 50
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sammenhalts (bei Ortelius steht noch 1578 der Querverweis „Christiani, vide Europaei"51) unter gleichzeitiger Vorwegnahme materieller und globaler Rechtfertigungen. Während solche Rhetorik in anderen Ländern des Kontinents nur schwer Fuß fassen konnte - man denke an das Stichwort im Zedlerschen Lexikon aus den 1730er Jahren, das immer noch mit dem Europa-Mythos anfangt, dann über geographische Ausdehnung und Aufzählung der „Provinzen", das heißt Königtümer etc., bis zu physischen Merkmalen und Völkerschaften alles bündig und trocken wiedergibt52 - , wurde sie ausgerechnet in Großbritannien immer stärker von gebieterischen Tönen durchzogen. Ein Mitarbeiter an der dritten Ausgabe der Encyclopaedia Britannica war in den 1790er Jahren ebenfalls um Kurzinformationen bestrebt; allein was für ein Unterschied in der Stellungnahme! Ich erlaube mir ein längeres Zitat: „Europe is situated in the temperate zone; insomuch, that we neither feel the extremities of heat nor cold. We cannot boast of rich mines of silver, gold and precious stones; nor does it produce sugar or spices, nor yet elephants, camels, etc., which we can do without, but produces abundance of corn, pulse [Hülsenfrucht], fruits, animals, etc., the most necessary for the use of mankind. In general, it is better peopled and better cultivated than the other quarters; it is more full of cities, towns and villages, great and small, and its buildings are more solid and commodious than those of Africa and Asia. The inhabitants are all white; and incomparably more handsome than the Africans, and even than most of the Asiatics. The Europeans surpass both in arts and sciences, especially in those called the liberal, in trade, navigation and in military and civil affairs; being, at the same time, more prudent, more valiant, more generous, more polite and more sociable than they; and though we are divided into various sects, yet, as Christians, we have infinitely the advantage over the rest of mankind [...]" .
Damit wird einerseits Purchas gleichsam auf den neuesten Stand der Aufklärung gebracht. Andererseits fragt man sich, wer mit diesem selbstgefälligen „wir" gemeint ist, und man kann nicht umhin, eine britische Einstellung zu erkennen (man beachte in dieser Beziehung den Titel der Enzyklopädie) und die Stimme des aufkeimenden britischen Weltreichs zu vernehmen. Wie weit diese Aneignung europäischer Werte selbst im Wortgebrauch von Schriftstellern wie Gibbon und Burke - und vermutlich auch in der späteren Überlieferung bis hin zu Fisher und Eyre und ihresgleichen - mitschwingt, ist bei dem gegenwärtigen Stand der Forschung schwer zu beurteilen. *
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HAY, Europe (Anm. 3), 109. Großes vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste, hrsg. von Johann Heinrich Zedier, 64 und 4 Bde., Halle/Leipzig, 1732-1754, Bd. 8, Sp. 2192-2196. 53 Encyclopaedia Britannica, 18 Bde., Edinburgh31797, Bd. 7, S. 39 f (Kursiva von mir). 52
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Handelte es sich hier um einen Ersatz für Europäertum? Sicher haben wir es mit einer Insularität im strengen Sinne zu tun, denn Britannien - oder Großbritannien, wie der Länderkomplex ab 1604 in politischem Zusammenhang offiziell bezeichnet wurde - untermauerte gerade die Küsten der britischen Hauptinsel als Denkhorizont, mit Irland als Anhängsel. In diesem Inselreich war England der Kern und die anderen Länder Peripherien. Wenngleich „Britishness" gewissermaßen eine plumpe Großschreibung der Ansprüche Englands war und blieb (und diesen Tatbestand mag Colley wohl unterschätzt haben54), bedeutete es jedoch gleichzeitig eine Zähmung oder Anspannung der sonst auseinanderstrebenden Identitäten anderswo auf den Inseln. Wie verhielten sich nun diese Randgebiete zu Europa, unter den Fittichen des werdenden britischen Imperiums? Lässt sich ein Vergleich mit Ostmitteleuropa im Wechselspiel von nationaler und übernationaler Anhänglichkeit anstellen? In Schottland beobachten wir einen Prozess der Vereinigung oder Verquickung der europäischen Dimension. Die Traditionen der „Alten Allianz" (mit Frankreich) und der Auswanderung von Söldnern, Kaufleuten, Medizinern, später Ingenieuren und sonstigen vertrugen sich mit einer vollen Teilnahme am britischen Unternehmen, die mit der Union der Kronen 1603 und dem Zusammenschluss der Parlamente 1707 besiegelt wurde. Die soeben erwähnte Encyclopaedia Britannica zum Beispiel erblickte in Edinburgh das Licht der Welt. Die legendäre Frühgeschichte des Landes (seine Dalriadischen Könige und so weiter) wurde nur langsam und nicht völlig ausgeschaltet; die Ossianischen Dichtungen zeugen davon55. Indes entwickelte sich im 18. Jahrhundert eine Hochkultur, die bewusst europäische Geltung anstrebte; und selbst die Ossian-Begeisterung galt als gesamteuropäische Erscheinung, so wie Fingais Höhle zu einem Gedächtnisort der internationalen Romantik wurde. In Irland ging dagegen ein Prozess der Absonderung vor sich. Während protestantische Anglo-Iren sich zur britischen Vorherrschaft oder Ascendancy innerhalb und außerhalb der Insel bekannten, gestalteten sich die katholischen Traditionen vollends zur europäischen Alternative: mit Diaspora auf dem Kontinent, in Löwen, Prag, Salamanca, Rom ... Hier hielten sich die frommen Legenden bezeichnenderweise viel zäher als in Schottland, indem sie sich in auf Europa abgestimmte Mythen verwandelten. So beschreibt Mitte des 18. Jahrhunderts Thomas Comerford die altirische Milesische Zivilisation: „Ireland might then [in der Völkerwanderungszeit] be said to be to the rest of Europe, as Athens and Rome to the rest of the world in times of old; so much did learning flourish in this island". Man legte sogar einen alternativen Weg in 54
Vgl. Gerald NEWMAN, The Rise of English Nationalism. A Cultural History, 1740-1830, London 1987, der allerdings die britische Problematik völlig außer Acht lässt 55 Colin KlDD, Subverting Scotland's Past Scottish Whig Historians and the Creation of an Anglo-British Identity, 1689-C.1830, Cambridge 1993.
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Richtung der Welt der Aufklärung frei. Mit den Worten eines anderen Zeitgenossen aus Dublin: „AH the modern nations of Europe (the Irish alone excepted) are indebted to the Greeks and Romans for their letters and learning"56. In Wales vollzog sich eine dritte Art von Anpassung57. Unfähig, entweder mit England zu rivalisieren oder es zu umgehen, nahm das gebildete Wales die britische Identität als solche in Anspruch. Waliser der Renaissancezeit stellten sich als Nachkommen der Altbriten hin, als Nachfahren des sagenhaften Namengebers Brut(us), Enkel oder Großenkel von Aeneas. In diesem Sinne beriefen sie sich tatsächlich auf eine ur-„europäische" Abstammung. Auf der einen Seite wollten walisische Humanisten die bardischen Überlieferungen der Heimat bekräftigen. Gleichzeitig suchten sie jedoch internationale Geltung: vom wandernden Lehrer Leonard Coxe, der in Polen und Ungarn (und zwar im oben genannten Kaschau und Leutschau) wirkte und schon 1518 eine Oration De laudibus celeberrimae Cracoviensis Academiae veröffentlichte, bis zum gefeierten Meister des lateinischen Epigramms, John Owen, einem keltischen Zeitgenossen und Pendant zu Sarbievius. Gruffydd Robert und Sion Dafydd Rhys betätigten sich sogar als Philologen in Italien. In ihren Schriften kommen Wendungen wie „tota Europa" bemerkenswert oft vor58. Im Schatten der englischen Überlegenheit galt der Stolz dieser Humanisten namentlich der britischen, das heißt der kymrischen Sprache, die sie als älteste gerade im kontinentalen Vergleich priesen. Nach John Davies, dessen Grammatik und Wörterbuch des , .Britischen" den Gipfel dieser Versuche darstellt, unterscheidet sich diese ursprüngliche Sprache von „den anderen europäischen Zungen" und gleicht eher dem Hebräischen. Sie stand an der Wiege Britanniens (er zitiert Tacitus, Cäsar, Diodorus Siculus); sie blieb rein und unveränderlich, widerstand sowohl Latinisierungs- als auch Anglisierungstendenzen; sie eignete sich zum Vehikel sowohl fur die Gelehrtheit der Druiden als auch für die Religion in „der ersten Provinz, welche den Namen Christi öffentlich empfangen hat"59. Es entbehrt nicht der Ironie, dass diese „europäischen" Mythen schon hundert Jahre früher gegen einen Italiener, 56
Charles 0'CONOR, 1753, zit. bei Colin KlDD, Gaelic Antiquity and National Identity in Enlightenment Ireland and Scotland, in: English Historical Review 109 (1994), S. 11971214, hier: S. 1203 (Hervorhebung von mir; O'Conor schreibt „Scots alone [...]", meint aber damit im heutigen Sinn die Iren). Vgl. Ciaire O'HALLORAN, Irish Recreations of the Gaelic Past, in: Past and Present 124 (1989), S. 69-95. 57 Für das Folgende vgl. Robert J. W. EVANS, Wales in European Context Some Historical Reflections, Aberystwyth 2001. 58 Allgemeine Einführung: Ceri DAVIES, Welsh Literature and the Classical Tradition, Cardiff 1995. Die humanistischen Vorworte werden in Rhagymadroddion, 1547-1659, hrsg. von Garfield H. Hughes, Cardiff 1951 (walisisch), und Rhagymadroddion a Chyflwyniadau Lladin, 1551-1632, Cardiff 1980 (lateinisch, in walisischer Übersetzung) wiedergegeben. 59 John DAVIES (aus Mallwyd), Antiquae Linguae Britannicae [...] Rudimenta, London 1621; DERS., Antiquae Linguae Britannicae [...] Dictionarium Duplex, London 1632. Vgl. R. Brinley JONES, The Old British Tongue. The Vernacular in Wales, 1540-1640, Cardiff 1970.
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Polydore Vergil, verteidigt werden mussten, der sie im Namen der humanistischen Kritik in Frage gestellt hatte. Nach 1700 ging dieser engere kymro-britische Landespatriotismus langsam und unauffällig im breiteren Nationalgefiihl Großbritanniens auf. Die Entwicklung wurde durch den immer tiefer empfundenen und radikaleren Protestantismus der meisten Waliser beschleunigt, aber die Hauptrolle spielte sicher die Attraktivität identitätsstiftender Einflüsse aus dem englischen Raum. Waliser - und zumal erfolgreiche Waliser - fühlten sich meist als Mitglieder eines durch englische Werte geprägten, jedoch als britisch bezeichneten Weltreichs. Deswegen gab es hier lange Zeit hindurch keine kymrische Nationalbewegung im modernen Sinne. An dieser Peripherie des Kontinents ging der Mangel an politischem Nationalismus mit einem Mindestmaß an Europabewusstsein einher. Ganz anders im ostmitteleuropäischen Raum, auf den wir im ersten Teil dieses Essays unser Augenmerk richteten. Im Osten besaßen die Großreiche auf die Dauer viel weniger Anziehungskraft. Böhmen und Ungarn unter den Habsburgern sowie die geteilten polnischen Gebiete (von den Zuständen auf dem Balkan ganz zu schweigen) wurden zum Tummelplatz des neuzeitlichen Nationalitätenhaders. Das, was ich hier als (Proto-)Europäertum untersucht habe, gestaltete sich in einen Geltungsdrang um, der nach dem Ende des Aufklärungszeitalters das Aufkommen des Nationalgefuhls unterfutterte. An dieser anderen Peripherie des Kontinents und in einer dem britischen Beispiel entgegengesetzten Weise hatten sich europäischer Bezugsrahmen und lokale Eigenart gegenseitig ergänzt.
Summary This essay examines notions of Europeanness in the early modern period on the peripheries of the continent. It takes two case-studies. The longer of these argues that special circumstances in the lands of east-central Europe - their early exposure to the world of international humanism, which was subsequently stunted and fragmented there by a combination of political, social and economic debilitation - conduced to a substantial identification with "European" values on the part of educated elites. The second case-study introduces a comparison with the British Isles, where an initially parallel development was later transformed, though in different degrees for the separate nations involved, by the power and success of the "British" imperial idea.
Europäische Erinnerung und europäische Erinnerungsorte? Von
Günther Lottes Die Frage nach der Existenz europäischer Erinnerungsorte ist eine, die sich nicht - oder, genauer gesagt, noch nicht - auf dem Wege der Inventarisierung und Diskussion der jeweiligen Erinnerungsgegenstände beantworten lässt, wie sie Pierre Nora für die französische Nationalkultur durchgeführt hat. Sie führt im Gegenteil ins Zentrum der aktuellen Erinnerungsdiskussion, die, ausgehend von den Anregungen Jan und Aleida Assmanns, mittlerweile zu einem der hauptsächlichen Felder des Geltungsdiskurses geworden ist, den die Geisteswissenschaften angesichts der politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und nicht zuletzt technologischen Herausforderungen der letzten zweieinhalb Jahrzehnte zu führen begonnen haben. Zunächst sollte die Frage zu denken geben, dass uns die Suche nach europäischen Erinnerungsorten zu einem Zeitpunkt zu beschäftigen beginnt, da Europa erstmals in seiner Geschichte - und das nach einem Jahrhundert der politischen Katastrophen - auf dem Wege zu sein scheint, stabile kooperative, ja gesamtstaatliche Strukturen hervorzubringen. Spätestens seit Maastricht ist Europa mehr als ein Gedanke, welchem einzelne Idealisten anhängen mögen, vielmehr eine stetig an Bedeutung gewinnende politische und ökonomische Realität, die sich nicht zuletzt daran messen lassen kann, dass mittlerweile ein ausgeprägtes europäisches Identitätsbedürfnis heranwächst. Die Grundkonstellation ist der des 19. Jahrhunderts, das im Zeichen der Nationalstaatsbildung stand, nicht unähnlich. Auch hier spielte die kulturelle Unterfütterung der politischen Prozesse der Machtkonzentration eine enorme Rolle, ganz besonders in Deutschland, wo es galt, ein Staatsbildungsdefizit abzuarbeiten, das in den Gesamtstaatskonstruktionen Westeuropas überwunden worden war oder doch überwunden schien. Die im 19. Jahrhundert verdeckten ungelösten Probleme der Nationalstaatsbildung im britischen Archipel, in Spanien, in gewisser Weise sogar in Italien sorgen noch immer für politischen Zündstoff - ganz zu schweigen von Osteuropa, wo die Prozesse der nationalkulturellen Identitätsbestimmung sich erst spät entwickelt haben und letztlich noch gar nicht abgeschlossen sind. Aber wie erfolgreich oder defizient diese Prozesse auch immer gewesen sein mögen, in allen Fällen spielte die Konstitution der Nation als Erinnerungsgemeinschaft eine zentrale, wenn auch nicht allein ausschlaggebende Rolle.
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Die Geschichte hatte in Literatur und Wissenschaft von nun an Konjunktur, galt es doch zu zeigen, dass die neue bestimmende Kraft des Weltgeschehens, die Nation, eine in der Tiefe der Zeit wurzelnde Größe war. So verwundert es nicht, dass vor allem die Mediävistik und die Literaturgeschichte zu den nationalen Wissenschaften schlechthin wurden, die erstere um so mehr, je weiter sie in die historisch gleichsam ungesättigten Vergangenheiten der postimperialen Frühzeit der europäischen Völker zurückgriff, letztere, weil die Idee der Nationalliteratur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert fur die nationale Identitätsbestimmung besonderes Gewicht bekommen hatte. Die Nation definierte sich nicht nur als Erinnerungs-, sondern auch als Sprachgemeinschaft. Die Nähe von Historiographie und Literatur, die im historischen Roman im Grunde unfreiwillig auf ihren fiktionalen Begriff gebracht wurde, ist bezeichnend. Beide waren um die Verfertigung von Identitätserzählungen bemüht und folgten ungeachtet der methodischen Standards, welche die Geschichtswissenschaft entwickelte und zum Ausweis ihrer Wissenschaftlichkeit machte, den einschlägigen Regeln, was die Auswahl der Stoffe und die Dramaturgie der Handlung anging. Das Geschichtsbewusstsein der europäischen Völker ist bis heute von diesen nationalen Identitätserzählungen geprägt, auch wenn Frühgeschichte und Mediävistik längst aufgehört haben, „hervorragende nationale Wissenschaften" im Sinne des Buchtitels zu sein, mit dem der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Ur- und Frühgeschichte, Kossinna, das Selbstverständnis seines neu konstitutierten Fachs beschrieb. Diese Zählebigkeit erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass die Identitätsgeschichten des 19. Jahrhunderts nicht nur erzählt, sondern auch vergegenständlicht und verörtlicht wurden, in Bauwerken und Denkmälern, die haltbarer sind als die Geschichten selbst und deren Pflege wir gewissenhaft und wesentlich unkritischer betreiben als die der ihnen zugrunde liegenden Geschichten. Zwischen Denkmalpflege und Geschichtswissenschaft besteht nicht hinsichtlich des Konservierungsinteresses, sondern hinsichtlich der Präsentationsinteressen allemal ein Spannungsverhältnis. Ich möchte diese Gesichtspunkte hier nicht weiterverfolgen, weil es mir nur darum geht, deutlich zu machen, dass die Erinnerungsorte, auf die uns Pierre Nora aufmerksam gemacht hat, gerade nicht das sind, was er in ihnen sieht. Sie sind eben nicht „privilegierte und eifersüchtige Heimstätten", in die sich das Gedächtnis geflüchtet hat, um dort durch die „Wacht des Eingedenkens" vor der Zersetzung durch eine feindliche Geschichte geschützt zu werden. Noras Fluchtburgen des Gedächtnisses sind rezente Aufschüttungen, die Wächter des Eingedenkens sind, sind, historisch gesehen, jung. Erinnerungsorte sind Kreationen, die einerseits von den Konstellationen von Erinnerungsinteressen und andererseits von den kommunikativen und medialen Rahmenbedingungen in einer Gesellschaft bestimmt werden. So war das do-
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minante Erinnerungsinteresse des 19. Jahrhunderts, auf welches das Programm der lieux de mémoires zurückgreift, das des nationalen Bürgertums. Das Medium ihrer Durchsetzung war die Literatur, belletristisch oder wissenschaftlich, aber gleichermaßen fiktional. Sind Erinnerungsorte also nichts weiter als interessen- und zeitbestimmte Konstruktionen, die nach Belieben kreiert, wenn auch nicht unbedingt nach Belieben wieder aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht werden können? Können wir uns also, wenn dem so wäre, ganz so wie die Historiker des 19. Jahrhunderts als Schamanen der Sinn-, Traditions- und Gemeinschaftsstiftung ans Werk machen und europäische Erinnerungsorte konstruieren, um den aktuellen Prozess des politischen und ökonomischen Zusammenwachsens kulturell zu unterfuttern? Oder ist Erinnerung am Ende doch mehr als eine von der jeweiligen Gegenwart her bestimmte Operation: etwas, das sich unabhängig von den sich erinnernden Zeitgenossen gleichsam aufdrängt? Ist die Verwissenschaftlichung des Erinnerungsprozesses möglicherweise ein Korrektiv? Die Antwort auf diese Fragen muss vielschichtig und in mancher Hinsicht auch unbefriedigend ausfallen, weil die Erinnerung als Forschungsgegenstand erst seit kurzem auf die Tagesordnung der Geschichts- und Sozialwissenschaften gesetzt worden ist und materialgesättigte Untersuchungen erst vereinzelt vorliegen. Immerhin lassen sich einige grundsätzliche Überlegungen anstellen: 1. Erinnerung lässt sich nicht von Erfahrung trennen, weder individuell noch kollektiv, sondern stellt sich vielmehr als eine Technik des Umgangs mit Erfahrungen dar. Vergangene Erfolge können heroisiert, vergangene Niederlagen und Katastrophen vergessen werden. Dazwischen liegt ein breites Spektrum der Umdeutungsmöglichkeiten, die das eigentliche Brot der Erinnerungsforschung sind. Der klassische Fall sind Kriegserinnerungen, vor allem dann, wenn sie nur so weit zurückliegen, dass Zeugenschaft noch möglich ist. In der deutschen Aufarbeitimg des Vernichtungskriegs im Osten spielte etwa die Unterscheidung zwischen der bösen SS und der guten Wehrmacht lange Zeit eine Schlüsselrolle, die schließlich sogar von der Filmindustrie Hollywoods aufgegriffen wurde. Erst die Wehrmachtsausstellung hat diesen für die deutsche Nachkriegsgeschichte zentralen Mythos angekratzt und entsprechende Proteste hervorgerufen, weil er die bei der Westintegration Deutschlands wichtige Unterscheidung zwischen bösen und guten Deutschen verwischte. Helmut Kohl war bei der fünfzigsten Wiederkehr des D-Day überrascht, dass die ehemaligen Alliierten es vorzogen, bei diesem Jubiläum unter sich zu sein. Amerika hat seine Niederlage im Vietnamkrieg nie akzeptiert, sondern erringt den Sieg nachträglich auf der Leinwand unter Einsatz aller nur denkbaren pyrotechnischen Möglichkeiten. Vermutlich werden sich künftige Gene-
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rationen des Vietnamkriegs als eines gigantischen Feuerwerks erinnern, während die Bilder napalmverbrannter Kinder und fiir ihr Leben gezeichneter US-Soldaten allmählich in Vergessenheit geraten. Invaliden waren noch nie ein gutes Erinnerungsobjekt. 2. Erinnerung kann vollkommen fiktiv sein, bleibt aber immer um Authentizität bemüht, wie immer die Authentizitätsstandards auch aussehen mögen, die in der jeweiligen Wissensordnung angelegt sind. Humanistische Chronisten bemühten etwa bei ihren Stadtgründungserzählungen die Etymologie. Aufgeklärte Gelehrte operierten mit den Denkfiguren der Natürlichkeit und des prozesshaften Wachstums. Die Historiker des 19. Jahrhunderts entwickelten die Kunst der Quellenkritik und gaben ihrem Interpretament der mittelalterlichen Geschichte eine methodologische Dignität, deren Wirkungen bis heute spürbar sind. Im Zentrum der Authentizitätsbemühung steht die Idee der Überlieferung, also die Vorstellung einer durch Texte und Artefakte sprechenden Vergangenheit, die nötigenfalls mittels geeigneter Analysetechniken eben auch zum Sprechen gebracht werden muss. Erinnerung ist, so gesehen, nicht willkürlich, sondern stützt sich auf eine Überlieferung, auch wenn das, was überliefert worden ist, den Interpretationsinteressen der jeweiligen Zeitgenossenschaft ausgeliefert bleibt. 3. Die Erinnerung verdichtet sich schließlich zur eigentlichen Realität, so dass man sich am Ende nicht mehr einer vergangenen Erfahrung, sondern der Erinnerung selbst erinnert. Allerdings bleibt dieser Prozess immer durch das Spiel der Erinnerungsinteressen gebrochen. Sicherlich gibt es Erinnerungsgemeinschaften, in denen im Wege der Machtausübung eine Erinnerungshegemonie durchgesetzt wird. Verwiesen sei auf die Sowjetunion, in der selbst solche Artefakte wie Bilder in der Sowjetenzyklopädie manipuliert wurden, um den jeweils aktuellen Erinnerungsinteressen zu genügen. Aber selbst unter totalitären Bedingungen hat sich die Pluralität des Erinnerungsgeschehens nicht gänzlich unterdrücken lassen. Gesellschaften begründen keine geschlossenen Erinnerungsgemeinschaften. Allenfalls lassen sich verschiedene Erinnerungsschichten unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Grade der Konsensualität repräsentieren. Überall in Europa, wo der Versuch unternommen worden ist, eine Erinnerungshegemonie zu schaffen, haben sich gleichsam subkutane - oder besser noch: subversive - Erinnerungsentwürfe erhalten, ob in Irland und Schottland, ob in Katalonien oder im Baskenland, ja sogar in einigen Teilen Frankreichs. Im Deutschen Reich blieb selbst auf dem Höhepunkt der Borussifizierung eine teils folkloristische, teils auf dem methodischen Niveau der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft operierende Landesgeschichte lebendig. A forteriori wird diese Kontrollfunktion der Pluralität der Erinnerungen natürlich in der Konkurrenz verschiedener Erinnerungsgemeinschaften wirk-
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sam. Ein Vergleich der Sichtweisen der nationalen Mediävistiken auf die Völkerwanderungszeit oder das Reich Karls des Großen und die differierenden epochalen Akzentsetzungen der jeweiligen Meistererzählungen machen dies deutlich. In der Adelsgesellschaft der Frühen Neuzeit wurde diese Erinnerungskonkurrenz offen ausgetragen, indem dynastische Dignität und Ansprüche symbolisch miteinander verglichen wurden. In der nationalstaatlichen Erinnerungskonkurrenz des 19. und 20. Jahrhunderts ging diese Offenheit dann zunehmend verloren. Die nationalen Erinnerungsgemeinschaften zogen es vor, sich, so gut es ging, voneinander abzuschütten oder Alteritäten zu pflegen. *
Was bedeutet dies alles nun für unsere Frage nach der Existenz einer europäischen Erinnerung und nach europäischen Erinnerungsorten? Ich möchte die Antwort aus drei Blickwinkeln versuchen: Erstens wäre zu prüfen, ob es vielleicht tatsächlich eine gemeineuropäische Erfahrung gab, die, den jeweiligen Authentisierungsstrategien folgend, zum Erinnerungsgegenstand geworden ist oder hätte werden können. Zweitens ist nach Formen der verdichteten Erinnerung im oben angesprochenen Sinn zu fragen. Drittens schließlich sollen drei spezielle Erinnerungsgemeinschaften in den Blick genommen werden, bei denen ein europäisches Bewusstsein vermutet werden kann. Was die Erfahrungsproblematik angeht, so könnte man von der Vermutung ausgehen, dass die Alteritätserfahrungen nicht nur einen höheren Verbreitungsgrad, sondern auch eine größere Konkretheit aufwiesen als Identitätserfahrungen und dementsprechende Erinnerungsspuren hinterlassen haben. Die Konfrontation mit dem Islam vom Abwehrkampf in der spanischen Mark über die Kreuzzüge bis zu den Türkenkriegen oder die Entdeckung der Neuen Welt und Asiens kämen sicherlich in erster Linie als Bausteine eines gesamteuropäischen Gedächtnisses in Frage. Jerusalem, Acco, Konstantinopel, Mohács, Lepanto und Wien bleiben als europäische Erinnerungsorte indessen merkwürdig blass. Die Molukken und Mexiko, Kasan oder der Kyber-Pass ebenso. Das mag daran liegen, dass das Kreuzzugsabenteuer sich letztlich als Fehlschlag erwies, der in der dynastischen und adeligen Erinnerung vielleicht nicht unbedingt verdrängt, aber doch auch nicht besonders wirkungsvoll in Szene gesetzt werden konnte, während die Erinnerung an die Araber-, Mongolen· und Türkenabwehr offensichtlich regionalisiert wurde. Besonders die letztere Beobachtung gilt mutatis mutandis auch für die Begegnung Europas mit der übrigen, außereuropäischen Welt. Die Fragmentierung der politischen Gewalt in Europa arbeitete offensichtlich schon in der Frühen Neuzeit gegen die Einheit der Erinnerung. Und dieser Trend hat sich im Europa der Natio-
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nalstaaten zwangsläufig noch verstärkt. Die europäische Erinnerung blieb gleichsam ohne geeignetes Erinnerungssubjekt. Gibt es, wenn schon die europäischen Alteritätserfahrungen wenig hergeben, gesamteuropäische Identitätserfahrungen, auf welche europäische Erinnerung zurückgreifen könnte? Gegen den Trend der aktuellen politischen Entwicklung ließe sich behaupten, dass die einzige gesamteuropäische Erfahrimg diejenige der Nicht-Einheit, diejenige des Gegeneinanders und des Konflikts, diejenige der Differenzierung ist. Nicht nur die Verteilung der politischen Macht, sondern auch die kulturelle Kommunikation war in Europa immer schon und zumal nach dem Untergang des Mittelmeerimperiums der Römer herrschafts- und kulturräumlich gebrochen. Nicht einmal zwischen Herrschafts- und Kulturräumen bestand Deckungsgleichheit. Deutschland bildete einen Kulturraum, der in sich vielfach herrschaftlich zersplittert war; das Habsburgerreich bildete einen auf lange Sicht doch ziemlich stabilen Herrschaftsraum, der in sich vielfach kulturell differenziert war. Liegt die Identität Europas als Erinnerungsgegenstand also im eigentlichen Sinne in seiner Nicht-Identität? Oder gibt es doch eine überwölbende Gemeinsamkeit, die hinter den ubiquitären Fragmentierungen ein europäisches Bewusstsein zusammenhält? Diese Frage führt zum zweiten oben genannten Gesichtspunkt, zu der verdichteten Erinnerung, die schließlich eine Realität eigener Art erzeugt. Die beiden wichtigsten Erinnerungshorizonte in dieser Hinsicht waren zum einen das Christentum und zum anderen die Antike, welche die europäische Literatur und Musik, Malerei und Architektur, Philosophie und Geschichte bis weit in das 19. Jahrhundert exklusiv geprägt haben. Das Kreuz auf Golgatha und Rom - Rom in seiner doppelten Eigenschaft als Zentrum des vorchristlichen Imperiums und als Kultmittelpunkt der europäischen Religion - sind sicherlich mächtige Erinnerungsorte, weil sie Europa als eine Text- und Bildgemeinschaft konstituiert haben. Dabei spielt es im Grunde keine Rolle, dass die einmal kanonisierten Texte von ihren ursprünglichen Ereigniszusammenhängen weitgehend abgekoppelt wurden. So ist die Antike durch teleskopische Überblendung verschiedener Zeithorizonte zu einer dekontextualisierten Klassik geworden, zu einem virtuellen Altertum mit normativem Anspruch, das es so nie gegeben hat. Aber dieser Anspruch wirkte europaweit. Ahnliches gilt für das Christentum, das die Überlieferung seiner Gründungserzählung vielfach gefiltert hat. Dennoch hat sie europaweit Geltung erlangt. Die jeweiligen Kanonbildungen und Texte trugen ihre Authentizität in sich und sind erst durch die moderne Forschung kontextualisiert und historisiert worden. Die Mächtigkeit dieser Tradition rührte vor allem daher, dass die Texte, um ihren Aussagen Geltung zu verschaffen, in einer nicht oder nur sehr oberflächlich textlichen Welt von Anfang an in Bilder und Rituale übersetzt wer-
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den mussten. Nicht nur, dass der Alphabetisierungsgrad selbst der Eliten gering war, die der Tradition zugrunde liegenden Texte waren schlicht nicht verfügbar. Die Bilder, die auf der Grundlage dieser Texte verfertigt wurden, dagegen waren es. Sie waren für jedermann in den Kirchenbauten sichtbar, fanden als mehr oder weniger krude Holzschnitte sogar Eingang in die einzelnen Haushalte. Und das christliche Publikum antwortete in dieser Bildsprache, wenn es Votivbilder oder andere Votivgaben in Auftrag gab. Etwas mehr als ein halbes Jahrhundert nach Einfuhrung des Buchdrucks ging diese Welt aus den Fugen. Die neue Zugänglichkeit der antiken und der christlichen Überlieferung setzte ihrer ohnehin immer wieder angezweifelten Eindeutigkeit ein dramatisches Ende. Das antike Erbe geriet in den Sog kulturräumlicher Differenzierungen. So bestehen zwischen dem englischen, dem französischen und dem deutschen Kulturraum beträchtliche Unterschiede hinsichtlich der epochalen und räumlichen Rezeption des antiken Erbes. Während sich in den oberitalienischen Kommunen und England eine partizipatorische Tradition herausgebildet hat, die John Pocock in Anlehnung an Hans Baron als Macchiavellian Moment in der atlantischen politischen Tradition identifiziert hat, blickten die Fürstenstaaten des Kontinents offensichtlich lieber auf die frühe Kaiserzeit zurück. Besonders Augustus und Trajan standen hoch im Kurs. Der Zerfall der Respublica Christiana stellte sich noch dramatischer dar, seitdem Martin Luthers Glaubensrevolution die Erlösungsidee von der Heilsvermittlungskirche imperial-bürokratischer Provenienz in das Gewissen des Gläubigen verlagert hatte. Die konfessionelle Spaltung sollte den Kontinent für Jahrhunderte prägen und die einheitsstiftende Kraft des christlichen Erbes geradezu in ihr Gegenteil verkehren. Das Gesetz der Macht sorgte zwar dafür, dass die zentrifugale Dynamik des protestantischen Prinzips in die herrschaftsräumlichen Gegebenheiten gezwungen wurde. Es bildeten sich protestantische National- und Territorialkirchen von durchaus unterschiedlicher Integrationskraft. Wir müssen diese Prozesse hier nicht weiter thematisieren. Für die Frage nach einer europäischen Erinnerungskultur und nach der Existenz europäischer Erinnerungsorte sind sie in zweifacher Weise von Belang: Zum einen ist europäische Erinnerung auf einer im weitesten Sinne des Wortes zu verstehenden Textgrundlage diskursiv und konkurrenzbezogen. Es gibt eine Basis, um die gestritten wird, so sehr gestritten wird, dass man sich fragen mag, ob es die gemeinsame Basis denn überhaupt gibt. Zum anderen ist nicht zu leugnen, dass diese Konflikte auf der Grundlage eines gemeinsamen Textund Bildbestandes ausgetragen werden, den man in einem nicht sprachwissenschaftlichen Sinne als eine gemeinsame europäische Sprache bezeichnen könnte. So gesehen, stellte sich Europa als eine Zone virulenter Erinnerungskonkurrenz auf der Grundlage einer weniger durch tatsächliche historische
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Prozesse oder Erfahrungen, sondern durch verdichtete Erinnerung geschaffenen europäischen Semantik dar. Ich komme abschließend zur Rolle spezieller Erinnerungsgemeinschaften von möglicherweise europäischer Reichweite. Meine Frage gilt zunächst dem Adel. War der Adel europäisch? Bildete er eine europäische Erinnerungsgemeinschaft? Und wenn ja, woran hat er sich dann erinnert? Wiederum fällt die Antwort zwiespältig aus, zumal es schwer fallt, sich von den Erinnerungsvorgaben des 19. Jahrhunderts zu lösen, das die Nationalisierung des Adels zum Programm erhoben hatte. Einerseits pflegten die europäischen Adelsfamilien ihre Hausmythen, die um genealogische Tiefe bemüht waren und sich in den antiken Erinnerungshorizont einzublenden versuchten. Immer wieder wurde auch Karl der Große als Spitzenahn bemüht. Vielleicht lässt sich sogar die Artus-Epik wegen ihrer weiten Verbreitung und unbestreitbaren Popularität als Erinnerungskonstruktion einer gesamteuropäischen Kriegergesellschaft begreifen, die ihre Werte im fernen Spiegel der Völkerwanderungszeit abzubilden trachtete. Andererseits kamen im Zuge des Staatsbildungsprozesses der Frühen Neuzeit auf diese Staaten bezogene Adelsmythen auf. In England war dies beispielsweise die Norman-Yoke-Erzählung, in welcher der Adel seine Vorrangstellung vom ins conquestus der normannischen Eroberer herleitete. In Frankreich berief sich der Adel auf das Eroberungsrecht der fränkischen Kriegereliten, die sich über die galloromanische Bevölkerung gesetzt hätten. Das alles übrigens, obwohl es kaum noch Adelsfamilien gab, die sich bis zu diesen Erinnerungshorizonten zurückverfolgen konnten, die vielmehr in ihren Adelsbriefen den schriftlichen Nachweis besaßen, dass dergleichen historische Konstruktionen auf sie nicht zutrafen. Ungeachtet dieser Differenzierungen, welche den Bruchlinien der Fragmentierung der Macht folgten, blieb freilich eine gesamteuropäische adelige Zeichenkultur erhalten, die sich im Habitus, in der Kleidung, im Schlossbau, in der Gestaltung der Bibliotheken ausdrückte. Als zweite Erinnerungsgemeinschaft von europäischer Reichweite und großer sozialer Tiefe kommen die europäische Respublica Christiana, die Gemeinschaft der Gläubigen, und in einem engeren Sinn die Kleriker in Betracht. Gewiss gab es schon vor dem 16. Jahrhundert Differenzierungstendenzen nicht nur in Gestalt von Häresien, die von der Universalkirche bekämpft wurden, sondern in Gestalt von kulturräumlichen Ausformungen, welche den politischen Fragmentierungstendenzen folgten und Partikularkatholizismen hervorbrachten. Die Konzile des 15. Jahrhunderts legen hiervon Zeugnis ab. Die Reformation hat diese zentrifugalen Kräfte verstärkt, ihnen eine neue dogmatisch-kirchenorganisatorische Dimension hinzugefügt und eine neue christliche Erinnerungsschicht in das europäische kulturelle Gedächtnis eingezogen. Und dies übrigens für Protestanten und Katholiken gleichermaßen:
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Was für die Protestanten die Reformation ist, das ist für die Katholiken der Dreißigjährige Krieg als letzter Versuch der Wiederherstellung der religiösen Einheit in Deutschland. Wittenberg und Genf, das Paris der Bartholomäusnacht und Magdeburg, aber auch Münster und Salzburg sind zweifellos nicht nur nationale, sondern auch europäische Erinnerungsorte. Diese Entwicklungen haben den religiösen Erinnerungshorizont Europas in seinem Grundbestand nicht beschädigt, sondern nur den Universalitätsanspruch der römischen Heilsvermittlungskirche zerstört. Erinnerung ist eben ein diskursiver Prozess, welcher der Vertextlichung, der Vergegenständlichung oder Verörtlichung bedürfen mag, die Texte, Gegenstände und Orte des Eingedenkens aber frei wählt. Ob die christliche Tradition und ihre Erinnerungsorte als Quellen der Identitätsschöpfung noch geeignet sind, muss dahingestellt bleiben. Der seit der Aufklärung wirksame Säkularisierungsprozess hat das Sinn- und Identitätsstiftungspotential des christlichen Europa mittlerweile so weit zersetzt, dass die für das Verständnis dieser Tradition so wichtige Bild weit kaum noch verstanden wird. Werfen wir zuletzt einen Blick auf die Gelehrtenrepublik, die der durch die Antike und das Christentum konstituierten Textgemeinschaft noch näher stand und das vorhandene europäische Wissen mit einem universal-europäischen Anspruch und in gewisser Weise sogar mit einer universal-europäischen Praxis verwaltete. Dies geschah an den Universitäten, die wir bei der Suche nach europäischen Erinnerungsorten in die erste Reihe stellen müssen. Natürlich blieben auch die Universitäten nicht von dem politischen Fragmentierungsprozess verschont, der ganz Europa erfasst hatte. Aber nicht einmal die weniger bedeutenden unter ihnen gaben je ihren raumübergreifenden Anspruch auf, sei es wegen der akademischen Lehrer, die dort wirkten, sei es weil die Ausbildung der akademisch auszubildenden Eliten der Theologen, der Juristen und der Mediziner eben nur überörtlich und, wenngleich natürlich nur in wenigen Fällen, sogar über den jeweiligen Kulturraum hinaus erfolgen konnte. Für die Gelehrtengemeinschaft war die Kommunikation über die politisch definierten Tellerränder hinaus ohnehin selbstverständlich, auch wenn die allmähliche Vereinnahmung der Wissenschaft durch die Vemikularsprachen zunehmend Probleme bereitete. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts ist eine wachsende Tendenz zu einer sprachlichen und deswegen längerfristig auch inhaltlichen Verräumlichung des gesamteuropäischen Wissens zu beobachten, die wiederum eigene, nämlich kultur- und sprachräumlich bestimmte, Diskurse hervorbrachte. Die Barrieren, die dabei entstanden, waren jedoch niemals unüberwindlich. Transfer- und Rezeptionsprozesse sorgten dafür, dass die Europäizität des europäischen Wissens erhalten blieb, auch wenn es dabei immer wieder zu signifikanten Zeit- und Bedeutungsverschiebungen kam. Die Schriften Newtons, Leibnizens, Voltaires oder Linnés, um nur ein
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paar Beispiele zu nennen, waren und sind europäisches Erinnerungsgut. Die Publikation der Encyclopédie war kein nur auf Frankreich bezogenes, sondern ein europäisches Ereignis, das nicht zuletzt deswegen gesamteuropäisch erinnert werden kann, weil diese Summa der Wissensrevolution der Aufklärung auch physisch überall in Europa präsent war. Das Zeitalter des Nationalismus hat die europäische Wissensgemeinschaft nur partiell aufgehoben, vor allem in den identitätsempfindlichen Bereichen der Nationalliteratur und der Historiographie. Gleichwohl blieben die Nationalliteraturen über die kulturräumlichen und nationalen Grenzen hinweg kommunizierbar, was die Idee einer europäischen Literatur lebendig erhielt. Für die Historiographie trifft dies indes nicht zu, wahrscheinlich deshalb nicht, weil die Literaturen trotz aller nationalen Einfärbungen ihrer Produkte Themen bearbeiteten, die fur den gesamten Kulturkreis von Interesse waren, während die Historiker - von den Althistorikern mit einer deutlich europäischeren Wirkung einmal abgesehen - sich thematisch auf die Identitätsräume beschränkten, die sie zu bedienen hatten. Viele der Fragen und Vermutungen, die in diesem Beitrag formuliert worden sind, bedürfen noch der eingehenden Erforschung in vergleichenden und vor allem europaweiten Untersuchungen, an denen noch Mangel herrscht. Die Homologisierung der Fragestellungen und Methoden wird große Probleme aufwerfen, stellt jedoch eine Aufgabe dar, der sich die europäische Kulturpolitik stellen muss, wenn sie das Thema der europäischen Erinnerung nicht nur mythographisch, sondern auf dem heute üblichen methodischen Niveau historiographisch bewältigen will.
Summary Are there European places of memory? The question leads us directly into the debate upon memory which has recently unfolded almost everywhere and reaches beyond the academic community. It is at first argued that the basic situation is similar to that of the 19th century when the creation of a collective cultural memory was a key element in the process of nation-building. The newly imagined community of the nation had to become a community of memory. Historiography and literature worked together to establish a national narrative preferably set in the remote past where the imagination could be unbridled while at the same time high methodological standards could be asserted. Can we set out to proceed in the same manner and invent a European identity through the creation of a European collective identity?
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The article then discusses three fundamental criteria governing the process of memory building; the relationship between experience and memory, the desire for authenticity and the transformation of an imagined past into a reality of its own. In all three cases the element of construction is paramount. And yet, it cannot be concluded that anything goes. Experiences create frameworks; the desire for authenticity calls for texts and artefacts, finally the competition between the memories of different communities exerts a controlling influence. How do these observations apply to the idea of a European memory? Was there a common European experience that can be remembered collectively? Are there constructions of memory which have turned into reality? Are there particular communities of memory which can be presumed to have operated on a European level. The first question is answered from two angles which I call the alterity and the identity experience. While Europe's alterity experience in the clashes with the Arabs and the Turks or in the discovery of the new world appears to have had a tendency to be regionalized, the perception of European identity could only have been one of strife and conflict. Even the memory of the great cultural narratives of the foundation of the Christian religion and of the birth of civilization in antiquity became eventually fragmented. The same is true for the communities of memory of the nobility and the clergy, both of which became increasingly de-europeanized from the later Middle Ages onwards. The greatest potential for a collective European memory lies perhaps in the Republic of Letters.
Auswahlbibliographie Benedict ANDERSON, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York 1991. Aleida ASSMANN, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a. M. 1993. Etienne FRANÇOIS, Von der wiedererlangten Nation zur „Nation wider Willen". Kann man eine Geschichte der deutschen Erinnerungsorte schreiben?, in: Nation und Emotion, hrsg. von dems. [u. a.], Göttingen 1995, S. 93107. Wolfgang HARDTWIG, Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990. Historicization - Historisierung, hrsg. von Glenn W. Most, Göttingen 2001. Kultur und Gedächtnis, hrsg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher, Frankfurt a.M. 1988.
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Georg KUNZ, Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. Günther LOTTES, Formationsprinzipien der europäischen Geschichte, in: Europa: Einheit und Vielfalt. Eine interdisziplinäre Betrachtung, hrsg. von Dieter Holtmann und Peter Riemer, Münster [u. a.] 2001, S. 129-152. Pierre NORA, Les lieux de mémoire, 7 Bde., Paris 1 9 8 6 - 1 9 9 2 . Region, Nation, Europa. Historische Determinanten der Neugliederung eines Kontinents, hrsg. von Günther Lottes [u. a.], Heidelberg 1992. Wolfgang SCHMALE, Scheitert Europa an seinem Mythendefizit?, Bochum 1997. Hans-Joachim SCHMIDT, Kirche, Staat, Nation. Raumgliederung der Kirche im mittelalterlichen Europa, Weimar 1999. Winfried SPEITKAMP, Die Verwaltung der Geschichte. Denkmalpflege und Staat in Deutschland 1871-1933, Göttingen 1996.
Umstrittene lieux de mémoire in Europa im 20. Jahrhundert Von
Gustavo Corni Die folgenden Ausführungen werden sich auf einige knapp gehaltene Überlegungen konzentrieren, die sicherlich - das ist einzuräumen - als ungenügend und allzu schematisch angesehen werden können. Sie werden nicht auf den historiographischen Debatten und Konstruktionen beruhen, obwohl die Bedeutung der Historiker für die Erfindung und Förderung von lieux de mémoire gewiss nicht zu unterschätzen ist1. Das Anliegen diese Beitrags ist vielmehr die Fokussierung auf diejenigen lieux de mémoire, die innerhalb der öffentlichen Meinung in den einzelnen europäischen Ländern zustande gekommen sind und, sozusagen von unten, die Bildung eines gemeinsamen europäischen Geschichtsbewusstseins stark beeinflusst haben2. In dieser Hinsicht besitzen die historischen Leitbilder, an denen in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten die Historiker mitgebaut haben, einen bremsenden Effekt, da sie die Bildung neuer, „europäistischer" und supranationaler Leitbilder erschweren. Wenn man so will, müssten die Historiker der Gegenwart und der nächsten Zukunft die Konstruktionen ihrer Vorfahren dekonstruieren oder sogar zerstören. Wie dem auch sei, ich möchte mit einem skizzenhaften Rückblick auf das 20. Jahrhundert beginnen. In dem vor kurzem zuende gegangenen Jahrhundert sehe ich keine universalistischen Faktoren am Werk, die eine gemeinsame europäische öffentliche Meinung hätten schaffen sollen, sehen wir von Ansprüchen einiger Ideologien (Nationalsozialismus, Faschismus, Kommunismus) ab, deren universalistische Triebkraft mit einer dominanten aggressiven, expansionistischen, menschenverachtenden Chiffre eng verbunden war. 1 Vgl. allgemein die methodologischen Überlegungen von Nancy WOOD, Vectors of Memory, Oxford 1999. 2 Im letzten Jahrzehnt ist in Italien eine neue Welle von Studien über die lieux de mémoire entstanden, die sich um das neuerdings umkämpfte Problem der „nationalen Identität" bemüht haben. Ich erwähne hier die zwei von Mario Isnenghi herausgegebenen Bände mit dem Titel: I luoghi della memoria. Simboli e miti dell'Italia unita, Roma/Bari 1996-1998, sowie die von Ernesto Galli della Loggia beim Verlag II Mulino (Bologna 1991 ff.) geleitete Bücherreihe: L'identità italiana. Vgl. Auch das umstrittene Buch von Giovanni
BELARDELLI/Luciano CAFAGNA/Ernesto GALLI DELLA LOGGIA/Giovanni SABBATUCCI,
Miti e storia dell'unità d'Italia, Bologna 1991.
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In der ersten Hälfte des Jahrhunderts wurden in Europa zwei blutige Weltkriege gekämpft, in denen mehrere Millionen Menschen - Männer und Frauen, Soldaten und Zivilisten - in brutalster Form getötet, ja man kann sagen: hingemetzelt worden sind. In dieser Zeit sind wir also mit den Geschichten von Millionen von Gefallenen, von Witwen und Waisen, von Gewinnern und Verlieren, von Opfern und Tätern konfrontiert. In dieser Zeit haben wir es mit grandiosen Expansionsprojekten zu tun (deutsche, und nicht nur deutsche, vor dem und während des Ersten Weltkrieges, deutsche und italienische im Zweiten Weltkrieg), die die Expansion und Behauptung der eigenen Nation (oder Rasse) nur durch die Unterdrückung anderer Nationen (und Rassen) gewährleistet sahen. Kulmination dieser aggressiven Ausdehnungs- und Eroberungspläne war die Hitlersche Distopie (also negative Utopie) einer demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung des gesamten Ostens Europas im sogenannten „Generalplan Ost". Aber in der ersten Hälfte des Jahrhunderts haben wir es auch mit einer verheerenden Wirtschaftskrise zu tun, die Millionen von Haushalten mit Arbeitslosigkeit und Verzweiflung konfrontierte. Wir haben es mit Bürgerkriegen zu tun (in der Anfangsphase der kommunistischen Revolution in Russland, in Spanien, während des Krieges in mehreren Ländern - u. a. in Italien zwischen dem Herbst 1943 und April 1945) und mit einer tiefen Krise der westlichen Demokratien. Als Beispiel erwähne ich nur Frankreich, wo die interne Krise im Pétain'schen Kollaborationismus ihren Ausdruck fand. Nach 1945 wurde der Kontinent in zwei sich befeindende Blöcke geteilt, die von den zwei Supermächten hegemonisiert und/oder strikter militärischer und wirtschaftlicher Unterdrückung unterworfen wurden. Die divergierende Entwicklung dieser zwei Blöcke bis 1989/90 hat tiefgreifende Nachwirkungen gerade im Bereich der historischen Wahrnehmung und Erinnerung nach sich gezogen, wie weiter unten zu erläutern sein wird. Angesichts dieser skizzierten Lage darf man sich fragen, welches die lieux de mémoire sind, die von der europäischen Öffentlichkeit wahrgenommen und verinnerlicht worden sind. Mir scheint, dass wir mit lieux de mémoire zu tun haben, die stark mehrdeutig, vielschichtig und zum großen Teil in sich selbst widersprüchlich sind. Grob gesehen, gibt es private und öffentliche lieux de mémoire, nationale, lokale und transnationale lieux de mémoire. Jeweils gibt es Überschneidungen zwischen den Kategorien, die gar nicht so klar zu unterscheiden sind. Die Monumente, die zur Erinnerung an die Kriege (und an die Siege) errichtet worden sind3, haben eine vielschichtige Bedeutung; ein Kriegsfriedhof 3
Vgl. neuerdings Susanne BRANDT, Vom Kriegsschauplatz zum Gedächtnisraum. Die Westfront 1914-1940, Baden-Baden 2000.
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momumentaler Natur, wie Redipuglia in der Nähe von Triest4 oder Verdun, besitzt eine öffentliche Bedeutung; dort werden die nationalen Feiertage zelebriert, der 4. November, der Day of Remembrance usw. Trotz der Versöhnungsakte (wie in Verdun mit dem gemeinsamen Auftreten von Kohl und Mitterand, Hand in Hand, 1986) sind diese lieux de mémoire unausweichlich gegen andere Völker, gegen die ehemaligen Feinde gerichtet (und errichtet worden). Bis heute noch besitzen solche Monumente ein Potential der Exklusion gegenüber dem Fremden, dem ehemaligen Feind. Solche lieux de mémoire besitzen eine starke öffentliche Wirkung, haben aber zugleich eine private Bedeutung fur die Kinder und Enkelkinder der dort begrabenen Offiziere und Soldaten. Es ist zu vermuten, dass der Inhalt, der Wert dieser privaten Erinnerungsstätten nicht völlig mit denen der öffentlichen übereinstimmt. Wie vorher angedeutet, kann man zwischen lokalen und nationalen Bedeutungen derselben lieux de mémoire unterscheiden. Nehmen wir ein Beispiel aus der östlichen Ecke Norditaliens. Die foibe sind typische karstische Erdhöhlen, in die in der allerletzten Phase des Krieges und unmittelbar danach Tausende, vielleicht mehrere Tausend Menschen nach der Hinrichtung (oder vielleicht manchmal noch lebendig) hineingeworfen worden sind. Die Urheber dieser Untaten sind bekannt: die kommunistischen jugoslawischen Partisanen. Die Opfer sind dagegen nicht so eindeutig zu identifizieren: deutsche Besatzer, italienische Faschisten und Kollaborateure, aber auch Italiener (und Slowenen), die nach dem Ende des Krieges in irgendeiner Weise der Verwirklichung der Pläne Titos im Weg standen. Abgesehen werden soll davon, dass vorher dieselben foibe von den deutschen Besatzungstruppen für den gleichen Zweck benutzt worden waren. Für die allgemeine Öffentlichkeit in Italien haben die foibe nur eine relative Bedeutung, was die allgemeine historische Erinnerung betrifft5. Vielmehr wird das Thema heute als ein Mittel benutzt, dessen sich die politische Rechte im Parlament bedient, um die Regierung zu kritisieren. So wurde die Vernachlässigung der foibe vor kurzem als Argument verwendet, um die Einseitigkeit, die Parteilichkeit der Geschichtsschulbücher zu kritisieren, deren Inhalte angeblich von den Anschauungen der italienischen Linken dominiert wurden. Wenn wir aber die lokale Ebene im sogenannten Julisch Venetien betrachten, haben die foibe eine weitaus größere Bedeutung; sowohl privat wie auch auf öffentlicher Ebene gehören sie heute noch (nach mehr als 50 Jahren) zu den Hauptthemen des politischen Diskurses und der Erinnerungskultur. 4
Lucio FABI, Redipuglia. II sacrario, la guerra, la comunità, Monfalcone 1993, analysiert die architekturgeschichtliche Entwicklung sowie die Instrumentalisierung des Monuments von Seiten des faschistischen Regimes. 5 Als Beispiel vgl. Gianpaolo VALDEVIT, Foibe. Un passato che sta passando, Bologna 1997.
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Für diejenigen, die sich erinnern, haben die lieux de mémoire eine Bedeutung, die sich im Laufe der Zeit ändert, modifiziert. Es ist grundsätzlich wahr, dass es eine bestimmte Zeit braucht, bis man eigentlich von einem „lieu de mémoire" sprechen kann. In vielen Fällen gibt es meiner Meinung nach eher zeitliche Schichtungen und Verschiebungen. Greifen wir nochmals auf das Beispiel der Kriegsfriedhöfe zurück. Beinahe noch während der Kämpfe kümmerten sich Mitkämpfende um die Leichen der Gefallenen beider Seiten, um sie, wenn auch in provisorischer Form, zu beerdigen. Schon damals fingen solche improvisierten Friedhöfe an, als lieux de mémoire angesehen zu werden. Unmittelbar nach dem Ende des Krieges wurden die Friedhöfe reorganisiert, teilweise von den Militärs selbst, teilweise auf lokale Initiative. Sie erhielten rasch eine Bedeutung als Ziele eines Kriegstourismus, der schon in den frühen 20er Jahren in ganz Europa blühte, wie neuerdings J. Winter in einem Buch gezeigt hat6. Es dauerte noch etliche Jahre, bis die Friedhöfe in mehreren Fällen von den Staaten nochmals reorganisiert, ritualisiert und in dauerhafte, steinerne Symbole fur eine neue Deutung des Krieges, für eine neue kollektive Erinnerung an den Krieg umgewandelt wurden. Diese Entwicklung ist auch in Italien gut nachvollziehbar, wo das faschistische Regime im Laufe der 30er Jahre die wichtigsten Kriegsfriedhöfe rekonstruiert und monumentalisiert hat; dabei bekamen sie für die öffentliche Erinnerung eine neue symbolische Bedeutung. Verfolgen wir diese Entwicklung zeitlich weiter, so wird sich eindeutig ergeben, dass die Sinngehalte dieser Monumente im Laufe der Generationen, mit dem Wechsel der Kulturen und der Sensibilitäten, weitere tief gehende Wandlungen erlebt haben. So richtete man auf dem Karst, auf den Dolomiten „Friedens wege" und ähnliche internationale Gedenkstätten ein. Es gibt auch transnationale lieux de mémoire. Wie anders könnte man die Stätten benennen, die Arbeitsplätze, Baracken, Lager, wo Millionen von Migranten oft jahrelang in fremden Ländern gelebt und gearbeitet haben? Die Kohlengrube von Marcinelle in Belgien, wo in den 50er Jahren mehr als Hundert italienische Gastarbeiter ihr Leben verloren haben? Die Stätten des Arbeitens und des Leidens von Millionen von Zwangsarbeitern, die von der deutschen Regierung und von deutschen Firmen als Sklavenarbeiter während des Zweiten Weltkrieges ausgenutzt worden sind, gehören zur selben Kategorie. Lieux de mémoire besaßen gerade im zuende gegangenen 20. Jahrhundert eine besondere Vieldeutigkeit und Multivalenz. Ich beziehe mich primär auf ein Beispiel aus Italien, wobei ich sicher bin, dass solche Beispiele scharenweise auch aus allen anderen europäischen Länder anzuführen wären. Im Frühjahr-Sommer 1944 verlief die Frontlinie zwischen deutschen und alli6
Vgl. War and Remembrance in the Twentieth Century, hrsg. von Jay M. Winter [u. a.], Cambridge 1999. Ober die öffentliche Verarbeitung der Trauer in der Nachkriegszeit vgl. George L. MOSSE, Le guerre mondiali. Dalla tragedia al mito dei caduti, Roma/Bari21990.
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ierten Truppen südlich der tusco-emilianischen Apenninen. Um die Verbindungslinien freizuhalten und die Partisanen von der Bevölkerung zu isolieren, verübten einige Einheiten der Wehrmacht und der Waffen-SS blutige Angriffe auf mehrere Dörfer in der Toskana und der Emilia. Ganze Dörfer wurden in Brand gesetzt; einige Tausend Menschen (meistens Frauen, Kinder und Greise) wurden hingerichtet7. Unter den Einwohnern dieser Dörfer entstand damals die feste Überzeugung, dass für das Schicksal ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht nur die deutschen Soldaten, sondern auch (für einige sogar hauptsächlich) die Partisanen verantwortlich gewesen seien. Man warf ihnen vor, mit ihren Aktionen oder auch nur durch ihre bedrohliche Anwesenheit die blutige Reaktion der deutschen Besatzer provoziert zu haben. Über Jahrzehnte bildeten sich in den betroffenen Dörfern zwei parallele, letztlich aber gegensätzliche Erinnerungskulturen aus. Offiziell zelebrierte man die Opfer der nazistisch-faschistischen Barbarei. Dagegen erinnerte sich ein großer Teil der Bevölkerung (vielleicht sogar die Mehrheit) an ihre Toten mit dem bitteren Gefühl, dass sie Opfer eines Krieges geworden seien, in dem selbst die Partisanen sich nur um ihre egoistischen Zwecke und Interessen gekümmert hätten8. Es ist zu betonen, dass eine solche Entwicklung nicht in allen Fällen zu beobachten ist, auch nicht in derselben Region, wo die Ereignisse ziemlich ähnlich verlaufen sind. So gibt es in Marzabotto, der Stätte des blutigsten Massakers an Zivilisten in Italien, eine solche doppelte Erinnerungskultur nicht. Andernorts dagegen hat diese Dualität erst nach Jahrzehnten angefangen zu verblassen9. Ich möchte noch kurz ein außeritalienisches Beispiel analysieren: Auschwitz10. Manche betrachten diesen Ort des Terrors und des Massenmordes als eine besonders wichtige Möglichkeit, gemeinsame, universale Elemente der 7
Gerhard SCHREIBER, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter, Opfer, Strafverfolgung, München 1996. ® Paolo PEZZINO, Anatomia di un massacro. L'eccidio di Guardistallo del 29 giugno 1944 fra storia e memoria, Bologna 1997. 9 Ähnlich verlief es in anderen außeritalienischen Fällen, wie im holländischen Dorf Putten; vgl. das neu erschienene Buch von Madelen de KEIZER, Razzia in Putten. Verbrechen der Wehrmacht in einem niederländischen Dorf. Aus dem Niederl. übers, und bearb. von Stefan Häring, Köln 2001. Eine eindringliche Übersicht über die Probleme und Widersprüche der Memorialisierung auf europäischer Ebene in La memoria del nazismo nell'Europa di oggi, hrsg. von Leonardo Paggi, Firenze 1997. 10 Vgl. Jonathan WEBBER, The Future of Auschwitz, Oxford 1992. Die Monumentalisierung der Erinnerung an diese einmalige Massentötung ist stark umstritten, wie die bundesdeutschen Diskussionen über das Berliner Mahnmal zeigen; vgl. Der Denkmalstreit - das Denkmal? Die Debatte um das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas". Eine Dokumentation, hrsg. von Ute Heimrod [u. a.], Berlin 1999. Im Allgemeinen vgl. die tief gehenden Analysen von James E. YOUNG, The texture of memory. Holocaust memorials and meaning, New Haven 1993, und Sybil MLLTON/Ira NOWINSKI, In fitting memory. The art and politics of Holocaust memorials, Detroit 1991.
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Erinnerung und des Nachdenkens herauszufinden, zu stiften: Auschwitz als ein Einheit stiftendes Mahnmal, als greifbares Beispiel der extremen Perversion des menschlichen Wesens in der Moderne. Das mag auch wahr sein. Eine nähere Betrachtung der auf Auschwitz zentrierten Erinnerungskultur(en) zeigt jedoch, dass es eine Reihe von erheblichen Widersprüchen gibt: Bedeutet Auschwitz dasselbe für Juden und Nichtjuden? Und welchen Stellenwert hat es für die Erinnerungskultur Polens? Schließlich: Was bedeutet dieser Ort für die ehemaligen Lagerinsassen aus anderen Ländern, die in Auschwitz gelebt und gelitten haben, und für die Nachkommen derjenigen, die dort getötet wurden? Aber selbst wenn wir uns nur auf die jüdische „Seite" - sozusagen - beschränken (und nur am Rande sei erwähnt, dass es im Lager bis heute keine Stätte gibt, die ausdrücklich und allein den jüdischen Opfern gewidmet ist), können wir feststellen, wie vielschichtig und mehrdeutig die Erinnerungskulturen sind: Auschwitz wird dabei als Mahnung für das jüdische Volk interpretiert, sich nicht mehr passiv und kampflos zu ergeben. Aber Auschwitz ist auch als Monument für das Opfer der Widerstandskämpfer gedeutet worden, als Preis, den das jüdische Volk zu bezahlen hatte, um endlich seinen eigenen Nationalstaat bilden zu können. Und noch andere Deutungen könnten hinzugefügt werden. Diese Komplexität verstärkt sich noch, wenn man sich dem Osten Europas zuwendet. Die bis in die späten 80er Jahren andauernden Diktaturen kommunistischer Prägung haben dort ganze Erinnerungskulturen vernichtet, zusammen mit ihren lebendigen Trägern. Erst seit wenigen Jahren fangt man in Russland und in den übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion an, mühsam eine Erinnerung an den Gulag zusammenzubasteln, da vorher jedes Sich-Erinnern staatlicherseits verboten und strafbar war". Es ist kein Zufall, dass eine der ersten Initiativen im Rahmen einer Demokratisierung und Erneuerung der Geschichtsschreibung die Benennung „Memorial" erhalten hat12. Die historisch eingebettete Erinnerung muss meines Erachtens in diesen Ländern noch mühsam und schmerzhaft rekonstruiert werden. Die Gefahren, die aus der Begegnung der Erinnerungskulturen des Ostens und des Westens resultieren, werden an dem speziellen Fall Deutschland besonders deutlich. Nach der Wiedervereinigung wurden nicht nur Wirtschaftsstrukturen und politische Institutionen zerstört. Auch der gesamte Erinnerungsschatz der ehemaligen DDR-Bürger geriet abrupt in den Sog der „Einverleibungswut": angefangen von Straßennamen und Denkmälern bis hin zu der Zerstörung der gesamten lieux de mémoire in den neuen Bundesländern. Ich will damit nicht bestreiten, dass die Bonner Regierung (unterstützt von 11 12
Vgl. A l'Est. La mémoire retrouvée, hrsg. von Alain Brossât, Paris 1990. Vgl. Maria FERRETTI, La memoria mutilata: la Russia ricorda, Milano 1993.
Corni, Umstrittene lieux de mémoire
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der großen Mehrheit ihrer Bürger) gut durchdachte Motive gehabt hat, die diese Annullierungspolitik zu legitimieren scheinen. Tatsache ist aber, dass das derzeitige, andauernde Unbehagen der aus der historischen Erfahrung der DDR kommenden Mitbürger zum Teil gerade von dieser künstlichen und forcierten Annullierung jeglicher Erinnerungskultur mitverursacht ist. Das scheint mir ein treffendes, obgleich extremes Beispiel für die Gefahr, die eine Annullierung gesamter Erinnerungskulturen mit sich bringt, in dem Moment, in dem sich die osteuropäischen Länder dem reicheren und demokratischen Teil des Kontinents zuwenden. Gibt es denn überhaupt so etwas wie wirklich europabezogene lieux de mémoire, die in kurzer Zeit entwicklungsfähig sind? Ich erlaube mir noch eine zugespitzte Stellungnahme. Abgesehen von nicht unbedeutenden und beneidenswerten Idealisten, wie dem Italiener Altiero Spinelli (einer der ideologischen Väter der Europa-Idee), entstand das vereinigte Europa in den 50er Jahren vor allem aus nüchternen, realpolitischen Überlegungen hervorragender Staatsmänner, wie Adenauer, Schuman und De Gasperi. Sie reagierten mit diesem strategisch sehr wichtigen und weitsichtigen Projekt auf die Krise der europäischen Staatenwelt vor 1945, die nach dem Ende des Krieges von der Hegemonie der beiden Supermächte endgültig unterminiert wurde. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass, angefangen mit der EGKS (die auf die Krise der Kohle und Eisen produzierenden Branche in Westeuropa reagieren sollte), die Europäische Union bis heute eine überwiegend wirtschaftliche Bedeutung behalten hat. Dies ist eine Sachlage, gegen die in letzter Zeit Kritik von verschiedenen Seiten laut geworden ist: Die Europäische Union solle nun das Feld der Wirtschaft, der gemeinsamen Währung, der Bürokratisierung verlassen und sich in die vielversprechenderen, aber gefährlicheren Felder der Gesellschaft, der Kultur und der Politik vorwagen. Ehrlich gesagt, scheint es mir, dass wir Europäer bis heute ein großes Manko an lieux de mémoire haben, die von der Bevölkerung (oder zumindest von breiten Teilen der Bevölkerung) als europäisch wahrgenommen werden könnten. In Schengen erinnert ein Anker in monumentalisierter Form an den entsprechenden Vertrag. Weder solche Monumente noch die Bilder der sich häufenden Treffen und Gipfel der Staatsund Regierungschefs scheinen mir geeignet zu sein, dieses Vakuum in näherer Zeit zu füllen. Es ist kein Zufall, dass die Begründer des politischen Europäismus (De Gasperi, Adenauer, Schuman, de Gaulle) in ihren eigenen Ländern immer noch in erster Linie als Figuren des Wiederaufbaus der nationalen Demokratie und der nationalen Wirtschaft gefeiert und anerkannt werden, während ihre europäische Rolle nur am Rande wahrgenommen wird. Auch das Europaparlament in Straßburg und die prächtigen Amtsgebäude der Union in Brüssel scheinen von der Öffentlichkeit viel mehr als zusätzliche „Paläste" der Politik, des Parteiengezänks und der Bürokratisierung betrach-
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tet zu werden denn als die Zentren einer neuen, epochalen Ordnung Europas. Das mag zum Teil auch die Schuld der Historiker sein. Ich neige aber zu der Einschätzung, dass die Verantwortung bei den politischen Führungsgruppen in den einzelnen europäischen Ländern liegt, die das Straßburger Parlament bis heute nur als einen Nebenjob (oder sogar als eine Nebenpfründe) anzusehen scheinen.
Summary European history during the twentieth century was mainly characterized by bloody wars and social and ideological conflict. As a means of reinforcing national and state legitimacy, these dramatic events were commemorated in a myriad of occasions, sites of memory and remembrance. Most of them are inherently exclusive and not inclusive. As a rule, they contain ambiguous and conflicting memories. It is therefore very difficult to discover common lieux de mémoire, capable of instilling in the younger generation a feeling of a shared European history.
ANDERE BEITRÄGE Europäische Diplomatie im Zeitalter Ludwigs XIV. Das Beispiel Johann Daniel Kramprichs von Kronenfeld (1622-1693) Von
Volker Jarren 1. Einleitung 1.1. österreichische Diplomatie und Diplomaten nach dem Westfälischen Frieden: Eine Problemskizze Außenpolitik wurde Mitte des 17. Jahrhunderts in erster Linie von einer zahlenmäßig sehr kleinen diplomatischen Elite betrieben, die erst tätig wurde, wenn konkreter politischer Handlungsbedarf bestand. Die regelmäßige Pflege der außenpolitischen Beziehungen bildete selbst unter den europäischen Führungsmächten noch immer die Ausnahme. Erst nach 1648 begannen viele Staaten zu erkennen, dass die Einrichtung ständiger Gesandtschaftsposten eine Möglichkeit sein konnte, rechtzeitigen Einfluss auf die außenpolitischen Entscheidungen anderer Mächte zu nehmen1. Es blieb Frankreich vorbehalten, direkt nach 1648 den Kontinent mit einem mehr oder weniger dichten Netz von Gesandtschaften zu überziehen2. Am Kaiserhof in Wien vollzog sich diese Entwicklung wesentlich langsamer, so dass die Zahl der ständigen Gesandtschaften erst am Ausgang des 17. Jahrhunderts deutlich zunahm3. Die Entscheidungsträger in der Hofburg taten sich aus Kostengründen anfänglich schwer damit, ein flächendeckendes Gesandtschaftsnetz aufzubauen. 1 Die deutsche Bezeichnung Gesandter wird im Folgenden nicht als diplomatische Rangstufe (Envoyé) verwendet, sondern ebenso wie für den damals noch nicht gebräuchlichen Terminus Diplomat als allgemeiner Ausdruck für verschiedene diplomatische Ränge. 2 Heinz SCHILLING, Höfe und Allianzen. Deutschland 1648-1763, Berlin 1989, S. 151 ff. Zur europäischen Entwicklung vgl. M. S. ANDERSON, The Rise of Modem Diplomacy 1450-1919, New York 1993, S. 69 ff. 3 Grundlegend dazu ist immer noch Klaus MÜLLER, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648-1740), Bonn 1976, insbesondere S. 60 ff.
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Vor allem seit Ludwig XIV. immer offener eine hegemoniale, auch gegen Österreich betriebene Außenpolitik verfolgte, setzte dies den Kaiser unter Handlungsdruck4. Doch strenge Kriterien gab es bei der Besetzung der nun vermehrt ständigen Gesandschaftsposten keineswegs5. Spezielle diplomatische Ausbildungen durchliefen weder die mit außerordentlichen Missionen betrauten Mandatsträger noch die ständigen Gesandten. Von Professionalisierungsbestrebungen waren die europäischen Staaten des 17. Jahrhunderts sehr weit entfernt. Die Wahl fiel auch längst nicht immer auf den Kandidaten, der die besten Qualifikationen vorweisen konnte. Gute Beziehungen zum Hof waren des öfteren ausschlaggebend. Zwar entschied der Kaiser in letzter Instanz, wer welchen Posten bekommen sollte. Aber in der durch Günstlingswesen und Patronage gekennzeichneten höfischen Welt nahmen viele Würdenträger und Freunde des Kaisers mit Erfolg Einfluss auf die Besetzungen. Der direkte Zugang zum Kaiser bot die beste Gewähr, seinen Kandidaten durchzubringen6. Das diplomatische Personal rekrutierte sich keineswegs nur aus adeligen Kreisen7. Viele Personen bürgerlicher Herkunft hatten Chancen, in den außenpolitischen Dienst des Kaisers einzutreten. Die Stelle eines ständigen Gesandtschaftspostens war zwar selbst für viele Adelige eine ehrenvolle Aufgabe8. Allerdings diente sie nur als Durchgangsstation auf dem Wege zu höheren Ämtern in Wien. Von den bedeutenden außerordentlichen diplomatischen Missionen, die bei Erfolg hohes Ansehen und berufliches Fortkommen versprachen, blieben die Personen bürgerlicher Herkunft weitgehend ausgeschlossen. Ihnen gelang es vor allem als ständige Gesandtschaftsvertreter Fuß zu fassen. Zwar strebten auch sie eine Karriere am Wiener Hof an, doch viele versahen ihren Dienst jahrzehntelang an einem und demselben Ort fernab der Hofburg. Nicht wenige verstarben im Ausland. Ihre Tätigkeit begannen sie mit dem niedrigen diplomatischen Rang eines Residenten oder Envoyé. Nur einigen gelang es, den Titel 4
MÜLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 70; vgl. zudem jetzt Volker JARREN, Die Vereinigten Niederlande und das Haus Österreich 1648-1748. Fremdbildwahrnehmung und politisches Handeln kaiserlicher Gesandter und Minister, in: Kaufleute und Fürsten. Außenpolitik und politisch-kulturelle Perzeption im Spiegel niederländisch-deutscher Beziehungen 1648-1748. Mit einer Einleitung von Heinz Duchhardt und Horst Lademacher, hrsg. von Helmut Gabel und Volker Jarren, Münster 1998, S. 39-354, hier: S. 46 f. 5 Vgl. zum Folgenden ausführlich MÜLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 215 ff.; ferner jetzt JARREN, Niederlande (Anm. 4), S. 49 ff. 6 Zu den Verhaltensregeln höfischen Lebens, insbesondere am Wiener Hof, vgl. ausführlich Hubert C. EHALT, Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert, München 1980, insbesondere S. 71 ff. 7 Zur Personalrekrutierung vgl. ausfuhrlich MÜLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 235 ff.; JARREN, Niederlande (Anm. 4), S. 52 ff. 8 Aus finanziellen Gründen ist sicher niemand Diplomat des Kaisers geworden, denn die Gehaltssätze lösten keine „Begeisterung" aus. Vgl. MÜLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 180. Zur Bezahlung im Einzelnen vgl. ebd., S. 162 ff.
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eines Envoyé extraordinaire zu erreichen und in den Adelsstand erhoben zu werden. Sieht man einmal von außenpolitischen Krisensituationen ab, so waren die ständigen Gesandten reine Befehlsempfänger und gebunden an oft unpräzis gehaltene Weisungen. Der Kaiser legte, wenngleich er seit 1669 mit der Geheimen Konferenz über ein außenpolitisches Beratergremium verfügte, die außenpolitischen Richtlinien fest und traf alle wesentlichen Entscheidungen selbst, manchmal sogar ohne Wissen der Geheimen Konferenz9. Die Hauptaufgaben der ständigen Gesandten waren bei dieser Kompetenzverteilung klar festgelegt: 1. sollten sie regelmäßig über die gegenwärtigen und zukünftigen außenpolitischen Entwicklungen des Gastgeberlandes berichten. 2. mussten sie die innenpolitische Lage genau beobachten und Informationen über einflussreiche politische Persönlichkeiten sammeln. 3. oblag es ihnen, die Politik ihres Landes zu vertreten und außenpolitische Entscheidungen bei Bedarf zu erläutern. Zudem konnten sie, im engen Rahmen vorgegebener Weisungen, mit Vertragsverhandlungen unterschiedlichster Art betraut werden. Bedingt durch die großen Entfernungen und die wenig präzisen Weisungen, traten erhebliche Kommunikationsverzögerungen und -defizite zwischen den Gesandten und der Hofburg auf. Dies alles machte die Aufgabe der Diplomaten zu einem manchmal schwierigen Balanceakt. Fehl Interpretationen, für die der Gesandte dann geradezustehen hatte, waren deshalb keine Seltenheit. 1.2. Fragestellungen und Forschungsstand Einer dieser bürgerlichen Gesandten, auf die die genannten Karrieremuster zutreffen, war Johann Daniel Kramprich von Kronenfeld. Sein Lebensweg als Diplomat führte ihn über Kopenhagen, Wien und Warschau schließlich nach Den Haag. Die Untersuchung konzentriert sich auf die Zeit Kramprichs in den Niederlanden, wo er von 1667 bis zu seinem Tode 1693 den Posten des ständigen kaiserlichen Vertreters innehatte. Im Mittelpunkt steht dabei sein diplomatischer Arbeitsalltag. Neben den anfallenden Routineaufgaben beschäftigte sich Kramprich zugleich mit Problemen, die seinen Interessen und Neigungen entsprachen. So geraten unterschiedliche Themenbereiche (Wirtschaft und Finanzen, Konfessionsproblematik, diplomatische Intrigen und anderes mehr) in den Blick. Es ist auf diesem Wege zumindest ansatzweise möglich, Aspekte seiner Persönlichkeit herauszuarbeiten, die aufgrund der dürftigen Quellenlage sonst kaum mehr zu erforschen wären. Kramprich ist bisher selten Gegenstand eingehender Forschungen gewesen. In einigen älteren diplomatiegeschichtlichen Arbeiten finden sich wenige Hinweise zu seinem beruflichen Werdegang oder zu seiner Persönlichkeit. Zudem setzen 9
Einzelheiten hierzu finden sich ebd., S. 33 ff.
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sich verschiedene Autoren mit der Marmorbüste und dem Epitaph Kramprichs in der Koblenzer Liebfrauenkirche auseinander10. In neueren Arbeiten wird seine Person wiederholt gewürdigt, allerdings nur am Rande weiter gefasster Fragestellungen. Lediglich Kramprichs religionspolitische Aktivitäten sowie seine Bemühungen um Rangerhöhung als Diplomat sind eingehender dargestellt worden1 Zwar hat Johann Daniel Tagebücher gefuhrt. Sie gelten aber als verschollen. Nur einige wenige Auszüge daraus sind bekannt und wurden bereits im letzten Jahrhundert publiziert12. Erwähnung verdienen auch die Tagebücher der Gebrüder van der Goes. Sie waren nicht nur Zeitgenossen Kramprichs, sondern ihm zugleich infreundschaftlicherWeise verbunden13. Gesandtschaftsberichte und verschiedene Briefwechsel14 aus der Zeit in den Niederlanden sind in großer Dichte vorhanden. Doch lässt sich der frühe persönliche und berufliche Werdegang Kramprichs nur bruchstückhaft nachzeichnen. Welchen Einflüssen er in seiner Kindheit ausgesetzt war, wie seine Er10 Kramprichs Grabmal befindet sich in der Koblenzer Liebfrauenkirche. Aus der älteren Literatur sind vor allem zu nennen Chr. von STRAMBERÒ, Coblenz, die Stadt. Historisch und topographisch dargestellt, in: Denkwürdiger und nützlicher Rheinischer Antiquarius [...]. Von einem Nachforscher in historischen Dingen, 1. Abteilung, 4. Band, Coblenz 1856, S. 442 f.; Adam WOLF, Fürst Wenzel Lobkowitz, erster geheimer Rath Kaiser Leopolds I. 1609-1677. Sein Leben und Wirken, Wien 1869, insbesondere S. 216 f.; PieterL. MULLER, Nederlands eerste betrekkingen met Oostenrijk, toegelicht uit de correspondentie der keizerlijke gezanten te 's-Gravenshage 1658-1678, Amsterdam 1870; Julius WEGELER, Coblenz in seiner Mundart und seinen hervorragenden Persönlichkeiten, Koblenz 1876, ND Wiesbaden 1973, S. 176 ff.; Franz SCHLEICHL, Leopold I. und die österreichische Politik während des Devolutionskrieges 1667/68, Leipzig 1888, insbesondere S. 26 f.; Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Koblenz, bearb. von Fritz Michel, Düsseldorf 1937, S. 190 f. 11 Auf Einzelbelege wird hier verzichtet und auf die folgenden Ausführungen verwiesen. Zu Kramprichs Einsatz für die Katholiken in den Niederlanden vgl. Volker JARREN, Macht- und Konfessionspolitik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Berichte des kaiserlichen Gesandten Johann Daniel Kramprich von Kronenfeld über die Lage der Katholiken und katholischen Ordensgeistlichen in den Vereinigten Niederlanden 1667 bis 1693, in: Jahrbuch des Zentrums für Niederlande-Studien 5/6 (1994/95), S. 219-230; zur Rangerhöhung vgl. JARREN, Niederlande (Anm. 4), S. 68 ff. 12 Die Tagebücher liegen weder in den einschlägigen Bibliotheken noch Archiven der Stadt Koblenz. Für Hilfestellungen bei Nachforschungen sowie für Literaturhinweise danke ich dem Stadtarchiv Koblenz, dem Landeshauptarchiv Koblenz (insbesondere Dr. N. Wex) sowie Dr. A. Jolly. Zu den Tagebuchauszügen vgl. Julius WEGELER, Johannes Kramprich von Cronenfeld, in: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit N. F. 12(1865), Sp. 147 ff., 185 ff. und 228 ff. 13 Briefwisseling tusschen de Gebroeders van der Goes (1659-1673), hrsg. von C. J. GÖNNET, 2 Teile, Amsterdam 1899-1909. 14 Die Gesandtschaftsberichte aus Den Haag liegen im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (künftig: HHStA), zumeist in den Beständen Hollandica und Rep. N. Wichtig sind zudem die Bestände der Familienarchive (FA) Dietrichstein (Briefwechsel mit Kramprich) und Collalto im Mährischen Landesarchiv (ML) Brünn. Nicht ausgewertet wurden die Berichte Kramprichs aus Warschau (1667) sowie seine Berichte an den dänischen Hof aus den Jahren 1658 bis 1663.
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ziehung aussah, welche anderen Erlebnisse ihn nachhaltig geprägt haben - all dies ist nicht bekannt. Somit müssen viele Fragen, die sich aus seinen späteren Handlungen und schriftlichen Stellungnahmen ergeben, unbeantwortet bleiben.
2. Die ersten Lebensjahrzehnte bis 1667 2.1. Herkunft und Ausbildung Über Kramprichs Herkunft und Jugendzeit wissen wir leider fast gar nichts. In der älteren Literatur wird als Geburtsort die Stadt Koblenz im Kurfürstentum Trier genannt. Auch wenn sich Abweichungen zum Epigraph der Marmorbüste Kramprichs in der Koblenzer Liebfrauenkirche ergeben, so dürfte doch kaum Zweifel darüber bestehen, dass Johann Daniel als Sohn des Schöffen und späteren Bürgermeisters Maximilian Kramprich und seiner Ehefrau Gertrud Wendeis am 30. Juni 1622 in Koblenz geboren wurde15. Seine ersten Lebensjahre hat er wohl in Koblenz verbracht. 1626 wurde sein Vater Bürgermeister. Differenzen mit dem erzbischöflichen Landesherrn zwangen Maximilian Kramprich und seine Familie dazu, 1629 in das damals spanische Luxemburg auszuweichen. Um 1633 kehrten sie zurück16. Hier verliert sich nun für einige Jahre die Spur von Johann Daniel vollständig. Vielleicht diente er zunächst als Soldat17. An welcher Universität er sein Jurastudium absolvierte, ist bisher nicht bekannt. Er erwarb den Titel eines Lizentiaten, später auch den Doktorgrad18. Wo er sich seine guten niederländischen Sprachkenntnisse aneignete, ist bisher ungeklärt19. Auch in anderen Disziplinen, wie Staatswissenschaften, muss er umfangreiche Kenntnisse erworben haben. Wirtschaftliche Fragen fanden sein 15 Zur Diskussion in der älteren Literatur vgl. WEGELER, Coblenz (Anm. 10), S. 176 ff.; ferner schriftliche Auskunft des Stadtarchivs Koblenz vom 6.2.1995. Zum Epigraph vgl. ferner STRAMBERG, Coblenz (Anm. 10), S. 442 f.; MICHEL, Denkmäler (Anm. 10), S. 190 f. 16 2000 Jahre Koblenz. Geschichte der Stadt an Rhein und Mosel. Mit Beiträgen von Erich Franke [u. a.], hrsg. von Hans Bellinghausen, Boppard am Rhein 1973, S. 172 f.; Emst von Oidtman und seine genealogisch-heraldische Sammlung in der Universitäts-Bibliothek zu Köln, Bd. 4, bearb. von Herbert M. Schleicher, Köln 1993, S. 243; WEGELER, Coblenz
( A n m . 10), S. 177; DERS., K r a m p r i c h ( A n m . 12), Sp. 147. 17 Nach Ernst von Oidtman (Anm. 16), S. 243, wurde einer der Söhne 1632 Soldat. Allerdings bleibt aufgrund des unklaren Geburtsdatums und der leicht voneinander abweichenden Vornamen der Gebrüder Kramprich zweifelhaft, wer von beiden letztlich gemeint ist. 18 Zur Erlangung der akademischen Grade vgl. Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), hrsg. von Ludwig Bittner und Lothar Groß, Bd. 1 (1648-1715), Oldenburg/Berlin 1936, S. 108 und 160. 19 G. van der Goes äußerte sich in einem Brief an seinen Bruder vom 29.10.1667 positiv über die guten Sprachkenntnisse Kramprichs. Vgl. Briefwisseling (Anm. 13), Teil 1, S. 363 ff., Nr. CXXV, S. 364.
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besonderes Interesse. Jahre später, in Wien, eilte ihm der Ruf voraus, über eine umfassende Allgemeinbildung zu verfügen. 2.2. Erste berufliche Erfahrungen und Eintritt in den diplomatischen Dienst 1658 Nicht lange nach Beendigung seines Studiums scheint Kramprich nach Wien gegangen zu sein. Seine Reise in die Donaumetropole diente dem Ziel, eine Anstellung am kaiserlichen Hof zu bekommen. Die herausgehobene Funktion, die sein Vater in Koblenz innegehabt hatte, sowie dessen Eintreten fur die Belange der kaiserlichen Sache während des Dreißigjährigen Krieges haben dem jungen Johann Daniel den Zugang zu einflussreichen Persönlichkeiten sicherlich erleichtert. Ob er bereits zu diesem Zeitpunkt ein konkretes berufliches Ziel verfolgte, wissen wir nicht. Einige Hinweise erlauben die Vermutung, dass ein Eintritt in das diplomatische Korps nicht Kramprichs erste Wahl gewesen ist. Vielmehr scheint er, seinen ökonomischen Neigungen und Fähigkeiten entsprechend, eine Stelle als Hofkammerrat angestrebt zu haben. Schon bald jedenfalls hatte er Kontakte zu den bedeutenden adeligen Familien Gonzaga und Collalto hergestellt. Insbesondere erwarb er sich das Vertrauen des einflussreichen Fürsten Hannibal von Gonzaga, der später unter Leopold I. Hofkriegsratspräsident war20. Zunächst sehen wir Kramprich als Erzieher in den Diensten Hannibals, dessen Sohn er auf einer Studienreise begleitet hat. Über seine Verbindungen zu Gonzaga könnte er auch den aus Italien stammenden kaiserlichen Diplomaten Claudius Graf von Collalto kennengelernt haben21. Kramprich diente auch Graf Claudius als Erzieher, und zwar über einen längeren Zeitraum hinweg. Er erhielt für seine geleisteten Dienste 1654 verschiedene Schriftstücke und Bücher aus dem Familienvermögen. Im Jahr 1655 übertrugen die Collaltos ihm bis an sein Lebensende die Nutzungsrechte über 60 Morgen Land aus dem Familienbesitz in der Grafschaft San Salvatore (Venetien)22. In der Folgezeit dürfte sich Kramprich erneut in Wien aufgehalten haben, um weitere Beziehungen zu knüpfen. Eine neue Tätigkeit konnte er bereits kurz darauf antreten. Als Privatsekretär folgte er dem Gesandten Johann Freiherr von Goess, dem späteren Bischof von Gurk, 1657 nach Kopenhagen23. Dort gelang 20
WEGELER, Coblenz (Anm. 10), S. 177. Collalto wurde bereits mit 25 Jahren, Anfang des Jahres 1651, zum Reichshofrat ernannt. Vgl. zu seiner Person Oswald von GSCHLIESSER, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung. Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806., Wien 1942, S. 261 f. und 278 sowie Repertorium der diplomatischen Vertreter (Anm. 18), S. 127, 139, 151, 162 und 169. 22 Dies ergibt sich aus verschiedenen Schreiben aus den Jahren 1711/12. Die Erben Collaltos und die Witwe Kramprichs gerieten über einzelne Passagen der Schenkung in einen Rechtsstreit miteinander. Vgl. insgesamt dazu ML Brünn, FA Collalto - G 169 Inventar Nr. 236, C 1 und ebd., Inventar Nr. 438, D 1 - D 82. 23 Zur Tätigkeit von Goess in Kopenhagen siehe Repertorium der diplomatischen Vertreter (Anm. 18), S. 133. 21
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es ihm sehr bald, in dänische Dienste zu treten. Kuiz darauf führte er den Titel eines dänischen Rates. Es ist nicht bekannt, wer diesen Wechsel initiiert hat. Dass sich der später so vehement für die katholischen Belange eintretende Kramprich auf die Gehaltsliste des protestantischen dänischen Königshauses setzen ließ, dürfte aber ausschließlich karriereplanerische Gründe gehabt haben24. Eine endgültige Entscheidung für ein Leben im diplomatischen Dienst war dies, wie bald deutlich werden sollte, keineswegs. Ende 1658 wurde Kramprich im Auftrag des Königs von Dänemark und ausgestattet mit dem niedrigen diplomatischen Status eines Agenten nach Wien geschickt. Vom 27. November 1658 bis zum 20. Niai 1663 sandte er von dort Berichte nach Kopenhagen25. Während seiner gesamten Wiener Jahre hatte Kramprich Kontakt zu einflussreichen Persönlichkeiten gesucht, die bereit waren, ihn zu protegieren. Darunter befanden sich Männer, die später fuhrende Stellungen am Wiener Hofe einnahmen. Diese Kontakte sollten seiner weiteren Karriere zum Teil zugute kommen26. Von besonderer Bedeutung war dabei die Bekanntschaft mit dem späteren kaiserlichen Obersthofmeister (bis 1674) Fürst Wenzel Eusebius Lobkowitz, Herzog von Sagan. 2.3. Kramprichs Berufung auf den kaiserlichen Residentenposten in Den Haag 1667 Kramprich27 nutzte seine Beziehungen konsequent. Von 1663 bis 1667 nahm er, nun bereits schon in kaiserlich-diplomatischen Diensten stehend, verschiedene 24
Dass ein Diplomat in die Dienste eines Landesherrn trat, der einer anderen Konfession angehörte, war für die damalige Zeit im Übrigen nicht ungewöhnlich. 25 Vgl. dazu Danske Gesandter og Gesandtskabspersonale, bearb. von Emil Marquard, Kebenhaven 1952, S. 79; Repertorium der diplomatischen Vertreter (Anm. 18), S. 108; O. SCHUTTE, Repertorium der buitenlandse vertegenwoordigers, residerende in Nederland 1584-1810, Den Haag 1983, S. 145. Zur Tätigkeit Kramprichs in und für Dänemark vgl. auch Briefwisseling (Anm. 13), Teil 1, S. 381-383, Nr. CXXXI, Wien, 24.11.1667, G. v. d. Goes an seiner Bruder in den Niederlanden, S. 381. Vgl. zusammenfassend Václav CIHAK, Les provinces-unies et la cour impériale 1667-1672, Amsterdam 1974, S. 52. Allerdings scheint Kramprich zu dieser Zeit auch für den Kaiser tätig gewesen zu sein. Aus einer Tagebuchaufzeichnung vom 28.9.1660 lässt sich aber nicht erkennen, um welche Art von „Dienst" es sich dabei gehandelt hat. Vgl. dazu WEGELER, Kramprich (Anm. 12), Sp. 148. 26 Nicht all diese Persönlichkeiten verfügten bei Hof, trotz ihrer Amtsbezeichnung, über entscheidende politische Mitspracherechte. Erinnert sei hier nur an Ferdinand Joseph Fürst von Dietrichstein, der zwar seit 1683 das Amt des Obersthofmeisters bekleidete, aber persönlich schwach und ohne Ehrgeiz war und damit auch ohne großen Einfluss auf die Staatsbelange blieb. Kramprich korrespondierte mit ihm seit 1672, zunächst allerdings unregelmäßig. Dietrichstein war dennoch in der Lage, Kramprich bei verschiedenen Anlässen behilflich zu sein. Zu Dietrichstein, einem Freund Leopolds I., vgl. John P. SPIELMAN, Leopold I. Zur Macht nicht geboren, Graz 1981, S. 75, 99 und 144. 27 Kramprich war Ritter des heiligen Mauritius- und Lazarusordens, der sozial-caritative Tätigkeiten auf der Grundlage ritterlich-christlichen Geistes ausübte. Die Mitgliedschaft geht
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Aufgaben in Spanien, Frankreich und Italien wahr. Sein Traumberuf war dies nicht. Im Jahr 1665 wurde ihm die Erziehung des jungen Prinzen von Baden angetragen, denn er genoss mittlerweile einen guten Ruf als Erzieher; seine hervorragende Bildung war allgemein bekannt Daher glaubte auch Obersthofmeister Lobkowitz, Kramprich sei geeignet, die Ausbildung seines Sohnes zu übernehmen28. Kramprich lehnte beide Angebote ab. Statt dessen bewarb er sich um eine Stelle als Hofkammerrat29. Doch seine Bemühungen, in der österreichischen Finanzverwaltung Fuß zu fassen, blieben ergebnislos. Die gleichzeitig unternommenen Versuche, sich im diplomatischen Korps des Kaisers zu etablieren, waren erfolgreicher. Dass er diesen Beruf bis zu seinem Lebensende ausführen würde, war sicher nicht geplant. Anfang 1667 erteilte Leopold I. Kramprich den Auftrag, als kaiserlicher Resident nach Warschau zu gehen, und noch im gleichen Jahr wechselte er auf den wesentlich bedeutsameren Gesandtschaftsposten in Den Haag über50. Dort blieb er fast 26 Jahre lang bis zu seinem Tode im Jahr 1693. Er stand im Haag aber nicht nur in Diensten des Kaisers. Wie viele andere Diplomaten seiner Zeit, war er zugleich für verschiedene deutsche Reichsstände bzw. Fürsten, manchmal nur für zeitlich befristete Sondermissionen, diplomatisch tätig31. Für bestimmte diplomatische Karrierewege hat Klaus Müller zutreffend die Bezeichnung „Berufsdiplomaten wider Willen" gewählt32. Berücksichtigt man Kramprichs Interessen und Neigungen, die primär dem Bereich der Wirtschaftsund Finanzpolitik zuzuordnen sind, so hat diese Bezeichnung auch für ihn volle Gültigkeit. Wie war die außenpolitische Situation zum Zeitpunkt der Ernennung Kramprichs 1667, und in welchem Zustand befand sich das österreichisch-niederländische Verhältnis? Am 1. Oktober 1667 verstarb der erste ständige österreichische u. a. aus dem Epigraph Kramprichs hervor. Siehe Denkmäler (Anm. 10), S. 192. Vgl. zudem WOLF, Lobkowitz (Anm. 10), S. 217; MULLER, Nederlands eerste betrekkingen (Anm. 10), S. 14. 28 WOLF, Lobkowitz (Anm. 10), S. 216 f. 29 Kramprich wurde später zumindest Titularhofrat. Dies ergibt sich aus einem Schreiben eines Notars, das am 9./10.12.1711 im Haus der Witwe Kramprichs in Koblenz verfasst worden ist. Siehe ML Brünn, FA Collalto - G 169 Inventar Nr. 438, D 10. 30 Repertorium der diplomatischen Vertreter (Anm. 18), S. 160; SCHUTTE, Repertorium (Anm. 25), S. 145; ClHÁK, Les provinces-unies (Anm. 25), S. 52. 31 1682 diente er dem Fränkischen Kreis und dem Kurrheinischen Kreis, 1683 Pfalz-Neuburg und dem Kurfürstentum Sachsen (jeweils Beitrittsverhandlungen zum Garantievertrag von Laxenburg). Neben diesen nur wenige Wochen dauernden Kurzmissionen vertrat er zudem von 1670 bis 1679 im Range eines Residenten das Kurfürstentum Trier. Im Jahr 1674 führte er für den Kaiser mit Braunschweig-Lüneburg-Calenberg Bündnisverhandlungen. Darüber hinaus hatte ihn Leopold I. zu seinem Residenten im Bistum Lüttich (von 1680 bis 1687) ernannt. Kramprich residierte während dieser Zeit jedoch weiterhin in Den Haag. S. Repertorium der diplomatischen Vertreter (Anm. 18), S. 122, 131, 176, 408, 456 und 542. Vgl. auch SCHUTTE, Repertorium (Anm. 25), S. 145. 32
MÜLLER, G e s a n d t s c h a f t s w e s e n ( A n m . 3 ) , S. 2 1 2 .
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Vertreter in Den Haag Jean Friquet. Die Bedeutung der Niederlande innerhalb des Staatengefüges Europas wie auch die aktuelle außenpolitische Situation (Tripelallianz) machten fur den Kaiser eine rasche Neubesetzung dieses Postens notwendig. Die Haager Gesandtenstelle war zwar politisch bedeutsam, aber nicht beliebt, denn viele adelige Diplomaten fanden nur schwer Zugang zur bürgerlichen Welt der Niederlande, in der der Kaufmannsgeist regierte33. In Wien gab es zudem grundsätzliche Vorbehalte gegenüber regelmäßigen Beziehungen. Die Niederlande galten aufgrund ihres Unabhängigkeitskampfes gegen Spanien als Rebellen, die sich widerrechtlich vom Reichsverband gelöst hatten. Wegen ihrer kalvinistischen Glaubensausrichtung wurden sie von einflussreichen Kreisen in der Hofburg zudem als Ketzer betrachtet und verachtet. Der fromme Leopold I. konnte sich von solchen Einschätzungen anfangs ebenfalls nur schwer lösen. Die das Gottesgnadentum ablehnende republikanische Staatsform tat ein Übriges, das Misstrauen gegen die Niederlande wach zu halten34. So wichtig die Stelle im Haag sein mochte, sie zählte sicherlich mit zu den schwierigsten Posten, die der Kaiser zu vergeben hatte. Zeitgenossen sahen in Kramprich nicht unbedingt den idealen Nachfolgekandidaten. Wie wir u. a. aus dem Briefwechsel der Gebrüder Goes wissen, waren hochqualifizierte Persönlichkeiten für diese Aufgabe im Gespräch. Kramprich, so G. v. d. Goes gegenüber seinem Bruder am 29. Oktober 1667, sei zwar ein „goet en eerlyck man". Doch gebe es einige, die glaubten, dass es besser sei, einen im diplomatischen Dienst sehr erfahrenen Mann zu schicken, der das Niederländische gut beherrsche „en oock recht van dat humeur en conversatie is om met die luiden te handelen en converseren"35. Ohne direkt auf Kramprich Bezug zu nehmen, meinte Goes, dass viele kaiserliche Diplomaten ihren Posten nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten, sondern aufgrund von persönlichen Beziehungen bekämen. Diese auf das Höflingswesen abzielende Kritik war natürlich berechtigt und traf auch auf Kramprich zu, der sich diesem System ebenfalls nicht entziehen konnte und wollte. Mit seinen Äußerungen hatte Goes zumindest indirekt Kramprichs Qualifikationen in Frage gestellt. Sein Urteil revidierte er jedoch schon wenige Wochen später nicht unwesentlich. Er habe noch einmal mit Kramprich gesprochen; „hy is my daerin (in dem Gespräch, V. J.) seer toegevallen, dat hy seer wel Neerlandts spreeckt, tghene ick niet geweten hebbe, al ist dat hem voor langhe jare hebbe gekent; is en seer discreet en eerlyck man, daer alle luiden getuigenisse van geven"36. Trotz dieser nun deutlichen Aufwertung der Fähigkeiten und 33
Ebd., S. 278; Lothar SCHILLING, Kaunitz und das Renversement des alliances. Studien zur außenpolitischen Konzeption Wenzel Antons von Kaunitz, Berlin 1994, u. a. S. 66; vgl. jetzt auch mit weiteren Belegen JARREN, Niederlande (Anm. 4), S. 65 ff. und 144 ff. 3 Vgl. zu allen Aspekten ausführlich ebd., S. 111 ff. und 127 ff. 35 Briefwisseling (Anm. 13), Teil 1, S. 363-367, Nr. CXXV; Zitate nach S. 364. 36 Ebd., S. 381-383, Nr. CXXXI, Wien, Goes an seinen Bruder, 24.11.1667, Zitat S. 381.
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Qualitäten Kramprichs glaubte Goes, dass Johann Freiherr von Goess die ideale Besetzung fur Den Haag wäre. Doch der hochqualifizierte Goess, das wusste auch der Niederländer, war zu diesem Zeitpunkt am kurfürstlichen Hof in Berlin unersetzlich37. Goess selbst hatte Anfang September 1667 Leopold I. zum wiederholten Mal auf das hohe Alter und den schlechten Gesundheitszustand Friquets hingewesen. Er hielt eine Vakanz des Postens für gefahrlich38 und empfahl als Nachfolger Theodor Altet Heinrich Reichsgraf von Stratmann39. Die Entscheidung zugunsten Kramprichs fiel zwar spätestens Anfang September40. Doch mit der Entsendung ließ man sich in der Wiener Hofburg wieder einmal Zeit, so dass der Kaiser vier Monate lang ohne Vertreter in Den Haag auskommen musste. Am 14. September 1667 verließ Kramprich Warschau und erreichte nach einem kurzen dienstlichen Aufenthalt in Krakau am 3. Oktober Wien. Dort wurden ihm ausführliche Instruktionen mit auf den Weg gegeben. Wenige Tage nach seiner Abschiedsaudienz beim Kaiser verließ er am 23. Oktober Wien Richtung Den Haag, das er am 10. Dezember 1667 erreichte41. Welche Gründe für die Ernennung Kramprichs ausschlaggebend gewesen sind, lässt sich mit letzter Gewissheit kaum beurteilen. Denn wie sich die eigene politische Haltung und die Beziehungen zu bedeutenden Persönlichkeiten auswirkten, war aufgrund der verschiedenen und unterschiedlich einflussreichen Interessengruppen am Wiener Hof nur schwer kalkulierbar. Die auf Ausgleich zu Frankreich bedachte Position des Fürsten Wenzel Eusebius von Lobkowitz teilte Kramprich, der beim Obersthofmeister ja keineswegs schlecht angesehen war, nicht. Im Gegenteil, Kramprich wird bereits 1668 zu Recht der antifianzösischen Partei zugerechnet42. Er hatte seine Berufung wohl eher den Gegnern der Politik des Obersthofmeisters zu verdanken. Trotz seiner Stellung und seines Einflusses beim Kaiser 37
Ebd., S. 387-390. Nr. CXXXIII, Wien, 11.12.1667, hier: S. 388. Heinrich von SRBDC, Einleitung, in: Österreichische Staatsverträge. Niederlande, Bd. 1 : Bis 1722, bearb. von dems., Wien 1912, S. 60, meint ebenfalls, die Vakanz des Postens sei „ein schwerer Fehler des Wiener Hofes" gewesen. 39 Zu Stratmann vgl. zuletzt den Aufsatz von Hans SCHMIDT, Theodor Altet Heinrich Reichsgraf von Stratmann (ca. 1637-1693). Eine Diplomatenkarriere des Barock, in: Weltpolitik - Europagedanke - Regionalismus. Festschrift für Heinz Gollwitzer zum 65. Geburtstag am 30. Januar 1982, hrsg. von Heinz Dollinger [u. a.], Münster 1982, S. 71-91. 40 Dies ergibt sich aus Kramprichs Tagebuchaufzeichnungen. Vgl. WEGELER, Kramprich (Anm. 12), Sp. 186. Vgl. zudem Schreiben G. v. d. Goes vom 22.11.1667, in Briefwisseling (Anm. 13), Teil 1, S. 381-383, Nr. CXXX, hier S. 380. 41 Vgl. die Tagebuchaufzeichnungen Kramprichs bei WEGELER, Kramprich (Anm. 12), Sp. 186. 4Í SRBIK, Einleitung (Anm. 38), S. 63; MÜLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 218 und 343, mit Hinweisen auf die Bewertungen in der älteren Literatur. Zur Haltung von Lobkowitz und anderer Parteiungen am Wiener Hof vgl. zudem SPIELMAN, Leopold I. (Anm. 26), insbesondere S. 41, 56 ff. und 74 ff. 38
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konnte selbst ein so mächtiger Mann wie Lobkowitz nicht jeden seiner diplomatischen Wunschkandidaten durchbringen43. Es ist ebenso nicht auszuschließen, dass eine andere Interessengruppe letztlich den Ausschlag fiir die Besetzung des Postens gegeben hat, die Jesuiten. Ihr Einfluss auf den sehr religiösen Leopold I. war gerade in personalpolitischen Entscheidungen groß44. Den Jesuiten fühlte sich Kramprich, aus welchen Gründen auch immer, ein Leben lang verbunden, und er hat sich später wiederholt fiir sie in den Niederlanden eingesetzt.
3. Kramprichs Jahre in Den Haag 1667 bis 1693 3.1. Diplomatenalltag und politische Höhepunkte Es ist eingangs schon darauf hingewiesen worden, dass die Aufgabe der ständigen diplomatischen Vertreter aus Routinetätigkeiten wie dem regelmäßigen Bericht über alle relevanten Ereignisse und Entscheidungen des Gastlandes bestand. Kramprich bemühte sich natürlich um vielfältige Kontakte mit einflussreichen Persönlichkeiten. Dadurch versuchte er einerseits, die nächsten außenpolitischen Schritte des Gastlandes rechtzeitig in Erfahrung zu bringen. Andererseits verfolgte er damit das Ziel, selbst Einfluss auf die Entscheidungsfindung zu nehmen. Allerdings dürften die Gesandten nur bei den Personen Gehör gefunden haben, die der kaiserlichen Politik bzw. einer niederländisch-österreichischen Allianz von vornherein wohlwollend gegenüberstanden45. In der Auseinandersetzung mit Frankreich nutzte Kramprich als einer der wenigen kaiserlichen Diplomaten neben Franz Paul Freiherr von Lisola zugleich die publizistischen Möglichkeiten, um die öffentliche Meinung in den Niederlanden für die Ziele der kaiserlichen Politik zu gewinnen46. 43
Vgl. dazu ausführlich MOLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 217 ff. Der Einfluss von Pater Philipp Miller, Leopolds I. Gewissensrat von 1653 bis 1678, zumindest auf die Ämtervergabe, scheint nicht gering gewesen zu sein, ebensowenig die des Kapuzinerpaters Emmerich Sinelli seit Ende der 1660er Jahre. Vgl. zu Miller das vorsichtig abwägende Urteil ebd., S. 230; zu Sinelli ebd., S. 229 f.; vgl. zudem Robert J. W. EVANS, Das Werden der Habsburgermonarchie 1550-1700. Gesellschaft, Kultur, Institutionen, Wien 1986, S. 115 f.; SPIELMAN, Leopold I. (Anm. 26), S. 42, 56 und 111. Zur Frömmigkeit Leopolds ebd., S. 33 f. u. ö. 45 Die immer wieder vorkommenden Fälle von Bestechungen waren ebenfalls eine Möglichkeit, Beschlussfassungen im Sinne Wiens zu erreichen. Ein konkreter Fall während der Tätigkeit Kramprichs ist zwar nicht überliefert. Jedoch dürfte auch er sich dieser Methode bedient haben. 46 Kramprich war zudem Verfasser einer Flugschrift. Vgl. MOLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 303 f., insbes. Anm. 329.; CLHÁK, Les provinces-unies (Anm. 25), S. 21 f.; JARREN, Niederlande (Anm. 4), S. 104 f. und 163 ff. Zu Lisola (und Kramprich) vgl. jetzt auch Markus BAUMANNS, Das publizistische Werk des kaiserlichen Diplomaten Franz Paul Freiherr von Lisola (1613-1674). Ein Beitrag zum Verhältnis von absolutistischem Staat, Öffentlichkeit und Mächtepolitik in der frühen Neuzeit, Berlin 1994. Zur Bedeutung 44
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Für den ständigen Vertreter des Kaisers gab es aufgrund des permanenten Geldbedarfs des Kaisers, insbesondere in Kriegszeiten, eine zusätzliche Aufgabenstellung. Er musste nicht nur Subsidienverhandlungen mit den einzelnen Provinzen und den Generalstaaten führen, sondern auch Obligationen an der Amsterdamer Börse, dem fuhrenden Finanzplatz Europas zur damaligen Zeit, mit Gewinn verkaufen47. An einigen Beispielen soll gezeigt werden, wie Kramprich einzelne herausragende niederländische Persönlichkeiten beurteilte und welches Urteil er über das republikanische Gemeinwesen Niederlande, das sich so deutlich von den Fürstenstaaten unterschied, besaß. Kramprich pflegte trotz unterschiedlicher politischer Grundhaltungen gute Beziehungen zum Ratspensionär Jan de Witt und anderen fuhrenden Persönlichkeiten wie Coenraad van Beuningen. Sein Urteil über de Witt, der bis zu seinem gewaltsamen Tode im Jahre 1672 die niederländische Politik bestimmte, war differenziert. Er hielt ihn aufgrund seiner republikanischen Gesinnung nicht nur fur einen Gegner des Prinzen von Oranien, sondern für einen Feind aller Könige und Potentaten. Kurz nach de Witts Ermordung warf er dem Ratspensionär vor, in den letzten Jahren mehrere „notable fahler" begangen zu haben. Es sei politisch mehr als unklug gewesen, sich aus persönlichem Hass nicht der Freundschaft des englischen Königs versichert zu haben. Deshalb sei nämlich eingetreten, was de Witt selbst immer zu verhindern gesucht habe: sich Frankreich und England gleichzeitig zum Feind zu machen. Im Umgang mit anderen Staaten hätten die Brüder de Witt den Bogen überspannt und sich so Ablehnung und Hass zugezogen48. Bestimmte Charaktereigenschaften Jan de Witts, wie dessen Arroganz, empfand Kramprich als negativ49. Zu Recht hielt er manche politischen Einschätzungen des Ratspensionärs für falsch. Bei aller Kritik erkannte er durchaus das der öffentlichen Meinung in den Niederlanden vgl. mit vielen Belegen Simon SCHAMA, Überfluß und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im goldenen Zeitalter, München 1988; siehe auch Andreas GESTRICH, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, insbes. S. 86 ff. und 194 ff. 47 Vgl. dazu Kap. 3.2. 48 Siehe ausführlich Kramprichs Bericht samt Beilage an Leopold I. vom 22.8.1672, HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 32, fol. 36-43r, insbesondere fol. 36v und 37r, das Zitat ebd., fol. 37r sowie ebd., fol. 39r/v. Vgl. u. a. auch MULLER, Nederlands eerste betrekkingen (Anm. 10), S. 15 und 42 f. Bereits 1669 hatte Kramprich gemeldet, dass de Witt in einem Buch gegen den Prinzen und „alle Monarchische Regirung grob geredt" habe. Vgl. Bericht an Leopold I. vom 13.6.1669, ebd., Hollandica Kart. 6 Konv. 2, fol. 82-99v, hier: fol. 85r. Die auch in anderen Punkten geäußerte frühe Kritik Kramprichs an de Witt widerlegt die Behauptung von MULLER, Nederlands eerste betrekkingen (Anm. 10), S. 42 f., der kaiserliche Gesandte habe nach dem Tod de Witts sich in seinen Berichten als Höfling erwiesen und deshalb den Republikanern noch „einen Tritt" mitgeben wollen. 49 Erstaunt meldete Kramprich am 23.8.1668 dem Kaiser, mit welcher Selbstgefälligkeit sich de Witt über seine eigenen politischen Fähigkeiten ihm gegenüber geäußert habe. Vgl. HHStA Wien, Hollandica Kart. 5 Konv. 2, fol. 36-39v, insbesondere fol. 36r/v.
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Lebenswerk der Gebrüder de Witt und deren Leistungen für die Niederlande an50. Die Behauptung von Adam Wolf jedoch, der kaiserliche Resident habe stark mit den Gebrüdern de Witt sympathisiert, geht zu weit51. Hingewiesen sei nur auf Kramprichs frühe ablehnende Haltung gegen die vom Ratspensionär betriebene Politik des Ausgleichs mit Frankreich52. Zudem lag Kramprich, ideologisch gesehen, die oranische Partei weit mehr am Herzen als die von den Witt verkörperte Regentenpartei. Die Regentenherrschaft betrachtete er mit tiefer Skepsis und Ablehnung. Kramprich kritisierte den zu starken Einfluss, den die einzelnen Provinzen besaßen. Darin sah er den Hauptgrund dafür, dass sich außenpolitische Entscheidungen in unverantwortlicher Weise immer wieder in die Länge zogen. Vor allem missfiel ihm der weit verbreitete Friedenswille einzelner Provinzen und Handelsstädte. In der Person des Statthalters, des Prinzen von Oranien, sah er hingegen den niederländischen Hoflnungsträger für die Durchsetzung einer aktiven und offensiven Kriegspolitik gegen Frankreich. Trotz der grundsätzlich positiven Einstellung dem Prinzen und der Statthalterschaft gegenüber blieb bei der Frage nach der bündnispolitischen Zuverlässigkeit der Niederlande bei Kramprich ein Missbehagen bestehen. Seine Zweifel gründeten auf verschiedenen Säulen. Die Rücksichtnahme auf den Willen bzw. die Stimmung des Volkes, des Pöbels, machte in seinen Augen Den Haag zu einem chronisch unzuverlässigen und unberechenbaren Bündnispartner. Ebenso kritisierte er die herausragende Stellung der Provinz Holland innerhalb des niederländischen Staatsgefüges. Dort bestimmten Handelsfragen die außenpolitischen Interessen wesentlich mit. Die deshalb stark ausgeprägte Neigung zum friedlichen Kompromiss war für Kramprich nicht im Sinne kaiserlicher Politik. Teilnahme an wichtigen Bündnisvertragsverhandlungen oder anderen außenpolitischen Großereignissen waren, persönlich gesehen, sicher Höhepunkte im Arbeitsleben eines ständigen Gesandten. Ein solches Ereignis war zweifellos das antifranzösische Bündnis zwischen den Generalstaaten und dem Kaiser im Jahre 1673. Die wesentlichen Verhandlungen wurden zwar in Wien und nicht in Den Haag geführt53. Aber Franz Paul Freiherr von Lisola, der sich von 1669 bis 1673 in Den Haag aufhielt, hatte dafür den Boden bereitet. Lisolas vehemente und leidenschaftliche Forderungen nach einem Bruch mit Frankreich und einem 50 Vgl. Bericht Kramprichs über die Ermordung der Gebrüder de Witt an Leopold I., hier: Beilage 1 zum Bericht vom 22.8.1672, HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 32, fol. 39-40r, besonders fol. 40r. 51 Dies glaubt WOLF, Lobkowitz (Anm. 10), S. 388 f., aus zwei privaten Schreiben Kramprichs an Hofkanzler Lobkowitz herausgelesen zu haben. 52 Bereits in einem Bericht vom 9.1.1668 an Leopold I. beklagte er den Friedenswillen de Witts gegenüber Frankreich. Vgl. HHStA Wien, Hollandica Kart. 5 Konv. 1, fol. 26-29v, hier: fol. 26-27v. 53 Vgl. im Einzelnen Österreichische Staatsverträge (Anm. 38), S. 137 ff.
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Zusammengehen Wiens mit Den Haag unterstützte Kramprich voll und ganz54. Die wesentlichen Vorverhandlungen führte zwar der ranghöhere Lisola, der auch alle wichtigen Berichte selbst konzipierte. Dennoch hat Kramprich seine Rolle als Helfer Lisolas hervorragend ausgefüllt. Das hat beiden Diplomaten 1672/73 auch vom Kaiser die Mahnung eingetragen, sich nicht zu sehr für ein Bündnis mit den Generalstaaten zu engagieren. Die Zusammenarbeit mit Lisola, dem zu diesem Zeitpunkt profiliertesten und engagiertesten kaiserlichen Diplomaten, war vielleicht der Höhepunkt in Kramprichs Diplomatenleben55. Der Kongress von Nimwegen 1676-1678/79 fand ohne seine direkte Beteiligung statt Zu einem solch wichtigen Kongress schickte der Kaiser natürlich weitaus erfahrenere Diplomaten oder gar hochrangige Minister. Allerdings sollte Kramprich von Den Haag aus der kaiserlichen Gesandtschaft zuarbeiten. Von Nimwegen erhielt er auch verschiedene wichtige Aufgaben zugewiesen, die er offenbar zur Zufriedenheit des Prinzipiiigesandten Johann Freiherr von Goess, für den er bekanntlich als Sekretär in Dänemark tätig gewesen war, erledigte. Auf dem Haager Kongress 1689-1693 war Kramprich selbst zwar zugegen, jedoch war er stets den anderen diplomatischen Vertretern des Kaisers untergeordnet und konnte sich kaum in Szene setzen. 3.2. Wirtschaftspolitische Aktivitäten Kramprichs erfolglose Versuche, in der österreichischen Finanzverwaltung Fuß zu fassen, sind geschildert worden. Sein Interesse an Wirtschaftsfragen hatte ihn früh in Kontakt mit Johann Joachim Becher gebracht. Becher war einer der bedeutendsten Frühmerkantilisten seiner Zeit und besuchte mehrmals während Kramprichs Residentenzeit die Niederlande. Bechers Ziel bestand in der Gründung einer sog. Okzidentalkompagnie, die den Handel der habsburgischen Erblande mit den Niederlanden intensivieren sollte. In Kramprich, mit dem er in den folgenden Jahren in Korrespondenz stand, fand Becher einen engagierten Verbündeten für seine Pläne. Auch Lisola unterstützte das Projekt56. 54
Zur guten Zusammenarbeit beider Diplomaten vgl. Alfred Francis PRIBRAM, Franz von Lisola und der Ausbau der Tripleliga in den Jahren 1670 und 1671, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 30 (1909), S, 444-500; österreichische Staatsverträge (Anm. 38), S. 65 ff., 109 ff. und 137 ff. 55 BAUMANNS, Werk (Anm. 46), S. 145, spricht ohne näheren bibliographischen Hinweis von einer Freundschaft beider Diplomaten. 56 Vgl. ausführlich Herbert HASSRNGER, Johann Joachim Becher 1635-1682. Ein Beitrag zur Geschichte des Merkantilismus, Wien 1951, insbes. S. 164 ff.; zur Rolle Kramprichs vgl. bereits MULLER, Nederlands eerste betrekkingen (Anm. 10), S. 15; zu der Lisolas Johannes HALLER, Die deutsche Publizistik in den Jahren 1668-1674. Ein Beitrag zur Geschichte der Raubkriege Ludwigs XIV., Heidelberg 1892, hier: Anhang V, S. 101 ff.; zu beiden zuletzt MÜLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 278 f. Der Briefwechsel Kramprichs mit Becher u. a. aus den Jahren 1671 und 1672 ergibt sich aus abgedruckten Briefen bei Johann Joachim BECHER, Politischer Diseurs von den eigentlichen Ursachen
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Becher hat sich im Sommer 1669 erneut in den Niederlanden aufgehalten und sofort Kontakt zum kaiserlichen Residenten aufgenommen57. Die Provinzialstände von Holland und Friesland diskutierten zu dieser Zeit nämlich darüber, ob Retorsionszölle auf französische Waren wie Salz, Branntwein und Wein erhoben werden sollten. Kramprich informierte Leopold I. umgehend darüber, dass die Provinzen nach neuen Importeuren Ausschau hielten. Als Handelsweg brachte Johann Daniel den Rhein ins Gespräch. Allerdings wies er darauf hin, dass der Schiffsverkehr durch Zölle und Stapel viel zu stark behindert sei58. Die Möglichkeiten zur Intensivierung des Warenverkehrs zwischen Österreich und den Niederlanden hatte Becher bereits in einer Denkschrift vom 20. August 1670 umrissen59. In enger Zusammenarbeit mit Kramprich gelang es Becher, fiir den Handel mit verschiedenen Rohstoffen holländische Kaufleute zu interessieren. Doch mangelnde Entschlossenheit auf Seiten Wiens ließen das Unternehmen nicht zustande kommen60. Der Plan, österreichische Weine auf dem Landweg in die Niederlande zu transportieren, schien hingegen erfolgversprechender. Bei den Verkaufsverhandlungen, die Becher im Sommer mit Unterstützung von Lisola und Kramprich begann, ergaben sich allerdings Schwierigkeiten. Die hohen Frachtkosten, hervorgerufen durch die vielen Landzölle, machten trotz vorhandener holländischer Nachfrage alle vernünftigen Preiskalkulationen zunichte61. Zu allem Unglück entzog die Hofkammer in Wien dem Projekt jede weitere Unterstützung. Sie hielt das Geschäft für zu riskant und verwies auf ungeklärte Bürgschaftsfragen. Trotz monatelanger Bemühungen Bechers und Kramprichs scheiterten alle weiteren Versuche im März 1672 am Widerstand der Hofkammer und ihres skeptischen Präsidenten62. Kurz darauf überfiel Frankreich die Niederlande. Sollte ein umfangreicher Wirtschaftskrieg zwischen beiden Staaten ausbrechen, so die Überlegung Kramprichs, war dies eine reelle Chance für habsburgische Exporte63. Allerdings waren dem Gesandten die Probleme bewusst, die der Umsetzung solcher Pläne noch im Wege standen. Zum einen konnte der Rhein durch die fortdauerndenfranzösischenExpansionsversuche kaum als sicherer Handelsweg gelten. Zum anderen behinderten nach wie vor die Zoll- und Stapelrechte eine vor aides Auf- und Abnehmens der Städte, Länder und Republicken, [...], Frankfurt a. M. 2 1673, S. 681 ff. und 752 f. HASSINGER, Becher (ANM. 56), S. 49. 58 Bericht vom 7.10.1669, HHStA Wien, Hollandica Kart. 6 Konv. 4, fol. 109v, hier: fol. 2r/v. 59 HASSINGER, Becher (Anm. 56), S. 165. 60 Ebd., S. 166 f. 61 Ebd., S. 152 und 167 ff. 62 Ebd., S. 170 f., Zitat S. 171. Noch am 15.2.1672 hatte Kramprich versucht, die Zweifel des Hofkammerpräsidenten auszuräumen. Vgl. BECHER, Diseurs (Anm. 56), S. 754 ff. 63 HASSINGER, Becher (Anm. 56), S. 171. 37
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lem kostengünstige und zeitsparende Handelsschiffahrt. Da viele Anrainerstaaten ihre Einzelinteressen verfolgten, war kaum auf eine Verbesserung der Situation zu hoffen. Um den Weinabsatz überhaupt erst in Schwung zu bringen, mussten die niederländischen Importzölle gesenkt werden. Vertreter der Provinz Holland forderten aber als Vorleistung u. a. eine Senkung der Rhein-, Weser- und Elbzölle sowie Erleicherungen bei den rheinischen Stapelrechten. Kramprich glaubte, dass ein Erfolg vor allem dann zu erwarten sei, wenn die Sache mit dem Mainzer Stapel „könt gerichtt werden". Er hatte deshalb bereits den Kurfürsten von Trier und wegen der Elbzölle den kaiserlichen Diplomaten in Berlin Johann Freiherr von Goess informiert64. Kramprich sah bei der Umsetzung seiner Ideen nicht nur große Chancen, den Handel im ganzen Reich zu fördern, sondern zugleich auch die Möglichkeit, den französischen zu schädigen „Undt Ihnen (den Franzosen, V. J.) Jährlichß mit diesen Undt anderen waaren Vielle millionen auß dem beutell" zu ziehen. Doch er wusste um die wirtschaftlichen Interessenlagen, insbesondere die der Provinz Holland. Diese wollte das ohnehin nur begrenzt wirksame Verbot für französischen Wein- und Branntwein rasch aufheben zu lassen, um die Bevölkerung endlich wieder ausreichend mit diesen Gütern versorgen zu können65. In der Tat stellte die schwankende Handelspolitik der Niederlande ein Problem dar. Der Wirtschaftskrieg mit Frankreich ging vor allem zu Lasten der Handelsnation Niederlande selbst. Zwar hatten die Generalstaaten mit dem wirtschaftlichen Hauptkonkurrenten England im Februar 1674 Frieden geschlossen. Aber da sich das Inselkönigreich nicht am Wirtschaftskrieg gegen Paris beteiligte, war es direkter Nutznießer der Politik Den Haags. Um langfristig nicht Absatzmärkte an England zu verlieren, glaubten die Niederländer, ihre Wirtschaftsblockade zumindest teilweise aufheben zu müssen. Am 23. Oktober 1674 ließen die Generalstände Kramprich mitteilen, dass durch Resolution vom 9. Oktober die Einfuhrverbote u. a. fur französische Weine aufgehoben worden seien. Sie wiesen nachdrücklich auf die finanziellen Auswirkungen des Handelskriegs hin und argumentierten nicht zu Unrecht, dass die Alliierten enorme Subsidien verlangten, deren Zahlung aber nur durch einen uneingeschränkten Handel gewährleistet werden könnte. Da Kramprich zudem weder aus Berlin noch aus Trier Reaktionen auf seine Anfragen bekommen hatte, endeten seine Vorstöße abermals erfolglos66. Der Gesandte gab jedoch nicht auf und unterbreitete in den folgenden Jahren Vorschläge zur Verlagerung des holländischen Handels von den venezianischen 64
Vgl. Bericht an den Kaiser vom 24.9.1674, HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 33 fase. 29, pars 1, fol. 248-252r, insbes. fol. 249r-250v, Zitate fol. 250r und 250v. 65 Ebd., Zitat fol. 249v. 66 Vgl. dazu den Bericht vom 25.10.1674 an Leopold I., ebd., fol. 312-316r, hier: fol. 312-314V.
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zu den habsburgischen Adriahäfen67. Zudem hielt er an vielen Plänen Bechers unbeirrbar fest. Dies belegt seine 1690 erneut und wieder ergebnislos vorgetragene Initiative, die Handelshemmnisse auf dem Rhein abzubauen68. Becher selbst war Ende der 1670er Jahre Opfer einer Intrige am Wiener Hof geworden und hatte bereits vor seinem Tod 1682 resigniert69. Kaum ein Diplomat beschäftigte sich so intensiv mit wirtschafts- und handelspolitischen Problemen wie Kramprich. Gleiches gilt für das Bank- und Börsenwesen. Kramprich und Lisola erkannten aufgrund ihrer Herkunft und Ausbildung deren Relevanz für die Politik des Kaisers, während viele Adelige in kaiserlichen Diensten der bürgerlichen Finanzwelt verständnislos gegenüberstanden70. Ein Beispiel für Kramprichs Aktivitäten sei angeführt. Im Juli 1675 hatte er dem Kaiser vorgeschlagen, in Amsterdam einen Konsul zu ernennen. Dieser könne anfallende zwischenstaatliche Handelsangelegenheiten in die Hand nehmen, Veränderungen an der Börse sofort nach Wien berichten und vor allem zum rechten Zeitpunkt finanzielle Transaktionen im Rahmen der kaiserlichen Subsidiengeschäfte tätigen. Kramprich verwies darauf, dass andere Staaten längst einen solchen Schritt unternommen hatten71. Der Vorstoß des Gesandten, der sich im Juli auch die Unterstützung des kaiserlichen Diplomaten und Generals Marchese di Grana Caretto in dieser Angelegenheit sicherte, lief sich jedoch wieder einmal im sandigen Entscheidungsgetriebe Wiens fest72. Erst 1690 kam es zu der längst überfalligen Ernennung eines kaiserlichen Agenten73. Eine solch späte Entscheidung ist in Anbetracht der notorischen österreichischen Finanznot um so unverständlicher, da ein Agent direkt an der Amsterdamer Börse die als Obligationen ausgegebenen niederländischen Subsidien67 Vgl. MÜLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 278 f., dort auch weitere Literaturhinweise. 68 Vgl. den Bericht an Leopold I. vom 7.11.1690, HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 71, pars 4, fol. 228r/v, sowie als Anlage dazu Kopie des Schreiben Kramprichs an den pfälzischen Kurfürsten vom 31.10.1690, ebd., fol. 229r/v. 69 Kramprich war an der Intrige nicht beteiligt. Vgl. dazu HASSINGER, Becher (Anm. 56), S. 240 f., in Abgrenzung zu anders lautenden Urteilen in der älteren Literatur. 70 Vgl. MÜLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 278 f.; zudem JARREN, Niederlande (Anm. 4), S. 65 f. 71 HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 34 fase. 29, pars 2, Nr. 176, fol. 162-166r, hier: fol. 165v und 166r. Als Kandidaten präsentierte Kramprich den Kaufmann Johann Franz Massis. Kramprich und Lisola hatten aber schon einige Jahre früher einen solchen Vorstoß beim Kaiser unternommen. Vgl. MÜLLER, Gesandtschaftswesen (wie Anm. 3), S. 288. 72 Vgl. dazu bereits Heinrich von SRBIK, Der staatliche Exporthandel Österreichs von Leopold I. bis Maria Theresia. Untersuchungen zur Wirtschaftsgeschichte Österreichs im Zeitalter des Merkantilismus, Wien/Leipzig 1907, ND Frankfurt a. M. 1969, S. 76, insbes. Anm. 6. 73 SCHUTTE, Repertorium (Anm. 25), S. 176, nennt für 1690 bis 1703 den Agenten Johannes Romswinckel (1652-1703), während MÜLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 288, unter Bezugnahme auf die ältere Literatur, als erstes Jahr fälschlicherweise 1695 nennt.
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gelder zum finanziell günstigsten Zeitpunkt sofort hätte verkaufen können. Dies war auch der konkrete Anlass für Kramprichs Vorstoß. Dass die zuständige Hofkammer den Vorschlag nicht sofort aufgriff und in die Tat umsetzte, wirft ein bezeichnendes Licht auf die oberste Finanzbehörde des Habsburgerreiches. Der ausbleibende Erfolg von Kramprichs Handelsinitiativen hatte verschiedene Ursachen. Die ständige militärische Bedrohung des Rheingebietes durch Frankreich war fur das Scheitern dieser Pläne ebenso mitverantwortlich wie die globale und damit zugleich andere Interessen verfolgende niederländische Wirtschaftspolitik. Konstitutiv waren aber nicht zuletzt die Unfähigkeit und mangelnde Risikobereitschaft Wiens wie auch der fehlende Weitblick der rheinischen Fürsten, die kurzfristige Einnahmemöglichkeiten durch Zölle und Stapelrechte einem zukünftigen Handelsaufschwung vorzogen. All diese Probleme waren dem scharfsinnigen Gottfried Wilhelm Leibniz, der die wirtschaftspolitischen Ziele der Merkantilisten vertrat, nicht entgangen. Er unterstützte die Vorschläge, Rheinzölle abzubauen, um so den Absatz deutscher Weine in die Niederlande und nach Skandinavien zum Schaden Frankreichs zu steigern. Ähnlich wie Kramprich vertrat er die Auffassung, dass an die „Wichtigkeit und conseqvenzen" solch handelspolitischer Ideen „man vielleicht mehr zu Paris als zu Haidelberg, Maynz und Coblenz dencket"74. 3.3. Kramprichs Engagement für den Katholizismus In Wien scheuten viele fuhrende politische Köpfe sehr lange einen Bruch mit Paris. Insbesondere Leopold I. tat sich schwer, dem katholisch regierten Frankreich den Rücken zu kehren und an die Seite der kalvinistischen Republik der Niederlande zu treten. Die Ressentiments saßen tief, und die Mehrheit der kaiserlichen Räte warnte noch Anfang der 1670er Jahre und unter Zuhilfenahme historischer Argumente vor der Unzuverlässigkeit Den Haags75. Kramprich hatte vergleichsweise früh die antifranzösische Partei und ihren Protagonisten Lisola unterstützt. Johann Daniel stimmte mit Lisola darin überein, dass ein Zusammengehen mit der niederländischen Republik eine außenpolitische Notwendigkeit war, eine Frage des machtpolitischen Überlebens für den Kaiser. Die politischen und konfessionell bedingten Vorbehalte Leopolds I. teilte er aber im Grundsatz. Nach ihrem Selbstverständnis waren die habsburgischen Kaiser „Hüter der westlichen Christenheit gegenüber der protestantischen Häresie und dem mili74
Gottfried Wilhelm LEIBNIZ, Securitas Publica 1670, in: DERS. , Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Vierte Reihe: Politische Schriften, Bd. 1: 1667-1676, Darmstadt 1931, ND Berlin 1971, S. 133-214, Zitat S. 201; vgl. auch ebd., S. 206 f. u. ö. 75 Vgl. ausführlich und mit weiteren Literaturhinweisen JARREN, Niederlande (Anm. 4), S. 111 ff. und 172 ff.
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tanten Islam"76. Berichte über die Lage der katholischen Minderheit in den Niederlanden zu verfassen war daher eine wichtige Aufgabe für die kaiserlichen Gesandten im Haag77. Kramprich hatte zu Beginn seiner Dienstzeit dementsprechend eindeutige Weisungen Leopolds I. erhalten und nahm sich der Sache zugleich mit Eifer an. Er registrierte nicht nur jede einzelne religionspolitische Maßnahme in den Provinzen, sondern bemühte sich aktiv darum, den katholischen Missionaren ihre Arbeit zu erleichtern. In den Niederlanden war den Katholiken die öffentliche Religionsausübung zwar verboten, doch in geschlossenen Räumen, d. h. außerhalb der Öffentlichkeit, wurde sie geduldet. Deshalb gab Kramprich sofort nach seiner Ankunft weisungsgemäß die Errichtung einer Kapelle innerhalb seiner Residenz in Auftrag78. Leopold I. forderte Kramprich wiederholt auf, „das exercitium religionis in seinem stand zuerhalten", doch sollten daraus keine politischen Schwierigkeiten mit den Generalständen erwachsen79. Kramprichs besonderes Engagement für die Jesuiten brachte die Generalstände und einzelne Provinzen wiederholt gegen ihn auf. Er mischte sich zudem aktiv in einen Richtungsstreit innerhalb der niederländischen Katholiken ein. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte der Katholizismus in den Niederlanden neuen Auftrieb erhalten. Auf der einen Seite standen die auf Zentralismus und Unterordnung unter Rom ausgerichteten, dem sog. Ultramontanismus anhängenden Regulargeistlichen, allen voran die Jesuiten. Auf der anderen Seite gab es die Säkulargeistlichen, deren Führern, den apostolischen Vikaren, eine Nähe zum Jansenismus nachgesagt wurde80. Der Kaiser trieb den in religiösen Fragen ohnehin einsatzwilligen Kramprich durch seine Weisungen zu weiteren Aktivitäten an. Die im Ton an Schärfe zunehmenden Weisungen des Kaisers waren natürlich auch Reaktion auf die Meldungen Kramprichs. Der Gesandte ließ in seiner Berichterstattung kaum einmal eine Differenzierung erkennen, obwohl der Umgang einzelner Provinzen mit den Katholiken oder katholischen Ordenspersonen sehr unterschiedlich war. Während des Nimwegener Friedenskongresses galt die in religiösen Fragen tolerante Einstellung der Städte Amsterdam und Rotterdam als vorbildlich81. In 76
SPIELMAN, Leopold I. (Anm. 26), S. 16. Dieses Kapitel ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung meines Aufsatzes über Kramprichs religionspolitische Tätigkeit in Den Haag. Vgl. JARREN, Macht- und Konfessionspolitik (Anm. 11), S. 219 ff. 78 HHStA Wien, Hollandica Kart. 5 Konv. 2, fol. l - 3 r , Bericht vom 1.3.1668, insbesondere fol. Ir. 79 Weisung vom 2.1.1668, HHStA Wien, Hollandica Kart. 5 Konv. 1, fol. l - 2 v , Zitat fol. lv. 80 Vgl. ausführlich Mathieu SPIERTZ, Die katholischen Kirchenleiter und die weltliche Obrigkeit in der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen, in: Jahrbuch des Zentrums für Niederlande-Studien 4 (1993), S. 9-28, hier: u. a. S. 13 und 20 f. 81 Ebd., S. 18. 77
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anderen Provinzen wurden jedoch Dekrete aus der Zeit des Freiheitskampfes gegen Spanien wieder aktiviert. Insbesondere in der Provinz Utrecht war es 1675 bereits zu Verhaftungen von Priestern gekommen. Rramprichs intervenierte deshalb beim Ratspensionär und bei Utrechter Regenten „durch alle officia, so mir möglich sein". Die Regenten hielten ihm allerdings vor, dass in Utrecht die Katholiken besser behandelt würden als die ungarischen Protestanten vom Kaiser82. Der Streit zwischen beiden Staaten über die Benachteiligung der jeweiligen konfessionellen Minderheiten setzte sich auch 1676 fort. Die Generalstaaten forderten wiederholt größere Religionsfreiheit für die Reformierten Ungarns, Österreich die Gleichstellung der Katholiken in den Niederlanden83. Eine aus Wiener Sicht zufriedenstellende Religionsausübung für die Katholiken, insbesondere für die Regulare, war nicht erreicht worden. Natürlich hat dieser Streit das Klima zwischen den beiden Kriegsverbündeten nicht gerade verbessert. Die Auseinandersetzung fand deswegen auch ihre Fortsetzung. Im Jahr 1681 wies die Provinz Gelderland als Reaktion auf die Verfolgung der Kalvinisten in Frankreich alle Priester aus. Als Folge davon intervenierten Diplomaten mehrerer katholischer Staaten bei den Generalstaaten. Die Kritik des Amsterdamer Magistrats, der seit 1663 im Amt befindliche apostolische Vikar Johannes von Neercassel habe mit den ausländischen Gesandten in dieser Angelegenheit zusammengearbeitet, konnte dieser zunächst entkräften84. Ein erkennbares Ergebnis brachte die Intervention der katholischen Diplomaten nicht. Das konfessionelle Klima sollte sich aber aufgrund innerfranzösischer Religionsauseinandersetzungen weiter deutüch verschlechtern. Die Niederländer reagierten in den folgenden Jahren auf den harten Zugriff Frankreichs (Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahr 1685) gegen die Hugenotten. Nun befürchteten die katholischen Regulare in den Niederlanden, insbesondere im Nordosten der Republik, erneute Verfolgung und Ausweisung. Schuld gaben sie den Säkulargeistlichen, die nicht davon betroffen waren85. Kramprich sah in den Prädikanten diejenigen, die eine harte Linie gegenüber den Regularen verfolgten. Ihre Anträge auf Ausweisung, so der Gesandte in einem Bericht an Leopold I. vom 4. Januar 1686, hätten die Provinzialstände bisher stets abgelehnt. Erst durch die Aufhebung des Ediktes von Nantes sei „die animosität" gegen Ludwig XIV. 82 Bericht an Leopold I. vom 14.3.1675, HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 34 fase. 29, pars 2, Nr. 84, fol. 300-305r, hier: 300v-301v, Zitat 301v. 83 Vgl. ausführlich JARREN, Macht- und Konfessionspolitik (Anm. 11), S. 224 f. 84 SPIERTZ, Kirchenleiter (Anm. 80), S. 19. 85 Ebd., S. 19 f.
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„Und wieder die Catholischen also erwachßen". Er fürchtete deshalb für die nahe Zukunft das Schlimmste86. In den folgenden Monaten kam es dann in einzelnen Provinzen zu Vertreibungen von Ordenspersonen, zum Teil sogar zu tätlichen Übergriffen und Plünderungen von Kapellen. In erster Linie waren die Übergriffe nach Meinung Kramprichs das Werk von Prädikanten französischer Herkunft. Seine Gespräche mit den zuständigen Regenten im Frühjahr 1686 brachten wenig, denn diese erklärten, außerstande zu sein, den Zorn der Bevölkerung über die Hugenottenverfolgungen einzudämmen87. Leopold I. lobte im August 1686 ausdrücklich Kramprichs „eyffer in Religions wesen überauß gnedigst wohl" und forderte ihn auch für die Zukunft dazu auf, sich mit „rath und that" für die katholischen Ordensgeistlichen einzusetzen88. Mit dem 1686 erfolgten Tod Neercassels stellte sich die Frage nach dessen Nachfolger gerade in einer Phase äußerster innenpolitisch-konfessioneller Anspannung. Kramprich war nach dem Ableben Neercassels sofort mit dem päpstlichen Internuntius in Brüssel in Kontakt getreten, denn der Vorschlag des niederländischen Klerus lief nach seiner Meinung darauf hinaus, einen Jansenisten zum apostolischen Vikar zu machen. Der kaiserliche Vertreter hatte bereits u. a. mit den Vertretern Frankreichs und Polens in den Niederlanden ein gemeinsames Schreiben verfasst und mit der Bitte nach Rom geschickt, dem Wahlvorschlag des niederländischen Klerus nicht zuzustimmen89. Am 25. August 1687 berichtete Kramprich, dass der gegenwärtige Favorit auf die Vikarstelle, Codde, eindeutig Jansenist sei. Er machte den Kaiser auf dessen eigenen Befehl aufmerksam, keinen Jansenisten auf dem Posten des apostolischen Vikars zuzulassen90. Coddes Ernennung im Jahre 1688 konnte dennoch nicht verhindert werden. Der neue Amtsinhaber setzte die Politik seines Vorgängers Neercassel, gute Beziehungen zu den Regenten der Provinzen und Städte zu pflegen, fort91. 86
HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 70 fase. 50, pars 3, fol. 2-6r, hier fol. 2r/v, Zitate fol. 2v. Zu den Aktivitäten Kramprichs vgl. auch SPIERTZ, Kirchenleiter (Anm. 80), S. 20, insbes. Anm. 34. 87 Vgl. den detaillierten Bericht an Leopold I. vom 24.5.1686, HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 70 fase. 50, pars 3, fol. 176-180v, insbes. fol. 177r/v. 88 Weisung vom 22.8.1686, ebd., fol. 324-327r, hier: fol. 325v. Solche Weisungen wiederholten sich in der Folgezeit. So wies Leopold I. am 14.12.1686 Kramprich an, mit der Unterstützung der katholischen Missionare „nachtrilcklichst" fortzufahren; vgl. ebd., fol. 4 9 6 500r, hier: fol. 500r. 89 HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 70 fase. 51, pars 1, fol. lOO-lOlr, Bericht an Leopold I. vom 3.4.1687. 90 HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 71, pars 1, fol. 18-19ν. 91 Durch seine theologische Ausrichtung, die ihn wie den gesamten katholischen Weltklerus in den Niederlanden als Augustiner auswiesen, waren Konflikte mit den Ultramontanen vorprogrammiert. Dies hatte auch, allerdings erst 1702, seine Suspension durch den Heiligen Stuhl zur Folge. Vgl. SPIERTZ, Kirchenleiter (Anm. 80), S. 21 f.
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In den folgenden Monaten beschrieb Kramprich die Lage der Katholiken immer häufiger in dunkelsten Farben. Seine ständigen Klagen gegenüber den Regenten brachten ihm den Vorwurf ein, dem Ansehen der Republik, vor allem im katholischen Ausland, erheblich zu schaden. Am 19. März 1688 berichtete er dem Kaiser, dass er verdächtigt werde, selbst Jesuit zu sein und mit dem Beichtvater des katholischen englischen Königs, der in Gegnerschaft zum niederländischen Statthalter stand, in geheimer Korrespondenz zu stehen. Auch der Fürst von Waldeck, außenpolitischer Vertrauter des Statthalters Wilhelm ΠΙ., habe ihn bei den Regenten denunziert92. Die jahrelangen konfessionspolitischen Auseinandersetzungen mit den Niederlanden gingen nicht spurlos an Kramprich vorbei. Seine Positionen und Bewertungen wurden immer einseitiger. Wie weit er sich mittlerweile von realistischen Urteilen entfernt hatte, macht bereits sein Bericht vom 13. Oktober 1687 deutlich. Er verteidigt hierin die Aufhebung des Edikts von Nantes durch Frankreich: Den Haag habe den Katholiken Versprechungen gemacht und nicht gehalten. Wenn das die Entscheidungsgrundlage für Ludwig XIV. gewesen sei, das Edikt aufzuheben, dann habe er zu Recht so gehandelt. Die katholische Konfession in den Niederlanden sei ohnehin die ältere gewesen und dann von der neueren Glaubensrichtung unterdrückt worden. Dieser Hass der Kalvinisten sei bis jetzt nicht „Volkommen erfült" worden. Ihr Ziel sei es daher, alle Katholiken aus dem Lande zu jagen. Die katholischen Nachbarstaaten würden dies nicht tatenlos hinnehmen, so dass „dan endlich ein religions Krieg entstehen dörfft"93. Diese Äußerung verdeutlicht die anachronistische Haltung Kramprichs, der am überholten und alten Denken aus der Zeit der Religionskriege anscheinend unbeirrt festhielt. Seine Stellungnahme schlug hohe Wellen. Der brandenburgische Kurfürst, der sich als Verteidiger der protestantischen Sache sah, beschwerte sich in Wien heftig über Kramprichs öffentlich vorgetragene Äußerungen. Zwar gaben habsburgische Minister den brandenburgischen Vertretern zu verstehen, dass Kramprichs Äußerungen weder offizielle Sprachregelung seien noch gebilligt würden. Doch eine vom Kurfürsten geforderten Zurechtweisung des Gesandten lehnte der Kaiser entschieden ab94. 92
HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 71, pars 2, fol. 128-129v, insbes. fol. 129r/v. Ebd., pars 1, fol. 76-81v, Zitate fol. 80vund 81r. 94 Vgl. die verschiedenen Schriftwechsel in Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Bd. 21: Politische Verhandlungen, Bd. 13, hrsg. von Ferdinand Hirsch, Berlin 1915, S. 130 ff. Auch Gottfried Wilhelm Leibniz bezog in einem Schreiben an den Landgraf von Hessen-Rheinfels in dieser Sache Stellung: Anstatt Kramprich wegen dessen ungenauer Berichterstattung zu kritisieren, solle der Kurfürst nicht „den Ursprung des Uebels" aus dem Auge verlieren. Vgl. Onno KLOPP, Der Fall des Hauses Stuart und die Succession des Hauses Hannover in Groß-Britannien und Irland im Zusammenhange der europäischen Angelegenheiten von 1660-1714, 14 Bde., Wien 1875-1888, hier: Bd. 3, S. 387 f., Zitat S. 388. 93
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Mittlerweile hatte Kramprich fur den Zeitraum von 1685 bis 1687 eine genaue Auflistung aller religiös motivierten Vorfalle und Übergriffe gegen die Katholiken in den Niederlanden erstellt. Diese Liste war jedoch auch dem niederländischen Vertreter auf dem Reichstag zu Regensburg, Petrus Valckenier, zugespielt worden. Sämtliche Provinzen in den Niederlanden erhielten Abschriften zur Begutachtung, und Kramprich fürchtete, dass ihm dies „Unwillen Und Haß" einbringen werde. Auch der niederländische Botschafter in London habe sich gegenüber dem dortigen kaiserlichen Vertreter darüber beschwert, „daß Ich mich in daß religions wesen Zu Vieil mische"95. Kramprich ließ sich trotz der Kritik an seinem Verhalten nicht davon abbringen, im Laufe des Novembers 1687 dem Leiter der Glaubenskongregation in Rom ebenfalls alle Religionsvorfalle schriftlich mitzuteilen96. Eine direkte Gegenreaktion der Generalstaaten auf Kramprichs nur zum Teil gerechtfertigte Vorwürfe ließ zunächst noch auf sich warten. Im Jahr 1688 siegte Wilhelm III. in England über die katholische Stuartdynastie. In Irland kam es daraufhin zu einer Rebellion, und Wilhelm sah sich zur Absicherung seiner gerade erworbenen Herrschaft genötigt, auch in und um London präventive Maßnahmen gegen die Katholiken zu ergreifen97. Kramprich kritisierte Anfang Februar 1689 dieses Vorgehen und warf Wilhelm Wortbruch gegenüber Leopold I. vor98. Dem Englandunternehmen des Oraniers stand er ohnehin ablehnend gegenüber und hatte dies wiederholt deutlich zu erkennen gegeben. Leopold I. jedoch gab sich mit den Versicherungen Wilhelms zufrieden, in Zukunft keine Maßnahmen gegen die Katholiken mehr zu ergreifen. Denn der Kaiser hatte sich mittlerweile trotz massiver religiöser Bedenken dazu entschlossen, die antifranzösische Allianz mit den nun unter gemeinsamer Führung Wilhelms III. von Oranien stehenden Seemächten fortzuführen99. An einem religionspolitischen Streit mit seinen zukünftigen Partnern konnte ihm nicht gelegen sein. Für die anstehenden schwierigen Bündnisverhandlungen aber kam Kramprich aufgrund seiner Kritik am Statthalter nun nicht mehr in Frage100. Den gegen den Gesandten selbst erhobenen Vorwurf, sich zu diesem Zeitpunkt als Anhänger des gestürzten Jakob Π. profiliert zu haben, wies Kramprich 95
Bericht Kramprichs an den Kaiser vom 20.11.1687, HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 70 fase. 51, pars 1, fol. 148-150r, Zitate fol. 149r. 96 Ebd., fol. 128-129v, Bericht an Leopold I. vom 4.12.1687, insbes. fol. 128v. 97 Vgl. ζ. B. SPIELMAN, Leopold I. (Anm. 26), S. 138 ff., insbesondere zur Haltung des Kaisers in dieser Angelegenheit; ausführlich auch österreichische Staatsverträge (Anm. 38), S. 255 ff. 98 Vgl. ζ. B. seinen Bericht an den Kaiser vom 3.2.1689, HHStA Wien Rep. Ν Kart. 71, Mrs 3, fol. 3 l-33v, insbes. fol. 32v. ^ Heinz DUCHHARDT, Altes Reich und europäische Staatenwelt 1648-1806, München 1990, S. 2 2 ; SCHILLING, H ö f e (Anm. 2), S. 4 1 ; SPIELMAN, Leopold I. ( A n m . 26), S. 138;
vgl. jetzt ausführlich JARREN, Niederlande (Anm. 4), S. 207 ff. Osterreichische Staatsverträge (Anm. 38), S. 260 f.
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rückblickend als unwahr zurück101. Seine Rechtfertigung dürfte den Tatsachen entsprochen haben. Allerdings stand er auch im Verdacht, den Kaiser 1688 zu einem Arrangement mit Frankreich bewegen zu wollen. So sandte er ein französisches Friedensprojekt nach Wien, das ihm vom Pariser Diplomaten d'Avaux übergeben worden war102. Zweifellos war Kramprich „persönlich faßbar" für die Bemühungen des französischen Gesandten, der über den Eifer des kaiserlichen Vertreters in Religionsfragen bestens Bescheid wusste103. Aus den Berichten Kramprichs allein lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, dass er persönlich einen Bündniswechsel bevorzugt hätte. Kramprichs Verhältnis zu den fuhrenden Köpfen der Republik hatte jetzt seinen Tiefpunkt erreicht. Anfang 1690 beschlagnahmten die Niederländer zwei Hamburger Schiffe, die das gegen Frankreich ausgesprochene Handelsverbot umgehen wollten. Als Kramprich vehement protestierte, war dies lediglich der Auslöser zum endgültigen Bruch eines seit Jahren schwierigen Verhältnisses. Seine Beziehung zum neuen, seit 1689 im Amt befindlichen Ratspensionär und engsten Vertrauten Wilhelms, Anthonie Heinsius, stand von Beginn an unter ungünstigen Vorzeichen. In einer am 7. Juli 1690 verfassten Resolution betonten die Generalstaaten aufgrund der 1689 geschlossenen antifranzösischen Allianz zwischen dem Kaiser und dem Reich einerseits und den Seemächten andererseits zwar ihr großes Interesse an einem engen und freundschaftlichen Verhältnis zur Hofburg. Kramprich aber warfen sie vor, durch seine einseitige Berichterstattung einen weiteren Ausbau dieser Beziehungen zu behindern. Der niederländische Vertreter in Wien, Coenraad van Heemskerck, wurde deshalb aufgefordert, vorsichtig und diskret die Abberufung Kramprichs zu betreiben104. Am 18. Juli 1690 schrieb Ratspensionär Heinsius in dieser Angelegenheit Wilhelm III. Heemskerck habe sich in Wien über Kramprich beschwert, weil dieser „seer quade officien doet aen de gemene sake, ende aen het hof van de keyser alles verkeerdeijck doet voortbrengen: hij is al lange voor een quaet instrument bekent geweest, ende mitsdien hefft men geen difficulteit gemaekt daerover wegens H. H. Mog. te klagen aen het keyserlijke hof' 105 . In Wien 101
Vgl. seinen Bericht an Leopold I. vom 27.3.1691, HHStA Wien, Hollandica Kart. 12, Konv. 1, fol. 339-340r. Der Vorwurf, Stuartanhänger zu sein, war auch vom kaiserlichen Bevollmächtigten auf dem Haager Kongress, Franz Anton Graf Berka, erhoben worden. Dieser nutzte jedoch die Kritik an Kramprich für seine persönlichen Interessen. Vgl. dazu Kap. 3.4. 102 Lothar H Ö B E L T , Die Sackgasse aus dem Zweifrontenkrieg: Die Friedensverhandlungen mit den Osmanen 1689, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 97 (1989), S. 329-380, hier: S. 338 f. 103 So K L O P P , Fall, (Anm. 94) Bd. 3, S. 358, 383 f., 386 und 421, Zitat S. 384. 104 Algemeen Rijksarchief, Den Haag, Staten-Generaal 8635 I; Verbaal Heemskerck, Nr. 62, Extrakt aus dem Register der Resolutionen der Generalstaaten. Vgl. auch erneut ebd., Nr. 73 vom 18.7. und ebd., Nr. 109 vom 21.8.1690. 105 F . J. L. K R Ä M E R , Archives ou correspondence inédite de la maison d'Orange-Nassau, Troisième Série, Tome 1: 1689-1697, Leyden 1907, Lettre LXX, S. 70 ff., Zitat S. 71 f.
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äußerte Reichsvizekanzler Leopold Wilhelm Graf Königsegg durchaus Verständnis für den Wunsch der Niederländer, Kramprich abzuberufen. Allerdings machte er Heemskerck klar, dass der Kaiser dieser Bitte nicht entsprechen könne. Kramprich sei aufgrund seines hohen Alters auf einem anderen Posten nicht mehr einsetzbar. Auch wenn Den Haag es gerne sähe: Leopold I. könne keinen Gesandten abberufen, der ihm so viele Jahre treu gedient habe106. Somit blieb Kramprich bis zu seinem Tod 1693 im Amt. Die Benachteiligung der jeweiligen religiösen Minderheiten, sei es in Österreich und Ungarn oder in den Niederlanden, wurde von beiden Seiten sehr genau registriert und führte mehrmals zu atmosphärischen Störungen im bilateralen Verhältnis, sogar zu konkreten diplomatischen Gegenmaßnahmen. Doch das alte konfessionelle Blockdenken bestand nicht mehr. Auf dem Feld der internationalen Beziehungen hatte politischer Pragmatismus die überkommenen und starren konfessionspolitischen Fronten ersetzt107. Im Zeichen fortdauernder militärisch-politischer Bedrohung durch Frankreich konnte und wollte auch der Kaiser nicht in den unbeweglichen konfessionellen Dogmatismus vergangener Zeiten zurückfallen. Zwar erregte sich Leopold 1.1687 aus tiefster Überzeugung über die Maßnahmen gegen die niederländischen Katholiken108. Aber letztlich dominierten, wie 1689 beim Abschluss der Großen Allianz, bündnispolitische, nicht konfessionelle Überlegungen sein Handeln. Den pragmatischen Kurs des Kaisers mitzugehen fiel Kramprich in seinen letzten Lebensjahren immer schwerer. Längst war ihm die Situation der Katholiken in den Niederlanden zu einer persönlichen Angelegenheit geworden. Sein unzeitgemäßer, religiös motivierter Übereifer und seine oft überzogenen Darstellungen und Bewertungen, denen auch Leopold I. zum Schluss nicht mehr folgen konnte und wollte, riefen nicht zu Unrecht Beschwerden im Haag hervor. An eine Entlassung oder Versetzung Kramprichs durch den Kaiser war jedoch nicht zu denken, denn dieser Schritt hätte für Leopold I. einen nicht akzeptablen Ansehensverlust bedeutet. Somit blieb Den Haag nur noch die Möglichkeit, den Gesandten auszuweisen. Diesen Weg wollten die Verantwortlichen im Interesse eines guten Einvernehmens zwischen den Allianzpartnern offenbar nicht beschreiten. 3.4. Missgunst und Neid: Kaiserliche Diplomaten als Konkurrenten Während seines langen Aufenthaltes in Den Haag wurde Kramprich wiederholt mit der Situation konfrontiert, dass sich kaiserliche Diplomaten zu Sondermis106 Weensche gezantschapsberichten van 1670 tot 1720, Bd. 1: 1670-1697, hrsg. von G. von Antal und J. C. H. de Pater, 's-Gravenhage 1929, Nr. 192, S. 457-459, hier: S. 458., Heemskerck am 10.8.1690 an den Griffier der Generalstaaten. 107
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sionen in den Generalstaaten aufhielten. Erinnert sei nur an Lisola oder Grana Caretta, deren Aufenthaltsdauer zwischen wenigen Wochen und mehreren Jahren schwankte. Sie alle standen rangmäßig über Kramprich. Wichtige politische Verhandlungen mit niederländischen und anderen ausländischen Ministem, die über das Alltagsgeschäft eines Residenten hinausgingen, überließ der Wiener Hof in der Regel lieber diplomatisch erfahrenen und hochgestellten Persönlichkeiten109. Von einigen Ausnahmen abgesehen, arbeitete Kramprich in solchen Fällen meist im Hintergrund. Er fand sich in der Rolle des Informationsbeschaffers und des Ratgebers wieder, da er die beteiligten niederländischen Politiker, deren Stärken und Schwächen, Vorlieben und Abneigungen oft besser kannte und auch mit den Verhältnissen vor Ort gut vertraut war. Die für solche Aufgaben notwendige Fähigkeit zur Unterordnung und loyalen Kooperation hat er wiederholt unter Beweis gestellt. Im Gegensatz dazu verlief die Zusammenarbeit Johann Daniels mit Franz Anton Graf Berka110, der als kaiserlicher Bevollmächtigter Ende Februar 1690 zum Haager Kongress geschickt worden war, alles andere als harmonisch. Die Verhandlungen der Seemächte mit dem Kaiser über verschiedene militärische Schutzmaßnahmen am Unter- und Mittelrhein gestalteten sich aufgrund der unterschiedlichen alliierten Vorstellungen über die zukünftigen Operationspläne äußerst schwierig. Zunächst war Berka, unterstützt von Kramprich, Kongressbevolllmächtigter des Kaisers. Im Laufe der Verhandlungen stiegen bei Leopold I. aber die Zweifel, ob Berka der richtige Mann sei, die Dissonanzen zwischen den Alliierten zu beseitigen. Am letzten Tag des Jahres 1690 erhielt der kaiserliche Kongressbevollmächtigte deshalb sein Abberufungsschreiben. Zu seinem Nachfolger ernannte Leopold I. den „ebenso konzilianten als geschickten und tatkräftigen Plenipotentiär" Gottlieb Graf von Windischgrätz, der erst am 12. Februar 1691 Den Haag erreichte111. Doch Berka ignorierte den kaiserlichen Befehl und blieb in Den Haag. Er bemühte sich in der Folgezeit darum, den Kaiser von seinen Fähigkeiten und damit von der Notwendigkeit, dem Kongress weiterhin beizuwohnen, zu überzeugen. Um dieses Ziel zu erreichen, schreckte er nicht davor zurück, Win109
Vgl. dazu bereits MÜLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 86 ff. Berka lässt sich - mit zeitlichen Lücken - als kaiserlicher Diplomat zwischen 1678 (Madrid) und 1704 (Venedig) nachweisen. S. im Einzelnen Repertorium der diplomatischen Vertreter (Anm. 18), S. 124, 128, 130-133, 144, 152 f., 163-165, 168 und 173 f. Kurze Zeit war er auch in bayerischen und lothringischen Diensten; vgl. ebd., S. 12 und 287. 111 österreichische Staatsverträge (Anm. 38), S. 289 ff., Zitat S. 292; zur Person siehe auch Heinrich von SRBIK, Wien und Versailles 1692-1697. Zur Geschichte von Straßburg, Elsaß und Lothringen, München 1944, S. 35 ff. Zu Windischgrätz und dessen Aufenthalt in Den Haag vgl. die allerdings wenig überzeugende Dissertation von Marianne PELZL, Gottlieb Windischgrätz, Phil. Diss. Wien 1935. 110
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dischgrätz und Kramprich persönlich zu diffamieren. Am 9. Februar 1691 berichtete er dem Kaiser von einem Gespräch mit Vertretern der Generalstaaten. Diese hätten ihm gesagt, dass Windischgrätz „ein aldt Podagraisser Mann" sei, der nach seiner Ankunft „mehr seine Zeith im Beth" als auf dem Kongress verbringen würde112. Er, Berka, sei hingegen mit den Aufgaben, dem Land und mit den Menschen „Bestens Bekandt, Und wohl informiret". Kramprich hielten die Ständevertreter ebenfalls fur einen „sehr alten Ruhe Bedirffiigen mann". Zudem misstraue man ihm und hoffe deshalb, dass er abberufen werden würde. Aus all diesen Gründen sei seine Anwesenheit, dies hätten auch die Ständevertreter gesagt, weiterhin „nothwendig"113. Berkas Bemerkungen über Kramprich waren eine Mischung aus Realität und persönlicher Abneigung. Der Graf nutzte geschickt den Zorn und das Misstrauen der Niederländer gegenüber Kramprich aus, denn deren Wunsch nach seiner Abberufung lag noch nicht einmal ein Jahr zurück114. Berka aber ging in seiner Kritik noch weiter. In den folgenden Wochen warf er Kramprich diplomatisches Fehlverhalten in der Vergangenheit vor und unterstellte ihm sogar, Kongressbeschlüsse an Frankreich weitergeleitet zu haben. Entrüstet wandte sich Kramprich daraufhin im März und April 1691 mehrmals an den Kaiser, verwahrte sich gegen die Beleidigungen und seiner Meinung nach falschen Anklagen Berkas und verwies auf Windischgrätz als seinen Kronzeugen in dieser Angelegenheit115. Kramprich schaltete am 16. März 1691 wiederum seinen Gönner Dietrichstein ein und bat diesen, seine gegen Berka „gethane clagten, auch justiz [zu] Secundiren", denn seine „ehr" sei angegriffen worden116. Berkas Anschuldigung der Geheimnispreisgabe war unbegründet, und seine Vorwürfe, Kramprich habe diplomatische Fehler begangen, wurden zumindest in Wien so nicht geteilt"7. Der schwer gekränkte Kramprich warf Berka in ei112 HHStA Wien Hollandica Kart. 12 Konv. 1, fol. 128-140v, insbes. fol. 139r/v, Zitate fol. 139rund 139v. 113 Die beiden ersten Zitate ebd., fol. 139v, das dritte Zitat ebd., fol. 140r. 114 Auch Windischgrätz bestätigte in einem Bericht an den Kaiser vom 9.3.1691, dass Kramprich „kein Vertrauen" mehr in den Niederlanden besitze. Vgl. HHStA Wien, Hollandica Kart. 12 Konv. 1, fol. 242-246v, Zitat fol. 246r. 115 Schreiben vom 6.3.1691, HHStA Wien, Hollandica Kart. 12 Konv. 1, fol. 224-227v, insbes. fol. 224r/v und 227r/v. Schwer gekränkt berichtete Kramprich, dass Berka ihn als „alt, Und Verschlissen" bezeichne; vgl. ebd., fol. 224v. Am 27.3.1691 schrieb er dem Kaiser, Berka bezeichne ihn öffentlich als „Jacobiten", um ihn bei Wilhelm III. und den Generalständen in Verruf zu bringen. Berka handle nur aus egoistischen Gründen, um ihn, Kramprich, loszuwerden. Vgl. ebd., fol. 339-340r, insbes. fol. 339r und 340r, Zitat fol. 339r. 116 ML Brünn, FA Dietrichstein - G 140 Kart. 16, Inventar Nr. 49, fol. A 80; dort auch weitere Schreiben vom März und April 1691. 117 Berka hatte behauptet, dass Kramprich viel zu massiv die Niederländer für die Beschlagnahme hamburgischer Schiffe, die das Handelsverbot mit Frankreich unterlaufen
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nem Schreiben vom 10. März 1691 an Dietrichstein vor, nur auf eine Krankheit von Windischgrätz zu hoffen, um dann dessen Posten beim Kongress einzunehmen118. Zehn Tage später beschwerte sich Kramprich erneut: Berka besuche den Kongress trotz mehrmaligen Rückrufs durch den Kaiser weiterhin und höre nicht auf, ihm Schwierigkeiten zu machen. Kramprich sprach die Hoffnung aus, der Kaiser werde „solches nit langer dulden und ich bitte Ew. Ex. dabei zu heifen"119 Windischgrätz hatte, trotz des niederländischen Misstrauens gegen Kramprich, schon knapp zwei Wochen nach seiner Ankunft deutlich gegen Berka Stellung bezogen: „Das kan Ich mit Gott und beij meinem Gewissen betheuern, daß Ich nie keinen so unvernünftigen Minister, der den ganzen Tag auf edlen Seiten nur imbrogliert, nie gesehen habe, als dieser ist"120. Im April umriss Windischgrätz seine Position in der gesamten Angelegenheit erneut121. Er habe vernommen, Berka behaupte „unverschämbter weiß" und verbreite dies durch seine „Spießgesellen", dass Wilhelm ΙΠ. ihn nicht geme als diplomatischen Vertreter des Kaisers im Haag sähe. Doch Berka sei der Mann ohne Kredit. Er habe Informationen des außerordentlichen spanischen Gesandten Don Manuel de Colomar y Escolano122 ungeprüft als seine eigenen ausgegeben und somit hier Unfrieden gestiftet. Windischgrätz bat den Kaiser, Berka wegen seines Verhaltens zu bestrafen. Berkas Vorgehensweise stieß in der Hofburg auf kein Verständnis. Leopold I. hatte schon gegenüber den Niederländern deutlich gemacht, dass er nicht bereit war, Kramprich fallen zu lassen. Berkas doch recht plumper und egoistischer Versuch, den exzellenten und zugleich beim Kaiser in hohem Ansehen stehenden Windischgrätz zu diskreditieren, war kaum ein Beweis fur sein diplomatisches Geschick, sondern ein schwerer taktischer Fehler. Da half es Berka nur wenig, dass die Niederländer seine Fähigkeiten anders beurteilten123. wollten, kritisiert habe. Für seinen „Eifer" in dieser Angelegenheit war Kramprich aber ausdrücklich vom Kaiser gelobt worden. Vgl. Weisung vom 12.3.1690, HHStA Wien, Rep. Ν Kart. 71, pars 4, fol. 87-88v, hier: fol. 87v. 118 ML Brünn, FA Dietrichstein - G 140 Kart. 16, Inventar Nr. 49, fol. A 80. 119 Ebd., fol. A 83. 120 Bericht vom 23.2.1691 an Leopold I., zitiert nach PELZL, Windischgrätz (Anm. 111), S. 16. Vielleicht spielte bei der Parteiergreifung für Kramprich auch eine Rolle, dass Windischgrätz, der erst 1683 zum katholischen Glauben konvertiert war, wie Kramprich ein enges Verhältnis zu den Jesuiten und insbesondere dem Kaiservertrauten Menegatti hatte und zudem Gegner der Jansenisten war. Kramprichs Einsatz für katholische Ordensgeistliche in den Niederlanden und England ist von Windischgrätz wohl zum Teil gebilligt worden, ohne dass man ihn selbst als „katholischen Eiferer" bezeichnen könnte. Vgl. dazu bereits SRBIK, Wien (Anm. 111), S. 40 f. 121 Vgl. zum Folgenden Bericht an den Kaiser vom 20.4.1691, HHStA Wien, Hollandica Kart. 12 Konv. 2, fol. 85-88v, insbes. fol. 85r/v, Zitate fol. 85r. 122 Vgl. zur Person SCHUTTE, Repertorium (Anm. 25), S. 586. 123 Algemeen Rijksarchief, Den Haag, Staten-Generaal 8635 II, Verbaal Heemskerck, Nr. 43, Extrakt aus dem Register der Resolutionen der Generalstaaten vom 18.1.1691. Wilhelm III. selbst hätte Berka gern weiterhin als kaiserlichen Gesandten gesehen. Heems-
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Das positive Bild Berkas in Den Haag erklärt sich zum Teil sicher aus der offen gezeigten Abneigung, die dieser dort Kramprich entgegenbrachte. Entscheidend dürfte aber ein anderer Punkt gewesen sein. Berka hatte den Generalstaaten eigenmächtig die Anrede „Hochmögende" zugestanden, die Leopold I. der Republik immer noch verwehrte. Alle kaiserlichen Diplomaten seit Friquet im Jahre 1658 hatten ausschließlich die minderwertige Wiener Kompromissformel „Vos Seigneurs" und „Messieurs" benutzt124. Die Auseinandersetzung, die das ganze Frühjahr über andauerte, war durchaus typisch für den Wiener Hof. Der Streit zwischen Windischgrätz und Berka, die ein sehr distanziertes persönliches Verhältnis zueinander hatten, überlagerte schnell den Streit zwischen Berka und Kramprich. Denn es ging vorrangig um Machtkämpfe in Wien über Stellenbesetzungen und insbesondere um die grundsätzliche Frage über das weitere allianzpolitische Vorgehen. Einflussreiche Gönner am Hof unterstützten Windischgrätz gegen den weniger beliebten Berka. Letzterer fand laut Heemskerck Unterstützung beim Hofkanzler Stratmann. In diesem Konflikt hatte Berka aber ganz offensichtlich verkannt, dass der einflussreiche Hofkanzler wie Windischgrätz weiterhin eine Allianz mit den Seemächten favorisierte. Für Österreich ging es dabei um sehr viel. Nur Windischgrätz schien aufgrund seiner großen diplomatischen Fähigkeiten in dieser Situation die Gewähr zu bieten, einen Zerfall der Allianz von 1689 abzuwenden. Um Stratmanns Stellung wegen seines Eintretens fur Berka wiederum nicht zu untergraben, versuchte Wien den Konflikt möglichst nicht publik werden zu lassen. Die anschließende Entsendung Berkas nach Münster wie auch die Entscheidung, diesem eine kaiserliche Ratsstelle zukommen zu lassen, entsprach einer Konfliktregelung nach klassischem Wiener Muster125. kerck konnte diesen Wunsch beim Kaiser nicht durchsetzen. Er musste feststellen, dass einige einflussreiche Höflinge eine starke Abneigung gegen Berka hegten. Dem Drängen des niederländischen Gesandten, ihn in diplomatischer Mission nach Münster zu schicken, gab Wien Anfang April nach einigem Hin und Her dann doch nach. Vgl. Weensche gezantschapsberichten (Anm. 106), Bd. 1, Nr. 210, S. 477 ff., insbes. S. 477 f. 124 Die Abtrennung der Niederlande vom Reich hat Wien formal erst im Jahr 1728 anerkannt. Mit der Anrede „Hochmögende" wahrte Leopold I. seine kaiserlichen Vorrechte in dieser Angelegenheit. Vgl. dazu Osterreichische Staatsverträge (Anm. 38), insbes. S. 33 f.; ausführlich jetzt auch JARREN, Niederlande (Anm. 4 ) , S. 6 8 ff. 125 Zur gemeinsamen politischen Zielsetzung von Windischgrätz und Hofkanzler Stratmann zu diesem Zeitpunkt vgl. Srbdc, Wien (Anm. I l l ) , S. 38 f. Zur Rolle von Windischgrätz und Berka im Haag vgl. die Einschätzung von dems. in österreichische Staatsverträge (Anm. 38), S. 291 f. Vgl. den Bericht von Heemskerck an den Ratspensionär vom 21.6.1691, Weensche gezantschapsberichten (Anm. 106), Bd. 1, Nr. 211, S. 479 ff., insbes. S. 479 f. Heemskerck zeigte sich in diesem Fall als präziser Beobachter und keineswegs als Mann mit „Neigung zu überspitzten Urteilen", wie P e l z l , Windischgrätz (Anm. I l l ) , S. 24, behauptet. Über die Beziehungen zwischen Windischgrätz, Berka und Stratmann erfährt man bei der Autorin zudem nichts.
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Berkas völlig überzogene Äußerungen gegen Kraraprich und Windischgrätz sind zugleich aber auch persönlicher Natur. Das kaiserliche Abberufiingsschreiben hatte Berka schwer in seiner Ehre und Eitelkeit gekränkt. Die Verantwortung für das Ende seiner Mission lastete er Windischgrätz an. Seine Ausfälle gegen Kramprich hatten einen anderen Hintergrund. Berka, Angehöriger einer alten böhmischen Aristokratenfamilie, konnte nicht akzeptieren, daß der sozial wie rangmäßig unter ihm stehende Kramprich für den Kongress ebenfalls eine Vollmacht besaß und diese bis zum Schluss behielt. So haben von Anfang an starke persönliche Abneigungen das beiderseitige Verhältnis geprägt.
4. Zusammenfassung Im Vergleich zu anderen bürgerlichen Vertretern im diplomatischen Dienst des Kaisers im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden kann Kramprichs Karriere als äußerst erfolgreich gewertet werden Dies zeigen insbesondere seine diplomatische Rangerhöhung zum Envoyé extraordinaire126 sowie seine Erhebung in den Freiherrenstand127. Beide Ziele betrieb er mit viel Ausdauer und erreichte sie nur mit Hilfe ihm zugeneigter Persönlichkeiten, die über genügend Einfluss am Hof und beim Kaiser verfügten. Seine ursprünglichen Berufswünsche als Hofkammerrat erfüllten sich indes nicht. Kramprichs war sicher kein herausragender Diplomat. Aber er besaß im Vergleich zu nicht wenigen anderen Berufskollegen eine Reihe guter Qualitäten. Pieter A. Muller hat ihn in dieser Beziehung bereits im letzten Jahrhundert folgendermaßen charakterisiert: Kramprich habe sich schnell sehr gute Kenntnisse über die wichtigsten Persönlichkeiten erworben und die allgemeine Situation in den Niederlanden in der Regel gut eingeschätzt. So sei er bald von Gesandten anderer Staaten als Ratgeber geschätzt worden128. Auch von einem Zeitgenossen und Berufskollegen, Abraham de Wicquefort, geboren in Amsterdam und von 1660 bis 1678 Agent und Resident von Braunschweig-LüneburgCalenberg in den Niederlanden129, wurden seine Fähigkeiten geschätzt130. 126 Zur Ernennung vgl. Österreichische Staatsverträge (Anm. 38), S. 37; MÜLLER, Gesandtschaftswesen (Anm. 3), S. 121, Anm. 29, meint, dass Kramprich nicht den Titel eines außerordentlichen Envoyés verliehen bekommen habe. Doch lässt der Briefwechsel Kramprichs mit Dietrichstein aus den Jahren 1686/87 (ML Brünn, FA Dietrichstein - G 140 Kart. 16, Inventar Nr. 49) daran keinen Zweifel. 127 Vgl. Karl Friedrich von FRANK, Standeserhebungen und Gnadenakte für das Deutsche Reich und die Österreichischen Erblande bis 1806, Bd. 3, Schloss Senftenegg 1972, S. 73. Vgl. dazu wie auch zum Wappen Kramprichs Ernst von Oidtman (Anm. 16), S. 242. MULLER, Nederlands eerste betrekkingen (Anm. 10), S. 15. 129
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SCHUTTE, R e p e r t o r i u m ( A n m . 2 5 ) , S. 2 8 8 f .
PRIBRAM, Lisola (Anm. 54), S. 449, Anm. 2. Siehe auch CIHAK, Les provinces-unies (Anm. 2 5 ) , S. 2 0 0 , Anm. 2 5 2 .
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Ein uneingeschränkt positives Bild seiner Diplomatenkarriere lässt sich aber nicht zeichnen. Die unterschiedlichen außenpolitischen Interessen und Zielsetzungen innerhalb der niederländisch-österreichischen Allianz erschwerten eine einvernehmliche partnerschaftliche Zusammenarbeit zusehends. Immer wieder gab es Situationen, in denen Stimmen in der Hofburg lauter wurden, die einen Bruch mit den Niederlanden befürworteten und die einer Einigung mit Paris das Wort redeten. Die erlebten bündnispolitischen Enttäuschungen sowie die beobachteten Übergriffe auf die katholische Minderheit in Teilen der Republik scheinen bei Kramprich, dessen religiöser Übereifer ebenso außer Frage steht wie seine Treue zum Kaiser, einen folgenreichen Entfremdungsprozess gegenüber dem Bündnispartner ausgelöst zu haben. Seine anfangs gezeigten Fähigkeiten, unvoreingenommen Stellung gegenüber der niederländischen Politik zu beziehen und sachlich zu berichten, gingen ihm mit zunehmendem Alter verloren. Während in Wien das konfessionelle Motiv als Leitlinie außenpolitischen Handelns im Laufe der Jahre mehr und mehr schwand, verstärkte es sich bei Kramprich. Doch weder seine Berichte an den Kaiser noch die hinterlassenen persönlichen Dokumente und Briefe geben uns genauen Aufschluss über die Ursachen seines Verhaltenswandels.
Summary Johann Daniel Kramprich von Kronenfeld from Koblenz strove for a position as Hqfkammerrat at the emperor's court in Vienna. However, he remained in the emperor's diplomatic service for his whole life. He came to The Hague in 1667, where, until his death in 1693, he resided as the emperor's permanent envoy. In the beginning of the 1670's, he successfully supported Franz Paul Baron von Lisola in establishing an alliance against France. Moreover, Kramprich strongly supported the far-reaching plans of Johann Joachim Becher in the area of trade politics. An orthodox Catholic himself, Kramprich realized the political necessity to bind allies like the Calvinistic Netherlands against Louis XIV. But with increasing age he fell back into confessional thinking. It was only due to Leopold I that The Hague's demand to release Kramprich in 1690 was not granted. Eventually the long-lasting and bitter argument held in public between the two sides overshadowed Kramprich's successful diplomatic achievements.
Süße Träume" Vorbehalte gegen europäische Einigungskonzeptionen in der Frühen Neuzeit* Von
Wolfgang Burgdorf Im Folgenden soll einleitend die Motivation der Erforschung der frühneuzeitlichen europäischen Einigungsprojekte seit dem Zweiten Weltkrieg dargestellt werden. Ein zweiter Teil stellt die Grundzüge der frühneuzeitlichen Einigungsideologie und -konzeptionen anhand französischer Propaganda aus der Zeit Ludwigs XIV. und des Friedensprojekts des Abbé de St. Pierre vor. Wirkungen und Gemeinsamkeiten der Entwürfe sind Thema des dritten Teils. Im vierten, dem Hauptteil werden die seit den 17. Jahrhundert dagegen vorgebrachten Argumente vorgestellt. I. Vor dem Hintergrund der Abendlandseuphorie, welche Ausdruck der geistigen Reorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg war, kam es in Westdeutschland in den 50er und 60er Jahren zu einer intensiven Beschäftigung mit der Geschichte des europäischen Einigungsgedankens1. Das geringere Interesse der Geschichtswissenschaft an den historischen Einigungskonzeptionen in den 70er und 80er Jahren spiegelte hingegen die Abnahme der Abendlandsbegeis* Dies Thema wurde von mir monographisch behandelt: Wolfgang BURGDORF, „Chimäre Europa". Antieuropäische Diskurse in Deutschland (1648-1999), Bochum 1999. Hierbei lag der Schweipunkt auf der Analogie zwischen der frühneuzeitlichen und der aktuellen Argumentation. Bei der Erstellung des vorliegenden Aufsatzes stellte ich fest, dass sich meine Schlussfolgerungen im Einzelnen geändert haben. Dies ist nicht zuletzt die Folge der intensiven Diskussion mit meinem Kollegen Gerd Helm. 1 Dietrich Hermann SCHADE, Die Entwicklung des europäischen Einigungsgedankens von den Anfangen bis zum Briand-Memorandum, Jur. Diss. (Masch.) Erlangen 1951, S. 206. Heinz GOLLWITZER, Europabild und Europagedanke, München 1951. Kurt von RAUMER, Ewiger Friede, München 1953. Hans-JOrgen SCHLOCHAUER, Die Idee des ewigen Friedens, Bonn 1953. Willy ANDREAS, Das Zeitalter Napoleons und die Erhebung der Völker, Heidelberg 1955. Rolf Hellmut FOERSTER, Die Idee Europa 1300-1946. Quellen zur Geschichte der politischen Einigung, München 1963. DERS., Die Geschichte und die europäische Politik, Bonn 1966. DERS., Europa. Geschichte einer politischen Idee, München 1967. Grundlegend: Jacob TER MEULEN, Der Gedanke der internationalen Organisation in seiner Entwicklung, Den Haag, Bd. 1, 1917; Bd. 2.1, 1929; Bd. 2.2, 1940. Elizabeth SOULEYMAN, The Vision of World Peace in Seventeenth and Eighteenth-Century France, New York 1941.
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terung2, welche in der Nachkriegszeit auch als Substitut des nationalen Bewusstseins diente. Im Vorfeld der Gründung der Europäischen Union und gleichzeitig mit dem Zusammenbruch der osteuropäischen Diktaturen kam es in Deutschland um 1990 geradezu zu einer Europa-Euphorie. Der Gedanke, die deutsche Wiedervereinigung durch die Einigung Europas außenpolitisch verträglich zu gestalten, spielte dabei eine große Rolle. Vor diesem Hintergrund wandte sich die historische Forschung wie in der Nachkriegszeit seit 1989 erneut der Geschichte des europäischen Einigungsgedankens zu. Implizit lieferten diese Forschungsanstrengungen, ähnlich wie in den 50er und 60er Jahren, einen geistigen Überbau für die wirtschaftliche und politische Integration Europas. Beispielhaft fur die Europa-Euphorie im Vorfeld der Gründung der Europäischen Union ist das Motto des 39. Deutschen Historikertages „Europa - Einheit in Vielheit". Als aber der Kongress im September 1992 zusammentrat, hatte sich die Befindlichkeit in Europa gegenüber der Planungsphase 1990, aus der das Motto stammte, grundlegend gewandelt3. Neben dem Erstarken des Nationalismus, insbesondere auf dem Balkan, hatte vor allem die MaastrichtDebatte die Einstellung zur europäischen Integration verändert. Ursächlich hierfür war das Referendum vom 2. Juni 1992, durch das die Dänen die am 9. und 10. Dezember 1991 in Maastricht beschlossene Gründung der Europäischen Union ablehnten. Zwar waren sich die Kommentatoren vor der Abstimmung einig, dass ein ablehnendes Ergebnis weniger über die Akzeptanz der Europapolitik der dänischen Regierung durch die Bevölkerung aussagen würde als über deren mangelnde Zufriedenheit mit der Innenpolitik. Dennoch stimulierte das ablehnende Plebiszit euroskeptische Haltungen in den übrigen EGLändern. 2
Otto DANN, Die Friedensdiskussion der deutschen Gebildeten im Jahrzehnt der Französischen Revolution, in: Historische Beiträge zur Friedensforschung, hrsg. von Wolfgang Huber, Stuttgart 1970, S. 95-133. Zwi BATSCHA/Richard SAAGE, Friedensutopien des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 4 (1975), S. 111-145. Peter BURKE, Did Europe exist before 1700?, in: History of European Ideas 1 (1980), S. 21-29. Johannes KUNISCH, Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Régime, Göttingen 1986, S. 157-171: Kapitel III.8: „Das Instrumentarium der Mächtepolitik: Gleichgewicht, Convenance, Europagedanke". Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion tun 1800, hrsg. von Anita Diete, München 1989. 3 Dies gilt auch für: „The Third Conference of the International Society for the Study of European Ideas", die vom 24. bis zum 29. August 1992 in Aalborg/Dänemark stattfand und den Titel „European Integration and the European Mind: Cultural Hegemony or Dialogue of Cultres" trug. Als Teilnehmer der Konferenz hatte ich den Eindruck, dass die Auswirkungen des dänischen Referendums die angereisten Historiker oft mehr interessierten als die Vorträge. Immer wieder wurde die Frage gestellt: Scheitert das „Projekt Europa"? Und was können wir als Historiker zur Rettung der europäischen Integration beitragen? Nur vereinzelt artikulierte sich damals Genugtuung über das Ergebnis. S. a. Wolfgang SCHMALE, Scheitert Europa an seinem Mythendefizit?, Bochum 1996.
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Gleichzeitig intensivierte die deutsche Geschichtswissenschaft im Bereich der Frühen Neuzeit die Erforschung der Geschichte des europäischen Einigungsgedankens, als gelte es, die schwindende Integrationsakzeptanz durch den Hinweis auf die lange Tradition der Einigungsprojekte zu kompensieren4. Hier wirkte sich auch eine gezielte Wissenschaftspolitik und die Bereitstellung von Geldern aus. Das Thema Europa behauptete sich neben dem Thema der Nation, dem ebenfalls vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt wurde5. Die neueren Forschungen zum Europagedanken und zur Idee der europäischen Integration in der Frühen Neuzeit haben bislang im Wesentlichen die Ergebnisse der 50er und 60er Jahre bestätigt. In dieser Situation erscheint es sinnvoll, nach neuen Quellen Ausschau zu halten und die Fragestellungen zu verändern. Ein Beitrag dazu ist die von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Abteilung fur Universalgeschichte des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz unter Heinz Duchhardt in Kooperation mit polnischen und ungarischen Wissenschaftlern in Angriff genommene Erfassung und Analyse von gedruckten Europa-Projekten aus Deutschland, Polen und Ungarn aus der Zeit vom Wiener Kongress bis zum Zweiten Weltkrieg. Die Mainzer Arbeitshypothese, dass gerade in Gemeinwesen, die erst spät zu „nationalstaatlichen Verfestigungen gelangten, das politische Denken in besonderer Intensität auf die europäische Konföderation gerichtet war, sei es im Sinn der Substitution des - aktuell nicht erreichbaren - Nationalstaats, sei es generell im Sinn der Schaffung einer Völ4
Der Europagedanke, hrsg. von August Buck, Tübingen 1992. Region, Nation, Europa. Historische Determinaten der Neugliederung eines Kontinents, hrsg. von Günther Lottes und Georg Kunz, Heidelberg 1992. Wolf-Dieter EBERWEIN, Ewiger Friede oder Anarchie? Demokratie und Krieg, Berlin 1992. Klaus MALETTKE, Europabewußtsein und europäische Friedenspläne im 17. und 18. Jahrhundert, in: Francia 21/2 (1994), S. 63-93. Wolfgang SCHMALE, Europese identiteit en geschiedenis, in: Denken over cultur in Europa, hrsg. von Lucienne Tomesen und Guy Vossen, Houten 1994, S. 23-38. Wolfgang BURGDORF, Imperial Reform and Visions of a European Constitution in Germany around 1800, in: History of European Ideas 19 (1994), S. 401-408. Europa- aber was ist es?, hrsg. von Jörg A. Schlumberger und Peter Segl, Köln/Wien/Weimar 1994. Anja Victorine HARTMANN, Reveurs de Paix? Friedenspläne bei Crucé, Richelieu und Sully, Hamburg 1995. Als symptomatisch für diese Entwicklung lassen sich erneut eine Reihe von Tagungen bzw. Konferenzen benennen: Vom 19. bis zum 21. Februar 1996 fand in Wolfenbüttel ein Arbeitsgespräch mit dem Titel „Europakonzeptionen in Deutschland um 1800" statt Das Institut für Europäische Geschichte in Mainz veranstaltete vom 29. Februar bis zum 2. März 1996 eine Tagung mit dem Titel: „Europäische Geschichte - eine historiographische Herausforderung". Auch hier ging es unter anderem wieder um die europäischen Einigungsprojekte der Frühen Neuzeit. Am 13. und 14. Juni 1996 fand in Mainz ein Symposion der Konferenz der Deutschen Akademien der Wissenschaften mit dem Titel „Europa - Idee, Geschichte, Realität" statt. 5 Dieter LANGEWIESCHE, Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur 40 (1995), S. 190-236. Reinhard STAUBER, Nationalismus vor dem Nationalismus? Eine Bestandsaufnahme der Forschung zu „Nation" und „Nationalismus" in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und U n t e r r i c h t 4 7 ( 1 9 9 6 ) , S. 1 3 9 - 1 6 5 .
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kergemeinschaft jenseits des Diktats der Großmächte"6, scheint im Kontrast zu den hier untersuchten Quellen zu stehen. Denn jene Autoren, welche sich gegen die Einigungskonzeptionen äußerten, unterstellten in der Regel, dass es sich bei diesen Plänen um Camouflagen von Hegemonialkonzeptionen handle. Entscheidend für den künftigen Erfolg oder Nichterfolg der weiteren Integration Europas ist die in Mainz gestellte Frage, nach den wechselnden Konjunkturen und Tendenzen des Europa-Denkens im jeweiligen nationalen Rahmen und im interkulturellen Vergleich. Diese Fragestellung soll auch bei den folgenden Überlegungen beachtet werden. Um eine Neuorientierung der historischen Europaforschung bemüht sich auch der Wiener Historiker Wolfgang Schmale, der 2000 die erste integrale Geschichte Europas veröffentlichte7. Er stellt nicht nur die Frage nach der Notwendigkeit der emotionalen und mythischen Unterfiitterung der Konzeptionen und Visionen einer Einigung Europas, sondern entwirft darüber hinaus die Grundlagen einer eigenständigen historischen Disziplin, der Europäistik8. Bereits 1997 schrieb Schmale: „Der Prozeß der europäischen Einigung [...] bedarf einer gründlichen Revision der Geschichtsbilder, die sich von ihrer nationalen Prägung lösen müssen"9. Unzählbar sind vergleichbare Äußerungen aus den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Bei diesem offensichtlichen Wunsch nach positiver Traditionspflege stellt sich die Frage: Wo bleibt das Negative? Die kritischen Stellungnahmen zur Idee einer europäischen Einigung sollen im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen. Mit dieser neuen Fragestellung kommen auch neue Quellen in den Blick, zeitgenössische briefliche Äußerungen, Rezensionen und vor allem Stellungnahmen von frühneuzeitlichen Völkerrechtlern10. 6
http://www.inst-euro-history.uni-mainz.de/for/europapl.htm. Das Projekt wird von der Volkswagenstiftung gefördert. 7 Wolfgang SCHMALE, Geschichte Europas, Wien 2000. Einen Überblick über die aktuellen Bemühungen der europäisch akzentuierten Historiographie bietet Michael BORGOLTE, Vor dem Ende der Nationalgeschichten? Chancen und Hindernisse für eine Geschichte Europas im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 561-596, hier: S. 576584. Ergänzen möchte ich Hartmut KAELBLE, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2001. Die Aufklärung als europäische Epoche stellt Walter DEMEL, Europäische Geschichte im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2000, vor. 8 SCHMALE, Scheitert Europa (Anm. 3). DERS., Europäische Geschichte als historische Disziplin. Überlegungen zu einer „Europäistik", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 389-405. Das weitere Spektrum jüngerer methodischer Überlegungen ist in einem Mainzer Tagungsband dokumentiert: Europäische Geschichte als historiographisches Problem, hrsg. von Heinz Duchhardt und Andreas Kunz, Mainz 1997. 9 Wolfgang SCHMALE, Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma, München 1997, S. 19. Ähnlich BORGOLTE, Vor dem Ende (Anm. 7), S. 573 u. 595: „Die reale Einigung Europas verlangt die Revision". 10 Die europäischen Einigungspläne der Frühen Neuzeit sollen hier nicht nochmals einzeln vorgestellt werden, da dies bereits vielfach geschehen ist. Im Prinzip beinhalten auch die
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Im Weiteren wird von Einigungsplänen oder -konzeptionen gesprochen, da der Begriff der Integration sinnvollerweise dem historischen Prozess nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vorbehalten sein sollte. Seine Rückprojektion in die Frühe Neuzeit wäre anachronistisch. Im Spätmittelalter und bis weit in die Frühe Neuzeit stand der Begriff der Christianitas im Zentrum entsprechender Konzeptionen. Es ging um die Organisation der auch nach der Reformation noch als Einheit gedachten Christenheit. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert trat begrifflich der Frieden immer mehr ins Zentrum dieser Entwürfe. Erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts setzt sich in diesem Kontext der Terminus „Europa" zunehmend durch. Begrifflich liegt es nahe, im 18. und frühen 19. Jahrhundert zwischen Friedens- und Europaplänen zu trennen, da Frieden universell gedacht werden kann, Europa hingegen geographisch begrenzt ist. Dagegen spricht jedoch, dass die Verfasser der Entwürfe in jener Zeit grundsätzlich eurozentristisch dachten, wie auch die Begriffe „Völkerrecht" und „europäisches Völkerrecht" zu dieser Zeit synonym gebraucht wurden. Wurden die USA und das Osmanische Reich mit einbezogen, wurden sie als Appendix des europäischen Mächtesystems gesehen. Die Anthologien und die Äußerungen der Kommentatoren des 18. Jahrhunderts zeigen, dass die Zeitgenossen die Entwürfe zur Organisation der Christenheit, des Friedens oder Europas als ein Genre betrachteten. Auch die Verfasser der Einigungsprojekte gebrauchten die Begriffe synonym, teilweise tauchen sie gemeinsam in den Titeln der Projekte auf.
II. Die Hofpublizistik Ludwigs XIV. stellte den Sonnenkönig mit dynastischen, lehns- und staatsrechtlichen sowie historischen Argumenten als Nachfolger Karls des Großen dar. In Reaktion auf diese Staatsschriften und auf publizistische Friedensprojekte à la St. Pierre bildeten sich im 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland zwei Argumentationsmodelle gegen eine gesamteuropäische Verfassung heraus, die lange Zeit bestimmend bleiben sollten. Einerseits wurde die Identifikation mit dem historischen Reich der Franken als Legitimation für eine neue Universalmonarchie abgelehnt, andererseits wurden völkerrechtliche Argumente gegen die gemeinschaftliche Organisation Europas vorgebracht. Um 1800 schließlich wurden beide Argumentationsmodelle gleichzeitig gegen die Vorstellung eines durch Frankreich geeinten Europa ins Feld geführt. Dies soll im Folgenden exemplarisch dargestellt werden. Nach dem Westfälischen Frieden von 1648 befanden sich die politischen
Einigungsentwttrfe ein Unbehagen an Europa. Denn genau dieses ist eine ihrer stärksten Motivationen.
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Zustände sowohl im Alten Reich als auch im Zentrum Europas in einer Phase relativer Stabilität. Dies änderte sich ab 1667 durch die expansive Politik Ludwigs XIV. Sie wurde von einer publizistischen Offensive begleitet, die den französischen König als den einzigen legitimen Nachfolger der karolingischen Herrscher bzw. der römischen Imperatoren darstellte. Dieses Schrifttum steht in der Tradition der seit dem Mittelalter zwischen Franzosen und Deutschen geführten Diskussion um das Recht der Frankennachfolge11. So vertrat ζ. B. der Pariser Hofadvokat Antoine Aubéry bereits 1667 in seinem Traktat Des justes prétentions du roy sur l'empire die Ansicht12, dass Franken und Alemannen ein Volk gewesen seien und Karl der Große Deutschland nicht als Kaiser, sondern als König von Frankreich besessen habe. Diese Argumentation diente Aubéry dazu, den Anspruch Ludwigs XIV. bzw. des Dauphin auf das Kaisertum zu begründen. Auch in Deutschland fanden sich vereinzelte und möglicherweise vom französischen Hof alimentierte Stimmen, die für eine Kaiserkandidatur Ludwigs XIV. eintraten. Der Helmstedter Universalgelehrte Hermann Conring ζ. Β. sah die Möglichkeit einer Vereinigung mit Frankreich und maß ihr große Bedeutung für die Expansion in Richtung Osten bei. Er war der Ansicht, der König von Frankreich würde durch die Kaiserkrone vom Feind zum Beschützer des Reiches. Andernfalls zerfiele das Reich, und die westlichen Provinzen müssten dem französischen Regnum zufallen13. 11 Rüdiger SCHNELL, Deutsche Literatur und deutsches Nationalbewußtsein in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter, hrsg. von Joachim Ehlers, Sigmaringen 1989, S. 247-319, hier: S. 314. Karl Ferdinand WERNER, Vom Frankenreich zur Entfaltung Deutschlands und Frankreichs, Sigmaringen 1984. 12 Bereits 1632 hat Jacques de Cassan in der Recherche des droits du roy et de la couronne de France (1643 neuaufgelegt) die Rechtsansprüche der französischen Könige auf das Reich und den größten Teil Europas dargestellt. 1666 waren die Ansprüche auf das Reich in den Divers traitez sur les droits et les prerogatives des Roys de France erneuert worden. Aubérys Schrift erschien 1668 in einer deutschen Übersetzung unter dem Titel Von den rechtmäßigen Ansprüchen des Königs in Frankreich auff das Kayserthum durch Herrn Aubery, Parlament. Advokaten und Königlich. Rath. 1679 wurde die Übersetzung neu aufgelegt. Zu Antoine Aubéry (1616-1695) s. Dictionnaire de Biographie Française, Bd. 4, Paris 1948, S. 102 f. Paul SCHMIDT, Deutsche Publizistik in den Jahren 1667-1671, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 28 (1907), S. 576-630, hier: S. 582-584. Winfried DOTZAUER, Der publizistische Kampf zwischen Frankreich und Deutschland in der Zeit Ludwigs XIV., in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins
N. F. 83 (1974), S. 99-123. Karl Otmar von ARETIN, Das Alte Reich 1648-1806, Bd. 1:
Föderalistische oder hierarchische Ordnung (1648-1684), Stuttgart 1993, S. 366. Markus BAUMANNS, Das publizistische Werk des kaiserlichen Diplomaten Franz Paul Freiherr von Lisola (1613-1674), Berlin 1994, S. 94-100 zur europaweiten Wirkung der Schrift. 13 Erik WOLF, Idee und Wirklichkeit des Reiches im deutschen Rechtsdenken des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Reich und Recht in der deutschen Philosophie, hrsg. von Karl Larenz, Stuttgart/Berlin 1943, S. 33-168, hier: S. 114. Zu Conring s. Neue Deutsche Biographie (NBD), Bd. 3, S. 342 f. sowie: Hermann Conring (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk, hrsg. von Michael Stolleis, Berlin 1983. Dietmar WILLOWELT, Hermann Conring, in:
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Aubéry und anderen französischen Publizisten diente das Argument der Frankennachfolge in Hinsicht auf dasfranzösischePublikum als Legitimation der expansiven Politik gegenüber dem Reich und den Niederlanden, außerhalb Frankreichs sollte es als Einigungsideologie wirken. Es legte der lesenden Öffentlichkeit im Reich dar, dass ihre Obrigkeiten unrechtmäßig von der französischen Krone abgefallen seien. Am Ende der Herrschaft Ludwigs XIV., 1712, ein Jahr vor dem Utrechter Frieden, veröffentlichte der Abbé Charles Irénée de St. Pierre sein Projet de paix perpétuelle^. Der Titel dieses bis heute bekanntesten frühneuzeitlichen europäischen Einigungsprojekts wurde schnell zum Schlagwort und diente neben Immanuel Kant einer Vielzahl von mehr oder weniger bekannten bis unbekannten Autoren als Titel für ähnliche Entwürfe. Sullys bzw. Heinrichs IV. „Großer Plan" von 163815, der bedeutendste Vorläufer von St. Pierres Projekt, verbreitete sich in der Folge im Wesentlichen über die Rezeption des Abbé16, dessen Ideen ab 1761 wiederum über die Rezeption Rousseaus weitergetragen wurden17. Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Michael Stolleis, München 1995, S. 129-147. 14 Charles Irénée de ST. PIERRE, Mémoires pour rendre la Paix perpétuelle en Europe, Köln 1 7 1 2 , vollständig zuerst Utrecht 1 7 1 3 , ergänzt 1 7 1 6 . Abrégé du Projet de paix perpétuelle ..., Rotterdam 1729. Neueste Französische Ausgabe: Abbé de SAINT PIERRE, Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe. Texte revu par Simone Goyard-Fabre, Paris 1986. Deutsche Übersetzung: Abbé Castel de SAINT-PIERRE, Der Traktat vom ewigen Frieden, 1 7 1 3 , hrsg. u. eingl. von Wolfgang Michael, Berlin 1922. TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 1, S. 180-221. Kurt von RAUMER, Saint Pierre und Rousseau. Das Problem des Ewigen Friedens, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 108 (1952), S. 669-689. St. Pierre kannte sich im Zentrum der politischen Macht Frankreichs gut aus: Seit 1695 Mitglied der Académie française, kaufte er sich zur selben Zeit die Stelle des ersten Geistlichen bei der Herzogin von Orléans und Schwägerin Ludwigs XIV. Mit Kardinal Dubois, dem leitenden Minister während der Regentschaft, war der Abbé über Jahrzehnte befreundet. 1712 hatte St. Pierre den französischen Gesandten Abbé de Polignac als Sekretär auf den Utrechter Friedenskongress begleitet. St. Pierres Idee einer europäischen Organisation findet sich bereits in einer Schrift aus dem Jahre 1708, von dem 1 7 1 2 veröffentlichten Projekt kursierten schon 1 7 1 1 Manuskripte, s. TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 1, S. 182 u. 186. 1 5 Maximilien de Béthune, Duc de SULLY, Mémoires des sages et royales oeconomies d'estat de Henry le Grand ou memoires de Sully, Paris 1821. DERS., Mémoires des sages et royales oeconomies d'État ... de Henry le Grand, Paris 1837. Kurt von RAUMER, Sully, Crucé und das Problem des Ewigen Friedens, in: Historische Zeitschrift 175 (1953), S. 139, hier: S. 12-14. FOERSTER, Idee (Anm. 1), S. 68-70. Ernst KAEBER, Die Idee des Europäischen Gleichgewichts in der publizistischen Literatur vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1907, ND Hildesheim 1 9 7 1 , S. 30. Zur Entstehung s. Theodor KOKELHAUS, Der Ursprung des Planes vom ewigen Frieden in den Memoiren des Herzogs von Sully, Berlin 1893. Klaus MALETTKE, Konzeptionen kollektiver Sicherheit in Europa bei Sully und Richelieu, in: Europagedanke (Anm. 4), S. 83-106. 16 Auf dem Höhepunkt des österreichischen Erbfolgekrieges, 1 7 4 5 , wurde Sullys Projekt von dem Abbé L'Ecluse in einer modernisierten Version ediert. Friedrich Schiller gab von 1 7 9 1 bis 1 7 9 4 , zu Beginn der Revolutionskriege, eine deutsche Übersetzung heraus und schrieb selbst ein Vorwort dafür. Sie lag ein Jahr, bevor Kant seine Version „Zum ewigen Frieden" veröffentlichte, vor. Friedrich SCHILLER, Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard
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Dem akademischen Stil der Zeit entsprechend, entwickelte St. Pierre seine Argumentation in Form eines Lehrbuchs fiir Geometrie und bemühte sich, alle möglichen Einwände gegen seinen Plan bereits vorab zu widerlegen. Bis zu seinem Tode variierte und wiederholte er, durch seine Kritiker provoziert, seine Grundideen in immer neuen Veröffentlichungen. Das bisherige System der Friedensschlüsse und das Gleichgewicht der Mächte betrachtete er als labilen Waffenstillstand, in dem jede unterlegene Macht auf Revanchemöglichkeiten sann und es keine Garantie für den Frieden gab. Daher schien es ihm notwendig, das Zusammenleben der Völker Europas völlig neu zu gestalten. Er ging davon aus, dass dies analog dem Verhältnis der Individuen in den einzelnen Staaten geschehen könne. Der Kern des Plans bestand in einem permanenten Kongress von Deputierten der Souveräne, deren Zahl sich nach der Größe der Länder richtete. Kleinere Länder sollten gemeinsame Kuriatstimmen erhalten. Grundsätzliche Entscheidungen sollten einstimmig, alle anderen mit einer Dreiviertel- bzw. in Notfällen mit einfacher Mehrheit getroffen werden. Die wichtigste Institution neben dem Kongress und dessen Präsidium war das Bundesgericht, das auch ohne Anrufung durch die Parteien tätig werden konnte. Der Bund selbst sollte als geschlossen gelten, wenn 14 der 24 europäischen Länder ihm zugestimmt hätten. Danach sollten Staaten, die sich weigerten, dem Bund beizutreten, zum Anschluss gezwungen werden. Zur Finanzierung waren Matrikularbeiträge vorgesehen. Das Bundesheer sollte aus gleich großen Kontingenten aller Mitglieder bestehen; kleinere Mitglieder sollten hierbei durch die Großmächte Unterstützung finden. Neben der Verteidigung nach außen, der Regulierung des Handels und der Entscheidung von Streitigkeiten sollte der Bund auch die politische Verfassung der Mitglieder garantieren und im Falle von Revolutionen intervenieren. Als Vorbilder für seine Konzeption nannte er neben der Schweiz und den Niederlanden das Deutsche Reich. Dieses jedoch sollte, anders als die Reichsstände, nicht in dem Bund vertreten sein. St. Pierres Entwurf enthielt bereits alle Facetten, die in den weiteren Friedensplänen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Wesentlichen nur noch variiert wurden.
III. Wenn man nach den Auswirkungen der über Jahrhunderte immer wieder vorgebrachten Projekte fragt, so ist zu berücksichtigen, dass diese sich zuFricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 4, München 1962, S. 891 f. 17 Aus St. Pierres Nachlass bearbeitete Jean-Jacques Rousseau 1756 zu Beginn des Siebenjährigen Krieges das Thema des „Ewigen Friedens" und veröffentlichte seinen Extrait 1761. Jean-Jacques ROUSSEAU, Extrait du projet de paix perpétuelle de l'abbé de Saint Pierre, Paris 1756/61. Ein deutscher Auszug bei: RAUMER, Ewiger Friede (Anm. 1), S. 343-368.
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nächst auf den Teil der Res publica Iliteraria und der obrigkeitlichen Funktionsträger beschränkten, der diese Pläne lancierte, kompilierte und rezipierte. Unabhängig davon, dass eine Einigung in dem hier behandelten Zeitraum nicht zustande kam, lassen sich sieben Beobachtungen hervorheben: Zunächst förderten die Entwürfe das Bewusstsein der Gemeinsamkeit. Zweitens trugen sie zur Idealisierung der deutschen Reichsverfassung als Rechtssystem bei. Immer wieder wurde in der Frühen Neuzeit auf den Reichsverband als Vorbild für die Organisierung der Christenheit, des Friedens oder Europas verwiesen. Drittens führten diese Überlegungen zu einer differenzierteren Bestimmung des Begriffes der Souveränität. Im 18. Jahrhundert betonten alle Verfasser, die eine europäische Einigung anstrebten, dass Gemeinschaftsexekutionen gegenüber einem einzelnen Staat dessen Souveränität nicht verletzten, sofern alle beteiligten Staaten die Zwangsgewalt mitkonstituierten. In diesem Kontext wurden auch Modelle einer abgestuften Souveränität entwickelt, die den Großmächten eine bevorrechtigte Position einräumten. Viertens wurde das Bewusstsein für das Völkerrecht gestärkt. Neben den Verweisen auf das positive Völkerrecht wurde wiederholt vorgeschlagen, neues internationales Recht zu schöpfen. Fünftens förderten die europäischen Einigungsprojekte das Ansehen repräsentativer Staatsformen. Hatte bereits 1623 Émeric Crucé die Interessen der Untertanen besonders betont18, so zeigte sich von St. Pierre (1712) über Eobald Tozen (1752) bis zu Immanuel Kants vielzitiertem Entwurf Zum Ewigen Frieden (1795) die zunehmende Wertschätzung für republikanische bzw. repräsentative Staatsformen. Einen Höhepunkt bildet hier das Projet d'un nouveau Système de l'Europe von 174519, in dem der anonyme Autor Volksentscheide über die Staatsformen forderte. Sechstens waren die Entwürfe in der Regel nicht das Anliegen politikfremder Moralisten, sondern wurden im Gegenteil häufig aus dem unmittelbaren Umfeld der Regierungen lanciert, waren Teil eines offiziösen gesamteuropäischen intergouvernementalen Diskurses. Eine siebte Auswirkung der frühneuzeitlichen europäischen Einigungspläne ist bislang von der Forschung vernachlässigt worden. Es handelt sich dabei um die ablehnenden Stellungnahmen, die diese Projekte hervorriefen. Sie zeigen, dass viele der Argumente, die heute gegen eine weitere Integration Europas vorgebracht werden, schon im 18. Jahrhundert artikuliert wurden. Ihre Untersuchung ist allein schon deswegen wichtig, weil auch sie Europabewusstsein spiegeln.
18 Em. Cr. Par. [Émeric CRUCE Parisien], Le Nouveau Cynée ou discours d'Éstat représentant les occasions et moyens d'establir une paix générale et la liberté du commerce par tout le monde, Paris 1623,2. Aufl. 1624. Neuaufl. hrsg. von Th. W. Blach, Philadelphia 1909. 19 Projet d'un nouveau Système de l'Europe, Préférable au Système de l'Equilibre entre la Maison de France et celle d'Austriche, o. 0.1745.
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In Reaktion auf die französischen Versuche, mit Hilfe der karolingischen Tradition territoriale Ansprüche zu bekräftigen, entstand in Deutschland eine Gegenpublizistik. Diese konnte auf einer Reihe franzosenfeindlicher Topoi aufbauen, die sich seit den Tagen Franz' I. und Karls V. und erneut seit dem Dreißigjährigen Krieg in Deutschland gebildet hatten. Die Franzosen galten als unzuverlässig, feige, vom Luxus verweichlicht und arrogant. Hauptursachen fur die Ausbildung dieser Stereotypen waren Kriege, die fur das Reich negative Handelsbilanz und nicht zuletzt ein Bewusstsein kultureller Inferiorität. Samuel Pufendorf äußerte sich 1667 zum Problem der Karlsnachfolge: „So würde ich, wenngleich ich den Deutschen sonst rate, den Franzosen nichts preiszugeben, ihnen doch anheimstellen, auf ihre Ansprüche auf Karl den Großen zu verzichten, besonders da ihrem jetzigen Reiche ein solcher Verzicht keinen materiellen Nachteil bringen kann". Vielmehr würde ein solcher Verzicht die unglückliche Verbindung mit dem Papsttum weiter lösen20. Hinsichtlich der Frage einer etwaigen Vereinigung Frankreichs und Deutschlands21 meinte Pufendorf, es sei wichtiger, die deutsche Identität zu schützen22. Am Ende seines Lebens war er überzeugt, dass ein Zusammenschluss Deutschlands und Frankreichs ganz Europa mit Knechtschaft bedrohte23. Von Pufendorf ausgehend, bildete sich eine gegen den karolingischen Reichsgründungsmythos gerichtete Tradition, für deren Vertreter die Geschichte Deutschlands unmöglich mit Karl dem Großen beginnen konnte, weil Deutschland damals noch kein eigenes Reich gewesen sei24. Eine zweite Gruppe von Gelehrten nahm eine vermittelnde Position ein und betonte, dass das Deutsche Reich „Karl dem Großen sein Dasein, Ludwig seine Selbstän20
Severinus von MONZAMBANO [= Samuel von PUFENDORF], Ueber die Verfassung des deutschen Reiches, übers, von Harry Breßlau, Berlin 1922, S. 12 (das Zitat) u. 19 f. Zu Pufendorf (1632-1694) s. Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd. 26, S. 701-708. Simone GOYARD-FABRE, Pufendorf et le Droit Naturel, Paris 1994. 21 PUFENDORF, Verfassung (Anm. 20), 1922, S. 103: „Wie es einerseits vorteilhafter für Frankreich ist, wenn Deutschland auf seiner jetzigen Machtstufe verbleibt, als wenn ein großer Teil desselben in die Hände der Türken fällt, so muß es andererseits auch für die Türkei erwünschter sein, daß das Reich seine unförmliche, einen Angriffskrieg unmöglich machende Verfassung behalte, als daß es, mit Frankreich verbunden sich zu einer straffen Monarchie umbilde. Denn wenn Deutschland und Frankreich in guter Treue zu einem Staatskörper verschmolzen wären, so hätte der Türke allen Grund, fur seine eigene Hauptstadt besorgt zu sein". 22 Ebd., S. 97 f. 23 PUFENDORF, Die Verfassung des deutschen Reiches, hrsg. von Horst Denzer, Stuttgart 1976, S. 156, Anm. 94. Vgl. Friso WLELENGA, Vom Feind zum Partner. Die Niederlande und Deutschland seit 1945, Münster 2000, S. 104. Gegen die Idee einer Europäischen Union gerichtet. 24 Z. B. Johann David KÖHLER, Teutsche Reichs-Historie, 2. Aufl. Frankfurt 1751 (1. Aufl. ebd. 1736), S. IV.
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digkeit, und den nachfolgenden höchsten Beherrschern seine Erhaltung zu danken" habe25. Die Mehrzahl der deutschen Gebildeten des 17. und 18. Jahrhunderts jedoch sah das Deutsche Reich weiterhin in der fränkisch-karolingischen Tradition, während der Glaube an die Translatio Imperii des antiken Römischen Reiches auf die Deutschen zunehmend in Frage gestellt wurde26. Johann Heinrich von Justi bestritt 1761 nicht nur diese aus der Vier-Weltreiche-Lehre folgende Idee, sondern auch die Annahme, dass das römische Kaisertum durch Karl bzw. Otto den Großen erneuert worden sei27. Gleichzeitig identifizierte Justi die Sachsen als Träger der gegen Rom gerichteten Reformation mit den alten heidnischen Sachsen, die, wie die Germanen der Antike gegen das römische Weltreich, gegen die fränkisch-christliche Unterdrückung gekämpft hätten. Zudem bestritt er die Rechtmäßigkeit der karolingischen Herrschaft über Sachsen mit naturrechtlichen Argumenten28. Diese Bezugnahme auf den Kampf der Sachsen gegen Karl den Großen und die lutherische bzw. sächsische Reformation gehörte im Alten Reich über Jahrhunderte zum festen Inventar sowohl der antikaiserlichen Opposition wie auch jener Publizisten, die sich gegen die Idee einer europäischen Einigung richteten, welche durch den Bezug auf die fränkische Vergangenheit und auf Karl den Großen legitimiert werden sollte. Richteten sich diese Äußerungen gegen eine auf die Emotionen zielende 25
Ζ. B. Peter WOLFTER, Geschichte der Veränderungen des teutschen Reichsstaats, Zürich 1789, S. 175. 26 Johann Stephan Pütter sprach „von dem Wahn, dass das Teutsche Reich eine Fortsetzung des alten Römischen sei", Hans Erich FEINE, Zur Verfassungsentwicklung des Heiligen Römischen Reiches seit dem Westfälischen Frieden, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 52 (1932), S. 65-133, hier: S. 69, Anm. 1. Dass die Vorstellung der Translatio bis zum Ende des 18. Jahrhunderts äußerst präsent war, zeigen unzählige Beispiele aus der Architektur und den bildenden Künsten. Ein besonders prachtvolles Exempel ist das ikonographische Programm des Goldenen Saals im Augsburger Rathaus. 27 [Johann Heinrich von JUSTI,] Anmerkungen zu Hippolithi a Lapide: Abriß der Staats-Verfassung, Staats-Verhältnis, und Bedürfnis des Römischen Reichs-Deutscher Nation: Nebst einer Anzeige der Mittel zur Wiederherstellung der Grund-Einrichtung und alten Freiheit nach dem bisherigen Verfall. Aus Bogislav Philipp von Chemnitz vollständiger lateinischer Urschrift; mit Anmerkungen, welche die gegenwärtigen Umstände im Reich betreffen, Mainz/Koblenz 1761, T. 1, S. 41 ff. Dass Justi der Verfasser der Anmerkungen ist, wurde von Erhard Ditrich in der NDB 10, S. 707 ff. bestätigt. Zu Justi ( 1717-1771 ) s. ebd., S. 707709. 28 [JUSTI,] Anmerkungen (Anm. 27), T. 1, S. 99: „Der erschrecklichste Gewissenszwang, und die Fortpflanzung des Glaubens durchs Schwerd finden im Recht der Vernunft nie den allergeringsten Behelf. Man kann von dieser Sache kein richtigeres Urteil fällen, als dass man frei bekennt, so ungerecht die Kriege Karls des Großen wider die Sachsen gewesen, wodurch er sie endlich ohne alles Recht und ohne allen gegründeten Anspruch auf ihre Länder und Seelen zu seinen Untertanen und Scheinchristen machte, ebenso gottlos war auch das Mittel, diese wider Gott und alles Recht an sich gezogene Herrschaft, und diesen an statt der heidnischen Abgötterei eingesetzten damals schon ziemlich abergläubischen lateinischen Kirchendienst zu erhalten".
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Geschichte- und Identitätskonstruktion, so blieb auch St. Pienes rationalistisches Projekt nicht unwidersprochen. Dieser hatte seinen Entwurf nicht nur publiziert, sondern auch den wichtigsten Staatsmännern und Gelehrten seiner Zeit zugesandt, unter anderem Kardinal Fleury, Prinz Eugen und Leibniz. Dies trug dazu bei, dass es während des gesamten 18. Jahrhunderts eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit seinem Projekt gab, das bereits 1714 in einer Rezension als „Chimäre" bezeichnet wurde29. Gottfried Wilhelm Leibniz - selbst als Verfasser europäischer Einigungspläne bekannt - empörte sich unmittelbar nach dem Erscheinen des Entwurfs in Briefen an die Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans, die Gönnerin St. Pierres, durch den „Ewigen Frieden" würde „das Band des Römischen Reiches zertrümmert" und würden große Gebiete vom Reich abgerissen, weshalb der Kaiser diesem Projekt niemals zustimmen „kann noch wird"30. Das Reich, so schlug Leibniz vor, solle mit seiner jetzigen Verfassung in die „Europäische Vereinigung" eintreten und von dieser wie bei dem Westfälischen Frieden garantiert werden. Die Beibehaltung der Reichsverfassung erspare dem Abbé „wenigstens ein Drittel" der „ M ü h e n , die europäischen Potentaten in seine Vereinigung zu bringen". Durch seine eigenen, vergeblichen Versuche frustriert31, resümierte Leibniz: „Nur die Toten schlagen sich nicht mehr; die lebenden Großen respektieren keine Gerichtshöfe"32. An anderer Stelle erinnerte Leibniz, der sich in seinen Observations sur le projet d'une paix perpétuelle de M. l'Abbé de St. Pierre ausführlich mit dessen Ideen auseinandersetzte, an ein holländisches Wirtshausschild, auf dem unter der Überschrift „Pax perpetua" ein Friedhof gemalt war33. Dieses Bild benutzte, nachdem bereits Voltaire geschrieben hatte „O mes amis, la paix est chez les mortes"34, auch Kant in der Präambel seiner Schrift Zum Ewigen Frieden. Friedrich II. von Preußen schließlich, von St. Pierre ebenfalls mit einem Exemplar bedacht, fand das Projekt belustigend35. 29
TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 1, S. 202. Zu den Reaktionen der Zeitgenossen insgesamt s. ebd. S. 201-221. 30 Briefwechsel zwischen Leibniz und der Herzogin Charlotte von Orléans. 1715/16, hrsg. von Eduard Bodemann, in: Zeitschrift des historischen Vereins fur Niedersachsen 1884, S. 1-66, der hier zitierte Brief vom 19.10.1716 an die Herzogin S. 50-52, das Konzept des Briefes an St. Pierre vom selben Tag S. 65 f. 31 Franz X. KLEFL, Der Friedensplan des Leibniz zur Wiedervereinigung der getrennten christlichen Kirchen, Paderborn 1903, ND Hildesheim 1975. Paul RITTER, Leibniz' Ägyptischer Plan, Darmstadt 1930. Hans-Peter SCHNEIDER, Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit (Anm. 13), S. 197-226. Hansjakob STEHLE, Der Reichsgedanke in dem politischen Weltbild von Leibniz, Diss. Frankfurt a. M. 1950. DERS., Leibniz' Vision eines geeinten Europa, in: Leibniz und Europa, hrsg. von Albert Heinekamp, Hannover 1994, S. 11-38. 32 Brief an Liselotte von der Pfalz, in: Briefwechsel (Anm. 30), S. 1. 33 Werke, Reihe 1 : Historisch-politische und staatswissenschaftliche Schriften, hrsg. von Onno Klopp, 11 Bde., Hannover 1864-1884, Bd. 6, S. 458. 34 TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 1, S. 204. 35 FRIEDRICH II., Oeuvres posthumes, hrsg. von Jean C. Laveaux, 20 Bde., Berlin 1788,
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Der Völkerrechtler Georg Ludwig Erasmus von Huldenberg, ein Anhänger der Gleichgewichtskonzeption, versuchte 1720 zu beweisen, dass St. Pierre zu Unrecht das Deutsche Reich als Beispiel bemüht habe. Deutschland sei ursprünglich eine einheitliche Monarchie gewesen und habe sich erst allmählich zu seiner jetzigen Vielgliedrigkeit entwickelt, außerdem werde es noch immer von einer einzigen Nation bewohnt. Die verschiedenen Völker Europas hingegen seien noch nie von einem gemeinsamen Oberhaupt regiert worden und somit keine historische Einheit. Die Einheit Europas ließe sich daher nur durch einen willkürlichen Vernunftakt konstruieren. Ferner beweise bereits der mangelnde Zusammenhalt des Deutschen Reiches, dass Europa fur eine Gemeinschaft zu groß sei. Huldenbergs Werk wurde 1748, am Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges, mit leicht verändertem Titel wieder aufgelegt36. Knapp 60 Jahre vor der Französischen Revolution und dem Beginn der Romantik hatte Huldenberg den Gegensatz zwischen dem „organischen" deutschen Weg der Verfassungsentwicklung und der abstrakten, unhistorischen, westlichen Staatsphilosophie klar formuliert. Ein weiterer Völkerrechtler, Eberhard Georg Wittich - auch er ein leidenschaftlicher Verteidiger der Gleichgewichtsidee - , empörte sich 1723, wie zuvor Leibniz, insbesondere über St. Pierres Idee, das Reich zu zerteilen37. Wittich befürchtete, dass die Verwirklichung der Bundesbeschlüsse permanente Zwangsmaßnahmen, bis hin zur Gewaltanwendung gegen einzelne Bundesglieder, zur Folge haben könnte. Er wandte sich somit gegen die Idee eines europäischen Bundes, da er keine Möglichkeit sah, die einzelnen Fürsten gegen Machtüberschreitungen des Bundesrates zu sichern. 1747, im letzten Jahr des Österreichischen Erbfolgekrieges, veröffentlichte Johann Heinrich von Justi seinen Beweis, dass die Universalmonarchie vor die Wohlfahrt von Europa und überhaupt des menschlichen Geschlechts die größte Glückseligkeit wirken würde3*. 1764, ein Jahr nach dem Ende des Sieben-
Bd. 6, S. 197. Zu weiteren Äußerungen Friedrichs II. zu St. Pierre s. TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 1, S. 216-219. 36 Georg Ludwig Erasmus von HULDENBERG, Dissertatio jurídica solemnis qua de aequilibrii alioque legali juris gentium arbitrio in gentium controversiis pacis tuendae causa interponendo, Helmstedt 1720. DERS., Kressiana de aequilibrii alioque legali juris gentium arbitrio in gentium controversiis pacis tuendae causa interponendo, Helmstedt 1748. TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 1, S. 210 f. Zu Huldenberg gibt es keinen Eintrag im Deutschen Biographischen Index (DBI). 37 Eberhard Georg WITTICH [Praes. Joh. Friedrich KAYSER], Dissertatio juris gentium de tuendo aequilibrii Europae, Gießen 1723. TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 1, S. 203 f. Zu Wittich gibt es keinen Eintrag im DBI. 38 Johann Heinrich von JUSTI, Beweis, daß die Universalmonarchie vor die Wohlfahrt von Europa und überhaupt des menschlichen Geschlechts die größte Glückseligkeit wirken würde, Frankfurt 1747 (Wiederabdruck in: DERS., Gesammelte Politische und Finanzschriften über wichtigste Gegenstände der Staatskunst, der Kriegswissenschaften und des Cameral- und Finanzwesens, 2 Bde., Kebenhaven/Leipzig 1760/64, hier: Bd. 2, S. 235-300.
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jährigen Krieges, distanzierte sich Justi allerdings von dessen Inhalt und meinte nun, eine Universalmonarchie müsse zwangsläufig „wegen des Mangels an weisen und vollkommenen Regenten" die härteste Despotie nach sich ziehen 39 . Die bis dahin umfassendste Auseinandersetzung mit der Idee der europäischen Einigung erfolgte 1752 durch den Mecklenburger Historiker und Staatsrechtler Eobald Tozen. Tozen veröffentlichte die erste Anthologie europäischer Friedensprojekte und bedachte die einzelnen Konzepte mit ausfuhrlicher Kritik 40 . Seine aufwendige Publikation, die nun zum erstenmal einen Überblick über die verschiedenen Pläne bot, dokumentiert, welche Bedeutung die Entwürfe mittlerweile erreicht hatten41. Tozen hielt eine europäische Einigung angesichts der vielen Monarchien in Europa für unmöglich, da Monarchien nach seiner Ansicht stets nach Machtvergrößerung strebten und sich niemals die Möglichkeiten dazu entwinden lassen würden. Republiken hingegen seien primär an der Freiheit des Handels interessiert, die wiederum Frieden voraussetze. Tozens Kritik richtete sich vorrangig gegen den Verlust von Unabhängigkeit und Souveränität. Es erschien ihm unmöglich, die Handlungsfreiheit der Souveräne durch einen europäischen Rat oder Gerichtshof zu beschneiden, da er insbesondere das Recht auf Selbsterhaltung für unveräußerlich hielt. Dar39 Ebd., Anm., S. 235-237. Marcus OBERT, Die naturrechtliche „politische Metaphysik" des Johann Heinrich Gottlob von Justi ( 1717-1771 ), Frankfiirt a. M. 1992, S. 50. 40 Eobald TOZEN, Die allgemeine Christliche Republik in Europa, nach den Entwürfen Heinrichs IV., Königs von Frankreich, des Abts von St. Pierre und anderer vorgestellt; nebst einigen Betrachtungen über diese Staatsverfassung, worin ihre Möglichkeit untersucht, und von guten und bösen Folgen, die daraus entstehen würden, gehandelt wird, Göttingen 1752. Zu Tozen (auch Totze oder Toze) (1715-1789) s. ADB, Bd. 38, S. 487. Deutsches Biographisches Archiv (DBA) 1279, 379-390 u. 392. Heinz DUCHHARDT, Europabewußtsein und politisches Europa - Entwicklung und Ansätze im frühen 18. Jahrhundert am Beispiel des Deutschen Reiches, in: Europagedanke (Anm. 4), S. 120-131, hier: S. 127-130. MALETTKE, Europabewußtsein (Anm. 4), S. 89 f. Tozen war viele Jahre Hofmeister im Hause des Landrats und Präsidenten von Stackelberg zu Kaltenbrunn in Estland, mit dessen Söhnen er nach Göttingen ging, wo er u. a. bei Achenwall studierte, den Magistergrad der Philosophie erwarb und 1747 Sekretär der Universität wurde, womit eine außerordentliche Professur verbunden war. Seit 1762 war er Professor für Geschichte und Jus publicum an der 1760 gegründeten Universität von Bützow. Er war der bedeutendste akademische Lehrer in Bützow, die Aufhebung der Universität fiel zeitlich mit seinem Tod zusammen. 41 Konkreter Anstoß für Tozens Publikation war das Projet d'un nouveau Système de l'Europe [...], o. O. [1745]. TERMEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 1, S. 230-236. SCHADE, Entwicklung (Anm. 1), S. 31. FOERSTER, Idee (Anm. 1), S. 332 f. DUCHHARDT, Europabewußtsein (Anm. 40), S. 127. In den Einzelheiten folgte das Projekt den Ideen St. Pierres. Neu hinzu kam die Forderung, dass die einzelnen Staaten auch ihre bilateralen Verträge von Dreivierteln der Partnerländer billigen lassen sollten. Dadurch wäre die Multilateralisierung aller zwischenstaatlichen Beziehungen institutionalisiert worden. Ausdrücklich wandte sich der Verfasser gegen die Beibehaltung des uneffektiven Gleichgewichtssystems und sprach sich für ein Interventionsrecht des Bundes im Falle innerer Krisen der Mitglieder aus. Eroberte feindliche Länder sollten auf Antrag der Einwohner in Republiken umgewandelt werden. Wie St. Pierre, präsentierte der Anonymus einen Vertragsentwurf.
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über hinaus glaubte er nicht, dass man eine gesetzliche Grundlage für die Rechtsprechung eines Bundesgerichts finden könne, da das Natur- und Völkerrecht aufgrund der verschiedenen Interpretationen unsicher und ungenügend sei. Dass der Bund selbst neues Recht schöpfe, wie einige Autoren vorgeschlagen hatten, hielt er angesichts der widerstreitenden Staatsinteressen in einem angemessenen Zeitraum für wenig erfolgversprechend42. Sollte der Bund dennoch verwirklicht werden, so befürchtete Tozen, dass die gewaltsame Durchsetzung der Bundesbeschlüsse einen permanenten Binnenkrieg zur Folge haben würde, oder aber, dass die Europäer durch den Frieden verweichlichen und Opfer von Barbaren würden43. Voller Argwohn gegen unkontrollierbare gesamteuropäische Institutionen resümierte Tozen: Man würde in der Christlichen Republik „vielleicht mehrere Ungemächlichkeiten, als in dem gegenwärtigen Zustande Europas, welchen man die Staatsverfassung des Gleichgewichts nennt, antreffen. Ja vielleicht ist derselbe nicht so böse, als er von denen, die ihn durch die Errichtung der Christlichen Republik verbessern wollen, ausgeschrien wird"44. Es sollte länger als ein halbes Jahrhundert dauern, bis Gabinus de Wal mit seiner Dissertation ein vergleichbares Werk veröffentlichte. De Wal zeigte sich anders als Tozen überzeugt, dass die Vereinigung der Völker zustande kommen werde - eine Überzeugung, die nahe lag, in einer Zeit, in der napoleonische Truppen wie in fast ganz Europa auch in den Niederlanden standen45. Tozen und de Wal überragen die Einzelkritiker, da sie mit ihren Anthologien ein neues Genre begründeten. Dieses wurde erst am Ende des Ersten Weltkriegs mit der grundlegenden Arbeit von Ter Meulen und mit den Kompilationen nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgenommen46. Es erscheint somit folgerichtig, dass sich das Mainzer Institut für Europäische Geschichte in den kriegerischen Zeiten am Ende des 20. Jahrhunderts erneut dieser lange ruhenden Gattung annahm. Tozen und de Wal begründeten mit ihren Sammlungen gleichzeitig die Reflexion über die Reflexionen über Europa, welche die Einigungspläne darstellen. Dabei stellte sich nur Tozen, der seine Kompilation mitten im Frieden veröffentlichte, gegen den Einigungsgedanken. Sehr kritisch zur Möglichkeit einer Institutionalisierung des „Ewigen Friedens" äußerte sich auch Rousseau in einem Gutachten zu den Traktaten des Abbé de St. Pierre, das er nicht zur Veröffentlichung, sondern zum eigenen Gebrauch anfertigte. In dem 1756 verfassten, vier Jahre nach seinem Tod, 42
TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 1, S. 237 f. Dieses Argument hatte William Penn bereits 1693 in seinem Essay towards the Present and Future Peace of Europe zu widerlegen versucht. 44 TOZEN, Die allgemeine Christliche Republik (Anm. 40), S. 348 f. MALETIXE, Europabewußtsein (Anm. 4), S. 90. 45 Gabinus DE WAL, De conjunctione populorum ad pacem perpetuarli, Groningen 1809. TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 2,1, S. 89. 46 S. Anm. 1. 43
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1782, veröffentlichten Jugement sur la paix perpétuelle''1 zeigte sich Rousseau überzeugt, dass die gleichen Fürsten, die den Bund, wenn er bestünde, „mit allen Kräften verteidigen würden, sich heute ebenso seiner Verwirklichung widersetzen" würden. Zu verlockend sei der „Zustand der absoluten Unabhängigkeit", der die Staatsoberhäupter von der Herrschaft der Gesetze befreie, auch wenn er sie dafür der des Zufalls unterwerfe. Denn, so führte Rousseau weiter aus, es sei im Interesse der Stabilität des Bundes unvorstellbar, dass der Bund die Herrscher vor Aufständen der Untertanen schütze, ohne gleichzeitig die Untertanen vor der Willkür der Herrscher zu schützen. Hier ist das Thema der Legitimation europäischer Institutionen angesprochen. Diese Aussage Rousseaus stand im krassen Gegensatz zu seinem 1761 veröffentlichten Extrait du projet de paix perpétuelle de l'Abbé de Saint Pierre. Dort erschien ihm der „Ewige Friede" als „unerreichbares, aber auch unerwünschtes Bündnis zwischen willkürlichen Gewalthabern"48. Rousseaus Resümee war ernüchternd: „Zweifellos ist der ewige Friede im Augenblick ein absurder Plan"49. Selbst wenn Heinrich IV. und Sully sich erneut dieser Aufgabe annähmen, wäre ein solcher Friede nur durch gewalttätige und für die Menschheit furchtbare Mittel zu erreichen. „Man sieht", so beendete Rousseau seine Ausführungen, „dass sich Bündnisse nur durch Revolutionen begründen, und wer von uns würde nach diesem Grundsatz zu sagen wagen, ob dieser europäische Bund zu wünschen oder zu furchten ist. Er würde vielleicht mit einem Schlage mehr Unheil anrichten, als er für Jahrhunderte verhüten würde"50. Der Vergleich dieses „Urteils" mit dem 1761 von Rousseau publizierten 47
Jean-Jacques ROUSSEAU, Jugement sur la paix perpétuelle, 1756/82. Auszüge in: TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 1, S. 255-258, und RAUMER, Ewiger Friede (Anm. 1), S. 369-378. Engl.: The political writings of Jean Jacques Rousseau, edited from the original manuscripts and authentic editions, with introductions and notes by C. E. Vaughan, Bd. 1, Cambridge 1915. S. auch: RAUMER, Saint Pierre (Anm. 14), S. 669-689. 48 TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 1, S. 93. Rousseau betonte den Zusammenhang zwischen Despotismus und Krieg und räumte der Innenpolitik Vorrang vor der Außenpolitik ein. Diese Argumentation wurde 1810 von Johann Baptist SCHUE aufgegriffen und gegen Napoleon gewandt. Im Versuch eines Beweises in einer Skizze, daß die Hoffnung zu einem ewigen Frieden eine Chimäre sey, die Hoffnung aber zu einem langen Frieden, auf den Rheinischen Bund gegründet, Realität sey, in: Der Rheinische Bund XV/45 (1810), S. 351-378, hier: S. 371, forderte Schue: „Es muss schlechterdings dahin gearbeitet werden, daß sich das immer fortwährende Kriegführen [...] ganz erledige. Geschieht es nicht, dann wird Frankreich und Deutschland [...], in jedem neuen Sieg von Außen eine neue Niederlage von Innen zu bezeufzen haben". Schue griff zwar im Titel auf das Vorbild St. Pierres zurück, folgte aber inhaltlich Rousseau. Gerhard SCHUCK, Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit. Zwischen Aufklärung und Frühliberalismus, Stuttgart 1994, S. 267. 49 St. Pierres Idee, den Plan zu verwirklichen, indem man einen allgemeinen Kongress einberufe, ihn dort präsentiere und, da er das Beste für das allgemeine Wohl sei, beschließe, erschien Rousseau als „eine Folge der kindlichen Einfalt des Verfassers", RAUMER, Ewiger Frieden (Anm. 1), S. 173. r ° Ebd., S. 142.
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„Auszug" aus St. Pierres „Ewigem Frieden" zeigt, dass Rousseau zwar an eine tatsächlich vorhandene europäische Gemeinschaft glaubte, deren Überführung in einen institutionellen Rahmen jedoch ablehnte. Eine Konföderation konnte sich Rousseau wie Tozen nur als Verbindung kleinerer „republikanischer" Gemeinwesen vorstellen. Noch negativer als Tozen und Rousseau äußerte sich Johann Heinrich von Justi zu der Frage „Ob Europa in eine Staatsverfassung gesetzt werden könne, wobei ein immerwährender Friede zu hoffen ist?"51. Auch ihm erschienen die Interessen der europäischen Reiche so entgegengesetzt, dass sie „unmöglich unter einen Hut zu bringen" seien. Die Möglichkeit eines friedlichen Europa wollte Justi sich nur vorstellen, wenn das tausendjährige Reich der „Herren Chiliasten" anbräche. Wie zuvor die Vertreter des theoretischen Völkerrechts, sahen sich auch die Exponenten des entstehenden positiven Völkerrechts veranlasst, sich mit der Idee des „ E w i g e n Friedens" auseinanderzusetzen. So ließ sich Johann Jakob Moser, als er das grundlegende Werk des positiven Völkerrechts verfasste, zu dem lakonischen Kommentar herab: „So lange aber die Menschen, und besonders die großen Herren, zumalen aber die Könige von Frankreich, bleiben wie sie sind, bleiben auch alle solche Projekte leere süße Träume"52. An anderer Stelle illustrierte Moser seine Auffassung, dass die Verfassung des Reiches sich nicht durch öffentliche Vorschläge von Privatpersonen verbessern lasse, mit der Bemerkung, dies sei ebenso unmöglich, „als Plato seine Republik hat zu Stande bringen" und „der bekannte Apotheker von Europa, der Abbé de St. Pierre, seine Entwürfe bei den europäischen Staaten hat beliebt machen und durchsetzen können"53. Der osnabrückische Staatsmann und Publizist Justus Moser hielt einen Frieden à la St. Pierre gar nur dann für möglich, wenn man auf sämtliche Errungenschaften der Zivilisation verzichte und die Bevölkerung so drastisch dezimiere, dass sie ohne gegenseitige Berührung leben könne54. Dem sächsi51
Johann Heinrich von JUSTI, Untersuchung der Frage, ob Europa in eine Staatsverfassung gesetzt werden könne, wobei ein immerwährender Friede zu hoffen ist?, in: DERS, Historische und juristische Schriften, T. 1, Frankfurt a. M. 1760, S. 171 ff. Notker HAMMERSTEIN, Heiliges Römisches Reich deutscher Nation und Europa, in: Europagedanke (Anm. 4), S. 1 3 2 - 1 4 6 , hier: S. 145. 52
Johann Jakob MOSER, Grund-Sätze des jetzt üblichen Europäischen Völkerrechts in Friedens-Zeiten, Hanau 1750, 1. Buch, 1. Kap. §§ 8-9, S. 17 f. MALETTKE, Europabewufltsein (Anm. 4), S. 80. Zu Moser s. ADB, Bd. 22, S. 372-382. Reinhard RÜRUP, Johann Jakob Moser. Pietismus und Reform, Wiesbaden 1965. Erwin SCHÖMBS, Das Staatsrecht Johann Jakob Mosers (1701-1785), Berlin 1968. Adolf LAUFS, Johann Jakob Moser, in: Staatsdenker der frühen Neuzeit (Anm. 13), S. 284-293. 53 Johann Jakob MOSER, Betrachtungen über das Sammeln und Denken in dem teutschen Staatsrecht, in: DERS., Abhandlung verschiedener Rechtsmaterien, 20 St. in 5 Bden., Frankfurt a. M . 1 7 7 2 - 1 7 7 8 , St. 18 (1778), S. 3 0 5 - 3 6 4 , hier: S. 331. 54
Justus MÖSER, Rezension zu: Friedrich Karl von Moser, Von dem deutschen National-
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sehen Juristen Christian Gottlob Biener ging 1781 sogar die bis dahin erreichte diplomatisch-dynastische Verbindung Europas zu weit55. In Johann Valentin Embsers Sammlung der Abgötter des philosophischen Jahrhunderts wurde St. Pierres Projekt 1779 die zweifelhafte Ehre zuteil, als der erste Abgott vorgeführt und widerlegt zu werden56. Embser wandte sich gegen die von ihm als „Philosophen" - ein Synonym für Aufklärer - bezeichneten Friedensprojekteure. Der „Ewige Friede" galt auch ihm als eine „Chimäre", die notwendig schreckliche Folgen haben müsse, während er den Krieg als die „Triebfeder menschlicher Größe" und den „Schöpfer der Nationen" ansah57. Die auf Rousseau zurückgehende Auffassung, dass der Westfälischen Friede, der das deutsche Staatsrecht in gewisser Hinsicht zum europäischen Staatsrecht gemacht habe, bereits eine unzulängliche positiv-rechtliche Verfassung Europas sei, lehnte er ab58. Da es auf Erden nichts Vollkommenes geben könne, schien es Embser klar, dass das Projekt des „Ewigen Frieden" weder ausgeführt werden könne noch ausgeführt werden dürfe59. Eine Einigung Europas war für Embser gleichbedeutend mit dem ersten Schritt zu seinem Untergang, da seiner Meinung nach alle großen Reiche daran gescheitert waren, dass sie ihre räumliche Expansion mit der Auflösung ihres inneren Zusammenhalts bezahlt hatten60. Zudem schien es Embser ausgemacht, dass „eine europäische Konföderationsarmee" noch weniger zu führen sei und noch weniger Zusammenhalt haben werde als die deutsche Reichsarmee61. Im übrigen würden im „Ewigen Frieden" die militärischen Fähigkeiten verfallen und die Konföderationsarmee somit für Exekutionsmaßnahmen noch untauglicher sein als die Bürgerwehren kleiner Städte62. geist, Frankfurt a. M. 1766, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 6 (1768), S. 3-5, auch in: DERS., Sämtliche Werke, Bd. 9, Berlin 1843, S. 240-243. 55 Christian Gottlob BIENER, Bedenklichkeiten bey Verbannung der ursprünglich fremden Rechte, Leipzig 1781, S. 27: Eine Rechtsreform in Deutschland wird „ein frommer Wunsch bleiben, so lange Deutschland dauert, und dieses wird dauern, so lange das europäische Völkersystem nicht eine allgemeine Katastrophe leidet; dieses aber wird nie umgeworfen werden, weil Staat an Staat gedrängt und durch das Band der Verträge, Bündnisse und des allgemeinen Interesses zusammengehalten steht". 56 Johann Valentin EMBSER, L'idolatrie de ce siècle philosophique, Mannheim 1779. DERS., Die Abgötterei unseres philosophischen Jahrhunderts, Mannheim 1779. Zu Embser (1745-1783) s. DBA 280,126. Embser war Professor am Gymnasium in Zweibrücken und Mitarbeiter am dortigen Institut für klassische Autoren. 57 EMBSER, Abgötterei (Anm. 56), S. 4. Er sah den Krieg als „Reisen ganzer Nationen", die den gleichen Bildungseffekt hätten wie Reisen von Individuen, ebd., S. 118 f. 58 Ebd., S. 19. 59 Ebd., S. 8. 60 Ebd., S. 56: „Der Staat verliert natürlicherweise an innerer Stärke, was er an äußerer Größe gewinnt, und so wie sich diese integriert, wird sich jene differenzieren". Analoge Argumente werden heute in der Debatte um die Ost-Erweiterung der Europäischen Union vorgebracht. 61 Ebd., S. 90. 62 Ebd., S. 66.
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Den grundsätzlichen Ablehnungsgrund aber bildete auch fìir Embser das Souveränitätsargument. Solange die Erde bestehe, hielt er Rousseau entgegen, werde kein Fürst freiwillig einen Herrn über sich setzen63. Zudem wandte sich Embser wie Huldenberg gegen die Vorstellung, dass eine abstrakte, konstruierte politische Verfassung den menschlichen Bedürfnissen angemessen sei64. Insgesamt schienen ihm die Projekte des „Ewigen Friedens" mit Morus Utopia vergleichbar65. Hier zeigt sich - unabhängig davon, dass Embser beides für unrealistisch hielt - , dass Alternativen zur bestehenden politischen Verfassung aus einem imaginären geographischen Raum in die Zukunft verlagert wurden. Damit hatten sie größere politische Relevanz und einen potentiell revolutionären Charakter erhalten. 1785 erklärte ein unbekannter Autor: Ein „ewig währender Ruhestand im deutschen Reiche" sei den „Bedürfnissen" und „Verhältnissen" der europäischen Höfe ebenso zuwider wie das Staatengericht des St. Pierre66. Doch weder dieser Autor noch der Freiherr von Knigge, der St. Pierre als „Schwärmer" bezeichnete67, konnte verhindern, dass die Diskussion um eine mögliche europäische Verfassung infolge der Französischen Revolution eine neue quantitative und qualitative Dimension erreichte. Infolge der revolutionären Ereignisse erschien eine Vielzahl von Projekten, die eine Universalrepublik oder einen Staatenbund unter der Führung Frankreichs anstrebten68. Der Gedanke einer Universalrepublik war neu, wurde aber bald wieder von der Vorstellung der Universalmonarchie abgelöst. Sullys großer Plan Heinrichs IV. und die Entwürfe St. Pierres erlebten eine neue Welle der Rezeption69. So verteidigte z. B. in Deutschland Herder die Ideen des Abbé de St. Pierre70, und der junge Joseph Görres wandte sich zwar ge63
Ebd., S. 82 f. Ebd., S. 126: „Dieser kalte starre Buchstabe, diese luftige Abstraktion, dieser allgemeine Schaum heißt mich etwas Gutes tun, das ich bisher nicht getan habe, weil ich es nicht tun konnte". 65 Ebd., S. 6. 66 Politische Betrachtungen und Nachrichten. Periodische Schrift, No. II.: Projekt zu einer neuen kaiserlichen Wahlkapitulation (= Ueber die Politische Lage des deutschen Reich nach dem fehlgeschlagenen Umtausch von Bayern), Wien/Regensburg 1785, S. 1-55, hier: S. 30. 67 Joseph von WURMBRAND, kaiserlich abyssinischen Ex-Ministers, jezzigen Notami Caesarii in der Reichsstadt Bopsingen [= Adolph Freiherr von KNIGGE], Politische Glaubensbekenntniß, mit Hinsicht auf die Französische Revolution und deren Folgen, Frankfurt a. M ./Leipzig 1792, S. 96. Er stellte ihm Luther als wahren Reformator gegenüber. 68 1793 legte der in Frankreich naturalisierte ehemalige deutsche Aristokrat Jean Baptist Cloots dem Nationalkonvent ein Dekret vor, das die Herstellung einer Republik der Menschheit anstrebte, s. TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 2.1, S. 12 u. S. 21-29. Condorcet variierte gleich mehrfach sein ursprünglich von 1786 stammendes, den Ideen St. Pierres und der amerikanischen Revolution verpflichtetes Friedensprojekt, ebd., S. 14-21. 69 Ebd., S. 7, 11 f., 35-39 und 97-100. 70 Im 57. Brief zur Verteidigung der Humanität ( 1796), s. TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1 ), Bd. 2.1, S. 45. 64
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gen Kants Vorstellungen Zum ewigen Frieden (1795), propagierte aber in dem um die Jahreswende 1797/98 veröffentlichten Traktat Der allgemeine Frieden, ein Ideal die Idee, dass Frankreich die Völkerrepublik notfalls durch Zwang einfuhren solle71. Gleichzeitig mehrten sich in Frankreich und Deutschland die Rekurse auf die „fränkische" Vergangenheit. Der Begriff „Franken" wurde allgemein zum Symbol einer idealisierten Vergangenheit und diente der historischen Legitimation der revolutionären Ideen. Die positive Bewertung des Begriffs „Franken" lebte nämlich vom Mythos der fränkischen Freiheit, dessen Tradition bis weit ins Mittelalter zurück reichte. Dies machte ihn fur die Zeitgenossen in einer Phase des beschleunigten Wandels und der Desorientierung als Fixpunkt erneuerter Orientierung interessant. Dies galt um so mehr, als diese Tradition auch in der Frühen Neuzeit nicht abgerissen war. Bereits 1667 hatte Pufendorf auf eine „alte Theorie" verwiesen, nach der „mehrere germanische Völkerschaften" oder eine „zusammengeschmolzene Menge" sich diesen Namen zugelegt hätten, „um ihren Freiheitssinn anzudeuten: denn frank heißt soviel wie frei"72. Im 18. Jahrhundert spielte die Ideologie der germanischen Freiheit dann bei Montesquieu eine wichtige Rolle und wurde allgemein zur Erklärung der als vorbildlich empfundenen britischen Verfassung herangezogen. In Deutschland führte die seit dem Humanismus belebte Besinnung auf die Völkerwanderungszeit zudem zu einem germanozentrischen Europabewusstsein. Der preußische Staatsminister Ewald von Hertzberg ζ. B. schrieb 1780, alle europäischen Staaten seien infolge der Völkerwanderung deutsche bzw. germanische Reiche, und von daher seien sämtliche Kriege in Europa eigentlich germanische Bürgerkriege73. Diese Tradition der Germanenrezeption half jenen Deutschen, die mit der Revolution sympathisierten, trotz des lange kultivierten Ressentiments gegenüber den Franzosen, die politische Emanzipationsleistung des Nachbarvolkes anzuerkennen. Sie bezeichneten die revolutionären Franzosen als „Neufranken" oder einfach als „Franken" und grenzten sie so von den bislang verachteten Franzosen ab. Friedrich Gottlieb Klopstock ζ. B. hatte vor 1789 eine 71
Joseph GÖRKES, Gesammelte Schriften, hrsg. von Wilhelm Schellberg, Bd. 1 : Politische Schriften der Frühzeit (1795-1800), hrsg. von Max Braubach, Köln 1928, S. 11-64. Es handelt sich ursprünglich um eine selbständige Flugschrift, die um den Neujahrstag 1798 erschien, s. ebd. S. 64. 72 PUFENDORF, Verfassung (Anm. 20), 1922, S. 11. 73 Ewald von HERTZBERG, Dissertation tendant à expliquer les causes de la supériorité des Germains sur les Romanins, et à prouver que le nord de la Germanie ou Teutonie entre le Rhin et la Vistule, et principalement la présente monarchie prussienne, est la patrie originaire de ces nations héroïques, qui ont fondé et peuplé les principales monarchies de l'Europe, in: DERS., Huit dissertations, Paris 1787, S. 1-38. Hertzberg antizipierte damit eine These des 200 Jahre später schreibenden Historikers Ernst Nolte. Bereits 1761 hatte Rousseau in seinem Auszug aus St. Pierre die Kriege in Europa mit Bürgerkriegen verglichen, s. RAUMER, Ewiger Friede (Anm. 1), S. 348.
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leidenschaftliche Verachtung für die Franzosen gezeigt, von der Revolution der „Neuiranken" jedoch war er so begeistert, dass er sich zum Ehrenbürger der Republik und zum Mitglied der Académie française machen ließ. Die Ereignisse im Nachbarland wurden so durch den im eigenen Land gepflegten Mythos der germanischen Freiheit legitimiert. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Bezug auf die Franken dann zur bonarpartistischen Einigungsideologie für Europa transformiert. Auf deutscher Seite war die Identifizierung mit den republikanischen „Franken" eine wichtige Grundlage für die Akzeptanz des neuen „fränkischen" Kaisertums. Napoleon stilisierte sich als neuer Karl der Große und ermöglichte so seine Nostrifikation in Deutschland und Teilen Europas74. Die dominante Traditionskonstruktion um 1800 knüpfte somit an die fränkisch-karolingische Zeit und damit auch an die römische Antike an, denn Karl der Große galt als der Wiederhersteller des Weströmischen Reiches. Die Akzeptanz einer gesamteuropäischen Ordnung wurde zudem - angesichts des seit 1792 währenden Krieges - auch durch den aufklärerischen Wunsch nach einem durch Vernunft bestimmten Zusammenleben der Völker gefördert. Hinzu kam, dass die auf Frankreich orientierten europäischen Verfassungsprojekte, die, so wie in Deutschland, auch in der Schweiz und in den Niederlanden entstanden, eine Möglichkeit boten, die militärische Niederlage intellektuell zu sublimieren, indem sie als Chance für einen institutionell gesicherten Frieden positiv umgewertet wurde. Bei jenen Stimmen, die sich gegen Frankreich und Napoleon erhoben, sind rein antifranzösische oder antinapoleonische von solchen zu unterscheiden,
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Zum „Karlsmythos" in der Rheinbundpublizistik s. SCHUCK, Rheinbundpatriotismus (Anm. 48), S. 282 f. Eduard ZIEHEN, Winkopps „Rheinischer Bund" (1806-13) und der Reichsgedanke. Ein Beitrag zur Überwindung der Mainlinie, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde N. F. 28 (1934), S. 292-326, hier: S. 304. Matthias BENRATH, Napoleon und der Rheinbund im Spiegel der Zeit, in: Neue Mitteilungsblätter des Rheinischen Kulturinstituts 2 (1953), S. 1-15, hier: S. 14 f. Hermann Josef PETERS, Niklas Vogt und das rheinische Geistesleben 1792-1836. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen und historischen Denkens am Mittelrhein, Mainz 1962, S. 56 f. Kurt von RAUMER, „Préfecture française" - Montgelas und die Beurteilung der napoleonischen Rheinbundpolitik, in: Spiegel der Geschichte. Festschrift für Max Braubach, hrsg. von Konrad Repgen und Stephan Skalweit, Münster 1964, S. 635-661, hier: S. 649. DERS., Deutschland um 1800 - Krise und Neugestaltung 1789-1815, in: Handbuch der Deutschen Geschichte, hrsg. von Leo Just, Bd. 3,1a, Wiesbaden 1980, S. 1-430, hier: S. 339. Karl-Georg FABER, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution. Probleme der rheinischen Geschichte von 1814 bis 1848 im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik, Wiesbaden 1966, S. 14. Elisabeth FEHRENBACH, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten, Göttingen 1974, S. 75 f. und 184. Peter BURG, Die Deutsche Trias in Idee und Wirklichkeit. Vom alten Reich zum Deutschen Zollverein, Stuttgart 1989, S. 18. Ursula BERG, Niklas Vogt (1756-1836). Weltsicht und politische Ordnungsvorstellungen zwischen Aufklärung und Romantik, Stuttgart 1992, S. 262-284.
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die sich explizit gegen die fränkisch-karolingisch-europäische Einigungsideologie oder grundsätzlich gegen den Gedanken einer gemeinsamen Verfassung Europas wandten. Die Gegner der Revolution in Deutschland waren nicht gewillt, die Konstruktion eines Unterschieds zwischen Franzosen und Franken hinzunehmen, und so musste sich der frankophile Publizist Ernst Ludwig Posselt fragen lassen, ob er die Deutschen durch die „neumodische Benennung Franken" entwöhnen wolle, an die Schlacht von Roßbach und die damit verbundene Nationalverachtung gegenüber den Franzosen zu denken75? Der Rekurs auf die Franken, Karl den Großen und das Abendland wurde von den deutschen Gegnern eines napoleonischen Europa abgelehnt und statt dessen erneut die sächsische Tradition betont76. Bis in die Endphase des Rheinbundes passte diese Traditionskonstruktion jedoch nicht zur tatsächlichen politischen Entwicklung und war auch dementsprechend eher selten. Zu Beginn der Befreiungskriege verdrängte der Bezug auf die Sachsen des 8. und 9. Jahrhunderts die Identifikation mit den sachsenmordenden Franken jedoch fast gänzlich. Noch nach Jahrzehnten, 1840, erinnerte sich Ernst Moritz Arndt, dass während der Befreiungskriege an Widukinds Kampf gegen Karl den Großen erinnert wurde, um die Bevölkerung zum Kampf gegen Napoleon zu bewegen, welcher der Karl der Große seiner Zeit sein wollte77. Da die bonarpartistische Propaganda Napoleon wie Karl als Wiederhersteller des Weströmischen Reiches darstellte, wurde in der deutschen Publizistik der Befreiungskriege auch Arminius bzw. Hermann der Cherusker, wie man ihn jetzt lieber nannte, als Identifikationsfigur herausgestellt, galt er doch als der Bezwinger der Römer und Verteidiger des freien Germanien78. Wie eng die ideologische Verbindung zwischen dem antinapoleonischen Befreiungskampf und den Mythen der deutschen Vorgeschichte war, zeigte sich, als am 18. Oktober 1829, dem fünfzehnten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig, auf dem Wittekindsberg, der westlichen Begrenzung der Porta Westfalica, der sogenannte „Wedigenstein" aufgestellt wurde. Er sollte sowohl an den Sieg über Napoleon als auch an den Sieg über die römischen Legionen wie an den Freiheitskampf Widukinds erinnern. Neben den konkurrierenden historischen Identifikationsmustem, die mehr auf die emotionale Akzeptanz oder Ablehnung einer gesamteuropäischen Verfassung zielten, gab es aber nach 1789 auch, wie im Anschluss an die Veröffentlichung St. Pierres, eine auf völker75
Emil VIERNEISEL, Ernst Ludwig Posselt, in: Zeitschrift für der Geschichte des Oberrheins N. F. 49 (1936), S. 242-271; 51 (1938), S. 89-129; 52 (1939), S. 444-499, hier: T. 2, S. 108. 76 Einen Überblick über die antinapoleonische Agitation von 1806-1815 gibt: Die Erhebung gegen Napoleon 1806-1814/15, hrsg. von Hans-Bemd Spies, Darmstadt 1981. 77 Ernst Moritz ARNDT, Erinnerungen 1769-1815, Berlin 1989, S. 263 f. 78 Die Nibelungen. Bilder von Liebe, Verrat und Untergang, hrsg. von Wolfgang Storch, München 1987, S. 7. Wolfram SlEMANN, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806-1871, München 1995, S. 309.
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rechtlichen Argumenten beruhende Ablehnung der Idee einer gesamteuropäischen Verfassung. So wurde ζ. B. Embsers erster .Abgott des philosophischen Jahrhunderts" 1797, während der Rastatter Friedensverhandlungen, erneut publiziert79. Zu jenen, die sich aus grundsätzlichen Überlegungen gegen eine europäische Verfassung wandten, gehörte der Völkerrechtler Georg Friedrich von Martens. Martens war sich zwar des Zusammenhangs und der gemeinsamen Identität der europäischen Völker bewusst, hatte jedoch schon vor der Französischen Revolution geäußert, dass ein gemeinsamer politisch-verfassungsrechtlicher Rahmen nicht dazugehören könne. Im Gegensatz zu vielen Publizisten des 18. Jahrhunderts, die im Westfälischen Frieden das gemeinsame Verfassungsdokument des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und Europas sahen80, vertrat Martens wie Embser die Ansicht, dass es keinen Vertrag gebe, „der von allen oder nur den mehrsten europäischen Völkern gemeinschaftlich errichtet wäre", und es werde auch keinen geben, „so lange Heinrichs IV. Plan einer Universalmonarchie und der große europäische Reichstag des Abbé St. Pierre unerfüllte Chimäre" blieben81. Die Revolutionserfahrung bestärkte ihn in dieser Auffassung. 1796 wandte er sich gegen den von dem Deputierten Grégoire am 23. April 1795 im französischen Nationalkonvent in 21 Sätzen vorgestellten Plan, die „vieille diplomatie" durch
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Johann Valentin EMBSER, Widerlegung des ewigen Friedensprojektes, Mannheim 1797. Johannes von MÜLLER ζ. B. sah die Gesetze der Deutschen durch den Westfälischen Frieden ebenso befestigt wie die europäische Freiheit; s. Darstellung des Fürstenbundes, Leipzig 1787, S. 35 f. Eine ähnlich positive Bewertung erfuhr der Westfälische Frieden in Deutschland erst wieder nach 1945, ζ. B. durch Max BRAUBACH, Der Westfälische Frieden, Münster 1948, S. 70 f. Hier wirkten die gleichen Motive wie bei der Neubewertung des älteren Reiches. Jutta HARDELAND, Der Westfälische Frieden im Urteil der deutschen Wissenschaft und Publizistik (1648-1848), Diss. (Masch.) Bonn 1955, S. 1. 81 Georg Friedrich MARTENS, Versuch über die Existenz eines positiven europäischen Völkerrechts, Göttingen 1787, S. 4. DERS., Einleitung in das positive europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet, Göttingen 1796, S. V. Zu Martens (1756— 1821) s. ADB, Bd. 20, S. 461-467; NDB, Bd. 16, S. 269-271. Lutz SEDATIS, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. 3, S. 359-361. Er stammte aus einer wohlhabenden Hamburger Patrizierfamilie und studierte seit 1775 die Rechte in Göttingen (u. a. bei Pütter), wo er 1780 promovierte. Nach einer Informationsreise nach Wetzlar, Regensburg und Wien trat er 1783 eine außerordentliche, 1784 eine ordentliche Professur für Natur- und Völkerrecht in Göttingen an. 1808 wurde er Staatsrat im Königreich Westfalen, später Geheimer Kabinettsrat im Königreich Hannover. Von 1816 bis zu seinem Tode war er hannoverscher Gesandter am Bundestag, wo er als Parteigänger der Großmächte und Gegner der Trias agierte. Sein wissenschaftliches Werk baute auf Mosers unsystematischem Positivismus auf. Zu gemeinsamen Perspektiven von deutscher und europäischer Verfassung seit 1648 s. BURGDORF, Imperial Reform (Anm. 4), S. 402. Wolfgang SCHMALE, Das Heilige Römische Reich und die Herrschaft des Rechts. Ein Problemaufriß, in: Der Absolutismus - ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in Westund Mitteleuropa (ca. 1550-1700), hrsg. von Ronald G. Asch und Heinz Duchhardt, Köln/Wien/Weimar 1996, S. 229-248, hier: S. 232, 245-247. 80
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eine „déclaration du droit des gens" und einen „codex juris gentium positivi" zu ersetzen82. Zwar sei die „Vereinigung der Völker" ein „reizender Gedanke", bei dem man gern vergessen würde, ob die Anregung dazu von Feinden oder von Freunden komme, sofern letztere nicht ihre Übermacht gebrauchten, um vorzuschreiben, was „nur das Resultat völlig freier Beratschlagungen sein" könne83. Dass Europa jedoch je zusammentrete, „um über den Umfang der Rechte der Völker allgemeine Bestimmungen zu machen", schien ihm wie die Projekte des „Ewigen Friedens" gänzlich unwahrscheinlich, „ein lieblicher Traum". „So lange Menschen Menschen bleiben", würde dieser sowohl hinsichtlich der Ausführung als auch in Hinblick auf den davon zu erwartenden Nutzen eine „Chimäre" bleiben84. Dass die europäischen Völker sich entschlössen, sich in einem Staat, einer Universalmonarchie oder -republik zu vereinigen, sei „weder zu erwarten" noch „zu wünschen", denn Reichstage und Gerichte gewährten keinen Frieden, wenn die Vollziehung ihrer Beschlüsse .Armeen erheischt"85. Am meisten brachte Martens die Tatsache auf, dass Grégoire der Konsensgemeinschaft des neuen Völkerrechts in mehreren Fällen ein Interventionsrecht zugestanden hatte. Das Interventionsrecht sollte eintreten, wenn sich eine Nation eine undemokratische Verfassimg gab, einen ungerechten Krieg vorbereitete oder führte, oder wenn sie eine aggressive Allianz einging. Vom Prinzip der Souveränität ausgehend, fragte Martens, ob die alte Diplomatie das Einmischungsrecht je so weit ausgedehnt habe wie diese gefährlichen Sätze, welche die Substanz des projektierten neuen Droit des gens ausmachen. Er hoffte, der Himmel möge die alte Diplomatie mit allen ihren „Lükken" und „Verzierungen" erhalten, denn bei dem vorgeschlagenen Tausch könne man nur verlieren, da man für alte Schaumünzen Assignaten erhalte86. In Anlehnung an Martens sprach sich Karl Heinrich von Römer in seinem Völkerrecht der Teutschen ebenfalls gegen eine gemeinsame politische Verfassung der europäischen Völker aus87. Für die weitere völkerrechtliche Agitation gegen Napoleons Herrschaft über Europa lieferten Martens' Ausführungen die Grundlage.
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MARTENS, Einleitung (Anm. 31), S. 27. Die 1. Aufl. war bereits 1785 in Latein erschienen. In der Einleitung seiner erstmals von 1791 bis 1801 erschienenen Sammlung der Allianz-, Friedens-, Handels- und Neutralitätsverträge, die Martens zum Begründer des positiven Völkerrechts werden ließ, erschienen ihm die Gemeinsamkeiten sogar so stark, dass ihn Europa an ein Volk erinnerte, das sich noch keine Verfassung gegeben habe. 83 MARTENS, Einleitung (Anm. 31), S. VI. 84 Ebd., S. VII. 85 Ebd., S. 27. 86 Ebd., S. XV f. 87 Karl Heinrich von RÖMER, Völkerrecht der Teutschen, Halle 1789, S. 4.
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V. Die exemplarische Übersicht über den publizistischen Kampf gegen die Idee der europäischen Einigung in der Frühen Neuzeit verdeutlicht, wie wichtig Kontinuitätbewusstsein bzw. Traditions- und Geschichtskonstruktionen für die emotionale und rationale Akzeptanz oder Ablehnung von Einigungsbemühungen sind. Die Behauptung, in der Tradition der alten Franken, des Abendlandes und Karls des Großen zu stehen, war im 17., 18. und 19. Jahrhundert die typische europäische Einigungsideologie. Dass sie dies noch heute ist, wird bei der alljährlichen Verleihung der verschiedenen Karlspreise deutlich. Die Identifikation mit den alten Sachsen, die der fränkischen Herrschaft so lange widerstanden hatten, diente hingegen in Deutschland zur Abwehr von europäischen Einigungsbemühungen. Zuletzt wurde sie mit antiwestlicher und antichristlicher Stoßrichtung von den Nationalsozialisten betrieben. Die einseitige Darstellung Karls des Großen als „Sachsenschlächter", wie sie vom „Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschland", dem „Ahnenerbe" und anderen Institutionen des NS-Regimes mit historischen Ambitionen gepflegt wurde, traf jedoch schon während des „Dritten Reiches" auf den breiten Widerstand der Mediävisten88. Es scheint sogar so zu sein, dass diese Bemühungen der offiziellen NS-GeschichtsWissenschaft dazu geführt haben, dass die Identifikation mit den „antikarolingischen" Sachsen nach 1945 diskreditiert war. Zumindest taucht sie weder in öffentlichen Äußerungen gegen die Westintegration der Bundesrepublik noch in solchen gegen die Integration der DDR in den Ostblock auf. Beides hätte angesichts der Instrumentalisierung der alten Sachsen in zeitgenössischen Äußerungen bis 194S durchaus nahe gelegen. Der gegen die Idee der europäischen Einigung gerichtete Diskurs zeigt bereits in der Frühen Neuzeit deutliche Strukturen: Die Anwälte des souveränen Fürstenstaates und des Gleichgewichts der Mächte, die sich gegen die Idee einer Organisation Europas mit supragouvernementalen Institutionen wandten, traten niemals von selbst auf den Plan. Ihr Hervortreten erfolgte stets in Reaktion auf bestimmte Einigungsprojekte. Versucht man die Argumente gegen eine europäische Einigung zu hierarchisieren, so steht an erster Stelle auch zeitlich - die Angst der möglichen Betroffenen vor einer unkontrollierbaren, unbeeinflussbaren Macht. Dieses Argument wurde schon im 16. und 17. Jahrhundert gegen die befürchtete Universalmonarchie habsburgischer oder französischer Provenienz sowie im mittelalterlichen Investiturstreit bemüht. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts blieb die Vorstellung virulent, bei dem 88 Karl der Große oder Charlemagne? Acht Antworten deutscher Geschichtsforscher, hrsg. von Carl Erdmann, Berlin 1935. Winfried SCHULZE, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 194S, München 1993, S. 37 f. Außerdem bezog sich das Regime spätestens nach dem Sieg Aber Frankreich selbst immer häufiger auf die gemeinsame fränkische Vergangenheit.
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Frieden" könnte es sich um einen Frieden handeln, der jeden Frieden beende89, da unzählige heterogene lokale Interessen nur durch Zwangsanwendung in eine so große Einheit gezwungen und in dieser gehalten werden könnten. In der Folge differenzierten sich die Argumente, wobei zunehmend die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität, der Sprache und Tradition, in den Vordergrund trat. 1752, mit der Veröffentlichung Tozens, war das Spektrum der grundsätzlichen Argumente gegen die Einigung Europas, also Gleichgewicht, Souveränität, Anonymität gesamteuropäischer Institutionen, Lebensuntauglichkeit von abstrakten konstruierten Verfassungen, Vergewaltigung lokaler Interessen durch europäische Institutionen und Verlust der eigenen Identität, weitgehend entwickelt. Auch wenn die verschiedenen Einigungspläne - vom Bundesrat St. Pierres und Rousseaus, über die Pläne für eine Universalrepublik und Kants Bündnis der Staaten mit repräsentativer Verfassung, bis hin zur napoleonischen Universalmonarchie - erhebliche Unterschiede aufwiesen, blieben die Argumente gegen die gemeinschaftliche Organisation Europas im Wesentlichen die gleichen. Oft wurden von denselben Autoren, wie Tozen und Embser, dabei Argumente angeführt, die sich eigentlich ausschlossen. Beide befürchteten, dass die Exekution der Bundesbeschlüsse permanente kriegerische Zwangsmaßnahmen im Inneren des Bundes erfordern würden, und gaben gleichzeitig zu bedenken, dass durch den „Ewigen Frieden" die kriegerischen Fähigkeiten verloren gingen, die Bundesbewohner Opfer von Barbaren würden. Einerseits wurde befurchtet, es gebe keinen Schutz gegen die übermächtige Zentralgewalt, andererseits, der Bund sei wegen Überdehnung unregierbar, würde zerfallen. Lange vor dem Beginn der Romantik und der Französischen Revolution, bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts, wurde in diesem Kontext der Gegensatz zwischen dem „organischen" deutschen Weg der Entwicklung politischer Gemeinwesen und der abstrakten, unhistorischen, konstruierenden, westlichen Staatsphilosophie formuliert. Über die Frühe Neuzeit hinausgehend, lässt sich feststellen, dass Huldenberg, Tozen, Rousseau u. a. insbesondere mit der Vorstellung von den übermächtigen, unkontrollierbaren europäischen Institutionen, welche die lokalen Interessen ignorieren, Argumente antizipierten, die analog auch heute geäußert werden. Hinsichtlich der Diskussionsteilnehmer war es in der Frühen Neuzeit so, dass die Einigungsprojekte häufig von Philosophen und die Vorbehalte von Völkerrechtlern formuliert wurden. Wollte man die Diskutanten in Realisten und Idealisten einteilen, müsste man wohl die Verfasser der Einigungsprojekte als die Realisten bezeichnen. Denn sie kamen in der Regel aus dem Umwelt der Macht oder orientierten ihre Entwürfe an den Ambitionen der tatsächlichen oder potentiellen Hegemonialmacht. Dies zeigt sich beson„Ewigen
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So nannte David FROMKIN, A peace to end all peace. Creating the modern Middle East, 1914-1922, London 1989, den Versailler Friedensvertrag.
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ders deutlich in der Epoche Ludwigs XIV., der Revolutionskriege und Napoleons, aber auch Ter Meulen publizierte den ersten Teil seiner Kompilation 1917, als der amerikanische Präsident Wilson seine Bemühungen um die Gründung des Völkerbundes aufnahm. Die Bedeutung der deutschen Reichsverfassung fur die europäische Einigungsdiskussion in der Frühen Neuzeit war ambivalent. Einerseits wirkte die Verfassung des Reiches modellgebend für die Einigungspläne, andererseits wurden die Effektivitätsmängel der Reichsverfassung als Beleg für die Unmöglichkeit noch größerer staatlicher Gebilde ins Feld geführt. Wichtiger jedoch ist, dass die Reichsverfassung gleichzeitig eine Vorbildfunktion für die Ausarbeitung des positiven Völkerrechts hatte. Hier wirkte die positivistische Reichsstaatsrechtslehre mit ihren umfangreichen Kompendien modellgebend. Der Patriarch der Reichsstaatsrechtslehre, Johann Jakob Moser, galt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unbestritten auch als Pionier des positiven europäischen Völkerrechts90. Aber gerade die Völkerrechtler formulierten die stärksten Vorbehalte gegen die Idee einer europäischen Einigung. Sie hielten an der Idee des Gleichgewichtes fest, die sich auch auf dem Wiener Kongress durchsetzte, jedoch nicht ohne Elemente der Einigungsdiskussion, nämlich das konsensgestützte Interventionsrecht, aufzunehmen. Ohne Zweifel hätte eine europäische Einigung erhebliche Auswirkungen auf die junge wissenschaftliche Disziplin des positiven Völkerrechts gehabt, die schließlich auf der Existenz unabhängiger Völkerrechtssubjekte beruhte. Von daher mochten der Gegnerschaft Römers, Martens' und anderer möglicherweise auch unreflektierte, persönliche Interessen am Erhalt ihrer Disziplin zugrunde liegen. So war es bezeichnend, dass Kant in der zweiten Auflage seines Entwurfes Zum ewigen Frieden einen geheimen Artikel hinzufugte. In diesem war vorgesehen, dass man zwar nun nicht den Philosophen statt den Juristen die Formulierung des Friedensvertrages übertrage, aber immerhin sollten bei einem künftigen Friedensschluss Philosophen beratend hinzugezogen werden91. Bedeutsamer aber als etwaige persönliche Motive der an der Diskussion um 90
M. E. TOZEN, Einleitung in die allgemeine und besondere Europäische Staatskunde, entworfen von M. E. Tozen, Herzoglich Mecklenb. Justizrat und Professor an der Universität zu Bützow, T. 1, Bützow 31785, S. 99: „Die christlichen Völker Europas haben nach und nach verschiedene Gewohnheiten, durch stillschweigende Einwilligung, zur Regel ihres Betragens gegen einander im Kriege und Frieden, angenommen. Diese Gewohnheiten nennt man das europäische Völkerrecht. Dieser edle Teil der Rechtswissenschaft, der sonst noch ziemlich unbearbeitet gelegen hat, ist in diesen letzten Jahren fleißiger und systematischer behandelt worden. [Anm.]: Dies hat man vorzüglich dem Herrn Staatsrat Moser zu danken". Die von Tozen, Martens u. a. in diesem Zusammenhang immer wieder zitierten Werke waren: Johann Jacob MOSER, Grund-Sätze des jetzt üblichen Europäischen Völkerrechts in Friedens-Zeiten, Hanau 1750. DERS., Grundsätze des Europäischen Völkerrechts in Kriegs-Zeiten, Tübingen 1752. 91 Hiernach TER MEULEN, Gedanke (Anm. 1), Bd. 1, S. 331.
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den „Ewigen Frieden" teilnehmenden Juristen war, dass das frühneuzeitliche Völker- und Kriegsrechts insgesamt auf dem Prinzip der Souveränität beruhte. Bereits 1588 formulierte Alberico Gentili: „Zwischen Souveränen oder freien Völkern kann es, außer mit ihrer Zustimmung, kein Gerichtsverfahren geben. Natürlicherweise haben sie keinen Richter und Übergeordneten, sind also die höchsten und verdienen allein die Bezeichnung .publicus'. Die übrigen aber, welche untergeordnet sind, sind alle .privati'. Für den Souverän gibt es auf Erden keinen Richter - oder derjenige ist kein Souverän, über dem ein anderer den ersten Platz einnimmt" .
Mochte im Zeitalter der religiösen Bürgerkriege der Versuch der Juristen, den Krieg auf zwischenstaatliche Konflikte zu beschränken, zur Befriedung der Staaten beigetragen haben, so behinderte jedoch die Verabsolutierung des Souveräns die Befriedung Europas. Wichtig ist auch, dass fast alle europäischen Einigungsprojekte der Frühen Neuzeit kriegsgeneriert waren93. Diese Eigenschaft teilen sie mit dem Völkerbund, der UNO, der EWG und weiteren internationalen Organisationen. In der Regel erschienen die frühneuzeitlichen europäischen Verfassungsentwürfe in einem fortgeschrittenen Stadium des Krieges, in einer Phase allseitiger Erschöpfung oder während der Friedensverhandlungen. Sie waren zumeist so angelegt, dass die wahrscheinlichen Verlierer des Krieges in die von dem Sieger kontrollierte Ordnung eingebunden wurden, um Revanchekriege zu vermeiden. Zu Recht wies deshalb Kurt von Raumer darauf hin, dass derjenige, „der Pazifismus nur als Wesensbestandteil eines .demokratischen' Staatsdenkens begreifen will", sich „einer derfruchtbarstenTraditionen des abendländischen Friedensdenkens" verschließt94. In ähnlicher Weise hatte Rolf 92
Alberico GENTILI, De jure belli 1588, hrsg. von Coleman Philipson, Oxford 1933, S. 22. Lucien HÖLSCHER, Öffentlichkeit und Geheimnis, Stuttgart 1979, S. 72. 93 Friedrich Naumann war sich dieser Struktur bewusst und sah im Krieg geradezu die Voraussetzung für die Verwirklichung seines Mitteleuropakonzeptes. „Absichtlich schreibe ich mitten im Krieg, denn nur im Krieg sind die Gemüter bereit, große umgestaltende Gedanken in sich aufzunehmen. Nach dem Krieg kommt dann sehr bald die Alltagsseele wieder aus ihrem Versteck heraus, und mit der Alltagsseele läßt sich Mitteleuropa nicht machen. Wie Bismarck das Deutsche Reich im Kriege von 1870 herstellte und nicht nach dem Krieg, so müssen im Krieg [...] von unseren Staatsleitern die Grundlagen der neuen Gestaltung gelegt werden". Friedrich NAUMANN, Mitteleuropa, Berlin 1915, S. 1. Achtzig Jahre später schrieb Günther Gillessen über die Gründung der Vereinten Nationen: „Den angelsächsischen Mächten war [...] klar, daß die meisten Staaten, einschließlich Amerika, zum Eintritt in die internationale Sicherheitsorganisation nur solange zu bewegen sein würden, wie die Unsicherheit des Krieges sie dazu veranlassen könnte. Die UN mußten geschaffen werden, solange der Krieg noch andauerte. Nachher wäre es viel schwieriger, die Staaten zu den ihnen zugemuteten Status-Opfem zu bewegen". Günther GILLESSEN, Weltfrieden und Machtinteressen. Der Geburtsfehler der Vereinten Nationen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.06.1995, S. Bilder und Zeiten. 94 „Pazifismus" meint hier, in einem undogmatischen Sinn, die Ablehnung des Krieges und das Streben, den Frieden zu erhalten.
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Hellmut Foerster die Vielfältigkeit der Antriebe der Idee Europa konstatiert und hinzugefugt: „Wir müssen darunter auch einige unedle Motive tolerieit 95
ren Wurden die Einigungsprojekte oft noch während der Kriege propagiert, so ist es ebenso auffällig, dass die Vorbehalte gegen eine europäische Einigung in der Regel erst nach dem Friedensschluss publiziert wurden96. Dieser Befund lässt die Maastricht-Debatte und die schwindende Akzeptanz der europäischen Integration nach einer seit 1945 währenden, fünfundvierzigj ährigen Friedensperiode, unabhängig von allen aktuellen Argumenten, als strukturbedingt erscheinen. Dies gilt um so mehr, als viele der grundsätzlichen Argumente gegen die Integration Europas bereits gegen die Einigungspläne des 17. und 18. Jahrhunderts ins Feld geführt wurden. Jedoch ist auch zu erwarten, dass die zunehmenden vorgeblich ethnisch, national, religiös oder kulturell motivierten kriegerischen Konflikte und Terroranschläge zu einem hohen Preis das Pendel wieder in Richtung einer größeren Integrationsakzeptanz ausschlagen lassen werden, nicht nur in Europa.
Summary Intensive exploration of historical European unification projects began after the Second World War, and took root with renewed vigour during the preliminary stages of the foundation of the European Union. The collapse of the eastern European dictatorships as well as the reunification of Germany in 1990 further intensified this process. But early modern reservations against the idea of a united Europe were thereby neglected. This neglect is the main focus of this article. Investigation into these concerns is important - indeed, the arguments used by Euro-skeptics today are analogous in their structure to those presented as early as the 17th and 18th centuries. Even if we examine only the events of early modern times, it is obvious that conflict promotes the formation of ideas favouring political unification, whereas fears of European unification are more likely to arise during times of protracted peace. A noticeably high percentage of those opposed to unification are scholars of international law. It is they who stand to lose the subject of their discipline should Europe become united. The supporters of unifications have oriented their ideology of integration almost on the person of Charlemagne and the Franconian past, whereas their opponents have harked back to the ancient
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FOERSTER, Idee (Anm. 1), S. 17.
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Im Einzelnen s. hierzu: BURGDORF, „Chimäre Europa" (Anm. *).
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Saxons, who long resisted their forced integration into the Carolingian empire. Recurring arguments in this debate include the supposedly impersonal, coldly calculated nature of an abstractly constructed constitution, fear of an anonymous and overpowering authority oblivious or even hostile to local and national interests, and the fear that national or even personal identity and language would be lost. In addition, it has been warned repeatedly that as a result of eternal peace the Europeans shall be weakened and become the victims of Barbarians.
Die deutschen Katholiken und der Gedanke der europäischen Einigung 1945-1949 Wende oder Kontinuität?1 Von
Marie-Emmanuelle
Reytier
Nach den Erfahrungen des Widerstands und Leidens im Dritten Reich traten 1945 viele fuhrende Persönlichkeiten des katholischen Lebens, Politiker und Publizisten ebenso wie Kleriker, für den Gedanken eines europäischen Wiederaufbaus ein. Sie reagierten damit auf die Europa-Propaganda der Nationalsozialisten und deren Versuch, Europa mit den Waffen zu einigen 2 . Die meisten dieser Katholiken setzten sich fur den Gedanken einer föderalen Organisation Europas, ausgehend von einer föderalen Organisation Deutschlands, ein, um auf diese Weise das geschwächte Deutschland gegenüber seinen Nachbarstaaten abzusichern 3 . Die Haltung so bedeutender Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer zur europäischen Einigung ist immer wieder Gegenstand historischer Untersuchungen gewesen 4 . Für ihn war die Integration Deutschlands in die westliche Staatengemeinschaft von zentraler Bedeutung. Allerdings wurde diese Einstellung nicht von allen Katholiken geteilt, wie 1 Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag im Rahmen des Fourth International Colloquium on German History an der University of British Columbia (Vancouver, Kanada) im Juni 1999. Für die Einladung zu dieser Konferenz möchte ich mich ganz herzlich bei Prof. John Conway bedanken. Außerdem danke ich Prof. Dr. Martin Vogt, Dr. Pia Nordblom und Thierry Jacob für ihre hilfreichen Kommentare zu verschiedenen Fassungen dieses Beitrags sowie Monika Mayr (Diplomübersetzerin, Universität Heidelberg) und Karin Gottschalk für ihre Unterstützung bei der Übersetzung des Textes. 2 Walter LIPGENS, Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen, München 1968, S. 1. DERS., Zukunftsplanungen christlicher Kirchen und Gruppen während des Zweiten Weltkrieges, in: Die Christen und die Entstehung der Europäischen Gemeinschaft, hrsg. von Martin Greschat und Wilfried Loth, Stuttgart/Berlin/Köln 1994, S. 13-23. Anders JARLERT, Europabilder der kirchlichen Widerstandsbestrebungen, in: Kirchliche Zeitgeschichte 2 (1999), S. 344-365. 3 Ihr Engagement wurde eher durch das Bedürfnis nach Schutzmaßnahmen als durch echte Begeisterung für Europa motiviert. Elisabeth Du REAU, L'Idée d'Europe au XXe siècle. Des mythes aux réalités, Paris 1996, S. 132-134. 4 Werner WEIDENFELD, Konrad Adenauer und Europa. Die geistigen Grundlagen der westeuropäischen Integrationspolitik des ersten Bonner Bundeskanzlers, Bonn 1976. Hans-Peter SCHWARZ, Adenauer und Europa, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 7 ( 1 9 7 9 ) , S. 4 7 1 - 5 2 3 . Anselm DOERING-MANTEUFFEL, Rheinischer Katholik im Kalten Krieg. Das „christliche Europa" in der Weltsicht Konrad Adenauers, in: Die Christen
( A n m . 2), S. 2 3 7 - 2 4 6 .
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unter anderem die Opposition Heinrich Brünings gegen Adenauers EuropaPolitik zeigt5. Adenauer selbst hielt sich vor 1949 mit eindeutigen Äußerungen zur föderalen Struktur Europas offenbar bewusst zurück und trat für die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa" ein, eine eher inhaltsleere Formel, die aber gerade so die verschiedenen herrschenden Auffassungen überbrücken half6. Im Folgenden sollen daher die unterschiedlichen Konzepte führender Katholiken zur europäischen Einigung untersucht werden. Dabei wird insbesondere der Zeitraum zwischen der „Stunde Null" und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Mittelpunkt stehen, weil diese vier Jahre - von 1945 bis 1949 - von ausschlaggebender Bedeutung sind. Sie waren geprägt von der totalen Niederlage des Landes, den Anfängen des Kalten Krieges, der „Bedrohung" durch den Kommunismus sowie der Gründung zweier deutscher Staaten. Noch waren keine politischen Strukturen für Westeuropa aufgebaut, diese nahmen für Deutschland erst in den fünfziger Jahren unter der politischen Führung von Konrad Adenauer Gestalt an. Vor allem aber entwickelte sich in dieser Zeit eine neuerliche politische und kulturelle Sonderstellung Deutschlands zwischen Ost und West als Reaktion auf die Besatzung des Landes durch die Alliierten, bis Adenauer die Bundesrepublik schließlich in den westlichen Block und damit in die politische Tradition des Westens eingliederte7. Für diese vier Jahre sollen Wandel und Kontinuität in der Haltung führender Katholiken Deutschlands gegenüber dem Prozess der europäischen Einigung analysiert werden. Zwei Fragestellungen stehen dabei im Vordergrund: Zunächst soll festgestellt werden, ob das Jahr 1945 in dieser Hinsicht einen Bruch darstellte. Des Weiteren soll die Entwicklung der unterschiedlichen katholischen Vorstellungen bis 1949 analysiert werden. Auf diese Weise kann verdeutlicht werden, welche Rahmenbedingungen es Adenauer in den fünfziger Jahren ermöglichten, seine Vorstellung vom Prozess der europäischen Einigung innerhalb der katholischen Eliten durchzusetzen. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewannen zwei unterschiedliche Vorstellungen von einer Neugestaltung Europas innerhalb des politischen Katholizismus den größten Einfluss. Sie beruhten beide auf Kon5
In seinem Artikel machte Schwarz darauf aufmerksam, „auf welche Widerstände diese [Adenauers] Umorientierung im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg gestoßen ist, weil sie mit tradierten Selbstverständnissen deutscher Außenpolitik in Konflikt geriet". SCHWARZ, Adenauer und Europa (Anm. 4), S. 472 und S. 501 f. 6 Ebd., S. 479 und S. 492 f. 7 Raymond POIDEVIN, Die Vemunftehe 1945-1975, in: DERS./Jacques BARIÉTY, Frankreich und Deutschland. Die Geschichte ihrer Beziehungen 1815-1975, München 1982, S. 423-436. Hans-Peter SCHWARZ, Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, Stuttgart 1986, S. 671-726, 825-956. Heinz HORTEN, La Germania ponte tra est e ovest, in: Il fattore religioso nell'integrazione europea, hrsg. von Alfredo Cañavero und Jean-Dominique Durand, Milano 1999, S. 69-79, hier: S. 69-76.
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zepten, die einen Gegensatz zu Adenauers Ideen darstellten, jedoch bis in die fünfziger Jahre hinein vielfach vertreten wurden. Einerseits waren viele katholische Persönlichkeiten unter der Führung Otto von Habsburgs sehr skeptisch gegenüber den Ideen der Aufklärung und den sich daraus ergebenden politischen Veränderungen in Europa. Andererseits betrachtete eine Gruppe katholischer Intellektueller unter der Führung Eugen Kogons und Walter Dirks' die Säkularisierung der europäischen Gesellschaften seit der Reformation als unwiderruflich und versuchte, sich damit zu arrangieren. Die Vertreter der ersten Gruppe verbreiteten ihre Idee eines „Donau-Europa" in der Zeitschrift Neues Abendland und der Wochenzeitung Rheinischer Merkur, während Kogon und Dirks ihre Idee vom „dritten Weg" Europas zwischen Ost und West in den Frankfurter Heften publizierten8.
Der Gedanke eines„Donau-Europa" Otto von Habsburg, Prätendent der 1918 zusammengebrochenen österreichisch-ungarischen Monarchie, war nach 1945 der führende Vertreter eines „Donau-Europa"9. Zum einen griff er die Idee eines vereinigten Europa auf, die als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg in manchen katholischen Kreisen entstanden war. Zum anderen war er von den Ideen Richard CoudenhoveKalergis (1894-1972) beeinflusst, die dieser in seinem 1923 veröffentlichen Buch Paneuropa und seit 1924 in seiner gleichnamigen Zeitschrift vertrat10. Vor allem aber war es Otto von Habsburgs zentrales Anliegen, die Tradition seines Hauses fortzusetzen, die seiner Ansicht nach darin bestand, sowohl das 8
Neues Abendland. Zeitschrift fir Politik, Kultur und Geschichte (1 [1946] - 12 [1958]) wurde von Johannes Wilhelm Naumann in München herausgegeben. Rheinischer Merkur: Wochenzeitung för Politik, Wirtschaft, Kultur, Christ und Welt (1 [1946] - 33 [1979]) wurde von Franz Albert Kramer in Koblenz herausgegeben. Frankfurter Hefte. Zeitschrift fir Kultur und Politik ( 1 [ 1946] - 39 [ 1984]) wurde in Frankfurt am Main herausgegeben. Die Auflagenhohen des Neuen Abendlands und der Frankfurter Hefte waren ähnlich: 25.000 für Neues Abendland und 30.000 für die Frankfurter Hefte während des Jahres 1947. Im Vergleich beliefen sich 1947 die Auflagenhöhen von Hochland auf 18.000 und von Stimmen der Zeit auf 20.000. Doris VON DER BRELIE-LEWIEN, Abendland und Sozialismus. Zur Kontinuität politisch-kultureller Denkhaltungen im Katholizismus von der Weimarer Republik zur früheren Nachkriegszeit, in: Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur der Weimarer Republik, hrsg. von Detlef Lehnert und Klaus Megerle, Opladen 1990, S. 188-218, hier: S. 191. Der Rheinische Merkur hatte 1947 eine Auflage von 240.000 Exemplaren. Handbuch der Lizenzen deutscher Verlage, hrsg. von Wilhelm Seidel, Berlin 1947, S. 14. Siehe auch Philippe CHENAUX, Une Europe Vaticane?, Bruxelles 1990, S. 53 f. 9 Otto von HABSBURG, Entscheidung um Europa, Innsbruck/Wien/München 1953. 10 Richard Nikolaus COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa, Wien 1923. Wilfried Lora, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 31996, S. 10 f.
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Christentum zu verteidigen als auch verschiedene Völker und Kulturen zu versöhnen und zu vereinen11. Nach 1918 sahen viele katholische Intellektuelle, wie der Philosoph Max Scheler und der Herausgeber der Zeitschrift Hochland, Karl Muth, im Ersten Weltkrieg ein Symbol für das zentrale Problem der europäischen Staaten, nämlich den Zerfall des religiösen Fundaments der Gesellschaft. Die Reformation, die Aufklärung und schließlich die Säkularisierung während des 19. Jahrhunderts hatten ihrer Meinung nach die auf einem gemeinsamen Glauben beruhende Einheit des Mittelalters zerstört. Die Suche nach materiellem Wohlstand und Macht habe die Nationen gegeneinander aufgehetzt und zu einem Blutbad gefuhrt. Wären diese jedoch der Lehre des Christentums treu geblieben, so wäre der Erste Weltkrieg niemals ausgebrochen. Die Niederlage Deutschlands war in ihren Augen beispielhaft für die Niederlage der gesamten europäischen Zivilisation. Deutschland sollte deshalb als Teil eines auf den christlichen Werten beruhenden vereinten Europas wieder aufgebaut werden. Der deutschen Nation komme in diesem Prozess aufgrund der deutschen Auffassung von staatlicher Einheit unter der Autorität Gottes eine besondere Rolle zu. Die Sonderstellung Deutschlands zwischen der parlamentarischen Demokratie des Westens und den autoritären Staatsformen des Ostens sollte der Grundstein eines neuen europäischen Aufbauwerks werden. Dabei kritisierten die katholischen Intellektuellen den Versuch der Sieger, eine „Pax Versaillensis" als eine von Kant inspirierte liberale Konstruktion zu schaffen, die zwangsläufig künstlich sei und somit nicht den Frieden sichern, sondern neue Kriege heraufbeschwören würde12. Habsburg übernahm auch zum Teil die paneuropäischen Ideen von Coudenhove-Kalergi, den er 1933 persönlich kennengelernt hatte13. CoudenhoveKalergi trat im Grunde für die Idee eines Europa als „Gesellschaft" ein, das heißt als Zusammenschluss von Nationen mit gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Interessen. Otto von Habsburg hingegen stand für die Idee des .Abendlandes" als einer Gemeinschaft von Menschen, die denselben Glauben und dieselben Werte teilten. Er war nicht der einzige führende Katholik, der beide Ideen verband, obwohl sie a priori gegensätzlich waren. 11 Otto von HABSBURG, Briefe aus der Verbannung, hrsg. von Karl Freiherr von Werkmann, Leipzig/Wien 1935, S. 15. 12 Marie-Emmanuelle REYTIER, I cattolici tedeschi e l'Europa all'indomani della Prima Guerra Mondiale. L'esempio dei Katholikentage, in: Il fattore religioso nell'integrazione europea (Anm. 7), S. 359-371, hier: S. 361-368. Pius XII. teilte nach 1945 diese Interpretation des Geschehens. Otto von Habsburg schloss sich dieser Interpretation des Papstes vorbehaltlos an. HABSBURG, Entscheidung (Anm. 9), S. 50-54. Jean-Marie MAYEUR, Pie XII et l'Europe, in: Relations internationales 28 (1981), S. 413-425, hier: S. 415. 13 Coudenhove-Kalergis Paneuropa war keine Föderation, sondern ein Bund souveräner Staaten nach dem Beispiel der Panamerikanischen Union: Frank VEREECKEN, La Lutte pour les Etats-Unis d'Europe, London 1996, S. 12.
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Coudenhove-Kalergis Vision von Europa wurde zu dieser Zeit von zahlreichen Katholiken als zu liberal und kapitalistisch kritisiert14. Nicht nur lehnte dieser die christliche Moral als Moral der Schwachen ab - obwohl er die Bedeutung des Christentums für die kulturelle Einheit Europas anerkannte - , sondern er ging außerdem davon aus, dass in erster Linie die wirtschaftliche Kooperation zwischen den Staaten die Grundlage der Vereinigten Staaten von Europa bilden sollte15. Andere katholische Persönlichkeiten wie der Prälat Ignaz Seipel unterstützten die Paneuropabewegung, weil CoudenhoveKalergis europäische Einigung de facto mehrheitlich katholisch sein würde. In der Tat wollte Coudenhove-Kalergi Großbritannien und die Sowjetunion von der europäischen Einigung ausschließen16. In Seipels Augen würden auf diese Weise zwei einflussreiche häretische Länder - eines davon ein kommunistisches - von der europäischen Einigung ausgeschlossen, die dann als Block mitteleuropäischer Länder mit den süddeutschen katholischen Ländern Österreich und Bayern als Kern errichtet würde17. Otto von Habsburg teilte 14 Heinrich SLERP, S. J., Vereinigte Staaten von Europa?, in: Stimmen der Zeit 166 (1929), S. 241-255, hier: S. 251. Coudenhove-Kalergi war von Wilsons politischen Plänen für Europa begeistert. In seinen Augen war Demokratie allerdings keine Voraussetzung für die Bildung Paneuropas, weshalb er enge Kontakte zu Dollfuß und Mussolini knüpfte. Jacques Maritain distanzierte sich 1943 von der Paneuropabewegung, weil er von ihrem „esprit catholique" nicht überzeugt war und sie eher von einem „esprit dynastique" geprägt sah; siehe Richard Nikolaus COUDENHOVE-KALERGI, Eine Idee erobert Europa. Meine Lebenserinnerungen, Wien/München/Basel 1958, S. 90, und VEREECKEN, La Lutte (Anm. 13), S. 3, 26-31 und S. 84. Ober Coudenhove-Kalergis Rezeption in den Kreisen katholischer Intellektueller siehe Richard VAN DÜLMEN, Katholischer Konservatismus oder die „Soziologische" Neuorientierung. Das „Hochland" in der Weimarer Zeit, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 36 (1973), S. 254-303, hier: S. 292 f. 15 Die Paneuropabewegung vereinte entgegengesetzte Weltanschauungen. So hatte Coudenhove-Kalergi als Symbol der Paneuropabewegung ein „rotes Kreuz auf goldener Sonne [...]: das Kreuz Christi auf der Sonne Apollos; übernationale Humanität verbunden mit dem strahlenden Geist der Aufklärung" gewählt. Der Bewegung gehörten überzeugte Katholiken ebenso wie Sozialisten an: Paul Loebe, der sozialdemokratische Reichstagspräsident, wurde Präsident der deutschen, der Prälat Ignaz Seipel Präsident der österreichischen Paneuropa-Union. In Frankreich wurde die Paneuropabewegung von Edouard Herriot, Joseph Caillaux, Paul Painlevé, Paul Boncour, Henry de Jouvenel, Louis Loucheur und manchen Freimaurerlogen unterstützt. Auch Adenauer wurde 1927 Mitglied der PaneuropaUnion. Gemeinsam war ihnen vor allem ihre tiefe Ablehnung des Kommunismus. Siehe Richard Nikolaus COUDENHOVE-KALERGI, Geschichte der Paneuropabewegung 19221962, Basel/Wien 1962, S. 7 f. und 19. Siehe auch Du RÉAU, L'Idée d'Europe (Anm. 3), S. 81-83. 16 COUDENHOVE-KALERGI, Paneuropa (Anm. 10), S. 37-53. VEREECKEN, La Lutte (Anm. 13), S. 18 f. 17 COUDENHOVE-KALERGI, Idee (Anm. 14), S. 119 f. Ignaz SEIPEL, Katholische Liebe und Völkerfriede, in: Die Reden gehalten in den öffentlichen und geschlossenen Versammlungen der 64. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands zu Stuttgart 22.-26. August 1925, hrsg. vom Generalsekretariat des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Würzburg 1925, S. 197-204, hier: S. 197 f. Klemens von KLEMPERER, Ignaz Seipel. Christian Statesman in a time of crisis, Princeton 1972, S. 58-65 und S. 296.
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Seipels Haltung gegenüber den paneuropäischen Ideen und maß ebenso wie dieser dem liberalen und antichristlichen Charakter, in dem das Konzept wurzelte, geringere Bedeutung bei18. Er sah in Coudenhove-Kalergis paneuropäischem Konzept nur den ersten Schritt auf dem Weg zur Errichtung des .Abendlands"19. Während des Zweiten Weltkriegs und seines Exils in den Vereinigten Staaten engagierte sich Otto von Habsburg zusammen mit Gleichgesinnten für die paneuropäischen Ideen und sprach sich gleichzeitig für die Wiederherstellung der Donau-Monarchie als Bastion gegen den Bolschewismus aus20. Im Einklang mit der Tradition seines Hauses war diese Restauration für ihn aus zwei Gründen von zentraler Bedeutung: Zum einen sei der Mangel der deutschen Nation an „Lebensraum", der 1933 zur „Machtergreifung" Hitlers geführt habe, auf die Gründung der Nationalstaaten zurückzuführen, während das Heilige Römische Reich als Staatsform die Aufteilung der Deutschen auf ganz Europa ohne Spannungen ermöglicht hätte. Zum anderen ging er davon aus, dass der Untergang der Donau-Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mitbedingt hatte, indem das entstandene Vakuum die Machtpolitik der beiden Nachbarstaaten Sowjetunion und Deutsches Reich ermöglichte21. Sein Hauptanliegen bestand darin, Österreich in die Lage zu versetzen, „seine großen katholischen, sozialen und abendländischen Aufgaben" zu erfüllen22. Innenpolitisch gesehen, war Otto von Habsburg ein erbitterter Gegner des Kapitalismus und träumte stattdessen vom Aufbau einer „katholisch-sozialen Monarchie der Zukunft" auf ständischer Grundlage gemäß den Ideen der päpstlichen Enzykliken Rerum Novarum und Quadragesimo Anno23. Auf europäischer Ebene bestand Österreichs große Mission seiner Meinung nach darin, eine „Brücke zwischen Völkern und Kulturen" zu bilden24. Österreich sollte eine zentrale Rolle innerhalb Mit18 Nach Otto von Habsburg war Europa nicht nur ein geographisches Gebilde, das sich vom Atlantik bis zum Ural erstreckte, sondern wurde außerdem durch kulturelle, politische und ökonomische Faktoren definiert. In seinen Augen waren die politischen Werte der Sowjetunion mehr von Asien als von Westeuropa beeinflusst, Großbritannien dagegen hatte seine ursprüngliche Berufung für Europa durch die Konzentration seiner Politik auf das Commonwealth verloren. HABSBURG, Entscheidung um Europa (Anm. 9), S. 14-18. 19
HABSBURG, E n t s c h e i d u n g (Anm. 9), S. 9 2 - 9 4 u n d 102 f. Philippe CHENAUX, O c c i -
dente, Cristianità, Europa. Uno studio semantico, in: Il fattore religioso (Anm. 7), S. 4153, hier: S. 44. 20
VEREECKEN, La Lutte ( A n m . 13), S. 114 f.
21
HABSBURG, Entscheidung (Anm. 9), S. 43-52 und 67 f. DERS., Briefe (Anm. 11), S. 52. 23 Ebd., S. 41-44, 50 und 194. Rerum Novarum, Acta Sanctae Sedis 23 (1890-1891), S. 641-670. Quadragesimo Anno, Acta Apostolicae Sedis 23 (1931), S. 177-228. Diese Ideen vertrat auch Othmar SPANN in seinem berühmten Buch Der wahre Staat, Leipzig 1921. 22
24
HABSBURG, B r i e f e ( A n m . 11), S. 58. DERS., E n t s c h e i d u n g ( A n m . 9), S. 9 6 - 1 0 1 .
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teleuropas spielen, da es der „Träger des Gedankens des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation" sei und über Jahrhunderte hinweg das Deutschtum bewahrt habe25. Er plante eine Föderation der Donauregion um Österreich, die in seinen Augen drei Vorteile mit sich brächte: Erstens könnte dadurch das Minderheitenproblem gelöst werden. Zweitens würde die Föderation als Wirtschaftspartner der deutschen Gemeinschaft deren Fortdauer sichern. Drittens würde sie es kleinen Staaten ermöglichen, mit den beiden europäischen Hauptmächten Frankreich und Deutschland zu konkurrieren, ohne ihnen wirtschaftlich und politisch untergeordnet zu sein26. Das Jahr 1945 hat Habsburgs Europa-Perspektive nicht erkennbar beeinflusst. Allerdings ging er davon aus, dass seine Ideen aufgrund der neuen Spaltung Europas nun ein größeres Echo finden würden, weshalb er sich aktiver als vor dem Krieg für seine Überzeugung einsetzte. Er beabsichtigte, einen neuen, zum Aufbau Europas notwendigen „Geist der Kreuzzüge" gegen den Kommunismus zu wecken27. Den Grund für die Spaltung Europas sah er im Yalta-Abkommen: Westeuropa würde dadurch von den USA wirtschaftlich abhängig, während 30% der europäischen Bevölkerung der sowjetischen Herrschaft als „einem fremden Kolonialregime" überlassen blieben28. Habsburg schätzte die Situation Europas sehr pessimistisch ein, da „unsere Lage [...] heute genau so unsicher [ist] wie die des Römischen Reiches nach dem Fall des Limes"29. Der Aufbau eines geeinten Europa sei der beste Schutz gegen die Sowjetunion, i. e. den Kommunismus30. Einerseits lehnte er ein von vielen Christdemokraten und Sozialisten befürwortetes supranationales Europa ab, andererseits nahm er das Ideal des Föderalismus auf. Dieser war für ihn allerdings vor allem ein Mittel, um die Einigung Europas unter seiner kaiserlichen Herrschaft voranzutreiben31. Unmittelbar nach 1945 wurde Otto von Habsburgs Europagedanke von zwei wichtigen katholischen deutschen Periodika, dem Neuen Abendland und dem Rheinischen Merkur, verbreitet32, die vor allem unterschiedliche regionale Standpunkte widerspiegelten.
25
DERS., B r i e f e (ANM. 11), S. 171.
26
DERS., Entscheidung (Anm. 9), S. 74-82,100. 27 Ebd., S. 40. 28 Ebd., S. 19-21,25 f. 29 Ebd., S. 19. 30 Otto von HABSBURG, Die Paneuropäische Idee. Eine Vision wird Wirklichkeit, Wien/ München 1999, S. 119-125. 31 In den fünfziger Jahren sammelte er zur Förderung der wirtschaftlichen Einigung Europas eine stattliche Zahl von europäischen Konservativen, insbesondere katholische Föderalisten aus Frankreich, um sich, unter anderem Robert d'Harcourt und Gabriel Marcel. HABSBURG, E n t s c h e i d u n g ( A n m . 9), S. 2 2 - 2 8 . CHENAUX, U n e E u r o p e V a t i c a n e ? ( A n m . 8), S. 2 0 7 - 2 1 1 . 32
Vgl. Anm. 8.
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Das Neue Abendland gab die Meinung bayerischer Monarchisten wieder, die Bayerns politische Unabhängigkeit und gleichzeitig seine katholischen Grundlagen durch die Gründung eines föderalen Europa zu schützen hofften. Der Name wurde in Erinnerung an Hermann Platz' Zeitschrift Abendland gewählt33. Das Neue Abendland stand den Kreisen der ehemaligen Bayerischen Volkspartei (BVP) nahe und stellte dem preußischen Zentralismus und seinen autoritären Zügen die bayerische politische Tradition als Wiege des Föderalismus gegenüber34. Der Rheinische Merkur präsentierte sich in der Tradition von Görres' Schriften35. Er verbreitete die Ideen rheinischer Föderalisten, deren wichtigste Forderung die Gründung eines unabhängigen Rheinlands war. Das Rheinland sollte auf diese Weise wirksam vor der Herrschaft Preußens, das sie als eine für das Naziregime verantwortliche militärische, imperialistische und weltliche Einheit ansahen, geschützt werden36. Die von der Wochenzeitung vertretene Grundhaltung beruhte auf den Vorstellungen von Benedikt Schmittmann (1872-1939), einem katholischen Professor an der Universität Köln und preußischen Landtagsabgeordneten der Zentrumspartei während der Weimarer Republik, der einer der engagiertesten Verfechter föderalistischer Ideen gegenüber der eigenen Parteiführung gewesen war37. Wie Schmittmann, kon33
Hermann Platz hatte sich mit Marc Sangnier seit 1925 dafür eingesetzt, dass deutsche und französische Katholiken sich auf der Grundlage einer gemeinsamen Vergangenheit im Rahmen eines mittelalterlichen Christentums versöhnten. Hermann PLATZ, DeutschlandFrankreich und die Idee des Abendlandes, Köln 1924. Klaus BREUNING, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929-1934), München 1969, S. 78-81. Jean-Claude DELBREIL, Les catholiques français et les tentatives de rapprochement franco-allemand (1920-1933), Metz 1972, S. 100. Philippe CHENAUX, Europe, Occident, Chrétienté, in: La Philosophie d'Inspiration Chrétienne en Europe, hrsg. von Patrick de Laubier, Paris 1989, S. 74-84, hier: S. 75. 34 Robert JOHN, Sacrum Imperium und Bismarckreich, in: Neues Abendland 2 (April 1946), S. 17 f. Ernst DEUERLEIN, Das geistige Vordringen in Bayern, in: Ebd. 10 (Dezember 1946), S. 17-24. Freiherr von GLAUBITZ, Einheitsstaat oder Bund?, in: Ebd. 5 (Juli 1946), S. 23-25. Josef M. Graf von SODEN-FRAUENHOFEN, Warum Föderalismus?, in: Ebd. 9 (November 1946), S. 6 f. 35 AUDAX, Ein Name, in: Rheinischer Merkur 1 (15. März 1946), S. 1. Franz Albert KRAMER, Joseph Görres in dieser Zeit, in: Ebd. 3/4 (24. Januar 1948), S. 1 f. 36 Adolf SÜSTERHENN, Zur Eigenstaatlichkeit des Rheinlands, in: Rheinischer Merkur 2 5 / 2 6 ( 7 . J u n i 1 9 4 6 ) , S. 1. Franz A l b e r t KRAMER, D i e Z u k u n f t D e u t s c h l a n d s , in: E b d . 2 0
(21. Mai 1946), S. 1. J. HIRT, Gespräche auf dem Johannisberg, in: Ebd. 57 (27. Septemb e r 1 9 4 6 ) , S . 1. CHENAUX, E u r o p e ( A n m . 3 3 ) , S. 7 9 . 37
Adolf SÜSTERHENN, Benedikt Schmittmann. Leben und Werk eines rheinischen Föderalisten, Teil I, in: Rheinischer Merkur 28 (18. Juni 1946), S. 1 f.; Teil II, in: Ebd. 29 (21. Juni 1946), S. 1 f.; Teil III, in: Ebd. 30 (25. Juni 1946), S. 1 f.; Teil IV, in: Ebd. 31 (28. Juni 1946), S. 1 f. Schmittmann war im September 1939 im Konzentrationslager Sachsenhausen ermordet worden, aber nach 1945 verbreitete seine Witwe Ella Schmittmann seine Ideen durch die regelmäßige Veröffentlichung von Artikeln im Rheinischen Merkur und vereinzelt im Neuen Abendland. Ella SCHMITTMANN, Der deutsche Reichsgedanke, in: Neues Abendland 6 (August 1946), S. 23-25; DIES., Demokratie als Kulturaufgabe, in:
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zentrierte sich der Rheinische Merkur auf das Rheinland als Zentrum des .Abendlandes" mit dem Rhein als europäischer „Kulturstraße"38. Obgleich sowohl Rheinischer Merkur als auch Neues Abendland eine partikularistische Anschauung vertraten, betrachteten sie Deutschland insgesamt aufgrund seiner politischen und kulturellen Sonderstellung zwischen westlichem Kapitalismus und östlichem Sozialismus als eine kulturelle Brücke zwischen West und Ost. Vor der Teilung verstanden sie die geographische Lage Deutschlands einerseits als Chance, die Spannungen zwischen den westlichen Mächten und der Sowjetunion abzuschwächen, andererseits als eine Möglichkeit, die politische Identität Deutschlands gegen den westlichen „Imperialismus" zu verteidigen39. Das Neue Abendland und der Rheinische Merkur sahen in der Reintegration Deutschlands in das .Abendland" ein Mittel, um die „Entpreußung" des neuen deutschen Staates auf Dauer zu gewährleisten. Die erst 1947 vollzogene formale Auflösung Preußens war ihrer Ansicht nach keine Garantie für die Auflösung der preußischen Mentalität40. Ihre Auffassung eines auf der Idee des Abendlandes basierenden Europa war kein neues Konzept: Sie hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Ideen von Adam Müller und Joseph Görres sowie der Protestanten Karl Schlegel und Novalis als Gegensatz zu einer liberalen Gestaltung Europas entwickelt, wie sie etwa von Garibaldi vertreten wurde41. Das ,Abendland"-Konzept ging von der utopischen Vorstellung aus, alle christlichen Nationen als eine Familie zu vereinen, als Gegenentwurf zu einer erzwungenen Einigung unter preußischer Führung42. Das Neue Abendland und der Rheinische Merkur beEbd. 11 (Januar 1947), S. 28; DIES., Abendland und Europa, in: Rheinischer Merkur 29 (9. August 1947), S. 1; DIES., Ein Minimalstaat?, in: Ebd. 39 (18. Oktober 1947), S. 1; DIES., Der große Monarch, in: Ebd. 5 (31. Januar 1948), S. 3 f.; DIES., Wer soll Europa formen?, in: Ebd. 28 (9. Juli 1949), S.3. 38 Wemer OELLERS, Schlagworte?, in: Rheinischer Merkur 24 (4. Juni 1946), S. 1. Adolf SOSTERHENN, Benedikt Schmittmann. Leben und Werk eines rheinischen Föderalisten, in: Ebd. 28 (18. Juni 1946), S. 1 f. Albert LÖTZ, Klarstellungen, in: Ebd. 32 (2. Juli 1946), S. 1 f. [Ohne Verfasserangabe,] Ein Appell an die MRP, in: Ebd. 42 (6. August 1946), S. 1. [Ohne Verfasserangabe,] Eine politische Brücke, in: Ebd. 40 (25. Oktober 1947), S. 1 f. 59
40
CHENAUX, Une Europe Vaticane? (Anm. 8), S. 207-215.
Adolf SÜSTERHENN, Zur deutschen Frage, in: Rheinischer Merkur 40 (30. Juli 1946), S. 1 f. Ella SCHMITTMANN, Abendland und Europa, in: Ebd. 29 (9. August 1947), S. 1. Franz Albert KRAMER, Denk' ich an Deutschland in der Nacht, in: Ebd. 1(1. Januar 1948), S. l f . 41 Giuseppe Garibaldi, unter dessen Führung die Einigung Italiens sich vollzogen hatte, wurde im 19. Jahrhundert in liberalen deutschen Kreisen als Vorbild bei der Einigung der deutschen Länder betrachtet Er befürwortete die Zerstörung des mittelalterlichen und den Aufbau eines liberalen und nationalistischen Europa. Garibaldis Auffassung wurde vom Vatikan kategorisch abgelehnt. Jean-Dominique DURAND, L'Europe de la Démocratie Chrétienne, Bruxelles 1995, S. 147. 42 Johann Wilhelm NAUMANN, „Neues Abendland", in: Neues Abendland 1 (März 1946),
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fürworteten die Idee einer supranationalen europäischen Kultur auf der Grundlage des karolingischen Kaiserreichs, was einer mystischen Rückkehr zum mittelalterlichen Universalismus gleichkam43. Dementsprechend war fur sie die europäische Zivilisation Ausdruck des Christentums; wie in Hermann Platz' Zeitschrift Abendland, sahen sie das Schicksal Europas mit dem Schicksal des Christentums verbunden44. Europa war demnach vor allem eine „geistige Gemeinschaft" auf der Grundlage des Christentums45. Darin stimmten sie mit Otto von Habsburg ebenso überein wie mit anderen autoritär eingestellten, rechtsgerichteten Europäern, etwa dem Schweizer Gonzague de Reynold46. In den zwanziger Jahren wurde in Frankreich dieselbe Auffassung von Europa im Umfeld von Charles Maurras und der Action Française sowie von der Zeitschrift La Revue Universelle, die von Henry Massis und Jacques Bainville herausgegeben wurde, vertreten47. 1945 jedoch hatten sich viele französische Katholiken von dieser Auffassung unter dem Einfluss von Jacques Maritains La Primauté du Spirituel und Humanisme Intégrale distanziert, der diese Art von Identifikation ablehnte48. Maritain vertrat stattdessen die Idee eines „neuen Christentums", dessen Einheit nicht religiöser, sondern säkularer Natur sein, das heißt auf Pluralismus in Verbindung mit modernen Ideen wie Freiheit und Laizität aufbauen sollte. Insgesamt war die Idee eines „Donau-Europa" auf der Grundlage des
S. 1-3, hier: S. 2. Ella SCHMITTMANN, Ein Minimalstaat?, in: Rheinischer Merkur 39 (18. Oktober 1947), S. 1. 43 Heinz GOLLWITZER, Europabild und Europagedanke, München 1951, S. 174-201 und 246-261. 44 Joseph PETERS, Abendland und Weltmission, in: Neues Abendland 6 (August 1946), S. 16-22. Friedrich ZOEPFL, Abendländische Kulturgemeinschaft, in: Ebd. 4 (Juni 1946), S. 5-11. Sowohl Neues Abendland als auch Rheinischer Merkur würdigten zum Beispiel Christopher Dawsons The Sword of Spirit: [Ohne Verfasserangabe], Das Schwert des Geistes, in: Neues Abendland 10 (Dezember 1946), S. 29-30, und seine letzte Veröffentlichung auf Deutsch, Gericht über die Völker (Zürich 1945): Otto B. ROEGELE, Europa von Morgen, in: Rheinischer Merkur 11 (5. April 1947), S. 3 f. HABSBURG, Entscheidung (Anm. 9), S. 33 f. und 189 f. Heinz HÜRTEN, „Abendland" - ein Topos bei Besinnung und Neubeginn, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 7 (1988), S. 27-31, hier: S. 27. 45 Georg KRIEGER, Der Kurverein zu Rense, in: Rheinischer Merkur 41 (2. August 1946), S. 1. 46 Aram MATTIOLI, Zwischen Demokratie und totalitärer Diktatur. Gonzague de Reynold und die Tradition der autoritären Rechten in der Schweiz, Zürich 1994, S. 301-307. 47 CHENAUX, Europe (Anm. 33), S. 76. Zu den Versuchen seitens der französischen Katholiken, eine Versöhnung mit Deutschland zu erreichen, siehe Jacques GADILLE, Conscience internationale et conscience sociale dans les milieux catholiques d'expression française dans Γ entre-deux-guerres, in: Relations internationales 27 (1981), S. 361-374, und Jean-Claude DELBREIL, Les démocrates d'inspiration chrétienne et les problèmes européens dans l'entre-deux-guerres, in: Le MRP et la construction européenne, hrsg. von Serge Berstein [u. a.], Paris 1993, S. 15-39. 48 Jacques MARITAIN, La Primauté du Spirituel, Paris 1927; DERS., Humanisme Intégrale, Paris 1936.
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„AbendlancT-Konzepts nach 1945 aus zwei Gründen erfolgreich. Zum einen war diese Idee der europäischen Einheit unter den deutschen Katholiken in den zwanziger Jahren am weitesten verbreitet. Zum anderen war sie gegenüber äußeren Einflüssen unzugänglich: Sie wurde nicht durch die Nazi-Propaganda missbraucht und somit in ihrem Sinn entstellt, wie das bei anderen Konzepten wie dem der „Volksgemeinschaft" der Fall war49. Außerdem wurden Maritains Ideen im Gegensatz zu Frankreich in Deutschland erst in den fünfziger Jahren breiter rezipiert50. Bis 1949 kritisierten Neues Abendland und Rheinischer Merkur die Politik der CDU-Führung in den einzelnen Besatzungszonen nicht grundsätzlich. Das Neue Abendland setzte sich jedoch für den Wiederaufbau des katholischen Zentrums als föderalistischer Partei im Gegensatz zur interkonfessionellen CDU ein51. Der Rheinische Merkur unterstützte Adenauers Außenpolitik und brachte seine Hochachtung für Robert Schuman zum Ausdruck, der ein regelmäßiger Leser der Wochenzeitung war52. Nach 1949 setzten sich allerdings beide Periodika zunehmend kritischer mit Adenauers Konzept des Aufbaus Europas auseinander: So widersetzten sie sich heftig der Schaffung eines deutschen Nationalstaates, das heißt dem Zusammenschluss aller Deutschen in einem einheitlichen Staat, weil sie darin eine Gefahr für den europäischen Frieden sahen. Sie betrachteten einen Föderalismus auf europäischer sowie auch auf deutscher Ebene als conditio sine qua non dieses Friedens53. Darüber hinaus forderten sie die strikte Umsetzung der Soziallehre der päpstlichen Enzykliken54. Sie standen den sozialen Ideen von Stegerwald und 49
HORTEN, „Abendland" (Anm. 44), S. 29. Der Einfluss der französischen katholischen Intellektuellen auf den deutschen Katholizismus der fünfziger Jahre wurde von Historikern noch nicht ausreichend berücksichtigt. DURAND, L'Europe (Anm. 41), S. 118-127. Siehe auch Anm. 14 und Heinz HORTEN, Der Einfluß Jacques Maritains auf das politische Denken in Deutschland, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 26 (1985), S. 25-39. 51 [F.], Die Zentrumspartei, in: Neues Abendland 6 (August 1946), S. 23 f. 52 [Ohne Verfasserangabe], Die Bedeutung des Westens, in: Rheinischer Merkur 8 (21. Februar 1948), S. 1 f. Albert LÖTZ, Ein Tiefschlag, in: Ebd. 10 (6. März 1948), S. 1. [R. F.], Der außenpolitische Start. Die Stunde fordert Tatkraft und Besonnenheit, in: Ebd. 50 (10. Dezember 1949), S. 1. Franz Albert KRAMER, Deutschland in Europa. Ein Gespräch mit Außenminister Schuman, in: Ebd. 43 (16. Oktober 1948), S. 1. Ober Robert Schuman siehe Raymond POIDEVIN, Robert Schuman, homme d'Etat 1886-1963, Paris 1986. 53 Johann Wilhelm NAUMANN, „Neues Abendland", in: Neues Abendland 1 (März 1946), S. 1-3, hier: S. 3. J. HIRT, Der preußische Geist, in: Rheinischer Merkur 42 (6. August 1946), S. 1. [Ohne Verfasserangabe], Die geistige Hauptstadt?, in: Ebd. 14 (30. April 1946), S. 1. Franz Albert KRAMER, Die Zukunft Deutschlands, in: Ebd. 21 (24. Mai 1946), S. I. Albert LÖTZ, Klarstellungen, in: Ebd. 32 (2. Juli 1946), S. 1 f. Wilhelm HAUSENSTEIN, Der Sinn des Föderalismus, in: Ebd. 47 (23. August 1946), S. l . H . DRAHTEN, Zum Artikel Fr. W. Foersters, in: Ebd. 79 (13. Dezember 1946), S. 1 f. Siehe auch BRELIELEWIEN, Abendland (Anm. 8), S. 214 f. 54 [Ohne Verfasserangabe], Grundlagen der Gesellschaftsreform, in: Neues Abendland 2 (April 1946), S. 23 f. [Ohne Verfasserangabe], Der „Ständestaat", in: Ebd. 3 (Mai 1946), 30
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Brüning nahe und befürworteten die Errichtung eines korporativen anstatt eines kapitalistischen Staates. In ihren Augen war der Föderalismus die natürliche Erweiterung einer korporativen Organisation des Staates55. Wie Otto von Habsburg gingen Neues Abendland und Rheinischer Merkur davon aus, dass im Föderalismus regionale Unterschiede und individuelle Freiheiten, die für die katholische Staatslehre von zentraler Bedeutung waren, am ehesten respektiert würden. Somit schaffe der Föderalismus die Voraussetzungen für die Errichtung eines Systems auf der Basis wirklich demokratischer Prinzipien im Gegensatz zur Weimarer Republik, die ihnen als ein zentralistischer, das heißt „von oben nach unten" aufgebauter Staat erschien56.
Europa als „dritter Weg" Das andere Europa-Konzept, das zwischen 1945 und 1949 viele Befürworter fand, wurde von den Frankfurter Heften verbreitet, die 1946 von Eugen Kogon und Walter Dirks gegründet und seitdem herausgegeben wurden57. Eugen Kogon (1903-1987) steht beispielhaft für den Meinungsumschwung mancher Katholiken infolge der nationalsozialistischen Diktatur und der Schrecken des Krieges. Als konservativer Katholik arbeitete er vor dem Zweiten Weltkrieg von 1927 bis 1934 bei der Schöneren Zukunft, einer katholischen, in Wien herausgegebenen Zeitschrift mit antiparlamentarischer und großdeutscher Ausrichtung58. Kogons politische Auffassung wurde zu einem
S. 24-26. [Ohne Verfasserangabe], Ein christliches Sozialprogramm, in: Ebd. 11 (Januar 1947), S. 24-28. Walter FERBER, Eine „Katholische Europa-Liga", in: Rheinischer Merkur 24 (11. Juni 1949), S. 3. Otto B. ROEGELE, Ist das Abendland tot?, in: Ebd. 26 (25. Juni 1949), S. 3 f. Georg SCHREIBER, Europarat und christliches Abendland, in: Ebd. 38 (17. S e p t e m b e r 1949), S. 1 f.
" Walter FERBER, Das Wesen des Föderalismus, in: Neues Abendland 1 (März 1946), S. 4 f. Ella SCHMITTMANN, Demokratie als Kulturaufgabe, in: Ebd. 11 (Januar 1947), S. 28. Adolf SÜSTERHENN, Solidarismus statt Sozialismus, in: Rheinischer Merkur 52 (10. September 1946), S. 1 f. 56 HABSBURG, Entscheidung (Anm. 9), S. 34-38 und 186 f. 57 Eugen KOGON, Der Anfang der „Frankfurter Hefte", in: DERS., „Dieses merkwürdige, wichtige Leben". Begegnungen, hrsg. von Michael Kogon und Gottfried Erb (Gesammelte Schriften, Bd. 6), Weinheim/Berlin 1997, S. 89-96. DERS., Das Ende der „Frankfurter Hefte", in: Ebd., S. 266-274. CHENAUX, Une Europe Vaticane? (Anm. 8), S. 53 f. 58 Alfred DIAMANT, Austrian Catholics and the First Republic, Princeton 1960, S. 145148. Siehe auch Peter EPPEL, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz: die Haltung der Zeitschrift „Schönere Zukunft" zum Nationalsozialismus in Deutschland 1934-1938, Wien [u. a.] 1980. Außerdem arbeitete Kogon 1933 und 1934 für die Neue Zeitung, die Zeitschrift der österreichischen christlichen Gewerkschaften, die Dollfuß nahe standen, mit dessen Regime er sympathisierte. Hans-Otto KLEINMANN, Eugen Kogon (1903-1987), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, hrsg. von Jürgen Aretz [u. a.], Bd. 9, Münster 1999, S. 223-242, hier: S. 227.
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großen Teil von Othmar Spann und seiner Idee eines korporativen Staates beeinflusst59. Aus diesem Grund trat er der im April 1933 durch Franz von Papen gegründeten Vereinigung Kreuz und Adler bei und setzte sogar Hoffnungen in das NS-Regime. Der Röhm-Putsch und die Ermordung Dollfuß' Ende Juli 1934 öffiieten ihm aber die Augen für die wahre Natur des Nationalsozialismus, woraufhin er sich den österreichischen Legitimisten anschloss, die im Namen Otto von Habsburgs europäische katholische Konservative gegen Hitler zu organisieren versuchten60. Bekannt als strikter Gegner der Nationalsozialisten, war Kogon nach dem „ A n s c h l u s s " verhaftet worden. Seine anschließende Haft im Konzentrationslager Buchenwald von 1939 bis 1945 sollte einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben darstellen: Zum einen führte sie dazu, dass er seine frühere politische Orientierung überdachte und Habsburgs Richtung radikal den Rücken kehrte, um stattdessen christliche Prinzipien mit sozialistischen Ideen zu kombinieren61. Kogon gelangte zu der Überzeugung, dass die demokratischen, pazifistischen und sozialen Werte, die ihm schon immer am Herzen lagen, im Widerspruch zu den monarchistischen Zielsetzungen Otto von Habsburgs stünden62. Zum anderen sollte es zu seinem wichtigsten Anliegen werden, Wege zu finden, den Frieden in Europa zu sichern. Auf diese Weise hoffte er, die Wiederkehr einer totalitären Herrschaft in der Art der Nationalsozialisten, wie er sie in seinem berühmten Buch Der SS-Staat dargestellt hatte, zu verhindern63. Nach dem Krieg führte ihn dies dazu, neben seinem Engagement fur die Frankfurter Hefte und seiner Beteiligung an der Gründung der CDU in Hessen aktiv eine neue Organisation des Nachkriegseuropa zu fördern. Kogon sollte eine Schlüsselpersönlichkeit bei der Mobilisierung der deutschen Eliten innerhalb neuer Verbände für einen Aufbau Europas werden64. Seine Bemü59
Othmar SPANN, Der wahre Staat, Leipzig 1921. Eugen KOGON, Der Ständestaat des Solidarismus, in: DERS., Die Idee des christlichen Ständestaates: frühe Schriften 1921-1940, hrsg. von Michael Kogon und Gottfried Erb (Gesammelte Schriften, Bd. 8), Weinheim/Berlin 1999, S. 153-207. Eugen KOGON, Othmar Spanns Soziologie und der Katholizismus, in: Ebd., S. 207-212. VAN DÜLMEN, Katholischer Konservatismus (Anm. 14),S. 287 f. 6 0 KLEINMANN, Kogon (Anm. 58), S. 225-228. 61 Michael KOGON, Liebe und tu, was du willst, Berlin 1996, S. 11. Eugen KOGON, Der Weg zu einem Sozialismus der Freiheit in Deutschland, in: DERS., Die reformierte Gesellschaft, hrsg. von Michael Kogon und Gottfried Erb (Gesammelte Schriften, Bd. 5), Weinheim/Berlin 1997, S. 18—41. 62 Dieselben sozialen Anliegen, deretwegen er sich korporativen Ideen zugewandt hatte, veranlassten ihn nun, einen sozialistischen Staatsaufbau zu befürworten. KLEINMANN, Kogon (Anm. 58), S. 226. 63 Eugen KOGON, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946. 64 Er beteiligte sich an der Organisation des Haager Kongresses vom 8. bis 10. Mai 1948, der 840 Vertreter versammelte und zur „Europäischen Bewegung" im Oktober 1948 führte. 1949 übernahm er die Führung des 1946 gegründeten Verbandes „Europa-Union", der mit der „Union Européenne des Fédéralistes", dessen Zentralkomitee Kogon ange-
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hungen waren in erster Linie praktisch orientiert und richteten sich auf den Aufbau europäischer Institutionen zur Umsetzung einer gemeinsamen europäischen Politik. Während er 1949 noch immer auf die Entstehung eines föderalistischen Europa in seinem Sinne hoffen konnte, wurde in den fünfziger Jahren zunehmend offenbar, dass bedeutende europäische Regierungen, wie die Frankreichs und Großbritanniens, nicht wirklich die Absicht hatten, ihre Weltmachtambitionen der Errichtung einer europäischen Föderation unterzuordnen65. Es ist bezeichnend, dass Kogon im Mai 1949 seine Enttäuschung durch einen Artikel mit dem Titel „Der politische Untergang des europäischen Widerstandes" in den Frankfurter Heften zum Ausdruck brachte, in dem er offen das Scheitern der europäischen Nachkriegsregierungen beim Aufbau eines neuen Europa anprangerte66. Ungeachtet der Zusammenarbeit von Eugen Kogon und Walter Dirks bei den Frankfurter Heften unterschied sich ihr europäisches Engagement. Wesentlich hierfür waren sicherlich ihre verschiedenartigen Biographien vor 1945. Während der Weimarer Republik gehörte Dirks zum linken Flügel der Zentrumspartei. Er war der Herausgeber der in Frankfurt ansässigen RheinMainischen Volkszeitung, in der er zahlreiche Artikel veröffentlichte, die zur Versöhnung zwischen Franzosen und Deutschen aufriefen67. Nach 1918 unterschied sich Dirks' Analyse des europäischen „Untergangs" von der Otto von Habsburgs vor allem durch drei Elemente. Erstens wandte sich Dirks zwar ebenso wie Habsburg gegen den Geist Preußens und gegen Militarismus, aber im Gegensatz zu Habsburg lehnte er auch den Monarchismus ab. Zweitens war sein größtes Anliegen, den wirtschaftlichen und sozialen Folgen des europäischen „Untergangs" entgegenzuwirken, während Habsburg in erster Linie darauf bedacht war, den Zerfall des religiösen Fundaments Europas zu verhindern68. Drittens vertrat Dirks eine Mischung aus christlichen hörte, assoziiert war. Eugen KOGON, Für Europa, in: DERS., „Dieses merkwürdige, wichtige Leben" (Anm. 57), S. 117-120. Die Gründung des „Deutschen Rates der Europäischen Bewegung" im September 1949, der 250 deutsche Persönlichkeiten vereinte, sollte eines seiner großen Werke sein. Eugen KOGON, Eine autonome Gründung: der Deutsche Rat der Europäischen Bewegung, in: Ebd., S. 121-124. 65 Marie-Thérèse BrrsCH, Histoire de la construction européenne, Bruxelles 1996, S. 81-96. 66 Eugen KOGON, Der politische Untergang des europäischen Widerstandes, in: Frankfurter Hefte 5 (Mai 1949), S. 405-413, hier: S. 406. Siehe auch Eugen KOGON, Das Jahr der Entscheidung, in: DERS., Die restaurative Republik, hrsg. von Michael Kogon und Gottfried Erb (Gesammelte Schriften, Bd. 3), Weinheim/Berlin 1996, S. 48-62. 67 Bruno LowiTSCH, Der Kreis um die Rhein-Mainische Volkszeitung, Frankfurt a. M./ Wiesbaden 1980, S. 25-27. 68 Dirks hatte aus dem Ersten Weltkrieg zwei Lehren gezogen: Er sah im Krieg den Beweis, dass der Nationalismus, der in seinen Augen für den Krieg verantwortlich war, innerhalb einer neuen internationalen Ordnung überwunden werden musste. Und er war über die allgemeine Verarmung in Europa und die Höhe der europäischen Schulden gegenüber den Vereinigten Staaten besorgt. In den USA sah er die eigentlichen Gewinner des Krieges. Da die europäischen Staaten seiner Meinung nach in der Zukunft der wirtschaftli-
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und sozialistischen Grundsätzen und befürwortete eine Koalition zwischen Zentrum und SPD69. Im Gegensatz zu Kogon beschränkte sich Dirks' Aktivität nach 1945 jedoch im Wesentlichen auf Publikationen. Der Zweite Weltkrieg hatte seine sozialistischen Überzeugungen noch verstärkt, 1945 sollte in seinen Augen ein unabhängiger und damit parteienübergreifender Sozialismus die Grundlage des neuen deutschen Staates sein70. Der Sozialismus und der Aufbau europäischer Strukturen waren für ihn untrennbar miteinander verbunden: Letzteres konnte nicht ohne die Unterstützung des Ersteren erreicht werden. Er befürwortete den Aufbau eines auf dem Sozialismus basierenden Europa in einer sogenannten „europäischen Konföderation". Grundsätzlich betrachtete Dirks den Zweiten Weltkrieg als eine Bestätigung des Ersten Weltkriegs. Kapitalismus und Individualismus müssten überwunden werden, um einen neuen Krieg zu vermeiden. Wie Eugen Kogon, sah er in der „Stunde Null" eine Möglichkeit, Deutschland mit einer zentral geführten Planwirtschaft wieder aufzubauen. Deshalb wuchs seine Ablehnung gegenüber Adenauers Politik, der die Einigung Europas auf der Grundlage einer kapitalistisch orientierten Wirtschaftsordnung anstrebte71. Das Jahr 1949 bedeutete dann definitiv den Bruch mit Adenauers Politik der wirtschaftlich orientierten europäischen Einigung. Dirks lehnte diese Politik mit den beiden folgenden Hauptargumenten ab: Zum einen warf er Adenauer vor, ein wirtschaftliches anstelle eines politischen Europa aufbauen zu wollen72. Zum anderen missbilligte er Adenauers Politik als Verrat an den christlichen Moralgrundsätzen73. Dirks vertrat allerdings nicht die Idee, dass Europa und Christentum untrennbar miteinander verbunden seien. In den fünfziger Jahren war sein Einsatz für die Einigung Europas immer weniger religiös motiviert und gründete sich mehr auf politischen Realismus74. chen und politischen Konkurrenz der drei neuen aufstrebenden Mächte (USA, Sowjetunion und Asien) nicht gewachsen sein würden, glaubte er, dass die einzige Lösung in der politischen Einigung Europas lag. Walter DIRKS, Gedächtnis des Waffenstillstands, in: DERS., Erbe und Aufgabe, Frankfurt a. M. 1931, S. 208-211. DERS., Der Zweite Republik, Limburg an der Lahn 1947, S. 25-29. HABSBURG, Entscheidung (Anm. 9), S. 22-24. 69 Heinz BLANKENBERG, Politischer Katholizismus in Frankfurt a. M. 1918-1933, Mainz 1981, S. 110-124. Ulrich BRÖCKLING, Katholische Intellektuelle in der Weimarer Republik, München 1993, S. 93-121. Hans-Otto KLEINMANN, Walter Dirks (1901-1991), in: Zeitgeschichte (Anm. 58), Bd. 8, Mainz 1997, S. 265-281. 70 Bernd UHL, Die Idee des christlichen Sozialismus in Deutschland, Mainz 1975, S. 93-95. 71 Walter DIRKS, Ein falsches Europa?, in: Frankfurter Hefte 8 (August 1948), S. 698711. Heinz HÜRTEN, Die Frankfurter Hefte und Konrad Adenauer, in: Konrad Adenauer und seine Zeit, Bd. 2: Beitrage der Wissenschaft, hrsg. von Dieter Blumenwitz [u. a.], Stuttgart 1976, S. 453-465, hier: S. 455 f. 72 Ebd., S. 460. 73 CHENAUX, Une Europe Vaticane? (Anm. 8), S. 54. 74 Walter DIRKS, Die Christenheit und Europa, in: Frankfurter Hefte 9 (September 1951), S. 637, zitiert in CHENAUX, Europe (Anm. 33), S. 83.
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Die jahrelange Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Kogon und Dirks prägten die Frankfurter Hefte in zweierlei Hinsicht75. So traten sie für ein Europa auf der Grundlage des christlichen Sozialismus ein und wandten sich vehement gegen den Kommunismus76. Sie wollten als einen „dritten Weg" ein neues Europa errichten, das sich wesentlich von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion unterscheiden sollte und im Gegensatz zu Adenauers Konzept eines Europa als „dritter Kraft" stand77. Außerdem verstanden sich die Frankfurter Hefte zwar ebenso wie die CDU/CSU als Befürworter christlicher Prinzipien, folgten dennoch aber einer radikal anderen Politik78. In dieser Hinsicht verhielten sich also die Frankfurter Hefte gegenüber der CDU/CSU genauso wie das Neue Abendland und der Rheinische Merkur. Allerdings rief die von den Frankfurter Heften propagierte Verschmelzung von Sozialismus und Katholizismus den wachsenden Widerstand des Episkopats hervor, während das Neue Abendland und der Rheinische Merkur mit der Unterstützung der katholischen Würdenträger rechnen konnten79. Diese Präferenz eines „Donau-Europa" durch die Bischöfe wurde deutlich an zwei wichtigen Ereignissen, die immer wieder herangezogen werden, um zu zeigen, dass die Mehrzahl der fuhrenden deutschen Katholiken vor 1949 in ihrem Land ein westliches kulturelles Bollwerk gegen den Ostblock sahen. In beiden Fällen spielte der Episkopat eine führende Rolle. Es handelte sich erstens um den Jahrestag der Grundsteinlegung des Kölner Doms am 15. August 1948, zu dem die Bischöfe Faulhaber (München), Suhard (Paris), Van Roey (Mecheln), Innitzer (Wien) und Griffin (Westminster) zusammen75
Eugen KOGON, Anfang (Anm. 57), S. 89-96. DERS., Ende (Anm. 57), S. 266-274. DERS., Walter Dirks - fünfundsechzigjährig?, in: DERS., „Dieses merkwürdige und wichtige Leben" (Anm. 57), S. 197-202. 76 Walter DIRKS, Das Abendland und der Sozialismus, in: Frankfurter Hefte 3 (Juni 1946), S. 67-76. DERS., Das Wort Sozialismus, in: Ebd. 7 (Oktober 1946), S. 628-643. KOGON, Weg (Anm. 61). Walter DIRKS, Die Sozialdemokratie und der deutsche Nationalstaat, in: Frankfurter Hefte 12 (Dezember 1949), S. 1010-1028. DERS., Das Recht auf Mitbestimmung, in: Ebd., S. 1028-1038. 77
SCHWARZ, Adenauer (Anm. 7), S. 712 f.
78
Noel D. CARY, The Path to Christian Democracy, Cambridge, Mass. 1996, S. 179-193,
226-251. 79
Walter DIRKS, Programmpunkte zum Thema „Christentum und Sozialismus", in: Frankfurter Hefte 3 (März 1947), S. 231 f. DERS., Der Mainzer Katholikentag, in: Ebd. 4 (April 1948), S. 395-397. 1949 explodierten die unterschwelligen Spannungen zwischen den beiden Richtungen in einer polemischen Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Rheinische Merkur Dirks und Kogon vorwarf, die Lehre der Kirche zu missachten, da Papst Pius XI. den Sozialismus unwiderruflich verurteilt habe. Adolf SÜSTERHENN, Christlicher Sozialismus?, in: Rheinischer Merkur 48 (27. August 1946), S. 1 f. Franz Albert KRAMER, Ist der Rheinische Merkur nicht „sozial"?, in: Ebd. 39 (24. September 1949), S. 1 f. Otto B. ROEGELE, Um die „Frankfurter Hefte", in: Ebd. 41 (8. Oktober 1949), S. 1 f. Eugen KoGON/Walter DIRKS, Die Versuche des „Rheinischen Merkur", in: Frankfurter Hefte 11 (November 1949), S. 909 f.
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kamen - ein Treffen, das von Konrad Adenauer befürwortet wurde. Der deutsche und der französische Episkopat fassten dabei den deutschen Katholizismus insgesamt als Teil des Erbes des mittelalterlichen Christentums auf und ermutigten die europäischen Katholiken, das Christentum des 13. Jahrhunderts wiederherzustellen80. Das zweite Ereignis war der Katholikentag in Mainz vom 1. bis 5. September 1948, der als erster Katholikentag seit dem Ende des Krieges besondere Aufmerksamkeit erregte, weil er am 100. Jahrestag der Gründung der deutschen Katholikentage im Jahr 1848 stattfand81. Wie die Bischöfe anlässlich des Jahrestages der Grundsteinlegung des Kölner Doms, sprach sich auch der Katholikentag für die Integration Deutschlands in das westliche christliche Erbe aus und verteidigte die Idee des „Abendlands"82. Die große Bedeutung dieser Strömung in den ersten Nachkriegsjahren ist insofern nicht überraschend, als viele katholische Verantwortungsträger innerhalb der CDU in der Idee des „Abendlands" die einzige Hoffnung sahen, dem europäischen Materialismus, den sie für den Nationalsozialismus verantwortlich machten, entgegenzuwirken83. Der Einfluss der Frankfurter Hefte ging im Wesentlichen nicht über die Kreise katholischer Intellektueller hinaus, die sich unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs zum Sozialismus bekehrt hatten und sich in ihrer Ablehnung des Kommunismus bestätigt sahen84.
1949 als Wende Der Katholikentag in Bochum vom 31. August bis 4. September 1949 bedeutete eine Wende in der Gewichtung dieser beiden Tendenzen. Walter Ferber, der Chefredakteur des Neuen Abendlandes von 1946 bis 1947, vertrat 80
F. B., Köln in Erwartung des Domfestes. Die letzten Vorbereitungen. Hinweise für die Besucher, in: Rheinischer Merkur 33 (14. August 1948), S. 8. [Ohne Verfasserangabe], Der Dom zu Köln 1248-1948. Beilage des Rheinischen Merkurs zur 700-Jahr-Feier der Grundsteinlegung des Kölner Doms am 15. 08. 1948, in: Rheinischer Merkur 33 (14. August 1948). 81 Die Verfasserin arbeitet an einer Dissertation über die Katholikentage in der Weimarer Republik. Über den ersten Katholikentag 1848 siehe Heinz HORTEN, Spiegel der Kirche Spiegel der Gesellschaft? Katholikentage im Wandel der Welt, Paderborn [u. a.] 1998, S. 34-60. 82 Entschließungen der Vertretertagung des Mainzer Katholikentages 1948, hrsg. vom Zentralkomitee zur Vorbereitung der Generalversammlungen der Katholiken Deutschlands, Paderborn [1948], S. 50-53. CHENAUX, Une Europe Vaticane? (Anm. 8), S. 96 f. 83 Karin WALTER, Neubeginn - Nationalismus - Widerstand. Die politisch-theoretische Diskussion der Neuordnung in CDU und SPD 1945-1948, Bonn 1987, S. 15-120. Maria MITCHELL, Materialism and Secularism: CDU Politicians and National Socialism, 19451949, in: The Journal of Modern History 67 (1995), S. 278-308, hier: S. 297-299. 84 HORTEN, Frankfurter Hefte (Anm. 71), S. 454.
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dort den Gedanken eines abendländischen Christentums. Er nahm an, dass „die Moderne eine Differenzierung und Verbreiterung der Kultur" bewirkt habe, weswegen „die mittelalterliche Kultureinheit und Völkergemeinschaft" nicht ohne weiteres wiederhergestellt werden könne. Seiner Auffassung nach sollte aber diese Differenzierung auf Augustinus* Begriff des Ordo als einer „Einheit in der Vielheit" bezogen werden. Darunter verstand Ferber keine bloße Rückkehr zu der Zeit vor der Reformation, als die Einheit auf dem gemeinsamen Glauben beruhte, da er sich darüber im Klaren war, dass dies nicht mehr zeitgemäß war. Die Glaubenseinheit sollte ersetzt werden durch „eine kultapolitische Konföderation der christlichen Bekenntnisse", die „Latinität der Bildung" durch „die moderne polyglotte Bildung" und die universalistische Kaiseridee durch einen „hegemoniefreien europäischen Föderalismus"85. Eugen Kogon trat dagegen für ein säkulares Europa ,,alle[r] NonKonformisten, von den Konservativen und Liberalen über die christlichen Demokraten bis zu den Sozialisten unter Ausschluss der Kommunisten" ein86. Kogon verzichtete offenbar bewusst darauf, von einem im Sozialismus geeinten Europa zu sprechen, weil er sicherlich davon ausging, dass der Episkopat darauf mit einem Veto reagiert hätte. Die Entschließungen des Katholikentags folgten Kogons Kompromiss-Vorschlag, insoweit er sich auf ,,de[n] Zusammenschluss der europäischen Staaten zu einem einigen Europa [...] mit allen Gutgesinnten jeder Richtung in unserem Volk" bezog87. Infolgedessen wurde im November 1949 ein katholisches Sekretariat gegründet, um im Europarat die Interessen der Katholiken zu vertreten88. Diese Wende ist erstens dadurch zu erklären, dass die Meinungen von Dirks und Kogon, die einen sogenannten „anderen Katholizismus" in Opposition zu dem Adenauers verkörperten, in Bochum sehr stark vertreten waren89. Die Besucher des Bochumer Katholikentags gehörten mehrheitlich der katholischen Arbeiterbevölkerung des Ruhrgebiets an, die tendenziell nicht für die CDU stimmte, sondern zum großen Teil entweder SPD wählte oder zumindest deren sozialen Forderungen nahe stand90. Die dortige katholische Ar-
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Walter FERBER, Das historische Europa, in: Gerechtigkeit schafft Frieden. Der 73. Deutsche Katholikentag vom 31. August bis 4. September 1949 in Bochum, hrsg. vom Generalsekretariat des Zentralkomitees der Deutschen Katholikentage, Paderborn 1949, S. 507 f. 86 Kogon sprach sich für den Ausschluss der Kommunisten aus, weil sie im Grunde die Menschenrechte ablehnten. Eugen KOGON, Das werdende Europa, in: Gerechtigkeit schafft Frieden (Anm. 85), S. 508 f. Über Walter Ferber siehe CHENAUX, Une Europe Vaticane? (Anm. 8), S. 294. 87 Entschließung, in: Gerechtigkeit schafft Frieden (Anm. 85), S. 513 f. 88 CHENAUX, Une Europe Vaticane? (Anm. 8), S. 96-101. 89 Karl Heinz GRENNER, Katholikentage im Ruhrgebiet. Ein Blick zurück und auf die Gegenwart, Essen 1968, S. 32-37,68-78. 90 Antonius LIEDHEGENER, Katholisches Milieu in einer industriellen Umwelt am Beispiel Bochum. Strukturen und Entwicklungslinien 1830-1974, in: Politische Zäsuren und gesell-
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beiterschaft war seit Jahren dem Episkopat gegenüber skeptisch eingestellt, weshalb diesem auf dem Katholikentag geringere Einflussmöglichkeiten zugebilligt wurden91. Diese lokalen Besonderheiten spielten in der Organisation des Katholikentags von 1949 eine wichtige Rolle, und in den Augen des deutschen Episkopats sollte die Einstellung des Bochumer Katholikentags gegenüber dem Prozess der europäischen Einigung nur ein „Zwischenfair • 92
sem . Zweitens lässt sich diese Wende möglicherweise auch auf den Einfluss des Heiligen Stuhls zurückfuhren, der 1948 unter dem Druck des Kalten Krieges begann, die Errichtung europäischer Strukturen aktiv zu unterstützen. Papst Pius XII. förderte den Aufbau Europas auf der Grundlage geistiger Werte, lehnte es jedoch ab, Katholizismus mit europäischer Kultur gleichzusetzen. Mit anderen Worten: Der Heilige Stuhl unterstützte den Aufbau Europas zur Abwehr des Kommunismus, weigerte sich aber gleichzeitig, sich mit Kapitalismus oder Liberalismus zu identifizieren. Pius XII. befürwortete den Zusammenschluss kontinentaler Mächte unter Ausschluss Großbritanniens in einer Art supranationaler Organisation, die dennoch die kulturelle Tradition jeder einzelnen Nation zu respektieren habe93. Dirks' und Kogons Ideen eines säkularen Europa dienten der Politik des Vatikan insofern, als sie zumindest eine Alternative zu der unter den Katholiken vorherrschenden Auffassung des Aufbauwerks Europa darstellten. Ebenso sollte die Unterstützung des Heiligen Stuhls für Adenauers Europapolitik entscheidend das ralliement vieler Katholiken mit Adenauer in den fünfziger Jahren erklären. Der Vatikan war sich über die Schwierigkeiten beim Aufbau Europas hinreichend im Klaren, um die Vorstöße von Adenauer, Schuman und De Gasperi zu unterstützen94. Er hätte den Aufbau eines politischen Europa anstelle eines wirtschaftlichen vorgezogen, war aber gleichzeitig der Ansicht, dass dieses Einigungswerk von unten nach oben und nicht von oben nach unten erfolgen sollte. Demzufolge konnte der Heilige Stuhl sich letztlich weder mit der Idee eines „Donau-Europa" noch mit der schaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, hrsg. von Matthias Frese und Michael Prinz, Paderborn 1996, S. 545-595, hier: S. 584-588. 91 Der Episkopat wurde durch die „Eigendynamik" des Bochumer Katholikentags alarmiert und veröffentlichte ein Memorandum zur „Koordinierung der Laienarbeit unter der hierarchischen Führung": Thomas GROSSMANN, Zwischen Kirche und Gesellschaft. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken 1945-1970, Mainz 1991, S. 64. 92 Karl FORSTER, Deutscher Katholizismus in der Adenauer-Ära, in: Konrad Adenauer und seine Zeit, Bd. 2 (Anm. 71), S. 488-520, hier: S. 502 f. 93 Philippe CHENAUX, Der Vatikan und die Entstehung der europäischen Gemeinschaft, in: Die Christen (Anm. 2), S. 97-124, hier: S. 102-109. 94 Hans-Peter SCHWARZ, Adenauer. Der Staatsmann: 1952-1967, Stuttgart 1991, S. 7-222, 285-307. Raymond POIDEVIN, Robert Schuman zwischen Staatsräson und europäischer Vision, in: Die Christen (Anm. 2), S. 229-235. Pietro PASTORELLI, Die Europapolitik von Alcide de Gasperi, in: Ebd., S. 203-228. CHENAUX, Vatikan (Anm. 93), S. 109-119.
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Idee von Europa als „drittem Weg" identifizieren. Auf der einen Seite sah er im Aufbauwerk Europas eine auf Verteidigung ausgerichtete Einheit, widersetzte sich aber dem Versuch, diejenigen auszuschließen, die nicht die gleichen kulturellen Werten teilten. Auf der anderen Seite konnte er dem Aufbau Europas auf der Grundlage sozialistischer und säkularer Ideen auch nicht zustimmen95. Vor allem jedoch war der Vatikan offenbar genauso wie Adenauer der Auffassung, dass es nach Yalta keine Sonderrolle Deutschlands zwischen West und Ost mehr geben konnte. *
Die Analyse hat gezeigt, dass es in der Zeit von 1945 bis 1949 zwei entgegengesetzte Hauptkonzepte von Europa gab, die das Kräfteverhältnis innerhalb des politischen Katholizismus während der Weimarer Republik abbildeten und Adenauers Vorstellung in Frage stellten. Die Idee eines „Donau-Europa", die von Otto von Habsburg sowie der Zeitschrift Neues Abendland und der Wochenzeitung Rheinischer Merkur vertreten wurde, beruhte auf dem Glauben, dass den Deutschen eine Sonderrolle im geeinten Europa zukomme, weil sie eine besondere Auffassung vom Staat zwischen westlichem Liberalismus und östlichem Sozialismus verträten. Das entsprach im Grunde einer Erweiterung der großdeutschen Idee einer deutschen Einigung. Sie basierte vor allem auf der utopischen Vorstellung, das Habsburgerreich wieder zu beleben. Diese Idee war insofern tief in der Vergangenheit verankert, als sie eine Rückkehr zur mittelalterlichen christlichen Struktur Europas bedeutete. Im Gegensatz dazu ging die Idee von Europa als „drittem Weg", die von den Frankfurter Heften vertreten wurde, davon aus, dass die „Stunde Null" von 1945 eine Chance zum politischen Aufbau Europas darstelle. Die Frankfurter Hefte erkannten die Säkularisierung Europas seit der Reformation an und sprachen sich für Pluralismus als gemeinsame Grundlage der europäischen Gesellschaften aus. Einheit sollte somit eher auf politischer als auf geistiger Ebene verwirklicht werden. Oder anders ausgedrückt: Der christliche Glaube allein wurde nicht für stark genug erachtet, um die Einheit zu schaffen, so wie das im Mittelalter der Fall gewesen war. Die Frankfurter Hefte sahen in den beiden Weltkriegen ein Zeichen dafür, dass das neue Europa nicht auf dem Kapitalismus aufbauen sollte. Sie traten vielmehr für die Gründung einer neuen europäischen Gesellschaft ein, in der die Einheit durch eine supranationale politische Organisation auf der Grundlage des Sozialismus gewährleistet würde96. 95
MAYEUR, P i e X I I (ANM. 12), S. 4 1 9 - 4 2 1 .
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CHENAUX, Europe (Anm. 33), S. 81-84.
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Insgesamt gesehen kann das Jahr 1945 nicht als Bruch betrachtet werden. Dagegen bedeutete das Jahr 1949 den Beginn einer Wende in der Haltung vieler führender deutscher Katholiken zum Aufbau eines geeinten Europas. Diese Wende folgte im Wesentlichen nicht Dirks' und Kogons Vorstellungen, die jedoch eine wichtige Rolle als Alternative zur Idee des Abendlands gespielt hatten. Die Frankfurter Hefte verteidigten weiterhin den Standpunkt einer Minderheit, ohne sich in den darauf folgenden Jahren im deutschen politischen Katholizismus durchsetzen zu können. Die offene Opposition der Frankfurter Hefte zu Adenauer nach 1949 sollte sogar zu einem bedeutenden Rückgang der Zahl der Abonnenten führen97. Erst nach dem Ende der Adenauer-Ära gewannen Dirks' und Kogons sozialistische Ideen in der Bundesrepublik zunehmenden Einfluss98. Vor allem lässt sich die Wende des Jahres 1949 als Beleg für die Integration der katholischen Eliten in die „westlichen politischen Werte" während der Adenauer-Ära interpretieren: Die AdenauerÄra bot die Rahmenbedingungen für einen langsamen, aber stetigen Wandel in der Einstellung vieler führender Persönlichkeiten des katholischen Lebens gegenüber einer pluralistischen Gesellschaft. Auf diese Weise hat die Kanzlerschaft Adenauers Änderungen im politischen Bewusstsein der deutschen Katholiken im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils vorbereitet.
Summary In the period from 1945 to 1949, two main conceptions of European unity challenged Adenauer's own visions. Firstly, the idea of a „Danubian" Europe which was advocated by Otto von Habsburg and promoted in the Neues Abendland and Rheinischer Merkur. Secondly, the idea of a "third way" for Europe which was laid out in the Franltfurter Hefte by Eugen Kogon and Walter Dirks. Otto von Habsburg promoted his idea of a Danubian Europe in the belief that German speaking countries had a specific part to play in uniting Europe because of their own mediating function between Western liberalism and Eastern socialism. Habsburg's conception was profoundly rooted in the past insofar as it promoted the return to a period before the 97
Tatsächlich fiel die Auflagenhöhe nach der Währungsreform von 75.000 auf 20.000. Gottfried ERB, Vorwort, in: Eugen KOGON, Europäische Visionen, hrsg. von Michael Kogon und Gottfried Erb (Gesammelte Schriften, Bd. 2), Weinheim/Berlin 1995, S. 13. 98 Martin VOGT, Eugen Kogon, in: Hessische Streiflichter: Beitrage zum 50. Jahrestag des Landes Hessen, hrsg. von Klaus Böhme und Walter Mahlhausen, Frankfurt a. M. 1995, S. 183-190 hier: S. 188 f. Siehe auch Eugen KOGON, Die unvollendete Erneuerung. Deutschland im Kräftefeld 1945-1963, Frankfurt a. M. 1964.
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Reformation, when unity was predicated on a common faith. In contrast, the Frankfurter Hefte promoted the idea of Europe as a third way between Liberalism and Communism in the belief that the "Stunde Null" of 1945 was an opportunity to build Europe anew. The Frankfurter Hefte acknowledged the secularisation of Europe which had taken place since the Reformation and accepted pluralism as a common basis of European societies. Unity, then, was to be found at the political level rather than at the spiritual level. The Frankfurter Hefte gathered mainly Catholic intellectuals whereas Habsburg's current benefitted from the German episcopate's support and was predominant in the early post-war years. It only declined in importance from 1949 onwards with the successful integration of the Bundesrepublik into the Western Bloc and thus into the political tradition of the West. While 1945 cannot be seen as a decisive break, the year 1949 marked the beginning of a real change in the attitudes of prominent German Catholics towards the building of a united Europe.
Die deutsch-sowjetischen Historikerkolloquien in den Jahren 1972-198 Γ Ein Erfahrungsbericht Von
Karl Otmar Freiherr von Aretin Im Oktober 1968 wurde ich zum Direktor der Abteilung Universalgeschichte des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz ernannt. Zu dieser Zeit waren bereits Historiker aus der Tschechoslowakei und aus Polen als Stipendiaten im Institut - die Tschechen häufig nur zwei, drei Monate, in denen sie sich mit der ihnen in ihrer Heimat unzugänglichen westlichen Literatur geradezu vollsogen1. Die DubCek-Ära lag bereits hinter ihnen. Ich bewunderte den Mut dieser jungen Wissenschaftler, die fest davon überzeugt waren, dass die Ära der kommunistischen Diktatur in ihrer Heimat zu Ende war. Dann wurde uns jedoch berichtet, dass die aus Mainz zurückkehrenden jungen Historiker ihre Stellung an der Prager Akademie der Wissenschaften und an den tschechoslowakischen Universitäten verloren. Auf der Liste derjenigen Einrichtungen in Europa, deren Besuch bei den dortigen Behörden als Belastung angesehen wurde, stand das Institut für Europäische Geschichte obenan. Wir hatten zur Kenntnis zu nehmen, dass die Tatsache, dass jemand ein Stipendium im Mainzer Institut erhalten hatte, dazu führte, dass seine wissenschaftliche Karriere beendet war. Zu eben dieser Zeit froren auch die bis dahin recht lebhaften Beziehungen zu polnischen Historikern ein. Auch hier wurde es zur Belastung, einmal Stipendiat des Instituts gewesen zu sein2. Von daher stellte sich die Frage nach dem Sinn der Förderung junger Historiker durch das Institut, wenn diese Förderung zu Verfolgungen und dazu führten, dass diese ihre wissenschaftliche Karriere beenden mussten. Die letzten Stipendiaten aus Polen und der Tscheschoslowakei beschworen mich geradezu, mit der Förderung osteuropäischer Historiker fortzufahren, weil das „das einzige Fenster zur freien Welt" sei, das sie nutzen könnten. Ich war mir im Klaren, dass eine ähnliche Entwicklung wie in der Tschechoslowakei in jedem Land der sowjetischen Einflusszone jederzeit möglich war. Wenn also das Institut seine Öffnung nach Osten weiter betreiben wollte, dann * Die Darstellung stützt sich auf die im Institut fttr Europäische Geschichte aufbewahrten Akten und Korrespondenzen. 1 Zwischen 1963 und 1970 waren 20 tschechische und slowakische Stipendiaten im Institut. 2 Insgesamt sind 36 polnische Stipendiaten im Institut gewesen.
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musste ein Weg gefunden werden, um solche fatalen Entwicklungen auszuschließen. 1969 besuchte mich der ungarische Historiker György Ránki, mit dem ich das Problem offen besprach, obwohl ich wusste, dass Ránki Mitglied der Ungarischen Kommunistischen Partei war. Er räumte ein, dass eine Entwicklung wie in der Tschechoslowakei auch in Ungarn jederzeit möglich sei. Auch Ránki beschwor mich geradezu, weiter Stipendien an osteuropäische Stipendiaten zu vergeben. Er versprach mir, aus Ungarn nur echte Historiker und keine Apparatschiks zu schicken. Wäre er gezwungen, einen reinen Funktionär vorzuschlagen, würde er mir das mitteilen. Auch Ránki benutzte die Metapher vom „Fenster zur freien Welt". Ihm leuchtete meine Idee einer Zusammenarbeit mit sowjetischen Historikern ein, auch wenn er nur geringe Aussichten zum Erfolg sah. Ich hatte 1965 an Stelle von Eugen Kogon zusammen mit Hans-Adolf Jacobsen, Helmut Krausnick und Karl Dietrich Erdmann auf Einladung der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften an der Konferenz zum 20. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg teilgenommen und dabei Verbindungen mit einigen sowjetischen Kollegen, unter anderem mit Bezymenskij, angeknüpft, die nun von Wert sein konnten. Am 13. November 1969 hielt der russische Historiker Michail SergeeviC Voslenskij im Institut einen Vortrag über die UdSSR und die Frage der europäischen Sicherheit. Sein Auftreten war aber so, dass ich nicht wagte, mit ihm das Problem zu besprechen. Auf dem Internationalen Historikerkongress in Moskau 1970 bat ich meine Mitarbeiter, die ebenfalls an der Konferenz teilnahmen und von denen Claus Scharf die russische Sprache beherrscht, zu sondieren, ob hier nicht Verbindungen anzuknüpfen wären. Ich drang mit Scharf bis zur stellvertretenden Ministerin für mittlere und höhere Volksbildung vor, die uns mit unserem Vorschlag, ob wir nicht einen Austausch junger deutscher und sowjetischer Historiker über das Institut für Europäische Geschichte organisieren könnten, wohl für total verrückt hielt. Diese Bemühungen waren insgesamt ein Fehlschlag. Ich kam zwar auf eine etwas abenteuerliche Weise in Verbindung mit einem Kreis offenbar dissidierender russischer Wissenschaftler. An einem Abend fand ich in meiner Tasche einen Zettel mit einer Adresse vor, wo man mich am nächsten Tag erwarten würde. Er war mir offenbar bei einem Empfang in der deutschen Botschaft zugesteckt worden. Ich traf diese Gruppe, doch wurde meine Idee, junge sowjetische Historiker nach Mainz einzuladen, zwar begrüßt, aber für wenig aussichtsreich gehalten. Auf diesem Empfang erneuerte ich auch eine Bekanntschaft, die mir damals sehr vielversprechend erschien, die sich aber im Ergebnis ebenfalls als wenig hilfreich erwies. Professor Michail Voslenskij, damals Sekretär der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, fragte mich, ob ich es auf meiner Suche nach einem russischen Stipendiaten nicht mit ihm versuchen wollte: Ich nahm das allerdings nicht ganz ernst.
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Das Problem der Beziehungen deutscher und sowjetischer Historiker bekam durch Theodor Schieder im März 1972 eine neue Richtung. Schieder erzählte mir von den Bemühungen des Sowjetischen Nationalkomitees, wissenschaftliche Gespräche mit westdeutschen Historikern zu organisieren. Es liege seit Dezember eine Einladung an ihn als den Vorsitzenden des Verbandes der Historiker Deutschlands und an Herrn Erdmann als Vizepräsidenten des Internationalen Historikerverbandes vor. Schieder kannte meine Bemühungen um Beziehungen zur sowjetischen Seite und fragte mich, ob ich nicht an seiner Stelle nach Moskau fahren wolle. Er schlug mich im März 1972 dann tatsächlich vor, wobei er mich in dem Schreiben an die Generalsekretärin des Nationalkomitees, Frau Ilinklina, als Direktor des Instituts für Europäische Geschichte vorstellte, „das bei dem vorgesehenen Besuch russischer Kollegen für das Jahr 1973 sich als gastgebendes Institut zur Verfugung gestellt hat". Die Einladung des Nationalkomitees traf Mitte Mai 1972 ein. Bereits am 29. Mai flogen Erdmann und ich nach Moskau. Erdmann hatte eine etwas heikle Mission. Der Internationale Historikerverband (CISH) hatte beschlossen, einen sowjetischen Historiker zum Präsidenten zu wählen. Die Russen hatten den Präsidenten des Nationalkomitees Evgenij ¿ukov vorgeschlagen, ¿ukov war ein reiner Apparatschik, und Erdmann hatte den Auftrag, den Russen diesen Vorschlag auszureden. Erst wollte Erdmann allein in das Nationalkomitee gehen. Ich bot mich aber als Zeuge an, weil diese Unterredung ja doch etwas heikel sei. Die Verhandlungen dauerten am 1. Juni über zwei Stunden. Ich erlebte Erdmanns staunenswerte diplomatische Fähigkeiten, mit denen er mit größter Höflichkeit den Russen klar machte, dass er ¿ukov für unfähig halte3. Die Russen ließen sich allerdings ¿ukov nicht ausreden, und Erdmann war entsprechend verärgert. Am Nachmittag war dann die Besprechung über das erste deutsch-sowjetische Historikertreffen angesetzt. Erdmann war so verstimmt, dass er meinte, wir sollten das Gespräch platzen lassen. Das war nun nicht mein Interesse. Ich wollte ja zu einem Ergebnis kommen. So gelangten diese Verhandlungen, die Erdmann mir überließ, in der Tat sehr schnell zum Erfolg. Ich akzeptierte zum Missvergnügen Erdmanns als Thema einen sowjetischen Vorschlag, der der sowjetischen Chronologie entsprach. 1973 oder 1974 sollte im Institut für Europäische Geschichte in Mainz ein dreitägiges Kolloquium mit dem Oberthema „Deutschland und Rußland im Zeitalter des Kapitalismus 1871-1917" stattfinden. Die Abmachungen waren sehr konkret. An jedem Vormittag sollte je ein deutscher und ein sowjetischer Historiker sprechen. Der Nachmittag sollte der Diskussion vorbehalten bleiben. Der jeweilige Verband trug die Kosten Das handschriftliche Protokoll dieser Sitzung liegt im Archiv des Instituts für Europäische Geschichte. Es ist ein Genuss, es zu lesen. 3
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für bis zu sieben Wissenschaftler. Daneben konnte auf Kosten des eigenen Landes eine Gruppe von bis zu 25 Personen an den Diskussionen und Exkursionen teilnehmen. Bereits am 22. Juni 1972 erging auf dieser Basis eine Einladung an das sowjetische Nationalkomitee, obwohl Erdmann Theodor Schieder ein bisschen vor meinem „Übereifer" gewarnt hatte. Als Termin war der Oktober 1973 vorgesehen. Da die Frage der Finanzierung offen war, besprach ich dieses Problem mit dem damaligen rheinland-pfälzischen Kultusminister Bernhard Vogel, der einen Zuschuss zusagte und auch das Auswärtige Amt um einen solchen angehen wollte. Es war ja die Zeit der sozial-liberalen Koalition und der von ihr betriebenen Ostpolitik. Die Vorbereitung des Treffens war von Schieder einer Gruppe übertragen worden, in der insbesondere Günther Stökl und der Mainzer Osteuropahistoriker Gotthold Rhode eine wichtige Rolle spielten. Im Herbst 1972 wurde auf dem Deutschen Historikertag in Regensburg ein neuer Vorstand gewählt. Werner Conze wurde Vorsitzender und ich Schriftführer. Ich berichtete Conze von den Vorbereitungen des ersten deutsch-sowjetischen Historikertreffens. Er war anfangs skeptisch. Ich überzeugte ihn aber mit dem Argument, dass diese Beziehungen geeignet wären, die insbesondere in Hessen unter dem Kultusminister Ludwig von Friedeburg betriebenen Maßnahmen gegen das Fach Geschichte zu konterkarieren. Die dortigen Vorschläge in den Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre vereinigten die Fächer Geographie, Geschichte, Politik und Soziologie zu einem einzigen Fach. Die Geschichte wurde hierbei zur Beispielsammlung für irgendwelche Theorien degradiert. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Tatsache, dass Historiker im Sinn der Ostpolitik Gespräche mit sowjetischen Kollegen veranstalteten, seine Wirkung auf den hessischen Kultusminister nicht verfehlen würde. Ich habe damit auch Recht behalten, und die Rahmenrichtlinien verschwanden nach einigen Jahren heftigster Diskussionen, bei denen mir Ulrich Muhlack von der Universität Frankfurt wertvolle Hilfe leistete. Ich hatte damals sogar einen Arbeitskreis organisiert, in dem wir versuchten, dem Unfug der Rahmenrichtlinien durch einen Gegenentwurf zu steuern. Conze sah diese Strategie ein und stellte sich ganz hinter das Projekt der deutsch-sowjetischen Historikergespräche. Das erste derartige Kolloquium fand in den Räumen der Mainzer Akademie der Wissenschaften vom 14. bis 21. Oktober 1973 statt4. Dieses erste deutsch-sowjetische Historikertreffen ist 4
Die Russen waren, weil die Aeroflot Frankfurt nur samstags anflog, bereits einen Tag früher eingetroffen. Ich lud sie daher am Sonntagnachmittag zu mir nach Hause ein. Das Gespräch war mangels Sprachkenntnissen etwas mühsam, bis einer der russischen Herren auf die Idee kam, das Femsehen einzuschalten, wo gerade das Fußballänderspiel Deutschland-Frankreich übertragen wurde. Die russischen Kollegen kannten alle deutschen Spieler
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bei mir, was den wissenschaftlichen Ertrag auf sowjetischer Seite betrifft, als das ergiebigste in Erinnerung geblieben. Von sowjetischer Seite hinterließen die Vorträge von I. D. Koval'ôenko, „Die Agrarverhältnisse und die Bauernbewegung in Rußland am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts", und von V. I. Bovykin, „Probleme der industriellen Entwicklung Rußlands", den nachhaltigsten Eindruck. Von deutscher Seite waren es die Vorträge von Wolfgang Zorn, „Industrialisierung und soziale Mobilität in Deutschland 1861-1914", und von Andreas Hillgruber, „Die deutsch-russischen politischen Beziehungen (1887-1917). Grundlagen, Grundmuster, Grundprobleme", die besondere Beachtung fanden. Vier Tage lang diskutierten Historiker, deren wissenschaftliche Methoden kaum gegensätzlicher sein konnten, mit ausgesuchter Höflichkeit miteinander. Die Verschiedenheit der Ansätze und Überzeugungen wurde dabei nicht verschwiegen, ja die Diskussionen waren das Interessanteste an der Tagung. Ich hatte Recht behalten. Alle wichtigen Zeitungen berichteten ausfuhrlich über die Tagung. Immanuel Birnbaum gab in der Süddeutschen Zeitung eine eingehende Analyse. Im Grunde waren es sachliche Berichte, wobei es sich die Frankfurter Rundschau nicht verkneifen konnte, den Historikern ein Anbiedern an die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition vorzuwerfen. Ich konnte mit diesem Echo mehr als zufrieden sein. Tatsächlich hat sich auch das Klima bei den Beratungen um die Rahmenrichtlinien damals versachlicht. Die Historiker wurden nicht mehr als Reaktionäre behandelt! Am letzten Tag der wissenschaftlichen Gespräche kam es zu einem ärgerlichen Zwischenfall. Conze, Erdmann und ich und auf sowjetischer Seite Naroönickij, Koval'öenko und Cistozvonov hatten eine Abschlusserklärung formuliert, in der es um den Austausch von Schulbüchern, die Fortsetzung der Gespräche und um die Verpflichtung ging, die Kolloquiumsbeiträge zu drucken. Bevor es zur Unterschrift kam, erklärte mir NaroCnickij, er könne das nicht unterschreiben. Der Name „Verband der Historiker Deutschlands" unter der Unterschrift von Conze desavouiere die Historiker der DDR. Erdmann und Conze meinten in einer kurzen Besprechung am Abend, wir könnten uns ja von den Russen den Namen unseres Verbandes nicht vorschreiben lassen. Für den folgenden Tag war ein Besuch im Karl-Marx-Haus in Trier vorgesehen. Weil ich wusste, welchen Wert die Russen gerade auf diesen Besuch legten, bat ich am nächsten Vormittag zu einem Gespräch. Erdmann und Conze waren fest entschlossen, hart zu bleiben. Ich konnte am Morgen noch kurz Cistozvonov sprechen, der mir signalisierte, dass NaroCnickij in großen Nöten sei. Er würde gerne unterschreiben, aber der mitgereiste Kommissar erlaube das nicht. Mein Vorschlag war, unter die Unterschrift von Conze nicht „Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands" zu und verfolgten das Spiel mit einer Begeisterung, die kaum zu übertreffen war.
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schreiben, sondern nur seinen Namen. Das empfahl sich schon deshalb, weil der Leiter der sowjetischen Delegation NaroCnickij keine Funktion im sowjetischen Nationalkomitee hatte. Cistozvonov meinte, diese Variante solle man ausloten. Ich ließ erst einmal Erdmann und NaroCnickij den Streit ausfechten, bis ich mit meinem Vorschlag herauskam, der rasch akzeptiert wurde. Die beiden Russen konnten dann in einem gemieteten Privatwagen den anderen nach Trier hinterherfahren5. Zur selben Zeit betrieb - was ich nicht wusste - Ministerialrat Dr. Berger vom Bundesministerium fur Forschung und Technologie die Gründung eines deutsch-sowjetischen historisch-sozial wissenschaftlichen Arbeitskreises, der die Vorarbeit fiir ein in Aussicht genommenes Institut in Moskau leisten sollte. Die Vorstellungen Dr. Bergers gingen aber eher auf ein Institut für Sozialwissenschaften. Ich dagegen versuchte, die Pläne an das Institut fiir Europäische Geschichte zu ziehen. Sie sind aber, nachdem Dr. Berger Kanzler der TU Berlin geworden war, nicht weiter verfolgt worden. Auch wenn das Echo auf die Mainzer Tagung in der Öffentlichkeit insgesamt gesehen positiv war, gab es doch insbesondere bei Osteuropahistorikern Stimmen, die sich kritisch äußerten. Es war die Zeit, in der die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition heftig im Streit der Parteien diskutiert wurde. Einige Kollegen warfen mir in meinen Bemühungen um den Aufbau von Beziehungen deutscher und sowjetischer Historiker Naivität vor. Von ihrem Standpunkt aus, da sie seit langem die Politik der Sowjetunion untersuchten, konnte ich das sogar verstehen. Sie fühlten sich auch nicht ganz zu Unrecht übergangen. Mir war es aber in erster Linie um den Schutz von Stipendiaten aus den Ostblockländern gegangen. Tatsächlich kamen nun wieder Stipendiaten aus Polen, Rumänien und Ungarn nach Mainz6. Die Verbindung zur Tschechoslowakei blieb allerdings unterbrochen. 5
Einige Besonderheiten dieses ersten Treffens sind mir noch in Erinnerung. Wir hatten den einzelnen russischen Kollegen Tagegelder für die Verpflegung gegeben. Zu meinem Erstaunen entschuldigten sie sich jedesmal für die Mittagspause. Wie ich dann feststellte, aßen die Herren mitgebrachte Stullen, weil besagter Kommissar sofort die Devisen eingesammelt hatte. Die Teilnehmer waren an einem Abend zur Sektkellerei Kupferberg eingeladen. Peter Scheibert riet mir, die Dolmetscher zu entlassen, weil er das, was da zu übersetzen wäre, gerne selber übernehmen würde. Als der Kellermeister des Hauses Kupferberg uns die Herstellung von Sekt in allen Details erklärte, kam der arme Scheibert in ziemliche Nöte. Nach reichlichem Sektgenuss legten zwei russische Kollegen einen Tanz hin, dass die Wände wackelten. Kultusminister Vogel überreichte beim Empfang des Kultusministeriums jedem Teilnehmer das kleinste gedruckte Buch. Das war zwar eine Besonderheit der Gutenbergstadt Mainz. Günther Stökl amüsierte sich aber darüber, dass der Text dieses Miniaturbüchleins das Vaterunser war. Es herrschte insgesamt eine lockere Atmosphäre bei dieser ersten Tagung, und die Teilnehmer, die ich später in Moskau traf, bestätigten mir, dass die Mainzer Tagung bei ihnen in höchst angenehmer Erinnerung war. 6 Durch das Institut für Europäische Geschichte wurden insgesamt 23 ungarische, 7 rumänische, 36 polnische, 18 jugoslawische und 6 bulgarische Historiker gefördert. Der niederländische Historiker Hermann von der Dunk, 1957/58 Stipendiat, dann Assistent und
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In meinen Verhandlungen über die hessischen Rahmenrichtlinien kam ich insofern weiter, als die von mir gebildete Gruppe in dieser Zeit einen Gegenentwurf ausarbeitete und dem Ministerium vorlegte. Der Nachfolger von Kultusminister von Friedeburg, Minister Krollmann, berief nach einem Gespräch mit mir, in dessen Verlauf er sich intensiv nach dem Mainzer Kolloquium erkundigte, eine Gruppe zur Überarbeitung der Rahmenrichtlinien, in die die Teilnehmer der von mir geleiteten Gruppe berufen wurden. Ein Zusammenhang zwischen dieser Entscheidung und dem Mainzer Kolloquium ist natürlich schwer zu belegen. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass ein solcher bestand. Am Ende der Mainzer Tagung schlug Naroönickij als Thema für die nächste, für 1975 in Russland vorgesehene Konferenz „Deutschland und Russland 1918-1933" vor. In der Schlusserklärung war von einer Öffnung der Archive in Deutschland und der Sowjetunion fur deutsche und russische Historiker die Rede. Ich ergriff die Gelegenheit und bat Naroönickij, er möge mir den Zugang zu den sowjetischen Archiven verschaffen. Ich wollte die Berichte des russischen Gesandten im Reich Nikolaj Petroviô Graf Rumjancev ansehen, der zwischen 1782 und 1796 in Frankfurt am Main residierte. Er bat mich, ihm in einem Brief die genauen Daten zu schicken. Das tat ich und erhielt 1974 eine Einladung. Ich konnte tatsächlich wenigstens einen Teil der Berichte in Moskau einsehen. Bei diesem Aufenthalt im Juni 1974, bei dem auch das zweite deutsch-sowjetische Historikertreffen vorbereitet wurde, konnte ich auf Einladung der Akademie zwei Tage nach Armenien, nach Eriwan, fliegen7. Mit der Öffnung der russischen Archive war es aber dann doch nicht weit her. Dietrich Geyer, der Akten aus dem 19. Jahrhundert einsehen wollte, wurde die Genehmigung verweigert. Auch meine Benutzung der RumjancevBerichte war nicht einfach. Ich durfte insgesamt nur eine geringe Zahl von Fotokopien bestellen. Auch bekam ich nur die Berichte zu sehen, die Rumjancev in Frankfurt geschrieben hatte. Ich hatte als seinen Standort Frankfurt am Main angegeben, so dass der entsprechende Teil der Korrespondenz aus langjähriges Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts, hat daher in seiner Ansprache zur 50-Jahr-Feier des Instituts mit Recht betont, dass die wissenschaftlichen Beziehungen des Instituts zu Osteuropa bereits vor der Ostpolitik des Kabinetts Willy Brandt begannen. 7 Dies war eine besondere Freundlichkeit. Cistozvonov hatte, wie er mir erzählte, in einem alten Brockhaus gelesen, dass die Familie Aretin von armenischen Kleinfttrsten abstamme. Dieser kurze Besuch war insofern sehr aufregend, weil ich an dem Tag eintraf, an dem die armenische Akademie den 1500. Jahrestag der Erfindung der armenischen Schrift feierte. Dass ich das anschließende Fest, bei dem der armenische Kognak überreichlich floss, überstand, verdanke ich dem sehr gut deutsch sprechenden Präsidenten der Armenischen Akademie der Wissenschaften, der mich unter dem Tisch mit einer in Kognakflaschen abgefüllten Limonade versorgte, die farblich von dem echten Kognak nicht zu unterscheiden war.
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einem großen, gebundenen Konvolut für mich herausgelöst worden war. Diese Berichte zeigten, dass ich mit meiner Vermutung recht hatte, dass in diesen Berichten interessante Hintergrundinformationen vorhanden sind8. Bei meinem Aufenthalt in Moskau wurde intensiv über das für Frühjahr 1975 vorgesehene deutsch-sowjetische Historikergespräch verhandelt9. Als ich den sowjetischen Kollegen Grüße des Akademiesekretärs Michail Sergeeviö Voslenskij, der sich damals als Stipendiat im Mainzer Institut aufhielt, ausrichtete, wurde die Stimmung eisig. Ein sowjetischer Kollege bat mich auf den Gang, wo er mir dringend riet, nie mehr den Namen Voslenskij zu erwähnen. Die Akademie habe inzwischen sichere Erkenntnisse, dass sich dieser über das Institut in den Westen abgesetzt habe. Tatsächlich ist Voslenskij wenig später durch sein Buch „Nomenklatura", in dem er die Verhältnisse in der Sowjetunion schonungslos kritisierte, bekannt geworden. So hatten wir in Mainz mit unserem ersten sowjetischen Stipendiaten kein Glück. Ich erhielt als Begleiter, der mit mir auch in Armenien war, den Byzantinisten Igor Sergeeviö Ciôurov. Er ist dann 1976/77 der nächste sowjetische Stipendiat geworden. Nach seinem Aufenthalt bei uns erhielt er einen Lehrauftrag für Byzantinistik an der Universität München. Die Verhandlungen über das zweite deutsch-sowjetische Historikertreffen konnten zu einem guten Abschluss gebracht werden. Als Termin wurde der 1 . 7. April 1975 bestimmt. Als Thema wurde, wie schon in Mainz vereinbart, „Die Sowjetunion und Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik" festgelegt. Das Institut für Europäische Geschichte war in die Vorbereitungen eingeschaltet. Ich hatte in Moskau ausgemacht, dass die Referate vorher verschickt und in Moskau ins Deutsche, in Mainz ins Russische übersetzt werden sollten. Die russischen Referate trafen bis auf eines am 5. März in Mainz ein und konnten von fünf Übersetzerinnen fristgerecht übersetzt werden, so dass die
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Ich habe das Ergebnis dieser allerdings doch recht einseitigen Studien in einem Aufsatz, Die Mission des Grafen Rumjancev im Reich 1782-1797, in: Karl Otmar von ARETIN, Das Reich. Friedensordnung und europäisches Gleichgewicht 1648-1806, Stuttgart 1986, S. 337-352, zusammengetragen. Eine Bearbeitung der russischen Reichspolitik unter Katharina II. auf der Basis der Berichte der russischen Gesandten in Wien, Fürst Dmitrij Michajloviö Golicyn und Graf Rumjancev, wäre sehr lohnend für einen Historiker, der die russische Sprache beherrscht. 9 Mein Aufenthalt begann mit einem Missverständnis Am Flughafen stand der deutsche Botschafter Sahm, der Bischof Lilje abholen wollte. Er bot mir an, mich mitzunehmen. An dem anderen Ausgang warteten jedoch - was ich nicht wusste - zwei sowjetische Historiker, um mich in Empfang zu nehmen. Die nächste Panne war, dass unsere Pässe verwechselt wurden, so dass ich im Gästehaus der Akademie als Bischof Lilje dastand. Mit Hilfe eines Mitarbeiters der Lufthansa, der zufällig vorbeikam, fand ich wieder in die Residenz des Botschafters zurück. Ich traf dort auf einen höchst aufgeregten Bischof Lilje, der offensichtlich wenig Gefallen daran hatte, in Moskau als bayerischer Baron aufzutreten. Am nächsten Tag hatte ich Mühe, mich vor den sowjetischen Kollegen von dem Verdacht zu reinigen, ich hätte sie ausgetrickst.
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deutsche Delegation gut vorbereitet nach Leningrad reisen konnte. Die deutsche Delegation bestand aus den Professoren Hillgruber, Erdmann, Hildebrand, Neubauer, Geyer, Rhode, Nipperdey, Wolfgang Mommsen, sowie den Herren Dr. Beitel und Nötzold vom Institut in Ebenhausen, die gemeinsam einen Vortrag über „Die deutschen Wirtschaftsbeziehungen 1918-1932 unter besonderer Berücksichtigung des technologischen Transfers" vorbereitet hatten. Insgesamt wurden Vorträge von sieben deutschen (Hillgruber, Hildebrand, Neubauer, Erdmann, Grieser, Geyer und Rhode) und sechs sowjetischen Historikern (Naroönickij, Kobljakow, Achtamzjan, Galkin, Frau Orlova und Fomin) gehalten. In einem Gespräch bei Naroönickij in Leningrad, an dem Conze, Erdmann und ich teilnahmen, wurde vereinbart, dass alle Vorträge der Leningrader Tagung, die deutschen und die russischen, in der Sowjetunion auf Russisch veröffentlicht würden. Jedem Autor sollte es darüber hinaus unbenommen sein, seinen Beitrag in seiner Sprache zu publizieren. Die Beiträge der Mainzer Tagung sollten möglichst noch 1975 erscheinen. Die russischen Beiträge lagen zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor. Sowohl die deutschen als auch die russischen Beiträge sollten auf Deutsch veröffentlicht werden. Am Ende machte Naroönickij den Vorschlag, als Thema der nächsten Tagung „Die deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1969 bis 1976" zu nehmen. Auf Vorschlag von Erdmann stimmte er auch einer Ausweitung von 1956 bis 1976 zu. Conze nahm dies zur Kenntnis und stellte eine Entscheidung bis Ende Juli in Aussicht. Ich war vehement dagegen, weil die ganze Frage der DDR berührt werden müsste. Dies musste zu heftigen Auseinandersetzungen fuhren, die ich gerne vermieden hätte. Erdmann war anderer Meinung. Diesmal kam es zu einem Zwischenfall, der beinahe zum Abbruch der Konferenz geführt hätte. Herr Dr. Nötzold brachte ein Zitat von Lenin. Ich hatte gerade die Diskussionsleitung, als ich bei den sowjetischen Kollegen Unruhe und Empörung feststellte. Am Abend erklärte Naroönickij Conze und mir, dass die sowjetische Delegation es als eine Provokation ansehe, dass ein deutscher Kollege ein Zitat Lenins benutzte, das den sowjetischen Wissenschaftlern unbekannt sei. Auf unsere Nachfrage erklärte Nötzold, er habe das Zitat aus einem in Stockholm aufbewahrten Briefwechsel Lenins mit einer Freundin, den er mit ihr 1917 vor Ausbruch der Oktoberrevolution von Stockholm und Helsinki geführt hatte. Diese Auskunft beruhigte die sowjetische Delegation wenig, und Erdmann, Conze und ich hatten bis tief in die Nacht hinein alle Mühe, die Wogen zu glätten. Dabei ging uns zweierlei auf: Einmal hatte Naroönickij als Organisator dieser Gespräche eine Aufgabe übernommen, die ihm unter den sowjetischen Kollegen eine Sonderstellung verlieh und die er daher, bei aller Vorsicht, auch nicht aufgeben wollte. Das zweite war die Sonderstellung von Zitaten von Marx, Engels, Lenin und Stalin. Nur sie waren für sowjetische Historiker zitierfähig. Auf sie musste man sich berufen, wenn etwas bewiesen werden sollte.
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Die Leningrader Tagung hatte einige schwierige Probleme zu bewältigen, die Frage einer Revolutionierung Deutschlands, die Fehlentscheidung Stalins in der Verurteilung der deutschen Sozialdemokratie als Sozialfaschisten und insbesondere die Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee. Die deutschen Referenten waren diesmal sehr gut vorbereitet. In dem geschichtstheoretischen Teil, den die sowjetischen Historiker immer besonders bevorzugten, ging es um die Frage, wie die internationalen Beziehungen am einfachsten zu behandeln wären. In seinem Einleitungsreferat legte Naroönickij die Richtung fest. Es sei Lenin nicht um eine Revolutionierung anderer Länder gegangen, sondern schon er habe die Koexistenz zwischen sozialistischen und kapitalistischen Ländern bevorzugt. An dieser Linie einer friedlichen Koexistenz hielt NaroCnickij auch fest, als insbesondere Fomin vom Institut fiir Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der KPdSU einige Schärfe in die Diskussion brachte. Bei der Frage, ob die sowjetische Seite 1919/20 und später eine Revolutionierung speziell Deutschlands angestrebt habe, ging es schon sehr lebhaft zu. Insbesondere bei der Behandlung von Rapallo kam es über die sovijetische, von Fomin verteidigte Deutung des Vertrags als eines Instruments für Frieden, Unabhängigkeit, Gleichberechtigung und gegenseitigen Vorteil zu heftigen Kontroversen mit Karl Dietrich Erdmann und Andreas Hillgruber. Hillgruber verbiss sich insbesondere in Stalins Fehleinschätzung der deutschen Sozialdemokratie. Auch hier war es wieder Fomin, der erregt feststellte, es sei nun einmal eine Tatsache, dass Sozialdemokraten auf Arbeiter geschossen und sich mit den Kapitalisten verbündet hätten. Besonders gereizt reagierte Fomin auf die Ausführungen Hillgrubers zur Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee. Obwohl die deutschen Historiker in allen Fragen eine sehr offene Sprache benutzten, war die Tagung, von dem anfangs genannten Zwischenfall abgesehen, der aber der Öffentlichkeit verborgen blieb, von einer erstaunlichen Diskussionsbereitschaft beider Seiten gekennzeichnet. Das Echo in den Zeitungen auch zu dieser Tagung war erfreulich lebhaft. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, die Welt und der Spiegel brachten eingehende Besprechungen. Ihr zum Teil etwas kritischer Text brachte Aleksej NaroCnickij (so unterschrieb er) zu einem in der FAZ am 27. Mai 1975 veröffentlichten Leserbrief, in dem er auch auf die in anderen Zeitungen veröffentlichten Berichte einging. Als im Herbst 1975 der Internationale Historikertag in San Francisco stattfand, war deutlich eine Veränderung der Stimmung festzustellen. Damals wurde Erdmann zum Präsidenten des Internationalen Historikerverbandes gewählt. Da Conze erkrankt war, vertrat ich ihn. Zu einer Zusammenkunft der westdeutschen Historiker kam zu meiner Überraschung auch der Vorsitzende des Historikervereins der DDR, Ernst Engelberg. Insgesamt gesehen
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waren die Gespräche mit Historikern aus den Ostblockländern erstaunlich locker. Ránki bestätigte mir, dass die Entsendung junger ungarischer Historiker nach Mainz nun auch von Seiten der Ungarischen Kommunistischen Partei positiv gesehen werde. In San Francisco gelang es mir auch, in Gesprächen mit Naroénickij diesen von seiner Idee abzubringen, beim nächsten Treffen die Jahre 1956 bis 1976 zum Thema zu machen. Es wurden zwei Themenbereiche ausgemacht: ein theoretischer - „Zur Geschichte, Theorie und Methodologie des .Historismus' bzw. die Geschichtswissenschaft in Deutschland und Rußland" - und ein historiographischer - „Europa zwischen Revolution und Restauration unter Hervorhebung der russischen und der deutschen Politik (1797-1815)". Erst nach längerem Nachbohren trafen die russischen Beiträge der Mainzer Konferenz von 1973 zur Veröffentlichung im Januar 1976 in Mainz ein. Der Druck konnte erst 1976 beginnen10. Die Veröffentlichung war deshalb wichtig, weil wir darauf dringen wollten, dass die Beiträge der Leningrader Tagimg bald erscheinen würden. Als Tagungsort des nächsten deutsch-sowjetischen Historikertreffens wurde München, als Zeitpunkt der April 1977 in Aussicht genommen. Zum Vorsitzenden des Historikerverbands wurde in Mannheim Gerhard A. Ritter gewählt. Ich war für eine weitere Amtszeit von vier Jahren als Schriftführer des Verbandes bestätigt worden. Bei den Vorbereitungen des Münchner Treffens setzte sich der neu ernannte Kulturattaché der sowjetischen Botschaft Maksimyöev besonders ein, der mich mehrfach in Mainz aufsuchte. MaksimyCev ist selbst Historiker und hatte großes Interesse, dass die Gespräche nicht abrissen. Viele Schwierigkeiten konnte ich im Dialog mit ihm überwinden. Er hat später, 1989/90, noch eine wichtige Rolle gespielt. Da die sowjetischen Historiker bei den für Herbst 1977 anberaumten Veranstaltungen zur 60-Jahr-Feier der Oktoberrevolution mitarbeiten wollten, schlugen sie eine Verschiebung des Münchner Treffens auf Frühjahr 1978 vor, konkret auf die Tage vom 13. bis 18. März. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Bayerische Staatsministerium fur Unterricht und Kultur stellten die Finanzierung des Treffens sicher, das in den Räumen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften stattfand. Es kann sein, dass die in San Francisco festgelegte Themenauswahl, insbesondere der Teil über die Zeit der Französischen Revolution und Napoleons, nicht die sowjetischen Interessen traf. Naroònickij kam noch einmal auf die Behandlung der Jahre 1956-1976 zurück. Jedenfalls war die Münchner Tagung von sowjetischer Seite deutlich weniger interessant besetzt. In dem Er10 Die Vorträge und die Diskussionen erschienen 1977 in der Reihe der Beihefte der Veröffentlichungen des Instituts ftlr Europäische Geschichte unter dem Titel: Deutschland und Rußland im Zeitalter des Kapitalismus 1801-1914. 1. deutsch-sowjetisches Historikertreffen in der Bundesrepublik Deutschland, Mainz 14.-21. Oktober 1973.
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öffnungsvortrag zur Geschichte, Theorie und Methodologie der Geschichtswissenschaft in Deutschland und Russland legte Anatolij Sacharov einen schwer erträglichen Vortrag über die Vorzüge sozialistischer Geschichtsbetrachtung vor. Wolfgang Mommsen nahm diesen Vortrag mit ausgesuchter Höflichkeit so auseinander, dass zunächst einige Betroffenheit bei den Russen herrschte. Sie fanden die, wie sie es nannten, kapitalistische Historiographie sollte ergänzt und in ihrem Sinn geändert werden11. In München sprachen von sowjetischer Seite Oleg Sokolov und Ivan Rovai'¿Senko und von deutscher Seite Karl-Georg Faber und Wolfgang Mommsen zu dem geschichtstheoretischen Teil. Den Teil „Europa zwischen Revolution und Restauration 1797-1815" bestritten auf russischer Seite Naroònickij, Valentina Miljukova, Boris Tupolev und Olga Orlik, von deutscher Seite Eberhard Weis, Helmut Berding, Wolfram Fischer, Adelheid Simsch, Elisabeth Fehrenbach und ich12. Ich behielt mit meiner Ansicht Recht, dass über eine frühere Zeit eine fruchtbringende wissenschaftliche Diskussion möglich war. Die Diskussion war lebhaft und brachte auch neue Erkenntnisse. Insofern war diese Münchner Tagung auch wissenschaftlich ein Erfolg. Auch sie wurde in der Presse, u. a. in der FAZ, der Süddeutschen Zeitung, der Stuttgarter Zeitung und im Bayerischen Rundfunk, breit kommentiert. Im Herbst 1978 kam es dann zu einer Krise in den Beziehungen des Mainzer Instituts zur sowjetischen Kulturpolitik. Während einer Tagung der Association internationale d'histoire contemporaine de l'Europe in Varna machte mich Imanuel Geiss aus Bremen 1976 darauf aufmerksam, dass sich 1978 der Berliner Kongress zum 100. Mal jährte. Dies wäre doch eine gute Gelegenheit, einen Kongress mit den osteuropäischen Ländern zu veranstalten, wobei ich meine Beziehungen zu sowjetischen Historikern im Sinne meiner Absichten der Unterstützung osteuropäischer Historiker durch das Institut einsetzen 11
Die Tagung war aber durch ein Begleitprogramm sehr schön gestaltet. Unter anderem war es mir gelungen, in der Staatsoper für die russischen Kollegen Karten für eine Aufführung des Rigoletto zu bekommen. Als Ausflug hatten sich die Russen eine Fahrt auf die Zugspitze gewünscht. An dem Tag herrschte aber so dichter Nebel, dass ich umdisponierte und mit ihnen nach Kloster Ettal, zur Wies und nach Steingaden fuhr. Das war aber kein großer Erfolg, weil die Russen mit dem bayerischen Barock nichts anfangen konnten. Sie fanden, dass diese Kirchen weltliche Festsäle waren, womit sie ja nicht ganz Unrecht hatten. Diesmal war ich mit den Tagegeldern vorsichtig. Ich hatte im Ratskeller einen Tisch bestellt und zahlte nur einen Teilbetrag aus, was Koval'ienko zu der Bemerkung veranlasste, ich hätte wohl aus den Mainzer Erfahrungen gelernt. Die bayerische Küche sei ihm zwar fremd, aber angenehm erschienen, während er die Mainzer ja nicht kennen gelernt habe. 12 Die Vorträge und die Diskussion sind veröffentlicht in den Beiheften der Veröffentlichungsreihe des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte, Beiheft 21 : Historismus und moderne Geschichtswissenschaft. Europa zwischen Revolution und Restauration 17971815. Drittes deutsch-sowjetisches Historikertreffen in der Bundesrepublik Deutschland, München, 13.-18. März 1978, hrsg. von Karl Otmar Freiherr von Aretin und Gerhard A. Ritter, bearb. von Ralph Melville und Claus Scharf, Wiesbaden 1987.
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sollte. Ich war Vizepräsident der genannten Association. Die Idee war auch deswegen für mich interessant, weil alle Mitglieder des Büros der Association verpflichtet waren, einmal eine Tagung zu organisieren. Die Association gehörte damals zu den wenigen internationalen Gremien, in denen west- und osteuropäische Historiker zusammenarbeiteten. Das Thema war für ein solches Kolloquium hervorragend geeignet. Auch schien mir die französische Begleitung für dieses Vorhaben wichtig. Präsident war damals Fernand L'Huillier, der zweite Vizepräsident der sowjetische Historiker Cubar'jan. Imanuel Geiss sagte zu, sich im Bundesinnenministerium für einen Zuschuss einzusetzen. Dieser Zuschuss von etwa 50.000 DM wurde zum Problem. Unsere Idee, davon Reise- und Aufenthaltskosten oder in bescheidenem Maß Honorare zu zahlen, erwies sich als unmöglich. Es ging ausschließlich um ein Beiprogramm, das damit finanziert werden konnte. Aber welches Beiprogramm sollte man Mitte Oktober in Mainz zustande bringen? Mein Mitarbeiter HansJürgen Schröder kam auf den Gedanken, eine Ausstellung zu machen. Diese Idee fand auch die Unterstützung des Bundesinnenministeriums. Wer allerdings je eine historische Ausstellung gemacht hat, wird mir beipflichten, dass dies zu den schwierigsten Unternehmen gehört. Ich kann es dem Bundesinnenministerium nicht verdenken, dass es die Vorbereitungen des Instituts für diese Ausstellung mit einigem Unbehagen verfolgte. Kurzum, es beauftragte nach einiger Zeit die mit solchen Aufgaben wohlbewanderte Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit dieser Ausstellung. Um mir das schmackhaft zu machen, durfte ich den Zuschuss des Bundeskanzleramts für die Veröffentlichung der Beiträge des Kongresses benutzen. Mir war das ohnehin recht, denn mit der Ausstellung und den Vorbereitungen zum Kongress war das Institut eigentlich überfordert. Die Ausstellung im rheinland-pfälzischen Landtag wurde zum Stein des Anstoßes13. Bevor Historiker aus der Sowjetunion, Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Jugoslawien, der DDR, Griechenland, England, Frankreich und Österreich nach Mainz strömten, hatten wir ein schönes Programm verschickt, auf dem auch die von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gestaltete Ausstellung im Beiprogramm genannt war. Das nahm die Sowjetunion zum Anlass, um nicht nur die Teilnahme der sowjetischen Historiker abzusagen, sondern auch allen Kollegen aus den Ostblockländern die Teilnahme zu verbieten. Da die Tagung von der Association mit organisiert war, rief ich deren Präsidenten Professor L'Huillier an, der zusagte, das französische Außen13 Die Ausstellung war schön. Dass die Fenster mit schwarzen Tüchern verhängt wurden, hat mir der Landtagspräsident Albrecht Martin allerdings lange nicht verziehen. Das viel bewunderte Glanzstück der Ausstellung war ein Modell der Staatsjacht der Queen Victoria, dessen unmittelbarer Zusammenhang mit dem Berliner Kongress allerdings nicht ohne weiteres einleuchtete.
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ministerium zu einer Demarche zu bewegen. Auch Herrn Ránki rief ich an, der über diese Reaktion der Russen sehr betroffen war. Auf diese Weise sprachen in einer Woche der deutsche, der französische und der ungarische Kulturattaché im russischen Außenministerium vor, um die Russen zur Zurücknahme dieser Anordnung zu bewegen. Geholfen hat das gar nichts, aber irgendwie müssen die Sowjets von mir den Eindruck gewonnen haben, ich hätte großen Einfluss. Den Kollegen aus den Ostblockländern, die offenbar von der sowjetischen Entscheidung noch nichts wussten, die mir offiziell von der Botschaft mitgeteilt worden war, reisten sogar teilweise an. Es blieb mir nichts anderes übrig, als es den einzelnen Delegationen anheim zu stellen, ob sie bleiben oder abfahren wollten. Die Bulgaren waren sehr unglücklich, flogen aber noch am nächsten Tag zurück. Mit meinen Mitarbeitern beschloss ich, dass wir alle, auch die abgereisten Kollegen, bitten würden, ihre Referate für die Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Das taten sie auch. Damit wurde jedenfalls die Dokumentation der Tagung möglich14. Die Tagung selbst, vom 11. bis 15. Oktober 1978, verlief zum Teil recht stürmisch, weil sich die anwesenden jugoslawischen und rumänischen Kollegen in die Haare gerieten. Die Mainzer Allgemeine Zeitung erschien mit der Überschrift „Moskau boykottiert Mainz". Meine Bemühungen, eine über den Eisernen Vorhang hinweggehende Zusammenarbeit von west- und osteuropäischen Historikern zu erreichen, hatten einen herben Rückschlag erlitten. Wäre die Tagung so wie geplant abgelaufen, so hätten Historiker aus der Sowjetunion, sogar aus der DDR und den osteuropäischen Ländern, mit Fachleuten aus dem Westen diskutiert. Am 18. Dezember 1978 bat mich NaroCnickij in einem fast als Entschuldigungsbrief zu bezeichnenden Schreiben, die Vorträge der sowjetischen Beiträger nicht in dem erwähnten Sammelband zu veröffentlichen, da sie in der Sowjetunion gedruckt würden. Das Schreiben endete mit dem Satz: „Zugleich hoffen wir auf unsere gemeinsame Arbeit auch in Zukunft". Ich muss gestehen, dass ich sehr ärgerlich war. Ich habe meinen Ärger auch bei Maksimyòev abgeladen, der mir bei aller diplomatischen Zurückhaltung indirekt sogar Recht gab. Er besuchte mich im Januar 1979, sichtlich bemüht, die Wogen zu glätten15. Er stellte sich auf den Standpunkt, dass eine Teil14 Der Berliner Kongress von 1878. Die Politik der Großmächte und die Probleme der Modernisierung in Südosteuropa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Ralph Melville und Hans-Jürgen Schröder, Wiesbaden 1982. Allerdings war es für die Herausgeber ein hartes Stück geradezu detektivischer Arbeit, die in den Fußnoten der osteuropäischen Kollegen angegebene Literatur aufzuspüren und die Anmerkungen zu egalisieren. 15 Aktennotiz des Gesprächs mit Botschaftsrat Maksimyòev vom 16. Januar 1979. Teilnehmer neben MaksimyCev und mir waren Dr. Hans-Jürgen Schröder und eine Dame der sowjetischen Botschaft.
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nähme osteuropäischer Historiker an einer von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mitgestalteten Veranstaltung einer Anerkennung der Stiftung gleichgekommen wäre. Die Demarche durch die deutsche Botschaft am 9. Oktober habe in Moskau den Eindruck verstärkt, dass die Stiftung bewusst in die Gestaltung des Kongresses eingeführt worden sei. Er sei leider in dieser Zeit in Urlaub gewesen, sonst hätte er das Missverständnis aufgeklärt. Wir beschlossen, die Sache für erledigt zu erklären. Später wurde ein weiteres deutschsowjetisches Historikertreffen für 1981 in der Sowjetunion vereinbart. Zur Vorbereitung sollte entweder Naroônickij nach Mainz oder sollten Ritter und ich nach Moskau kommen. Inzwischen hatte sich auf deutscher Seite neuer Ärger angesammelt. Das Institut hatte bereits Ende 1977 die Leningrader Vorträge nach Moskau zum Druck geschickt. Seither herrschte Funkstille, und auch eine Nachfrage der deutschen Kulturattachée Frau Schenk war ohne jedes Ergebnis geblieben. Es gab noch andere Ärgernisse. Trotz aller Abmachungen waren deutsche Historiker, insbesondere der Osteuropahistoriker Dietrich Geyer, nicht in die Archive gekommen16. Es herrschte die Meinung vor, die Russen hielten sich nicht an ihre freiwillig übernommenen Verpflichtungen. Im Gegenzug waren die Russen etwas fassungslos, als ihren ca. 20 Lehrbüchern für Geschichte an Gymnasien über 100 deutsche gegenüberstanden, die inzwischen in der deutschen Botschaft in Moskau lagen und mit denen auch die diplomatische Vertretung nichts anfangen konnte. Der Vergleich oder die Angleichung der Schulbücher war für die Russen ohnehin ohne Wert, weil das Schulbuchinstitut in Braunschweig korrekterweise bei der Übersendung der Bücher darauf hingewiesen hatte, dass es nur Empfehlungen aussprechen könne, die keinen verpflichtenden Charakter hätten. Dieses Problem, das ohnehin sehr heikel war, weil ζ. B. die sowjetische Seite das deutsch-sowjetische Zusatzabkommen vom 23. August 1939 leugnete, hatten wir an das Schulbuchinstitut abgegeben. Bei einer Angleichung oder einem Vergleich hätte die sowjetische Seite mit Sicherheit auf ihrem Standpunkt bezüglich des Zusatzabkommens bestanden. Als Voslenskij bei einem Besuch der Mainzer Stipendiaten im Archiv des Auswärtigen Amtes das Zusatzabkommen gezeigt wurde, verhüllte er sein Haupt mit der Bemerkung: „Da gibt es ein Dokument, das es nicht gibt!" Auf diese Art geriet ich immer mehr in den Geruch, bei diesen deutsch-sowjetischen Gesprächen ein unverbesserlicher Naivling zu sein. Auch war ich mir nicht mehr sicher, wie sich der Ärger über die Tagung über den Berliner 16 Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurden mir eine Reihe von Berichten westdeutscher Besucher übergeben, in denen von allerlei Behinderungen beim Besuch sowjetischer Bibliotheken und Archive die Rede war. Da ich selber meine Erfahrungen mit dem Besuch sowjetischer Archive gemacht hatte (und noch machen würde), war ich nicht überrascht. Ich sollte diese Behinderungen bei einem Gespräch mit sowjetischen Stellen ansprechen.
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Kongress auf die Möglichkeit für die osteuropäischen Länder auswirken würde, Stipendiaten an das Mainzer Institut zu schicken. Um all diese Dinge zu klären, entschloss ich mich, im Herbst 1979 nach Moskau zu fahren. Die Einladung nach Moskau traf im Oktober 1979 ein. Ich trat die Reise mit einem ganzen Paket von Beschwerden an und traf am 19. November in Moskau ein. Ich war allein. Es wäre mir lieber gewesen, Ritter als Vorsitzender des Historikerverbandes wäre dabei gewesen, denn so hatte ich für alle Unterredungen keine Zeugen. Am Flughafen erwarteten mich der Vorsitzende des Nationalkomitees der Historiker der UdSSR Professor Öubar'jan sowie unser ehemaliger Stipendiat Ciöurov, der mich die Tage begleitete. Es kam zu intensiven Gesprächen mit dem Nachfolger Naroönickijs, Professor Chromov. Bei ihm und dem ehemaligen Vorsitzenden des Internationalen Historikerverbandes Professor ¿ukov brachte ich alle Beschwerden vor, ohne freilich mehr als eine freundliche Kenntnisnahme zu erreichen. Es wurde ein Austausch von Zeitschriftenaufsätzen und Vorträgen vereinbart, der aber auch nicht zustande kam. Bei diesem Besuch wurde ich mit dem größten Entgegenkommen behandelt. Die Tatsache, dass wegen der Tagung über den Berliner Kongress gleich drei Botschaften aktiv geworden waren, hatte offensichtlich einen starken Eindruck hinterlassen. In dieser Zeit begannen die Nachrüstungsverhandlungen wegen der sowjetischen SM20-Raketen. Am 22. November hatte ich eine lange Unterredung mit dem Vizepräsidenten der Akademie der Wissenschaften, Professor Fedoseev. Er versicherte, wie wichtig die sowjetischen Historiker die deutsch-sowjetischen HistorikertrefFen nähmen. Ich brachte meine Beschwerden vor, an deren Spitze die Weigerung der sowjetischen Seite stand, die Referate des Leningrader Treffens zu veröffentlichen. Während 2ukov und Chromov behauptet hatten, die Tonbänder seien defekt gewesen, sprach Fedoseev davon, es sei kein Papier für die Veröffentlichung vorhanden. Ich wurde dann zu einer höher gestellten Persönlichkeit, an deren Namen ich mich nicht erinnere, geführt. Ich wurde auf den Nachrüstungsbeschluss der Bundesregierung angesprochen und aufgefordert, Bundeskanzler Schmidt auf deren verheerende Folgen für die deutsch-sowjetischen Beziehungen hinzuweisen. Ich war kühn genug, ihm darauf meine Meinung zu sagen, dass für jemanden, der sich wie ich für die deutsch-sowjetischen Beziehungen eingesetzt habe, die Tatsache der auf die Bundesrepublik gerichteten Mittelstreckenraketen unbegreiflich sei. Die Unterredung war dann sehr rasch beendet. Beim Mittagessen meinte Ciöurov, dass ich das besser nicht gesagt hätte. Die Atmosphäre war danach auch verändert. Mir war ein Ausflug nach Reval in Aussicht gestellt worden. Stattdessen ging es nach Minsk, und von da wurde ich von einer Gedenkstätte deutscher Greueltaten zur anderen geschleppt17. 17
An eine zum Gedenken an ein von der SS zerstörtes Dorf errichtete Gedenkstätte erin-
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Ich war froh, als ich am 25. November wieder in Frankfurt am Main landete 18 . Ein Brief an Bundeskanzler Schmidt, in dem ich von meiner Unterredung berichtete, brachte mir ein freundliches Schreiben des Bundeskanzleramtes ein. Während des Internationalen Historikertags in Bukarest 1980, bei dem der neue Vorsitzende des Verbandes der Historiker Deutschlands, der Althistoriker Christian Meier, amtierte, kam es noch einmal mit Naroönickij und anderen sowjetischen Historikern zu einer Unterredung, in deren Verlauf für Herbst 1981 das vierte deutsch-sowjetische Historikertreffen ausgehandelt wurde. Als Thema wurde „Die Aufklärung und ihre Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft" ausgemacht. Auf meine Anregung wurde beschlossen, künftig auch Themen der Alten Geschichte in die Themen der deutsch-sowjetischen Gespräche aufzunehmen. Bei Christian Meier war deutlich zu merken, dass er Schwierigkeiten hatte, einen Sinn in diesen Gesprächen zu finden. Das vierte deutsch-sowjetische Historikertreffen im Oktober 1981 in Moskau stand unter keinem guten Stern. Die sowjetische Delegation war qualitativ nicht sehr gut. Man merkte der Veranstaltung an, dass auch auf russischer Seite das Interesse nachgelassen hatte. Neben Christian Meier nahmen diesmal Dietrich Geyer, Rudolf Vierhaus, Ernst Hinrichs, Jörn Rüsen und Reinhart Koselleck teil. Als Ausflug wurde ein Flug nach Kisinev in der Sowjetrepublik Moldau unternommen, ein Ort, der wenig Interessantes bot und die deutschen Teilnehmer mehr verärgerte als interessierte. Auf dem Rückflug meinte Christian Meier, dass er keinen rechten Sinn in der Fortsetzung dieser Gespräche sehe. Da 1980 ein neuer Vorstand des Historikerverbandes gewählt worden war, dem ich nicht mehr angehörte, war es verständlich, dass er mich bat, die künftigen Verhandlungen mit der Sowjetunion an Dietrich Geyer zu übergeben. Ich bin dann noch zweimal in der Sowjetunion gewesen. Das eine war ein Archivaufenthalt in Moskau, bei dem ich auch in Armenien war. Dort führte mich der Präsident der Armenischen Akademie der Wissenschaften, Professor Ioanesjan, bis an die russisch-persische Grenze, das Gebiet des ehemaligen Fürstentums Sivunik, aus dem die Aretin herstammen. Ich stand 1983 vor den Trümmern der durch ein Erdbeben zerstörten Burg der Meliks von Sivunik. Ioanesjan, der in Heidelberg studiert hatte, sprach ausgezeichnet deutsch. Er hatte, was mir entfallen war, 1969 im Mainzer Institut einen Vortrag gehalten über die europäische Aufklärung und den armenischen nere ich mich noch sehr genau. Dort war für jedes Haus ein kleines Türmchen mit einer Glocke errichtet. Der Wind sorgte für ein ständiges Läuten. Dass ich als Abschluss in der großen Gedenkstätte meine Unterschrift auf dieselbe Seite setzen durfte wie der amerikanische Präsident Nixon, war kein Ausgleich fttr diese alles andere als angenehme Reise. 18 Als beim Start in Moskau die Stewardess der Lufthansa deutsche Zeitungen verteilte, ließ ich mir eine Flasche Sekt bringen, die ich mit großem Genuss leerte.
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Gedanken im 18. Jahrhundert. Wir verabredeten, dass ich versuchen sollte, ihm eine Vortragsreise durch die Bundesrepublik, und er mir eine Einladung nach Armenien zu verschaffen. Beides gelang. Er reiste 1984 mit Vorträgen an sechs Universitäten durch die Bundesrepublik, und ich erhielt 1988 eine Einladung für mich, meine Frau und meinen Bruder, was zu einer interessanten Kunstreise wurde19. *
Zieht man eine Bilanz der deutsch-sowjetischen Historikertreffen, so wird man zugeben müssen, dass das wissenschaftliche Ergebnis dieser vier Treffen sicherlich nicht dem doch recht großen Aufwand entsprach. Man lernte sich kennen, erhielt Einblick in die verschiedenen Methoden. Es fand ein Gedankenaustausch statt, der für beide Seiten nicht uninteressant war. Dass diese Treffen zu erheblichen wissenschaftlichen Erkenntnissen fuhren würden, habe ich von Anfang an nicht angenommen. Mir schien es aber, und hier spielten natürlich auch die deutsch-sowjetischen Verhandlungen dieser Zeit eine Rolle, wichtig, zu einem gegenseitigen Verstehen beizutragen. Dass sich, je länger diese Gespräche andauerten, die westdeutschen Osteuropahistoriker den sowjetischen Kollegen überlegen fühlten und mir vorwarfen, ich ginge ohne Kenntnis der sowjetischen Verhältnisse in diese Kolloquien, kann ich verstehen, aber eben darin bestand auf der anderen Seite meine Stärke: Ich ging ohne Vorurteile auf die sowjetischen Kollegen zu, und diese akzeptierten meine Haltung. Dass das sowjetische System so rasch und so vollkommen zusammenbrechen würde, habe ich - aber da fühle ich mich mit einer breiten Mehrheit - nicht gedacht. Die Vorstellung, mit den Vorträgen unserer westdeutschen Kollegen die sowjetischen Teilnehmer verunsichern zu können, was manche Kollegen annahmen, konnte ich nicht teilen. Ich verstand aber die Verärgerung westdeutscher Kollegen, dass die sowjetische Seite ihre Zusagen - Veröffentlichung der Vorträge der Leningrader und Moskauer Tagungen, Öffnung der Archive und Bibliotheken, gegenseitige Vorträge etc. nicht einhielt. Meine Mitarbeiter Claus Scharfund Ralph Melville waren immerhin, der eine für zehn Tage, der andere für ein Vierteljahr, in Moskauer und Leningrader Archiven und Bibliotheken, wobei auch sie nicht alles, was sie wünschten, zu sehen bekamen. 19
Zum Abschluss gab mir Ioanesjan eine Archivnummer fiir das Archiv der alten Akten in Moskau mit, in dem ich neben dem Archiv des Auswärtigen Amtes arbeitete. Er lächelte dabei hintergründig. Als ich die Archivalien bestellte, gab es einen kleinen Aufstand im Archiv. Es handelte sich nämlich um den Antrag eines Freiherrn von Aretin bei Katharina der Großen, ihn zum König von Armenien zu machen. Ich habe danach keine Akten mehr dort eingesehen. Cifiurov, der dies mitbekam, fand die Geschichte sehr komisch und lachte mich entsprechend aus.
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Diese Bilanz ist sicher, insgesamt gesehen, vorwiegend negativ: Verändert haben wir die Sowjetunion nicht. Das war aber auch nicht der Grund, weshalb ich das Unternehmen startete. Ich wollte den zahlreichen osteuropäischen Stipendiaten im Institut für Europäische Geschichte Rückendeckung geben, weil ich erlebt hatte, wie mit den tschechoslowakischen Stipendiaten nach 1969 umgesprungen worden war. Das ist gelungen. Ich habe weiter gehofft, mit diesem Vorgehen eine stärkere Stellung im Kampf gegen die hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre zu erhalten. Auch das ist gelungen. Die hessischen Rahmenrichtlinien wurden zurückgezogen. Wenn wir, und hier nenne ich den von mir mit den Kollegen der Geographie (Professor Fick, Frankfurt), der Geschichte (Professor Muhlack, Frankfurt) und der Politikwissenschaft (Professor Gerd Schumann, Darmstadt) auf freiwilliger Basis gegründeten Ausschuss, ein Gegenkonzept zu den Rahmenrichtlinien vorlegten, das im hessischen Kultusministerium diskutiert wurde, dann war das sicher mehr, als wir zunächst zu erreichen gehofft hatten. Es war auch ein Erfolg, dass dieser Ausschuss in den größeren vom hessischen Kultusministerium zur Ausarbeitung eines Curriculums für Gesellschaftslehre berufen wurde, was meines Erachtens ohne die deutsch-sowjetischen Gespräche nicht gelungen wäre. Unsere Hoffnung, man könnte im Einvernehmen mit dem Ministerium ein neues Modell Geschichtsunterricht entwerfen, ging aber nur sehr rudimentär in Erfüllung. Das dritte Ziel, in der gegen die Geschichte gerichteten Stimmung die Geschichtswissenschaft durch diese Gespräche von dem Odium zu befreien, ein ultrakonservativer Verein zu sein, ist, glaube ich, erreicht worden. Die deutsch-sowjetischen Historikergespräche hatten in der Presse einen hohen Nachrichtenwert. Die Kollegen Theodor Schieder, Werner Conze und Gerhard A. Ritter haben diese, sagen wir, Nebenabsichten erkannt und mich in meinem Vorgehen unterstützt, auch wenn sie sicher über manches Vorgehen von mir erstaunt waren. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. 1995 hat mich Igor Maksimyöev in einem Brief an die Zeit erinnert, da er die von mir und Alexej NaroCnickij in Gang gesetzten deutsch-sowjetischen Historikergespräche als Kulturattaché der sowjetischen Botschaft betreut habe. Er bestätigte mir, wie wichtig diese Gespräche seiner Meinung und Erfahrung nach für das Klima in den Beziehungen der beiden Länder waren. Maksimyòev war 1989/90 in der entscheidenden Zeit der Wende sowjetischer Botschafter in Berlin und hat sich hier große Verdienste erworben.
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Summary In the era of the new German Ostpolitik of the social-liberal coalition, four conferences of the Verband der Historiker Deutschlands and the National Committee of Soviet Historians took place between 1972 and 1981. On the German side, these conferences were organized by the Institut für Europäische Geschichte in Mainz. These meetings of historians, who all represented very divergent academic perspectives, resulted in a lively exchange of views. As far as the Institut fur Europäische Geschichte is concerned, these dialogues were also important because they helped to maintain the existing relationships with historians of the East and Southeast European countries in the years following the invasion of Czechoslovakia. The German-Soviet conferences appeared to offer a possibility of reducing the menace hovering over research fellows from Iron Curtain countries. This hope was fulfilled although Czechoslovakia temporarily stopped sending research fellows to Mainz. Since these conferences occurred the framework of with the foreign policy of the Federal Republic of Germany, they also had a positive effect on the public image of history as a branch of learning, which at the time was facing great difficulties.
FORSCHUNGSBERICHT Die historischen Atlanten der europäischen Städte Von
Roman Czaja
Historiker und Stadtplaner erkannten bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit der Nutzung von kartographischen Quellen bei der Erforschung der Stadtgeschichte1. Das wachsende Interesse der Forscher für die Stadtkarten bewirkte, dass man in der Zwischenkriegszeit in vielen europäischen Ländern an der Inventarisierung und Veröffentlichung kartographischer Quellen zu arbeiten begann. Besonders intensiv wurde die Stadtkartographie in Deutschland erforscht2. Die in den zwanziger und dreißiger Jahren entstandenen Projekte der Edition von Stadtkarten gingen jedoch nicht über den regionalen bzw. nationalen Rahmen hinaus. Das Postulat einer staatsübergreifenden Edition von kartographischen Quellen, die breit angelegte vergleichende Forschungen zur Stadtgeschichte ermöglichen würde, ist erst nach 1945 aufgetaucht. Der große Wert von Stadtkarten für historische und städtebauliche Forschungen zeigte sich besonders deutlich angesichts der Verwüstungen, die die europäischen Städte im Zweiten Weltkrieg erfahren hatten. Die kartographischen Quellen spielten eine große Rolle beim Wiederaufbau und der Rekonstruktion alter städtischer Zentren. Infolge dieser Erfahrungen wurden die Historiker aus der 1955 gegründeten Commission Internationale pour l'Histoire des Villes (CIHV) initiativ, eine editorische Anleitung zu erarbeiten, die zur Grundlage für die Herausgabe von nationalen Stadtatlanten werden könnte. In einer Sitzung im Jahr 1965 in Wien wurde die Atlantenedition - neben der Städtebibliographie und der Quellenedition 1 Aloys MEISTER, 25 Jahre Historische Kommission für die Provinz Westfalen 1896-1921, in: Westfalen 11 (1921-1922), S. 65-84; Paul J. MEIER, Der Grundriß der deutschen Stadt des Mittelalters in seiner Bedeutung als geschichtliche Quelle, in: Altständisches Bürgertum III. Siedlungsgestalt und bauliches Gehäuse, hrsg. von Heinz Stoob, Darmstadt 1989, S. 1-59; Ferdinand VERCAUTEREN, Étude sur les civitates de la Belgique seconde, Bruxelles 1934, ND Hildesheim 1974; François L. GANSHOF, Étude sur le développement des villes entre Loire et Rhin au moyen âge, Paris 1943; Lucja CHAREWICZOWA, Znaczenie badan planów miast dia ich historii, in: Pamiçtnik V Zjazdu Historyków Polskich, Lwów 1930, S. 1-11. 2 Heinz-Karl JUNK, Der Westfälische Städteatlas, in: Beiträge zur Kartographie in Nordwestdeutschland. Die Karte als Arbeits- und Forschungsmittel in verschiedenen Berufsfeldern, hrsg. von Heinz-Karl Junk und Klaus Temlitz, Münster 1991, S. 75-83; Niedersächsischer Städteatlas, hrsg. von Paul J. Meier, 3 Bde., Leipzig/Wien 1922-1959.
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Elenchus fontium historiae urbanae — zu einem der wichtigsten Forschungsanliegen der CIHV3. Die ersten Ergebnisse der Arbeiten an den Atlanten englischer, holländischer und deutscher Städte sowie die Konzeption des „Atlasses" wurden in zwei weiteren Sitzungen der Stadthistoriker in Warschau (1966) und Engelberg (1967) diskutiert4. Auf der 12. Konferenz, die 1968 in Oxford stattfand, wurde versucht, gemeinsame Parameter für die Edition von nationalen Atlanten zu erarbeiten. Zu diesem Zweck wurde eine vierköpfige Kommission ins Leben gerufen (M. D. Lobel, H. Stoob, A. Verhulst, J. Wolters), deren Aufgabe in der Formulierung von grundsätzlichen Richtlinien für die Bearbeitung der Städteatlanten bestand. Die Diskussion über die damals für den Druck vorzubereitenden Atlanten, den französischen und den englischen, sowie das Referat von Heinz Stoob über den deutschen Atlas zeigten jedoch, dass unter den Mitgliedern der CIHV Meinungsverschiedenheiten in zwei grundsätzlichen Fragen bestanden: dem Maßstab der Katasterkarte (1:2 500 oder 1:5 000) und der Art und Weise, dieselbe für den Druck zu bearbeiten5. Nach der Konzeption von Heinz Stoob sollte der ,Atlas" vor allem den Charakter einer Quellenedition haben. Die englischen und französischen Historiker meinten dagegen, dass die Hauptkarte des .Atlasses" eine auf verschiedenen kartographischen Quellen basierende Rekonstruktion sein sollte. Außer Zweifel jedoch stand das Ziel des gesamten Unternehmens, Materialien für vergleichende Forschungen zur Geschichte und Urbanistik der europäischen Städte zu liefern. Gemäß den 1968 angenommenen Richtlinien, die 1995 auf einem Treffen von Atlantenherausgebern in Münster wiederholt wurden, sollten die „nationalen Atlanten" aus separaten Heften bestehen, die den einzelnen Städten gewidmet wären6. Als grundsätzliche Karte des .Atlasses" wurde die Katasterkarte (oder ähnliche Vermessungskarte) aus dem vorindustriellen Zeitalter im Maßstab 1:2 500 bestimmt. Auf originalen Karten dieser Art wurden die Formen der Stadtflächennutzung mit verschiedenen Farben markiert. Die Edition der Katasterkarte beruhte auf der Neuzeichnung der Originalkarten, die meist in größeren Maßstäben (1:250, 1:500, 1:100) ausgefertigt wurden. Als einzigen Eingriff der Herausgeber in den Inhalt der Karte wurde das Hinzufügen von Höhenlinien und von zusätzlichen Beschriftungen zugelassen. Die Atlanten sollten auch eine moderne Stadtkarte im Maßstab 1:5 000 sowie eine reproduzierte Stadtkarte 3
Die Tagungsberichte der Kommission in: Cahiers Bruxellois 10 (1965), S. 274; Anngret SIMMS/Ferdinand OPLL, List of the European Atlases of Historic Towns, Bruxelles 1998, S. 5. 4 Cahiers Bruxellois 12 (1967), S. 85-96; ebd. 13 (1968), S. 225-232. 5 Ebd. 14 (1969), S. 97-107, 143-145; vgl. Heinz STOOB, The historic town atlas: problems and working methods, in: The comparative history of urban origins in non-Roman Europe: Ireland, Wales, Denmark, Germany, Poland and Russia from the 9th to the 13th century, hrsg. von Howard B. Clarke und Anngret Simms, Bd. 2, Oxford 1985, S. 583-615. 6 SIMMS/OPLL, List (Anm. 3), S. 7.
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aus dem vorindustriellen Zeitalter enthalten, die die Stadt und die Siedlungslandschaft des Umlandes im Maßstab zwischen 1:25 000 und 1:100 000 darstellen würde. Ein wichtiges Element des „Atlasses" ist zudem ein auf Grund der Katasterkarte im Maßstab zwischen 1:2 500 und 1:5 000 bearbeiteter Plan, der die räumliche Entwicklung der Stadt und ihre Topographie zeigt. Die Herausgeber der nationalen Atlanten können darüber hinaus je nach Möglichkeit thematische Karten veröffentlichen, die die soziale, wirtschaftliche und städtebauliche Entwicklung der Stadt zeigen, und zudem Reproduktionen der interessantesten kartographischen Quellen und Stadtansichten hinzufugen. Im Jahr 1993 entstand im Rahmen der Commission Internationale pour l'Histoire des Villes die Editionssektion (unter der Leitung von Anngret Simms), deren Aufgabe in der Koordination der editorischen Arbeiten und in der Anregung der auf Städteatlanten basierenden historischen und städtebaulichen Forschungen besteht. Auf Initiative der Sektion wurden zwei Symposien veranstaltet, die ausgewählten Problemen der Atlantenedition gewidmet waren: Im Jahre 1995 diskutierte man in Münster über die Möglichkeiten der Verwertung und Interpretation der im Rahmen der Städteatlanten herausgegebenen Karten; zwei Jahre später, in Bologna, wurden die auf Grund von kartographischen Quellen geführten vergleichenden Forschungen zu mittelalterlichen Metropolen dargestellt sowie Möglichkeiten der computergestützten Kartenbearbeitung besprochen. Im Lauf der drei letzten Jahrzehnte wurde die Initiative der Commission Internationale pour l'Histoire des Villes in vielen europäischen Ländern aufgegriffen. Die Herausgeber der nationalen Atlanten versuchten in der Regel die in den Sitzungen der Kommission angenommenen Richtlinien zu berücksichtigen. Allerdings, wie sich aus der nachfolgenden kurzen Charakteristik der bereits herausgegebenen Atlanten ergeben wird, unterscheiden sie sich untereinander in sowohl formaler als auch inhaltlicher Hinsicht7. Als 1968 auf der Konferenz in Oxford die Konzeption der Atlanten diskutiert wurde, war die Vorbereitung des Atlasses der englischen Städte für den Druck bereits im Gange. In den Jahren 1969 und 1975 erschienen zwei Lieferungen mit Atlanten von 12 britischen Städten; 1989 wurde die dritte, London gewidmete Lieferung herausgegeben8. Die einzelnen Hefte der ersten 7
Ein Verzeichnis der veröffentlichten Atlanten bei SIMMS/OPLL, List (Anm. 3); die von Ferdinand Opll bearbeitete Liste der Atlanten auch auf der WWW-Seite www.magwie.gv.at/ma08/dt_leithtm; vgl. die Besprechungen von Lempi B. WlK/Thomas HALL, Urban history atlases: A survey of recent publications, in: Urban History Yearbook 20 (1981), S. 66-75; Terry R. SLATER, The European historic towns atlas, in: Journal of Urban History 22/6 (1996), S. 739-749; Roman CZAJA, Atlas historyczny miast europejskich, in: Kwartalnik Historii Kultury Materialnej 1992, Nr. 3, S. 399-405. 8 Historic Towns. Maps and Plans of Towns and Cities in the British Isles, with Historical Commentaries, from Earliest Times to 1800 (= Vol. I), hrsg. von Mary D. Lobel, London
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und zweiten Lieferung enthalten eine umfangreiche historische Einfuhrung, die die Geschichte der Stadt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verfolgt. Das Hauptelement des kartographischen Teils ist eine Stadtkarte von ca. 1800 im Maßstab 1:2 500 mit aufgetragenen Grundstückgrenzen und Farben, die die Formen von Stadtflächennutzung markieren. Dieselbe Karte wurde auch im kleineren Maßstab von 1:5 000 herausgegeben. Sie ist allerdings - wie auch andere Karten des englischen Atlasses - keine Quellenedition, sondern wurde auf der Grundlage von verschiedenen kartographischen Materialien bearbeitet. Darüber hinaus enthält der Atlas britischer Städte auch eine Karte von Stadt und Umland im Maßstab 1:25 0000, auf die die Entwicklung der Straßen von der Antike bis ca. 1800 aufgetragen worden ist. Auf der Grundlage der Hauptkarte wurden außerdem mehrere andere Karten angefertigt, die die Entwicklung des Straßennetzes und der Straßennamen sowie die Grenzen von Pfarren und Wahlbezirken darstellen. Initiator und erster Herausgeber des Deutschen Städteatlasses war Heinz Stoob. In den Jahren 1973-2000 erschienen 6 Lieferungen mit Atlanten von 51 Städten9. Die Atlanten der deutschen Städte werden auch in regionalen Reihen (Westfalen und Rheinland) herausgegeben. In Vorbereitung sind zudem Atlanten von 8 hessischen Städten10. Im Rahmen der 13 Lieferungen des Rheinischen Städteatlasses erschienen (seit 1972) Hefte zu 74 Städten11. Der Westfälische Städteatlas enthält in sechs Lieferungen (seit 1975) die Atlanten von 53 Städten12. Die geographische Reichweite des Deutschen Städteatlasses wurde nach den Grenzen von 1937 bestimmt, aus diesem Grunde enthält er auch Hefte zu einigen Städten, die heute in Polen, Litauen (Memel) und Russland (Königsberg) liegen. Gemäß den von Heinz Stoob ausgearbeiteten Voraussetzungen besteht das Hauptziel des deutschen und des westfälischen Atlasses in der Edition der Katasterkarte im Maßstab 1:2 500. Außerdem enthalten die Atlanten einen aktuellen Stadtplan im Maßstab 1:5 000, die Reproduktion einer Stadt- und Umlandkarte aus dem 19. Jahrhundert sowie eine 1969; The Atlas of Historie Towns (= Vol. II), hrsg. von M. D. Lobel, London 1975; The City of London. From Prehistoric Times to c. 1520 (= Vol. III), London 1989. 9 Deutscher Städteatlas, Lief. 1-5, hrsg. von Heinz Stoob, Lief. 6., hrsg. von Peter Johanek [u. a.], Dortmund/Münster 1973-2000; über die editorischen Grundsätze siehe Heinz STOOB, Einleitung zur Lief. 1, und Peter JOHANEK/Wilfried EHBRECHT/Jürgen LAFRENZ, Vorwort zur Lief. 6; Heinz-Karl JUNK, Zur edierenden Neuzeichnung einer Urkatasterkarte, in: Mitteilungsblatt des Arbeitskreises für Historische Kartographie 25 (1986), S. 4-11. 10 Hessischer Städteatlas, hrsg. von Ursula Braasch-Schwersmann, Maiburg [i. Vorb.]. " Rheinischer Städteatlas, Lief. 1, hrsg. von Edith Ennen; Lief. 2, hrsg. von Edith Ennen und Klaus Flink; Lief. 3, hrsg. von Georg Droege [u. a.]; Lief. 4-13, hrsg. von Margret Wensky, Bonn 1972-1999. 12 Westfälischer Städteatlas, Lief. 1-3, hrsg. von Heinz Stoob; Lief. 4-6, hrsg. von Wilfried Ehbrecht, Dortmund/Altenbeken 1975-1999; JUNK, Der Westfälische Städteatlas (Anm. 2), passim.
Czaja, Die historischen Atlanten
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auf der Grundlage der Katasterkarte angefertigte Karte der Wachstumsphasen im Maßstab 1:5 000 (in schwarz-weißer Fassung). An den kartographischen Teil schließt sich ein historischer Kommentar an, der die räumliche Entwicklung der Stadt bis zum 20. Jahrhundert nachzeichnet, hinzu kommen bibliographische Hinweise und die Reproduktionen des ältesten Stadtsiegels und der ältesten realistischen Stadtansicht. Der kartographische Teil des Rheinischen Städteatlasses, dessen erste Herausgeberin die hervorragende Stadthistorikerin Edith Ennen war, besteht grundsätzlich aus einer kritischen Edition der Katasterkarte im Maßstab 1:25 000, einer Reproduktion der Stadtund Umlandkarte aus dem 19. Jahrhundert (Maßstab 1:2 500) und einer aktuellen Luftaufnahme der Stadt im Maßstab 1:10 000. Außerdem enthalten die Hefte dieses Atlasses zahlreiche Reproduktionen von historischen Karten und Stadtansichten sowie auch Luftaufnahmen. In sechs Lieferungen des seit 1982 herausgegebenen Österreichischen Städteatlasses erschienen bis zum Jahr 2000 Hefte zu 39 österreichischen Städten. Die Veröffentlichung knüpft in Form und Inhalt an den Deutschen Städteatlas an13. Auch sie enthält eine Edition der Katasterkarte, eine aktuelle Karte, Reproduktionen der Stadt- und Umlandkarte aus dem 19. Jahrhundert, der ältesten, repräsentativen Stadtansicht und des ältesten Stadtsiegels sowie eine im Vierfarbendruck vorbereitete Karte, die die räumliche Entwicklung der Stadt zeigt14. Ein separates editorisches Unternehmen ist der Historische Atlas von Wien, in dem hauptsächlich Autorenkarten veröffentlicht werden, die die städtebauliche und demographische Entwicklung der Wiener Metropole sowie die soziale Struktur ihrer Einwohner im 19. und 20. Jahrhundert dokumentieren15. Über die vorbereitenden Arbeiten am Atlas der französischen Städte wurde zwar bereits 1968 auf einer Konferenz der Commission Internationale pour l'Histoire des Villes referiert, die ersten Hefte erschienen jedoch erst 1982. Bis 1998 wurden Atlanten von 42 Städten veröffentlicht. Einzelne Hefte enthalten einen historischen Kommentar sowie eine auf der Grundlage der Katasterkarte bearbeitete Stadtkarte im Maßstab 1:2 500. Sie hat jedoch nicht den Charakter einer Quellenedition, da die Herausgeber auf sie auch Informationen über die räumliche Entwicklung der Stadt übertragen haben. 16 13
Österreichischer Städteatlas, Lief. 1-6, hrsg. von Renate Banik-Schweitzer [u. a.], Wien 1982-2000; außerhalb dieser Reihe erschien: Historischer Atlas der Stadt Salzburg, hrsg. von Peter F. Kramml [u. a.], Salzburg 2000. 14 Zur Konzeption des Atlasses siehe Ferdinand OPLL, Der Österreichische Städteatlas. Ein Werkstattbericht, in: Nordost-Archiv 22/97 (1989), S. 307-316. 15 Historischer Atlas von Wien, Lief. 1-6, hrsg. von Renate Banik-Schweitzer [u. a.], Wien/München 1981-1998; eine wichtige Ergänzung des Atlasses sind die analytischen Studien, die in der Reihe „Kommentare zum Historischen Atlas von Wien", bisher 5 Bände, veröffentlicht werden. 16 Atlas historique des villes de France, hrsg. von Charles Higounet [u. a.], Paris 1982-1997.
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Jahrbuch fur Europäische Geschichte 3 (2002)
Die Veröffentlichung des Historischen Atlasses der irischen Städte wurde zum ersten Mal im Jahre 1978 während einer in Dublin stattfindenden Konferenz „Irish towns and medieval Europe" diskutiert17. Seit 1986 erschienen Hefte zu 10 Städten18. Die geographische Reichweite des Atlasses umfasst sowohl die Irische Republik als auch Nordirland. Die Hauptkarte eines jeden Hefts ist die Katasterkarte im Maßstab 1:2 500, soweit möglich aus der Zeit vor 1840, die auf der Grundlage von großmaßstäblichen (1:1 000 oder 1:500) Karten, die in den Jahren 1832-1842 entstanden, beruhen. Auf die Hauptkarte sind Informationen über die Bebauung, das Wege- und Straßennetz, Parks, Felder und Wasserläufe eingetragen worden. Zum kartographischen Kanon wurden auch die Reproduktion einer Karte von Stadt und Umland im Maßstab 1:50 000 etwa aus der Mitte des 19. Jahrhunderts sowie eine aktuelle Stadtkarte im Maßstab 1:5 000 bestimmt. Die einzelnen Hefte enthalten außerdem Reproduktionen der interessantesten Ansichten sowie Luftaufnahmen. Auf eine interessante Art und Weise wurde im irischen Atlas der historische Kommentar bearbeitet. Neben den Grundzügen der räumlichen Entwicklung der Stadt wurden darin die wichtigsten Informationen und statistischen Daten zur Stadtgeschichte dargestellt, nach sachlichen und topographischen Stichworten geordnet (ζ. B. Verwaltung, Bevölkerung, Häuser, Straßen). Der Historische Atlas der italienischen Städte besteht aus zwei parallelen editorischen Projekten. Unter der Leitung von Francesca Bocchi (Bologna) werden die Stadtatlanten von Norditalien und Sardinien bearbeitet19. Enrico Guidoni (Rom) leitet ein anderes Team, das mit der Herausgabe der Städteatlanten Süd- und Mittelitaliens beschäftigt ist20. In den Jahren 1986-2000 erschienen Hefte zu 16 Städten. Die editorischen Rahmenbedingungen des italienischen Atlasses gehen weit über die Richtlinien der Commission Internationale pour l'Histoire des Villes hinaus. Das Ziel dieser Edition ist die Präsentation von quellengestützten archivalischen und archäologischen Forschungen zur Urbanistik, räumlichen Entwicklung und Soziotopographie der Städte21. Die einzelnen Hefte enthalten einen umfangreichen historischen Kommentar, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Quellenanhänge. Das Hauptelement des kartographischen Teils ist eine Stadtkarte im Maßstab 17
Kathrin Mary DAVIS, The Irish historic towns atlas: a recent comer to the European towns atlas scheme, in: Bulletin of the Society of University Cartographers 21/2 (1988), S. 61-65. 18 Irish Historic Towns Atlas, hrsg. von Anngret Simms [u. a.], Dublin 1986-1998. 19 Atlante storico delle città italiane (Italia settentrionale e Sardegna), hrsg. von Francesca Bocchi, Bologna 1986-1997. 20 Atlante storico delle città italiane (Italia centrale e meridionale), hrsg. von Enrico Guidoni, Roma 1986-2000. 21 Zur Konzeption des Atlasses vgl. Francesca BOCCHL/Enrico GUIDONI, L'atlante storico delle città italiane, in: Storia della Città 34/35 (1985), S. 178-180; Enrico GUIDONI, Temi. Notizie e prospettive dell'atlante storico delle città italiane, in: Ebd. 49 (1990), S. 3 f.
Czaja, Die historischen Atlanten
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1:2 500, die auf der Grundlage von verschiedenen kartographischen Quellen aus dem 19. Jahrhundert bearbeitet worden ist. Auf der Karte werden Informationen über die räumliche und städtebauliche Entwicklung der Stadt vom Mittelalter bis zur Gegenwart vermittelt. Außerdem enthält der italienische Atlas Karten von Stadt und Umland, zahlreiche Skizzen und Karten zur räumlichen Entwicklung sowie eine breite Auswahl von Reproduktionen von Karten, Ansichten und Fotografien. Die Atlanten der größten Städte (Bologna, Rom) sind auf mehrere Hefte verteilt, die bestimmte historische Epochen umfassen. Im Rahmen des seit 1982 herausgegebenen Atlasses der niederländischen Städte wurden bisher 5 Hefte veröffentlicht. Der Atlas hat vor allem den Charakter einer Quellenedition22. Die Hauptkarte ist eine Neuzeichnung der Katasterkarte aus dem 19. Jahrhundert im Maßstab 1:2 500. Außer der Stadtund Umlandkarte im Maßstab 1:50 000 und einer geophysischen Karte im Maßstab 1:10 000 enthalten die Hefte des Atlasses zahlreiche Reproduktionen von alten Karten und Ansichten sowie Karten und Skizzen, die die räumliche Entwicklung der Stadt dokumentieren. Der kartographische Teil wird durch einen umfangreichen historischen Kommentar ergänzt. Der historische Atlas der belgischen Städte erscheint in zwei Reihen. Im Rahmen des Atlas Historique des Villes Belges wurden in den Jahren 19901993 Atlanten von drei Städten (Lier, Brügge, Tielt) herausgegeben23. In den 90er Jahren wurde der Plan eines Editionsvorhabens entwickelt, in dem die Veröffentlichung von 21 Städteatlanten (10 wallonische, 10 flämische Städte und Brüssel) geplant wird. Die editorischen Voraussetzungen dieses Unternehmens knüpfen an die Empfehlungen der Commission Internationale pour l'Histoire des Villes an. Bisher wurde im Rahmen des Projekts ein Heft herausgegeben24. Beachtenswert ist der historische Kommentar, der mit dem im irischen Atlas vergleichbar ist. Das Redaktionskomitee für den Atlas skandinavischer Städte wurde 1973 gegründet. Auf einem Kopenhagener Symposion wurde für alle skandinavischen Länder ein gemeinsames Editionsprogramm angenommen. Im Rahmen des Atlasses war die Veröffentlichung von 15 Heften beabsichtigt (1 isländische, 2 finnische, 3 norwegische, 4 schwedische und 5 dänische Städte)25. Diese Pläne erfuhren jedoch gewisse Modifikationen. Bisher sind 4 dänische und je 3 schwedische und finnische Atlanten erschienen. Die Atlanten der dä22
Historische stedenatlas van Nederland, hrsg. von Peter A. Henderikx [u. a.], Delft 1982— 1990. 23 Atlas Historique des Villes Belges - Historische Stedenatlas van België, hrsg. von Adriaan E. Verhulst und Jean-Marie Duvosquel, Bruxelles 1990-1993. 24 Atlas Historique des Villes de Belgique: Dossiers typologiques - Historische Stedenatlas van België: Typologische dossiers, hrsg. von Raymond van Uytven und Adriaan E. Verhulst, Bd. 1 : Viaanderen - Maaseik, bearb. von Olivier Debaere, Bruxelles 1997. 25 WIK/HALL, Urban history atlases (Anm. 7), S. 67.
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nischen, schwedischen und isländischen Städte werden nach ziemlich einheitlichen editorischen Regeln bearbeitet26. Außer der Katasterkarte (1:2 500) enthalten sie zahlreiche Reproduktionen von Karten und Ansichten sowie Karten, die die räumliche und städtebauliche Entwicklung dokumentieren. Es ist zu betonen, dass der historische Kommentar neben der Topographie auch die Gestaltung und den Wandel der soziotopographischen Struktur berücksichtigt. Viel bescheideneren Inhalts waren die zwei ersten Hefte des finnischen Atlasses27. Ihr kartographischer Teil bestand nur aus der Katasterkarte und zwei Plänen, die die soziale Struktur der Einwohner darstellten. Erst das dritte Heft des finnischen Atlasses wurde nach dem Muster bearbeitet, der bei anderen nationalen Atlanten Skandinaviens verwendet wurde28. Die Vorbereitungsarbeiten zum Atlas der schweizerischen Städte begannen in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts29. Geplant wurde, daß der Atlas einen repräsentativen Überblick der Städtetypen sämtlicher Schweizer Kantone liefern sollte. Neben Karten, die durch die Commission Internationale pour l'Histoire des Villes empfohlen wurden (Katasterkarte, Umlandkarte und moderne Stadtkarte), enthält der schweizerische Atlas auch zahlreiche Reproduktionen von alten Karten und Ansichten sowie thematische Karten und modernes Karten- und Bildmaterial. Der historische Kommentar und eine reiche Auswahl von Karten und Abbildungen zeigen sowohl wesentliche Entwicklungszüge der Stadt als auch ihre funktionelle Verbindung mit dem Umland30. Nach 1989 wurde das Vorhaben von historischen Städteatlanten auch in den Ländern des ehemaligen Ostblocks realisierbar. Im Jahre 1990 begannen in Thorn (Tonai) die vorbereitenden Arbeiten am Historischen Atlas polnischer Städte. Wegen der Vielfalt der kartographischen Quellen zu polnischen Gebieten, die im 19. Jahrhundert unter der Herrschaft von Russland, Preußen und Österreich standen, wird der Atlas in Lieferungen herausgegeben, die die einzelnen historischen Regionen umfassen31. Bis 2000 hat das Forschungsteam an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Thorn 6 Hefte herausgegeben, die Stadtatlanten der Regionen Königlich-Preußen, Kujawien und Masuren enthalten32. Im Jahr 2000 erschien das erste Heft (Breslau) der Lie26
Scandinavian Atlas of Historie Towns, Bd. 3, 5, 7, 10 = Denmark, Bd. 1-4, Odense 1983-1999; dass., Bd. 6 = Iceland, Bd. 1 (Reykjavik); dass., 4, 8, 9 = Schweden, Bd. 1-3, Odense 1983-1997. 27 Dass., Bd. 1 - 2 = Finland, Bd. 1-2, hrsg. von Eino Jutikkala, Odense 1977. 28 Scandinavian Atlas of Historie Towns, New Series, Bd. 1 = Finland, Bd. 3: KokkolaGamlakarleby, hrsg. von Eino Jutikkala und Maijatta Hietala, Odense 1990. 29 Christoph LUCHSINGER/Martina STERCKEN, Zur Konzeption eines Schweizer Städteatlasses, in: Unsere Kunstdenkmäler 39 (1988), S. 438-448. 30 Historischer Städteatlas der Schweiz, H. 1-3, Zürich 1997. 31 CZAJA, Atlas historyczny (Anm. 7), S. 404. 32 Atlas Historyczny Miast Polskich - Historischer Atlas Polnischer Städte, hrsg. von Antoni Czacharowski, Bd. 1: Königliches Preußen und Hochstift Ermland, H. 1-4; Bd. 2: Kujawien, H. 1; Bd. 3: Masuren, H. 1, Toruh 1993-1998.
Czaja, Die historischen Atlanten
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ferung, die den schlesischen Städten gewidmet ist und für deren Bearbeitung ein Breslauer Forschungsteam verantwortlich zeichnet33. Die Herausgeber des polnischen Städteatlasses haben sich die Edition von kartographischen Quellen zum Hauptziel gemacht. Neben der Katasterkarte (herausgegeben nach Grundsätzen, die auch bei der Edition des Deutschen und Westfälischen Städteatlasses beachtet werden), der Umlandkarte (1:25 000 und 1:50 000) und der modernen Karte (1:10 000) enthält der Atlas zahlreiche Reproduktionen von Karten und Ansichten, die die Entwicklung der Stadt und der Ansiedlung im städtischen Umland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert dokumentieren. Für jedes Heft wurde zudem auf der Grundlage der Katasterkarte eine farbige Karte bearbeitet, die die Topographie und räumliche Entwicklung der Stadt dokumentiert, ferner finden sich ein historischer Kommentar und bibliographische Hinweise. Im Kreis der tschechischen Historiker wurde bereits Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts an die Edition der kartographischen Quellen gedacht. Ihre Realisation hat sich aber um mehr als 20 Jahre verzögert. Erst im Jahr 1995 erschien das erste Heft des tschechischen Städteatlasses. Bis 2001 wurden in dessen Rahmen Hefte zu 9 Städten der böhmischen Länder veröffentlicht34. Jedes Heft setzt sich aus kartographischem Material und historischem Kommentar zusammen, der die Grundzüge der Stadtgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der räumlichen und ökonomisch-sozialen Entwicklung der Stadt zusammenfasst. Der kartographische Teil enthält Reproduktionen der für jedes Heft obligatorischen Karten sowie Reproduktionen von den für die jeweilige Stadt typischen Karten, Ansichten, Luftaufnahmen und thematischen Karten. Der für alle Hefte des tschechischen Atlasses gemeinsame Kanon umfasst die folgenden Reproduktionen: die Landkarte Böhmens aus dem Jahr 1720, die erste militärische Landesaufnahme aus den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts, die Katasterkarte aus den 20er bis 40er Jahren des 19. Jahrhunderts und die Umlandkarte aus den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Im Jahr 2000 erschien das erste Heft des Atlasses der rumänischen Städte35. Er ist in drei regionalen Serien (Moldau, Walachei, Transsilvanien) geplant. Der Inhalt des Atlasses entspricht den Empfehlungen der Internationalen Kommission für Stadtgeschichte. Der Atlas enthält neben der Katasterkarte (1:2 500 in schwarz-weißer Fassung), der Umlandkarte (1:50 000) und der modernen Stadtkarte (1:10 000) auch einige Reproduktionen von historischen Karten und Ansichten. Der historische Kommentar ist ähnlich wie in 33
Dass., Bd. 4: Schlesien, H. 1 : Wroclaw-Breslau, bearb. von Marta Mtynarska-Kaletynowa, Wroclaw 2001. 34 Historicity atlas mest Ceské republiky, Bde. 1-9, hrsg. von FrantiSekSmahel [u. a.], Praha 1995-2001. 35 Atlas Istorie al. Oraselor Din Romania - Städtegeschichteatlas Rumäniens, hrsg. von Paul Niedermaier [u. a.], Reihe C: Transilvania, H. 1: Sighisoara (Schäßburg), Bucurejti 2000.
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Jahrbuch för Europäische Geschichte 3 (2002)
dem irischen Atlas bearbeitet. Er besteht aus einer Chronik der Stadt, in der die wichtigsten Ereignisse aus der Stadtgeschichte dargestellt werden, und aus Kapiteln, die den wichtigsten Elementen der Stadtentwicklung wie Demographie, Struktur der Flurstücke, räumliche Entwicklung, öffentliche Gebäude, Straßennamen usw. gewidmet sind. Aus dem oben Dargestellten geht hervor, dass die Initiative der Commission Internationale pour l'Histoire des Villes in den europäischen Ländern allmählich einen wachsenden Mitarbeiterkreis gewinnt. Während in den 70er Jahren Stadtatlanten nur in 3 Ländern herausgegeben wurden, waren in den 80er und 90er Jahren Forscher aus 10 bzw. 14 Ländern mit Editionsvorhaben beschäftigt. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden Atlanten von 347 Städten veröffentlicht (siehe Tabelle 1). Die einzelnen Nationalatlanten unterscheiden sich untereinander hinsichtlich der Größe und des Inhalts. Das Format der Hefte schwankt zwischen 34x49 und 30x42 Zentimeter. Auch die Realisation des grundsätzlichen Ziels des Projekts, der Edition der Urkatasterkarte, wird von den einzelnen Herausgebern unterschiedlich aufgefasst. In den meisten Atlaswerken wird diese Karte als Neuzeichnung der großmaßstäblichen Karte herausgegeben. In den englischen, irischen, italienischen und französischen Atlanten hat die Katasterkarte den Charakter einer Rekonstruktion, die sich auf verschiedene kartographische Quellen stützt. In dem tschechischen Atlas wird die Katasterkarte als Reproduktion der originalen Quelle herausgegeben. Sehr unterschiedlich ist der Umfang der Atlanten. Das Mindestprogramm, das sich auf die durch die Commission Internationale pour l'Histoire des Villes empfohlenen Karten beschränkt, wird in den französischen, deutschen und österreichischen Atlanten realisiert. Wegen dieser Beschränkung ist allerdings die Publikation einer großen Anzahl der Atlanten möglich. Die meisten Herausgeber versuchen jedoch inzwischen den kartographischen Teil durch die Reproduktionen von interessanten Karten und Stadtansichten zu ergänzen. Abgesehen von der angesprochenen Differenzierung, schaffen die Städteatlanten ohne Zweifel eine Grundlage für breit angelegte vergleichende Forschungen. Die Katasterkarte im Maßstab 1:2 500, sei sie eine Neuzeichnung oder eine Rekonstruktion, gibt die Morphologie der Stadt wieder, die Struktur der Flurstücke und die Erschließung des Stadtraums. In allen Atlanten sind auch die Umlandkarten aus dem 19. Jahrhundert enthalten, die die Funktion der Stadt in ihrem Umland dokumentieren. Die moderne Karte vermittelt ein Bild von der städtebaulichen Entwicklung. Die unter der Schirmherrschaft der Commission Internationale pour l'Histoire des Villes herausgegebenen Atlanten spiegeln eindringlich die ganze Komplexität des historischen Phänomens der europäischen Stadt. Auf der einen Seite besitzt sie wesentliche, gemeinsame Grundzüge, andererseits aber zeichnet sie sich durch große Differenziertheit aus, die sich aus den regionalen und individuellen Bedingungen
Czaja, Die historischen Atlanten
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ergibt. Es ist zu bedauern, dass das in über 350 Atlanten enthaltene reiche kartographische Material in der allgemeinen historischen Forschung noch nicht gebührend berücksichtigt wird.
Summary The purpose of this contribution is to present an editorial enterprise, "Die historischen Atlanten der europäischen Städte", realized under the patronage of the Commission Internationale pour l'Histoire des Villes in several European countries. The guidelines for the preparation of the atlases were established at the Commission's conference in Oxford in 1968 and at the meeting of the atlases' editors in Münster in 1995. In the course of the last three decades, the initiative of the Commission Internationale pour l'Histoire des Villes was taken on in 14 European countries. The author makes a short presentation of the individual "national" atlases. The atlases undoubtedly create a basis for wide-ranging comparative research. They reflect the whole complexity of the historical phenomenon known as the European town. On the one hand, they have fundamental, common characteristics, but on the other, they show at the same time a great diversity.
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Jahrbuch fiir Europäische Geschichte 3 (2002)
Tabelle: Die europäischen Städteatlanten
Anzahl der Städte Land 70er Jahre
80er Jahre
90er Jahre 4
Belgien Dänemark
2
2 52
Deutschland
70
56
England
12
1
Finnland
2
1
Frankreich
29
13
Holland
4
1
Irland
3
7
Island
1
Italien
7
18
Österreich
18
21
Polen
7
Rumänien
1 1
Schweden
2
Schweiz
3
Tschechien
9
zusammen
84
122
141
EUROPA-INSTITUTE UND EUROPA-PROJEKTE Das Nanovic Institute for European Studies an der University of Notre Dame Von
J. Robert Wegs Das im Jahr 1993 gegründete Nanovic Institute bemüht sich, europäische Studien an der University of Notre Dame zu fördern, indem es ein Forum zur Diskussion von Kernfragen aus allen Bereichen bietet, die Europa und die Beziehungen Europas zur übrigen Welt betreffen, und indem es die Forschungen von Fakultätsmitgliedern und Studenten unterstützt. Die interdisziplinäre Ausrichtung des Instituts kommt vielen Abteilungen in den Geistesund Sozialwissenschaften zugute. Es ermuntert zum Studium der europäischen Gesellschaften, Kulturen und internationalen Beziehungen, weil deren wachsende Bedeutung in einer globalen Welt es erforderlich macht, dass Amerika mit deren Entwicklung Schritt hält. Mitglieder des Nanovic Institute sind in besonderer Weise qualifiziert, die Ursprünge der europäischen Entwicklung zu untersuchen und zu erklären. Die in der katholischen Tradition verwurzelte Universität verfugt über das Personal und die Ressourcen, um die christlichen (d. h. katholischen, protestantischen und orthodoxen) und nichtchristlichen (d. h. jüdischen und muslimischen) Kräfte zu beleuchten, die auf Einheit oder auch auf Trennung unter den europäischen Staaten hinwirken. Religion war in Europa zwar oft ein Herd des Haders, sie hat aber auch eine wichtige Rolle bei der Bildung der Europäischen Union gespielt (die zu einem erheblichen Teil durch christdemokratische Kräfte geleistet wurde) ebenso wie bei der Überwindung totalitärer Regime in den 1980er Jahren und allgemein bei der Schaffung einer Basis fur die Menschenrechte und die bürgerliche Gesellschaft. Lehrende und Studenten in Notre Dame nehmen den Einfluss der Religion auf Gesellschaft, Kultur und Politik ernst und pflegen die religiöse Dimension in ihre Analysen europäischer Themen einzuschließen. Mit anderen Worten: Die hiesigen Wissenschaftler wollen ein umfassenderes Bild der europäischen Einheit gewinnen.
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Jahrbuchför Europäische Geschichte 3 (2002) Forschungsfelder
Das Nanovic Institute for European Studies ist den höchsten Standards akademischer Lehre und Forschung verpflichtet. Es fordert das Studium europäischen Wandels mittels methodischer und empirischer Ansätze, die sich nicht primär auf einen einzelnen Nationalstaat bzw. dessen Politik konzentrieren, und es legt besonderes Gewicht auf vergleichende Arbeiten zu transnationalen Themen. Das Leitungsgremium des Instituts hat vier Themenschwerpunkte formuliert: • Europa und der Rest der Welt: Welchen Einfluss haben europäische Ideen, Kulturen, Institutionen, Politik und Wirtschaft in der Welt? • Der europäische Wandel: Inwieweit beeinflussen die folgenden Wandlungen die europäische religiöse und kulturelle Vielfalt: Nationalismus, Ethnizität, Migration, Multikulturalismus, Regionalismus, die alle desintegrative Konsequenzen haben könnten, wie auch Gegenstände der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Integration/Zentralisierung Europas? • Europäische Kultur und Sprachen: Wie können europäische Sprachen und kulturelle Erzeugnisse im Verhältnis und durch den Vergleich mit anderen Kulturen bewertet werden? • Europa, Religion und katholische Kirche: Wie beeinflussen religiöse, insbesondere katholische, Überzeugungen Europäer, europäische Gesellschaften und europäische Kulturen? Aktivitäten Das Nanovic Institute organisiert jährliche Vortragsreihen über Themen wie Christdemokratie, Migration, Nationalismus usw. Es hat Konferenzen veranstaltet zu Gegenständen wie Deutsche Wiedervereinigung, Migration und Christdemokratie. Es vergibt Promotions- und Graduiertenstipendien fur Forschungsprojekte, die sich vor allem auf gegenwärtige Fragen von Globalisierung, nationaler Identität, Regionalismus, Ethnizität, Migration, Multikulturalismus und kulturelle Verschiedenheit/Einheit konzentrieren - Fragen, die Europa trennen und vereinen. Ferner vergibt es jährlich drei visiting fellowships und betreut das Fulbright-Programm für Italien sowie ein AustauschProgramm mit der Universität Warschau. In diesen Austausch einbezogen sind Wissenschaftler aus einer Reihe von Disziplinen wie Theologie, Geschichte, Politologie, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Anthropologie, Literaturwissenschaft und Philosophie. Das Warschauer Programm ist ein Faculty Exchange Program zwischen Notre Dame und der Universität Warschau. Seit 1998 haben vier Warschauer Wissenschaftler Gastprofessuren in Notre Dame wahrgenommen, und zwei Professoren aus Notre Dame sind an
J. Robert Wegs, Das Nanovic Institute
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die Universität Warschau gegangen. Dies kann für ein Semester oder ein Akademisches Jahr geschehen; daneben gibt es auch einen kurzfristigen Austausch, der nicht länger als einen Monat dauern muss. Das Nanovic Institute sowie das College of Arts and Letters an der Universität Notre Dame unterstützen den italienischen Fulbright-Wissenschaftler für die Freien Künste. In Einzelfállen stellt das Institut zusätzliche Mittel für die Schaffung neuer wissenschaftlicher Stellen zur Verfügung. Der jährlich erscheinende Newsletter des Nanovic Institute erfahrt eine große Verbreitung unter den Mitgliedern der European Studies Association in den Vereinigten Staaten und Kanada sowie im European Consortium for Political Research und an europäischen Universitäten.
Ziele und Projekte Zu den Zielen für die kommenden Jahre zählt neben der Erschließung neuer Finanzquellen und der Implementierung des Hauptstudienfachs Europäische Studien die Fortsetzung der Schriftenreihen des Instituts und die Durchführung einer für Dezember 2002 geplanten Konferenz über den EURO sowie eines Workshops zum Thema „Ethnics as an element for cohesion in a postnational Europe" im Frühjahr 2002. Femer soll ein regelmäßiges Forschungskolloquium eingerichtet werden. Außerdem sollen durch die Bereitstellung finanzieller Mittel für die besten Forschungsprojekte neue Forschungsfelder für Fakultätsangehörige und für graduierte und nichtgraduierte Studenten erschlossen werden. Ein weiteres Projekt ist die Schaffung einer Webseite für die allgemeine Öffentlichkeit und insbesondere für Wissenschaftler, die sich mit der europäischen Integration beschäftigen. Vor allem durch das Internet soll auch eine Reihe von Arbeitspapieren Verbreitung finden, die aus den Vortragsreihen und Workshops des Instituts hervorgehen. Auf diese Weise strebt das Nanovic Institute an, in Kürze eine der führenden 20 nordamerikanischen Forschungseinrichtungen zu werden, die sich auf Europa konzentrieren. Es möchte sowohl ein „European Union Center" als auch eine führende Institution für Europa-bezogene Forschungen sein.
Summary The Nanovic Institute, which was founded in 1993, seeks to enhance European studies at the University of Notre Dame by providing a forum for the discussion of key issues concerning Europe and European relations with the
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Jahrbuch fiir Europäische Geschichte 3 (2002)
wider world across all fields and by supporting faculty and student research. The Institute pursues these objectives through scholarly exchanges, lectures, conferences, and seminars. The Institute encourages the study of European societies, cultures and international relations. Standing within the Catholic tradition, the University of Notre Dame has the personnel and resources to shed light on the Christian and non-Christian dynamics toward unity and also disunity among the European states.
AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE1 Europa-Schrifttum 2001 (mit Nachträgen) Zusammengestellt von
Matthias Schnettger Allgemeines. S. 221 - Epochenübergreifend. S. 222 - Mittelalter (500-1500). S. 223 Frühe Neuzeit (1500-1789). S. 225 - Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert (17891815). S. 227 - 19. Jahrhundert (1815-1918). S. 227 - 20. Jahrhundert I: Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg (1918-1945). S. 228 - 20. Jahrhundert II: Zeit nach 1945. S. 230 - Beziehungen zu Außereuropa, Kolonialismus, Entkolonialisierung. S. 234 Ideen-, Kultur-, Wissenschafts- und Mentalitätsgeschichte. S. 235 - Frauen- und Geschlechtergeschichte. S. 237 - Europäisches Judentum. S. 237 - Kirchengeschichte. S. 238 Militärgeschichte. S. 239 - Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. S. 239 Sozialgeschichte. S. 240 - Wirtschaftsgeschichte. S. 241 - Mitteleuropa. S. 244 - Osteuropa. S. 246 - Skandinavien. S. 248 - Südeuropa. S. 248 - Südosteuropa. S. 249 Westeuropa. S. 250.
Allgemeines: Eight Eurocentric Historians, London: Routledge 2 0 0 0 . Constructing Europe's identity. The external dimension, hrsg. von Lars-Erik Cederman, London: Lynne Rienner Publishers, 2001. J. M . BLAUT,
Endangered Peoples of Europe. Struggles to Survive and Thrive, hrsg. von Jean S. Forward, London: Greenwood Press, 2001. Europa: Einheit und Vielfalt. Eine interdisziplinäre Betrachtung, hrsg. von Dieter Holtmann und Peter Riemer, Münster [u. a.]: Lit, 2001 (Region - Nation - Europa 10). Europa: miti di identità, hrsg. von Carlo Ossola, Venezia: Marsilio, 2001 (Saggi Marsilio). Europa von innen und außen. Universalität und Partikularität, hrsg. von Klaus Held und Franz Knipping, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2001 (Europäische und internationale Studien 1). Das europäische Projekt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hrsg. von Wilfried Loth, Opladen: Leske und Budrich, 2001 (Grundlagen für Europa 8). Europahandbuch 2001, Red. Gerhard Hitzler, Martina Ostarek und Karl-Ludwig Steinhäuser, Köln: Heymanns, 2001 [auch CD-Rom], The New Europe at the Crossroads. Europe's Classical Heritage in the Twenty-First Century, hrsg. von Ursula E. Beitter, New York [u. a.]: Lang, 2001. 1
Die vorliegende Bibliographie versteht sich ausdrücklich als Auswahlbibliographie. Erfasst wurden ausschließlich Monographien und Sammelbände. Übersetzungen sind nur dann berücksichtigt worden, wenn es sich um Übertragungen ins Deutsche handelt. Die Gliederung der Bibliographie kann nach wie vor diskutiert werden; der eine oder andere Titel hätte ohne weiteres auch in eine andere Rubrik eingeordnet werden können. Auf Querverweise wurde verzichtet. Dem Benutzer wird daher empfohlen, gegebenenfalls auch thematisch verwandte Rubriken einzusehen.
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Questions of Identity. Exploring the character of Europe, hrsg. von Christopher Joyce, London/New York: Tauris, 2001.
Epochenübergreifend: Christian BAECHLER, L'aigle et l'ours. La politique russe de l'Allemagne de Bismarck à Hitler 1871-1945, Bern [u. a.]: Lang, 2001 (L'Europe et les Europes 1). David BAKER, Models of Facism. Ideology and leadership in the parties of the European Far-Right, London/New York: Tauris, 2001 (I. B. Tauris). Christdemokratie in Europa im 20. Jahrhundert/Christian Democracy in 20th Century Europe/La Démocratie Chrétienne en Europe au XXe siècle, hrsg. von Michael Gehler [u. a.], Wien: Bühlau, 2001 (Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, Arbeitskreis Europäische Integration, Historische Forschungen, Veröffentlichungen 4). Chris Coole/John PAXTON, European political facts of the twentieth century, Basingstoke: Palgrave, 5 2001. Demokratie und Diktatur in Europa. Geschichte und Wechsel der politischen Systeme im 20. Jahrhundert, hrsg. von Heiner Timmermann und Wolf D. Gruner, Berlin: Duncker & Humblot, 2001 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen 95). Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, hrsg. von Reinard C. Meier-Walser und Bernd Rill, München: Atwerb-Verlag, 2001 (Sonderausgabe Politische Studien). The European Renaissance and Reformation, 1350-1600, hrsg. von Norman J. Wilson, Detroit, MI: Gale Group, 2001 (World eras 1). Patrick J. GEARY, Myths of nations. The peoples of Europe from late antiquity to early Middle Ages, Princeton, N. J.: Princeton University Press, 2001. Roberto GUALTIERI, Introduzione alla storia contemporanea. L'Europa nel mondo del 20 secolo, Roma: Carocci, 2001 (Università). Hartmut KAELBLE, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York: Campus, 2001. Hartmut KAELBLE, Wege zur Demokratie. Von der Französischen Revolution zur Europäischen Union, Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2001. Julio LÓPEZ-DAVALILLO LARREA, Atlas histórico de Europa. Desde el Paleolítico hasta el siglo XX, Madrid: Síntesis, 2001. Frank MCDONOUGH, Conflict, communism and fascism. Europe 1890-1945, Cambridge: Cambridge University Press, 2001 (Cambridge perspectives in history). Nicolao MERKER, Il sangue e la terra. Due secoli di idee sulla nazione, Roma: Editori riuniti, 2001 (Il cerchio). Pascal MORAND, La victoire de Luther. Essai sur l'Union Economique et Monétaire, Napoli: Vivarium, 2001 (Biblioteca europea 24). Norman M. NAIMARK, Fires of hatred. Ethnic cleansing in twentieth-century Europe, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press, 2001. Nation und Europa. Studien zum internationalen Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift filr Peter Krüger zum 65. Geburtstag, hrsg. von Gabriele Clemens, Stuttgart: Steiner, 2001. A Political Chronology of Europe, London: Europa Publications, 2001. Reinterpreting revolution in twentieth-century Europe, hrsg. von Moira Donald und Tim Rees, Basingstoke: Macmillan, 2001 (Themes in focus).
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John Morris ROBERTS, Europe 1880-1945, Harlow: Longman, 3 2001 (A general history of Europe). Russland und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Zwei Sonderwege im Vergleich, hrsg. von Leonid Luks und Donald O'Sullivan, Köln/Weimar: Böhlau, 2001 (Schriften des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien 4). Marius SCHNEIDER, Sicherheit, Wandel und die Einheit Europas. Zur generativen Rolle von Sicherheitsdiskursen bei Bildung zwischenstaatlicher Ordnungen in Europa vom Wiener Kongress bis zur Erweiterung der Nato, Leverkusen: Leske + Budrich, 2001. Gerhard SCHULZ, Europa und der Globus. Städte, Staaten und Imperien seit dem Altertum, Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2001. Barbara SPINELLI, Il sonno della memoria. L'Europa dei totalitarismi, Milano: A. Mondadori, 2001 (Saggi). Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten, hrsg. von Christoph Conrad und Jürgen Kocka, Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2001. Storia e storici d'Europa nel XX secolo, hrsg. von Maria Matilde Benzoni und Brunello Vigezzi, Milano: Edizione Unicopli, 2001. Total war and historical change. Europe, 1914-1955, hrsg. von Arthur Marwick [u. a.], Buckingham: Open University Press, 2001. Vereinigungen und Wiedervereinigungen in der modernen europäischen Geschichte. Von der italienischen 1860 bis zur zweiten deutschen 1990. Kolloquium zu Ehren von Prof. Dr. Jörg Roesler anläßlich seines 60. Geburtstages, Berlin: Helle Panke, 2001 (Pankower Vorträge 35). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000, hrsg. von Anton Schäfer, Dornbirn: BSA-Verlag, 2001. War, Peace and World Orders in European Histoiy, hrsg. von Beatrice Heuser und Anja V. Hartmann, London: Routledge, 2001 (New International Relations). Wegmarken europäischer Zivilisation, hrsg. von Dirk Ansorge [u. a.], Göttingen: Wallstein-Verlag, 2001. Zwischen den Alpen und dem Meer - Entre les Alpes et la mer, hrsg. von Thomas Busset [u. a.], Zürich: Chronos, 2001 (Geschichte der Alpen - Histoire des Alpes - Storia delle Alpi 6).
Mittelalter
(500-1500):
Carlrichard BRÜHL, Die Geburt zweier Völker. Deutsche und Franzosen (9.-11. Jahrhundert. Mit einem Vorwort von Theo Kölzer, Köln/Weimar: Böhlau, 2001. La caída del Imperio Romano y la génesis de Europa. Cinco nuevas visiones, hrsg. von Gonzalo Bravo, Madrid: Editorial Complutense, 2001 (La mirada de la istoria). Trevor DEAN, Crime in medieval Europe, 1200-1550, Harlow: Longman, 2001. The early Middle Ages. Europe 400-1000, hrsg. von Rosamond McKitterick, Oxford/ New York: Oxford University Press, 2001 (The short Oxford history of Europe). Joachim EHLERS, Charlemagne: l'Européen entre la France et l'Allemagne, Stuttgart: Thorbecke, 2001 (Conférences annuelles 7). Europa an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert. Beiträge zu Ehren Werner Goez, hrsg. von Klaus Herbers, Stuttgart: Steiner, 2001. Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs. Zwanzig internationale
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Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik, hrsg. von Michael Borgolte, Berlin: Akademie Verlag, 2001 (Europa im Mittelalter 1). Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters. Eine analytische Bibliographie, hrsg. von Werner Paravicini, Teil 1 : Deutsche Reiseberichte, bearb. von Christian Halm, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 22001 (Kieler Werkstücke, Reihe D: Beiträge zur europäischen Geschichte des späten Mittelalters 5). Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie. Ausstellungskatalog, 3 Bde., Stuttgart: Theiß, 2000. Ireland and Europe in the early middle ages. Texts and transmission = Irland und Europa im früheren Mittelalter. Texte und Überlieferung, hrsg. von Próinséas Ni Chatháin und Michael Richter, Dublin: Four Courts Press, 2001. William Chester JORDAN, Europe in the high Middle Ages, London: Allen Lane, 2001 (The Penguin History of Europe). Martin KAUFHOLD, Deutsches Interregnum und europäische Politik. Konfliktlösungen und Entscheidungsstrukturen 1230-1280, Hannover: Hahn, 2001 (MGH Schriften 49). Michael MCCORMICK, Origins of the European Economy. Communications and Commerce AD 300-900, Cambridge: Cambridge University Press, 2001. Otto der Große, Magdeburg und Europa. Katalog der 27. Ausstellung des Europarates und Landesausstellung Sachsen-Anhalt, hrsg. von Matthias Puhle, 2 Bde., Mainz: von Zabern, 2001. The Oxford Illustrated History of Medieval Europe, hrsg. von George Holmes, Oxford: Oxford University Press, 2001. Ernst PITZ, Die griechisch-römische Ökumene und die drei Kulturen des Mittelalters. Geschichte des mediterranen Weltteils zwischen Atlantik und Indischem Ozean 270-812, Berlin: Akademie-Verlag, 2001 (Europa im Mittelalter 3). Walter POHL, Die Völkerwanderung, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, 2001. Powerbrokers in the Late Middle Ages. The Burgundian Low Countries in a European context = Les courtiers du pouvoir au bas moyen-âge. Les Pays-Bas bourguignons dans un contexte europeéen, Tumhout: Brepols, 2001 (Burgundica IV). Frank SCHULZ-NIESWANDT, Gilden als „totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Rechts- und religionsgeschichtliche Wurzeln der Genossenschaftlichkeit als Archetypus menschlicher Gesellung im Lichte ethnologischen Vergleichsmaterials, Weiden/Regensburg: eurotrans-Verlag, 2001 (Genossenschaft und Versicherung 1). Thema: „Das Reich und Polen - Parallelen, Interaktionen und Formen der Akkulturation im hohen und späten Mittelalter". Auf der Insel Reichenau vom 3.-6. Oktober 2000, Konstanz: Konstanzer Arbeitskreis ftlr Mittelalterliche Geschichte, 2001 (Konstanzer Arbeitskreis fur Mittelalterliche Geschichte, Protokolle über die Arbeitstagung 381). Unaufhebbare Pluralität der Kulturen? Zur Dekonstruktion und Konstruktion des mittelalterlichen Europa, hrsg. von Michael Borgolte, München: Oldenbourg, 2001 (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 32). Von Mohammed zu Karl dem Großen. Aufbruch ins Mittelalter, hrsg. von Roberto Cassanelli und Eduard Carboneil, Stuttgart: Theiss, 2001. Diana WEBB, Pilgrims and Pilgrimage in the Medieval West, London/New York: Tauris, 2000 (IB Tauris). Zwischen Reric und Bomhöved. Die Beziehungen zwischen den Dänen und ihren slawischen Nachbarn vom 9. bis ins 13. Jahrhundert. Beiträge einer internationalen Konferenz
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Leipzig 4.-6. Dezember 1997, hrsg. von Ole Harck und Christian Lübke, Stuttgart: Steiner, 2001 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 11).
Frühe Neuzeit (1500-1789): Dariusz ADAMCZYK, Zur Stellung Polens im modernen Weltsystem der Frühen Neuzeit, Hamburg: KovaC, 2001 (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit 21). Altes Reich, Frankreich und Europa. Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von Olaf Asbach [u. a.], Berlin: Duncker & Humblot, 2001 (Historische Forschungen 70). Astrid BLOME, Das deutsche Rußlandbild im frühen 18. Jahrhundert. Untersuchungen zur zeitgenössischen Presseberichterstattung über Rußland unter Peter I., Wiesbaden: Harrassowitz, 2000 (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 57). Chris COOK/Philip BROADHEAD, The Longman handbook of early modern Europe, 1453-1763, Harlow: Longman, 2001 (Longman handbooks to history). Andrew CUNNINGHAM/Ole Peter GRELL, The Four Horsemen of the Apocalypse. Religion, War, Famine and Death in Reformation Europe, Cambridge: Cambridge University Press, 2001. Angela DE BENEDICTIS, Politica, governo e istituzioni nell'Europa moderna, Bologna: Il Mulino, 2001 (Le vie della civiltà). De la unión de coronas al Imperio de Carlos V. Congreso internacional, Barcelona, 2 1 25 de febrero de 2000, hrsg. von Ernest Belenguer Cebriá, 3 Bde., Madrid: Sociedad Estatal para la Conmemoración de los Centenarios de Felipe II y Carlos V, 2001. William DOYLE, The Ancien Regime, Houndmills: Palgrave, 2 2001. Early Modern Europe. An Oxford History, hrsg. von Euan Cameron, Oxford: Oxford University Press, 2001. Luis Miguel ENCISO RECIO, La Europa del siglo XVIII, Barcelona: Peninsula, 2001 (Historia, ciencia, sociedad 312). Formen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Frankreich und das Alte Reich im europäischen Staatensystem. Festschrift für Klaus Malettke, hrsg. von Sven Externbrink und Jörg Ulbert, Berlin: Duncker & Humblot, 2001 (Historische Forschungen 71). Französische Kultur - Aufklärung in Preußen. Akten der internationalen Fachtagung vom 20./21. September 1996 in Potsdam, hrsg. von Martin Fontius und Jean Mondot, Berlin: Berlin-Verlag Arno Spitz, 2001 (Aufklärung und Europa). Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt, hrsg. von Ronald G. Asch [u. a.], München: Fink, 2001 (Der Frieden 2). La Gazette d'Amsterdam Miroir de l'Europe au XVIIIe siècle, hrsg. von Pierre Rétat, Oxford: Voltaire Foundation, 2001 (Studies on Voltaire and the eighteenth century 2001,6). Giacomo Casanova tra Venezia e l'Europa, hrsg. von Gilberto Pizzamiglio, Firenze: Olschki, 2001 (Fondazione Giorgio Cini. Linea veneta 14). Jan GLETE, War & the state in early modem Europe. Spain, the Dutch Republic and Sweden as fiscal-military states, London: Routledge, 2001. Colin HEYWOOD, King William's other war. Habsburgs, Ottomans, the empire and the war on the Danube, London/New York: Tauris, 2001 (International Library of Historical Studies 21). Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit ( 1 5 -
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18. Jahrhundert). Société de cour et courtisans dans l'Europe de l'époque moderne ( X V e XVIIIe siècle). Internationaler Kongreß veranstaltet vom Seminar für Neuere Geschichte der Philipp-Universität Marburg in Zusammenarbeit mit der Universität Versailles SaintQuentin-en-Yvelines (ESR 17-18) vom 28. bis 30. September in Marburg, hrsg. von Klaus Malettke und Chantal Grell, Münster [u. a.]: Lit, 2001 (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit. Marburger Beiträge 1). Los jesuítas españoles expulsos. Su imagen y su contribución al saber sobre el mundo hispánico en la Europa del siglo XVIII. Actas del colloquio internacional de Berlin (7-10 de abril de 1999), hrsg. von Manfred Tietz in Zusammenarbeit mit Dietrich Briesemeister, Frankfurt a. M.: Vervuert/Madrid; Iberoamericana, 2001 (Bibliotheca Ibero-Americana 76). Christoph KAMPMANN, Arbiter und Friedensstifter. Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit, Paderborn [u. a.]: Schöningh, 2001 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte N. F. 21). Katharina II., Rußland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung, hrsg. von Claus Scharf, Mainz: Zabem, 2001 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Beiheft 45). James Van Horn MELTON, The rise of the public in enlightenment Europe, Cambridge: Cambridge University Press, 2001 (New approaches to European history 22). Merchants and marvels. Commerce, science, and art in early modern Europe, hrsg. von Pamela Smith und Paula Findlen, New York/London: Routledge, 2001. Geoffrey PARKER, Europe in crisis, 1598-1648, Oxford: Blackwell Publishers, 2 2001 (Blackwell classic histories of Europe). Hans PFISTER, Fremdes Brot in deutschen Landen. Wanderungsbeziehungen zwischen dem Kanton Zürich und Deutschland 1648-1800, Zürich: Staatsarchiv des Kantons Zürich,
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Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert
(1789-1815):
Simon BURROWS, French exile journalism and European politics, 1792-1814, Suffolk: Royal Historical Society, 2001 (Royal Historical Society studies in history. New series). Charles ESDAILE, The French Wars, 1792-1815, London: Routledge, 2001. Elisabeth FEHRENBACH, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongress, München: Oldenbourg, 4 2001 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 12). Andrew MATTHEWS, Revolution and reaction. Europe 1789-1849, Cambridge: Cambridge University Press, 2001 (Cambridge perspectives in history). Bernd WUNDER, Europäische Geschichte im Zeitalter der Französischen Revolution, 1789-1815, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, 2001.
19. Jahrhundert
(1815-1918):
Holger AFFLERBACH, Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Wien: Bühlau, 2001 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 92). Akten zur Geschichte des Krimkriegs, hrsg. von Winfried Baumgart, Ser. 4: Französische Akten zur Geschichte des Krimkriegs, Bd. 3: 3. März 1855 bis 29. Mai 1856, bearb. von Martin Senner, München: Oldenbourg, 2001. Anselm DOERING-MANTEUFFEL, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815-1871, München: Oldenbourg, 2 2001 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 15). Hans Joachim HAHN, The 1848 revolutions in German-speaking Europe, Harlow/New York: Longman, 2001 (Themes in modern German history series). JOHN KEEGAN, Der Erste Weltkrieg: eine europäische Tragödie. Dt. von Karl und Heidi Nicolai, Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, 2001. Libertà e Stato nel 1848-49. Idee politiche e costituzionali, hrsg. von Franco Livori, Milano: Giuffrè, 2001 (Storia delle dottrine politiche. Saggi & ricerche).
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Reiner MARCOWITZ, Großmacht auf Bewährung. Die Interdependenz französischer Innen· und Außenpolitik und ihre Auswirkungen auf Frankreichs Stellung im europäischen Konzert 1814/15-1851/52, Stuttgart: Thorbecke, 2001 (Beihefte der Francia 53). Roderick R. MCLEAN, Royalty and diplomacy in Europe, 1890-1914, Cambridge: Cambridge University Press, 2001 (New studies in European history). Berit PLEITNER, Die „vernünftige" Nation. Zur Funktion von Stereotypen über Polen und Franzosen im deutschen nationalen Diskurs 1850 bis 1871, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2001 (Mitteleuropa - Osteuropa 3). Helmut REINALTER, Die europäische Revolution 1848/49 in Polen und Österreich, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2001 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770-1850" 31). Lothar REINERMANN, Der Kaiser in England. Wilhelm II. und sein Bild in der britischen Öffentlichkeit, Paderborn [u. a.]: Schöningh, 2001 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 48). Ulrike RUTTMANN, Wunschbild - Schreckbild - Trugbild. Rezeption und Instrumentalisierung Frankreichs in der deutschen Revolution von 1848/49, Stuttgart: Steiner, 2001 (Frankfurter Historische Abhandlungen 42). Volker SELLIN, Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001. Verfassungswandel um 1848 im europäischen Vergleich, hrsg. von Martin Kirsch und Pierangelo Schiera, Berlin: Duncker & Humblot, 2001 (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 38). Volker WACKER, Die alliierte Besetzung Frankreichs in den Jahren 1814 bis 1818, Hamburg: Kovai, 2001 (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit 20). Ulrich WICHMANN, Über die Ursachen des Ersten Weltkriegs unter besonderer Berücksichtigung der deutschen, britischen und russischen Flottenpolitik, Frankfurt: Verlag Neue Wissenschaft, 2 2000.
20. Jahrhundert I: Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg (1918-1945): Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919-1944, hrsg. von Erwin Oberländer [u. a.], Paderborn [u. a.]: Schöningh, 2001. Elena CHINYAEVA, Russians outside Russia, The Emigré Community in Czechoslovakia, 1918-1938, München: Oldenbourg, 2001 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 89). Democratic Consolidation - The International Dimension: Hungary, Poland and Spain, hrsg. von Gerhard Mangott [u. a.], Baden-Baden: Nomos, 2000 (Wiener Schriften zur Internationalen Politik 1). Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, hrsg. von Michael Garleff, Köln/ Weimar: Böhlau, 2001. Europe in exile: European exile communities in Britain, 1940-1945, hrsg. von Martin Conway und José Gotovitch, New York: Berghahn Books, 2001. René GEOFFROY, Ungarn als Zufluchtsort und Wirkungsstätte deutschsprachiger Emigranten (1933-1938/39), Frankfiirt a. M. [u. a.]: Lang, 2001 (Studien zur Deutschen und Europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts 45). Christine M. GIGLER, Die Berichte der Coolidge-Mission im Jahr 1919. Die mitteleuro-
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lysen und Perspektiven. Von den Anfängen bis zur Grundrechtecharta, Essen: KlartextVerlag, 2001 (Edition Umbruch 14). Theorien europäischer Integration, hrsg. von Wilfried Loth und Wolfgang Wessels, Opladen: Leske + Budrich, 2001 (Grundlagen für Europa 7). Esther TLSA FRANCINI/Anja HEUSS/Georg KREIS, Fluchtgut - Raubgut. Der Transfer
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der Österreichisch-Bayerischen Gesellschaft e. V. am 28. Oktober 2000, hrsg. von Carl Paul Wieland. Mit einem Geleitw. von Benita Ferrerò-Waldner, Wien/München: Amalthea, 2001. Preußens Osten - Polens Westen. Das Zerbrechen einer Nachbarschaft, hrsg. von Helga Schultz, Berlin: Berlin-Verlag Amo Spitz, 2001 (Frankfurter Studien zur Grenzregion 7). Quellen zu den deutsch-polnischen Beziehungen 1815-1991, hrsg. von Reiner Pommerin und Manuela Uhlmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001 (Quellen zu den Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert 10). Rita RÖHR, Hoffnung - Hilfe - Heuchelei. Geschichte des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte in Betrieben des DDR-Grenzbezirks Frankfurt a. d. Oder 1966-1991, Berlin: Berliner Debatte, Wissenschaftsverlag/Bugrim, 2001. Rainer SCHMIDT, Die Wiedergeburt der Mitte Europas. Politisches Denken jenseits von West und Ost, München: Akademie-Verlag, 2001 (Politische Ideen 12). Rudolf SCHUSTER, Im Strudel der Geschichte. Die Slowakei auf dem W e g zurück nach Europa, Stuttgart: Hohenheim, 2001. Frank STEFFEN, „Polnische Patrioten"? Untersuchungen zum Polenbild indigener Deutscher im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin: dissertation.de, 2001. Ungarn in Europa: György Konrád, hrsg. von Armin Laschet und Friedbert Pflüger, Aachen: Einhard-Verlag, 2001. Ungarn und Europa. Rückblick und Ausblick nach tausend Jahren, hrsg. von Georg Brunner, München: Südosteuropa-Gesellschaft, 2001 (Südosteuropa-Studien 68). Piotr S. WANDYCZ, The Price of Freedom. A History of East Central Europe from the Middle Ages to the Present, London: Routledge, 22001. Richard von WEIZSÄCKER, Polnisch-deutsche Verständigung nach dem Zweiten Weltkrieg, hrsg. von Volker Drehsen, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001. Klaus ZERNACK, Preußen - Deutschland - Polen. Aufsätze zur Geschichte der deutschpolnischen Beziehungen, hrsg. von Wolfram Fischer und Michael G. Müller, Berlin: Duncker & Humblot, 2001 (Historische Forschungen 44). Wlodzimierz ZIENTARA, Sarmatia Europiana oder Sarmatia Asiana? Polen in den deutschsprachigen Druckwerken des 17. Jahrhunderts, Τοηιή: Wydawn. Uniw. Mikoiaja Kopernika, 2001.
Osteuropa: Bayern und Osteuropa. Aus der Geschichte der Beziehungen Bayerns, Frankens und Schwabens mit Rußland, der Ukraine und Weißrußland, hrsg. von Hermann Beyer-Thoma, Wiesbaden: Harrassowitz, 2000 (Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts München, Reihe: GeschichTe 66). James F. BROWN, The grooves of change. Eastern Europe at the tum of the millennium, Durham, NC: Duke University Press, 2001. Karsten BROGGEMANN, Die Gründung der Republik Estland und das Ende des „einen und unteilbaren Rußlands". Die Petrograder Front des russischen Bürgerkriegs 1918-1920, Wiesbaden: Harrassowitz, 2001 (Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts München, Forschungen zum Ostseeraum 6). Jan DELHEY, Osteuropa zwischen Marx und Markt. Soziale Ungleichheit und soziales Bewußtsein nach dem Kommunismus, Hamburg: Reinhold Krämer, 2001 (Beiträge zur Osteuropaforschung 4).
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Schwierige Nachbarschaften. Die Ostpolitik der Staaten Ostmitteleuropas seit 1989, hrsg. von Klaus Ziemer, Marburg: Herder-Institut, 2001 (Tagungen zur OstmitteleuropaForschung 14) Hamish M. SCOTT, The emergence of the Eastern powers, 1756-1775, Cambridge: Cambridge University Press, 2001 (Cambridge Studies in Early Modern History). Transition to Democracy in Eastern Europe and Russia. Impact on Politics, Economy, and Culture, hrsg. von Barbara Wejnert, Westport, Conn.: Praeger Publishers, 2001. Tanja WAGENSOHN, Von Gorbatschow zu Jelzin. Moskaus Deutschlandpolitik (19851995) im Wandel, Baden-Baden: Nomos, 2000.
Skandinavien: Begegnungen. Deutschland und der Norden im 19. Jahrhundert, hrsg. von Bernd Henningsen, Berlin: Berlin-Verlag Arno Spitz, 2000 (Wahlverwandtschaft - der Norden und Deutschland 1). Ruth BÜTTNER, Sowjetisierung oder Selbständigkeit? Die sowjetische Finnlandpolitik 1943-1948, Hamburg: KovaC, 2001 (Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa 8). Convergence? Aspects on the industrialisation of Denmark, Finland and Sweden 18701940, hrsg. von Hans Kryger Larsen, Helsinki: The Finnish Society of Sciences and Letters, 2001 (Commentationes scientiarum socialium). Deutsch-norwegische Kontraste. Spiegelungen europäischer Mentalitätsgeschichte, hrsg. von Heiko Uecker, Baden-Baden: Nomos, 2001 (Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung/Center for European Integration Studies der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn 34). Deutsch-skandinavische Beziehungen nach 1945, hrsg. von Robert Bohn [u. a.], Stuttgart: Steiner, 2000 (Historische Mitteilungen, Beiheft 31). Martin KAUFHOLD, Europas Norden im Mittelalter. Die Integration Skandinaviens in das christliche Europa (9.-13. Jh.), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001. Stephan MUSCHICK, Für Schweden in Europa. Die diskursive Konstruktion europäischer Gemeinschaft im „Zeitalter des Nationalsozialismus" (1890-1918), Baden-Baden: Nomos, 2001 (Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaften im Modemisierungsprozess 7). Matthias TAUBE, EG-Wettbewerbsrecht und die Umorientierung nationaler Wirtschaftspolitik am Beispiel Finnlands seit 1987, Berlin: Weißensee-Verlag, 2000. Martin WEBER, Schweden und die Europäische Union. Europadebatte und Legitimität, Baden-Baden: Nomos, 2001 (Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung 47). Zwischen Hoffnung, Anpassung und Bedrängnis. Minderheiten im deutsch-dänischen Grenzraum in der NS-Zeit, hrsg. von Robert Bohn [u. a.], Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2001 (IZRG-Schriftenreihe 4).
Südeuropa: Wolfgang BÜTTNER, Corsica and the Basque Country: a comparative conflict analysis, Stuttgart: Ibidem-Verlag, 2001 (Hochschulschriften). Carlos COLLADO SEIDEL, Angst vor dem „Vierten Reich". Die Alliierten und die Ausschaltung des deutschen Einflusses in Spanien 1944—1958, Paderborn [u. a.]: Schöningh, 2001 (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart).
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Südosteuropa: Asli ÇIRAKMAN, From the „terror o f the world" to the „sick man o f Europe". European images o f the Ottoman empire and society from the sixteenth century to the nineteenth, New York [u. a.]: Lang, 2001 (Studies in modern European history 43). Wolfgang GEIER, Bulgarien zwischen West und Ost vom 7. bis 20. Jahrhundert. Sozialund kulturhistorisch bedeutsame Epochen, Ereignisse und Gestalten, Wiesbaden: Harrassowitz, 2001 (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa der Universität Dortmund 32). Ines HARTWIG, Die Europapolitik Rumäniens. Entwicklung institutionalisierter Kooperation, Baden-Baden: Nomos, 2001 (Integration Europas und Ordnung der Weltwirtschaft 2). Hannes HOFBAUER, Balkankrieg. Zehn Jahre Zerstörung Jugoslawiens, Wien: Promedia, 2001 (Brennpunkt Osteurropa). Dennis P. HUPCHICK/Harold E. COX, The Palgrave Concise Historical Atlas o f the Balkans, Houndmills, Basingstoke: Palgrave, 2001. L'intreccio perverso. Costruzione di identità nazionali e nazionalismi xenofobi nell'Europa sud-orientale, hrsg. von Armando Potassio, Perugia: Morlacchi, 2001 (Ricerca. Storia 2). Karl KÄSER, Südosteuropäische Geschichte und Geschichtswissenschaft, Wien/Köln/ Weimar: Böhlau, 2 2001. Miro KOVAC, La France, la création du royaume „Yougoslave" et la question croate, 1914-1929, Bern [u. a.]: Lang, 2001 (Publications universitaires Européennes, Sér. 3: Histoire et sciences auxiliaires 896). Old frontiere - new frontiers. The challenge o f Kosovo and its implications for the European Union, hrsg. von Dieter Mahncke, Bern [u. a.]: Lang, 2001. Miron REZUN, Europe's Nightmare. The Struggle for Kosovo, London: Praeger Publishers, 2001.
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Westeuropa: An Anglo-German Dialogue. The Munich Lectures on the History of International Relations, hrsg. von Adolf M. Birke [u. a.], München [u. a.]: Saur, 2000 (Prinz-Albert-Studien/ Prince Albert Studies 17). Britain, the Commonwealth and Europe. The Commonwealth and Britain's applications to join the European Communities, hrsg. von Alex May, Basingstoke: Palgrave, 2001. Roger BROAD, Labour's European dilemmas: from Bevin to Blair, Basingstoke [u. a.]: Palgrave, 2001 (Contemporary history in context series). Deutschlandbilder - Frankreichbilder 1700-1850. Rezeption und Abgrenzung zweier Kulturen, hrsg. von Thomas Höpel, Leipzig: Leipziger Universitäts-Verlag 2001 (Veröffentlichungen des Frankreich-Zentrums 6). Geneviève DUCHENNE, Visions et projets belges pour l'Europe. De la Belle Époque aux Traités de Rome (1900-1957), Bruxelles [u. a.]: Lang, 2001 (Euroclio 22). Julius W. FRIEND, Unequal Partners. French-German Relations, 1989-2000, Westport, Conn.: Praeger Publishers, 2001. Michael R. GUELDRY, France and European Integration. Toward a Transnational Polity?, Westport, Conn.: Praeger Publishers, 2001. Norbert HIMMLER, Zwischen Macht und Mittelmaß. Großbritanniens Außenpolitik und das Ende des Kalten Krieges. Akteure, Interessen und Entscheidungsprozesse der britischen Regierung, Berlin: Duncker & Humblot, 2001 (Zeitgeschichtliche Forschungen 6). The Irish in Europe, 1580-1815, hrsg. von Thomas O'Connor, Dublin: Four Courts Press, 2001. Martin KOOPMANN, Das schwierige Bündnis. Die deutsch-französischen Beziehungen und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1958-1965, Baden-Baden: Nomos, 2000. Antony LENTIN, Lloyd George and the lost peace. From Versailles to Hitler, 1919-1940, Basingstoke: Palgrave, 2001. Michel NICOLAS, Bretagne, un destin européen ou la Bretagne et le fédéralisme en Europe, Rennes: Presses Universitaires de Rennes, 2001. Die Niederlande und Deutschland. Einander kennen und verstehen, hrsg. von Gebhard Moldenhauer und Jan Vis, Münster [u. a.]: Waxmann, 2001 (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 2). Colin PILKINGTON, Britain in the European Union today, Manchester [u. a.]: Manchester University Press, 22001 (Politics today). Christophe REVEILLARD, Les premières tentatives de construction d'une Europe fédérale. Des projets de la Résistance au traité de C. E. D. (1940-1954), Paris: Guibert, 2001 (Combats pour la liberté de l'esprit). Alfred W. B. SIMPSON, Human rights and the end of empire. Britain and the genesis of the European Convention, Oxford [u. a.]: Oxford University Press, 2001.
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Autorenverzeichnis Professor Dr. Karl Otmar Freiherr von ARETDM, Tizianstr. 7, D-80638 München. Dr. Wolfgang BURGDORF, Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Seminar, Geschwister-Scholl-Platz 1, D-80539 München. Professor Dr. Gustavo CORNI, Università degli Studi di Trento, Dipartimento di Teoria, Storia e Ricerca Sociale, Via Verdi 26,1-38100 Trento, Italien. Professor Dr. Roman CZAJA, Instytut Historii i Archiwistyki, Uniwersytet Mikolaja Kopernika, PI. Teatralny 21, PL-87-100 Toruñ, Polen. Professor Dr. Robert J. W. EVANS, Oriel College, Oxford OX1 4AJ, Großbritannien. Professor Dr. Peter FUNKE, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Seminar für Alte Geschichte, Domplatz 20-22, D-48143 Münster. Dr. Volker JARREN, German Development Service, P.O. Box 442, Kathmandu, Nepal. Professor Dr. Günther LOTTES, Forschungszentrum Europäische Aufklärung, Gregor-Mendel-Str. 21/22, D-14469 Potsdam. Professor Dr. Jean-Marie MOEGLIN, Université de Paris XII - Val-de-Marne, UFR des Lettres et Sciences humaines, 61, avenue du Général de Gaulle, F94010 Créteil Cedex, Frankreich. Marie-Emmanuelle REYTIER, 408 avenue du 8 mai 1945, F-69300 Caluire et Cuire, Frankreich. Professor Dr. Bernd SCHNEIDMÜLLER, Universität Bamberg, Zentrum für Mittelalterstudien, Am Kranen 12, D-96045 Bamberg. Dr. Matthias SCHNETTGER, Institut für Europäische Geschichte, Alte Universitätsstr. 19, D-55116 Mainz. Professor Dr. J. Robert WEGS, Nanovic Center for European Studies, 419 Flanner Hall, University of Notre Dame, Notre Dame, Indiana 46556-5611, USA.