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German Pages 155 Year 2013
Jahrbuch für Europäische Geschichte
Jahrbuch für Europäische Geschichte Herausgegeben am Institut für Europäische Geschichte von Heinz Duchhardt
Band 14 2013
Oldenbourg Verlag München 2013
Redaktion: Malgorzata Morawiec
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Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.
ISBN 978-3-486-71983-3 ISSN 1616-6485
Inhaltsverzeichnis Redaktionelle Mitteilung
Schwerpunktthema: 1813 und die Folgen Ute Planert (Wuppertal): Vorbild oder Feindbild? Das Zeitalter Napoleons im Gedächtnis des 19. und 20. Jahrhunderts
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Uwe Puschner (Berlin): Leipzig, 16. bis 19. Oktober 1813. Die Leipziger Völkerschlacht in der deutschen Erinnerung und Politik
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Denis Sdvižkov (Moskau): Befreiung ohne Freiheit? 1813 in Russland
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Emilio La Parra / Rafael Fernández Sirvent (Alacant): The European Resonance of Napoleon’s Defeat in Spain
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Andere Beiträge Rolf Harald Stensland (Bodø): Germany’s struggle for European supplies in the sulphur sector during the First World War Sebastian Liebold (Chemnitz): Das Staatsdenken von Bertrand de Jouvenel – Pfade zur europäischen Liberalität
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Europa-Institute und Europa-Projekte Wolfgang Schmale (Wien): UTB-Handbuch der Geschichte Europas – Versuch einer Würdigung
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Autorenverzeichnis
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REDAKTIONELLE MITTEILUNG Der vorliegende 14. Band des Jahrbuchs für Europäische Geschichte ist der letzte, der unter meiner Verantwortung erscheint. Ab Bd. 15 (2014) geht die Herausgeberschaft an meinen Nachfolger in der Leitung des Instituts für Europäische Geschichte – jetzt: Leibniz-Institut für Europäische Geschichte –, Johannes Paulmann, über. Ich weiß die Redaktion bei ihm in den besten Händen. Als das Periodikum im Jahr 2000 ins Leben trat – als erstes nicht nur deutschsprachiges, sondern auch internationales Organ, das sich epochenübergreifend der europäischen Geschichte und den gesamteuropäischen Zusammenhängen in der Geschichte widmet –, war nicht absehbar, ob es sich auf dem Markt würde halten können. Nach einem guten Dutzend Jahren hat sich die Frage von selbst beantwortet. Das Jahrbuch ist in eine Lücke hineingestoßen und hat der rapide zugenommenen Europa-Forschung ein Forum gegeben, das gerne in Anspruch genommen wird. Mit den jeweiligen Schwerpunkt-Themen setzt es zudem Akzente, die von der Forschung bereitwillig aufgegriffen werden. Ich danke dem Verlag für sein kontinuierliches Engagement, danke den Mainzer Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die im Lauf der Jahre an der Redaktion des Jahrbuchs beteiligt waren, und wünsche ihm unter Johannes Paulmanns Leitung eine gute Zukunft. Heinz Duchhardt
SCHWERPUNKTTHEMA 1813 und die Folgen Die Niederlage Napoleons in der „Völkerschlacht“ bei Leipzig (1813) und die sich anschließenden „Befreiungskriege“ haben das Zeug, zu einem Medienereignis zu werden – so wie es der Wiener Kongress 2014/15 mit Sicherheit werden wird. Napoleons Russlandfeldzug 1812, in dem nicht wenige Historiker den Anfang vom Ende des napoleonischen Herrschaftskonstrukts sehen, ist bereits im Vorfeld und im Gedenkjahr selbst von verschiedenen Seiten beleuchtet worden, die vielen angekündigten lokalen, regionalen und nationalen Aktivitäten zum Gedenken an den 18. Oktober 1813 werfen ihre Schatten voraus, die Einbettung der napoleonischen Kriege in das politische Umfeld hat in einem renommierten deutschen Verlag schon zur Begründung einer eigenen Schriftenreihe geführt, die vor allem der Erinnerung an die Kriegsereignisse nachgehen soll und bereits einschlägige Studien zu Großbritannien und Irland hervorgerufen hat. Das Ausmaß der wissenschaftlichen Aktivitäten zum Abendrot von Napoleons Kaiserherrschaft war zum Zeitpunkt, als die Planungen für den diesjährigen Band des Jahrbuchs für Europäische Geschichte und sein Schwerpunktthema begannen, nicht absehbar. Das Schwerpunktthema „1813 und die Folgen“ stößt deswegen zwar nur bedingt in geschichtswissenschaftliches Neuland vor, eröffnet aber ein Panorama, das in dieser europäischen Ausrichtung anderswo noch nicht wirklich entfaltet worden ist. Die Aufsätze ranken sich um die verschiedenen Erinnerungskulturen in Ländern, die direkt von dem letzten Kriegsgang des Kaisers der Franzosen betroffen waren – Erinnerungskulturen, die je andere Akzente setzten, die aber doch eins vereint: die Erleichterung darüber, dass der Versuch der Errichtung bzw. Komplettierung einer veritablen „Universalmonarchie“ zum Scheitern gebracht worden war. Dass in letzter Minute zwei fest zugesagte Beiträge – zu Polen und zu Frankreich selbst – ausfielen, mindert die europäische Ausrichtung des Themas zwar ein wenig, war aber nicht mehr auszugleichen.
Vorbild oder Feindbild? Das Zeitalter Napoleons im Gedächtnis des 19. und 20. Jahrhunderts1 Von
Ute Planert Am Anfang war Napoleon. So leitete Thomas Nipperdey seinerzeit den ersten Band seiner Deutschen Geschichte ein, und in der Tat ist die Bedeutung der napoleonischen Ära für den weiteren Verlauf der europäischen und außereuropäischen Geschichte kaum zu überschätzen2. Die Festigung der britischen Überseeherrschaft, der russische Griff nach Skandinavien und Polen, die Unabhängigkeit Südamerikas, die für Südeuropa so bedeutsame spanische Verfassung des Jahres 1812, die Neuordnung der deutschsprachigen und niederländischen Staatenwelt: Ohne die Französische Revolution und Napoleon kein so rasches Ende des Alten Reiches, keine territoriale Revolution, kein weitreichender Code civil, wohl auch keine so konzentrierte Reformpolitik in vielen Staaten. Der Weg Mitteleuropas in die Moderne wäre zweifellos anders verlaufen. Langsamer wahrscheinlich und autokratischer auch, denn es ist kein Zufall, dass der frühe Liberalismus auf dem Kontinent seine Zentren im ehemals französischen Einflussbereich hatte. In den Verfassungen des frühen 19. Jahrhunderts wirkten französische Vorstellungen von Rechtsgleichheit und Bürgerfreiheit ebenso nach wie in den demokratischen Bewegungen des Vormärz und während der Revolution von 1848/49. Während die historische Forschung der letzten Jahrzehnte die Leistungen der napoleonischen Epoche hervorgehoben hat3, dominiert in der deutschen Öffentlichkeit häufig noch das Bild der älteren nationalistischen Geschichts1 Dieser Beitrag ist die aktualisierte und erweiterte Version eines zunächst auf Polnisch erschienenen Textes: Wzór – wróg – wzór. Napoleon i jego czasy w niemieckiej pamici historycznej, in: Zdzisaw NOGA / Martin SCHULZE WESSEL (Red.), Pami polska, pami niemiecka. Od XIX do XXI wieku. Wybrane Problemy, Toru 2009, S. 78–125. 2 Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 11. 3 Vgl. mit weiterer Literatur Michael BROERS, Europe under Napoleon, 1799–1815, London / New York 1996; Elisabeth FEHRENBACH, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, 4München 2001; Bernhard STRUCK / Claire G ANTET, Revolution, Krieg und Verflechtung, 1789–1815, Darmstadt 2008; Hans-Werner HAHN / Helmut BERDING, Reformen, Restauration und Revolution, 1806–1848/49, Stuttgart 2010; Bernd WUNDER, Europäische Geschichte im Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1815, Stuttgart 2001; Michael ERBE, Revolutionäre Erschütterung erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785–1830, Paderborn [u. a.] 2004.
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deutung, der die „Franzosenzeit“ als Ära der „Fremdherrschaft“ galt. Der Topos von der Geburt des Nationalismus in den Befreiungskriegen gegen Frankreich ist der Gründungsmythos der deutschen Nation, ein geschichtsmächtiges Konstrukt, vergleichbar dem Stellenwert der Französischen Revolution westlich des Rheins oder der Bedeutung des Risorgimento für den Nationalismus in Italien. Der Blick auf die Geschichte der Historiographie, der Literatur und der populären Erinnerungen zeigt freilich, dass sich die Deutung der napoleonischen Epoche keineswegs im Mythos vom Befreiungskrieg erschöpfte, sondern im Verlauf der letzten beiden Jahrhunderte starken zeittypischen Wandlungen unterworfen war4. Davon zeugen unzähligen Geschichts- und Nachschlagewerke, Gedichte, Denkmäler, Bilder, Theaterstücke, Filme, Erinnerungsschriften und Erzählungen. Die Figur Napoleons und der Mythos vom Befreiungskrieg bilden dabei gewissermaßen die beiden Seiten derselben Medaille. Die Wertung der Epoche ebenso wie die Erinnerungsaktualisierung durch die Zeitgenossen variierte je nach historischer Situation und politischem Standpunkt. Beides war nicht eindeutig, sondern unterlag Umdeutungen und Erinnerungskonkurrenzen, war regional und weltanschaulich fragmentiert. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle Staaten des napoleonischen Imperiums. Im Verlauf des nationalen Zeitalters schuf sich so jedes Land seine eigene Deutung der Epoche, die von euphorischer Rückerinnerung an eine kurzfristig geglückte Neubegründung des Staatswesens – Polen – bis zur Integration divergierender politischer Lager durch die Beschwörung scheinbarer Einheit im Widerstand gegen das napoleonische Regime – Spanien – oder der Legitimation einer regionalen Sonderstellung – (Süd-)Tirol – reichen konnte5. Immer aber offenbarte – wie im Folgenden für 4 So schon Roger DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon im 20. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 252 (1991), S. 587–625, hier S. 625. 5 Vgl. Enrique LISTER, Napoleonische Eroberungspolitik und antinapoleonische Kämpfe in Rußland und Spanien als Ursprünge nationaler Demokratiebewegungen, in: Marion GEORGE, Andrea RUDOLPH (Hrsg.), Napoleons langer Schatten über Europa, Dettelbach 2008, S. 47–69; Ruth LEISEROWITZ, Polnische Legionäre aus der Zeit der Revolutions- und Napoleonischen Kriege in der Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Horst CARL / Ute PLANERT (Hrsg.) Militärische Erinnerungskulturen (erscheint voraussichtlich Göttingen 2012). Scharfe Kritik am Guerilla-Mythos üben Michael BROERS, Napoleon’s Other War. Bandits, Rebels, and their Pursuers in the Age of Revolutions, Oxford 2010; Charles J. ESDAILE, Fighting Napoleon: Guerrillas, Bandits and Adventurers in Spain, 1808–1814, New Haven, Conn. 2004; DERS. (Hrsg.), Popular Resistance in the French Wars. Patriots, Partisans and Land Pirates, Basingstoke / New York 2005. Zur neueren Forschung vgl. auch Charles ESDAILE, The Peninsular War: A New History, London 2003; José Manuel CUENCA TORIBIO, La Guerra de la Independencia: un conflitto decisivo (1808–1814), Madrid 2006; Antonio MOLINER PRADA (Hrsg.), La Guerra de la Independencia en España (1808–1814, Barcelona 2007, Manuel MORENO ALONSO, Napoleon: La Aventura de Espagna, Sevilla 2004; Jean René AYMES, La Guerra de la Independencia, 1808–1814: calas y ensayos, Madrid 2009; Michael BROERS [u. a.] (Hrsg.), El imperio napoléonice et
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den deutschsprachigen Raum im zeitlichen Längsschnitt vom späten 18. Jahrhundert bis in die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte zu zeigen sein wird – das über Napoleon und seine Zeit gefällte Urteil mehr über die Gegenwart der Urteilenden denn über die Vergangenheit6. I. Die Wahrnehmung der Zeitgenossen Blickt man zurück ins späte 18. und frühe 19. Jahrhundert, war das negative Napoleon-Bild der Befreiungskriege noch keineswegs ausgemacht7. Im Gegenteil genoss der Revolutionsgeneral die Bewunderung des jungen Görres ebenso wie die Verehrung Hölderlins, der ihn schon 1797 zu den „Halbgöttern“ zählte8 – ein Attribut, das später bekanntlich auch Goethe dem ins Dämonische überhöhten französischen Kaiser zubilligte9. la nueva cultura politica europea, Madrid 2011. Zu Tirol vgl. jetzt Martin P. SCHENNACH, Revolte in der Region. Zur Tiroler Erhebung von 1809, Innsbruck 2009; Laurence COLE, Religion und patriotische Aktion in Deutsch-Tirol (1790–1814), in: Otto DANN [u. a.] (Hrsg.), Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reichs, Köln 2003, S. 345–378; Brigitte MAZOHL (Hrsg.), Abschied vom Freiheitskampf. Tirol und ‚1809’ zwischen politischer Realität und Verklärung, Innsbruck 2009; Brigitte MAZOHL / Bernd MERTELSEDER (Hrsg.), Tirol 1809: Geschichte und Erinnerung, Innsbruck 2009; Helmut REINALTER (Hrsg.), Anno neun. 1809–2009. Kritische Essays. Innsbruck [u. a.] 2009. 6 Sehr deutlich manifestierte sich diese Tendenz in zwei Ausstellungen, die anlässlich des 200jährigen Bestehens der Länder Bayern und Württemberg gezeigt wurden: Das Königreich Württemberg 1806–1918. Monarchie und Moderne. Stuttgart, Württembergisches Landesmuseum, 22.9.2006–4.2.2007 und: Bayerns Krone 1806. 200 Jahre Königreich Bayern. Ausstellung in der Residenz München, 30.3.–30.7.2006. Vgl. auch die Vor- und Grußworte im Katalog der von Bénédicte Savoy kuratierten Ausstellung „Napoleon und Europa. Traum und Trauma“, München [u. a.] 2010. 7 Vgl. dazu ausführlich Ute P LANERT, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden, Paderborn 2007. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen für Mecklenburg Anke JOHN, „Franzosenzeit“. Realität und Legenden der napoleonischen Ära in Mecklenburg, in: GEORGE / RUDOLPH (Hrsg.), Napoleons langer Schatten, S. 103–118 oder die Beiträge in Veit VELTZKE (Hrsg.), Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser, Köln [u. a.] 2007. 8 Vgl. Christoph PRIGNITZ, „Vive l’Empereur“. Zum Napoleon-Bild der Deutschen zwischen Spätaufklärung und Freiheitskriegen, in: Harro ZIMMERMANN (Hrsg.), Schreckensmythen – Hoffnungsbilder. Die Französische Revolution in der deutschen Literatur, Frankfurt a. M. 1989, S. 107–121; Wulf WÜLFING, „Heiland“ und „Höllensohn“. Zum Napoleon-Mythos im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Helmut BERDING (Hrsg.), Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1996, S. 164–184, hier S. 165; Jürgen LINK, „Trauernder Halbgott, den ich meine!“ Hölderlin und Rousseau, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 16 (1986), S. 86–114, hier insb. S. 94. 9 „Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg. Von ihm könnte man sehr wohl sagen, daß er sich in dem Zustande einer fortwährenden Erleuchtung befunden […]“. Vgl. Johann Peter ECKERMANN, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 1823–1832, hrsg. u. eingel. von Eduard CASTLE,
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In den Anfangsjahren seiner Herrschaft fand Napoleon Zustimmung in den unterschiedlichsten politischen Lagern. Schätzten Konservative und – nach dem Konkordat mit dem Papst – auch Katholiken Bonaparte als Überwinder der Französischen Revolution 10, hatten evangelische Geistliche viel Sympathie dafür, dass der französische Kaiser das katholische Österreich in die Schranken wies11. Liberale Geister wie Heinrich Zschokke, Herausgeber der im deutschsprachigen Raum weit verbreiteten Miscellen für die Neueste Weltkunde, zeichneten den Korsen als Garant bürgerlichen Fortschritts und Reformator der europäischen Politik12. Wie der Schweizer Publizist, entwickelten viele Intellektuelle in den ersten Rheinbundjahren ihre politischen Vorstellungen „nicht unter dem Druck der Zensur, sondern [...] aus Überzeugung“ im Rahmen der französischen Hegemonie. Für sie setzte Napoleon das um, was überzeugte Aufklärer vergeblich gefordert hatten: die gesellschaftliche und politische Modernisierung der deutschen wie der europäischen Staatenwelt13. Entsprechend sah auch Jean Paul in Napoleon den „Flurbereiniger“ der deutschen Kleinstaaterei, den Vollstrecker des Weltgeistes, der das zerstörte, „was wir selbst verlachen, aber nicht ändern können“14. Nationalpatriotische Hoffnungen zielten in den Jahren um 1800 keineswegs nur auf die geeinte Nation unter preußischer Führung, wie das später die preußische Schule der Geschichtswissenschaft und ihre Epigonen glauben machen wollten15. Vielmehr richtete sich die Hoffnung vieler Patrioten nach 2 Bde., Berlin [u. a.] 1916, hier Bd. 2, S. 129. „Dämonische Wesen solcher Art rechneten die Griechen unter die Halbgötter“. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 374. Zum Verhältnis Goethes zu Napoleon vgl. auch Wulf WÜLFING [u. a.], Historische Mythologie der Deutschen, 1798– 1918, München 1991, S. 30–32 sowie Barbara BESSLICH, Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung, 1800–1945, Darmstadt 2007, S. 151–159. 10 Vgl. zur Haltung konservativer Publizisten Heinrich A. Ottokar REICHARD, Seine Selbstbiographie, hrsg. von Hermann UHDE, Stuttgart 1877, S. 293; für die katholische Seite vgl. Magnus RIEF, Kronik oder journale der französischen Revolution und daraus entstandnem blutigsten Kriege in ganz Eüropa. Die Aufzeichnungen des Magnus Rief, Pfarrer in Dürrenwaldstetten, 1789–1814, hrsg. von Bernhard GEIGER, Konstanz 2003, Eintragung vom 15.12.1809, S. 97. 11 Vgl. Wilhelm Ludwig Hosch an Christian Adam Dann, 14.12.1805, Württembergische Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Cod. hist. 4°, 518. 12 Vgl. Heinrich ZSCHOKKE, Gewinnt die Welt bei den politischen Veränderungen Europa’s?, in: Miscellen für die neueste Weltkunde, Jg. 1807, 32. St., S. 325–327. 13 Vgl. Birgit FRATZKE-WEISS, Europäische und nationale Konzeptionen im Rheinbund. Politische Zeitschriften als Medien der politischen Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. [u. a.] 1997, S. 188–200 sowie S. 357–361, Zitat S. 199. 14 Zit. nach Jost HERMAND, Napoleon im Biedermeier, in: DERS., Von Mainz nach Weimar (1793–1919). Studien zur deutschen Literatur, Stuttgart 1969, S. 99–128, hier S. 103. Vgl. auch Antje SIEMER, „Moi, toujours moi, rien que moi“ – Zu einigen Facetten des Napoleonbildes in der deutschen Publizistik, in: Holger BÖNING (Hrsg.), Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, München [u. a.] 1992, S. 309–322. 15 Vgl. etwa Friedrich MEINECKE, Das Zeitalter der deutschen Erhebung, Göttingen 71963, S. 43 f. (zuerst 1906).
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dem Ende des Alten Reiches auf eine national- und verfassungspolitisch abgestützte Vereinigung der deutschen Staatenwelt, etwa im Rahmen des Rheinbundes. Ihr wichtigstes Organ, die von Peter Adolph Winkopp herausgegebene Zeitschrift Der Rheinische Bund, fungierte dabei keineswegs nur als unkritisches Sprachrohr französischer Hegemonialpolitik. Vielmehr wurden im Umfeld des Blattes vielfältige Diskussionen über die zukünftige Form einer politischen Einheit und ihre verfassungspolitische Ausgestaltung geführt. Auf diese Weise wurden die Zeitschrift und ihr Umfeld zur Plattform zahlreicher Entwürfe für eine konstitutionelle Neuorganisation der deutschen Staatenwelt nach dem Ende des Alten Reiches. Die Frankreich-kritischen Züge der Debatte traten umso stärker hervor, je mehr offenbar wurde, dass das von Napoleon versprochene Fundamentalstatut nicht realisiert werden würde. Frankreich und Napoleon fungierten in diesem Umfeld vor allem als Zweckverbündete, denen die Macht zugeschrieben wurde, zur Verwirklichung des Ideals vieler Rheinbundpublizisten beizutragen: die Realisierung eines föderativ organisierten Verfassungsstaates16. Jenseits verfassungspolitischer Diskussionen ließen Napoleons schiere Macht und seine unerhörten politischen und militärischen Erfolge gebildete Zeitgenossen wahlweise zur Heldenmetapher greifen, den Genie-Begriff und die griechische Mythologie bemühen oder ihn für ein Instrument göttlicher Vorsehung halten. Berichte über die kriegerischen Abenteuer des französischen Generals, nicht selten in der mythisierenden Sprache heldischer Epen dargeboten, faszinierten das Lesepublikum in ganz Europa17. Nicht einmal Friedrich der Große schien ihm das Wasser reichen zu können: „Heer auf Heer sank vor der Gewalt seiner Waffen in den Staub“18.
16 Vgl. Gerhard SCHUCK, Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. Kontinuitätsdenken und Diskontinuitätserfahrung in den Staatsrechts- und Verfassungsdebatten der Rheinbundpublizistik, Stuttgart 1994; Tristan COIGNARD, Vom „Reichspatriotismus“ zum „Rheinbundpatriotismus“? Napoleons Reformkonzepte und sein Widerhall im Umfeld des „Rheinischen Bundes“, in: GEORGE / RUDOLPH (Hrsg.), Napoleons langer Schatten, S. 87–103; Georg SCHMIDT, Der napoleonische Rheinbund – ein erneuertes Altes Reich?, in: Volker PRESS (Hrsg.), Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit?, München 1995, S. 227–246; Heinz ANGERMEIER, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat. Verfassungspolitische Konzeptionen und nationales Denken zwischen 1801 und 1815, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 107 (1990), S. 19–101. Vgl. auch Georg SCHMIDT, Der Rheinbund und die deutsche Nationalbewegung, in: Heiner TIMMERMANN (Hrsg.), Die Entstehung der Nationalbewegung in Europa 1750–1849, Berlin 1993, S. 29–44. 17 Vgl. Jean TULARD, Napoleon oder der Mythos des Retters, Tübingen 1978. 18 Vgl. Generallandesarchiv Karlsruhe, Nachlaß Liebenstein, Nr. 3, undatierter Eintrag aus dem Jahr 1810.
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Wo die Gebildeten Napoleon zusammen mit Cäsar und Alexander unter die „Helden aller Völker und Zeiten“ zählten19, konnte der mächtigste Mann der damaligen Welt die Wirkung auf das breite Publikum nicht verfehlen20. Schon früh erwies sich Bonaparte als bester Vermarkter seiner selbst. Bereits im italienischen Feldzug von 1796/97 verkündete eine eigens gegründete Heereszeitung den Ruhm des jungen Revolutionsgeneral, aus Syrien schickte er Heeresberichte in die ganze Welt. Später standen Napoleon mit den überall veröffentlichten Militärbulletins und dem in ganz Europa gelesenen Regierungsblatt Moniteur Massenmedien zur Verfügung. Bilder und Denkmäler wurden zum Instrument seines Personenkults21. Ganze Serien von Bilderbogen erzählten die Geschichte seines Aufstiegs 22. Kaufleute boten Kupferstiche feil, Posamentierer handelten mit französischen Kokarden23. Schnupftabaksdosen, Pfeifen und Porzellanteller wurden mit Napoleonportraits und Schlachtenszenen geschmückt24. Eltern benannten ihre Sprösslinge nach dem Korsen25. Und die Marmorbrecher im italienischen Carrara konnten gar nicht schnell genug Material für all die Napoleon-Statuen liefern, die „jetzt zu Tausenden gemacht und an die Kunsthändler versandt“ wurden, wie das Morgenblatt für gebildete Stände 1808 zu berichten wusste26. Wer sich die teure Importware nicht leisten konnte, stellte sich eine Napoleonfigur aus Ton oder Gips auf den Kaminsims27.
19 Vgl. ebd. Zur frühen Verehrung Napoleons durch deutsche Intellektuelle und der allmählichen Revision dieser Haltung vgl. BESSLICH, Napoleon-Mythos, S. 41–107. 20 Vgl. zur populären Napoleonverehrung auch Werner B LESSING, Umbruchkrise und Verstörung. Die ‚Napoleonische‘ Erschütterung und ihre sozialpsychologische Bedeutung (Bayern als Beispiel), in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 42 (1979), S. 75– 106, hier S. 88 f.; Jacques PRESSER, Napoleon. Das Leben und die Legende, Stuttgart 1977. 21 Vgl. dazu ausführlich mit zahlreichen Beispielen Alain RUIZ, Bemerkungen zur Entstehung der Napoleon-Legende, in: GEORGE / RUDOLPH (Hrsg.), Napoleons langer Schatten, S. 409–422. 22 Vgl. Jean ADHÉMAR, Populare Druckgraphik Europas. Frankreich vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, München 1968. Vgl. auch „Napolium, Napolium ...“, in: Manfred AKERMANN / Harald SIEBENMORGEN (Hrsg.), Hall in der Napoleonzeit. Eine Reichsstadt wird württembergisch, Sigmaringen 1987. 23 Vgl. Wolfram SIEMANN, Propaganda um Napoleon in Württemberg. Die Rheinbundära unter König Friedrich I. (1806–1813), in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 47 (1988), S. 359–380, hier S. 360 f., 368, 371 f. 24 Vgl. die entsprechenden Abbildungen in: Meinrad Maria GREWENIG (Hrsg.), Napoleon. Feldherr, Kaiser, Mensch, Ausstellungskatalog des Historischen Museums der Pfalz, Speyer 1998; Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons, Katalog, Bd. 1.1., Stuttgart 1987, S. 460–463. 25 Vgl. BLESSING, Umbruchkrise und Verstörung, S. 89. 26 Vgl. Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 285/1808, S. 1138. 27 Vgl. das von Anton Sohn in Zizenhausen hergestellte Tonmodell, abgebildet in: Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons, Bd. 1.2., Katalog, S. 974.
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Zeitweise erreichte die Napoleonbegeisterung eine an Heiligenverehrung reichende Qualität. Wo immer der Kaiser sich zeigte, waren Straße und Plätze überfüllt. In Württemberg brauchte das Volk zum Jubeln nicht eigens aufgefordert zu werden28. Und in Bayern, wo man Napoleon als Befreier vom Druck des österreichischen Nachbarn begrüßte, ging ein Glaubensbekenntnis von Hand zu Hand, das Napoleon als Gottvater und König Max Josef als seinen eingeborenen Sohn feierte29. Napoleon war zweifelsohne der erste Pop-Star nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Geschichte. Das galt auch für seinen Fall. So überzogen wie zuvor seine Vergötterung, so gewaltig war nun seine Verteufelung. Aus dem „Abgott der Menge“ wurde ein Dämon, ein Blutsauger, Menschenverderber, Verbrecher, eine Ausgeburt der Hölle, kurz: – der Antichrist30. Eine unumstrittene nationale Identifikationsfigur gab es während der Kriege gegen Napoleon nicht. Diese Leerstelle füllte der tausendfach propagierte Hass gegen den französischen Kaiser31. Aufrufe und Schmähschriften machten die Runde, die Auflage nationalreligiöser Schriften – heute würde man von Hasspredigten sprechen – ging in die Zehntausende. Die Apokalypse und das Alte Testament wurden die wichtigsten Bezugspunkte für eine Flut von Dramen und Gedichten, mit denen von Friedrich Schlegel bis Heinrich von Kleist, von Theodor Körner bis Clemens Brentano zahlreiche Dichter und Denker „lyrischen Abwehrzauber“ in nationaler Absicht betrieben32. Auch antike Anleihen oder Gelegen28
Vgl. die polizeilichen Vorkehrungen beim Besuch Napoleons in Stuttgart 1809 bei SIEMANN, Propaganda, hier S. 362 f. 29 „Ich glaube an den Kaiser Napoleon, mächtiger Schöpfer der Republiken und Königreiche, an Maximilian Joseph, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist von der heiligen Vorsehung [...], gelitten unter Franz dem Zweiten, gekreuzigt, doch nicht gestorben und begraben, abgestiegen zu den Franken, am 12ten Oktober wieder auferstanden von der Todesangst, aufgefahren nach München, sitzend zur rechten Hand Napoleons, des mächtigen Vaters; von dannen er kommen wird, zu richten die Getreuen und Heuchler; eine einzige allgemeine Versammlung, Gemeinschaft von Europens Potentaten, Ablaß der österreichischen Schulden durch Bezahlung, Auferstehung des baierischen Nationalruhms und ein friedliches Leben. Amen“. Zit. nach Markus JUNKELMANN, Napoleon und Bayern. Von den Anfängen des Königreiches, Regensburg 1985, S. 112 f. 30 Vgl. zur Dämonisierung Napoleons aus preußischer Sicht etwa Gerhard GRAF, Gottesbild und Politik. Eine Studie zur Frömmigkeit in Preußen während der Befreiungskriege 1813–1815, Göttingen 1993; Ernst WEBER, Lyrik der Befreiungskriege (1812–1815). Gesellschaftliche Meinungs- und Willensbildung durch Literatur, Stuttgart 1991; die Quellensammlung bei Hans-Bernd SPIES (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon 1806– 1814/15, Darmstadt 1981; Erich PELZER, Die Wiedergeburt Deutschlands 1813 und die Dämonisierung Napoleons, in: Gerhard KRUMEICH / Hartmut LEHMANN (Hrsg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 135– 156. 31 Vgl. PRIGNITZ, „Vive l’Empereur“, S. 116. 32 Die Formulierung vom „lyrischen Abwehrzauber“ bei BESSLICH, Napoleon-Mythos, S. 108; zur antinapoleonischen Literatur vgl. ebd., S. 61–118. Zum Einsatz biblischer Bilder vgl. Peter Philipp RIEDL, „Hört den Antichrist erschallen ...“. Die Bibel als Kampfschrift in der antinapoleonischen Propaganda, in: Bettina KNAUER (Hrsg.), Das Buch der
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heitsdramen im germanisch-historischen Gewand waren beliebt 33. Die gewaltige Medienmaschinerie, unterstützt aus dem russischen Hauptquartier, brachte antinapoleonische Schriften, Gedichte und Karikaturen noch in die Wirtshäuser entlegener Dörfer34. Viel mehr als der Siebenjährige Krieg sind die Kriege mit und gegen Napoleon Kriege der Federn, ja der Bilder gewesen. Viele der Karikaturen stammten aus Großbritannien und wurden in den kontinentaleuropäischen Blättern nachgedruckt. Erst als Napoleon keine politische Gefahr mehr darstellte, wurde der zuvor verteufelte Dämon auf ein menschliches Maß zurückgestutzt35. Auf die unzähligen Aufrufe und Pamphlete aus den Federn nationalgesinnter, häufig preußischer Schriftsteller stützten sich alle, die sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts anschickten, den Krieg gegen Napoleon zum Gründungsmythos der deutschen Nation zu verklären. Sie setzten publizistische Aufrufe mit der Wirklichkeit gleich und rechneten die preußischen Verhältnisse auf Deutschland hoch. Tatsächlich sehnten die meisten Menschen nach zwanzig Jahren Krieg den Frieden herbei und damit auch den Sturz Napoleons. Doch die Motive und Sinnbezüge der Zeitgenossen waren zu vielfältig, um einfach unter dem Generalnenner „Nationalismus“ subsumiert zu werden36. Neuere Studien zeigen, dass die Publizistik der sogenannten Befreiungskriege von einem kleinen Kreis von 500 Schriftstellern und Journalisten getragen wurde. Sowohl in der Publizistik als auch bei der Meldung der Freiwilligen gab es ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Von nationalen Vorstellun-
Bücher. Beiträge zum Verhältnis von Bibel, Religion und Literatur, Würzburg 1997, S. 41– 68. Zu Kleist vgl. etwa Ernst RIBBAT, „Vatermördergeist“. Napoleon, gesehen von Heinrich von Kleist, in: GEORGE / RUDOLPH, Napoleons langer Schatten, S. 265–278. 33 Etwa Kotzebues „Hermann und Thusnelde“ (1813), vgl. HERMAND, Napoleon im Biedermeier, S. 104 f. 34 Vgl. zur Verbreitung antinapoleonischer Flugschriften in den Dörfern Süddeutschlands etwa Staatsarchiv Ludwigsburg, D 52–1179. 35 Die dämonisierende Darstellung des französischen Kaisers war keine deutsche Spezialität, sondern dominierte auch die zeitgenössische englische Karikatur, an die sich wiederum Karikaturen anderer Länder anlehnten. In diesem Sinn war Napoleon „the first universal figure in caricature“, vgl. William FEAVER, Masters of Caricature from Hogarth and Gillray to Scarfe and Levine. Introduction and Commentary by William Feaver, hrsg. von Ann GOULD, New York 1981, S. 57. Vgl. die vielfach abgedruckten antinapoleonischen Karikaturen u. a. bei Hubertus FISCHER, Wer löscht das Licht? Europäische Karikatur und Alltagswelt 1790–1990, Stuttgart 1994; DERS., Waterloo in der europäischen Karikatur, in: Heide N. ROHLOFF (Hrsg.), Napoleon kam nicht nur bis Waterloo. Die Spur des gestürzten Giganten in Literatur und Sprache, Kunst und Karikatur, Frankfurt a. M. 1992, S. 328–377; Sabine und Ernst SCHEFFLER, So zerstieben geträumte Weltreiche. Napoleon I. in der deutschen Karikatur, Stuttgart 1995; Hans Peter MATHIS (Hrsg.), Napoleon I. im Spiegel der Karikatur, Zürich 1998. 36 Vgl. PLANERT, Mythos vom Befreiungskrieg.
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gen war in der preußischen Bevölkerung bis 1812 wenig zu spüren37. Allerdings hatte das Land weitaus stärker als etwa die Rheinbundstaaten unter der französischen Hegemonie gelitten. Hohe Kontributionen und zuletzt der Aufmarsch der Grande Armée hatten Preußen an den Rand des Ruins gebracht. Hier wie auch im norddeutschen Küstenstreifen, wo die Wirkung der Kontinentalsperre verheerende Wirkungen zeigte, war die Gegnerschaft zu Napoleon besonders groß38. Doch selbst in Preußen nahm die Begeisterung für die Kriege mit der Entfernung zur Hauptstadt und zu den altpreußischen Gebieten ab. Kamen dann noch ethnisch-konfessionelle Differenzen hinzu, blieb die Unterstützung gering. Für die Kriegsmobilisierung jenseits der gebildeten Eliten spielten demnach traditional-dynastische Loyalitäten eine wichtige Rolle39. In den Rheinbundstaaten und im Westen hatte man dagegen nach den Verheerungen der Koalitionskriege unter der Ägide Napoleons eine vergleichsweise ruhige Zeit genossen. Entsprechend blieb hier die Kriegsbegeisterung gering. Freiwillige meldeten sich seltener als im Norden, und in Baden machte man sich gar über die „Fastnachtsnarrenarbeit“ der Landwehr lustig. Desertionen erreichten während des Russlandfeldzugs ein Hoch, verharrten in den Kriegen gegen Napoleon aber auf diesem Niveau40. Zudem zogen die Feldzüge nach Frankreich die Bevölkerung der Anrainerstaaten in Mitleidenschaft. Hatte man zuvor über die französischen Truppen gemurrt, wünschte man nun die alliierten Heere dahin, wo der Pfeffer wächst. „Lieber tot als so gequält“, ächzte der Wiesbadener Ackerbürger Friedrich Ludwig Burk und war keineswegs der einzige, der die verbündeten russischen Soldaten für schlimmer als die Franzosen hielt41. Die Geschichte der antinapoleonischen Kriege muss demnach regional und soziostrukturell weitaus differenzierter betrachtet werden, als es der Blick auf die Propagandaschriften nahelegt. Das galt auch für die Feier zum ersten Jahrestag der Leipziger Schlacht. Von Ernst Moritz Arndt angeregt, ist sie
37 Vgl. Bernd von MÜNCHOW-P OHL, Zwischen Reform und Krieg. Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809–1812, Göttingen 1987. 38 Vgl. zu Hamburg Katherine AASLESTAD, Place and Politics: Local Identity, Civic Culture, and German Nationalism in North Germany During the Revolutionary Era, Leiden 2005. 39 Vgl. Karen HAGEMANN, Mannlicher Mut und teutsche Ehre. Nation, Krieg und Geschlecht in der Zeit der antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn 2002. 40 Vgl. PLANERT, Mythos vom Befreiungskrieg; Michael SIKORA, Desertion und nationale Mobilmachung. Militärische Verweigerung 1792–1815, in: Ulrich BRÖCKLING / Michael SIKORA (Hrsg.), Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1998, S. 112–140. 41 Vgl. Das Tagebuch des Friedrich Ludwig Burk. Aufzeichnungen eines Wiesbadener Bürgers und Bauern 1806–1866, hrsg. von Jochen DOLLWET / Thomas WEICHEL, Wiesbaden 31994, S. 77, Eintrag vom 2.1.1814.
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von Historikern zur Matrix des deutschen Nationalfestes erklärt geworden42. Diese Aufmerksamkeit war jedoch nicht zuletzt der geschickten Dokumentationspolitik seiner nationalgesinnten Initiatoren geschuldet. Denn das Fest vereinte 1814 keineswegs, wie behauptet, die ganze Nation. Weite Landstriche blieben außen vor, und im Festverlauf fallen trotz gegenteiliger Beteuerungen die starken ständischen Trennlinien auf. Unterbürgerliche Gruppen spielten eher die Rolle von Zaungästen, als dass sie wirklich ins Geschehen eingebunden waren. Mit Ute Schneider lässt sich die Feier zum Gedächtnis der Leipziger Schlacht daher durchaus als „intellektuelle Konstruktion“ betrachten43. II. Offiziöse Denkmalspolitik und der Kampf um die Erinnerung Das Fest zum Gedächtnis der Leipziger Schlacht bildete den Auftakt zu einem anhaltenden Kampf um die Erinnerungshoheit über das französische Intermezzo der deutschen Geschichte. Er setzte ein, kaum dass die Waffen schwiegen, und wurde schon früh auf dem Feld der Begrifflichkeit ausgetragen. Die ältere Bezeichnung für die antinapoleonischen Kriege – „Freiheitskriege“ – verwies semantisch auf die bürgerlichen Emanzipationsprozesse in Frankreich und Nordamerika. Wer von Freiheitskriegen sprach, stellte die deutschen Ereignisse in einen universalgeschichtlichen Zusammenhang. Für frühliberale Intellektuelle, aber auch für linksgerichtete Historiker im Kaiserreich waren die antinapoleonischen Kriege ein Kampf für konstitutionelle Rechte, für die Vollendung der Reformpolitik in Preußen und in den Rheinbundstaaten, ein Kampf gegen die Blockadehaltung von Adel und Monarchie. Einheits- und Freiheitsstreben waren in dieser Interpretation untrennbar miteinander verbunden. Der Deutung der antinapoleonischen Erhebung als „Befreiungskriege“, begrifflich erst seit 1816 nachweisbar, fehlte dagegen dieses emanzipative Element. Für Konservative und Monarchisten wurde der Krieg nicht für nationale Einheit und liberale Freiheiten geführt, sondern zur Abwehr der französischen Fremdherrschaft und aus Anhänglichkeit gegenüber der regierenden Monarchie. Bereits im Vormärz angelegt, hielten sich die beiden
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Vgl. Ernst Moritz ARNDT, Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht, Frankfurt a. M. 1814; Dieter DÜDING, Das deutsche Nationalfest von 1814: Matrix der deutschen Nationalfeste im 19. Jahrhundert, in: DERS. [u. a.] (Hrsg.), Öffentliche Festkultur, Reinbek 1988, S. 67–88. 43 Vgl. Ute SCHNEIDER, Die Feiern der Leipziger Schlacht am 18. Oktober 1814 – eine intellektuelle Konstruktion?, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 133 (1997), S. 219– 238.
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konkurrierenden Deutungen – „Freiheitskriege“ versus „Befreiungskriege“ – in verschiedenen Varianten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein44. Die Spaltung zwischen dynastisch-konservativer und liberalnationaler Erinnerung zeigte sich auch auf dem Feld der Repräsentation. Das von Schinkel im Auftrag des preußischen Königshauses auf dem Tempelhofer Berg in Berlin 1821 errichtete Kriegsdenkmal hatte erkennbar dynastische Züge. Totentafeln in preußischen Kirchen ebenso wie Erinnerungsmonumente an bedeutenden Schlachtorten trugen die Inschrift: „Für König und Vaterland“. Ein Denkmal für die Kriegsfreiwilligen oder ein Monument für Scharnhorst als dem Initiator der allgemeinen Wehrpflicht, wie es Ernst Moritz Arndt und Caspar David Friedrich planten, kam dagegen nicht zustande. Während sich die konservative Sicht auf die Befreiungskriege in offiziösen Kriegsdenkmälern niederschlug, lebte die Erinnerung an das emanzipative Moment der Freiheitskriege vorerst in der Organisation der Burschenschafter, in der Turnbewegung sowie in der bildenden Kunst, namentlich bei Georg Friedrich Kersting und Caspar David Friedrich, fort45. Bei allen Unterschieden in der politischen Ausrichtung trafen sich beide Interpretationen in ihrer Opposition zur französischen Hegemonie und ihrer Ablehnung Napoleons. Das vereinte sie mit der offiziösen Erinnerungspolitik der ehemaligen Rheinbundstaaten, die sich angesichts der Integration in den zunehmend von Preußen dominierten Deutschen Bund und einer wachsenden Nationalbewegung bemühten, ihre französische Mesalliance vergessen zu machen. Das 1842 eingeweihte bayerische Walhalla-Projekt kann dabei geradezu als paradigmatisch für das vormärzliche Bemühen der Rheinbundstaaten um Geschichtsrevision gelten. Doch schon neun Jahre vorher, am 20. Jahrestag der Leipziger Schlacht, hatte der Bayernkönig in München einen Obelisk zum Gedenken an die 30.000 im Russlandfeldzug gefallenen Bayern errichten lassen. Dass diese Soldaten damals auf Napoleons Seite gekämpft 44 Vgl. Helmut BERDING, Das geschichtliche Problem der Freiheitskriege 1813–1814, in: Karl Otmar von ARETIN / Gerhard A. RITTER (Hrsg.), Historismus und moderne Geschichtswissenschaft. Europa zwischen Revolution und Restauration 1797–1815. Drittes deutsch-sowjetisches Historikertreffen in der Bundesrepublik Deutschland, München, 13.– 18. März 1978, Wiesbaden 1987, S. 201–215. 45 Vgl. mit weiterer Literatur Christopher CLARK, The Wars of Liberation in Prussian Memory: Reflections on the Memorialization of War in Early Nineteenth-Century Germany, in: Journal of Modern History 68 (1996), S. 550–576. Vgl. auch Thomas NIPPERDEY, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 206 (1968), S. 529–585; Dieter DÜDING, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847): Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung, München 1984; Hagen SCHULZE, Der Weg zum Nationalstaat: Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 1985; Dieter LANGEWIESCHE, „für Volk und Vaterland kräftig zu würken…“: Zur politischen Rolle der Turner zwischen 1811 und 1871, in: Omo GRUPPE (Hrsg.), Körpergut oder Körperkult? Sport und Sportwissenschaft im Wandel, Tübingen 1990, S. 22–61.
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hatten, wurde dabei verschwiegen. Statt dessen machte die Aufschrift am Sockel des Denkmals deutlich, wie die Vergangenheit zu deuten war: „Auch sie starben für des Vaterlands Befreyung“, war da zu lesen, und: „Vollendet am 18. Oktober 1813“. Damit wurde der Russlandfeldzug in eine historische Kontinuität mit den Kriegen gegen Napoleon gestellt. Auf diese Weise sollte der Russlandfeldzug als Auftakt der Befreiungskriege erscheinen. Die mit Napoleon ausgezogenen Soldaten wurden im Nachhinein zu Vaterlandskriegern stilisiert. Doch nicht nur in München, auch in Stuttgart blendete man die napoleonische Vergangenheit konsequent aus. 1841, beim Fest zum 25jährigen Regierungsjubiläum des württembergischen Königs Wilhelm, zeigten Schmuckbildchen den jungen Prinzen als Heerführer in den Befreiungskriegen. Der Landtag stiftete eine noch heute auf dem Stuttgarter Schlossplatz zu bewundernde Siegessäule. Auf dem Sockel sind nur Schlachten des Jahres 1814 dargestellt, die der damalige Kronprinz gegen Frankreich kommandierte. Dass Wilhelm zuvor auch unter Napoleon gedient hatte, fiel dabei unter den Tisch. Die ehemaligen Rheinbundfürsten gaben sich alle Mühe, mittels symbolischer Politik ihre Staaten zurück in die deutsche Geschichte zu führen und vergessen zu machen, dass sie aus Sicht des nationalen Paradigmas jahrelang auf der falschen Seite gestanden hatten46. III. Napoleon im Vormärz: Populärer Soldatenkaiser und Ikone des politischen Liberalismus Doch so sehr die Kriegspropaganda Napoleon verteufelt hatte und die Erinnerungspolitik der Staaten auf einen antifranzösischen Kurs einschwenkte: Abseits der offiziösen Stellungnahmen erfreute sich der ins Exil geschickte Kaiser noch zu Lebzeiten erneut aufflammender Popularität. Als sich die Nachricht von seiner Rückkehr aus Elba verbreitete, vernahm man in süddeutschen Truppenteilen das bekannte „Vive l’Empereur“, während sich ein sächsisches Gardebataillon weigerte, weiter nach Frankreich zu marschieren, dem preußischen Feldmarschall Blücher die Scheiben seines Quartiers einwarf und „Es lebe Napoleon“ skandierte47. Aus Bayern berichtete der badische Gesandte Anfang 1815, das gehobene Münchner Bürgertum sei frankophil wie eh, und fünf Jahre später entlud sich der Konflikt zwischen Soldaten
46 Vgl. Ute PLANERT, Auf dem Weg zum Befreiungskrieg: Das Jubiläum als Mythenstifter. Die Re-Interpretation der napoleonischen Zeit in den Rheinbundstaaten, in: Winfried MÜLLER (Hrsg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004, S. 195–219. 47 Vgl. Hagen SCHULZE, Napoleon, in: Etienne FRANÇOIS / DERS. (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001, S. 28–46, hier S. 35.
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und den Angehörigen der Berliner Unterschicht in dem Slogan: „Es lebe die Freiheit und Napoleon!“48. Je mehr die dynastische Restauration die politischen Hoffnungen der Zeitgenossen enttäuschte, desto mehr wurde Napoleons Name zur Chiffre der Opposition. Stellvertretend für viele fragten Grillparzer und Goethe, ob mit dem Abgang des Tyrannen nun auch die Tyrannei verschwunden sei, oder ob man nicht vielmehr einen großen gegen hundert kleine Tyrannen eingetauscht habe49. Die unerfüllten Versprechungen der Fürsten kamen dem Andenken des Kaisers zugute, den liberale Geister nun als „Schutzwehr der Verfassung“ und „geschworenen Feind des Feudalsystems“ priesen 50. In den napoleonischen Modellstaaten und auf der linken Rheinseite, wo man von der Zugehörigkeit zum Empire profitiert hatte, setzten die Einwohner daher alles daran, die Errungenschaften der französischen Zeit gegen den Zugriff des restaurativen preußischen Staates zu verteidigen51. Der französische Kaiser und seine Herrschaft avancierten so posthum zur Ikone des politischen Liberalismus. Auch in Württemberg gewannen Liberale und Demokraten der Rheinbundära viel Gutes ab. Bei einem Veteranentreffen 25 Jahre nach dem Ersten Pariser Frieden wertete der liberale Tübinger Lyzeumsdirektor Pahl die Französische Revolution als eine „neue Entwicklungsstufe der Menschheit“ und rief seinen Zuhörern die Errungenschaften der neuesten Zeit ins Gedächtnis: vom Ende ständischer Privilegien über die württembergische Verfassung bis hin zum Zollverein. Rechts- und Steuergleichheit, Volksbewaffnung und patriotisches Einheitsstreben: Für Pahl war das die logische Fortsetzung eines Kurses, den Napoleon als „gewaltiges Werkzeug in der Hand Gottes“ eingeschlagen hatte. Die rheinbündische Ära erschien so als Geburtshelfer einer fortschrittlichen Gegenwart. Hier war der Wunsch nach nationaler Einheit nicht an eine feindselige Haltung gegenüber Frankreich geknüpft, sondern galt vielmehr als Konsequenz des von Frankreich in der rheinbündischen Zeit vorgezeichneten Weges52.
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Vgl. ebd. und HERMAND, Napoleon im Biedermeier, S. 106. In seiner großen Napoleon-Ode von 1821 stellt Grillparzer die aufrührerische Frage: „Ward Tyrannei entfernt mit dem Tyrannen? / Ist auf der freien Erde, seit du fort / Nun wieder frei Gedanke, Meinung, Wort?“ Ganz ähnlich heißt es bei Goethe sarkastisch: „Gott Dank! Daß uns so wohl geschah / Der Tyrann sitzt auf Helena! / Doch ließ sich nur der eine bannen, / Wir haben jetzo hundert Tyrannen“. Zit. nach HERMAND, Napoleon im Biedermeier, S. 118 und SCHULZE, Napoleon, S. 37. 50 So ein Artikel des „Europäischen Aufsehers“ aus Sachsen im Oktober 1814, zit. nach SCHULZE, Napoleon, S. 36 f. 51 Vgl. die Artikel in Veit VELTZKE (Hrsg.), Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser, Köln [u. a.] 2007 sowie Karl-Georg FABER, Die Rheinländer und Napoleon, in: Francia 1 (1973), S. 380 f. 52 Vgl. Das Veteranenfest des Oberamtsbezirks Tübingen, Tübingen 1839.
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Ähnliche Töne waren auch aus der Rheinpfalz zu hören, wo sich die Verteidigung der französischen Errungenschaften mit der Ablehnung der bayerischen Herrschaft und deutsch-nationalen Haltungen verband. Diese Spielart des Nationalismus hatte freilich mit der Franzosenfresserei eines Arndt oder Jahn nichts gemein. Vielmehr entwickelte sich im Vormärz unter Demokraten und Liberalen im Südwesten der deutschen Staatenwelt ein frankophiler Nationalismus, der Frankreich nicht als Gegner, sondern als Vorbild sah. Entsprechend zog sich Johann Georg August Wirth auf dem Hambacher Fest 1832 heftige Kritik für seine Auffassung zu, im Kriegsfall habe die nationale Geschlossenheit vor einem Bündnis mit französischen Gesinnungsgenossen zu stehen53. Besonders in den grenznahen Regionen schlossen sich die Verbundenheit mit Frankreich und das Bekenntnis zur deutschen Nation nicht aus. Auch wenn die europäischen Revolutionen von 1848/49 nicht zuletzt an nationalen Gegensätzen zerbrachen – für Demokraten wie für viele Liberale hatte bis weit in die 1840er Jahre hinein das transnational ausgerichtete Denken in Kategorien ideologischer Übereinstimmung Vorrang vor nationalen Gemeinsamkeiten54. In diesen Kontext fügte sich auch die wieder aufflammende NapoleonVerehrung ein. Gegenüber der Enge und Erstarrung des politischen Lebens im Zeitalter der Restauration erschien Napoleon nun als Titan, als gleichsam zeitloses Symbol für das Genie der Macht, dessen überdimensionale Züge auf das Schärfste mit der Kleingeistigkeit seiner Überwinder kontrastierten. Noch zu Lebzeiten erschienen Memoiren und Berichte von Gefährten und Parteigängern des berühmten Exilanten, die in den liberalen Blättern lebhaften Widerhall fanden55. Nach dem Tod des zum Märtyrer auf St. Helena Verklärten brach dann eine ganze Welle von Traueroden und Klagegesängen über Europa herein, in denen der Kaiser als großer Dulder und christliches Opferlamm erschien56. Das wenig später von Napoleons letztem Wegbegleiter Las Casas publizierte Mémorial de Sainte-Hélène, in dem sich Bonaparte zum großen Liberalen stilisierte, wurde zu einem der meistverkauften Bücher des 19. Jahrhunderts57. Ebenfalls im Hause Cotta erschien mit Segurs Geschichte des Feldzuges von 1812 ein weiterer ausgesprochener Publikumserfolg. Dazu kamen Übersetzungen kriegsgeschichtlicher Werke von französischen Generälen, die Edition diplomatischer Quellen und eine Gesamtausgabe von Napoleons Werken in vier Bänden. Auf diese Weise avancierte Stuttgart in den 53
Vgl. Ulrike RUTTMANN, Wunschbild – Schreckbild – Trugbild: Rezeption und Instrumentalisierung Frankreichs in der deutschen Revolution von 1848/49, Stuttgart 2001, S. 91 f. 54 Vgl. ebd., S. 88 f. 55 Vgl. SCHULZE, Napoleon, S. 16. 56 Vgl. HERMAND, Napoleon im Biedermeier, S. 106 f.; BESSLICH, Napoleon-Mythos, S. 137–168. 57 Vgl. BESSLICH, Napoleon-Mythos, S. 169.
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1820er Jahren zu einem Zentrum des literarischen Bonapartismus. Auch andere Stuttgarter Verlage brachten zahlreiche pro-napoleonische Memoiren heraus. Sie firmierten bezeichnenderweise unter dem Titel „Napoleons Ehrentempel“58. Zur poetischen Allgegenwart Napoleons im frühen 19. Jahrhundert trugen auch die deutschen Dichter bei. Mit der Verabschiedung der Romantik verschwand auch ihr Franzosenhass aus der Literatur59. Grabbe, Hauff und die Jungdeutschen stricken mit an der Napoleon-Legende, selbst der bedächtige Gustav Schwab betätigt sich als Übersetzer bonapartistischer Literatur60. Heinrich Heines durchaus nicht unkritischer Napoleon-Enthusiasmus war demnach keineswegs jener Ausnahmefall, als den ihn eine national verpflichtete Literaturwissenschaft zu zeichnen pflegte61. Zwei Dichter, Adalbert von Chamisso und Franz von Gaudy, waren es auch, die mit der Übertragung der Veteranenlieder Pierre-Jean de Bérangers in Deutsche begannen. Ebenso wie im von Schumann vertonten HeineGedicht „Die Grenadiere“ (1827) stand hier das Bild vom Volks- und Soldatenkaiser im Mittelpunkt. Unter den Veteranen der Rheinbundstaaten, die sich in den 1830er Jahren zu organisieren begannen, dürften diese literarischen Zeugnisse auf ebenso großes Interesse gestoßen sein wie die Fülle von Napoleonbüsten, Statuetten, Tellern, Sammeltassen, Tabakdosen oder Pfeifen mit Napoleons Konterfei, die noch im Vormärz großen Absatz fanden 62. Prototyp der linksrheinischen Zusammenschlüsse war der Mainzer Veteranenverein, der 1833 unter der Ägide des Mainzer Bürgermeisters Stephan Metz ins Leben getreten war. Ausgesprochen militärisch geführt, ließen allein schon die mit französischen Befehlsformen durchsetzten jährlichen „Tagesbefehle“ des Vorsitzenden am Krönungstag des Kaisers die napoleonische Militärzeit fortleben. Seine 230 Mitglieder trafen sich mehrmals jährlich, um „dem (sic!) Verklärten [...] sowie seinen unsterblichen Siegen“ zu gedenken, nicht nur an Napoleons Geburts- und Todestag, sondern auch an Allerheiligen und Allerseelen. An diesen Feiertagen hielten Mainzer Veteranen in der 58 Vgl. Otto-Heinrich ELIAS, Das Bild des Kaisers. Literarischer und politischer Bonapartismus in Württemberg, in: Baden und Württemberg zur Zeit Napoleons, Bd. 2, Stuttgart 1987, S. 717–742. 59 Vgl. BESSLICH, Napoleon-Mythos, S. 205. 60 Vgl. Grabbes „Napoleon und die hundert Tage“ (1831), Wilhelm Hauffs Novelle „Das Bild des Kaisers“ (1828) und das von Gustav Schwab übersetzte Epos „Napoleon in Ägypten“ (1828). Zu Grabbe vgl. François GENTON, Von einem Mythos zum anderen. Zu Grabbes „Napoleon oder die Hundert Tage“ (1831), in: GEORGE / RUDOLPH, Napoleons langer Schatten, S. 279–292. 61 Vgl. BESSLICH, Napoleon-Mythos, S. 169–262; HERMAND, Napoleon im Biedermeier, S. 107–111. 62 Vgl. Bernard BARTH, Mythos Napoleon – Die Napoleon-Legende in Deutschland, in: Hans OTTOMEYER (Hrsg.), Biedermeiers Glück und Ende ... die gestörte Idylle 1815–1848, München 1987, S. 452 f.
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Uniform der Alten Garde mit brennenden Fackeln Wache vor dem mit Blumen geschmückten Veteranendenkmal, bis der Verein 1883 mit dem Tod seiner letzten Angehörigen erlosch 63. Insgesamt entstanden links des Rheins 35 Veteranenvereine mit knapp 2000 Mitgliedern, die meisten davon in Rheinhessen, etwas weniger in der bayerischen Rheinpfalz und in der preußischen Rheinprovinz, wo man den Napoleonkult argwöhnisch beäugte64. Von hier aus verbreitete sich die Veteranenbewegung nach Baden und schließlich nach Württemberg, wo der König sie auf seine eigene Person umzulenken suchte65. Seit den späten 1830er Jahren erschienen unzählige Erinnerungsschriften aus den Federn ehemaliger Kriegsteilnehmer, für die ein aufnahmefähiger Markt existierte. Zwar hatten schon die Geschehnisse des Dreißigjährigen Krieges zur Verarbeitung in Selbstzeugnissen herausgefordert. Doch durch die inzwischen erfolgte Alphabetisierung wurden nun erstmals die Erlebnisse einer ganzen Generation junger Männer erinnerungswürdig. Der Krieg des kleinen Mannes fand Eingang wenn auch nicht in die Annalen der Geschichte, so zumindest doch in die Werkstätten der Drucker. Entsprechend der Fragmentierung in den Kriegen mit und gegen Napoleon variierte die Haltung der Kriegserinnerungen je nach regionalen und soziopolitischen Gegebenheiten. Je höher der Bildungsgrad und je nördlicher die Herkunft der Veteranen, desto eher wurden die Erzählungen von nationalen und antifranzösischen Mustern getragen. Anders als etwa die im preußischen Kontext entstandenen Memoiren lassen die meisten Kriegserinnerungen aus dem Dritten Deutschland jedoch nationalistische Anklänge vermissen. Im Süden und Westen waren es vor allem die „kleinen Leute“, die sich weiterhin mit dem französischen Militär identifizierten und aus ihrer Verehrung für Napoleon keinen Hehl machten. Ein Barbier aus dem rheinpfälzischen Haßloch, der später nie mehr über sein Dorf hinausgekommen war, konnte so ganz selbstverständlich schreiben: „Als wir Franzosen in Spanien einmarschierten...“66. Die Rheinkrise von 1840/41 markierte einen Einschnitt in der Haltung zu Frankreich und Napoleon. Allerdings ist festzuhalten, dass die emotionalen Wogen aufs Ganze gesehen weniger hoch schlugen und auch rascher verflachten, als gemeinhin angenommen wird. In der Tat löste die Absicht der Regierung Thiers, als Kompensation gescheiterter Orientpolitik nach dem 63 Vgl. Walther KLEIN, Der Napoleonkult in der Pfalz, München / Berlin 1934, S. 14–24, Zitat S. 18. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. zur Veteranenbewegung in Bayern und Württemberg ausführlich PLANERT, Auf dem Weg zum Befreiungskrieg. 66 Vgl. Jakob Klaus aus Haßloch, in: Joachim KERMANN, Pfälzer unter Napoleons Fahnen. Veteranen erinnern sich. Erlebnisberichte anläßlich der 200. Wiederkehr der Französischen Revolution, Neustadt 1989, S. 65–123, hier S. 73.
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Rheinland zu greifen, einen Sturm der Entrüstung aus, der sich von Nikolaus Beckers Rheinlied bis zu Max Schneckenburgers Wacht am Rhein in zahlreichen patriotischen Liedern niederschlug. Selbst der ehemalige Mainzer Jakobiner Nikolaus Müller, der noch 1837 ein Liederbuch für die Veteranen der großen Napoleonsarmee veröffentlicht hatte, gab nun eine Sammlung germanischer Kriegslieder heraus67. Verstärkt wurde die frankophobe Rheineuphorie durch die Thronbesteigung des neuen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV., der zu Beginn seiner Regierungszeit nationalen und liberalen StröStrömungen Avancen machte68. Französische Ansprüche auf die Rheingrenze wiesen alle zeitgenössischen Zeitungen einhellig zurück. Doch fiel die grundsätzliche Stellungnahme zu Frankreich regional und je nach politischem Standpunkt durchaus unterschiedlich aus. Der Tendenz nach bemühten sich die lokalen Blätter am Oberrhein um Besonnenheit, während schärfere Töne von der rheinpreußischen und überregionalen Presse kamen. Immer noch gab es Blätter, die Deutsche und Franzosen für aufeinander angewiesene „Brüdervölker“ hielten, dazu berufen, gemeinsam gegen den Despotismus zu streiten69. Auch andere Indizien zeigen, dass sich trotz Rheinkrise eine frankreichfeindliche Haltung im Vormärz noch nicht generell durchsetzen konnte. Obwohl hier die Fest- und Versammlungsbewegung am stärksten gewesen war, flaute im preußischen Rheinland die Hoffnung auf eine erneute nationale Allianz von Fürsten und Volk mit zunehmender Enttäuschung über die Politik Friedrich Wilhelms IV. bald wieder ab70. Im demokratischen Lager warnten Arnold Ruge und Wilhelm Weitling vor nationalistischen Tendenzen, Robert Prutz wandte in einer weithin verbreiteten Replik auf Beckers Rheinlied den Freiheitsbegriff auf die Presse statt auf den Rhein an71. Neue Napoleon-Anthologien verklärten in den 1840er Jahren den französischen Kaiser zum größten Menschen, der je gelebt habe, und wünschten seine Wiederkunft herbei72. Immer noch erschienen „teutsche Lieder, den Söhnen Frankreichs gewidmet“73, und im pfälzischen Frankenthal begannen ehemalige Soldaten 67 68
Vgl. SCHULZE, Napoleon, S. 40. Vgl. zum Rheinland Ute SCHNEIDER, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert: die Rheinprovinz von der französischen Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1806– 1918), Essen 1995. 69 Vgl. Irmeline VEIT-BRAUSE, Die deutsch-französische Krise von 1840. Studien zur deutschen Einheitsbewegung, Diss. Köln 1967, S. 198 f.; Roland BAUER, Die Rheinkrise von 1840 in der deutschen Öffentlichkeit – eine Zeitungsanalyse, Magisterarbeit, Tübingen 2001. 70 Vgl. SCHNEIDER, Politische Festkultur, S. 79–87. 71 Vgl. Otto DANN, Nation und Nationalismus in Deutschland, 1770–1990, München 1990, S. 105 f. 72 Vgl. WÜLFING [u. a.], Mythologie der Deutschen, S. 42–58. 73 Vgl. Maler Müllers Neffe (i.e. Christian Heinrich GILARDONE), Zwölf teutsche Lieder den Söhnen Frankreichs gewidmet, Landau o.J. [1840].
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just im Jahr der Rheinkrise damit, einen Napoleonstein zu errichten. In den Liedern zur Denkmalseinweihung 1842 erschien der Übergang der Pfalz an Frankreich als Anschluss an ein „Freiheitsland“, und die im „mächtigen fränkischen Heer“ zugebrachten Jahre wurden als eine Zeit besungen, die man „für’s Vaterland gestritten“, wohlgemerkt für das französische. Schließlich durfte Napoleon nach dem Schlachtruf „Vive l’Empereur“ nach Walhalla eingehen – eine besonders pikante Wendung, bedenkt man, dass der Bayernkönig Ludwig I. soeben eine Siegeshalle gleichen Namens zum Ruhm der deutschen Waffen bauen ließ74. Noch bis 1852 entstanden Napoleonvereine und -denkmäler auf der linken Rheinseite, so dass französische Beobachter spöttisch von einer „Wacht am Rhein der Veteranen des französischen Empire“ sprachen75. Historische Romane zeigten Napoleon halb bewundernd als denjenigen, der überhaupt erst das deutsche Nationalbewusstsein weckte, oder schilderten den Befreiungskrieg 1813 in liberaler Absicht als eine Zeit, in der sich die Deutschen von absolutistischen Fesseln befreiten76. Selbst die berufsmäßigen Geschichtsverwalter, die Napoleon und damit Frankreich schon bald zum Erzfeind des deutschen Wesens stilisieren sollten, betrachteten im Vormärz die napoleonische Zeit noch mehrheitlich unter liberaler Warte. Karl von Rotteck, Freiburger Staatsrechtler, Mitherausgeber des Staats-Lexikons und Autor einer vielgelesenen Allgemeinen Geschichte, war sich mit Friedrich Christian Schlosser, dem wohl erfolgreichsten Historiker des frühen 19. Jahrhunderts, in der Beurteilung Napoleons einig: Sie sahen in ihm den Mann, der die Revolution vollendete und damit die bürgerliche Welt von den Ketten des Ancien Régime erlöste77. Ganz als Usurpator und Willkürherrscher, wenngleich ohne die undifferenzierte Ablehnung späterer Zeiten und mit liberalem Impetus, zeichnete dagegen Johann Gustav Droysen den französischen Kaiser. Dem Nestor der kleindeutschen Geschichtsschreibung galten die Kriege gegen Napoleon 74
Vgl. Johann Friedrich Heinrich CANTZLER, Gesänge der unter Napoleon’s Fahnen in der ehemaligen kaiserlich französischen Armee gedienten Veteranen Frankenthals und Umgebung, Frankenthal 1842. 75 Vgl. KLEIN, Napoleon-Kult, S. 25. 76 Vgl. Ludwig RELLSTAB, 1812. Ein historischer Roman, Leipzig 1834; Ferdinand STOLLE, 1813. Geschichtlicher Roman aus den Befreiungskriegen, Leipzig 1838. Zum historischen Roman im Vormärz vgl. ausführlich BESSLICH, Napoleon-Mythos, S. 270–282. 77 Vgl. Karl von ROTTECK, Allgemeine Geschichte von Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten, 2. Volksausgabe in 11. Bänden, 24Braunschweig 1863. Die beiden die Napoleonzeit betreffenden Bände wurden erstmals 1826 publiziert. Friedrich Christoph SCHLOSSER, Geschichte des 18. Jahrhunderts und des 19. bis zum Sturz des französischen Kaiserreiches, 8 Bde., 3Heidelberg 1864–1866. Die 2. Auflage, die erstmals die napoleonische Zeit komplett behandelte, erschien 1836–1848. Vgl. dazu ausführlich Hans SCHMIDT, Napoleon in der deutschen Geschichtsschreibung, in: Francia 14 (1986), S. 530–560, hier S. 537.
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stärker als der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg und die Französische Revolution als die eigentliche Krönung neuzeitlichen Freiheitsstrebens. Auf diese Weise legte der Begründer der preußischen Geschichtslegende mit seinen 1842/43 erstmals publizierten Vorlesungen über die Freiheitskriege den Grundstein für die historiographische Verklärung der „unvergeßlichen drei Jahre“ zum mythischen Gründungsakt der deutschen Nation78. IV. Von der regionalen zur politischen Fragmentierung der Erinnerung: Reichsgründungszeit und Kaiserreich Droysens Vorlesungen markierten den Auftakt zu einem grundlegenden Wandel in der Sicht auf den französischen Nachbarn, der sich nach der Jahrhundertmitte zunehmend bemerkbar machte. Der Völkerfrühling war gescheitert, in der Revolution von 1848/49 war der außenpolitische Machtanspruch des deutschen Nationalismus deutlich geworden, und die Expansionspläne Napoleons III. waren nicht dazu angetan, die deutschfranzösischen Beziehungen zu verbessern. Von einer Vorbildfunktion Frankreichs war nun nirgends mehr die Rede. Karikaturen zogen immer häufiger Parallelen zwischen dem dritten Napoleon und seinem berühmten Onkel, der bald nur noch als unersättlicher Despot figurierte. Abordnungen linksrheinischer Veteranenverbände, die 1840 ganz selbstverständlich der Überführung von Napoleons Leichnam in den Invalidendom beigewohnt hatten, gerieten zunehmend unter den Druck nationaler Vereine, als Napoleon III. sie mit der St. Helena-Medaille auszeichnete. Zwar fuhren Mainzer Veteranen noch 1869 zu den Festlichkeiten anlässlich des 100. Geburtstags des großen Korsen nach Paris und tauschten dort mit ihren „fréres d’armes“ vom Département de la Seine Photographien und Einladungen aus. Doch zu Besuchen sollte es wegen des deutsch-französischen Krieges nicht mehr kommen. Mit ihrem Versuch, grenzüberschreitende Beziehungen zu etablieren, erschienen die linksrheinischen Bonapartisten in der aufgeheizten Atmosphäre der Reichsgründungszeit mehr und mehr als unzeitgemäße Skurrilität79. Den Ton gab jetzt die expandierende Nationalbewegung an. Hier war der Verweis auf den finalen Sieg gegen Frankreich allgegenwärtig. Das Liedgut der Turner, Schützen und Sänger bestand im Wesentlichen aus Vertonungen der Lyrik der Befreiungskriege. Der Deutsche Nationalverein gedachte der Todestage von Fichte, Körner und Arndt. Und der Allgemeine Deutsche Frauenverein, der erste überregionale Zusammenschluss weiblicher Vereins-
78 Vgl. Johann Gustav DROYSEN, Vorlesungen über die Freiheitskriege, Erster Theil, Kiel 1846 (erstmals 1842), Vorwort und S. 3. 79 Vgl. KLEIN, Veteranen, S. 37–47.
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aktivitäten auf deutschem Boden, setzte seine Gründungsversammlung nicht zufällig an einem 18. Oktober in Leipzig an80. Seit mit dem Tod der letzten Kriegsveteranen das kommunikative vom kulturellen Gedächtnis abgelöst wurde81, mehrten sich die Romane, die als Medium des bürgerlichen Kollektivgedächtnisses die militärischen Auseinandersetzungen der Jahre 1792–1815 thematisierten82. Die Autoren der historihistorischen Romane – bis 1945 erschienen rund 600 in deutscher Sprache – trugen mit ihren viel gelesenen Werken zur Verfestigung und Verbreitung des Mythos von der Unterdrückung Deutschlands durch die napoleonische Herrschaft und die siegreiche Befreiung unter preußischer Führung bei. Dabei entwarfen sie ein Bild heldischer Kriegsfreiwilliger, das Generationen von Jungen und jungen Männern als Vorbild für wehrhafte Männlichkeit diente und so erheblich zur Mobilisierung für spätere Kriege beitrug83. Der Nationalisierungsschub färbte auch auf die Schulbücher der ehemaligen Rheinbundstaaten im Umgang mit ihrer französischen Vergangenheit ab. Bisher hatten sich bayerische Schulbücher in der Darstellung der napoleonischen Epoche größtenteils um Ausgewogenheit bemüht. Doch im Reichsgründungsjahrzehnt änderte sich ihr Ton drastisch. Bayerns Bündnis mit Frankreich, bisher als Notwendigkeit zur Selbsterhaltung und Voraussetzung für die Erhebung zum Königreich geschildert, musste nun vor der nationalistischen Geschichtsdeutung gerechtfertigt werden. Seit Mitte der 1860er Jahre gaben sich die bayerischen Schulfibeln daher alle Mühe, gewissermaßen als Kompensation für die französische Mesalliance den spezifisch bayerischen Anteil an der Abschüttlung des ‚französischen Jochs’ deutlich hervorzuheben. Jetzt erschien der Beitrag des bayerischen Heeres zur Überwindung Napoleons geradezu essentiell. Aus dem ehemaligen Kronprinzen Ludwig, der sich vom Verehrer zum Gegner Napoleons gewandelt hatte, wurde so ein
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Vgl. Ute P LANERT, Die Nation als Reich der Freiheit für Staatsbürgerinnen. Louise Otto zwischen Vormärz und Reichsgründung, in: DIES. (Hrsg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a. M. 2000, S. 113–130, hier S. 122. Vgl. auch mit weiterer Literatur DIES., Vater Staat und Mutter Germania: Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in: ebd., S. 15–65. 81 Vgl. Astrid ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung, 2 Stuttgart 2011. 82 Vgl. etwa Marion GEORGE, Der antinapoleonische Befreiungskampf als Mythos der deutschen Reichsgründung in Theodor Fontanes Roman „Vor dem Sturm“, in: DIES. / RUDOLPH (Hrsg.), Napoleons langer Schatten, S. 337–356. 83 Vgl. Maria SCHULTZ, „Mit Gott, für König und Vaterland” – Erinnern und Erzählen. Die Darstellung von Kriegsfreiwilligen der napoleonischen Zeit in deutschsprachigen Romanen des 19. Jahrhunderts, in: CARL / PLANERT (Hrsg.), Militärische Erinnerungskulturen. Vgl. auch Christiane KRÜGER / Sonja LEVSEN (Hrsg.), War Volonteering in Modern Times, Basingstoke 2010.
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„teutsch“ gesinnter Jüngling, der, so brachte man den Schülern bei, schon 1807 die Melodie „nationaler Erhebung“ angestimmt habe84. Allen Homogenisierungsbemühungen durch die Erfindung einer einheitlichen Nationalgeschichte zum Trotz blieb die historische Erinnerung jedoch selbst noch im Reichsgründungsjahrzehnt regional und konfessionell fragmentiert. Gerade Katholiken aus Süd- und Westdeutschland konnten sich mit der jetzt dominierenden preußisch-protestantischen Lesart der Geschichte nicht anfreunden. Das wurde nirgends deutlicher als beim 50. Jubiläum der Leipziger Schlacht. Unter maßgeblicher Mitwirkung des liberalen Nationalvereins organisiert, wurde es wegen des preußischen Verfassungskonflikts nicht in Berlin gefeiert, sondern am Ort des Geschehens85. Trotz bester Absichten gelang es jedoch nicht, durch die Jubiläumsfeier die Spaltung der Kulturnation entlang regionaler und konfessioneller Bruchlinien zu überwinden. Von 500 eingetroffenen Stadtdelegierten waren gerade einmal 20 aus Österreich und ganze 6 aus Bayern gekommen. Aus dem Rheinland fehlten die Vertreter katholischer Städte. Im Gegensatz zum sozial offeneren deutschen Turnfest – 1863 ebenfalls in Leipzig abgehalten – blieb diese halboffizielle Erinnerung an die Befreiungskriege durch eine norddeutsch-protestantische Prägung bestimmt86. Mit der Etablierung eines äußeren Feindes im Krieg gegen Frankreich 1870/71 schien die regionale und konfessionelle Fragmentierung der deutschen Nation vorerst zu verschwinden. Zur Verstärkung des antifranzösischen Feindbildes wurden nun nur zu gern Parallelen zwischen dem ersten und dem dritten Napoleon gezogen. Für die Historiker der Reichsgründungszeit von Heinrich von Sybel über Ludwig Häußer bis zu Heinrich von Treitschke war Napoleon nichts anderes als ein selbstsüchtiger Despot, ein Unterdrücker und nationaler Feind, ja die Inkarnation des Bösen schlechthin. Wie vor ihnen Ernst Moritz Arndt, aber anders als die Geschichtsschreiber der dazwischenliegenden Perioden, unterschieden die Geschichtsverwalter der deutschen Einigung nicht zwischen dem Kaiser und der französischen Nation. Im Gegenteil: Das Phänomen Napoleon wurde als Hervorbringung des französi84 Vgl. Uwe PUSCHNER, Sieben Bilder aus der Geschichte Bayerns in napoleonischer Zeit. Eine Analyse bayerischer Schulgeschichtsbücher des 19. Jahrhunderts, in: Dieter ALBRECHT [u. a.] (Hrsg.), Europa im Umbruch 1750–1850, München 1995, S. 353–369. 85 Pünktlich zum Jubiläum hatte der rührige Leipziger Oberlehrer und Stadtbibliothekar Robert Naumann ein Buch mit Augenzeugenberichten herausgegeben. Naumann war auch Vorsitzender des Leipziger „Vereines zur Feier des 19. October“, der auch in den Jahren nach dem Jubiläum Quellen zur Leipziger Schlacht publizierte. Vgl. Robert NAUMANN, Aus dem Jahre 1813. Mittheilungen den Mitgliedern des Vereines zur Feier des 19. Octobers in Leipzig gewidmet, Leipzig 1869. 86 Vgl. zum Jubiläumsjahr 1863 ausführlich Friedrich LENGER, Die Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig im Jubiläumsjahr 1863, in: Manfred HETTLING [u. a.] (Hrsg.), Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, München 2002, S. 25–41.
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schen Volkes, gewissermaßen als Summe des verfehlten französischen Nationalcharakters gesehen87. Die lautstarke Schürung antifranzösischer Ressentiments sollte die Einheit der entstehenden Nation nach innen festigen und vergessen machen, dass kaum vergangene „Bruderkriege“ die Voraussetzung für die kleindeutsche Reichseinigung unter preußischer Führung geschaffen hatten88. Auf welch wackeligen Füßen die innere Einheit der neuen Nation stand und wie schwer die konfessionellen und regionalen Spaltungen immer noch wogen, belegt freilich nichts deutlicher als das wohl populärste Geschichtsbuch des Kaiserreiches, Treitschkes 1879 publizierte Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert89. Wie die anderen kleindeutschen Historiker benutzte der Berliner Professor die Geschichte als Folie, um Preußens Führungsanspruch im neuen Staat zu legitimieren. In Treitschkes Darstellung kam Preußen als „Deutschlands natürliche[m] Herrscher“90 vom Beginn seiner Geschichte an die historische Aufgabe zu, den Einfluss der deutschen Nation zu mehren und sie von fremder Herrschaft zu befreien91. Entsprechend zeichnete er den Zusammenbruch des Hohenzollernstaates 1806/07 als Tragödie, die den Tiefpunkt der deutschen Geschichte markierte. Diesem Erzählmuster folgend, stieg die deutsche Nation nach der Katharsis der Befreiungskriege unter preußischer Führung erneut empor – der eigentliche Beginn der deutschen Nationalgeschichte. Die mit Napoleon paktierenden Rheinbundfürsten konnten unter diesen Auspizien nur als „Verräther am Vaterlande“ erscheinen, denen allein die Hilfe Österreichs auf dem Wiener Kongress ihre „im Dienste des Landesfeindes erworbene schimpfliche Beute“ erhielt92. Treitschkes eigentlicher Feind waren aber nicht die als korrupt und eigensüchtig dargestellten Herrscher der neuen Mittelstaaten, sondern das katholische Österreich. Dem vielgelesenen Geschichtsschreiber und politischen Publizisten war die Geschichte Mitteleuropas seit der Mitte des 17. Jahrhunderts nichts anderes als ein „zweihundertjährige[r] Kampf zwischen dem Haus Österreich und dem neu aufsteigenden deutschen Staate“93. Daher be87 Vgl. unter der zeitgenössischen Literatur insbesonders Heinrich von TREITSCHKE, Frankreichs Staatsleben und der Bonapartismus, in: DERS., Aufsätze, Reden und Briefe, hrsg. von Karl Martin SCHILLER, Bd. 2: Historisch-politische Aufsätze, Meersburg 1929, S. 106–428. Zur Geschichtsschreibung des Kaiserreichs vgl. ausführlich Heinz-Otto SIEBURG, Napoleon in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 21 (1970), S. 470–486; SCHMIDT, Napoleon. 88 Michael JEISMANN, Das Vaterland der Feinde: Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992. 89 Vgl. Heinrich von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Erster Theil, Leipzig 61897. 90 Vgl. ebd., S. 439. 91 Vgl. ebd., S. 33. 92 Vgl. ebd., S. 521. 93 Vgl. ebd., VII (Vorwort von 1879).
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schrieb er die Zeit nach dem Westfälischen Frieden, in der die Habsburger die Geschichte des Alten Reichs bestimmt hatten, als eine Zeit permanenten Niedergangs. Das katholische Kaisertum der Habsburger, so sein harsches Verdikt, sei „bis zu seinem ruhmlosen Untergange der Feind alles deutschen Wesens“ gewesen, ja, so wörtlich, „unserem Volke eine Fremdherrschaft“ geblieben94. Deutschland und das protestantische Preußen fielen in eins, Österreich wurde – Heiliges Römisches Reich hin oder her – zum feindlichen Ausland erklärt. Nach der realen Verabschiedung aus der Geschichte des kleineren Deutschland wurde Österreich so gewissermaßen noch einmal auf der Ebene der Repräsentation aus der deutschen Geschichte herausgeschrieben95. Erst nach dem Ende des Kulturkampfes begannen sich die unterschiedlichen regionalen und konfessionellen Lager in das Kaiserreich zu integrieren. Dazu trug auch die stetige Vergegenwärtigung des neuen Sieges über Frankreich bei. Nicht die Völkerschlacht stand jetzt im Mittelpunkt der Vergangenheitspolitik, sondern der Sedanstag. Bismarck wurde zum neuen Nationalheros der Deutschen verklärt, und Wilhelm I. trat das mythische Erbe seiner Mutter, Königin Luise, an96. Private Vereine errichteten in ganz Deutschland mehr als 1100 Denkmäler für Bismarck und Wilhelm I.97. Die Bismarck-Türme und Kaiserdenkmäler wurden im Jubiläumsjahr 1913 zum beliebten Festort, an dem man erinnerungssatt Militärmusik lauschte und Körner-Gedichte rezitierte98. Anders als 1863 waren nun alle deutschen Regionen in den Staffellauf zum neuen Leipziger Völkerschlachtdenkmal einbezogen, dem damals höchsten Gedenkmonument der Welt99. Noch im kleinsten Dorf auf der Schwäbischen Alb erinnerten Höhenfeuer an die Befreiung vom „französischen Joch“, eine Sprachregelung, die sich mittlerweile auch in den ehemaligen Rheinbundstaaten durchgesetzt hatte100. Regenten, 94 95
Vgl. ebd., S. 4 und S. 10. Vgl. zur antifranzösischen Geschichtsschreibung der Reichsgründungszeit auch SCHMIDT, Napoleon, S. 538–541. 96 Auf den Luise-Mythos kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht eingegangen werden. Vgl. dazu WÜLFING [u. a], Historische Mythologie der Deutschen. 97 Vgl. Wolfgang HARDTWIG, „Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 269–295. 98 Vgl. Wolfram SIEMANN, Krieg und Frieden in historischen Gedenkfeiern des Jahres 1913, in: DÜDING [u. a.] (Hrsg.), Öffentliche Festkultur, S. 298–320, hier S. 311 f. 99 Vgl. Kirstin Anne SCHÄFER, Die Völkerschlacht, in: FRANÇOIS / SCHULZE (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte II, S. 187–201, hier S. 195 f. Vgl. weiterhin Steffen POSER, Die Jahrhundertfeier der Völkerschlacht und die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals zu Leipzig, in: Katrin KELLER (Hrsg.), Feste und Feiern. Zum Wandel städtischer Festkultur in Leipzig, Leipzig 1994, S. 196–213 sowie Stefan-Ludwig HOFFMANN, Sakraler Monumentalismus um 1900. Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal, in: Reinhart KOSELLECK / Michael JEISMANN (Hrsg.), Der politische Totenkult: Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 249–280. 100 Vgl. „Aus Stadt, Bezirk und Umgegend, Auingen, 20. Okt.“, in: Alb-Bote, 21.10.1913.
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Vereine und Universitäten, Veteranen, Turner und Burschenschaften überboten einander mit Erinnerungsfeiern und Gedenkreden101, die nicht selten den „Geist von 1813“ mit Blick auf einen antizipierten Krieg beschworen102. Anders als 50 Jahre zuvor trugen nun selbst die Katholiken die Verklärung der Erinnerung mit. Auch dem Katholischen Frauenbund galten die Erinnerung von 1813 als „nationaler Segen“, der ihn mit Blick auf die von Interessenkonflikten beherrschte innenpolitische Lage die „Anwendung des Geschehenen auf die heutigen Verhältnisse“ fordern ließ103. Eine Auswertung der zeitgenössischen Presse lässt allerdings bei der Bewertung der Vergangenheit eine ausgeprägte Vielfalt der Inhalte und Deutungen erkennen. Während konservativ-nationale Zeitungen die Leipziger Völkerschlacht als Befreiung Deutschlands von französischer Fremdherrschaft begriffen, ein besonderes Gewicht auf die Sonderstellung Preußens legten und eine gerade Linie zur Reichsgründung zogen, stellten sozialdemokratische Blätter die Erinnerung an die Rolle des Volkes beim politischen Freiheitskampf gegen die altständisch-monarchische Herrschaftsordnung in den Mittelpunkt. Eine ganze Reihe sozialdemokratischer Zeitungen geißelte die überall abgehaltenen Gedenkveranstaltungen als „Lug und Trug“, mit der in bourgeoiser „Stimmungsmache“ auf die „Dummheit des Volkes“ spekuliert werde, um den „monarchistischen Geist“ zu stärken. „Die Fürsten […] werden in lauter Helden und sorgende Landesväter umgedichtet. Die Kinder müssen massenmordlüsterne Verse auswendig lernen und sollen schließlich zu einem hurrapatriotischen Festzuge missbraucht werden“104. Dagegen handelte es sich aus katholischer Sicht 1813 um die Wiederherstellung des Friedens unter christlichem Vorzeichen, wobei man in den Monarchen und ihrer Glaubensstärke die entscheidenden Triebkräfte der politischen Entwicklung erblickte. Von einer einheitlichen Erinnerung an die Ereignisse von 1813 101 102
Vgl. SIEMANN, Krieg und Frieden. So etwa, wenn der Historiker Friedrich Meinecke in seiner Freiburger Festrede davon ausging, dass „die eigentlichen Schlachtfelder unserer Zeit […] noch vor uns, nicht hinter uns“ liegen, vgl. Friedrich MEINECKE, Deutsche Jahrhundertfeier und Kaiserfeier (1913), in: DERS., Preußen und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, München, Berlin 1918, S. 21–40, hier S. 39. Vgl. zur Bedeutung des Jubiläums von 1813 für den Ersten Weltkrieg Johannes BURKHARDT, Kriegsgrund Geschichte? 1870, 1813, 1756 – historische Argumente und Orientierungen bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Johannes BURKHARDT [u. a.], Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg. Vier Augsburger Beiträge zur Kriegsursachenforschung, München 1996, S. 9–86; DERS., Die kriegstreibende Rolle historischer Jubiläen im Dreißigjährigen Krieg und im Ersten Weltkrieg, in: DERS. (Hrsg.), Krieg und Frieden in der historischen Gedächtniskultur, München 2000, S. 91–102. 103 Vgl. Hedwig DRANSFELD, Die nationalen Erinnerungsfeiern dieses Jahres, in: Der Katholische Frauenbund 6 (1912/13), Nr. 6, 20.3.1913, S. 81 f., Zitat S. 81. 104 Wir haben keinen Teil daran, in: Volkswacht. Organ für die werktätige Bevölkerung der Provinz Westpreußen, Nr. 85, 18.10.1913, zit. nach Matthias JOHN, Die Jahrhundertfeier der Leipziger Völkerschlacht im Spiegel der Danziger Volkswacht, in: GEORGE / RUDOLPH (Hrsg.), Napoleons langer Schatten, S. 241–264, hier S. 247.
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kann also keine Rede sein. Vielmehr hatten sich seit dem 19. Jahrhundert gruppenspezifische Erinnerungsmilieus herausgebildet, welche die Geschehnisse aus ihrer politisch-weltanschaulichen Haltung heraus deuteten und interpretierten105. Anders als 1863 war am Vorabend des Ersten Weltkrieg die Beteiligung an der Feier der Befreiungskriege – von Freiheitskriegen sprach in den offiziellen Festakten niemand mehr – und die Zustimmung zu ihrer kleindeutschen Implikation weniger ein Problem der regionalen und konfessionellen Zugehörigkeit als eine Frage der politischen Haltung und nationalen Gesinnung. Unter den politischen Gruppierungen beteiligte sich lediglich die Sozialdemokratie nicht an den Feierlichkeiten, weil sie die aufgeheizte Stimmung als Versuch wertete, die anstehende Militärvorlage vorzubereiten. Statt dessen veröffentlichte der Vorwärts eine lange Artikel- und Dokumentenserie, die darauf abzielte zu zeigen, wie das deutsche Volk 1813 erst mit politischen Versprechungen zum Patriotismus aufgestachelt und dann von den Fürsten um seinen Lohn betrogen worden war106. Während die meisten Festredner die Erinnerung an 1813 nutzten, um ihre Zuhörer auf einen kommenden Krieg einzustimmen107, setzten Gerhard Hauptmann und Max Reinhardt in Breslau ein Antikriegsstück in Szene. Auch beim Freideutschen Jugendtag klangen Friedenswünsche an108. Gegenüber dem allgegenwärtigen Bellizismus nationalkonservativer Lesart blieben solche pazifistischen Mahnungen freilich ebenso die Ausnahme wie die implizite Wilhelmismus-Kritik einiger um die Wende zum 20. Jahrhundert erschienener Napoleon-Dramen109. Die nationalistische Selbstvergewisserung breiter Gesellschaftsteile in der ubiquitären Euphorie für die Hundertjahrfeier der Leipziger Schlacht hatte findige Geschäftsleute und Verleger freilich nicht daran gehindert, rechtzeitig zum Erinnerungsjahr einen Napoleon-Kalender erscheinen zu lassen und Schaufenster mit Napoleonbildnissen zu dekorieren. Auch eine umherziehende Schauspielertruppe feierte mit dem Theaterstück Napoleon und seine Frauen beträchtliche Publikumserfolge. Die Vermarktung des großen Korsen machte die Jubiläumsveranstaltungen zwar noch nicht, wie einige Kritiker meinten, zum Napoleonfest 110. Sie fügte sich aber in einen nach der Jahrhun105 Vgl. dazu Michael PELZER, Die Erinnerung an die Völkerschlacht in den Zeitschriftenartikeln von 1913. Hausarbeit, Univ. Tübingen 2006. 106 Vgl. DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 596 f. Vgl. auch die Quellendokumentation von JOHN, Jahrhundertfeier, in: GEORGE / RUDOLPH (Hrsg.), Napoleons langer Schatten, S. 241–264. 107 Vgl. beispielsweise „Tübinger Chronik“, 25.4.1913. 108 Vgl. SIEMANN, Krieg und Frieden, S. 314 f. 109 Vgl. Hans-Gert R OLOFF, Napoleon im Drama des 19. Jahrhunderts und bei Carl Hauptmann, in: GEORGE / RUDOLPH (Hrsg.), Napoleons langer Schatten, S. 379–407; BESSLICH, Napoleon-Mythos, S. 263–310. 110 Vgl. SCHULZE, Napoleon, S. 42 f.
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dertwende einsetzenden Trend, im Licht veränderter außenpolitischer Konstellationen die weltpolitische Rolle des französischen Kaisers historisch neu zu interpretieren. Schon Leopold von Ranke hatte die Verketzerung Napoleons durch Treitschke und seine Schüler zurückgewiesen und nicht in der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“, sondern im englisch-französischen Gegensatz den Schlüssel zu seiner Politik gesehen111. War diese Interpretation im Umfeld der gegen Frankreich gerichteten Reichsgründung und der Dominanz Treitschkescher Demagogie wirkungslos geblieben, erlebte sie im Zuge der deutschbritischen Flottenrivalität eine Renaissance. Seit Wilhelm II. Russland und Frankreich in einem Kontinentaldreibund näher an Deutschland zu binden und gegen England auszuspielen suchte, erschien eine ganze Reihe von historischen Werken, die Napoleon nicht als maßlosen Eroberer zeichneten, sondern ihn zum Heroen stilisierten, der die kontinentaleuropäischen Interessen gegen den britischen Imperialismus verteidigte. Populäre Napoleonbiographien und kriegsgeschichtliche Werke bewunderten sein militärisches Genie112. Und obwohl der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wieder für antifranzösische Propaganda sorgte113, blieb die Figur Napoleons davon unberührt. Im Gegenteil führte Gustav Stresemann die Vereinnahmung des französischen Kaisers 1917 in einer Rede vor dem preußischen Landtag zu neuen Höhen: Für ihn war der Korse der „Vorkämpfer Europas gegen das Inselreich“, dessen Erbe nun das gegen England kämpfende kaiserliche Deutschland angetreten hatte. Auf diese Weise wurde Napoleon allmählich zum deutschen Nationalhelden umdeklariert und dem Mythenkosmos des deutschen Nationalismus amalgamiert – eine Tendenz, die sich nach dem Ersten Weltkrieg noch verstärken sollte114. V. Sehnsucht nach Wiederaufstieg und Größe: Die „Wiedergeburt aus deutschem Geist“ und der deutsche Nationalheld Napoleon zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus Der Untergang des Kaiserreichs in der Revolution von 1918/19 setzte vorläufig jener nationalistischen Geschichtsbetrachtung ein Ende, die 1813 als Startpunkt einer nationalen Höherentwicklung begriff, die sich in der Gegenwart erfüllte. An diese Erfolgsgeschichte konnte nach der Niederlage von 111
Vgl. zu Rankes Napoleonbild SIEBURG, Napoleon, S. 473–476; SCHMIDT, Napoleon, S. 540–542. 112 Vgl. zur Umwertung des Napoleonbildes zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg ausführlich SCHMIDT, Napoleon, S. 553–550; DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 591–600; SIEBURG, Napoleon, S. 474–478. 113 Vgl. JEISMANN, Vaterland der Feinde. 114 Vgl. DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 599 f., Zitat S. 599.
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1918 nicht mehr angeknüpft werden. Statt der Bezugnahme auf den Sieg über Frankreich stand nun die Erinnerung an die Kriegsniederlage von 1806 im Vordergrund. Der Wiederaufstieg Preußens bis zum Triumph über den Feind wurde als Hoffnung und Versprechen für die eigene Zukunft gesehen. Wenn die Kriege gegen Napoleon auch in der frühen Weimarer Republik ein zentraler geschichtspolitischer Bezugspunkt in der historischen Selbstverortung der Deutschen blieben, dann nicht als jene Schlachtenmythen, die im Kaiserreich so gern beschworen wurden, sondern als Leidensgeschichte des deutschen Volkes, das durch Opferbereitschaft und Gemeinschaftsgeist die Kraft zum Wiederaufstieg in sich trug115. Geradezu paradigmatisch für diese Sichtweise war die Rede des DVP-Abgeordneten Kahl zur Eröffnung einer Kundgebung, bei der sich die deutsche Nationalversammlung im Mai 1919 aus Anlass der Bekanntgabe der Friedensbedingungen in der Neuen Aula der Berliner Universität zusammenfand. An die Berliner Universitätsgründung 1810, „drei Jahre nach dem Frieden von Tilsit“, erinnernd, forderte der Staatsrechtsprofessor seine Zuhörer auf, erneut „durch geistige Kräfte das zu ersetzen, was der Staat an physischen Kräften verloren“ hatte. Mit Blick auf Fichtes Rede an die deutsche Nation, die ihm „wunderbar“ auch auf die gegenwärtige Situation zu passen schien, beschwor Krahl den historischen Wiederaufbau der Nation als geistig-moralischen Entschluss. Fichte erschien als „Sinnbild des nie verzagenden Mutes“, dem es beim Glauben an Volkstum und Vaterland, an die Ewigkeit der deutschen Nation und ihre Berufung in der Welt „in Wort und Tat“ zu folgen gelte. Dann, so war sich der DVPPolitiker sicher, war der erneute „Aufstieg in die Höhe gewiss“. Auf diese Weise fungierten die Befreiungskriege in der Weimarer Republik als Beispiel einer gelungenen Katharsis, bei der auf die Leiden der Niederlage mit Gewissheit der siegreiche „Wiederaufstiegs aus deutschem Geiste“ folgen musste116. Wie wirksam der Mythos vom Befreiungskrieg war, zeigte sich daran, dass in der historischen Umbruchsituation von 1918/19 alle Parteien versuchten, das nationale Erbe der antinapoleonischen Kriege für sich zu reklamieren, um ihren eigenen politischen Positionen Legitimität zu verleihen. Linksliberale und Sozialdemokraten knüpften dabei an jene demokratischen und freiheitlichen Traditionen an, die sie mit den preußischen Reformen verbanden. Daher rief der liberale Abgeordnete Schücking zu einem Wechsel der politischen 115
Ich danke Rainer Gruhlich (Bonn) für die Einsichtnahme in seine Dissertationsschrift, die sich ausführlich mit der Bedeutung von Geschichtsmythen und -deutungen für die Politik der Weimarer Republik beschäftigt. Die Arbeit wird unter dem Titel „Geschichtspolitik im Zeichen des Zusammenbruchs. Die Deutsche Nationalversammlung 1919/20. Revolution – Reich – Nation“ in der Reihe „Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ erscheinen. 116 Nationalversammlung, 39. Sitzung, 12.5.1919, StB Bd. 326, S. 1081 f. Hier auch alle Zitate.
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Vorbilder auf. Nicht auf Bismarck, sondern auf den Freiherrn vom Stein gelte es sich zu besinnen, um dem künftigen Neubau „das Fundament einer einzigen großen Idee“ zu geben. Gemeint war damit die historisch neue Situation der Demokratie, die dennoch an die Kriege gegen Napoleon zurückgebunden wurden. Auch Schücking erhoffte sich von der Erinnerung an 1813 – man beachte die von links bis rechts nahezu identische Formulierung – „eine Wiedergeburt für unser Volk […] aus wahrhaft deutschem Geiste“117. Die historische Bildung war freilich nicht dazu angetan, der jungen Generation demokratische Werte zu vermitteln. Lehrpläne wurden nur halbherzig oder gar nicht demokratisiert, die kaiserzeitlichen Ausgaben der Schulbücher mit ihrer antidemokratischen und konservativen Orientierung meist unverändert aufgelegt. Die Universitäten vermittelten weitgehend ein in der Tradition der konservativen Historiographie der Kaiserzeit stehendes negatives Bild von der Französischen Revolution und ihren Folgen. Die preußischen Reformen wurden dabei als Vorbild eines gegen die westeuropäische Zivilisation gerichteten deutschen Sonderweges interpretiert. Lediglich liberalen und radikaldemokratischen akademischen Minderheiten galt die Revolution mit ihrer Verfassung von 1791 als Paradigma moderner Verfassungsentwicklung. Nur wenige Historiker konnten der von Französischer Revolution und napoleonischer Ära ausgehenden politischen Modernisierung etwas abgewinnen und verstanden diese Phase als Ansporn zu einer Weiterentwicklung liberaldemokratischer Gesellschaftsmodelle. Ein Werk eigenen Rangs stellte in dieser Hinsicht Franz Schnabels ausgewogene Arbeit über das Zeitalter Napoleons dar, der in der Nachfolge Rankes die welthistorische Bedeutung der napoleonischen Herrschaft und ihre Fundierung des modernen Europa hervorhob118. Die Mehrheit der in Wissenschaft, Unterricht und Publizistik zu Revolution und napoleonischer Zeit vorgebrachten Positionen war jedoch eher dazu geeignet, die westliche Moderne zu denunzieren und die junge Generation auf die Ideologie einer vermeintlichen deutsch-französischen Erbfeindschaft einzuschwören119. Dem erklärten Ziel, eine Versöhnung mit dem westlichen Nachbarn zu verhindern, dienten auch eine Reihe von Filmen wie Yorck (1931), Die elf Schillschen Offiziere (1931) oder Theodor Körner und Der Rebell (beide 1932). Sämtlich in den letzten drei Jahren der Weimarer Republik gedreht, 117
Schücking in der Nationalversammlung, 19. Sitzung vom 3.3.1919, Stenographische Berichte, Bd. 326, S. 475 f. 118 Vgl. Franz SCHNABEL, Das Zeitalter Napoleons 1799–1815, in: Walter GOETZ (Hrsg.), Propyläen-Weltgeschichte, Bd. 7, Berlin 1929; Franz SCHNABEL, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Die Grundlagen, Freiburg 1929. Zu Schnabel und anderen Historikern der Zwischenkriegszeit vgl. auch SCHMIDT, Napoleon, S. 555–557. 119 Vgl. dazu die facettenreiche Habilitationsschrift von Heinz SPROLL, Französische Revolution und Napoleonische Zeit in der historisch-politischen Kultur der Weimarer Republik. Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht, 1918–1933, München 1992.
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beschäftigten sie sich allesamt mit der siegreichen Überwindung Napoleons in den Befreiungskriegen. Dabei gab der historische Stoff in erster Linie den Vorwand dafür ab, Parallelen zur Gegenwart zu ziehen und mit dem Massenmedium Film an die Einigkeit des deutschen Volkes als Vorbedingung einer Abschüttelung der ‚Fremdherrschaft’ – gemeint war damit der als ‚Schmachfrieden’ verstandene Vertrag von Versailles – zu appellieren. Während Lützow im Körner-Film zum „Führer“ avancierte, dem die Jugend Treue schwor, sollte Yorck zeigen, dass die einsame Entscheidung eines großen Mannes das Schicksal eines ganzen Volkes zu wenden vermochte120. Dass die Rebellion Yorcks gegen seinen König, als er das Lager Napoleons verließ, als Aufruf an die Reichswehr verstanden werden konnte, sich an der Seite Hitlers und Hugenbergs gegen die Republik zu stellen, entging keinem der zeitgenössischen Blätter, die den Film kommentierten121. Trotz solcher frankophober Rückgriffe auf den Mythos vom Befreiungskrieg zeitigte die Weimarer Republik eine regelrechte „Korsomanie“122. Wie schon im ausgehenden Kaiserreich blieb die Figur des französischen Kaisers im antifranzösischen Diskurs ausgespart. Mehr noch: Noch stärker als zuvor wurde Napoleon sukzessive in die Kosmologie der deutschen Nation eingebunden123. In Literatur und Philosophie der Zwischenkriegszeit omnipräsent, nahmen die unterschiedlichsten politischen Richtungen das Erbe des französischen Kaisers in Anspruch. Während expressionistische Dichter in der Napoleongestalt Erfahrungen des Ersten Weltkriegs verarbeiteten und Linksliberale wie Emil Ludwig ihn als demokratischen Vorkämpfer des vereinten Europa zeichneten, figurierte er im George-Kreis als heldischer Gegner der Moderne. Die politische Rechte wiederum vereinnahmte den Imperator als Universalheros und Deutschen im Geiste. Hier galt er als Vorbild des herbeigesehnten Retters aus der demokratischen Krise, dem Republikgegner seit dem Versailler Vertrag entgegenfieberten124.
120 Vgl. Axel M ARQUART / Heinz RATHSACK (Hrsg.), Preußen im Film. Eine Retrospektive der Stiftung Deutsche Kinematik, in: Preußen. Versuch einer Bilanz. Katalog der Ausstellung in Berlin 1981, Bd. 5, Reinbek 1981, S. 97. 121 Vgl. ebd., S. 23. Vgl. zu den genannten Filmen auch DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 603 f. und 607 f. 122 Dieser Begriff nach DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon. Schon Heinz-Otto SIEBURG, Napoleon, hatte 1970 festgestellt: „Gerade in der Zwischenkriegszeit gelangte der deutsche Napoleonkult zu seinem Gipfel“, (S. 478). 123 Vgl. BESSLICH, Napoleon-Mythos, S. 311. 124 Auf demokratische Bewunderer Napoleons kann hier aus Platzgründen ebenso wenig eingegangen werden wie auf die Dämonisierung der Expressionisten oder auf Kritiker des antidemokratischen Heroenkultes wie Werner Hegemann. Vgl. dazu ausführlich DUFRAISSE, SCHMIDT und BESSLICH, S. 311–399.
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Schon Nietzsche hatte in Napoleon den Prototyp des von moralischen Schranken freien Übermenschen gesehen125. Dieser Heroisierung folgend, hatte Karl Bleibtreu den französischen Kaiser 1889 zum Gegenstand seines Theaterstücks Der Übermensch gemacht, während Carl Hauptmann in seinem zweiteiligen Drama Bürger Bonaparte und Kaiser Napoleon (1911) den „Seelenführer“, „Weltbeglücker“ und „Bruder der Menschheit“ als nietzscheanischen Weltheros zeichnete126. An diesen Interpretationsstrang knüpfte Oswald Spengler mit seinem unter dem Eindruck des verlorenen Weltkriegs entstandenen Werk Der Untergang des Abendlandes an. Er erkannte in Napoleon den Prototyp jener Cäsaren, die er die kommenden Jahrhunderte beherrschen sah127. Der Literaturhistoriker Friedrich Gundolf begriff den französischen Kaiser als vitalistisches Prinzip, deren Saat erst in der Gegenwart aufzugehen versprach. Auch für den Publizisten Berthold Vallentin, der dem George-Kreis angehörte, war Napoleon eine „Weltkraft“ und „weltformende Seele“, deren Heroismus noch in der Niederlage den „erstarrenden Zeitenfluß“ beherrschte128. Er sah in ihm das Vorbild eines Cäsaren Spenglerscher Prägung und war der Überzeugung, dass man nur rechts des Rheins die Größe des Imperators zu würdigen verstand. Napoleon, so seine Überzeugung, „gehört den Deutschen“129. Ähnliches konnte man bei dem Publizisten Friedrich Sieburg lesen. Napoleon, so hieß es hier, habe den Stab des Heroismus an Deutschland weitergereicht130. Kein Wunder also, dass Golo Mann Mitte der 1950er Jahre davon sprach, der Napoleon-Mythos habe in Deutschland wirksamere Folgen gezeitigt als in Frankreich selbst131. Den Höhepunkt dieser Eindeutschungskampagnen stellte die NapoleonBiographie von Hitlers Reichskanzlei-Leiter und Euthanasie-Beauftragten Philipp Bouhler dar. Der Vertreter nationalsozialistischer Rassenlehren fol125 Vgl. Jochen SCHMIDT, Die Geschichte des Geniegedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, 1750–1945, Bd. 2, Darmstadt 1985, S. 166. 126 Vgl. DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 592 f. Zu Nietzsche und der ihm folgenden Interpretation ausführlich BESSLICH, Napoleon-Mythos, S. 283–309. 127 Vgl. Oswald SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes. Umriß einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bde., Wien / Leipzig 1918/1922. 128 Vgl. Berthold VALLENTIN, Napoleon, Berlin 1923, S. 252. Vgl. zu Vallentin, Gundolf und Spengler mit weiterer Literatur DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 606 f. und SCHMIDT, Napoleon, S. 550–552. 129 Vgl. Berthold VALLENTIN, Napoleon und die Deutschen, Berlin 1926, S. 10. Vgl. hierzu auch Gerhard BAUER, Der große Schatten. Der Mythos Napoleons und sein Einfluß auf die cäsaristischen Strömungen in Deutschland und Frankreich mit besonderer Berücksichtigung der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, hrsg. von Thomas SPECHT, Erlangen 1998. 130 Vgl. Friedrich SIEBURG, Unter dem Triumphbogen, in: DERS., Blick durchs Fenster. Aus 10 Jahren England und Frankreich, Frankfurt a. M. 1939, S. 46–64, hier S. 47 f. 131 Vgl. Golo M ANN, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1955, S. 64.
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gerte aus Spekulationen über lombardische Vorfahren der Familie Bonaparte, dass germanisches Blut durch die Adern des großen Korsen geflossen sei. Ganz auf dieser Linie erklärte er Napoleons Scheitern damit, dass sich der Imperator in der Neuorganisation Europas auf das degenerierte französische Volk statt auf eine dynamische Nation wie die Deutschen habe stützen müssen. Bouhlers eigentlicher Held war freilich nicht der französische Kaiser, sondern Adolf Hitler. Er erschien als wahrer Erbe Napoleons, angetreten, Europa zu einen, um es dem Einfluss Englands zu entziehen132. Das Buch erschien, als sich die deutsche Propaganda alle Mühe gab, Frankreichs öffentliche Meinung gegen Großbritannien einzunehmen. Diesem Zweck diente auch eine Reihe von französischsprachigen Aufsätzen, die ebenfalls Parallelen zwischen Napoleon und Hitler zogen, um eine gemeinsame Frontstellung gegen England zu begründen133. Auch der SA-Sturmführer Wulf Bley griff in seiner Napoleon-Biographie die Frontstellung gegen den englischen „Händlergeist“ auf. Vor allem aber zeichnete er Bonaparte als Vorbild für den „stählernen Heroismus des modernen Menschen“134. Die nationalsozialistische Napoleon-Euphorie schwankte freilich im Einklang mit den außenpolitischen Konjunkturen. Sowohl in der Anfangs- als auch in der Endphase des Regimes dominierte der gegen Frankreich gewendete Rückgriff auf die antinapoleonischen Kriege. Seit 1934 wurde ein rundes Dutzend Filme über den Widerstand gegen Napoleon gedreht, um den Gedanken an den „Erbfeind“ im Westen wachzuhalten. 1945 schließlich sollte der Durchhaltefilm Kolberg die Einheit von Front und Heimatfront beschwören und das Beispiel des ostpreußischen Landsturms der Mobilisierung des Volkssturms aufhelfen135. Unnötig zu erwähnen, dass auch das Leipziger Völkerschlachtdenkmal als Symbol der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu neuen Ehren fand136. Doch nicht nur die Nationalsozialisten, auch ihre Gegner beriefen sich auf den Mythos von 1813. Die Weiße Rose begann ihre Flugblatt-Serie mit dem Hinweis auf den Beginn eines neuen Befreiungskrieges gegen das Hitler-Regime. Und in ihrer letzten Flug-
132 Vgl. Philipp BOUHLER, Napoleon. Kometenbahn eines Genies, München 1941. DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 609 gibt an, dass der Titel erstmals 1938 erschienen und wegen der Parallelen zu Hitlers Russlandfeldzug vorübergehend aus dem Verkehr gezogen worden sei. Erst 1943 sei eine zweite Auflage auf den Markt gekommen. Im Gesamtverzeichnis lieferbarer Bücher ist der Band allerdings lediglich unter dem Jahr 1941 vermerkt, während Bibliotheken meist eine auf 1942 datierte Ausgabe führen. 133 Vgl. DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 611 f. 134 Vgl. Wulf BLEY, Napoleon Bonaparte. Lebensroman eines Genies, Leipzig 1936, S. 9. Zu Bley vgl. BESSLICH, Napoleon-Mythos, S. 417–420. 135 Vgl. DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 611 und 613. 136 Vgl. SCHÄFER, Völkerschlacht.
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schrift forderte sie die Studierenden auf, den nationalsozialistischen Terror von 1943 ebenso wie den napoleonischen von 1813 zu bekämpfen137. VI. Die allmähliche Auswanderung aus dem kollektiven Gedächtnis: DDR und Bundesrepublik Insgesamt aber spielte der Bezug auf die Befreiungskriege im Nationalsozialismus eine geringere Rolle als in der DDR. Während die Bundesrepublik die Erinnerung an 1813 anfänglich nur noch im militärischen Bereich pflegte und sie bald ganz verschwand, verstand sich die DDR als Erbe der fortschrittlichen Tradition der Befreiungskriege. Gemeint war damit nicht zuletzt der Rekurs auf die deutsch-russische Freundschaft, die das Bündnis mit der Sowjetunion legitimieren half. Völkerschlacht- und Oktoberfeiern unter Beteiligung der Armee gerieten in Zeiten des Kalten Krieges zu Massenveranstaltungen, die den östlichen „Geist von 1813“ gegen die Westbindung Adenauer-Deutschlands in Szene setzen. Ihren Propaganda-Wert schätzte die DDR-Führung freilich zunehmend kritisch ein und gab sie schließlich ganz auf138. Die Beschwörung der deutsch-russischen Waffenbrüderschaft durch die Verherrlichung der Leistungen preußischer und russischer Generäle bildete freilich weiterhin ein wesentliches Moment populärer Darstellungen zur Leipziger Völkerschlacht139. Im Einklang mit den politischen Vorgaben betrachteten DDR-Historiker die Gestalt des französischen Kaisers nur am Rande. Stattdessen rückten sie die Rolle der „Volksmassen“ in den Vordergrund140 und begriffen, wie schon der marxistische Historiker Franz Mehring 1913, die Epoche der Französischen Revolution als welthistorischen Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus141. Insgesamt herrschte in vielen Darstellungen eine ausgesprochen nationalistische und borussophile Sichtweise auf den „Volksbefreiungskampf“ gegen die „französische Unterdrückung“ vor, die im Einklang mit konservativ-nationalen Deutungen seit der Reichsgründungszeit Napoleon nur noch die Rolle des Schurken überließ142. 137 138 139 140 141
Vgl. DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 613. Vgl. SCHÄFER, Völkerschlacht, S. 200. Vgl. Karl-Heinz BÖRNER, Völkerschlacht bei Leipzig 1813, Berlin (Ost) 1984. Vgl. DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 555 f. Vgl. Franz MEHRING, 1807 bis 1812. Von Tilsit bis Tauroggen, in: DERS., Gesammelte Schriften, Bd. 6: Zur deutschen Geschichte von der Französischen Revolution bis zum Vormärz (17891847), Berlin (Ost) 1965, S. 164243, DERS., Das restaurierte Preußen, ebd., S. 257–265. Vgl. zur DDR-Forschung auch BERDING, Das geschichtliche Problem der Freiheitskriege. 142 Vgl. beispielsweise Karl-Heinz B ÖRNER, Einführung, in: DERS. (Hrsg.), Vor Leipzig 1813. Die Völkerschlacht in Augenzeugenberichten, Berlin (Ost) 1988, S. 11–33, Zitate S. 15.
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Dagegen setzte sich westlich der Oder-Neiße-Grenze nach 1945 noch eine ganze Reihe von Arbeiten mit der Person des französischen Kaisers auseinander. Sie stilisierten Napoleon zum Urvater aller modernen Diktatoren und dienten dem meist unausgesprochenen Zweck der historischen Exkulpation. Ließ sich unter Verweis auf Bonaparte doch behaupten, dass nicht allein die Deutschen dem „Mythos des Retters“ verfallen waren143. Wo Napoleon als Gewaltherrscher vorgestellt wurde, war der implizite Vergleich mit Hitler immer präsent144. Napoleon-Bewunderer wie Nietzsche handelten sich nun in zeittypischer Medizinalterminologie den Vorwurf ein, mit dem „Gift Napoleon“ das Immunsystem und die Widerstandskraft der Deutschen gegen Diktatoren neuerer Provenienz geschwächt zu haben145. Von Hitler-Napoleon-Vergleichen abgesehen, war der Bedarf an Beschäftigung mit dem französischen Kaiser jedoch offenbar gedeckt. Im Einklang mit dem Übergang der westdeutschen Historiographie zur Sozial- und Strukturgeschichte und zur Debatte über die Vorbedingungen gesellschaftlicher Modernisierung wandte man sich seit Ende der 1970er Jahren den politischen Institutionen des Empire zu. Dass die Rheinbund-Forschung die Leistungen der napoleonischen Epoche hervorhob und gegenüber der vorherrschenden nationalistischen Abwertung die Gleichwertigkeit ihrer Modernisierungsleistungen mit den preußischen Reformen betonte, kann dabei durchaus als historiographischer Beitrag zur Westintegration der Bundesrepublik verstanden werden146. Seither jedoch wandert die Erinnerung an die napoleonische Zeit zunehmend aus dem kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik aus. Die Zahl der einschlägigen Veröffentlichungen nimmt ab, die Abschnitte in den Schulbüchern werden kürzer. Während Schulbücher in den 1950er Jahren noch über 30 Seiten für die europäische Politik um 1800 reservierten, waren es zwanzig Jahre später nur noch sieben147. Der aktuelle baden-württembergische Lehrplan sieht für die gesamte Epoche zwischen 1789 und dem Ersten Weltkrieg für die große Mehrheit jener Gymnasiasten, die nicht in der Oberstufe Geschichte als Schwerpunktfach wählen, nur noch ein halbes Schuljahr vor148. In anderen Bundesländern verhält es sich ähnlich. Auch die universitären 143
So der Tenor der Buchbesprechungen von Jean Tulards großer Napoleon-Biographie. Vgl. dazu DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 614 f.; SCHULZE, Napoleon, S. 45. 144 Vgl. Willy ANDREAS, Das Zeitalter Napoleons und die Erhebung der Völker, Heidelberg 1955. 145 Vgl. Friedrich STÄHLIN, Napoleons Glanz und Verfall im deutschen Urteil, Braunschweig 1952. 146 Zur Rheinbundforschung vgl. ausführlich mit weiterer Literatur FEHRENBACH, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß. 147 Vgl. die Auswertung der Publikationen und Schulbücher bei DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon, S. 623 f. 148 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hrsg.), Bildungsstandards für Geschichte. Gymnasium – Klassen 8, 9,10, Kursstufe.
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Lehrstühle für diese Epoche werden zugunsten einer immer stärkeren Fixierung auf das 20. Jahrhundert zurückgedrängt. Davon, dass die internationale Forschung zur Umbruchperiode um 1800 floriert und zahlreiche Forschungsverbünde und -kooperationen hervorgebracht hat, ist in Deutschland nichts zu spüren. Das 19. Jahrhundert, das frühe zumal, ist dem 21. sehr ferngerückt. Was sich im populären Bewusstsein gehalten hat, ist – aller historischen Evidenz zum Trotz – eine vage Vorstellung von der Entstehung der deutschen Nation in den Befreiungskriegen149. Hier haben die nationalistischen Mythenkonstrukteure ganze Arbeit geleistet.
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Vgl. zur Revision dieses Geschichtsbildes mit weiterer Literatur PLANERT, Mythos vom Befreiungskrieg; Jörg ECHTERNKAMP, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, 1770–1840, Frankfurt a. M. 1996.
Leipzig, 16. bis 19. Oktober 1813 Die Leipziger Völkerschlacht in der deutschen Erinnerung und Politik Von
Uwe Puschner Die vernichtende Niederlage der französischen Bündnistruppen in Russland 1812, der russische Vormarsch und die Konvention von Tauroggen, das preußisch-russische Militärbündnis vom Februar und vor allem die Aufrufe des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. wie des Oberbefehlshabers der preußisch-russischen Truppen Michail Kutusow im März 1813 führten nicht nur bei den europäischen Regierungen, sondern auch in der Bevölkerung der deutschen Territorien zu einem Stimmungsumschwung. Der französische Marschall Charles Pierre François Augereau, Kommandant des 11. Armeecorps in Berlin, beschrieb die Stimmungslage Ende Dezember 1812: La situation de la Prusse mérite dans ce moment l’attention particulière du gouvernement français. Les peuples de cette nation sont malheureux, les sacrifices que lui a imposés la guerre, la privation de tout commerce, les logements militaires, la nourriture des troupes, la fourniture des transports, tous ces sacrifices l’ont jetée dans des dispositions de haine contre les Français, et le désir d’en être délivrée est une volonté générale. Dans une classe supériereure, l’honneur militaire, l’amour-propre et l’esprit national excitant les memes passions, ses points de contact avec le peuple sont intimes, quoique les mobiles soient différents et l’un et l’autre irrités et disposés à unir leurs efforts1.
Der militärische Umschwung mobilisierte insbesondere die patriotisch motivierten gebildeten Stände zu einem „Kreuzzug“ gegen die französische Besatzungsmacht und gegen die Herrschaft Napoleons, zu dem der Berliner Student, Kriegsfreiwillige und im 19. und frühen 20. Jahrhundert zur nationalen Ikone stilisierte Theodor Körner 1813 aufrief, noch bevor er vor der 1
Frédéric REBOUL, Campagne de 1813. Les préliminaires, 2 Bde., Paris 1910–1912, Zit. 1, S. 462: „Preußens Lage erfordert in diesem Augenblick die ganz besondere Aufmerksamkeit der französischen Regierung. Die Bevölkerung ist unglücklich dran; die Opfer, die ihr der Krieg auferlegt hat, die Schädigung allen Handels, die Unterbringung und Verpflegung der Truppen, die Transportlasten, alle diese Opfer haben einen Hass gegen die Franzosen hervorgerufen, und der Wunsch, sich ihrer zu entledigen, ist allgemein. In den höheren Ständen erregen die militärische Ehre, Eigenliebe und der Nationalgeist dieselben Leidenschaften“.
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Leipziger Schlacht nahe Schwerin tödlich verwundet wurde: „Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen;/ Es ist ein Kreuzzug, ‘s ist ein heil’ger Krieg!“2. Im Herbst 1813 fieberten Öffentlichkeit, Regierungen und Militärs einer Entscheidungsschlacht entgegen, wie sie die emotionalen Äußerungen bekannter preußischer Reformer und Militärs während und unmittelbar nach der Leipziger Schlacht widerspiegeln: „Ich schreibe dir am Morgen einer Schlacht, wie sie in der Weltgeschichte kaum gefochten ist. Wir haben den französischen Kaiser ganz umstellt. Diese Schlacht wird über das Schicksal von Europa entscheiden“, schrieb der preußische Militärreformer und hoch dekorierte General August Wilhelm Anton Neidhardt von Gneisenau am 18. Oktober 1813 seiner Frau, um ihr tags darauf mitzuteilen: „Die große Schlacht ist gewonnen, der Sieg ist entscheidend“3. Am Tag nach der Schlacht berichtete der in Preußen überaus populäre preußische General Gebhard Leberecht von Blücher von „zwei schönen und großen Tagen […]; den 18. und 19. fiel der große Koloß wie die Eiche im Sturm. Er, der große Tyrann, hat sich gerettet, aber seine Knappen sind in unseren Händen“4. Der nicht weniger populäre und zum „heimlichen Kaiser von Deutschland“ (Ricarda Huch) ausgerufene Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein5, einer der Köpfe der antinapoleonischen Agitation, ließ seine Frau aus Leipzig wissen, dass der geschlagene Napoleon auf der Flucht und „ein gemeiner Schuft und Feind des menschlichen Geschlechts ist, dass die schändlichen Fesseln, in denen er unser Vaterland hielt, zerbrochen, und die Schande, womit er uns bedeckte, in Strömen französischen Blutes abgewaschen ist“6. Der Sieg der alliierten Mächte Österreich, Preußen, Russland und Schweden über Napoleon und seine Verbündeten in der Leipziger Schlacht vom 16. bis 19. Oktober 1813 brachte nicht die endgültige Entscheidung. Der Kaiser der Franzosen hatte jedoch eine folgenschwere Niederlage hinnehmen müssen und die letzten ihm verbliebenen Verbündeten des Rheinbundes wie Württemberg verloren. Der „heilige Krieg“ war noch nicht vorüber 7. Mit dem Leipziger Sieg zeichnete sich jedoch das Ende einer durch ihre außen- und 2 Theodor KÖRNER, Aufruf, in: DERS., Leyer und Schwerdt [Berlin 1814], neu hrsg. von Friedrich Max KIRCHEISEN, Berlin 1913, S. 37–39, Zit. S. 37. 3 Gneisenau. Ein Leben in Briefen, hrsg. von Karl GRIEWANK, Leipzig 1939, S. 259–262, Zit. S. 259 und 261. 4 Blücher an Eduard Wilhelm Ludwig von Bonin, 20.10.1813; Blüchers Briefe, hrsg. von Wolfgang UNGER, Stuttgart / Berlin 1913, S. 187. 5 Heinz DUCHHARDT, Stein. Eine Biographie, Münster 2007, S. 314, und zur SteinVerklärung DERS., Mythos Stein. Vom Nachleben, von der Stilisierung und von der Instrumentalisierung des preußischen Reformers, Göttingen 2008. 6 Stein an seine Frau, 21.10.1813; Georg Heinrich PERTZ, Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein, Bd. 3: 1812 bis 1814, Berlin 2. Aufl. 1851, S. 433–434, Zit. S. 434. 7 Gneisenau an Carl von Clausewitz, 19.10.1813; Gneisenau. Ein Leben in Briefen, S. 262.
Puschner, Leipzig, 16. bis 19. Oktober 1813
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innenpolitischen Umwälzungen revolutionären Epoche der europäischen Geschichte ab, die 1792 mit den Revolutionskriegen begonnen hatte und die 1815 nach den antinapoleonischen Kriegen, dem Zusammenbruch des napoleonischen Herrschaftssystems in Europa und der Verbannung des Kaisers ihren vorläufigen Abschluss fand. Insofern war die Schlacht tatsächlich für die politische Zukunft Europas und das Mächteverhältnis in Europa „entscheidend“, wie Gneisenau prophezeit hatte. Vor diesem Hintergrund ist die Aufmerksamkeit verständlich, mit der sich Augenzeugen, Zeitgenossen und Nachgeborene, Historiker, Maler, Literaten und Publizisten den Ereignissen in und um Leipzig und den „Weltereignisse[n] vom Jahre 13“ zuwandten8. Legendenbildung und Erinnerungskult in Wort, Bild und Monument setzten unmittelbar nach der Leipziger Schlacht ein, die seit 1814 zum wirkmächtigen deutschen Nationalmythos des 19. Jahrhunderts und politischen Argument geformt wurde9. 8
Adalbert VON CHAMISSO, Sämtliche Werke in zwei Bänden, Bd. 2: Reise um die Welt mit der Romanzoffischen Entdeckungs-Expedition in den Jahren 1815–1818, München 1975, S. 11. 9 Den Freiheits- bzw. Befreiungskriegen, ihrer Interpretation und Instrumentalisierung sind viele Studien gewidmet worden. Um den Fußnotenapparat zu entlasten, wurden hier einige grundlegende, vornehmlich jüngere Beiträge zusammengestellt, die für die folgenden Ausführungen herangezogen, aber in den Fußnoten nicht eigens zitiert wurden: Ferdi AKALTIN, Die Befreiungskriege im Geschichtsbild der Deutschen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997; Helmut BERDING, Das geschichtliche Problem der Freiheitskriege 1813–1814, in: Karl Otmar Freiherr VON ARETIN / Gerhard A. RITTER (Hrsg.), Historismus und moderne Geschichtswissenschaft. Europa zwischen Revolution und Restauration 1797–1815. Drittes Deutsch-Sowjetisches Historikertreffen in der Bundesrepublik Deutschland, 13.–18. März 1978, Mainz 1987, S. 201–215; Barbara BESSLICH, Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800 bis 1945, Darmstadt 2007; Horst CARL, Der Mythos des Befreiungskrieges. Die “martialische Nation” im Zeitalter der Revolutions- und Befreiungskriege 1792–1815, in: Dieter LANGEWIESCHE / Georg SCHMIDT (Hrsg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 63–82; Christopher CLARK, The Wars of Liberation in Prussian Memory: Reflections on the Memorialization of War in Early Nineteenth-Century Germany, in: The Journal of Modern History 68 (1996), S. 550– 576; Dieter DÜDING, Das deutsche Nationalfest von 1814: Matrix der deutschen Nationalfeste im 19. Jahrhundert, in: Dieter DÜDING [u. a.] (Hrsg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 67–88; Monika FLACKE, Deutschland. Die Begründung der Nation aus der Krise, in: DIES. (Hrsg.), Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama, München / Berlin 2. Aufl. 2001, S. 101–128; Stefan-Ludwig HOFFMANN, Sakraler Monumentalismus um 1900. Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal, in: Reinhart KOSELLECK / Michael JEISMANN (Hrsg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 249–280; Karl Borromäus MURR, „Treue bis in den Tod“. Kriegsmythen in der bayerischen Geschichtspolitik im Vormärz, in: Nikolaus BUSCHMANN / Dieter LANGEWIESCHE (Hrsg.), Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt a. M. / New York 2003, S. 138–174; Erich PELZER, Die Wiedergeburt Deutschlands 1813 und die Dämonisierung Napoleons, in: Gerd KRUMEICH / Hartmut LEHMANN (Hrsg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20.
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Der Gedenktag der Leipziger Schlacht war der dritte Tag der Schlacht, der schlachtentscheidende 18. Oktober, an dem es den Alliierten gelang, die napoleonischen Bündnistruppen in Leipzig zu umfassen und den Kaiser am Folgetag in die Flucht zu zwingen. Es war zunächst der Sieg über den (bis zum katastrophalen Russlandfeldzug von 1812) militärisch scheinbar unbezwingbaren Kaiser der Franzosen, es war aber auch die bis dahin größte und blutigste Schlacht der europäischen Geschichte mit einer halben Million Kämpfenden und weit über 80.000 Toten und Verwundeten. Daran erinnerte man sich und andere in Deutschland alljährlich am 18. Oktober, öffentlich wie privat. Der Kölner Kunstgelehrte und -sammler Sulpiz Boisserée „gedacht[e]“, wie er oder auch der westfälische Oberpräsident Ludwig Freiherr von Vincke seinem Tagbuch seit 1814 immer wieder anvertraute, dieses „wichtigen Tag[es]“10. „Erinnerung und Dank“, notierte er vier Jahrzehnte später am 18. Oktober 1853, „heute vor 40 Jahren [wurde] die Schlacht bei Leipzig entschieden, die uns von der Unterdrückung des Eroberers befreit hat. Möchten die Deutschen nur alle und immer dieses Tages gedenken!“11 Für viele Zeitgenossen und Nachgeborene des 19. Jahrhunderts verschmolz die Schlacht bei Leipzig mit dem Sieg von Arminius-Hermann über die Legionen des römischen Feldherrn Quinctilius Varus im Teutoburger Wald 9 n. Chr.: Der alliierte Sieg bei Leipzig wurde zur „zweiten Hermannsschlacht“12 und der 18. Oktober zum Tag der „Wiedergeburt der ganzen deutschen Nation“ stilisiert13. In diesem Sinn wurde die Leipziger Schlacht als „VölkerJahrhundert, Göttingen 2000, S. 135–156; Ute PLANERT, Wessen Krieg? Wessen Erfahrung? Oder: Wie national war der „Nationalkrieg“ gegen Napoleon, in: Dietrich BEYRAU (Hrsg.), Der Krieg in religiösen und nationalen Deutungen der Neuzeit, Tübingen 2001, S. 111–139; Martin RINK, Vom „Partheygänger“ zum Partisanen. Die Konzeption des kleinen Krieges in Preußen 1740–1813, Frankfurt a. M. [u. a.] 1999; Karl Heinz SCHÄFER, 1813 – Die Freiheitskriege in der Sicht der marxistischen Geschichtsschreibung der DDR, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 21 (1990), S. 2–21; Wolfram SIEMANN, Krieg und Frieden in historischen Gedenkfeiern des Jahres 1913, in: DÜDING [u. a.], Öffentliche Festkultur, S. 298–320; Digby SMITH, 1813: Leipzig, Napoleon and the Battle of Nations, London 2001; Ernst WEBER, Lyrik der Befreiungskriege (1812–1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur, Stuttgart 1991. 10 18.10.1847 und 1852; Sulpiz BOISSERÉE, Tagebücher, hrsg. von Hans-J. WEITZ, Bd. 4, Darmstadt 1985, S. 422 und 942; Die Tagebücher des Oberpräsidenten Ludwig Freiherr Vincke 1813–1818, bearb. von Ludger Graf VON WESTPHALEN, Münster 1980, S. 101, 199, 294, 376, 457. 11 BOISSERÉE, S. 1062. 12 Rainer WIEGELS, „Varusschlacht“ und „Hermanns“-Mythos. Historie und Historisierung eines römisch-germanischen Kampfes im Gedächtnis der Zeiten, in: Michel REDDÉ / Siegmar VON SCHNURBEIN (Hrsg.), Alésia et la bataille du Teutoburg. Un parallèle critique de sources, Ostfildern 2008, S. 27–51, Zit. S. 38. 13 Deutschlands Wiedergeburt und Einheit. Ein Blick in die Zukunft [1813/14] zit. nach Jörg ECHTERNKAMP, „Teutschland, des Soldaten Vaterland”. Die Nationalisierung des Krieges im frühen 19. Jahrhundert, in: Werner RÖSENER (Hrsg.), Staat und Krieg. Vom Mittelalter bis zur Moderne, Göttingen 2000, S. 181–203, Zit. S. 198.
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schlacht“ verstanden, als Kampf der Völker Europas um nationale Freiheit und nationale Einheit. Demgegenüber hatte der preußische Oberst und spätere Generalfeldmarschall und Präsident des Staatsrats Karl von Müffling, als er am Morgen des 18. Oktober 1813 beim Heranrücken der alliierten Truppen den Namen prägte und von der bevorstehenden „großen Völkerschlacht“ sprach, mit „Völkern“ im Verständnis des ancien régime lediglich die Truppen, das „Heervolk“, der antinapoleonischen Koalition bezeichnet14. Schon der erste Jahrestag der Leipziger Schlacht, der vielerorts zeitgenössischen Presseberichten zufolge am 18. und 19. Oktober 1814 gefeiert wurde, wurde von der bildungsbürgerlichen Trägerschicht in der Überzeugung mit Fackelzug, Glockengeläut und Höhenfeuern begangen, dass „nichts hält, hebt und […] ein Volk mehr [stärkt] als große Erinnerungen“ an das „Nationalfest der Teutschen“15. Ein kleiner Kreis deutsch-nationaler Patrioten hatte zu den Erinnerungsfeiern aufgerufen, unter ihnen die in der Folge zu Ikonen des deutschen Nationalismus erhobenen Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn. Sie hatten sich mit Gesinnungsfreunden im Frühjahr 1814 im hessischen Rödelheim getroffen, um über Deutschlands Zukunft zu beraten. Als Ergebnis ihrer Zusammenkunft warben die Patrioten für die Gründung von „deutschen Gesellschaften“ und für die Etablierung eines „Festes der Leipziger Schlacht“, mit denen „teutsche Art und teutsche[r] Sinn“ erhalten und belebt, „teutsche Kraft und Zucht“ erweckt und die „alten und jungen Erinnerungen“ an die deutsche Geschichte erneuert werden sollten16. Breitenwirksamkeit erlangte diese Initiative eines nationalen Volksfestes zum 18. Oktober durch Arndts weit verbreitete Schrift Ein Wort über die Leipziger Schlacht, in der er auch die Choreographie für die Feiern vorgab. Arndt verband hier die „während der Freiheitskriege bereits geübte Praxis von Dankund Siegesfeiern“ mit der Idee, eine „deutsch-nationale“ Festtradition zu begründen17. In alljährlichen Festen sollte an den Krieg von 1813/14 und die Völkerschlacht erinnert werden, wobei das Volk eine Schlüsselrolle innehaben sollte. Nach Arndts Überzeugung war es nämlich das „teutsche Volk“, das im Verbund mit den Fürsten im Oktober 1813 den Sieg erfochten hatte18. In Arndts und von den Protagonisten der zeitgenössischen deutschnationalen Bewegung geteilten Vorstellungen sind bereits die elementaren 14
Henrich STEFFENS, Was ich erlebte 1802–1814. Knechtschaft und Freiheit, Leipzig 1913, S. 405 f. 15 Napoleon und die Franzosen [1814] zit. nach ECHTERNKAMP, S. 197. 16 Ernst Moritz ARNDT, Noch ein Wort über die Franzosen und uns [1814], zit. nach Karen HAGEMANN, „Männlicher Muth und Teutsche Ehre“. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn 2002, S. 481–497, hier S. 482. 17 HAGEMANN, S. 483. 18 Ernst Moritz ARNDT, Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht, in: Arndts Werke, hrsg. von August LEFFSON und Wilhelm STEFFENS, T. 11, Berlin [u. a.] o. J., S. 131–141, hier S. 131–133.
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Bausteine des Oktober-Mythos angelegt: die Mythologeme vom „Volkskrieg“, der „nationalen Erhebung“ und von der Geburt bzw. der Wiedergeburt der Nation aus dem Krieg. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass namentlich in Preußen 1813 die Kriegsbegeisterung weite Teile des Bürgertums erfasst und der Krieg trotz erheblicher regionaler Unterschiede „tatsächlich‚ Züge einer Volkserhebung‘“ getragen hatte19. Dies war nicht zuletzt eine Folge der preußischen Politik im Frühjahr 1813, als die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, Landwehr und Landsturm eingerichtet, zur Bildung freiwilliger Jägerdétachements aufgefordert wurde und der König mit den Aufrufen an sein „Volk“ und an sein „Kriegsheer“ das „nationale Bündnis von Fürst und Volk“ proklamierte20. Obwohl diesen Aufrufen Tausende folgten und zu den Waffen eilten, war die militärische Bedeutung des Landsturms und der Freiwilligenkorps marginal: Der sogenannte Volkskrieg war eine bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fortlebende Fiktion der nationalen Propaganda. Der Sieg in Leipzig und in den folgenden Schlachten der antinapoleonischen Kriege zwischen 1813 und 1815 war das Ergebnis konventioneller Kriegführung der Koalition der europäischen Mächte. Die Regierungen der an der Schlacht beteiligten deutschen Staaten reagierten daher unterschiedlich auf die Feierlichkeiten des Jahrestags. Während die ehemaligen Rheinbundstaaten Baden und Bayern das (National-)Fest duldeten, war es in Württemberg verboten, das anders als die beiden Nachbarstaaten erst im November 1813 sein Bündnis mit Napoleon aufsagte21. Aus demselben Grund verbot auch der Großherzog von Hessen-Darmstadt unter sicherheitspolizeilichem Vorwand zwischen 1815 und 1817 die Feierlichkeiten, nachdem er 1814 zu seinem höchste[n] Missfallen [hatte] erfahren müssen, daß bei dem, am 18. und 19. October, von mehreren Bewohnern des hiesigen Großherzogtums, gefeierten Andenken von den Jahrestagen der Leipziger Schlacht, an manchen Orten durch holzverschwenderisches Feuermachen und dies selbst in der Nähe von Städten, Dörfern und Gebäuden, durch Schießen in denselben, veranstaltete Aufzüge, öffentliches Musikhalten, nächtliches Lärmen und Schreien auf den Straßen, und sonstige Zügellosigkeiten aller Art vorgefallen
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Peter BRANDT, Die Befreiungskriege von 1813 bis 1815 in der deutschen Geschichte, in: Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, hrsg. von Michael GRÜTTNER [u. a], Frankfurt a. M. 1999, S. 17–57, Zit. S. 30. 20 Otto DANN, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, München 1993, S. 62. 21 S. hierzu und zum Folgenden Ute PLANERT, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden. Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792–1841, Paderborn [u. a.] 2007, S. 614–619, die ein differenziertes Bild der lokalen Feiern von 1814 gibt und auf die unterschiedlichen Formen der Feiern und des Gedenkens sowie auf die gesellschaftliche Differenz hinweist.
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seien22. In Berlin fanden die offiziellen Feiern 1814 mit Militärparaden und Gottesdiensten vom 16. bis zu dem in Preußen zum Feiertag erklärten 19. Oktober statt; sie gingen jedoch nicht „über den Rahmen der üblichen Dank- und Siegesfeiern“ hinaus23. Dagegen folgten die parallel am 18. und 19. Oktober organisierten Veranstaltungen der Berliner Turner – ein Publikumsmagnet für alle Bevölkerungsschichten – wie mancherorts in Deutschland mit ihrem Volksfestcharakter, mit Freudenfeuern als Zeichen der Verbrüderung der Deutschen, mit Reden, Liedern, Turnübungen und Spielen Arndts Choreographie. Hier wie bei den Feierlichkeiten anderwärts in der Hohenzollern-Monarchie überwogen gleichwohl preußischer „Landespatriotismus und Regentenverehrung“24. Die von den lokalen bürgerlichen Eliten organisierten und beherrschten Feiern in Süd-, West- und Mitteldeutschland am 18. und 19. Oktober hingegen waren meist deutsch-national geprägt, vor allem am Rhein waren sie von einem antifranzösischen Akzent überlagert. Die Inszenierungen folgten weitgehend demselben Schema: Die mit nationalen Symbolen wie Eichenlaub geschmückte Festgemeinde versammelte sich an einem zentralen Platz zum Festumzug, entzündete im Anschluss daran weit sichtbare Feuer, es wurden patriotische Lieder gesungen, eigens für den Anlass verfasste Gedichte, die sogenannte Oktoberlyrik, rezitiert und patriotische Reden gehalten. Mit Gedenkgottesdiensten für die Gefallenen und mit patriotischen Festpredigten gingen die Feiern am 19. Oktober zu Ende. Das in der zeitgenössischen Publizistik zum Ausdruck gebrachte Pathos eines „Nationalfests“ 1814 sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich für die Mehrheit der Teilnehmenden in erster Linie um Dank- und Freudenfeste handelte, die für das Ende einer mehr als zwanzigjährigen Kriegsperiode standen. Die unmittelbar nach der Schlacht im Oktober 1813 einsetzende und seit 1814 popularisierte nationale Deutung der Völkerschlacht war eine „intellektuelle Konstruktion“ und wurde von einer „schmale[n] Schicht von Bildungsbürgern“ verantwortet25, die den Sieg über Napoleon, das Ende der sogenannten Fremdherrschaft und die errungene äußere Freiheit mit der doppelten Forderung nach Überwindung von Partikularismus und nationaler Einheit verband. Die Völkerschlachtfeiern sollten darüber hinaus alljährlich als Verpflichtung für die Zukunft daran gemahnen, dass die sprichwörtliche Uneinigkeit der Deutschen für die französische „Fremdherrschaft“ verant22 Zit. nach Ute SCHNEIDER, Die Feiern der Leipziger Schlacht am 18. Oktober 1814 – eine intellektuelle Konstruktion?, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 133 (1997), S. 219–238, hier S. 223 f. 23 HAGEMANN, S. 489. 24 HAGEMANN, S. 489. 25 SCHNEIDER, Titelzitat, und Stefan–Ludwig HOFFMANN, Mythos und Geschichte. Leipziger Gedenkfeiern der Völkerschlacht im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Etienne FRANÇOIS [u. a.] (Hrsg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 111–132, Zit. S. 115.
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wortlich, die Leipziger Schlacht mit ihren abertausenden Toten, wie es in einer Festpredigt anlässlich der Jahrestagsfeier 1814 hieß, „das Strafgericht für die Feinde des Vaterlandes und zugleich die göttliche ‚Erhebung‘ des Volkes [und] seine ‚Wiedergeburt‘“ gewesen sei, mithin der Opfertod für das Vaterland als „höchster Wert“ zu gelten habe26. Die sakral unterlegte nationale „Selbstfindung [...] konnte aber nur im dämonisierten Gegenbild des Feindes erfolgen“, weshalb die Völkerschlacht „zum Kampf zwischen Gut und Böse“ stilisiert und „die grundsätzliche Feindschaft gegen Frankreich beschworen“ wurden. Mit der Abgrenzung nach außen ließen sich schließlich die nationale Einheit von Volk und Monarch(en) und der Mythos von der „gemeinsam geschlagenen Schlacht“ und dem in Leipzig gemeinsam errungenen Sieg begründen27. Diese nationale Imagination und der aus ihr seit 1814 erwachsende Mythos waren nicht bzw. nur in Teilen vereinbar mit der monarchischen Lesart, zumal sich das politische Klima mit der nach dem Wiener Kongress einsetzenden Restauration veränderte. Das Nationalfest fand 1815 zwar vielerorts – mit Ausnahme von Hessen-Darmstadt, Sachsen und Württemberg – in ähnlicher Form wie im Vorjahr und wiederum mit Unterstützung der Regierungen statt, die öffentliche Stimmung war jedoch umgeschlagen, nachdem die illusionären Hoffnungen auf einen deutschen Nationalstaat mit den in Wien 1814/15 getroffenen Beschlüssen zerstoben waren und auch die namentlich vom Bürgertum erhobenen Forderungen nach modernen Verfassungen von den beiden rivalisierenden Großmächten Österreich und Preußen defensiv behandelt wurden. Es wurde nun auch Kritik an den Regierungen laut: „Bey den lodernden Flammen auf einsamen Bergeshöhen hat das Volk bedacht“, schrieb der Rheinische Merkur, „was ihm von seinen Hoffnungen, die es vor dem Jahre an gleicher Stätte gehegt und gefaßt, wahr geworden, und es hat sich ihm gezeigt, daß es größtentheils taube Blüthe gewesen, die abgefallen“28. Die preußische Regierung war 1815 darum bemüht, die deutschnationalen Tendenzen, die in der „öffentliche[n] Wahrnehmung“ der Kriege von 1813/14 als „Volkskriege“29 bestanden, zurückzudrängen und dem Fest den Anstrich einer monarchischen Siegesfeier mit landespatriotischem Akzent zu geben. Diesem Vorbild folgten 1816 andere deutsche Regierungen, indem sie dem Fest einen „landespatriotisch-militärischen Stempel“ aufdrückten und die offiziellen Feierlichkeiten auf den ersten Sonntag nach dem Jahrestag der Schlacht verlegten 30. Bereits 1816 war der Traum von einem
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Zit. nach HOFFMANN, S. 114. HOFFMANN, S. 114 f. Zit. nach HAGEMANN, S. 493. HAGEMANN, S. 494. HAGEMANN, S. 494 f.
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alljährlichen „Allerdeutschenfest“ ausgeträumt31, das am 18. Oktober in „ganz Germanien, von Stralsund bis Triest und von Memel bis Luxemburg“ gefeiert werden sollte32. Die Feier, wie Heinrich von Treitschke ein halbes Jahrhundert später resümierte, „verstummte […] an den meisten Orten, hier vor den Verboten der Polizei, dort vor der Gleichgültigkeit der Menge“33. Lediglich das als nationale Gedenkfeier veranstaltete Wartburgfest der studentischen Burschenschaften am 18. und 19. Oktober 1817 aus Anlass des 300. Jubiläums der Reformation und des vierten Jahrestags der Leipziger Schlacht konnte noch einmal große öffentliche Aufmerksamkeit erregen, nicht zuletzt weil hier die korporierten Studenten ihrer und der bürgerlichen Eliten Enttäuschung über die politischen Entwicklungen in Deutschland nach den Freiheitskriegen demonstrativ Ausdruck verliehen. „Vier lange Jahre sind seit jener Schlacht verflossen; das deutsche Volk hatte schöne Hoffnungen gefaßt, sie sind alle vereitelt“, klagte und beklagte der Theologiestudent, Kriegsfreiwillige von 1813 und Träger des Eisernen Kreuzes Karl Heinrich Riemann in seiner Festrede am 18. Oktober: Alles ist anders gekommen als wir erwartet haben; viel Großes und Herrliches, was geschehen konnte und mußte, ist unterblieben; mit manchem heiligen und edlen Gefühl ist Spott und Hohn getrieben worden. Von allen Fürsten Deutschlands hat nur einer sein gegebenes Wort eingelöst, der, in dessen freiem Lande wir das Schlachtfest begehen. Über solchen Ausgang sind viele wackre Männer kleinmüthig geworden, meinen, es sei eben nichts mit der vielgepriesenen Herrlichkeit des deutschen Volkes, ziehen sich zurück vom öffentlichen Leben, das uns so schön zu erblühen versprach, und suchen in stiller Beschäftigung mit der Wissenschaft Entschädigung dafür.
Riemann appellierte daher an die Anwesenden, sich auch weiterhin „gegen jegliche innere und äußere Feinde dieses Vaterlandes“ zur Wehr zu setzen34. Aus diesem Selbstverständnis heraus entstanden unmittelbar nach dem Wartburgfest unter Riemanns Federführung in Jena die nationale und liberale Forderungen formulierenden ‚Grundsätze und Beschlüsse des achtzehnten Oktobers‘, und es wurde im darauffolgenden Jahr am 18. Oktober die Allgemeine Deutsche Burschenschaft ins Leben gerufen. Infolge der nach dem Wartburgfest einsetzenden repressiven obrigkeitlichen Maßnahmen gegen die bürgerlichen Bildungseliten mit ihren liberalen 31
Karl August VARNHAGEN VON ENSE, Bühnenbilder der Leipziger Schlacht [1814], in: Biographien, Aufsätze, Skizzen, Fragmente, hrsg. von Konrad FEILCHENFELDT und Ursula WIEDEMANN, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1990, S. 399–402, Zit. S. 399. 32 ARNDT, Ein Wort, S. 136. 33 Heinrich von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, T. 2, Leipzig 3. Aufl. 1886, S. 4. 34 Hugo KÜHN (Hrsg.), Das Wartburgfest am 18. Oktober 1817. Zeitgenössische Darstellungen, archivalische Akten und Urkunden, Weimar 1913, S. 60 f. DERS.,
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und nationalen Forderungen, die ein Beteiligter von 1817 in seiner patriotischen, die nicht erfüllten Hoffnungen und nicht eingelösten Versprechungen der Fürsten be- und anklagenden Rede 1820 erneuerte35, traten in den folgenden Jahrzehnten an die Stelle der vielerorts verbotenen Feste – auch wenn im Vor- und Nachmärz mancherorts die „October-Feuer“ weiterhin entzündet wurden und „Fackel-Züge“ stattfanden36 – andere Formen des Gedenkens. In Schulgeschichtsbüchern, in Schul- und Jubiläumsfeiern, mit der Gründung von Veteranenvereinen der sogenannten 1813er und von nationalen Vereinen und mit Denkmälern wurde die Erinnerung an die Leipziger Schlacht in vielfältiger Weise wach gehalten. Die Erinnerungsunternehmungen folgten den in den Jahren unmittelbar nach dem historischen Ereignis formulierten Argumentations- und Interpretationsmustern, die ihren sinnfälligen Ausdruck in der konkurrierenden Benennung der Kriege von 1813/15 als Freiheits- oder als Befreiungskriege fanden. Während die deutsch-nationalen Kräfte auf den älteren, schon im 18. Jahrhundert im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und in der Französischen Revolution gebräuchlichen Begriff „Freiheitskrieg“ zurückgriffen, um damit die nationale, mit Hilfe des Volkes und für das Volk errungene Freiheit zum Ausdruck zu bringen und im liberalen Verständnis Freiheitsrechte und Repräsentation zu reklamieren, hob der von Preußen aus 1816 in den öffentlichen Diskurs eingebrachte Terminus „Befreiungskrieg“ auf die Perspektive der Befreiung von der dämonisierten Herrschaft Napoleons ab: „la Tyrannie la plus absurde et la plus atroce“37. Damit war ein Begriff für den offiziellen Sprachgebrauch gefunden, welcher sowohl der landespatriotischen als auch der dynastischen und restaurativen Lesart der Ereignisse vom Oktober 1813 entsprach. Die Mehrzahl der Denkmäler für die Leipziger Schlacht folgte diesem Verständnis: Schinkels Kreuzberg-Denkmal in Berlin ebenso wie der mit dem sprechenden Namen „Befreiungshalle“ versehene klassizistische Bau über Kelheim. Von König Ludwig I. von Bayern schon seit 1814 projektiert, ist die Befreiungshalle ein Muster für die auf den 18. Oktober 1813 fixierte, Monument gewordene Erinnerung an die Leipziger Schlacht und die antinapoleonischen Kriege der Jahre 1813 bis 1815. Wie schon aus dem Jahr 1815 im Rahmen von Gedenkfeiern neu errichteter lokaler Kriegerdenkmäler berichtet wurde, fanden auf Geheiß Ludwigs I. nicht nur die Grundsteinlegung und Einweihung der Befreiungshalle in feierlichen Inszenierungen jeweils am 18. Oktober 1842 und 1863, dem 50. Jahrestag der Schlacht, statt, mehr noch: 35 Karl HASE, Am Jahrestag von Leipzig. Rede, sieben Jahre nach der Völkerschlacht, Leipzig 1913. 36 BOISSERÉE, Tagebücher, Bd. 1, S. 752, und Bd. 2, S. 787. 37 Karl Reichsfreiherr von und zum Stein an seine Frau vom 21.10.1813; Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, bearb. von Erich BOTZENHART und neu hrsg. von Walther HUBATSCH, Bd. 4, Stuttgart 1963, S. 279 f., Zit. S. 279.
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Architektur und Ausstattung der gesamten Anlage, einem achtzehneckigen Zentralbau, sind auf die Zahl 18 ausgerichtet. Zwanzig Jahre vor der Einweihung der Befreiungshalle hatte der bayerische König am 18. Oktober 1830 den Grundstein zur Walhalla gelegt und zwölf Jahre später am selben Tag das unweit von Regensburg gelegene nationale „Heiligthum“ eingeweiht38. Der griechische Tempel „rühmlich ausgezeichneter Teutscher“ sollte nach dem Willen seines Bauherrn nicht nur eine Weihestätte der nationalen Selbstbesinnung und Selbstvergewisserung sein, aus dem „teutscher der Teutsche [...] trete, besser, als er gekommen“39. Das „allen Stämmen teutscher Sprache“ gewidmete Nationaldenkmal war zugleich auch ein Mahnmal der Befreiungskriege, freilich im monarchisch-autokratischen Verständnis des Wittelsbacherkönigs40. Daran erinnern sowohl die als „Walhalla‘s Genossen“ aufgenommenen österreichischen, preußischen und russischen Feldherren der antinapoleonischen Kriege – Barclay de Tolli, Diebitsch Salbalkansky, Blücher, Gneisenau, Scharnhorst und Schwarzenberg – und der als der „Befreyung Teutschland’s Grundstein“ gefeierte Freiherr vom Stein als auch die vom König verordnete Ikonographie zu „Teutschlands Befreyung im Jahr 1814“ im südlichen Giebelfeld der Außenfassade41. Schon die offiziellen Feierlichkeiten in Berlin in den Jahren zwischen 1814 und 1816 hatten mit ihrer landespatriotischen und dynastischen Ausrichtung den Kurs festgelegt, wie die Hohenzollern die Leipziger Schlacht erinnert wissen wollten: als siegreiches Ende des Befreiungskriegs, das in hohem Maß das Verdienst des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. und des ruhmreichen preußischen Militärs gewesen sei. Daran ließ sich vor allem seit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und der Gründung des Deutschen Reichs anknüpfen. Die „Grundlagen“ dafür seien „1813 [...] gelegt worden“, wie Wilhelm I., der sich mit Bedacht am 18. Oktober 1861 in Königsberg zum preußischen König krönen ließ, beim Einzug der siegreichen preußischen Truppen in Berlin 1871 feststellte42. An diese Traditionslinien, an die borussische Legende von Deutschlands Einigung unter preußischer Führung 1813 wie 1871 sollte neuerlich am 18. Oktober 1908 mit der Aufnahme Bismarcks in die Walhalla erinnert werden, der, wie der damals pro38 Kronprinz Ludwig an Johannes von Müller, 27.11.1808; Briefe an Joh. von Müller. Supplement zu dessen sämmtlichen Werken, hrsg. von Johann Heinrich MAURERCONSTANT, Bd. 5, Schaffhausen 1840, S. XII. 39 Walhalla’s Genossen, geschildert durch König Ludwig den Ersten von Bayern, den Gründer Walhalla’s, München 2. Aufl. 1847, S. V und VII. 40 Walhalla’s Genossen, S. VII. 41 Jörg TRAEGER, Der Weg nach Walhalla. Denkmallandschaft und Billdungsreise im 19. Jahrhundert, Regensburg 1987, S. 84. 42 Zit. nach Kirstin Anne SCHÄFER, Die Völkerschlacht, in: Deutsche Erinnerungsorte, hrsg. von Etienne FRANÇOIS und Hagen SCHULZE, Bd. 2, München 2001, S. 186–201, hier S. 194.
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minente bayerische Historiker Karl Theodor von Heigel in seiner Festrede betonte, „uns die nationale Einheit und ein Deutsches Reich geschenkt hat“43. Es war vor allem der Wilhelm II., der nicht müde wurde, anlässlich der zahlreichen am 18. Oktober stattfindenden Einweihungsfeiern von Denkmälern für Fürsten aus dem Haus Hohenzollern, vornehmlich für seinen am 18. Oktober 1831 geborenen Vater und Vorgänger auf dem Thron, oder bei Fahnenweihen preußischer Regimenter und wie 1899 beim Stapellauf des Linienschiffs ‚Kaiser Karl der Große‘ in Hamburg, die historischen Verdienste seiner Dynastie für die deutsche Geschichte in den Jahren 1813 und 1871 zu würdigen, von Hohenzollerns deutscher Sendung zu künden und gleichzeitig mit Blick auf seine imperialen Visionen das Militär als „Säule“ des Deutschen Reiches zu preisen44. „Ein würdigerer Tag konnte kaum für diese Feier gefunden werden“, ließ sich der Monarch bei der Enthüllung des KaiserWilhelm-Denkmals in Bremen 1893 vernehmen, um dann seiner dynastischmilitaristischen Überzeugung Ausdruck zu geben: Der 18. Oktober, der Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig, in der die [...] verbündeten Monarchen Preußen, Deutschland, ja man kann sagen ganz Europa, von dem Joche der Unterdrückung befreiten, der 18. Oktober fernerhin der Geburtstag des nachmaligen Kaisers Friedrich III. – welch eine hohe Vorbedeutung für die Zukunft! In seiner Brust trug er in jungen Jahren die Vorahnung der kommenden Ereignisse und den brennenden Wunsch nach Einheit unseres geliebten Vaterlandes. Und als nun das Morgenrot des neuen Deutschen Reiches strahlend emporstieg, da durfte er als gereifter Mann die Träume seiner Jugend verwirklichen. Das deutsche Schwert in der Faust gewann der Sohn auf blutiger Walstatt seinem Vater die deutsche Kaiserkrone. [...] Heute nun […] fiel sodann die Hülle seines greisen Heldenvaters Bild, und in Erz geformt blicken uns Kaiser Wilhelms Züge mit hoheitsvollem Ernst an. Wie hat die göttliche Vorsehung ihn wunderbar geführt!45.
Während Wilhelm II. seinen Vorgängern auf dem Thron und der borussischen Interpretation folgend Preußen und vor allem seiner Dynastie am 18. Oktober huldigte (und in diesem Verständnis der Bundesrat Preußen 1913 die Prägung von jeweils sechs Millionen Erinnerungsmünzen anlässlich der „Erhebung Preußens gegen die Fremdherrschaft“ sowie des „25jährigen Regierungsjubiläum[s] des Kaisers“ bewilligte)46, verband das Bürgertum mit dem Gedenktag mehr als nur den militärischen Sieg über Napoleon und die Be43 Karl Theodor von HEIGEL, Zum 18. Oktober 1908. Festrede, gehalten in Regensburg am Tage der Aufnahme der Büste Bismarcks in die Walhalla, in: DERS., Zwölf Charakterbilder aus der neueren Geschichte, München 1913, S. 380–398, Zit. S. 380. 44 Johannes PENZLER (Hrsg.), Die Reden Kaiser Wilhelms II., T. 1: 1888–1895, Leipzig o. J., S. 280 f., Zit. S. 281. 45 PENZLER, S. 253. 46 Beschluß des Bundesrates, 1.2.1913, in: Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender N.F. Jg. 29, 1913, München 1915, S. 40 f.
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freiung von der sogenannten Fremdherrschaft. Daran wurde zwar seit 1863 anlässlich des Land auf Land ab gefeierten fünfzigsten Jahrestags von den Festrednern und häufig von den Kanzeln herab erinnert, auch in ehemaligen Rheinbundstaaten wie Württemberg. Auch dort wurde wie allerorten die „Befreiung des deutschen Vaterlandes vom harten Tyrannenjoch mit Recht als ein großes Volksfest“ gefeiert, obwohl man als französischer Bündnispartner – „was heute unsere Freude trübt“ – 1813 unter die Verlierer zählte. Der Stuttgarter Stiftsprediger Sixtus Karl von Kapff ließ bei allen patriotischen Bekundungen seine Predigt wohl auch deswegen in der Aufforderung münden: Aber unsere Vorsätze am 18. Oktober? Daß jeder Deutsche seine Schuldigkeit thue, gemäß den Pflichten, die das Christenthum uns vorschreibt, gemäß den Principien des ächt germanischen Geistes, der das Uebersinnliche, das Gemüthsleben, die höchsten geistigen Güter vor allem zu pflegen treibt und in ächtem Cosmopolitismus ohne Selbstsucht, aber auch ohne Selbsterniedrigung den Frieden und das Wohl aller Nationen wünscht, und im Großen wie im Kleinen den Nächsten liebt wie sich selbst, über alles Gott und sein Reich47.
Wie schon in den Jahren unmittelbar nach der Leipziger Schlacht dienten die Gedenkfeiern 1863 wiederum dazu, den deutschen Nationalstaat nicht nur anzumahnen48, sondern ihn einzufordern: Die völlige Wiedergeburt unseres Vaterlandes ist für uns nur noch eine Frage der Zeit. Unsere heutige Generation hat an dem großen Werke unverdrossen fortgearbeitet: möge das vor unsern Augen erwachsende neue Geschlecht es vollführen!49
Dieser Appell war jedoch nur mittelbar an die Adresse der Fürsten gerichtet, sondern vielmehr an alle Deutschen, deren Aufgabe es sei, jetzt „das Werk [… zu] vollenden“, das die „Väter“ 1813/15 „begonnen“ hätten50. Und wie schon in den Jahren nach den antinapoleonischen Kriegen waren unter dem Motto „Vaterlandsliebe“ und „Bürgerpflicht“ die nationalstaatlichen, wiede-
47 Sixtus Karl von KAPFF, Freude, Trauer und Mahnung am fünfzigsten Gedenktag der Leipziger Schlacht, Stuttgart 1863, Zit. S. 6 und 17. 48 Friedrich Wilhelm von VARCHMIN, Die Völkerschlacht bei Leipzig oder: was uns gerettet und was uns noch retten kann. Nebst einer Biographie des Fürsten Carl zu Schwartzenberg. Eine Jubelschrift auf das Jahr 1863, ein Wort an Deutschlands Fürsten und Völker, Braunschweig 1862, bes. S. XVI–XX, wo Varchmin gegen eine kleindeutsche Lösung polemisiert. 49 Eduard GROSSE / Franz OTTO (Hrsg.), Zur Erinnerung an Deutschlands Wiedergeburt und Befreiung vor fünfzig Jahren, Leipzig 1863, S. VII. 50 Carl SCHWARZ, Unser deutsches Volk hat recht gekämpft, darum ward es gekrönt. Predigt gehalten bei der fünfzigjährigen Gedächtnisfeier der Leipziger Völkerschlacht am 18. October 1863 [in Gotha], in: DERS., Predigten aus der Gegenwart, 3. Sammlung, Leipzig 1865, S. 69–81, Zit. S. 79.
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rum mit liberalen, partizipatorischen Forderungen verbunden51. Daran erinnert Johann Gustav Droysen in seinen Vorlesungen mit dem Diktum, dass „man nicht Freiheitskriege sagen dürfe […], sondern Befreiungskriege, da der große Volkskrieg gegen Napoleon doch nur der Fremdherrschaft und nicht etwa der Ermöglichung freier politischer Zustände im Innern gegolten habe“52. In der bürgerlichen Überzeugung kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insofern gerade jenes Selbstverständnis zum Ausdruck, das Arndt und andere 1814 in dem auch 1863 verwandten Begriff „Freiheitskriege“ gefasst hatten und das sich Louise Otto-Peters und ihre Mitstreiterinnen zu eigen machten, die für den 16. bis 18. Oktober zu einer (als „Leipziger Frauenschlacht“ verspotteten) Konferenz nach Leipzig einluden und just an diesem Gedenktag den Allgemeinen Deutschen Frauenverein aus der Taufe hoben 53, der für die Emanzipation der – bürgerlichen – Frau eintrat und die Geburtsstunde der organisierten deutschen Frauenbewegung markiert. Nicht von ungefähr leitete vier Jahrzehnte später mit Helene Lange eine der führenden Stimmen der bürgerlichen Frauenbewegung an der Wende zum 20. Jahrhundert ihr und ihrer Mitstreiterinnen Bekenntnis zur Nation mit ihren Erinnerungen an die Gedenkfeiern von 1863 in ihrer Geburtsstadt Oldenburg und der an die Frauenemanzipationsgegner adressierten Feststellung ein, dass diejenigen, die damals mitfeierten, wüssten, „was Nationalgefühl bedeutet“54. In charakteristischer Weise symbolisiert der 18. Oktober das bürgerliche Selbstverständnis, dass die Nation auf dem Volk gründe und damit die Bürger Träger des (monarchischen) Staates und der Nation seien. „Der Wille des Fürsten ist nicht das Gesetz des Volkes, sondern das Gesetz des Volkes soll der Wille des Fürsten sein“, hatten die Jenaer Burschenschafter schon 1817 in den ‚Grundsätzen und Beschlüssen des achtzehnten Oktobers‘ erklärt55. In diesem Sinn demonstrierte das deutsche Bürgertum in der zweiten Hälfte wie schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts anlässlich des Gedenkens an die Leipziger Schlacht am 18. Oktober insbesondere auch für seine politische Partizipation: z.B. 1903 mit der Einweihung eines Obelisken zu Ehren der deutschen Einheit vor der Frankfurter Paulskirche und 1914 mit der Gründung der dortigen Universität sowie vor allem in den Jahren 1900, 1911 und 51 Hermann BAUMGARTEN, Rede zur Feier des 18. Oktober 1863. Im Rathause zu Karlsruhe, o. O. 1863, S. 1. 52 Carl NEUMANN, Griechische Kulturgeschichte in der Auffassung Jakob Burckkardt’s, in: Historische Zeitschrift 85/N.F. 49 (1900), S. 385–452, S. 438. 53 Ute GERHARD, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Reinbek 1990, S. 76. 54 Helene LANGE, National oder International. Ein Fragezeichen zur Frauenbewegung [Die Frau, Oktober 1900], in: DIES., Kampfzeiten. Aufsätze und Reden aus vier Jahrzehnten, Bd. 1, Berlin 1928, S. 267–271, Zit. S. 267. 55 Zit. nach Hans EHRENTREICH, Heinrich Luden und sein Einfluß auf die Burschenschaft, in: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, hrsg. von Herman HAUPT, Heidelberg 1913, S. 48–129, Zit. S. 120.
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1913 bei der Grundsteinlegung, dem Richtfest und schließlich der Einweihung des Leipziger Völkerschlachtdenkmals56. Als am 18. Oktober 1913 das auf Initiative des Deutschen Patriotenbundes und mit Hilfe von privaten Spenden errichtete Völkerschlachtdenkmal in Leipzig in Anwesenheit des Kaisers und aller deutschen Fürsten, deren Truppen hundert Jahre zuvor an der Schlacht beteiligt waren, eingeweiht wurde, schwieg Wilhelm II. Dem redefreudigen Kaiser, der zwölf Jahre zuvor gleichsam als Kontrapunkt zum Leipziger Monument mit der Siegesallee in Berlin seine marmorne dynastische Geschichtsdeutung des Hohenzollernmythos vollendet und 1813 wiederholt, in Königsberg, Berlin und Kelheim, „an die große Zeit vor hundert Jahren“ erinnert und „Gottesfurcht, Königstreue, Vaterlandsliebe“ angemahnt hatte57, widersprach der Geist, der diesem Denkmal innewohnte. Es sollte nämlich, auch wenn seit 1871 nur noch vom Befreiungskrieg gesprochen wurde, nach dem Willen seiner Väter ein Denkmal des Freiheitskriegs sein, wie von Festrednern 1913 immer wieder betont wurde: „Aus dem Untertan des 18. Jahrhunderts ist seit der Völkerschlacht ein Staatsbürger geworden“58. Vor diesem Hintergrund wurde das Denkmal als ein Mahnmal des von den Fürsten als Affront empfundenen Volkskriegs, der nationalen Erhebung und des Kampfes für politische Rechte verstanden, wie sie die deutsch-nationale Propaganda der Jahre nach 1813 proklamiert und wie Arndt 1814 gefordert hatte. Der erste Vorsitzende des Deutschen Patriotenbundes und Hauptredner der Einweihungsfeier Clemens Thieme brachte diese Vorstellungen eines Denkmals vom und für das Volk zum Ausdruck: Wohlan! Hier steht der zu Stein gewordene Wille des Volkes, das sichtbare Zeichen der Dankbarkeit gegen Gott und unserer Heldenväter für unsere Freiheit und unser nationales Sein! Gewaltiger Zeiten gewaltiges Zeichen, – den gefallenen Helden ein Ehrenmal – dem deutschen Volk ein Ruhmesmal, – kommenden Geschlechtern ein Mahnzeichen! –, hoch und hehr, wie die Taten der Mütter und Väter, die Gut und Blut einsetzten für die Rettung des Vaterlandes. Am Schlachtenbild verkörpert Michael die sieg56 Hierzu Alfred SPITZNER (Bearb.), Deutschlands Denkmal der Völkerschlacht, das Ehrenmal seiner Befreiung und nationalen Wiedergeburt. Weiheschrift des Deutschen Patriotenbundes, Leipzig 1913. 57 Reden in Königsberg anläßlich des Festessens zur Jahrhundertfeier der Erhebung Preußens, 5.2.1913, im Provinziallandtag, 5.2.1913, in Berlin aus Anlaß der Jahrhundertfeier an der Berliner Universität, 9.2.1913, in Berlin vor dem Denkmal Friedrich Wilhelm III., 10.3.1913, auf Einladung des bayerischen Prinzregenten Ludwig anläßlich der Erinnerungsfeier in der Befreiungshalle bei Kelheim vor den deutschen Bundesfürsten und den Vertretern der Freien und Hansestädte, 25.8.1913, alle in: Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender N.F. Jg. 29, 1913, München 1915, S. 48 f., 50 f., 60 f., 92 f., 303, Zit. S. 49 u. 93. 58 Eduard RAHM, Die Bedeutung der Leipziger Schlacht für die Entwicklung der deutschen Geschichte. Festrede, gehalten in dem Aktus des Fürstlichen Gymnasiums zu Schleiz, Schleiz 1914, S. 8.
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Jahrbuch für Europäische Geschichte 14 (2013) reiche Erhebung des Volkes. Stumm trauern in der Krypta die in Stein gemeißelten Krieger um die im Kampfe gefallenen Helden und halten die Totenwacht. Im Ruhmesmal offenbaren sinnbildliche Gestalten die hehren Eigenschaften des deutschen Volkes, die zur gewaltigen Erhebung und zum Siege führten. Opferwilligkeit, Tapferkeit, Glaubensstärke und deutsche Volkskraft. Hoch darüber wölbt sich das Mahnzeichen mit den zwölf Riesengestalten, Hüter der Freiheit und Stützen des Reiches. So hat das deutsche Volk sein Denkmal für die Befreiung aus großer Not sich selbst zur Ehre errichtet. [...] Was einst Ernst Moritz Arndt sagte, muß Wahrheit für alle Zukunft bleiben: Das Völkerschlachtdenkmal muß die Irminsul des deutschen Volkes sein, wohin es am 18. Oktober jedes Jahres seine Schritte und seine Gedanken lenkt, daß alle daran erinnert werden, daß sie Brüder eines Stammes und einer Liebe sind und daß hinfort deutsche Liebe und Treue nächst Gott als das Heiligste und Höchste zu achten und zu lieben haben. Eingedenk dieser Mahnung weihe ich dieses Denkmal den Manen der großen Zeit, daß die Väter in den Söhnen leben!59
Thieme verlieh mit seiner Rede nicht nur der nationalistischen Stimmung im Bürgertum am Vorabend des Ersten Weltkriegs eine Stimme, wenn er in Erinnerung an 1813 zu Einheit, Wachsamkeit, Kampf- und Opferbereitschaft ermahnte. Mit seinem sakral überwölbten Weihespruch betonte er zugleich den 18. Oktober als nationalen Geburtstag und erinnert damit – wie hundert Jahre zuvor die Patrioten – an die Geburt der Nation aus dem Geist des Krieges. Der deutschvölkische Barde Adolf Bartels goss diese religiös überhöhte Überzeugung anlässlich der Zentenarfeier 1913 in die holprigen Verse: „In jener Tage Morgenröte / Ist unser Volkstum doch erwacht, / Das Deutschtum ward, ist nicht zu töten, / Seit dem gekracht hat Leipzigs Schlacht“60. Diesem – aggressiven und militanten – Geist fühlte sich insbesondere die radikale Rechte verpflichtet. Die Radikalnationalisten instrumentalisierten diesen „vaterländischen Gedenktag“ in vielfältiger Weise61, nicht zuletzt auch – wie etwa mit dem auf den „Tag der Freiheitsschlacht von Leipzig 1913 den deutschen Fürsten“ gewidmeten ‚Semi-Kürschner‘ – für ihre antisemitische Agitation, mit der sie neben der äußeren eine innere Bedrohung suggerierten62. Für sie galt der 18. Oktober als „des Deutschtums [...] heiliger 59 60
Schulthess‘ Europäischer Geschichtskalender 1913, S. 327–333, Zit. S. 331. Adolf BARTELS, Die Jubelfeier der Schlacht bei Leipzig. 18. Oktober 1913, in: DERS., Deutschvölkische Gedichte aus dem Jubeljahr der Befreiungskriege 1913, Leipzig 1914, S. 170–174, Zit. S. 173. 61 Deutsch-Kalender 1897, hrsg. von August ENGELS im Auftrag des Deutschbundes, o. O. u. J., S. 3. 62 Semi-Kürschner oder Literarisches Lexikon der Schriftsteller, Dichter, Bankiers, Geldleute, Ärzte, Schauspieler, Künstler, Musiker, Offiziere, Rechtsanwälte, Revolutionäre, Frauenrechtlerinnen, Sozialdemokraten usw. jüdischer Rasse und Versippung, die von 1813–1913 in Deutschland tätig oder bekannt waren. Unter Mitwirkung von völkischen Verbänden von Gelehrten, Künstlern, Geistlichen, rechtsstehenden Politikern, Juristen, Agrariern, Handwerkern, Industriellen, Kaufleuten, von Männern und Frauen des In- und Auslandes, hrsg. von Philipp STAUFF, Berlin 1913.
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Tag“63, an dem sich das deutsche Volk 1813 im Bewusstsein seiner völkischen Eigenart mit dem Sieg – dem „deutschen Volkssieg“ – über Napoleon in der Leipziger Völkerschlacht befreit und zugleich die Geschichte der völkischen Bewegung ihren Anfang genommen habe64. Eine Reihe radikalnationalistischer und speziell völkischer Organisationen wie z.B. die in Süddeutschland seit 1902 agierende Deutschvölkische Vereinigung veranstaltete daher alljährlich am 18. Oktober Erinnerungsfeiern, die der hagiographischen und legitimatorischen Selbstvergewisserung dienten, oder beging wie der einflussreiche, 1894 in Berlin gegründete Deutschbund ihren Stiftungstag. Dessen Gründer Friedrich Lange hatte bereits in seiner sogenannten Weiherede auf dem Stiftungsfest am 18. Oktober 1896 wie alljährlich seine und des Bundes völkische, rassistische und expansionistische Ziele beschworen, den Deutschbund zur „Leibwache des Deutschgedankens“ stilisiert und dem militanten und bellizistischen Fundament des aggressiven völkischen Nationalismus in den Worten Ausdruck verliehen, daß ein allzulanger Friede seit 25 Jahren als Landplage auf uns liegt. Wir sind gewohnt fortwährend den Segen des Friedens zu preisen; ich möchte uns aber recht bald einen fröhlichen Krieg wünschen, d. h. einen Krieg, zu dem das Volk im Sturme voller Begeisterung sich entschließen könnte. Denn unser Volk kann eben nur durch solch stärkste Impulse sich auf sich selbst besinnen65.
Achtzehn Jahre später schienen sich die Hoffnungen Langes und der Radikalnationalisten mit dem – allerdings rasch wieder abflauenden – bürgerlichen Begeisterungssturm des „Augusterlebnisses“ zu erfüllen. Die nationale Euphorie überdeckte die noch in der Leipziger Jahrhundertfeier sichtbaren Gegensätze zwischen Monarch und Volk, zwischen Freiheits- und Befreiungskrieg, die im Augenblick des „Burgfriedens“ hinfällig waren. Unter Verweis auf die kriegsbegeisterte, aber ernste, die pazifistischen Appelle auf dem Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner im Jahr zuvor jedoch ausblendende „Haltung der Jugend“ wurde nun der „Geist von 1914“ beschworen, der „dem von 1813 näher verwandt [ist] als dem von 1870“66. Im nationalistischen Lager wurde insofern nicht allein der „Geist von 1813“ 63 Deutsche Worte. Blüten und Früchte deutschnationaler Weltanschauung. Weihe- und Hermannsfest-Reden des Bundeswarts Dr. Friedrich Lange an den Deutschbund und Nachweis über Wesen und Wirken des Bundes seit 1894, hrsg. von Hermann EHRHARD, Berlin 1907, S. 30. 64 S. Deutschvölkische Gedenktage im Gilbhart/Oktober, in: Iro’s DeutschvölkischerZeitweiser (Ein Taschenbuch für das deutsche Volk) 1911, unpaginiert. 65 Deutsche Worte, S. 45. 66 Ernst ROLFFS, Der Geist von 1914, in: Preußische Jahrbücher 158 (1914), S. 377–391, Zit. S. 383. Die Linie von 1813/15 über 1870/71 zu 1913 herzustellen bemüht sich Otto WEDDIGEN (Hrsg.), Festschrift zur hundertjährigen Wiederkehr der Befreiungskriege von 1813, 1814 und 1815 und zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals bei Leipzig, Leipzig 1912.
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angemahnt67; die Jahrhundertfeier von 1913 wurde vielmehr prophetisch zur Einstimmung von „Herzen und Seelen“ auf den erwarteten Krieg verklärt gedeutet, zur, wie die deutschnationale Deutsche Tageszeitung, das Organ des Bundes der Landwirte, schrieb, „Vorbereitung für den neuen Befreiungskrieg von 1914“, in dem sich erfüllen sollte, was 1813 seinen Anfang genommen hatte: Einigkeit, innere Einheit und „politische Großmachtstellung“68. Nicht weniger prophetisch hatte der Historiker und Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen am Beginn des 20. Jahrhunderts vor Weltmachtstreben, vor ‚Hurrahpatriotismus‘ und in diesem Zusammenhang vor den von den Gedenkveranstaltungen am 18. Oktober und 2. September, dem sogenannten Sedanstag, ausgehenden Gefahren gewarnt. Die „Jahrestage der großen Siege“, beschloss Mommsen seine mahnenden Überlegungen, eignen „sich [...] nicht zu Nationalfesten“, da jede derartige Feier alte immer noch blutende Wunden von neuem aufreißt. ‚Gedenkt unendlicher Gefahr, des wohlvergossenen Bluts‘, sagte Goethe am 18. Oktober. Das soll auch ferner geschehen; des 18. Oktober wie des 2. September wird der Deutsche eingedenk bleiben, so lange es ein Deutschland gibt. Aber dazu bedarf es weder der Böllerschüsse noch der Raketen 69.
Nach den „Inszenierungen des Jahres 1913“ verlor der 18. Oktober entgegen Mommsens Prophezeiung zusehends seine Bedeutung als nationaler Gedenkund Erinnerungstag70. Gleichwohl gab es auch in der Folgezeit immer wieder Versuche, ihn politisch zu vereinnahmen, im Ersten Weltkrieg seitens der preußischen und der Reichsregierung: Am Jahrestag 1916 wurden in Berlin öffentliche Goldankaufstellen eingerichtet, wo – wie schon in den antinapoleonischen Kriegen unter dem damaligen Motto „Gold gab ich für Eisen“ – Edelmetalle zur Kriegsfinanzierung abgegeben werden konnten, wofür die Spender einen Teil des Gegenwerts ausgezahlt bekamen und zudem eine Medaille mit der Aufschrift „Gold gab ich zur Wehr, Eisen nahm ich zur Ehr!“ erhielten. In dieselbe Stoßrichtung ging auch die Kampagne für die siebte Kriegsanleihe im Jahr 1917, die am 18. Oktober schloss71. 67 Adalbert W AHL, Die Ideen von 1813. Festrede zur Erinnerung an die Erhebung des Deutschen Volkes i. J. 1813 und zum 25jährigen Regierungsjubiläum S. M. des Kaisers gehalten im Festsaal der Universität Tübingen am 16. Juni 1913, Tübingen 1913. 68 Zit. nach Prophetisches vor hundert Jahren, in: Der Türmer. Monatsschrift für Gemüt und Geist (Kriegsausgabe) 17 (1914), S. 403–405, Zit. S. 403 f. 69 Theodor M OMMSEN, Ninive und Sedan, in: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur 17 (1900), Nr. 47, S. 658 f., Zit. S. 659. 70 SCHNEIDER, Feiern, S. 237. 71 Kay WENZEL, Befreiung oder Freiheit? Zur politischen Ausdeutung der deutschen Kriege gegen Napoleon von 1919 bis 1923, in: Heinrich August WINKLER (Hrsg.), Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004, S. 67–89, hier S. 77.
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Wie schon in den Jahrzehnten zuvor instrumentalisierte nach dem Weltkrieg die nationale Rechte den 18. Oktober. Er sollte „ein Tag der Hoffnung neuen Aufstiegs“ und „ein Appell an die Einigkeit“ sein, und er sollte vor allem „der Festigung unseres Nationalbewußtseins“ dienen, erklärte der ehemalige preußische Kriegsminister Generaloberst Josias von Heeringen im Vorfeld des vom Kyffhäuser-Bund der Deutschen Landkriegerverbände und vom Stahlhelm-Bund der Frontsoldaten vom 17. bis 19. Oktober 1925 durchgeführten Ersten Deutschen Reichskriegertages mit rund 100.000 Teilnehmern72, der mit dem Leipziger Völkerschlachtdenkmal an dem seit 1913 zentralen nationalen Gedenkort stattfand, wo vor mehr denn hundert Jahren Deutschlands Freiheit neu erstritten wurde und wo sich des zum ewigen Gedenken das gigantische Denkmal zum blauen Himmel emporreckt und als Stein gewordene Predigt den gegenwärtigen und kommenden Geschlechtern deutsche Opferfreudigkeit und Glaubensstärke, deutschen Heldenmut und deutsche Tapferkeit kündet!73
Der Nationalsozialismus vereinnahmte mit dem Völkerschlachtdenkmal den Gedenkort, indem verschiedene NS-Organisationen dort Großveranstaltungen durchführten. Das Denkmal wurde zum „Sinnbild der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“74, denn dem nationalsozialistischen Geschichtsdeterminismus zufolge manifestierte sich in den antinapoleonischen Kriegen wie zuvor erstmals seit der Reformation eben jener „Bund“ von „Führer[n]“ und „Masse“, der „uns zum Dritten Reich geführt hat“75. In diesem Sinn verkündete Hitler vor SA-, SS- und Stahlhelmmännern am 16. Juli 1933 vor dem Leipziger Völkerschlachtdenkmal in Erinnerung an 1813: Heute führen wir nicht mehr 13 oder 17 Millionen, sondern das ganze Volk, und deshalb erwächst uns die gigantische Aufgabe, die Millionen Menschen, die innerlich noch nicht zu uns gehören, zu erziehen, zu Soldaten dieses Dritten Reiches, zu Soldaten unserer Weltanschauung76.
Der 18. Oktober hingegen war für die nationalsozialistische Propaganda bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von nachgeordneter Bedeutung. Auf der Großkundgebung am 125. Jahrestag der Völkerschlacht warf der Krieg 72 Steffen P OSER, Bedarf nach einer Feierstätte für den Preis eigener Größe. Zur Instrumentalisierung des Völkerschlachtdenkmals zwischen Erstem Weltkrieg und Mauerfall, in: Volker RODEKAMP (Hrsg.), Völkerschlachtdenkmal, Leipzig 2003, S. 158–177, Zit. S. 161–163. 73 Max WITTRISCH, „Herzlich Willkommen in Leipzig!“, in: Festschrift des I. Deutschen Reichskriegertages in Leipzig am 17.–19. Oktober 1925, bearb. von Alfred THÜRMER, Leipzig 1925, S. 11–13, Zit. S. 11. 74 POSER, S. 166. 75 WIDUKIND, Geschichte des deutschen Volkes, Leipzig 1934, S. 241 f. 76 Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945, hrsg. von Max DOMARUS, Bd. 1, Würzburg 1962, S. 290.
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bereits seine Schatten voraus, wenn der Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten ankündigte: „Der völkische Staat wird für sein Dasein kämpfen müssen“77. In dieser Überzeugung wurde 1939 wie schon bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor allem die Jugend daran erinnert, dass die „völkische Erweckung und Erziehungsarbeit Steins und Scharnhorsts, Fichtes und Jahns im ‚Geist von 1813‘ herrliche Frucht“ getragen hätten78. Sechs Jahre später fanden keine Gedenkfeiern mehr statt. Es erging jedoch im September 1944 der Erlaß über die Bildung eines Volkssturms aller waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren, mit dem – wie es ein NS-Gegner in seinem Tagebuch notierte – „die nationalsozialistischen Geschichtsfälscher“ an die Leipziger Schlacht zu erinnern und eine „Beziehung“ zur Kriegslage von 1944 herzustellen suchten: In einem Augenblick, in dem sich die Heere unserer Gegner anschicken, zum letzten Schlage auszuholen und in Deutschland ihren Einzug zu halten, da glauben die nationalsoz[ialistischen] Hasardeure ihre allerletzte Karte, den ‚Volkssturm‘, ausspielen zu sollen. Hier handelt es sich um einen offensichtlichen Wahnsinnsakt u[nd] eine Erfindung des Teufels!79
Die offizielle Bekanntgabe des Erlasses erfolgte durch Heinrich Himmler am symbolträchtigen 18. Oktober im Rahmen eines Appells der Königsberger Volkssturmeinheiten. In einer im Rundfunk übertragenen Rede erinnerte der Reichsführer SS an den 131. Jahrestag der Leipziger Schlacht, an den im Frühjahr 1813 eingerichteten preußischen Landsturm und dessen in seiner Bedeutung schon seit dem 19. Jahrhundert von der Nationalgeschichtsschreibung überzeichneten Rolle in den Kriegen von 1813 bis 1815. Denn wie damals der Landsturm, sollte nun der Volkssturm in einer nach Himmlers Appell ausweglosen Lage dem Krieg zur Wende verhelfen: Unsere Gegner müssen begreifen lernen: Jeder Kilometer, den sie in unser Land vordringen wollen, wird Ströme ihres Blutes kosten. Jeder Häuserblock einer Stadt, jedes Dorf, jedes Gehöft, jeder Wald wird von Männer, Knaben und Greisen und – wenn es sein muß – von Frauen und Mädchen verteidigt 80.
Im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo weder die antinapoleonischen Kriege noch der 18. Oktober in auffälliger Weise in die Gedenk- und Erinnerungskultur eingingen bzw. infolge der nationalistischen Aufladung bis 1945 da-
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POSER, S. 171. Walther GEHL, Geschichte. Von der deutschen Ostsiedlung bis zum Scheitern der Märzrevolution. 7. Klasse Oberschulen, Gymnasien und Oberschulen in Aufbauform. Ausgabe für das Sudetenland, Böhmen und Mähren, Breslau 1939, S. 215–218, Zit. S. 216. 79 Friedrich KELLNER, „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne“. Tagebücher 1939–1945, hrsg. von Sascha FEUCHERT [u. a.], Bd. 2, Göttingen 2. Aufl. 2011, S. 865. 80 Peter LONGERICH, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008, Zit. S. 733.
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nach kontaminiert waren81, gehörten für die DDR die „Befreiungskriege […] zum gründungsmythischen Wurzelwerk, aus dem der sozialistische Staat seine Kraft zu beziehen suchte“82. In diesem Kontext entstand 1955/56 – begleitet von heftiger Kritik seitens der „Militaria-Experten“ des Museums für deutsche Geschichte in Berlin an der mangelhaften Authentizität der Entwürfe und unter Aufsicht des damaligen Hallenser SED-Chefs und nachmaligen Volkskammerpräsidenten Horst Sindermann – Willi Sittes Historiengemälde ‚Untergang der Napoleonischen Armee in der Völkerschlacht zu Leipzig 1813‘ (heute im Dresdner Militärhistorischen Museum der Bundeswehr)83. Seit Beginn der fünfziger Jahre stellte die DDR die Ereignisse von 1813 in den Dienst ihrer Geschichtspolitik, indem im Anschluss an das nationale Narrativ des 19. Jahrhunderts der „Anteil der breiten Massen an der Befreiung Deutschlands“ herausgestellt, vor allem aber „die entscheidende Unterstützung durch den russischen Bundesgenossen und der damals [1813] bereits vertretene Gedanke der deutschen Einheit“ in den Mittelpunkt gerückt wurden84. Die SED stilisierte die DDR in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Erbin der – seit 1813/15 von nationalbegeisterten ‚Intellektuellen‘ propagierten – deutschen Volksbewegung von 1813 in der Absicht, „eine ähnliche gesamtnationale Volksbewegung auszulösen“ und „die Wiedervereinigung Deutschlands zu einem sozialistischen Nationalstaat zu erreichen“85. Zum Ende der 1970er Jahre war diese Doktrin infolge von Erich Honneckers Zwei-Nationen-Theorie überholt. Im Vordergrund der DDRErinnerungskultur stand aber weiterhin die Sowjetunion, deren Armeen im SED-Verständnis 1945 wie schon die russischen Truppen 1813 Deutschland befreit hätten. In dieser Überzeugung wurde anlässlich der Jubiläen von 1953, 1963 und 1973 am 18. Oktober in Leipzig die deutsch-sowjetische Waffenbrüderschaft und -freundschaft inszeniert. Zugleich ließ sich der Mythos vom Volkskampf für die NVA instrumentalisieren, in der – wie eine Broschüre des DDR-Verteidigungsministeriums 1956 verkündete – „der Geist der Landsturmmänner und Freikorpskämpfer von 1813, der Geist Scharnhorsts, Gneisenaus, Yorcks und Blüchers“ fortlebe, wovon anlässlich des Jubiläumsjahres 1963 eine um Arndt, Stein und Kutusow ergänzte 81
Siehe hierzu z. B. die Rede des jugendbewegten Wilhelm Stählin anlässlich der 50-JahrFeier des legendären Hohen Meißner-Treffens 1963; Wilhelm STÄHLIN, Was bleibt?, in: Werner KINDT / Karl VOGT (Hrsg.), Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte, Düsseldorf / Köln 1964, S. 17–20, hier S. 20. 82 Herfried MÜNKLER, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 450. 83 Siehe hierzu G. Ulrich GROSSMANN (Hrsg.), Politik und Kunst in der DDR. Der Fonds Willi Sitte im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 2003, S. 77 und 189 (Abb.). 84 Friedrich D ONATH / Walter M ARKOV (Hrsg.), Kampf um Freiheit. Dokumente zur Zeit der nationalen Erhebung 1789–1815, Berlin 1954, Klappentext. 85 POSER, S. 175.
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Briefmarkenserie zeugt, und die sich deswegen das Leipziger Völkerschlachtdenkmal zum Traditionsort auserkoren hatte86. In diesem Verständnis wurde bis zum Ende der DDR in den Schulen der im „Vaterländischen Krieg des russischen Volkes“ 1812 errungene Sieg, der dadurch „verstärkte […] Widerstand des deutschen Volkes gegen Fremdherrschaft“ und vor allem das russisch-preußische Bündnis als die entscheidenden Voraussetzungen für den Sieg über Napoleon und seine Bündnispartner vermittelt87. Eine letzte große Inszenierung fand 1988 zum 175. Jahrestag der Schlacht in Leipzig statt. Vor etwa 100.000 Teilnehmern gedachte Volkskammerpräsident Horst Sindermann in seiner Ansprache bei der zentralen Gedenkfeier der Opfer von 1813, aber auch in der Tradition der DDR-Interpretation des Sieges „des Rechts über das Unrecht. In diesem Sinne feiern wir die Völkerschlacht […] als Sieg des Volkes“88. Mit dem Ende der DDR und den Umbrüchen in Europa 1989/90 verloren der Mythos Leipzig 1813 und der Erinnerungstag 18. Oktober endgültig ihre mythenpolitische Bedeutung. Heute wissen nur noch wenige das Datum historisch einzuordnen, anders als im 19. und frühen 20. Jahrhundert: Als Fontanes Protagonist Dubslav von Stechlin einen Dorfschuljungen fragte, wann „Leipzig“ stattgefunden habe, antworte dieser unmittelbar und ohne auch nur eines Moments des Zögerns: „Achtzehnter Oktober. Immer achtzehnter bei uns“89.
86 87 88 89
Zit. nach MÜNKLER, S. 452. Geschichte. Lehrbuch für Klasse 7, Berlin 1989, S. 226–234, Zit. S. 226 und 229. Zit. nach POSER, S. 177. Theodor FONTANE, Der Stechlin [1899], München 3., durchges. und erw. Aufl. 1994, S. 60.
Befreiung ohne Freiheit? 1813 in Russland Von
Denis Sdvižkov Tretet ein, o ihr Befreier! Fort ist nun das Lumpenpack! Seyd willkommen! Seyd uns theuer! Russe, Preuße und Cosack! [August von Kotzebue], Der Abschied aus Cassel. Ein rührendes Singspiel [1813]
In Russland wird die Wahrnehmung der napoleonischen Kriege im Allgemeinen und im Besonderen desjenigen Abschnitts, der in Deutschland die Bezeichnung „Befreiungskriege“ erhielt, zweifellos durch die Schlüsselrolle bestimmt, die diese Ereignisse bei der Herausbildung des kollektiven Gedächtnisses und des historischen Bewusstseins spielten1. Je nach Standpunkt wird der Triumph über Napoleon entweder als Höhepunkt der vorangegangenen Entwicklung des petrinischen Imperiums dargestellt oder als Beginn einer neuen nationalen Epoche, als dessen foundation myth aufgefasst. Diese Schwankungen spiegeln sich sehr deutlich in der Terminologie der napoleonischen Kriege wider, und gerade ihre Veränderungen beabsichtige ich im Folgenden zu untersuchen. Denn während die Begrifflichkeit „Krieg“ mehr oder weniger eindeutig war, unterlag seine Definition im Laufe dieser 200 Jahren in Russland beständigen Wandlungen: er galt als „europäischer“ und „Befreiungs“-Krieg, aber auch als „imperialistischer“ und „räuberischer“. Das Phänomen der Fernkriege war für periphere Mächte immer aktuell – nicht nur für Russland, auch die angelsächsischen Länder und sogar Preußen (der berühmte Ausspruch Bismarcks über die „gesunden Knochen eines pommerschen Grenadiers“). In Russland hatte schon der Siebenjährige Krieg die Notwendigkeit einer „geistigen“ Begründung des Krieges aufgezeigt. Noch offensichtlicher wurde dies in der Epoche der Napoleonischen Kriege, 1 Dieser Thematik widmet sich unser Sammelband: Guido HAUSMANN / Denis SDVIŽKOV (Hrsg.), Posle grozy. 1812 god v kollektivnoj pamjati Rossii i Evropy (Nach dem Sturm. Das Jahr 1812 im historischen Gedächtnis Russlands und Europas) [im Druck]. Verwendete Abkürzungen: IRVIO – Imperatorskoe russkoe voenno-istorieskoe obšestvo (Kaiserliche Russische Militärgeschichtliche Gesellschaft); ISGZ – Istorieskij, statistieskij i geografieskij žurnal (Zeitschrift für Geschichte, Statistik und Geographie); RA – Russkij / Rossijskij Archiv (Russisches Archiv); SO – Syn Oteestva (Sohn des Vaterlandes); VE – Vestnik Evropy (Der Bote Europas); ŽMNP – Žurnal Ministerstva Narodnogo Prosvešenija (Zeitschrift des Ministeriums für Volksaufklärung).
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die eine Mobilisierung aller Ressourcen erforderten. Nach fast einem Jahrhundert ununterbrochener Siege schockierten die Niederlagen der Jahre 1805 (Austerlitz) und 1807 (Friedland) die öffentliche Meinung im Kaiserreich. Seitdem wurde es schlicht unmöglich, einen Krieg jenseits der Grenzen ohne, wie es damals hieß, eine „Lenkung“ der öffentlichen Meinung zu führen. Wesentlich für die Mobilisierung der öffentlichen Meinung wurde die Begründung einer neuen außenpolitischen Mission Russlands – nicht das „griechische Projekt“ des 18. Jahrhunderts und der Kampf mit dem Osmanischen Reich im Süden2, sondern der Schutz des legitimistischen christlichen Europa westlich der russischen Grenzen. Vom Standpunkt der legitimistischen Historiographie führte Russland also in den Jahren von 1812 bis 1814 einen universellen Krieg für die Aufrechterhaltung des traditionellen Systems des Machtgleichgewichts und der Rechtsordnung, die Befreiung Europas, ja sogar „der Welt“3 gegen den Usurpator und Anwärter auf die „Weltmonarchie“. Durch die Erfahrung der vorangegangenen erfolglosen Kriege mit Napoleon und der jeweils vereinzelt erlittenen Niederlagen Preußens 1806 und Österreichs 1809 war die Unmöglichkeit, den Franzosen ohne Verbündete etwas entgegenzusetzen, offensichtlich. Im gleichen Maß wie ideologische Faktoren bestimmten diese Auffassungen kriegsstrategischen Charakters im Voraus, dass seit Beginn des Krieges im Jahre 1812 er als gesamteuropäischer Freiheitskrieg deklariert wurde. „Das Verderben wird sich […] gegen sein [des Gegners – D.S.] Haupt wenden, und das von der Knechtschaft befreite Europa wird den Namen Russlands rühmen“, verkündete bereits einer der ersten öffentlichen Appelle der imperialen Macht zu Beginn des Krieges im Sommer 18124. Diese Einstellung übertrug sich dann auch auf die nächstfolgenden Ebenen – darunter auf so allgemeinverständliche wie die der Kirchpredigten. „Das Denkmal 2 Zum „griechischen Projekt“ siehe Andrej Z ORIN, Kormja dvuglavogo orla […] Literatura i gosudarstvennaja ideologija v Rossii v poslednej treti XVIII – pervoj treti XIX veka („Den zweiköpfigen Adler füttern“. Literatur und Staatsideologie in Russland vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts), oskva 2004, S. 39 ff. Zur geopolitischen Wende in Russland am Anfang des 19. Jahrhunderts: Jarosaw CZUBATY, Rosja i wiat. Wyobrania polityczna elity wadzy imperium rosyjskiego w pocz tkach XIX wieku (Russland und die Welt. Politische Vorstellungen der Machtelite in Russland zu Beginn des 19. Jahrhunderts), Warszawa 1997. 3 Vgl. zum Beispiel: „Alexander ist hinter Rhein! Da, wo der Kaiser [Napoleon – D. S.] das Sklaventum der Welt besiegelte, verkündet Alexander von Russland die Freiheit der Welt […]“. (Nikolaj GNEDI , Rassuždenie o priinach, zamedljajušich uspechi našej slovesnosti (Betrachtung der Ursachen, welche den Fortschritt unserer Literatur verlangsamen), in: Opisanie toržestvennogo otkrytija Imperatorskoj Publinoj biblioteki […] (Beschreibung der festlichen Eröffnung der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek), St. Petersburg 1814, S. 56. 4 Der Aufruf Seiner Kaiserlichen Hoheit an die Einwohner der Hauptstadt Moskau (Polozk, 6. Juli 1812), in: ISGZ 1 (1812), S. 67.
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deiner Siege sei die Freiheit und der Frieden ganz Europas“, rief Bischof Augustin im gleichen Juli 1812 dem Moskauer Adel zu5. Als „vaterländischer“ – kleingeschrieben! – Krieg wurde er am Anfang nur in dem Sinn bezeichnet, dass der Krieg auf dem Territorium des Russländischen Vaterlands geführt wurde, im Gegensatz zum „ausländischen“ Krieg6. Nach zweihundert Jahren der Kampagnen an der Peripherie des Reiches, nicht im russischen Kernland, nahm man dies 1812 als etwas Außergewöhnliches wahr. In einem solchen Koordinatensystem war die Fortführung des Krieges über die Grenzen Russlands hinaus eine gesetzmäßige Etappe des „Kampfes für Europa“7, eines neuen Kreuzzugs – diesmal von Ost nach West. Seine Knotenpunkte wurden von den Zeitgenossen als Schlüsseletappen ein- und desselben Krieges wahrgenommen: Der Brand Moskaus 1812 – die Schlacht bei Leipzig 1813 – und das Finale mit der Einnahme von Paris 1814: „Moskwa, den Feinden eine Flamme des Unglücks, Europa eine Morgenröthe des Heils; aus Moskwas Asche blüht Deutschlands Freiheit, die Unabhängigkeit von ganz Europa hervor“8. Mit der Formierung der Entente in der Sechsten Koalition im Frühjahr 1813 fand die Deutung des Krieges als Gegensatz zweier Europa seine endgültigen Formen, und dies kam in der Terminologie zum Ausdruck. Es betraf in erster Linie die mentale Geographie. Wenn sich das napoleonische Imperium im zivilisierten, Rom beerbenden Süden verortete9, dann vereinigte sich die mentale Geographie der Verbündeten vor allem um den Begriff des Nordens: Der Krieg, der zu einem nationalen geworden ist, hat jetzt [im Jahr 1812 – D. S.] eine Wendung genommen, die mit einem Triumph des Nordens und 5 Bischof AUGUSTIN (VINOGRADOV), Pastyrskoe nastavlenie 28 ijula 1812 goda v Moskovskom Bolšom Uspenskom sobore (Hirtenpredigt am 28. Juli 1812 in der Moskauer Großen Kathedrale der Mariä Entschlafung), Moskva 1812, S. 7. 6 [Dmitrij ACHŠARUMOV ] Istorieskoe opisanie vojny 1812-go goda (Historische Beschreibung des Krieges 1812), St. Petersburg 1813. S. 7; Vgl. etwa noch 1820: „die berühmtesten Ereignisse des vaterländischen und der ausländischen Kriege 1812, 1813 und 1814“, in: SO 7 (1820), S. 94. Siehe dazu Nikolaus BUSCHMANN [u. a.], Kriegstypen: Begrifsgeschichtliche Bilanz in deutschen, russischen und sowjetischen Lexika, in: Dietrich BEYRAU [u. a.] (Hrsg.), Formen des Krieges: Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 17–50. 7 Dominic LIEVEN, Russia against Napoleon: The Battle for Europe, 1807 to 1814, London 2009. 8 Johann Daniel Friedrich RUMPF (Königl. Preuss. Expedir. Secretär bei der AbgabenDirection in Berlin), Alexander I. Kaiser von Russland. Ein Regierungs- und Karaktergemälde, Berlin 1814, S. 95–96. 9 „Il faut […] que le colosse russe et ses hordes ne puissent plus menacer le Midi d’une irruption“, begründete Napoleon die Notwendigkeit eines Krieges mit Russland Anfang 1812, in: Mémoires du général de Caulaincourt, duc de Vicence, grand écuyer de l’Empereur, T.1, Paris 1933, S. 289.
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Jahrbuch für Europäische Geschichte 14 (2013) der glanzvollen Vergeltung für die nutzlosen Missetaten und Verbrechen der südlichen Barbaren enden muss10.
Die gemeinsame „nördliche“ Identität11 bezeichnete den Raum des wahren Europa, das faktisch mit den deutschen Ländern zusammenfiel. Deren Befreiung wurde in Russland zum Ziel der Kampagne von 1813 erklärt: „Wir sind am Rheinufer und Europa ist frei“12. Die russischen Offiziere bezeichneten sich selbst 1813 als „raue Ankömmlinge aus dem kalten Norden“ in den romantischen Traditionen à la Ossian, als Repräsentanten der wahren Freiheit gegenüber der gleichmacherischen aufklärerischen Emanzipation13. Ausgehend von dieser Definition wurde der Krieg der Jahre 1812 bis 1814 in Russland – wie auch in den deutschen Ländern – anfangs mitunter als „nordischer Freiheitskrieg“14 oder „russisch-deutscher Krieg“15 gegen den Süden bzw. Westen bezeichnet. „Jetzt steigt der nordische Riese nach dem warmen Süden, Deutschland vom fremden westlichen Einfluß frei zu machen […] Wer sollte nicht den bärtigen Helden die Hand schütteln [..]“16. Im Laufe der Zeit und unter sich ändernden außenpolitischen Verhältnissen erlosch diese Variante des kollektiven Gedächtnisses allmählich17. Mehr oder weniger ausgeprägt wurde jedoch die Erinnerung an 1812/14 als gemeinsame 10 Alexander Turgenev an Piotr Vjazemskij, 27./29.10.1812, St.Petersburg, in: Ostafjevskij archiv knjazej Vjazemskich (Archiv des Fürstengeschlechts Vjazemskij in Ostafievo), 5 Bde. St. Petersburg 1898, Bd.1, S. 5–8. 11 Dazu Hans LEMBERG, Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom „Norden“ zum „Osten“ Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 33 (1985), S. 48–91, hier 53–55; Denis SDVIŽKOV, Russian and German Images of „the West“ in the Long Nineteenth Century: Entanglements of Spatial Identities, in: Riccardo BAVAJ, Martina STEBER (Hrsg.), German Images of the „West“: The History of a Modern Concept [im Druck]. 12 Schlussworte aus dem russischen Militärbericht Ende 1813 in: Izvestija o sraženii, proischodivšem pod Leipzigom, oktjabrja 4, 5 i 6 1813 goda. S beregov Reina [Nachricht über die Schlacht bei Leipzig am 4., 5. und 6. Oktober 1813. Von den Ufern des Rheins], in: Zapiski, mnenija i perepiska admirala A. S. Šiškova [Notizen, Memoiren und Korrespondenz des Admirals Alexander Šiškov], Bd. 1, Berlin 1870, S. 234). 13 Brief eines russischen Offiziers aus Schweidnitz / widnica (1813), in: SO 28 (1813), S. 52. Über den „Ossianismus“ vgl. Howard GASKILL (Hrsg.), The Reception of Ossian in Europe, London 2004. 14 Carl VENTURINI, Rußlands und Deutschlands Befreiungskriege von der Franzosen. Herrschaft unter Napoleon Buonaparte in den Jahren 1812–1815, Teil 1: Krieg in Rußland 1812, Leipzig / Altenburg 1816, S. 1. 15 Conversations-Lexicon oder enzyklopädisches Wörterbuch für gebildete Stände, Bd. 8, Stuttgart 1818, S. 471–492. 16 Charakterzüge und Anekdoten russischer Krieger. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, Leipzig 1813, S. 1. 17 „Unsere Dichter von damals [Epoche der Befreiungskriege; D. S.] identificirten die Helden des Befreiungskrieges mit den Recken von Norden und den Helden des Mittelalters […] aber einem gesunden Magen konnte diese weichliche Speise, trotz Liebe, Religion und Ehre, auf die Dauer nicht zusagen“. In: Deutschlands jüngste Literatur- und Culturepoche, Charakteristiken von Herman MARGGRAFF, Leipzig 1839, S. 173.
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Vergangenheit Russlands und Deutschlands bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts bewahrt. Zu seinen jungen Jahren merkte Theodor Fontane in den Memoiren noch 1898 an: Russland hatte uns gerettet, bei Existenz erhalten. […] Unerträglich ist es, immer noch in so vielen Büchern und Artikeln der naiven Vorstellung zu begegnen, als habe die Provinz Ostpreußen oder das Yorksche Korps oder die pommersche Landwehr den Kaiser Napoleon besiegt […] Wer jene Zeit noch miterlebt hat, weiß, daß das ganze offizielle Preußen und noch viel, viel mehr das ganze preußische Volk der alten Provinzen […] an dieser fraternité teilnahm18.
Ein anderer regelmäßig gebrauchter Terminus für die Bezeichnung des Krieges war in verschiedenen Varianten osvoboditel’naja vojna / vojna za osvoboždenie, also Befreiungskrieg. Wie von deutscher, so spiegelten auch von russischer Seite die verschiedenen Deutungen des Krieges die Schwankungen des Begriffs zwischen „Freiheit“ und „Befreiung“ wider. Ebenso, wie die russische Kampagne 1812 zwischen einer imperialen und einer „Volks“Version umkämpft war, wurde auch das folgende Jahr 1813 nachträglich zum Schlachtfeld der Interpretationen. Die Initiierung und Organisation des Krieges fiel dem Alten Regime zu, gleichzeitig waren die Legitimisten zur Mobilisierung nationalen Maßstabs gezwungen – was die Konkurrenz von traditionellem und nationalem Paradigma vorherbestimmte. Die Umkehrung der Bedeutungen – die wahre Freiheit (wie auch die wahre Aufklärung usw.) brachten nicht die Heere des revolutionären Frankreich, sondern des Ancien Régime – war natürlich medial eine vorteilhafte Strategie. In sich barg sie allerdings ihre Klippen. Es war von Anfang an erforderlich, den gefährlichen Begriff der Freiheit zu entschärfen. Revolutionäre „Freiheit will bei uns [in Russland – D.S.] niemand, denn niemand wünscht etwas Besseres“, behauptete der Moskauer GeneralGouverneur F. W. Rostopin im Jahre 181319. Bei der „Befreiung“ wurde also die Freiheit in ihrer vormodernen Auffassung impliziert20. Sie bezeichnete in erster Linie eine Verbindung mit Geborgenheit, Ruhe, Sicherheit. Der neue Bund der Alliierten sollte „zur Aufrechterhaltung von Europas Ruhe, Freiheit, Handel und Wohlstand“ führen21.
18 Theodor FONTANE, Von Zwanzig bis Dreissig. Autobiographisches [1898], München 1973, S. 239–240. 19 Pis’mo redaktoru Russkogo Vestnika (Brief an den Verleger des „Russischen Boten”), in: Russkij Vestnik na 1813 god (Russischer Bote für das Jahr 1813), Teil 2, Nr. 5, S. 67. 20 Vgl. Christoph SCHMIDT, Freiheit in Russland. Eine begriffsgeschichtliche Spurensuche, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 55 (2007), S. 264–275. 21 Vgl. die Gravüre von Friedrich Campe (Nürnberg 1815) (http://library.brown.edu/find/ Record/dc1264639968609555 letzter Zugriff 29.11.2012).
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Zweitens meinte der Terminus eine kollektive und äußere Freiheit, die Freiheit des Staates, als Gegenstück zur individuellen bürgerlichen Freiheit22. Hieraus rührte auch die beständige Kombination der Befreiung mit der Unabhängigkeit, die ebenso von oben vorgegeben wurde. In einer Order Kaiser Alexanders für die Armee vor dem Beginn des Feldzugs des Jahres 1813 hieß es: „Soldaten! […] Ihr zieht in den Krieg, um euch selbst Frieden, ihnen [den Nachbarn – D.S.] aber Freiheit und Unabhängigkeit zu bringen“23. Der Terminus Unabhängigkeit / Selbstständigkeit stand oft in einem Zusammenhang mit Wohlstand und Sicherheit in den Aufrufen der russischen Militärbehörden an die Deutschen / Preußen24 wie auch in den Schlüsseltexten von preußischer Seite „An mein Volk“ und „An mein Kriegsheer“, die ihrerseits ins Russische übersetzt wurden25. Schließlich wird die Freiheit/Befreiung in der offiziellen russischen Auslegung immer oktroyiert, unter größtmöglicher Beschränkung des partizipatorischen Elements. In den Worten von A. N. Michajlovskij-Danilevskij, des Adjutanten Kutuzovs und zukünftigen offiziellen Historiographen des Krieges von 1812/14, war das Ziel des Feldzugs 1813, „die Europäer, indem man ihre Aufmerksamkeit auf das wahre Wohl lenkt, zu veranlassen, den Preis der politischen Freiheit, die Russland ihnen zu schenken beabsichtigte, zu fühlen“26. Die von oben vorgegebenen Ideen eines Krieges jenseits der Grenzen Russlands „zum Wohl Europas und der Unabhängigkeit der Völker“27 trafen in Prinzip auf einen breiten Konsens unter den russischen Offizieren, auf die der „Anblick der tiefen Demütigung Deutschlands […] einen qualvollen Eindruck machte“28. Wir verließen Russland und ziehen nun in fremde Länder, aber nicht, um diese zu besetzen, sondern für ihre Rettung. Man muss Europa Frieden und Ruhe schenken, sagt uns der Herrscher, und wir gehen gen Westen 22 Die „Freiheit des Volkes/der Nation“ verstand man in Russland dieser Zeit als Gegensatz zur „privaten bürgerlichen Freiheit“. Vgl. z. B. Nikolaj POLEVOJ, Istorija russkogo naroda, Teil 2, Moskva 1830, S. 60. 23 Vysoajšij Jego Imperatorskogo Veliestva prikaz vojskam, otdannyj v Vilne 25-go dekabrja 1812 goda (Ihro Kaiserlichen Majestät allerhöchster Befehl an das Heer, gegeben in Wilna, 25. Dezember 1812), in: ISGZ 1–2 (1813), S. 32–33 24 Die „Proclamation an die Deutschen“ von Kalisch (25.03.1813) verkündete: „Ihre Losung ist: Ehre und Freiheit. [Wir werden nicht] die Waffen niederlegen, bis der Grund zu der Unabhängigkeit aller Staaten in Europa […] gesichert seyn wird“, in: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen 40 (1813). 25 Die russischen Übersetzungen von Aufrufen Friedrich-Wilhelms III An mein Volk und An mein Kriegsheer in:VE 1–2 (1813), S. 287–292. 26 Alexander MICHAJLOVSKIJ -DANILEVSKIJ, O prebyvanii rossijskoj armii v Kališe (Über den Aufenthalt der russischen Armee in Kalisch), in: SO 7 (1817), S. 72 27 VE 21–22 (1813), S. 146. 28 Nikolaj TURGENEV, Rossija i russkie (Russland und die Russen) [1847]. Teil 1: Vospominanija izgnannika (Erinnerungen eines Vertriebenen), Moskva 1915, S. 4.
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zum Kampf für den Frieden. Bis jetzt kämpften wir für die Ruhe unseres Vaterlandes, nun werden wir für die Ruhe ganz Europas kämpfen,
schrieb der Offizier Vassilij Norov seinen Eltern29. Diese Befreiungsmission war für das kollektive Selbstbewusstsein zweifellos förderlich, und ausnahmslos alle Egodokumente zeichnen das Bild eines Triumphzugs der russischen Befreier durch Deutschland 1813: „Mit welcher Begeisterung man uns empfängt! Der russische Name wird zum Namen eines Verteidigers, eines Retters Europas. Hier bekamen wir eine würdige Belohnung für unsere Mühe“30. Zur gleichen Zeit war es, gleichfalls nach Ego-Dokumenten zu urteilen31, offensichtlich, dass viele, wenn nicht die Mehrheit der russischen Offiziere den Auslandsfeldzug als einer Art Bildungsreise, „Militärtour“, empfanden. A. N. Michajlovskij-Danilevskij schrieb in seinem Journal des Jahres 1813: Jetzt gewöhnten wir uns daran, unsere jungen Offiziere […] von den Bewohnern, von den Meinungen in Frankreich und Deutschland, die sie während der Feldzüge der Jahre 1813, 1814 und 1815 kennengelernt hatten, erzählen zu sehen, aber noch während unseres Aufenthalts in Kalisz [vor Beginn des Feldzugs von 1813 – D.S.] hatten überaus wenige von uns eine Ahnung von Fremden 32.
Mit dem Abschluss des Krieges auf dem Territorium Russlands verlor er für die meisten seine sakrale patriotische Komponente, und die Einstellung ihm gegenüber änderte sich33. Dies zweifellos umso mehr, als das Volk, die Milieus jenseits der Offiziere und gebildeten Adligen, „seinen“ Krieg mit der Vertreibung des Feindes hinter die Grenzen des Landes eindeutig als beendet ansah34. 29 V.S. Norov an S.A. und T.M.Norov, Jelitov 18.02/03.03.1812, in: RA, 1996. N 7. S. 155. 30 Iz dnevnikov russkogo ofizera o zagraninom pochode 1813 goda, in: RA 1900. N 7. S. 286. 31 Vgl. allgemein: Svetlana OBOLENSKAJA, Germanija i nemcy glazami russkich (Deutschland und die Deutschen, von Russen gesehen), Moskva 2000. S. 76–88. 32 MICHAILOVSKIJ-DANILEVSKIJ, O prebyvanii rossijskoj armii v Kališe, S. 75. 33 „Solange der vaterländische Krieg dauerte, hielt ich es für eine Sünde, an etwas anderes als Vernichtung der Feinde des Vaterlandes zu denken. Da ich aber nun im Ausland bin, bitte ich auf untertänigste […], mir den Wladimirorden der 3. Klasse sowie den Georgsorden der 4. Klasse zu schicken“, schrieb Anfang 1813 der Dichter und Partisan Denis Davydov an seinen Vorgesetzten , in: Denis DAVYDOV, Dnevnik partizanskich dejstvij 1812 goda (Tagebuch des Partisanenkriegs 1812), in: DERS., Stichotvorenija. Voennye zapiski (Gedichte. Kriegsmemoiren), Moskva 1999, S. 425. 34 Der Kaufmann Ptr Lobkov fasste zum Jahresabschluss 1812 zusammen: „Es war ein mächtiger Krieg mit dem Franzosen; und Moskau war vom Franzosen besetzt und verwüstet. In demselben Jahr sind sie weggejagt und besiegt worden“, in: Anna SEMENOVA (Hrsg.), Kupeeskie dnevniki i memuary 18-pervoj poloviny 19 vv (Tagebücher und Memoiren der russischen Kaufleute, 18. – 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts), Moskva 2007, S. 132.
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In der offiziellen Version koexistierte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts „die Rettung des Vaterlandes“ 1812 mit der „Heldentat der Befreiung Deutschlands“ 181335. Schon am Ende der Epoche schrieb der offiziöse Literat Nikolaj Gre: „Damals [18121814 – D.S.] war der Krieg mit den Franzosen. Die russischen Herzen bebten vor Eifer, den Zaren und die Throne Europas zu verteidigen“36. Parallel zur legitimistischen Version in Russland, wie auch in den deutschen Ländern, formierte sich gleichzeitig eine andere – das Vaterland als Nation. Der Krieg von 1812 wurde hier als guerre nationale/narodnaja vojna aufgefasst 37. In der sogenannten „russischen Partei“, der neben anderen der Kanzler N. P. Rumjancev, Staatssekretär A. S. Šiškov, der berühmte Moskauer General-Gouverneur F. V. Rostopin und auch Feldmarschall M. I. Kutuzov angehörten, fasste man nationale Interessen eher im Sinn einer anderen peripheren Macht, Englands, auf und schlug vor, der Taktik der splendid isolation zu folgen. Aus taktischen Überlegungen des Gleichgewichts der Kräfte in Europa wie Kutuzov oder aus der historischen Erinnerung heraus (sich an das Negativbeispiel des Siebenjährigen Kriegs, eines fernen Krieges mit unerklärbaren Opfern erinnernd), traten sie gegen die russische Befreiungsmission auf. Nach 1815, mit der endgültigen Festlegung der Nachkriegsordnung, überschätzten die Ergebnisse ihrer Befreiungsmission in vielem auch jene jungen Offiziere, die von den Auslandsfeldzügen mit neuen Eindrücken zurückgekehrt waren. Repräsentativ für dieses „dekabristische“ Paradigma war die Ansicht des Fürsten P. A. Vjazemskij eines Kriegsteilnehmers, der seinem Freund bereits fünf Jahre nach Kriegsende schrieb: Was ist das für eine Macht des Geistes, was für eine Herrschaft der Aufklärung, wenn dieser Leichnam (das Russische Reich – D.S.) an das lebendige Europa Hand anlegen kann? Fragt man mich, wer Europa anführen soll: Frankreich oder Russland in seinem jetzigen Zustand, so würde ich antworten: Ersteres38.
35 Semjon UŠAKOV, Dejanija rossijskich polkovodcev i generalov, oznamenovavšich sebja v dostopamjatnuju vojnu s Francieju, v 1812, 1813, 1814 i 1815 godach (Glorreiche Taten der russischen Befehlshaber und Generäle, welche sich im Kriege gegen Frankreich 1812, 1813, 1814 und 1815 besonders ausgezeichnet hatten), St. Petersburg 1822, S. 297. 36 Nikolaj G RE , Zapiski o moej žisni (Aufzeichnungen über mein Leben) [1856], Moskva 1990, S. 174. 37 Vadim P ARSAMOV, Kulturnye reflexii 1812 goda (ideologema „narodnaja vojna“) (Kulturreflexionen des Jahres 1812 (Ideologem des ‘Volkskrieges’), in: Studia Russica Helsingiensia et Tartuensia X, Bd. 1–2, Tartu 2006, Teil.1, S. 9–27. 38 P. A. Vjazemskij an A. I. Turgenev, November 1819, zit. nach: Vera N AEVA / Sergej DURYLIN, Vjazemskij i Francija (Vjazemskij und Frankreich), in: Literaturnoe nasledtvo 31/32 (1937), S. 77.
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Der im liberalen Offizierskorps entstehenden Bewegung, die im Endeffekt zum Aufstand der Dekabristen im Jahr 1825 führte, lag eine Kritik der Europastrategie des Reiches zugrunde, die den „nationalen Interessen“ Russlands nicht Rechnung trug. Die Xenophobie der jungen Offiziere richtete sich vor allem gegen die Polenpolitik Alexanders I., aber auch, ungeachtet der aktiven Mitwirkung von Offizieren deutscher Abstammung in der Dekabristenbewegung, gegen den „deutschen“ Einfluss in Russland39. Nach 1825 Seit dem Dekabristenaufstand 1825 und dem Polenaufstand 18301831 änderte sich die Reichspolitik unter dem neuen Kaiser Nikolaus I. wesentlich. Der Staat trat nun in der Rolle des Verwalters des „offiziellen Nationalismus“ auf; statt einer Politik der europäischen Integration nahm Russland Kurs auf die Rolle eines „Gendarms Europas“. Mit diesen Veränderungen begann auch die universalistische Deutung des Krieges 1812–14 in der offiziellen Historiographie zu verschwinden. Die Feldzüge der Jahre 1813/14 wurden nicht mehr als Teil eines einzigen europäischen Befreiungskampfes aufgefasst, sondern als eigener „Krieg für die Unabhängigkeit Deutschlands“40. In diesem Geist ist das offiziöse Standardwerk von A. I. Michajlovskij-Danilevskij zur Geschichte des Krieges von 1812/14 geschrieben worden, das auf Anordnung und unter persönlicher Aufsicht Kaiser Nikolaus‘ I. veröffentlicht und in mehrere Sprachen übersetzt wurde41. Inwieweit auch schon im kollektiven Bewusstsein der Krieg des Jahres 1812 von allem anderen getrennt war, wird aus dem Wort eines bekannten russischen Romanciers der Mitte der 1830er Jahre über seinen Helden ersichtlich: „Der Volkskrieg und danach der Krieg in Frankreich waren ein Steckenpferd des Oberstleutnants“42. Mit der allmählichen Erosion des Systems der Heiligen Allianz und dem „kalten Krieg“ am Vorabend der Krim-Expedition wurde der Krieg mit Na-
39 Unter „nemizna“ / Deutschtum verstand man allgemein das „Ausländertum“. Vgl. dazu Hans LEMBERG, Die nationale Gedankenwelt der Dekabristen, Köln [u. a.] 1963, S. 56–64, hier 56. 40 So auch auch der Titel des ersten großen russischen Werkes zur Geschichte des Krieges 1813, siehe Dmitrij BUTURLIN, Kartina osennego pochoda 1813 goda v Germanii. S kartoj teatra vojny za nezavisimost‘ Germanii (Skizze des Herbstfeldzugs in Deutschland 1813. Nebst Karte des Theaters des Krieges für die Unabhängigkeit Deutschlands), St. Petersburg 1830. 41Alexander MICHAJLOVSKIJ-DANILEVSKIJ, Opisanie vojny 1813 goda (Beschreibung des Krieges 1813), Teil 1–2, St. Petersburg 1840. 42 Alexander BESTUŽEV-M ARLINSKIJ, Vadimov [1834], in: DERS., Kavkazskie povesti (Kaukasische Novellen), St. Petersburg 1995, S. 324.
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poleon schon nicht mehr als Zusammenstoß zwischen dem Süden und dem Norden, sondern zwischen Russland und dem Westen/Europa aufgefasst: Der Westen und Russland, Russland und der Westen – […] das soll das letzte Wort der Geschichte sein […]. Napoleon […] hat viel dazu beigetragen, die beiden Elemente dieses Ergebnisses zu prägen. In der Person seines gigantischen Genies sammelte sich der Instinkt des ganzen Westens – und setzte sich gen Russland in Bewegung. Der Westen und Russland stehen voreinander, von Angesicht zu Angesicht. Reißt er [der Westen – D.S.] uns fort in seinem Weltstreben? [...] Oder halten wir in unserer Eigenart stand?43.
Diese These vom unausweichlichen Zusammenprall zweier Zivilisationen – übrigens ein Resultat der russischen Hegel-Rezeption – sollte sich, besonders unter den Slavophilen, weiterentwickeln, nur dass später die Verkörperung des feindseligen westlichen Prinzips von Frankreich auf das neue vereinigte Deutschland überging. Die von Preußen und Österreich im Krimkrieg eingenommene feindselig-neutrale Position rief im nationalen historischen Gedächtnis eher Erinnerungen daran wach, dass auch Deutsche einst zu den „zwanzig Zungen“ gehört hatten, die mit Napoleon in Russland 1812 eingefallen waren, als Erinnerung an das „Befreiungs“-Jahr 1813. Seit dem 50-jährigen Jubiläum der napoleonischen Kriege, am Vorabend der Vereinigung Deutschlands und auf dem Höhepunkt des Januar-Aufstands in Polen (18631864), beherrschte in Russland nationalistisches Pathos schon eindeutig das historische Gedächtnis von 1813. Das Jahr 1813 wurde nun als Schlachtfeld der Interpretationen der Vergangenheit zwischen früheren Verbündeten aufgefasst. Sogar die linksdemokratische Zeitschrift Sovremennik schrieb aus Anlass des Jubiläums der Leipziger Völkerschlacht: Die Deutschen „stehlen uns unseren Sieg über Napoleon“44. Eben jenes Pathos kennzeichnete das neue offizielle russische Kompendium zu den napoleonischen Kriegen. Sein Autor, General Modest Bogdanovi, schrieb im Vorwort, eines der wesentlichen Ziele der Arbeit bestehe darin, „den Vorrang der Russen festzuschreiben“. Wider das Bestreben der zeitgenössischen Deutschen, „die Bedeutung des Einflusses der Russen beim Werk der Befreiung Deutschlands zu verhehlen“, forderte er, „dass die Heldentaten anerkannt werden“, die die russische Armee im Jahre 1813 erbracht habe45.
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Stepan ŠEVYRV, Vzgljad russkogo na sovremennoe obrazovanie Evropy (Meinung eines Russen über die moderne Zivilisation Europas), in: ŽMNP 30 (1841), S. 227. 44 N.N. Pis’mo iz-za granicy (Brief aus dem Ausland), in: Sovremennik 3 (1864): Sovremennoe obozrenie (Zeitgenössisches Feuilleton), S. 10–26, hier S. 21. 45 Modest BOGDANOVI , Istorija vojny 1813 goda za nezavisimost‘ Germanii (Geschichte des Krieges für die Unabhängigkeit Deutschlands 1813), Bd. 1–2, St. Petersburg 1863, hier Bd. 1, S. VI, VIII.
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Vom Standpunkt der breiten Öffentlichkeit übte nichts einen solchen Einfluss auf die kollektive Wahrnehmung der napoleonischen Kriege in Russland aus wie die 1869 in erster Ausgabe erschienene Epopöe Krieg und Frieden vom Lev Tolstoj. Mit der künstlerischen Bekräftigung der Version vom „Volks“-Krieg und der bewussten Beschränkung der Chronologie (die Jahre 1813 bis 1815 fehlten hier gänzlich) im Roman ging bekanntlich ein negatives Bild der Deutschen in russischen Diensten einher. Im bekannten Monolog des Fürsten Andrej kommentiert er ein Gespräch der preußischen Militärs in russischen Diensten am Vorabend der Borodino-Schlacht: […] Diese Herren Deutschen da werden morgen die Schlacht nicht gewinnen, sondern der Sache nur schaden, soviel in ihren Kräften steht, denn in ihren deutschen Köpfen spuken nur immer Theorien, die kein ausgepicktes Ei wert ist, und in ihren Herzen fehlt das, was allein uns morgen von Nutzen sein kann […] Ganz Europa haben sie Napoleon hingegeben und kommen nun zu uns, um uns zu lehren. Schöne Lehre das!46.
Auf der nationalistischen und slawophilen mental map besaß nun „Osteuropa“ unter der Hegemonie Russlands, für das nicht Frankreich, sondern Deutschland mit Österreich der Hauptkonkurrent war, den Vorrang. Den Argumentationsstrang der „russischen Partei“ aufgreifend, bedauerte F. M. Dostoevskij im Abstand von 70 Jahren, dass Russland 1813 den Kampf mit Napoleon überhaupt fortgesetzt hatte: Als wir im Jahre 1812 Napoleon vertrieben hatten, schlossen wir mit ihm nicht Frieden, wie es einige wenige weitblickende Russen wünschten, sondern rückten in geschlossener Front vor, um Europa zu beglücken und es vom Usurpator zu befreien. Das gab natürlich ein schönes Bild […] Aber unser politisches Glück lag damals durchaus nicht in diesem Bilde […] Mit der Bedingung, daß wir in Europa nicht störten, würde er [Napoleon; D.S.] uns den ganzen Orient abgetreten haben, und unsere jetzige Orientfrage […] wäre schon längst gelöst47.
Diese These von der Nachteiligkeit der Befreiung Deutschlands für Russland in der langfristigen historischen Perspektive 1813 wurde dann, besonders am Vorabend des Ersten Weltkriegs, zum Gemeinplatz in der russischen Publizistik48. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschob sich auch die Bedeutung des Terminus Befreiungskrieg. Seit dem Ende der 1870er Jahre bezeich46 Lew TOLSTOI, Krieg und Frieden. Übersetzt von Marianne Kegel, München 1956, S. 1061. Siehe dazu auch Olaf ROSE, Carl von Clausewitz. Wirkungsgeschichte seines Werkes in Russland und der Sowjetunion 1836–1991, München 1995. 47 Fedor DOSTOJEWSKI, Dnevnik pisatelja (Tagebuch eines Schriftstellers), Januar 1881, in: DERS., Sobranie soinenij (Gesammelte Werke) in 15 Bde., Bd. 14, St. Petersburg 1995, S. 505–506. 48 Vgl. etwa [Alexej BAIOV], Kutuzov-Smolenskij, in: IRVIO 4 (1913), S. 157; Ebd. 5–6 (1913), S. 237.
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nete man mit ihm in der russischen Presse vor allem den russisch-türkischen Krieg von 1877/78 – den „Krieg für die Befreiung der Slaven“. Nach dem Berliner Kongress, der diesen Krieg beendet und Russland durch Vermittlung Bismarcks unvorteilhafte Friedensbedingungen aufgezwungen hatte, wurde eine auch an der Annäherung an Frankreich abzulesende Abkühlung der Beziehungen zum neuen Deutschland offensichtlich. Die Jahre 1813/14 verschwanden noch weiter aus den Sphären des fachlichen und allgemeinen Interesses in Russland, die Erinnerung an sie war nur noch für Militärhistoriker relevant. Es ist beispielsweise symptomatisch, dass im Unterschied zu Tolstojs Krieg und Frieden der Roman Vor dem Sturm (1878) von Theodor Fontane über die Geschehnisse am Vorabend des Jahres 1813 nie ins Russische übersetzt wurde und bis heute vollkommen unbekannt geblieben ist. In der Historiographie festigte sich, seit Albert Vandal entsprechenden Vorschub geleistet hatte, eine starke profranzösische Linie, die das beständige strategische Interesse Napoleons an einem Bündnis mit Russland hervorhob49, während das Bündnis mit Preußen als ein temporäres eingestuft wurde. Mit dem Aufstieg der bürgerlich-liberalen Historiographie, die eine Konkurrenz zur legitimistisch-imperialen bildete, wurde der Terminus Befreiung in Anführungszeichen gesetzt. Von vorangegangenen Deutungen des Befreiungskriegs von 1813/14 unterschied sich diese durch eine kompromisslose Kritik der reaktionären Politik der Verbündeten während der Sechsten Koalition und der Heiligen Allianz, insbesondere dadurch, dass sich im Zentrum der Geschehnisse nicht mehr das Reich, nicht einmal die Nation, sondern das Volk befand. Der Konflikt der traditionellen legitimistischen Version50 mit den Liberalen kennzeichnet die Situation vor und während der Hundertjahrfeierlichkeiten 1912/13. Das liberale Lager produzierte zum Jubiläum ein siebenbändiges Kompendium. Auch in ihm wird über 1813 wie über einen Verrat der Interessen des Landes gesprochen, jetzt aber aus den sozialen Motiven der Dominanz des „Gutsadels“ heraus, der im Verbund mit reaktionären Mächten danach strebte, das Erbe der Französischen Revolution zu vernichten: Wir hatten es aus irgendeinem Grund nötig, zur Befreiung Europas zu schreiten, d.h. die Grundsteine für eben jene Macht Preußens und Österreichs zu legen, in der heute all unser politisches Unglück wurzelt […] Die
49Albert
VANDAL, Napoleon et Alexandre Ier, 3 Bde., Paris 1891–1893 (russische Übersetzung oskva 1910–1913). In Russland war diese These vor allem durch Alexander TRA EVSKIJ, Franko-russkij sojuz v epochu Napoleona I (Französisch-russische Bündnis unter Napoleon I.), in: Istorieskij vestnik (Historischer Bote) 44 (1891), S. 568–593) vertreten. 50 Repräsentativ: Vladimir N ADLER, Imperator Alexander I i ideja Svjašennogo Sojuza (Kaiser Alexander I. und die Idee der Heiligen Allianz), Bd. 1–5, Riga 1886–1892.
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Ursache besteht darin, dass die Regierung keine Rücksicht auf die Interessen des Landes nehmen wollte51.
Man kann allerdings nicht sagen, dass sich Russland von dem deutschen Jubiläum 1913 fernhielt. Es wurden materialreiche quellenkundliche Arbeiten herausgegeben52. Auf Privatinitiative, aber mit staatlicher Finanzierung wurde in Leipzig ein russisches Kirchendenkmal eröffnet, in dessen Krypta anfangs sogar ein „Museum des Krieges für die Befreiung Europas“ vorgesehen war53. Im Unterschied zu Frankreich und England war Russland auch auf der Ausstellung zur Jahrhundertfeier der Freiheitskriege in der Jahrhunderthalle in Breslau 1913 breit vertreten. Übrigens betrachteten auch die Organisatoren der deutschen Ausstellung das Jahr 1812 immer noch als Teil des Befreiungskrieges, und nicht von ungefähr stammten viele russische Exponate aus dem Museum des Jahres 1812 in Moskau (das letzten Endes wegen des Ersten Weltkriegs dann doch nicht eröffnet wurde)54. Auf der anderen Seite wurde aber das Jubiläum des Befreiungskriegs in Russland von den eigenen Feierlichkeiten zum dreihundertsten Jahrestag des Hauses Romanov 1913 überschattet. Das allgemeine Interesse konnte sich mit dem des Jubiläums von 1812 nicht vergleichen lassen. Wenn es überhaupt Kommentare zum deutschen Jubiläum gab, dann eher Beschwerden darüber, „in welcher Weise sich die ehemaligen Verbündeten bei uns bedanken“. Charakteristisch war etwa der Vorschlag russischer Militärs, der Schlacht bei Leipzig den Namen „Alexander-Schlacht“ in Erinnerung an die entscheidende russische Rolle in ihr zu geben 55. Die Wohlfahrt der Völker Europas war durch russisches Blut erkauft worden […] Stolz auf die Heldentaten unserer Vorfahren, bemühen wir uns, ihrem Beispiel zu folgen [, …] wenn unser großer Herrscher seine tapfere Armee herbeiruft 56.
51 Alexej DŽIVILEGOV [u. a.] (Hrsg), 1812–1912. Oteestvennaja vojna i russkoe obšestvo (Der Vaterländische Krieg und die russische Gesellschaft), Bde. 1–7, Moskva 1911, hier Bd. 1, S. III f. 52 Vojna 1813 goda. Materialy VUA (Krieg des Jahres 1813. Materialien des Militärwissenschaftlichen Archivs), Bd. 1–3. St. Petersburg / Petrograd 1914–1917. 53 IRVIO 7–8 (1913), S. 336. 54 Jahrhundertfeier der Freiheitskriege, Breslau 1913. Katalog der historischen Ausstellung, 4Breslau 1913, S. 231–266; IRVIO 2 (1913), S. 63. 55 Michail SOKOLOVSKIJ, Naimenovanie Leipzigskoj bitvy Alexandrovskoj (Über die Umbenennung der Leipziger Schlacht in Alexander-Schlacht), in; IRVIO 1 (1914), S. 105, vgl. Galina GERASIMOVA, Gordye veliiem podviga našich predkov („Stolz auf die Größe der Heldentaten unserer Vorfahren“), in: Zagraninye pochody russkoj armii, 1813–1815 (Auslandsfeldzüge der russischen Armee 1813–1815), Saratov 2004, S. 14–19, hier S. 17 f. 56 Pavel ANDRIANOV, Ot Nemana do Reina. Osvoboždenie Evropy ot iga Napoleona (Von Neman bis zum Rhein. Die Befreiung Europas vom napoleonischen Joch), St. Petersburg 1913, S. 56.
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Es erscheinen damals letzte Arbeiten, die den Feldzug von 1813 in Russland noch als „Befreiungskrieg“ bezeichnen – danach verschwindet der Terminus endgültig aus den russischen Arbeiten, neutrale Ausdrücke bürgern sich ein, am häufigsten „Auslandsfeldzüge von 1813/14“. Im Ersten Weltkrieg bezeichnete man mit dem Attribut der „Befreiung“ schon den Kampf im Namen der „vollständigen Freiheit des menschlichen Denkens und Worts“ mit dem „deutschen Joch“, mit der „überlebten Welt des deutschen Absolutismus […] mit ihren schrecklich wahnsinnigen Phantasien, eine weltweite, unumschränkte Anarchie zu errichten“57. Die Verschiebung der außenpolitischen Allianzen führte ganz selbstverständlich zu einer Gleichsetzung nicht Frankreichs, sondern ausgerechnet des deutschen Kaisers Wilhelm II. mit Napoleon.
57 Nikolaj R OZANOV, Osvoboditelnaha vojna (Der Befreiungskrieg), Podolsk 1914, S. 7, 10; Iosif GOLDŠTEJN, Nemeckoe igo i osvoboditelnaja vojna. Sbornik statej po voprosam o vojne i nemeckom zasil’e v russkoj torgovle i promyšlennosti (Das deutsche Joch und der Befreiungskrieg. Gesammelte Aufsätze über den Krieg und die deutsche Übermacht im russischen Handel und der Industrie), Moskva 1915.
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Nach 1917 Nach der bolschewistischen Revolution erreichte das kritische Verhältnis zur „Befreiung“ von 1813, das von der bourgeois-liberalen historischen Schule eingeleitet worden war, seinen Höhepunkt. In Übereinstimmung mit der Beurteilung V. I. Lenins charakterisierte die orthodoxe marxistische Version der Ereignisse (M. N. Pokrovskij) die Befreiungskriege 1813/14 als „imperialistisch“; sie „ersetzten die Errungenschaften der Großen Revolution durch militärisch-politische Kontrolle“ – ja, man sprach sogar vom „Raubzug“58. Wie auch die deutschen Sozialdemokraten, sahen die russischen Marxisten und dann die Bolschewiki den einzigen Wert des Krieges mit Napoleon in seinem Volkscharakter, der levée en masse. Daher ist es beispielsweise alles andere als zufällig, dass ein Gemälde des sowjetischen Malers Aleksandr Dejneka (1928), das das Pathos des Massenelans der Epoche des Bürgerkrieges in Russland vermittelt, in Komposition und Geist das Wandbild von Ferdinand Hodler „Auszug der Jenenser Studenten in den Freiheitskrieg 1813“ kopiert (als Unterschied fällt in der sowjetischen Version vor allem eine Frau im Vordergrund auf).
Alles veränderte sich erneut mit der Rückverstaatlichung des öffentlichen Lebens und der Formierung eines neuen sowjetischen Patriotismus unter 58 „Preußen stürzte die Macht Napoleons […] nicht ohne Hilfe der Räuberstaaten, die mit Napoleon keineswegs einen Befreiungs-, sondern einen imperialistischen Krieg führten“. In: Vladimir LENIN, Polnoe sobranie soinenij (Gesamtausgabe). Oktober 1917 – März 1918, Bd. 35, Moskva 1969, S. 382; Michail P OKROVSKIJ, Vnešnjaja politika Rossii v pervye desjatiletija 19 veka (Außenpolitik Russlands in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in: Diplomatija i vojny carskoj Rossii (Diplomatie und Kriege des zaristischen Russland), Moskva 1923, S. 2–84, hier S. 29–73. Krieg „um die Befreiung Europas“ steht immer in Anführungszeichen.
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Stalin. Wie sich das Diktum vom „Großen Vaterländischen Krieg“ auf der Grundlage des kollektiven Gedächtnisses an das Jahr 1812 entwickelte, wie Hitler in der sowjetischen Propaganda beharrlich mit Napoleon gleichgesetzt wurde, so erlebte auch die Befreiung nochmals eine Transformation. In der ersten, „vaterländischen“ Periode des Krieges „führte das sowjetische Volk einen großen vaterländischen Befreiungskrieg gegen die deutschen Faschisten“59. Das Auseinanderdriften eines einstmals gemeinsamen historischen Gedächtnisses erreichte seinen Höhepunkt. Schinkels Eisernes Kreuz war auch für die Russen ursprünglich ein Symbol der Teilnahme an der Befreiung 1813 – dessen Variante, das „Kulmer Kreuz“, wurde an zahlreiche russische Teilnehmer der Schlacht ausgeteilt. Jetzt wurde es für das Visier der Rotarmisten zur Zielscheibe an den Seitenwänden der Panzer der Wehrmacht und der Flugzeuge der Luftwaffe. Während der Kriegsjahre wurde die These von der „Undankbarkeit“ der Deutschen für die Befreiung erneuert60. Doch schon im zweiten Abschnitt des Krieges wurde das Gedächtnis an 1813 bei der Befreiung Osteuropas benötigt. Auch hier trat die Rote Armee die Erbschaft der russisch-kaiserlichen Armee an. Das Kriegsende fiel gerade rechtzeitig mit dem zweihundertsten Geburtstag Kutuzovs zusammen, der auf direkte Weisung Stalins in den Rang eines großen Feldherrn erhoben wurde – seinem Plan wurde auch der Erfolg von 1813 zugeschrieben61. Die Entstehung der DDR brachte im Zeichen der „deutsch-russischen Waffenbrüderschaft“ eine Restauration des „Befreiungs“-Diskurses der Epoche der Heiligen Allianz mit sich62. Dabei zeichnet sich ein reichlich seltsames Bild ab: Das 1953 in Berlin neu herausgegebene Russisch-Deutsche Volksblatt August von Kotzebues von 1813 zierte beispielsweise der Untertitel „nachgedruckt anläßlich des 35. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“63. Nach der bekannten, die Vereinigung Deutschlands vorschlagenden Stalin-Note von 1952 und dem Kampf mit dem „Kosmopolitismus“ in der UdSSR wurde ausgerechnet das sozialistische Lager als 59
Evgenij TARLE / Anatolij PREDTE ENSKIJ (Hrsg.), Oteestvennaja vojna 1812 goda: Sbornik dokumentov i materialov (Der Vaterländische Krieg 1812: Quellen und Materialien), Moskva 1941, S. VII. 60 „Die tapferen russischen Krieger, würdige Nachfahren ihrer glorreichen Ahnen […] sind wieder hierher, auf diesen undankbaren deutschen Boden zurückgekommen“, in: Michail ŠULENIN, Pamjatnik slavy russkogo oružija v gorode Leipzige (Ruhmesdenkmal der russischen Waffen in Leipzig), [Leipzig] [1949], S. 14. 61 Dazu: Nikolaj K OROBKOV. Osvoboditel’nyj pochod v Zapadnuju Evropu 1813 goda (kutuzovskij period) (Befreiungsfeldzug in Westeuropa 1813 (die Kutusowsche Periode), Moskva 1945. 62 Vgl. Thomas STAMM -KUHLMANN, The German-Russian Comradeship in Arms: Politics of Remembrance in the German Democratic Republic, in: H AUSMANN, SDVIŽKOV, Posle grozy (Nach dem Sturm) [im Druck]. 63 Russisch=Deutsches Volks=Blatt 1813. Eingeleitet von Fritz Lange, [Berlin] 1953. Vgl. auch: Patriotische Kunst. Aus der Zeit der Volkserhebung 1813, Berlin 1953.
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Beschützer der „vaterländischen Gesinnung“ nach dem Vorbild von 1813 stilisiert: Wir erleben in diesen Tagen der Spaltung unseres Vaterlandes wieder einmal, mit welchen Mitteln und Methoden das Nationalbewußtsein unseres Volkes irregeleitet oder gar ausgerottet werden soll, weil das amerikanischen Milliardären und deutschen imperialistischen Räubern von Kohle, Stahl, Chemie und Finanz für die Vorbereitung eines dritten Weltkrieges notwendig erscheint64.
Auf dem Hagelberg unweit von Potsdam wurde 1955 sogar ein neues Denkmal „Zur Erinnerung an die deutsch-russische Waffenbrüderschaft“ eingeweiht. Zum hundertfünfzigjährigen Jubiläum erschienen parallel in der UdSSR und der DDR mehrere offiziell genehmigte Arbeiten über das Jahr 181365. Die DDR identifizierte sich dabei mit dem progressiven Preußen („Ja, Stein und Scharnhorst gehören zu uns […] Wir erfüllen ihr Vermächtnis“), die Bundesrepublik wurde demgegenüber als „Rheinbund-Staat des zwanzigsten Jahrhunderts“ bezeichnet66. Bei allen Vorbehalten, die sich der reaktionären Einstellung der verbündeten Monarchen gegenüber gehörte, vollzog die Geschichte teilweise erneut eine Wendung, und sowjetische Historiker begannen wieder vom „Befreiungsfeldzug (wohlgemerkt großgeschrieben) der russischen Armee in Westeuropa“ zu sprechen67. Die erste Hälfte der 1960er Jahre wurde darüber hinaus zum Höhepunkt der antikolonialen Bewegung. Sie wurde von der Sowjetunion massiv unterstützt – und als Rückprojektion wurde dann auch 1813 als „nationaler Befreiungskrieg“ gegen die imperialistische Macht Napoleons charakterisiert, im klaren Widerspruch zum Standpunkt Lenins68. 64 65
Fritz LANGE, Einleitung, S. V. Ljubomir BESKROVNYJ [u. a.] (Hrsg.), Osvoboditelnaja vojna 1813 goda protiv napoleonovskogo gospodstva (Der Befreiungskrieg 1813 gegen die napoleonische Herrschaft), Moskva 1965; Der Befreiungskrieg 1813, Berlin 1967. 66 Albert NORDEN, Narod vosstal i pobedil, in: Osvoboditelnaja vojna 1813 goda, S. 5–11, hier S. 8. Dt.: Albert NORDEN, Das Volk stand auf und siegte, in: Peter H OFFMANN (Hrsg.), Der Befreiungskrieg 1813, Berlin 1967, S. 1–10. 67 Boris ABALICHIN , Vladimir DUNAEVSKIJ, Oteestvennaja vojna 1812 goda i osvoboditelnaja missija russkoj armii. Itogi i perspektivy issledovanij (Der Vaterländische Krieg 1812 und die Befreiungsmission der russischen Armee: Bilanz und Perspektiven der Forschungen), in: Istorija i istoriki. Istoriografieskij sbornik 1974 (Geschichte und Historiker. Historiographisches Jahrbuch), Moskva 1976, S. 105–147, hier S. 109. Vgl. Boris ABALICHIN, Propaganda der russischen Armee in Deutschland in den Jahren 1812–1813, in: Wissenschaftliche Zeitschrift des Pädagogischen Instituts Zwickau 5 (1969), S. 3–30; Alexej NARO NICKIJ, Heinrich SCHEEL (Hrsg.). Bessmertnaja popeja. K 175-letiju Oteestvennoj vojny 1812 goda i Osvoboditelnoj vojny 1813 goda v Germanii (Die unsterbliche Epopöe. Zum 175. Jubiläum des Vaterländischen Krieges 1812 und des Befreiungskrieges 1813), Moskva 1988. 68 Vgl. etwa Alexander V LASKIN, Nacionalno-osvoboditel’noe dviženie v Germanii i podderžka ego Rossiej (Die nationale Befreiungsbewegung in Deutschland und deren Unterstützung durch Russland), Diss. Kand. Ist. Nauk, Moskva 1964.
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In postsowjetischer Zeit zeigen sich zu unserem Thema widersprüchliche Tendenzen. Einerseits werden die Geschehnisse der Jahre 1812/1813/1814 wieder zusammenhängend im Kontext der europäischen, nicht mehr ausschließlich der vaterländischen, Geschichte als „Großer europäischer Krieg“ gesehen69. Ein Nebenzweig des politisch bedingten Interesses lässt sich darüber hinaus durch die Erschließung Ostpreußens durch die russische Historiographie erklären70. Andererseits hat das Jahr 1812, und nur es allein, dauerhaft Eingang in den Kanon des staatlichen Patriotismus gefunden, der aus der Triade besteht – Ende der Zeit der Wirren 1612, Russlandfeldzug Napoleons 1812 und Sieg über Hitlerdeutschland 1945 – „to attest to the exceptional patriotism of our people, who defended their country and made it a great world power“71. Für die russische Öffentlichkeit als Ganzes bleibt das Jahr 1813 von marginalem Interesse: „Befreiung“ wird im Massenbewusstsein beständig mit dem Zweiten Weltkrieg assoziiert, namentlich umfassend durch die bekannte und nach wie vor beliebte gleichnamige sowjetische Fernsehserie über die Geschehnisse der Jahre 1943–1945. Der Krieg von 1813/14 ist eingegangen in die Kategorie der „vergessenen“ Kriege an der Peripherie Russlands, wie der Siebenjährige, der Russisch-japanische und bis vor kurzem auch der Erste Weltkrieg. Vor unseren Augen änderte sich jedoch die Situation im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg – warten wir ab, ob das Jahr 2013 solche Veränderungen auch für unseren Forschungsgegenstand mit sich bringt. Übersetzung aus dem Russischen: Till Meyer, Korrektur: Ingrid Schierle, DHIM
69 Alexander P ODMAZO, Bol’šaja evropejskaja vojna 1812–1815: Chronika sobytij (Der große europäische Krieg 1812–1815: Chronik), Moskva 2003; LIEVEN, Russia against Napoleon, Die neueste Bestandsaufnahme: Viktor BEZOTOSNYJ, Alexander SMIRNOV (Hrsg). Zagraninye pochody rossijskoj armii. 1813–1815 gody. Enciklopedija (Die Auslandsfeldzüge der russischen Armee. 1813–1815. Enzyklopädie), Bde.1–2, Moskva 2011. Auch Vladimir Putin erwähnte in seiner Rede auf dem Borodino-Schlachtfeld am 02.09.2012 das common European home http://eng.kremlin.ru/news/4349, letzter Zugriff 29.11.2012) 70 Alexander P AN ENKO, Ot „nesastlivoj vojny“ k osvoboždeniju ot napoleonovskogo gospodstva. Vostonaja Prussija v 1806–1813 gg (Von dem „unglücklichen Krieg“ zur Befreiung von der napoleonischen Herrschaft. Ostpreußen 1806–1813), Kaliningrad 2007. 71 Die Rede Putins am 02.09.2012 in Borodino, siehe Anm. 69.
The European Resonance of Napoleon’s Defeat in Spain By
Emilio La Parra / Rafael Fernández Sirvent The military event that sealed the defeat of Napoleon in Spain was the Battle of Vitoria on 21st June 1813, which saw the allied British, Spanish and Portuguese troops led by Wellington gain victory over Joseph Bonaparte’s forces. It was the last great battle of what is known in Spain as the Guerra de la Independencia, in the United Kingdom as the Peninsular War and in France as the Guerre d’Espagne. While a sliver of Spanish territory remained under French control and the war itself went on for a few more months, it was the Battle of Vitoria that marked the end of Napoleon’s rule on the Iberian Peninsula, as symbolised by the departure from Spain of Joseph Bonaparte, the monarch who had been imposed five years earlier to remove the Bourbons from the Spanish throne. The victory in Vitoria resounded throughout Europe and consolidated the rise of Wellington, who was showered with all manner of eulogies, including these enthusiastic words from the Prince Regent, the future George IV, who wrote to him on 3rd July 1813: „Your glorious conduct is beyond all human praise, and far above my reward. I know of no language the world affords worthy to express it“1. Myriad cartoons and engravings from 1813 depicting Wellington as a military genius feature the word Vittoria2. The success was also celebrated in poems published in the newspapers. According to Diego Saglia, following this battle – which, together with other battles fought by Wellington, came to form part of the United Kingdom’s military mythology – the spectacle of the Peninsular War became almost a dress rehearsal for the subsequent celebrations of Napoleon’s defeat in the summer of 1814, the Summer of the Sovereigns3. It was to the action in Vitoria that Beethoven dedicated his Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria (opus 91), an orchestral account of the battle which included the melody of God Save the 1 2
Michael GLOVER, Wellington’s Peninsular Victories, Gloucestershire 1998, p. 107. Examples of the many iconographic depictions of this kind in 1813 include those by Charles Williams and George Cruikshank reproduced in Mark BRYANT, Napoleonic Wars in Cartoons, London 2009, p. 113. The title of the cartoon by Williams speaks for itself: Wellington and Glory, or The Victory of Vittoria. He Came, He Saw, He Conquered. 3 Diego SAGLIA, El gran teatro de España: la Guerra de la Independencia como espectáculo en la cultura romántica inglesa, in: El Basilisco 38 (2006), pp. 55–64.
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King. Premiered in Vienna in 1815, the piece enjoyed many subsequent performances and was hailed as a great success by audiences in London. In 1813, public opinion in Europe attributed Napoleon’s defeat in Spain to the British under the direction of Wellington’s genius; a thesis staunchly defended within the United Kingdom. One of the verses in Robert Southey’s poem Carmen Triumphale for the Commencement of the Year 1814, which claimed that all of the calamities suffered by Spain during the war were insufficient to shake „the Spaniards’ fortitude“, provoked the following reaction in the Edinburgh Review: „this excessive eagerness and partiality has to us, we will confess, something of a ludicrous character“. According to the Review, it was not the Spanish who freed Spain: „it has been liberated entirely by British valour and British enterprise“4. It is to some extent understandable that in 1813 and, even more so, in 1814 and the following years, the role of the Spanish in Napoleon’s defeat was downplayed. The Spanish authorities had appointed Wellington supreme commander of the allied troops, granted him a noble title (Duke of Ciudad Rodrigo) and given him considerable gifts of land. Notwithstanding Wellington’s military merit, such deference could be interpreted as evidence that the Spanish authorities trusted more in him than they did in their own generals. Wellington himself contributed to this view: in his official dispatches and in his private correspondence and conversations, he never ceased to express his disdain for the Spanish troops and their commanders5. On the other hand, while there was much talk in Europe at the time of the war of the ardour shown by the Spanish in their fight against Napoleon, there was also constant discussion of the cruelty of the guerrilla fighters, of their fierce treatment of the French who fell into their hands and of their tendency towards banditry. What was popular heroism for some – particularly for the Romantic poets – was for others savagery and anarchy. Under such circumstances, no matter how effective the guerrillas were in their efforts to wear down the French army – a fact which was widely recognised – they could not be granted a very prominent role in the victory. In the news of the fall of Napoleon, the war in Spain was relegated to second place after the Russian campaign – and increasingly in October 1813, following the Battle of Leipzig (the „Battle of the Nations“). A little later, Waterloo, of course, was above all. In short, at the final gasp of the Napoleonic Empire, the echo of the events in Spain died away and, if the memory of 4 Quoted in Erasmo BUCETA, El entusiasmo por España en algunos románticos ingleses, in: Revista de Filología Española X (1923), pp. 18–19. Within the said poem, Southey sings the praises of Wellington in various battles (Vimeiro, Talavera, Ciudad Rodrigo…) and extols British heroism. 5 Philip Henry Earl STANHOPE, Notes of Conversations with the Duke of Wellington, 1831–1851, London 1998.
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the Peninsular War remained very much alive in the United Kingdom, it was only because of the legend of Wellington6. The resonance of Wellington’s victories on the Peninsula has been the subject of a good number of studies, so it seems inappropriate to dwell on it here. We shall instead focus on other aspects. Firstly, we shall focus upon the repercussion in Europe of the armed uprising of the Spanish people against Napoleon in May 1808; an unexpected event which, when it happened, was interpreted by many as the beginning of Napoleon’s downfall. However, at the same time as waging war, the Spanish patriots, as they were immediately known, also adopted a new political system based on the principle of national sovereignty; a system which not only altered the old structures (the Ancien Régime) but also made a failure of the régénérateur regime that Napoleon had sought to impose in Spain by placing his brother Joseph on the throne. This revolution, which was observed with great interest by various sectors in Europe to the point of becoming a role-model, shall be our second point of focus. The two processes – war and revolution – were linked together; both demonstrated the dual failure – military and political – of Napoleon in Spain. Regardless of to whom the final success was attributed, the war undertaken by the Spanish was a turning point for the French Empire, to such an extent that to which Napoleon himself attributed grave consequences in his confessions on Saint Helena: „[…] cette malheureuse guerre d’Espagne a été une véritable plaie, la cause première des malheurs de la France“7. While the Napoleonic Empire lasted, Europeans focused their interest on the Spaniards’ war which, as it was immediately recognised, did not fit the usual parameters8. In the following decade, the revolution was given centre stage, be it to denigrate it (conservative forces) or to hold it up as an example (patriotic and radical movements). In both cases, the nation was highlighted above all, both in its resistance to the foreign „tyrant“ and in its proposal of new formulas at the same time: theoretical (the liberal, monarchist and Catholic Constitution of 1812) and practical (guerrilla warfare).
6 In 1814–1815, poems extolling the bravery of the Spanish guerrillas were published in the United Kingdom but all of these highlighted above all the actions of Wellington and the British troops. Alicia LASPRA offers an extensive catalogue of testimonies in: La poesía romántica inglesa y la Guerra Peninsular: resonancias de un conflicto, in: Spagna contemporanea 34 (2008), pp. 1–25. 7 Comte de LAS CASES, Le Mémorial de Sainte-Hélène, Paris 1951, t. I, p. 729. 8 Jan Dembowski, Chief of the General Staff of one of the divisions of the Kingdom of Italy sent to Spain, put forward this idea simply but highly expressively in a report sent to his Minister for War in Milan: „La guerra di Spagna è affato differente di tutte le altre guerre. Qui tutta la popolazione impedisce la marcia, o si nasconde tra le montagne“ (Vittorio SCOTTI, La visión del otro. La guerra vista por los italianos, in: Francisco MIRANDA (coord.), Guerra, sociedad y política (1808–1814), Pamplona 2008, vol. 1, p. 726).
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At the end of May 1808, news spread across Europe of the insurrection in Spain. It was then reported that, on 19th July of that same year, General Dupont had been defeated at Bailén (placed between Castile and Andalusia) by a Spanish army led by General Castaños and General Reding, the latter a Swiss officer serving the king of Spain. Such news replaced other very recent reports, also relative to Spain, which told of the disintegration of its monarchy and the easiness with which Napoleon had obtained the rights to the throne. The change was radical. Spain, generally considered a decadent nation, peopled by ignorant and fanatical Catholics, suddenly became the focus of European attention. The news about Spain had a special repercussion in the United Kingdom, where public opinion was demoralised due to the disastrous effects of the continental blockade and the supremacy of Napoleon. England was not in a position to raise a sufficiently strong army to face the grande armée by itself9. It needed allies, but this was no easy task due, among other reasons, to the diplomatic triumph of Napoleon in Tilsit, the occupation of Prussia and the negative international resonances of the British attack on the port of Copenhagen in August 1807, an attack which had also reinforced the position of the Whigs, who considered the war on France a fight against freedom and in favour of despotism. The Spanish uprising had the immediate effect in the United Kingdom of reconciling the government and the opposition. It opened a new fighting front relatively distant from the British Isles and offered elements which satisfied the Tories (the Spanish were fighting for their king and religion) and also the Whigs (the war was being fought by the people for their freedom). The reactions were thus immediate. On 25th May, at practically the same time as which the new Spanish authorities created by the people-at-arms (the Juntas formed in each town) were declaring war on Napoleon, Castlereagh notified the governor of Gibraltar, General Dalrymple, of the change of English policy and his willingness to provide the Spanish patriots with financial and military assistance10. In the British Parliament, the government and opposition agreed to act together. Canning declared that the Spanish nation „becomes ipso facto the ally of Great Britain“ and he expressed the will to fight to restore „the complete integrity of the Spanish dominions in every quarter of the globe“ – a particularly surprising declaration in the light of the United King9 Clive EMSLEY, British Society and the French Wars, 10 Alicia LASPRA, La Guerra de la Independencia en
1793–1815, London 1979. los archivos británicos del War Office, vol. I (1808–1809), Madrid 2010 (the letter quoted on pp. 34–35). The first declarations of war against Napoleon made in Spain by the Juntas that were created as a result of the people’s uprising were pronounced on the night of 23rd May. Castlereagh’s reaction was, therefore, unusually immediate.
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dom’s deportment in Spanish America. From the opposition benches, having declared that „never was anything so brave, so noble, so generous as the conduct of the Spaniards; never was there a more important crisis than that which their patriotism has occasioned to the state of Europe“, Sheridan went on to exclaim: „Now is the moment to let the world know that we are resolved to stand up for the salvation of Europe. Let us then co-operate with the Spaniards“. As Charles Oman notes, Canning and Sheridan spoke with their heart but „their declarations mark a very real turning-point in the history of the great struggle with Bonaparte“11. In short, the Spanish uprising against Napoleon sufficed for the British government to change its policy towards Spain (England and Spain were officially at war since 1804) without awaiting the outcome or the usual diplomatic formalities. As is well known, this change, which led to British military intervention on the Iberian Peninsula, proved an essential factor in Napoleon’s eventual downfall. Very little was known of the complex military and political situation in Spain following the uprising against Napoleon. In England, all of the little knowledge there is was based on information provided by mariners, traders and other occasional travellers, or on the highly biased information published either by the patriotic Spanish newspapers or, at the other end of the scale, the French media. Thus the British government quickly sought to send agents from the Foreign Office and the War Office to Spain, and the information they provided was fed to pro-government daily newspapers such as The Sun, The Morning Post and The Courier. For their part, the Whig Morning Chronicle and the „independents“ The Times and Morning Herald sent correspondents to Spain12. This operation, which marked a major step in the renewal of journalism, helped spread what was happening in Spain across Europe and served to counter the reports of the French media, which was the only permitted source in many places. The inhabitants of the European countries controlled by Napoleon learnt about the French imperial army’s setbacks in Spain or, at least, of its difficulties always from the British press, as well as about the mass mobilisation and resistance of the population and of Wellington’s successes. Although in some areas, newspaper readers had to read between the lines due to censorship and in others, such as almost all of the Italian territories, most of the news was taken from the French media, it can be said
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Charles OMAN, A History of the Peninsular War, London/Pennsylvania 2004, vol. 1, pp. 222–223 (reprint). 12 The procedures used by the British media to obtain information on Spain have been studied by Elías DURÁN DE P ORRAS, Galicia, The Times y la Guerra de la Independencia. Henri Crabb Robinson y la corresponsalía de The Times en A Coruña (1808–1809), A Coruña 2008 and: Corresponsales británicos en la Guerra de la Independencia: la batalla por la información, in: MIRANDA, Guerra, vol. 2, pp. 879–901.
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that Napoleon failed to cover up the war in Spain13. Nevertheless, in the occupied countries those newspapers most keen to extend the rebellion following the example of the Spanish – newspapers such as Friedrich Schlegel’s Österreichische Zeitung and Heinrich von Kleist’s Berliner Abendblätter – were short lived14. In 1808, news of the war undertaken by the Spanish created an atmosphere of euphoria in the United Kingdom, because it was believed to signify the beginning of the end of Napoleonic rule in Europe. At parties and banquets, funds were raised for the Spanish fighters, volunteers stepped forward to fight alongside them and others decided to travel to Spain to witness the great event and, as in the case of Lord Holland and his wife, to provide a boost to pro-Hispanic British circles15. Such was the strength of this wave of Hispanophilia that for several days it was impossible to obtain tickets to attend performances of a play entitled The Spanish Patriots, or A Nation in Arms, which opened in London in August 180816. The impression that „the Spanish exploit“ would have major consequences was a recurring theme in the private correspondence of people of various social ranks. The Whig Philip Francis wrote to his sister that the opportunity had come at last to halt the rise of Bonaparte and, perhaps, to be rid of him for once and for all. On 11th July 1808, Robert Southey expressed to Richard Duppa his concern over the state of Spain, and then declared: […] but I have always said that, if the deliverance of Europe were to take place in our days, there was no country in which it was so likely to begin as Spain […]; there is a spirit of patriotism, a glowing and proud remembrance of the past, a generous shame for the present, and a living hope for the future, both in the Spaniards and Portuguese, which convinced me that the heart of the country was sound, and that those nations are likely to rise in the scale, perhaps, Duppa, when we are sunk. Not that England will
13 Vittorio SCOTTI, Un miroir infidèle: la guerre d’Espagne vue à travers le Giornale italiano de Milan, in: Gérard DUFOUR / Elisabel LARRIBA (eds.), L’Espagne en 1808: régénération ou révolution?, Aix-en-Provence 2009, pp. 159–174 and, by the same author, Los espejos italianos. Visiones diacrónicas y discrepantes de la Guerra de la Independencia, in Emilio LA P ARRA (ed.), La guerra de Napoleón en España. Reacciones, imágenes, consecuencias, Alicante 2010, pp. 177–195. 14 Rainer W OHLFEIL, Spanien und die deutsche Erhebung, 1808–1814, Wiesbaden 1965, pp. 105–133. 15 In addition to the writings of the Hollands, others narrations of travels through Spain also met with publishing success, such as John CARR, Descriptive Travels in the Southern and Eastern Parts of Spain and the Balearic Isles in the Year 1809, London 1811 (Elías DURAN DE P ORRAS, Inglaterra ante la masacre de franceses en Valencia en 1808, in: Actas del Congreso Internacional sobre la Guerra de la Independencia y los cambios institucionales, Valencia 2009, pp. 187–206). 16 Alicia LASPRA, Intervencionismo y revolución: Asturias y Gran Bretaña durante la Guerra de la Independencia, 1808–1813, Oviedo 1992.
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sink yet, but there is more virtue in Spain than in any other country under Heaven 17.
The victory at Bailén, which was reported on 9th August 1808 by The London Gazette, accentuated the idea that Napoleon’s defeat might be imminent, just as the eminent journalist H. Crabb Robinson, sent to Spain by The Times, had insinuated in his chronicle of 2nd August 180818. French exiles in the United Kingdom were, unsurprisingly, much less restrained. The 30th July issue of the periodical L’Ambigu, ou varietés littéraires et politiques, published in London by Peltier, deemed the Battle of Bailén an event „si heureux pour la cause de l’Espagne, de l’Europe et du Monde entier“ which, alongside other Spanish successes, raised hopes for „le triomphe complet de la sainte cause qu’ils défendent“19. Although some of the media sought to temper such enthusiasm, for example The Morning Chronicle, which ran an editorial on 4th August 1808 calling for news of the Spanish victories to be treated with caution because it was generally exaggerated, and although some of the events raised concerns, such as the murder by the people of aristocrats accused of favouring the French (those events evoked the Jacobean France), there is no doubt that the British press attributed great importance to the Spanish uprising. The influential Annual Register opened its 1808 edition with the following statement: „In the history of 1808, the greatest object of attention is Spain. Spain is the centre around which we arrange all other countries in Europe“. Spain – continued – was fighting for its freedom, and „the spirit of liberty has proved invincible“20. The Spanish patriots’ fight for freedom was also extolled in books and poems in which, as studied by Alicia Laspra, heroism against Napoleon was blended with all the various features of the Spanish character (abnegation in the face of adversity; a love of liberty; pride and arrogance; ferocity; an anarchic spirit and suchlike). The titles of some of the works are rather eloquent: The Dawn of Liberty on the Continent of Europe, or The Struggle of the Spanish Patriots for the Emancipation of their Country, which was written by John Agg in July 1808; and England and Spain, or, Valour and Patriotism, a volume of poems penned that same year by Felicia Hemans, two of whose brothers fought in Spain. Even Lord Byron himself decisively helped popularise the Spanish myth in Great Britain with 17
Quotes taken respectively from Charles ESDAILE, Los orígenes de un matrimonio difícil: la Guerra de España vista desde Gran Bretaña, 1808–1809, in: MIRANDA, Guerra, vol. 1, p. 269, and BUCETA, Entusiasmo por España, p. 8. 18 DURAN DE PORRAS, Galicia, p. 383. 19 Quoted from Encarnación MEDINA, Noticia sobre Bailén en L’Ambigu de Peltier, in: Elucidario 4 (2007), pp. 67–72. For the importance attributed in Europe to the surrender at Bailén, see Manuel M ORENO ALONSO, La batalla de Bailén. El surgimiento de una nación, Madrid 2008, pp. 103–113. 20 The Annual Register, or A View of the History, Politics, and Literature for the Year 1808, London 1810, pp. i and ii.
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his Childe Harold’s Pilgrimage. In this work, while he spared no criticisms of the Spanish, he made it patent that Spain was the stage upon which continental tensions were gathering and exploding21. The interpretation of the Spanish uprising as a turning-point in Napoleon’s continental dominance was not exclusive to the United Kingdom. In a report written in Vienna on 4th December 1808, Metternich declared that „la Providence marque des bornes à toutes puissances usurpatrices: l’Espagne fut appelée à sauver l’Europe“ and went on to admit that the war in Spain had revealed Napoleon’s great secret: that he only had the one army, his grande armée22. When news was confirmed of the French surrender at Bailén, Friedrich von Gentz, who had hitherto been highly sceptical of Spain’s chances, confided to Ompteda that „Es ist klar, dass das Glück sich von Bonaparte wendet, dass seine abscheuliche Laufbahn ihr Ziel erreicht hat, dass Europa von Spanien aus gerettet werden kann, wenn es noch den Willen und den Mut hat, sich zu retten“23. Gentz, the chancellor Stadion and the ambassador Metternich believed that the war in Spain was weakening Napoleon, and this was a serious argument for Austria to resume war against the French. None of them wished to go any further than this, but it is evident that the „spanische Faktor“ influenced their reasoning24. The Austrian war manifesto written by Gentz in 1809 declared that the „glorious resistance“ of the Spanish weighed upon the mind of the Austrian emperor, whose lineage maintained very close ties with the Spanish line from whom Napoleon had snatched the throne and liberty. As the unexpected uprising against Napoleon surprised Europe, so did the Spanish people’s capacity for resistance. Their armies suffered continual defeats but did not take long to recover, while at the same time a state of general belligerence had arisen and kept the guerrilla struggle going strong. All of which proved the people’s war in defence of their fatherland to be effective at weakening Napoleon. As a result, calls were made at various locations around Europe for the people to rebel in the name of patriotism. It was the active dissident Kleist who put forward perhaps the most eloquent testimonies in this sense. In Die Hermannsschlacht, written in Dresden in the summer of 1808, he drew clear parallels between the Napoleonic French and the Romans against whom the Cherusci fought under the leadership of the patriotic Germanic hero Arminius-Hermann. This comparison he also defended in another play, Prinz Friedrich von Homburg oder die Schlacht bei 21 Alicia LASPRA, Fictionalizing History: British War Literature and the Asturian Uprising of 1808, in: J. M. ALMEIDA (ed.), Romanticism and the Anglo-Hispanic Imaginary, Amsterdam/New York 2010, pp. 109–132; by the same author, La poesía romántica inglesa; Diego SAGLIA, El gran teatro de España, p. 62; Betty T. BENNETT, British War Poetry in the Age of Romanticism, 1793–1815, New York/London 1976. 22 Prince de METTERNICH, Mémoires, documents et écrits divers, Paris 1880, t. II, p. 242. 23 Gentz to Ompteda, Teplitz, 4th September 1808 (cited by W OHLFEIL, Spanien, p. 154). 24 WOHLFEIL, Spanien, p. 221.
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Fehrbellin, written in 1808/1809, and in Katechismus der Deutschen Abgefasst nach dem Spanischen, zum Gebrauch für Kinder und Alte, a free adaptation of a Spanish catechism published in Valencia in 1808 and translated into Portuguese and French. In this Katechismus, the Prussian Kleist (born in Frankfurt an der Oder), who lived in Saxony, declared himself to be German („mein Vaterland, das Land dem Sachsen angehört, ist Deutschland”) and urged all Germans to unite under the leadership of the Austrian emperor to defend the cause of the German nation rather than the cause of a specific dynasty25. Kleist, like the Spanish people, put the cause of nation before the cause of dynasty. Evidently, the governments of Prussia and Austria were unable to agree with this, as they were convinced that a people’s war in the style of Spain defied the power-that-be and led to chaos. Nevertheless, plans to arm the people were drawn up. But these plans, specifically the mobilisation of reserve soldiers in Austria in May 1808 and the Landwehrpatent of 9th June of that year, did not follow the Spanish model. The Landwehr did not seek to set a popular uprising against the enemy’s regular army, as the Spanish were seen to be doing, but to harness the power of the people and keep it under the strict control of the state’s authority. Likewise, the Gneisenau, Scharnhorst and Clausewitz projects to unleash a people’s rebellion against Napoleon in Prussia were formulated on the margin of the Spanish rebellion, although everything appears to indicate that this event swelled the ranks of those in favour of doing something similar in Prussia. Spain, however, was not the only case to be considered: La Vendée and the 1809 Andreas Hofer rebellion in the Tyrol were also called into consideration. In any case, the Prussian Landsturm edict of 21st April 1813 took special pains to ensure that this force always remained under royal control. Revolution and remembrance of the war Upon his return in 1814 from the château in Valençay in which he had spent the war, Spain’s King Fernando VII abolished the constitutional system and began a harsh persecution of the most prominent liberals. The markedly repressive nature of the new regime repulsed many Europeans, including those 25 Ibid., pp. 251–259; Remedios SOLANO, Un proyecto político para Alemania: Heinrich von Kleist y la Guerra de la Independencia española, in: Espéculo. Revista de estudios literarios 17 (2001), p. 4; and by the same author, La influencia de la Guerra de la Independencia en Prusia a través de la prensa y la propaganda: la forjadura de una imagen sobre España (1808–1815), Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes 2000, http://www. cervantesvirtual.com (query: 18–IX–2012); Gerhard SCHULZ, Kleist. Eine Biographie, München 2007, pp. 407–414. Thanks to Professor Jesús Millán for the many apposite references concerning Kleist.
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who, like Wellington, had never looked kindly upon the political revolution in that country. Once again, the image of the Spanish as fanatically religious, ignorant and cruel people prevailed in Europe. But in January 1820, Spain was the first country to break with the order of the Restoration, employing a method of insurrection that piqued the interest of radical and patriotic movements in other countries, particularly in Italy. The subversive formula they employed responded to the theory of insurrection by pronunciamiento26. The pronunciamiento consisted of an act and a gesture by a military commander, who took the reins of the uprising through a manifesto addressed to the nation. But this pronunciamiento was not the precursor to a military regime: it was, simply, a rite aimed at bringing together en masse the revolutionary liberal circles which were clandestinely organised in each locality and awaiting the opportune moment to take to the streets, proclaim the Constitution of 1812 and bring about regime change. The pronunciamiento must thus be understood as a political strategy to rise to power on the basis of civilians and soldiers jointly conspiring in defence of the same constitutional political ideal. This strategy, characteristic of what Irene Castells has called „Spanish insurrectionary liberalism“, became the archetype for the revolutionary struggle of European liberals, at least until the revolutions of 183027. As Gonzalo Butrón has suggested, one of the keys to the success of the Spanish revolution of 1820 was the link between three sequential moments in time: 1808 (uprising and resistance against Napoleon), 1812 (political revolution based on the Constitution of Cadiz) and 1820 (pronunciamiento against the order established in the European Restoration). The patent continuity between the people’s fight against Napoleon, the external tyrant, and the revolution against internal tyranny fed Europe’s Romantic ideal of the heroic populace willing to give its all in the fight for national independence and political freedom28. The element which best represented this continuity was the Constitution of 1812. This text was the result and expression of the national fight against Napoleon. It adopted liberal revolutionary principles (national sovereignty, division of powers, recognition of the individual rights) and, unlike the constitutionalism of the French Revolution, upheld the monarchy and religion. According to an observation made at the time, it was a kind of „general theo26 Pronunciamiento, guerrilla, junta and liberal (applied to a political group) are originally Spanish terms which have since been adopted universally. 27 Irene C ASTELLS, Le libéralisme insurrectionnel espagnol (1814–1830), in: Annales Historiques de la Révolution française 336 (2004), pp. 221–233. 28 Gonzalo BUTRON, Liberté, Nation et Constitution. Le modèle révolutionnaire espagnol en Italie au début des années 1820, in: Jean-Philippe LUIS (coord.), La Guerre d’Indépendance espagnole et le libéralisme au XIXe siècle, Madrid 2011, p. 177; by the same author, Guerra, p. 113.
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ry“ that could be applied in various European territories, regardless of their particular circumstances29. This explains its international projection during the 1820s. The Spanish Constitution was translated into several languages and, when censorship permitted or was avoided, it became a bestseller 30. In France, where it was barely heard of, 6000 copies were put on sale in 1820. Thanks to the Spanish Constitution, the French – as noted by Gérard Dufour – were able to recall revolutionary principles and perceive the difference between a constitution drawn up by the nation’s representatives and a Charte Octroyée granted by the king31. What happened in France is especially significant, not only because it had been the enemy but also the Guerre d’Espagne had left a very bitter memory there. Even during the years of the conflict, many of the French perceived Napoleon’s failure in this campaign. Despite imperial censorship, letters sent by prominent soldiers, sub-officers and subalterns in Spain reflected the sense of disheartenment caused by the guerrilla war, which had claimed more casualties than the staff and official media would admit. This had a notable effect upon public opinion, to the point where the belief became widespread that what was happening in Spain was the worst that could happen to a French soldier, as said Stendhal. For this reason and due to the extent of conscription, the Guerre d’Espagne constituted the first grounds for the divorce between Napoleon and French public opinion and was a factor behind the ease with which the Bourbons were restored32. However, memoirs published by French soldiers from 1814 onwards did not paint an overly 29
J. G. DE LA MAZA, Reflexiones sobre la Constitución política de la monarquía española, Oviedo 1825, p. XX (cited by Esther GONZALEZ, Érase una vez…una Constitución universal. Especial referencia a la proyección en Europa de la Constitución de Cádiz, in: Historia Constitucional 13 (2012), pp. 290–291). 30 For the overseas projection of the Spanish Constitution of 1812 see, among others: Irene CASTELLS, La Constitución gaditana de 1812 y su proyección en los movimientos liberales europeos del primer tercio del siglo XIX, in: Trocadero 1 (1989), pp. 117–132; Juan FERRANDO, Proyección exterior de la Constitución de 1812, in: Ayer 1 (1991), pp. 207–248; Ignacio FERNANDEZ SARASOLA, La Constitución española de 1812 y su proyección europea e iberoamericana, in: Fundamentos. Cuadernos monográficos de teoría del Estado, derecho público e historia constitucional 2 (2000), pp. 359–457; Vittorio SCOTTI, La Constitución de Cádiz y las revoluciones italianas en Turín y Nápoles de 1820 y 1821, in: Alberto GIL NOVALES (ed.), La revolución liberal, Madrid 2001, pp. 257–262. 31 DUFOUR, El primer liberalismo, p. 129. 32 Gérard DUFOUR, La opinión pública francesa sobre la Guerra de la Independencia, in: Francisco ACOSTA / Marta RUIZ (coords.), Baylen, 1808–2008. Actas del Congreso Internacional „Baylen: su impacto en la nueva Europa del siglo XIX y su proyección futura“, Jaén 2009, pp. 275–299. Conscription also generated major popular discontent in the French-occupied territories but the people’s hatred was not directed at the Spanish, whom they were fighting, but at the French; Marcella AGLIETTI, Echi e memorie in Toscana della Guerra de la Independencia (1808–1814), in: Vittorio SCOTTI (a cura di), Gli Italiani in Spagna nella guerra napoleonica (1807–1813). I fatti, i testimoni, l’eredità. Atti del IV Convegno Internazionale di „Spagna contemporanea“, Alessandria 2006, p. 268.
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negative picture of the Spanish fighters. Naturally, they highlighted their savagery and treated the guerrilla fighters as brigands, but in general it was conceded that the true victors over the Napoleonic troops on the Iberian Peninsula were not the Anglo-Hispano-Portuguese army but „the rebels“, whose temperament and genius was being expressed sui generis through guerrilla warfare. As Jean-René Aymes has observed, there was an underlying paradox in the interpretation of the French memoir writers: while blaming the defeat in Spain on the errors of Napoleon and his marshals, they were at the same time crediting the emperor for having, to his regret, roused the Spanish from their lethargy and incited them to display an exemplary heroism driven by patriotic fervour and monarchist sentiments33. In 1823, when a French army led by the Duke of Angouleme marched into Spain to put an end to the liberal regime, several French admirers of Napoleon, grouped into the so-called „Le Bataillon des Hommes Libres“, came to fight alongside the Spanish liberals in defence of the Constitution, singing La Marseillaise and Le Chant de Départ, as was customary for the soldiers of the grande armée. For their part, the French who were opposed to the regime of the Charte Octroyée, such as the deputy Manuel, did not hide their admiration of the Spanish revolution. The memory of the war against Napoleon and the insurrectional strategy of the Spanish resonated widely across the Italian territories. While no phenomenon similar to the guerrilla war emerged there, the protagonists of the fledgling Risorgimento idealised the guerrilla war, highlighting in particular its nature as a struggle of the people, as shown in an article published by Mazzini in La Giovine Italia in 1833: E il popolo vinse – vinse i vincitori del mondo – vinse il fiore degli eserciti di Napoleone, vinse perché l’odio contro lo straniero […] diventò rabbia, delirio, tormento, religiones […] perché non si parlava mai, s’operava […] perché, ripetiamolo anche una volta, fu guerra di bande contro eserciti regolari […] Fu guerra atroce, molteplice, instancabile, che non dava tregua al soldado, non sonni, non sicurezza di vettovaglie, non asilo coperto. I Francesi erano padrón del luogo ove posavano il piede, non d’altro; e in quello erano assaliti ad ogni ora, e per ogni parte34.
For many Italian patriots, Spain’s war against Napoleon was not only the model to follow to obtain independence from Austria. It was also the prototype of a people’s war against royal armies35. Clausewitz theorised on this aspect in his famous treatise upon war: the transformation of the war in a 33
Jean-René AYMES, Cómo ven los franceses la Guerra de la Independencia, in: MIRANGuerra, vol. 1, pp. 101–120; Natalie PETITEAU, Écrire la mémoire. Les mémorialistes de la Révolution et de l’Empire, Paris 2012. 34 Cited by Vittorio SCOTTI, El liberalismo español e Italia: un modelo de corta duración, in: LA P ARRA / RAMIREZ, El primer liberalismo, p. 339. 35 Giorgio SPINI, Mito e realtà della Spagna nelle Rivoluzioni italiane del 1820–21, Roma 1950, p. 10. DA,
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popular cause in several European countries, a matter for the entire populace and not just for armies, meant a radical change to the principles and classic theory of war36. But of greater interest to the Italians than guerrilla was the Spanish Constitution. Santorre di Santarosa, one of the protagonists of the Piedmontese revolution of 1821, declared that following the revolution in the kingdom of Naples, bookshops were unable to meet the huge demand for that text37. In 1820/1821, the Neapolitan Carbonari and the Piedmontese Federati managed to establish the 1812 Spanish Constitution as fundamental law in their respective kingdoms38. The Piedmont revolution of 1821 was enacted following the schema of the Spanish revolution of 1820: military pronunciamientos, proclamation of the 1812 Spanish Constitution and the establishment of a provisional ruling Junta Provisionale di Governo. This organism published two revolutionary manifestos using the Spanish Constitution of 1812 as a role model. The following declaration appeared in the heading of the first of these manifestos: „In nome della Federazione Italiana, É proclamata la Costituzione decretata dalle Cortes straordinarie di Spagna il giorno 18 marzo 1812“. The second, couched in revolutionary and nationalist language, called for the independence of Italy, announced the end of absolutism and concluded with a cry of „Viva il Re, Viva la Costituzione di Spagna, Viva l’Italia“39. Summation The armed uprising of the Spanish people in May 1808 was initially interpreted in Europe as the beginning of the fall of the French Empire or, at least, 36 Carl von CLAUSEWITZ, Vom Kriege, Berlin 1832. See in particular Book VIII („Kriegsplan“), Chapter 3b („Von der Größe des kriegerischen Zweckes und der Anstrengung“). 37 Santorre DI SANTAROSE, De la Révolution piémontaise, Paris 1821, pp. 92–93 (cited by Juan FERRANDO, La Constitución española de 1812 en los comienzos del „Risorgimento“, Roma/Madrid 1959, p. 11). In 1821, just over 6.000 copies of constitutional texts printed in Naples were intercepted in the port of Livorno, 457 of which were copies of the 1812 Constitution of Cadiz. Also intercepted were 500 Spanish constitutional catechisms (Antonino DE FRANCESCO, Rivoluzione e costituzioni. Saggi sul democratismo politico nell’Italia napoleonica, 1796–1821, Napoli 1996, p. 142). The Spanish Constitution also passed into the collective risorgimentale imagination in Tuscany (AGLIETTI, Echi e memorie, p. 277). 38 For the Neapolitan revolution of 1820 and the impact of this and the Spanish model of revolution on the Risorgimento, see Maria Sofia CORCIULO, Una rivoluzione per la Costituzione (1820–’21) agli albori del Risorgimento Meridionale, Pescara 2009; and also Stuart J. WOOLF, Il Risorgimento italiano. II. Dalla Restaurazione all’Unità, Torino 1981, particularly Part IV (La ricerca dell’indipendenza, 1815–1847). 39 Gonzalo BUTRÓN, La inspiración española de la revolución piamontesa de 1821, in: Historia Constitucional 13 (2012), pp. 82 and 85. The two manifestos can be found in Giorgio CANDELORO, Storia dell’Italia Moderna. Dalla Restaurazione alla Rivoluzione Nazionale, vol. II, Milano 1988, pp. 105–107.
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as an opportunity to end the hegemony of Napoleon. Euphoria was soon followed by disappointment at the continual defeats suffered by the Spanish armies, but this did little to discourage the resistance of the population or to relieve the French army’s constant harassment by guerrilla fighters. Both of which factors, beyond the victories of the allied army led by Wellington, were decisive in Napoleon’s defeat, as he himself admitted. It was perhaps Clausewitz who best expressed the significance of the war waged by the Spanish people: as he wrote in Vom Kriege, Bonaparte’s great army triumphed where only faced with traditional military power, but the reaction came just in time in Spain, when the war itself became a cause of the people. Subsequently, great efforts were made in Austria to mobilise the population, then Russia followed the example of Spain and Austria, and then Prussia followed suit. When the war become a popular cause, it was possible to defeat the immense military power of Napoleon. In Spain, the war against Napoleon was linked with political revolution. Other highly relevant matters aside, this made it considerably more complicated for the Spanish example to be accepted as a role model in Central Europe. This, plus the persecution of liberals unleashed by Fernando VII in 1814, could also be a major factor in the explanation of why, during the time of the Restoration, attempts were made to progressively diminish the Spanish participation in Napoleon’s defeat, accentuating the negative elements of the guerrilla and the inability of the Spanish army and authorities to handle the crisis situation, extremes very much evident in almost all the reports of the British present during the Peninsula War and in the historiography of the 19th century40. In 1820, however, Spain’s insurrectional strategy became a model for Italian patriots fighting for their independence and liberty. Like the Spanish liberals, they closely connected resistance against external tyranny (the fight for national independence) with revolution against internal tyranny (the fight for individual rights and freedoms). As Hermann Baumgarten has noted, the concept of Spanish revolution included both the nation’s struggle against the French invader and the parallel attempts to put an end to the Old Regime41.
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One example of the historiography view is the work by William NAPIER, History of the War in the Peninsula and in the South of France from the Year 1807 to the Year 1814, London 1828–1840. 41 Hermann BAUMGARTEN, Geschichte Spaniens zur Zeit der französischen Revolution, Berlin 1861, p. 586. Francisco SÁNCHEZ-BLANCO, La ‘Revolución española’ y el liberalismo alemán del siglo XIX: Hermann Baumgarten y la historia de España, in: Revista de Estudios Políticos 58 (1987), p. 269.
ANDERE BEITRÄGE
Germany’s struggle for European supplies in the sulphur sector during the First World War Von
Rolf Harald Stensland Introduction During the First World War access to war chemicals was of decisive importance for the warring powers’ ability to maintain essential military and civilian production. Along with nitrogen, sulphur was the most crucial war chemical and work in this area was of major importance for the Central Powers’ supply authorities. Since the Entente powers blocked imports from Iberian mines under their control, increasing significance was attached to imports from the neutrals Italy and the Scandinavian countries Norway and Sweden. But as Italy made common cause with the enemy and the Central Powers were denied imports of Italian sulphurous products, they had to concentrate even more on alternative sources. The focus on Scandinavian pyrites intensified from the summer of 1915. The Central Powers had to solve internal competition as well as competition from the enemy, and the situation called for coordinated action. In the autumn of that year and in the following spring a supply agreement was established and implemented between Germany and Austria-Hungary concerning the purchase and distribution of sulphurous products, with pyrites from Scandinavia, occupied Serbia and AustriaHungary as key elements. Focusing on Germany’s requirements and Germany as leading coordinating power, this article first gives an account of the German attempt to import sulphurous products from Italy and the results of this. Thereafter it concentrates on the main processes culminating in the supply agreement with Austria-Hungary. The content and results of the agreement is considered. The article sheds new light on the German supply efforts during the First World War, the country’s cooperation with its main Central European ally and both powers’ relations to other states in an important procurement sector. Industrial requirements and dependence on imports The need for sulphurous products, pure sulphur and pyrites, both before and during the war, was related to the chemical industry’s consumption of sulphur in the production of sulphuric acid, an essential intermediary product
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used in the production of a number of products for civilian requirements. Above all else, sulphuric acid was needed for the production of artificial fertilizer, the cellulose and paper industry and the pigment industry. Sulphuric acid was also necessary for the production of ammunition, partly for civilian purposes, but also for military needs, where the increasing importance of artillery during the First World War was dependent on the supply of sulphuric acid. The importance of sulphur cannot be underlined strongly enough: It was indispensable for the production of ammunition and necessary for the maintenance of prewar civilian production during the war, the socalled „Peace Industry“, („Friedensindustrie“)1. Before the war, Germany covered around 20% of its industrial pyrites requirement from domestic sources, preference being given to the qualitatively superior Spanish pyrites which also contained commercially exploitable copper. But it came from the British-controlled Rio Tinto Company. Norway covered less than 5%, while virtually nothing came from Sweden. Germany also had to import pure sulphur, and in the pre-war period Italy was by far the largest supplier, accounting for more than 80% of German imports (Appendix 1). The figures show that Germany was highly dependent on imports of sulphurous products in the pre-war period, making the country vulnerable if a war were to cut off supplies from outside sources. German stocks of sulphur and alternative sources of supply in a wartime situation On the outbreak of war, Germany’s total sulphur stocks were sufficient to meet a peacetime consumption for about six months. The immediate procurement situation was far better than for nitrogen, and the perspective for covering both military and civilian needs with sulphur through a war of several years, can be characterized as promising2. But consumption in the military sector was rapidly increasing and worried the authorities. After the failure of the Schlieffen plan Germany had to prepare for a prolonged war on several fronts and it became imperative for the recently established war supply organisation, KRA (Kriegs-Rohstoff-Abteilung), a division of the Prussian War Ministry, to find additional sources of sulphur. This work was done 1 Concerning the German chemical industry’s pre-war consumption of pyrites (June 1 1913 to June 30 1914), see Geschäftsordnung über die der Kriegschemikalien A. G. angegliederte Abteilung Uebergangswirtschaft. Bundesarchiv R 8729/66, p. 15 et seq., and Entwurf zu einer Bundesratverordnung zur Uebergangs-Wirtschaft für Schwefelkies. R 8729/66, p. 25 et seq. „Schwefelsäure“, „Ein Rohstoff gleicher Wichtigkeit wie die Salpetersäure […] für die Herstellung der Pulver und Sprengstoffe“, in: Max SCHWARTE, Die Technik im Weltkrieg, Berlin 1920, pp. 537, 95–97. 2 Based on a comparison between existing stocks, future sources and needs. See also Bericht über Chemikalien, Berlin Dezember 1916, R 8729/65, p. 13.
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by the war supply company Kriegschemikalien AG, formally a private limited company with Germany’s largest chemical firms as shareholders, but controlled by KRA. From the end of 1914 Kriegschemikalien intensified its efforts to increase access to sulphur primarily for military, but also for civilian purposes, but despite this Germany’s sulphur stocks developed negatively. In the first two years of the war sulphur stocks fell by as much as 60% (Appendix 2). It can also be shown that the stocks were in continuous decline from the summer of 19153. In the first half of the war, the expected and actual reduction in national stocks of sulphur placed constant pressure on the German supply authorities to maximise their efforts to secure better access to sulphurous raw materials4. Among various steps taken by KRA during the war to improve the supply situation, one of the main initiatives was to increase the level of domestic production, and here pyrites from Germany’s own mines in Meggen in Westphalia had by far the greatest potential. Following the takeover of the mines by Kriegschemikalien early in 1915, there was a steady increase in production. These mines were soon to become the main source of supply of sulphur for the production of gunpowder and explosives for military purposes5. Germany also used sulphur and pyrites from spoils of war in the production of ammunition. Before the war Germany had good access to domestic sources of zinc blende from which sulphur could be extracted and used in the production of sulphuric acid (Appendix 1). Mines in Silesia covered more than 70% of the German pre-war production of zinc blende6. Germany imported around 20% of what was used to produce sulphuric acid. Much of the raw material came from countries like Australia (55%) and Italy (16%)7. During the war the enemy was in position to stop Germany from further imports, which caused a more intense domestic production. Domestic zinc blende was gradually able to provide about 20% of the sulphur produced by Germany itself and it was used for both civilian and military purposes. Before the First World War most of the production of sulphuric acid was needed to cover civilian requirements. During the war a great number of chemical firms got contracts with the Prussian War Ministry, their production 3 4
Ibid. See f. ex. 9. Protokoll. Der Schätzungs- und Verteilungs-Kommission vom 15. 12. R 8729/68, p. 51. 5 Kriegschemikalien. Monatsbericht für das Reichsamt des Innern für Mai 1915, R 8729/15, p. 39. The German efforts to increase production of pyrites in Meggen have been treated by Rolf Harald STENSLAND, Deutschlands Schwefelbedarf und die Notwendigkeit zum Friedensschluss mit Sowjetrussland im Ersten Weltkrieg, in: Der Anschnitt 4 (2009), pp. 255–273. 6 Schwefelsäure-Industrie, R 8729/143, p. 9. 7 Ibid.
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was mostly based on pyrites from Meggen. The amount of sulphur used in the production of ammunition gradually increased. From the spring of 1916 Germany’s military consumption exceeded the amount used for other purposes8. Domestic sources had to be used more intensively, primarily to secure military needs. However, the German production was insufficient to cover needs in both sectors and had to be supplemented. Therefore, the other main initiative was aimed at offsetting the loss of Iberian pyrites through imports from neutral countries, i.e. Italy and the Scandinavian countries. From December 1914 there was an increased focus on Italy, Norway and Sweden. From the autumn of 1915 imports of pyrites from Norway and Sweden were channelled through a specially established supply organisation which was administratively linked to Kriegschemikalien. Although the Scandinavian pyrites should be used by the chemical industry in areas other than ammunition, German authorities considered the imports to be very important in order to reduce the pressure on their own sources9. Imports of pyrites from Italy and AustriaHungary was reserved for the military sector, and it can be documented that this was the case also for sulphur from Italy10. The Italian alternative Before the war, Italy had been a major supplier of sulphur to European countries, in particular to France, Austria-Hungary and Germany. In 1913 France and Great Britain accounted for 26 % of Italian exports and the two central powers for 23%. The outbreak of war between Italy and Austria-Hungary on 23 May 1915 led to the stoppage of exports to Austria-Hungary. Italian exports to Germany had plummeted in 1914, but recovered to some extent in 1915, relatively Germany defended its position. But from 1916 there is no record of exports to Germany. From 1915 Italy’s allies – France and Great Britain – were the dominating importers of Italian sulphur, accounting for as much as 57% in 1916 and 80% in 1918 (Appendix 3).
8 9
R 8729/65. The alternative production, Ersatzschwefel, was also to be channelled through this organisation, Verwaltungsstelle für private Schwefelwirtschaft. The main raw materials to be used in alternative production were to be the sulphurous materials gypsum and magnesium sulphate (Kieserit). Starting in the autumn of 1915, attempts were made to boost the degree of self-sufficiency, but this met with little success. See STENSLAND, Zur Ersatzproduktion im Ersten Weltkrieg – Schwefelbeschaffung und -bewirtschaftung in Deutschland, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2009, pp. 173–194. 10 Also pyrites from Romania and spoils of war was reserved for the military sector. Bewirtschaftung von Schwefelkies während des Krieges. Importkies und einheimische Kiese ausser Meggen, R 8729/111, p. 8. As to Italian sulphur, see R 8729/15, p. 136.
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From the end of November/start of December 1914 the German supply authorities had considered purchasing sulphur from Italy. The impression given is that German industry had taken an aggressive stance, with statements to the effect that it should be possible to import 1 million tons of sulphurous raw material from Italy over a period of three months. The board of directors of Kriegschemikalien was asked to approve the purchase of both sulphur and pyrites11. But how much Italian sulphur was actually purchased by Kriegschemikalien during the war? Table 1: Kriegschemikalien’s purchases of Italian sulphur. Tons Up to the end of
Bought
Imported to Germany
April 1915 May 1915 June 1915 Oct. 1915
23 700* 23 700* 23 700* 23 700
13 000 18 000 20 200 20 240
% imported of bought 55 85 85
% sold of imported sulphur 12 14 15 37
*Around 27 000 tons registrated, later reduced to about 23 700 tons. Source: Kriegschemikalien, Abt. Schw. Monatsberichte für das Reichsamt des Innern, R 8724/15, R 8729/84.
In December 1914, orders were placed for 12 000 tons of sulphur12. This quantity was doubled by the company in the period up to April/May 1915. But as a result of the war between Italy and Austria-Hungary Kriegschemikalien was unable to make further purchases from Italy. As late as the end of April Kriegschemikalien reported that exports from Italy continued without disturbances13. By the time of the Italian declaration of war against Austria-Hungary 85% of what had been purchased had arrived safely in Germany. The remaining was annulled or on its way from the ItalianAustrian border to Germany, about 3 500 tons was stored in Italian harbours and this consignment was transferred to a Swiss company14. From the end of 1915 Kriegschemikalien gave up trying to import this consignment and concentrated on selling it in Italy during the spring 1916 with the assistance of the Swiss company. In March 1916 Kriegschemikalien had sold its sulphur in Italy15. If Kriegschemikalien ever hoped using the Swiss company to import 11 5th and 7th Protokoll der Sitzung der Schätzungs- und Verteilungs- und SchwefelsäureKommission, 25. November 1914, R 8729/68, pp. 29 and 37–38, respectively. 12 Ibid. 13 R 8729/15, p. 25. 14 31. May 1915, R 8729/15, p. 40. 15 R 8729/15, p. 130, 142, 147 and R 8729/84.
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the sulphur to Germany, this failed, indicating that Switzerland did not function as transit country for Italian sulphur to Germany. It can be estimated that Kriegschemikalien’s imports from Italy, accounted for 43% of Germany’s total annual imports of sulphur before the war, and around 52% of the annual imports from Italy (1912)16. The amount of sulphur which Germany managed to procure from other quarters was modest by comparison, since Kriegschemikalien was responsible for the vast bulk of sulphur imported by Germany. At the end of 1915 Kriegschemikalien had sold only around 40% of the imported sulphur, which can be explained by the military sector’s priority to the production of pyrites from Meggen. German import of pyrites from Italy was included under the supply strategy drawn up in the late autumn of 1914. It is reported that in mid-December Kriegschemikalien purchased 30 000 tons of pyrites in Italy, but export permission was refused because the pyrites was a cuprous contraband product17. In the period up to the outbreak of war between Italy and Austria-Hungary Kriegschemikalien had in fact purchased 22 000 tons of pyrites from Italy that could not be exported18. The company explained this as a result of the outbreak of war between Italy and Austria-Hungary. The company asked the German authorities to assist and have imports of pyrites from Italy included as part of the German-Italian compensation trade. As a result of this initiative, the Italian government released 3 000 tons of pyrites within the framework of the compensation trade, but the consignment was not exported before war was declared. Thereafter, Kriegschemikalien made no further attempt to import pyrites from Italy. In search for more sulphur Kriegschemikalien wished to import zink blende from Italy, but in April the Italian government prohibited exports also of this raw material, and the company therefore had to rely on German producers19. Imports of Italian sulphurous products was no doubt very important for Germany during the war, probably a specific reason why the Germans as long as possible tried to avoid war between Italy and Austria-Hungary, and after May 1915 wished to avoid a German-Italian war, a policy that failed from August 1916. Very uncomfortable with the dramatic reduction in stocks during the second half of the war, a primary goal for the 3. German High Command was to re-establish the imports of Italian sulphurous products20. 16 Based on import statistics from Die chemische Industrie. Verfasser unbekannt. Zeit der Abfassung: Ende 1916. R 8729/62, p. 5. 17 9. Protokoll der Sitzung der Schätzungs- und Verteilungs- und SchwefelsäureKommission, 15. Dezember 1914, R 8729/68, p. 49. 18 Kriegschemikalien, Abt. Schw. Monatsberichte für das Reichsamt des Innern, 8724/15, 8729/84, Bl. 1 et. Seq. 19 R 8729/15, p. 18 et seq. 20 Ludendorff to von Kühlmann, 23.12.1917. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, R 22361/1.
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The Scandinavian alternative – a diversity of players in the market With the hindrances to supplies from Italy and their final disappearance from the spring of 1915, the Central Powers’ interest in Scandinavia increased. From the German perspective, it was a matter of the greatest concern that the nation’s sulphur stocks had fallen in the period from the summer of 1915. Efforts had to be intensified to increase imports of Scandinavian pyrites, but several players were active in the market. One problem related to buyers acting on behalf of enemies or neutral parties, while another was the internal competition between German buyers, and a third problem was the competition from Austria-Hungary. There was little that Germany could do about the competition from enemy and neutral quarters, but German purchases could be co-ordinated, and steps could also be taken to co-ordinated purchases with buyers in Austria-Hungary. There were two categories of German buyers. The first consisted of private companies which, when war broke out, had pre-war contracts which had not yet been taken out and which continued to buy pyrites via import companies after the outbreak of war. These consumers had stocks which could be topped up during the initial phase of the war. But as 1915 progressed, the stocks became greatly depleted and supplies dried up. Some of the German consumers switched over to the production of sulphuric acid for ammunition, based on pyrites from Meggen, and in some cases supplemented with zinc blende which was rationed by Kriegschemikalien. They could continue with traditional production, Peace Industry, again on the basis of raw material quotas21. A third approach was to reduce the volume of business, which was particularly detrimental to companies which did not reorganise and get involved in production for the war effort, since they had great difficulty procuring raw materials and maintaining both turnover and the workforce. Another group which was actively involved in imports consisted of a large number of public organisations and war materials companies which had been established in the initial period of the war. The war materials companies Kriegsmetall and Kriegschemikalien had been set up by the largest German concerns in the respective areas of production. The companies entered into contracts with the import companies, which might also be shareholders of the war materials companies. An increasing proportion of the imports from Italy was taken over by the war materials companies. The activities of these companies were based on instructions from the authorities, and this was understood by the companies to mean that they were licensed to have a privileged 21 The authorities confiscated war materials and sulphurous raw materials from the summer of 1915. The raw materials were released for civilian industrial production. Protokoll, Sitzung der Schätzungs- und Verteilungs- und Schwefelsäure-Kommission R 8729/68, Protokoll, Sitzung des Aufsichtsrates der Kriegschemikalien AG., R 1501/10.
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position within their specific supply areas. However, in the spring of 1915 many parties were involved in import activities, to the consternation of both the war materials companies and the authorities. The extent of their displeasure and the steps taken to improve the situation are apparent from the reports prepared by the war materials companies themselves, and also from the reactions of the authorities. Steps taken by the German authorities at national and allied level As early as January 1915 Kriegschemikalien reported that buyers of sulphur and pyrites „are making business difficult and causing prices to spiral“. The company therefore promoted steps to have import activities regulated, and that Kriegschemikalien should have a monopoly on imports of sulphur products. It was also a source of irritation to the company that public bodies involved in the supply sector did not have a proper understanding of its area of work. This reduced the effectiveness of the efforts being made to procure raw materials for Germany22. The authorities were represented in the war materials companies by state commissars, and these concerns were passed on at meetings with the Chancellor as represented by the Reichsamt des Innern. An important initiative was announced by the Chancellor in March when the view was expressed that the country’s supply situation was suffering because of the large number of parties involved in this area and lack of co-ordination of these activities. This applied especially to organisations working to provide Germany with food, raw materials and animal feed products. It was considered imperative that Germany should have a co-ordinating „central body“ – a function which the Reichsamt des Innern wished to have. For its part, the Prussian War Ministry made it clear that the war materials companies, such as Kriegschemikalien and Kriegsmetall were its responsibility for military purposes, but it recognised the need for the civilian Reichsamt des Innern to have a coordinating function, „especially for the purpose of establishing uniform purchasing procedures“, the War Minister approved 23. The content of this function would be as follows: Reichsamt des Innern would ensure that there was an exchange of information about purchasing negotiations and limit the participation at negotiations in order to prevent any unnecessary upward pressure on prices. This would help to ensure that the 22 Protokoll der Sitzung der Schätzungs- und Verteilungskommission, 25.1.1915, R 8729/68, p. 61 and Monatsbericht für das Reichsamt des Innern für den Monat April 1915, R 8729/15, p. 17. 23 Kriegsministerium an Reichskanzler (Reichsamt des Innern), Berlin, 11.6.1915. R 1501/118771, pp. 50–51. Reichskanzler (R.A.d.I.) an Kriegsminister, Berlin, 27.6.1915. R 1501/118771, pp. 52–53.
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same kind of goods were not bought in the same place by several German parties. Following the outbreak of war, restrictions on exports had become an increasing obstacle to international trade. Essential goods could therefore only be exported against compensation in the form of goods which were needed by the exporting country, and the buyer’s imports were supposed to be in line with what was needed by the home country. The need to coordinate buying activities was also motivated by Germany’s need to optimise the country’s compensation trade, and here the Reichsamt des Innern had a role to play. The co-ordination function was partly based on frequent meetings with representative from the companies, and partly on monthly reports from the war materials companies concerning their activities, and where the most information was the data related to purchase of raw materials, sales and stocks24. Hardly less important than chemicals was the Central Powers’ need for war metals. The competition for raw materials abroad was also a matter of such concern for Kriegsmetall that in June 1915 the company submitted a recommendation proposing the reorganisation of the way metals were purchased from abroad. The company claimed that in the first phase of the war it was possible to continue peacetime trading practices. But a number of factors showed that this no longer served the best interests of Germany’s supply situation – the blockades, fewer offers, the increasing competition for raw materials and the recent escalation in metal prices which was a consequence of German and Austro-Hungarian companies and public procurement organisations out-bidding each other. The situation now was that „free competition was not in accordance with German interests“. The company also sought to increase the usefulness of the compensation trade and therefore wish to see „centralised the exchange of goods“. It was not sufficient that co-ordination of this kind only covered German private and public parties. It also had to eliminate the competition from Austria-Hungary. Kriegsmetall’s advance contact with its counterpart, Metallzentrale in Vienna, showed that there, too, the plan was to establish an agreement for the purchase and division of imported metals25. At the end of June the German authorities discussed metal purchases from abroad with the War Ministry in Vienna. Kriegsmetall would thereafter administer most of the metal imports, and the plan was for this to be divided between Germany and Austria-Hungary on a percentage basis26. 24 Kriegschemikalien, Bericht für das Reichsamt des Innern. Monthly from April 1915. R 8729/15. 25 Denkschrift über die Organisation der Ein- und Ausfuhr von Metallen. Kriegsmetall Aktiengesellschaft 21. Juni 1915. Rep. 120, No. 84 pp. 244–253. 26 The parties represented were the Kriegsministerium, Ministerium für Handel und Gewerbe, Auswärtiges Amt, Reichsamt des Innern, Reichsmarine-Amt, the War Ministry in Vienna and Kriegsmetall AG. Niederschrift btr. Regelung der Ein- und Ausfuhr von Metallen, Berlin, 3.7.1915. Rep. 120, No. 84 pp. 239–244.
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In the sulphur sector, internal competition in Germany on the purchasing side could not be abolished with immediate effect. This was presented as a problem by Kriegschemikalien in its report for May 1915, and also the purchases that „apparently“ were being made by the English. It is at this point the company first mentions competition from Austrian buyers27. This indicates that the Austrians were intensifying their purchasing activity in Norway and Sweden because of the deterioration in sulphur supplies following the breakout of war with Italy. In the summer of the same year there was confirmation that Austrian companies were very active in Norway and Sweden. Kriegschemikalien then asked the Reichsamt des Innern to consider taking steps to put an end to this „unproductive competition“. Kriegschemikalien was optimistic about the prospects of establishing an agreement for the purchase and division of imported pyrites with Austria-Hungary and in so doing curb the price growth. This optimism can be traced in its report for August, stating that the company hoped to buy pyrites from Germany’s most important supplier of pyrites in Norway, the Orkla-mine, at a cheaper price than previously, „the more so because we hope to achieve an understanding with Austria on a common approach regarding the purchase of pyrites“28. The supply situation for Austria-Hungary showed clearly that there were grounds for such optimism. Before the war, the Danube Monarchy was greatly dependent on imports of sulphur and pyrites. Access to sulphurous raw material worsened after the outbreak of war, and as we have seen the conflict with Italy contributed to this. In the spring of 1915 interested parties from Austria-Hungary therefore intensified their purchasing activities in Norway and Sweden, but, like the Germans, they encountered difficulties because of the competition and high prices. From the summer of 1915 Germany’s ally was thus prepared to co-operate and the process of establishing a common supply agreement was started between the Prussian War Ministry as represented by KRA-Kriegschemikalien and the War Ministry in Vienna29. The supply agreement between Germany and Austria-Hungary Sources from April 1916 point out that Germany and Austria-Hungary had been parties to an agreement in the autumn of 1915 and the winter of 1916 and that this agreement was revised in April 1916. This agreement had as its
27 28 29
R 8729/15, pp. 52–53. 2. September 1915, R 8729/15, p. 85. Letter from Kriegschemikalien to Kriegsministerium, Kriegsrohstoffabteilung. Ch. 1, concerning Schwefelhaltige Stoffe für Oesterreich-Ungarn, and Vereinbarung zwischen den preussischen und österreichischen Kriegsministerien über den Einkauf von Schwefelkies in Norwegen und Schweden, Berlin, 10.4 1916. R 8729/157, p. 118 et seq.
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aim to cover the need for pyrites during the war and to avoid the very damaging competition arising from separate purchases in Norway and Sweden 30. Under the agreement, each of the parties had an obligation to contribute to covering the requirement for pyrites for the duration of the war. The War Ministry in Vienna had authorised four companies to buy and import pyrites from Norway and Sweden, two in Vienna and two in Budapest, and Kriegschemikalien would enter into purchasing agreements with these companies. The four companies were: Schwefelsäure-Gesellschaft m.b.H., Wien, Schwefelsäure-Aktiengesellshaft, Budapest, Schwefelkies-Gesellschaft m.b.H., Wien, and Schwefelkies-Beschaffungs-Aktiengesellshcaft, Budapest31. Agreements of this kind were subject to the approval of the War Ministry in Vienna. All factories in Austria-Hungary involved in the production of sulphuric acid and cellulose would then buy the Norwegian and Swedish pyrites from Kriegschemikalien. The function of pyrites from Serbian Maydan Pek and the AustrianHungarian surplus The agreement also contained pyrites from occupied Serbia and AustriaHungary. In the wake of the invasion of Serbia in October 1915, the war materials companies examined Serbian deposits. One promising area was Maydan Pek, where Kriegsmetall found little copper, but where pyrites was found with a high sulphur content, and at the end of November it was stated that the mines would become operative. Thereafter, Kriegschemikalien took over the administration of the mines and made preparations for deliveries32. As spoils of war the Serbian pyrites were channelled to the military sector 33. The administration of Maydan Pek had to be regulated in the common interest of the two allies. The Central Powers negociated over the Serbian mines with other questions on which they disagreed34. The outcome was that as a part of the sulphur agreement Maydan Pek was transferred to AustriaHungary from April 1916 and for the remainder of the war. Austria-Hungary was to take over the stocks of pyrites at Maydan Pek as well as the future
30 31 32
Ibid. Vereinbarung. Ibid. Included in the work was the repair of a 1700 metre cable railway which the Serbs had destroyed. No. 84. Kriegsmetall Aktiengesellschaft, Protokoll No. 7, Aufsichtsrat, 30. November 1915, p. 286. 33 STENSLAND, Deutschlands Schwefelbedarf, p. 258. 34 Auswärtiges Amt, Berlin, den 10. Dezember 1915, Politisches Archiv des Auswärtiges Amts, R 22331 Serbien, Bd.nr.1.
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production there35. Under the agreement, the War Ministry in Vienna was required to take immediate action to enable the Serbian mines to deliver pyrites. Exploitation of the deposits at Maydan Pek was linked to AustriaHungary’s own production and its ability to supply Germany with sulphur. In the same way as the Prussian War Ministry, the War Ministry in Vienna sought to increase the domestic production of pyrites. The agreement made it clear that as soon as the deliveries from the domestic mines in AustriaHungary and at Maydan Pek exceeded the Dual Monarchy’s ongoing requirement, any surplus would be put at the disposal of Kriegschemikalien. The consumers in Austria-Hungary were expected to cover their pyrites requirements from domestic mines and Maydan Pek from the start of June 191636. The first important element in the agreement was thus that purchasing activities in Norway and Sweden were to be controlled by Kriegschemikalien as the final purchaser, and Kriegschemikalien had the authority to sell this pyrites in Germany and Austria-Hungary. The second, that Austria-Hungary should deliver its future surplus pyrites to Kriegschemikalien-Germany. There is reason to believe that the Danube monarchy accepted the dominant role of Kriegschemikalien in Scandinavia because it was given the control over Maydan Pek. This was acceptable for Germany since it after some time could benefit alone from the Scandinavian import. It was no doubt urgent to secure the weaker ally with vital raw materials. In the long run Maydan Pek would represent a far more secure source for Austria-Hungary, since by 1915/16 the more expensive imports from Scandinavia was expected to be reduced, and from Norway in the future probably stopped, as a result of the increasing blockade pressure from Great Britain. Imports from Scandinavia and benefits of supply-side collaboration Let us consider the development of Kriegschemikalien’s ongoing purchases and imports from the Scandinavian countries, then the delieveries from Austria-Hungary to Germany. Table 2 shows that the purchases increased from spring to autumn 1915 and new levels were established from June and December this year. The Germans had feared a Scandinavian export prohibition, but this was not implemented, shipments are reported to continue and imports increased in June as a result of three new purchases37. The German supply 35 The initial intention was for Austria-Hungary to take the pyrites from Maydan Pek „for the duration of the war and in the following six months […] and in the following six months“ was not included in the final draft. 36 R 8729/157, p. 18 et seq. 37 R 8729/15, p. 60.
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situation took a severe turn for the worse from the autumn of 1915 and imports from Scandinavia now became vitally important: there were new purchases of pyrites in August and November, and in December no less than 165 000 tons were purchased, of which 77% came from Norway and the remainder from Sweden 38. Table 2: Kriegschemikalien’s ongoing purchases and imports of Norwegian and Swedish pyrites. Tons. Up to the end of purchased
Of which imported to Germany
Imported in % of pyrites
% sold of imported pyrites
purchased April 1915 153 000 June 1915 175 000 Aug. 1915 181 500 Nov. 1915 190 000 Dec. 1915 355 000 Feb. 1916 367 000 Aug. 1916 367 000 Nov. 1916 367 000 June 1917 Dec. 1917
44 000
29
30
81 500
47
22
104 000
57
38
132 000
69
73
150 000
42
72
172 000
47
74
213 500
58
85
218 200
59
236 000 248 300
Source: Kriegschemikalien, Bericht für das Reichsamt des Innern. Monthly from April 1915. R 8729/15.
The company’s total purchases in Scandinavia had now reached 355 000 tons. It was possible to effect these purchases probably because the supplyside co-operation between Germany and Austria-Hungary had reduced an important part of the competition that had previously been an obstacle to the successful completion of negotiations with the Scandinavian mines. As a result of diminishing stocks the chemical industry bought more of Kriegschemikalien’s pyrites from the summer of 1915, and a year later the compa38
Based on a letter from Kriegschemikalien, Abt. Schw. to Gerichtsassessor Köhler, Reichsschatzamt. Berlin, 8.12.1915, R 8729/157, p. 242.
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ny had sold 85% of the imported pyrites, due to the fact that it was difficult for the chemical industry to buy pyrites elsewhere. The purchases stagnated from February 1916. This was mainly because Norwegian mines were affected by a major labour conflict and a production stoppage from January until July 1916, with negative repercussions for the mines’ production ability. There was therefore little likelihood of further purchases, and shipments were probably negatively affected. Even in August 1916 only 58% of the pyrites had arrived in Germany. The table below shows the production figures for two Norwegian mines, Sulitjelma Gruber, which was a major Norwegian producer of cuprous pyrites, and the German-owned non-cuprous Stordø Kisgruber (Waldhof). Both mines supplied pyrites to the Central Powers. Their production had increased up to 1915, but in 1916 it was greatly reduced. In 1916, Norway’s total production of pyrites amounted to only 50% of the potential production estimated at around 600 000 tons39. Table 3: Production of pyrites at some Norwegian mines with export to Germany. Tons Sulitjelma
Stordø
1913
125 000
22 200
1915
139 000
36 281
1916
65 750
13 359
Sources: 8084, Auswärtiges Amt, Deutscher Generalkonsul in Norwegen, Handelsbericht für Norwegen 1916. 8084, Akten betreffend die Jahreshandelsberichte des ksl. Generalkonsulats in Kristiania (Oslo).
At a time when the need for sulphur was escalating due to the intensification of the war through the battles at Verdun and Somme in the winter and summer of 1916, the crucial imports from Scandinavia were affected by the conflict in Norway. At the end of August 1916, when the most intense battles were over, Great Britain had succeeded in pressing Norway to sign the socalled Copper Agreement, which led to the complete stoppage of deliveries of pyrites to the Central Powers from the beginning of 1917. And as Sweden depended on imports from Norway, and was also under British pressure, there was no way the loss of the Norwegian pyrites could be offset by imports from Sweden. But Sweden continued to deliver minor quantities to Germany. Despite the purchasing co-operation which appears to have 39 8084, Auswärtiges Amt, Kaiserlich Deutsches Generalkonsulat in Norwegen. Handelsbericht für Norwegen 1916, p. 11ff. and 8084, Akten betreffend die Jahreshandelsberichte des ksl. Generalkonsulats in Kristiania (Oslo).
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brought benefits in the autumn of 1915, the result of Central Powers’ purchasing activities in the Scandinavian countries after 1915 was unsuccessful. Under the supply-side co-operation agreement Kriegschemikalien should supply pyrites from Norway and Sweden to Austria-Hungary. In terms of specific deliveries the records show that Austria-Hungary in the autumn 1915 had received some quantities of Norwegian and Swedish pyrites 40. In order to complete the deliveries, Kriegschemikalien was to supply a further 15 000 tons of non-cuprous and cuprous pyrites to Austria-Hungary in the period up to the end of June 191641. Under the agreement, there was also an assumption that Austria-Hungary would deliver its surplus of pyrites to Kriegschemikalien, delieveries which can be documented. Table 4: Kriegschemikalien’s trade with Austria-Hungary. Pyrites, tons Kriegschemikalien’s expected exports to A.H., based on Scandinavian pyrites 1914/15 1915/16 15 000> 1917 1918
Kriegschemikalien’s imports from A-H., based on Maydan Pek/A.H.’s pyrites
11 400 26 000
Sources: Vereinbarung, R 8729/157. Bewirtschaftung von Schwefelkies während des Krieges. Importkies und einheimische Kiese ausser Meggen, R 8729/111, p.7.
In 1916, Austria-Hungary was unable to meet its commitment to deliver pyrites to Kriegschemikalien, due to lack of pyrites from Maydan Pek and domestic sources. But the supply situation improved in the second half of the war. In August 1917 Austria-Hungary exported its first 3 800 tons of pyrites to Germany42. The amount sold in 1917 was more than doubled in 1918. Germany was now starting to benefit from the underlying assumptions of the supply agreement which had been made with Austria-Hungary, especially in view of the great need for pyrites that had arisen following the drastic reduction in imports from Norway and Sweden in the second half of the war. But the overall supply failed to match the increasing consumption, with the result that Germany’s sulphur stocks became depleted43.
40 41 42 43
The exact quantity is unknown as the underlying documentation no longer exists. R 8729/157, pp. 118, 123. R 8729/15, p. 278. See STENSLAND, Deutschlands Schwefelbedarf.
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Summary During the First World War access to sulphur was indispensable for the production of ammunition and for civilian requirements. Before the war, both Germany and Austria-Hungary were major importers of pure sulphur and pyrites. After the outbreak of the war, the blockade had cut off the Central Power’s access to the crucially important Iberian pyrites which was under British control. German stocks were not prepared for a prolonged war. From the late autumn of 1914 the German supply authorities tried as far as possible to compensate for the loss of Iberian pyrites through imports from neutral suppliers, specifically Italy, Sweden and Norway. But the imports from Italy were a disappointment, especially after the outbreak of war between Italy and Austria-Hungary in May 1915. The Scandinavian countries were then the only source of supply from abroad for the Central Powers, apart from the insufficient quantities of sulphur that could be requisitioned from occupied countries. Of the two Scandinavian countries, Norway was by far the biggest exporter. Since spring 1915 the German mines in Meggen in Westphalia were the main suppliers of sulphur to the war industry, the Scandinavian pyrites was channelled to the civil economic sector, from the autumn of 1915 through a special organisation joined to the Kriegschemikalien AG, a company established after the outbreak of war and controlled by the Prussian War Ministry. In the race to secure supplies of Scandinavian pyrites in 1915 serious problems arose – competition and price escalation. These factors made it very difficult for the Central Powers to realise purchases in Scandinavia. In Germany, the uncoordinated purchasing activities of numerous public and private parties were replaced by a co-ordinated purchasing strategy which had the effect of curbing both competition and price escalation. The German supply authorities also wished to involve Austria-Hungary in this co-operation in order to eliminate the very troublesome competition from these quarters. The need to collaborate on purchases from Scandinavia was mutual, and in the autumn of 1915 and 1916 a supply-side agreement between Germany and Austria-Hungary governed their activities in the sulphur sector. The main objective was to avoid competition between the Central Powers in Norway and Sweden and to increase imports to moderate prices from the two Scandinavian countries. On behalf of the two allies, the Kriegschemikalien would purchase Scandinavian pyrites, with the assistance of authorised companies in Austria-Hungary. In the autumn of 1915 and the spring of 1916 Kriegschemikalien supplied pyrites to Austrian and Hungarian companies. Germany also transferred the sulphur deposits at Maydan Pek in occupied Serbia to its ally. The supply situation in Austria-Hungary was improved and Germany
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Stensland, Germany’s struggle for European supplies
received increased supplies from Austria-Hungary in the second half of the war. While co-operation in the supply sector brought benefits, it could not prevent the gradual depletion of Germany’s total sulphur stocks, partly due to a diminishing import from Scandinavia. Appendix 1: German pre-war production and imports of pyrites and other sulphurous products. % of total. German production, mainly pyrites, some from other sulphurous ores Imports of pyrites and other sulphurous products Proportion of imports from Spain Portugal Norway Imports of sulphur, from Italy
21.6 78.4
82.7 5.2 4.8 83.5
Source: Die chemische Industrie. Verfasser unbekannt. Zeit der Abfassung: Ende 1916. R 8729/62, Bl. 5.
Zinc blende used in the German production of sulphuric acid in 1911, % of total German
81.5
Imports
18.5
Source: Schwefelsäure-Industrie, R 8729/143, Bl. 9.
Appendix 2: Development of total German stocks of sulphur (pure sulphur, sulphur in pyrites and in other sources) Sulphur stocks at the outbreak of war: approx. 400 000 tons Sulphur stocks in November 1916: 156 810 tons Reduction approx. 243 190 tons, i.e. approx. 60% Source: R 8729/65, Bl. 003 and R 1501/118777, appendix to Niederschrift der 33. Sitzung des technischen Ausschusses für private Schwefelwirtschaft.
Appendix 3: Italian exports of sulphur. % of total exports for countries selected from the two war alliances. Austria-Hungary
1913 11.7
1914 12.5
1915 5.5
1916
1917
1918
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Germany France Great Britain
11.1 21.6 4.7
9.0 24.7 5.0
9.0 33.7 12.5
34.2 23.2
59.3 18.3
45.9 33.9
Source: Annuario Statistico Italiano. Seconda Serie, 1912–1919–1921. Segue-Commercio speciale – Principali generi esportati. Istituto nazionale di statistica biblioteca. Roma.
Deutschlands Bemühungen zur Sicherung des Schwefelimports aus europäischen Ländern während des Ersten Weltkriegs Während des Ersten Weltkriegs waren Schwefelprodukte unerlässlich für die kriegführenden Staaten. Nach Kriegsausbruch unterbrach die Entente den Export von Schwefelkies in feindliche Länder. Ab Frühjahr 1915 konnte Deutschland den Bedarf für Munitionszwecke hauptsächlich aus eigenen Bergwerken decken, war jedoch besonders im zivilen Bereich von ausländischen Lieferungen abhängig. Der Beitrag befasst sich mit deutschen Maßnahmen für den Schwefelimport. Als Italien sich 1915 dem Feind anschloss, verblieb die Einfuhr aus Skandinavien als Hauptquelle, die vor Konkurrenzabnehmern und Preissteigerungen geschützt werden musste. Eine Zusammenarbeit mit Österreich-Ungarn bei der Beschaffung von Schwefelkies aus Skandinavien, dem besetzten Serbien und Österreich-Ungarn trug zur Rohstoffversorgung beider Staaten bei, konnte aber das weitere Absinken der deutschen Schwefelvorräte auf einen kritischen Tiefstand nicht verhindern, auch weil die Entente mit ihrer Blockadepolitik gegenüber Norwegen Erfolg hatte.
Das Staatsdenken von Bertrand de Jouvenel – Pfade zur europäischen Liberalität Von
Sebastian Liebold 1. Europa – ein existenzielles Problem Im „kurzen 20. Jahrhundert“ ist Europa immer wieder Kampfplatz gegensätzlicher Ideen, wie das Gemeinwesen zu organisieren und ein „guter Staat“ zu führen sei. Ein Raum einheitlicher Vorstellungen besteht bis heute nicht – das verrät der Wahlspruch der Europäischen Union „in Vielfalt geeint“1. Selbst die prägende Lehre aus den grausamen Wirren beider Weltkriege und der sozialistischen Diktatur – ein stabiler Frieden erfordert täglich neu einen gerechten Interessenausgleich, der bürgerliche Freiheiten wahrt – kann dieses Manko nicht beseitigen: Den Kern der europäischen Identität zu finden, gleicht einer Herkulesaufgabe2. Die Geschichte Europas ist ein variables Narrativ. Trotz Reformation, Aufklärung und Revolutionen von Paris bis Warschau war Europa lange ein Raum autoritärer Traditionen. Auf – unscharf umrissene – Prinzipien feudaler Herrschaft bezogen sich die gegenrevolutionäre Strömung in Frankreich ebenso wie die Konservative Revolution in Deutschland, das Modell der „Zwei Spanien“ oder die rumänische „Eiserne Garde“. In der Wissenschaft entstand unter dem Eindruck des Nationalsozialismus die Formel „von Luther über Bismarck zu Hitler“3. Bertrand de Jouvenel setzte dem „deutschen Sonderweg“ 1947 eine andere Kontinuitätslinie entgegen: „L’empire a été essayé en Europe, par Charlemagne, par Napoléon, par Hitler: Il n’a jamais duré“4. Am Beginn des „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawm) bzw. des „zweiten dreißigjährigen Krieges“ 5 sahen Intellektuelle dies freilich nicht so. 1 Die lateinische Version „in varietate concordia“ ist gegenüber dem amerikanischen Prinzip „e pluribus unum“ merkwürdig blass. 2 Statt vieler vgl. Jürgen HABERMAS, Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin 2011. 3 Edmond VERMEIL, L’Allemagne du congrès de Vienne à la révolution hitlerienne. Grandeur et décadence du 2e Reich, Paris 1934; vgl. Gilbert MERLIO, L’image de l’Allemagne chez les germanistes français de l’entre-deux-guerres, in: Allemagne d’aujourd’hui 105 (1988), S. 66–83, hier S. 77. 4 Bertrand de JOUVENEL, L’Amérique en Europe. Le Plan Marshall et la coopération intercontinentale, Paris 1948, S. 4. 5 Vgl. Sigmund NEUMANN, Permanent Revolution. The Total State in a World at War, New York 1942.
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Das Jahr des „Burgfriedens“ 1914 avancierte zum Symbol für die Negation der „Ideen von 1789“. Maurice Barrès’ Sätze wie „Ein deutscher Soldat sieht immer aus wie ein verprügelter Hund“6 zeugen vom Höhepunkt gegenseitiger „Erbfeindthesen“. Auf den Schlachtfeldern an der Somme, bei Verdun und unzähligen weiteren Orten starben millionenfach Menschen, die nationalistische Theoretiker zum Werkzeug gemacht hatten. Das Kriegsende bestimmte weithin Erschöpfung. Im Weiteren sollen die Aufbruchsituation der 1920er Jahre, der Wandel im Staatsdenken Jouvenels anhand der Vita und exemplarisch durch die drei Werke Vers les Etats-unis d’Europe (1930), Le Réveil de l’Europe (1938) und Quelle Europe? (1947) vorgestellt und damit eine Entwicklung nachvollzogen werden, die im Jahr des Münchner Abkommens hegemoniale Machtpolitik zum Prinzip erkor, sich aber während des Krieges radikal davon abwandte. 2. Der Aufbruch der Jugend Bertrand de Jouvenel, geboren 1903 in Paris, beschäftige sich bereits in Jugendjahren mit der Ordnung seiner Umwelt, die nach 1918 ins Chaos abzusinken drohte. Dabei hatte Frankreich den zermürbenden Krieg gewonnen und einen Frieden durchgesetzt, der kurzfristig sécurité in einer defensiven Form ermöglichte. Doch es war ein Frieden der Älteren. Überall in Europa, nicht nur beim deutschen „Wandervogel“, entwarf die Jugend neue Ordnungsmodelle. Sie war sich ihrer nachrangigen Position bewusst; nur wenige arrivierte Politiker billigten ihr in der „Zivilisation des Alters“ (Ernst Robert Curtius über Frankreich) ein Recht zum Mitgestalten zu. Bertrand de Jouvenels Onkel Robert gehörte zu den Ausnahmen: „Votre rôle est grave Messieurs [...]. Vous êtes chargés de rajeunir le pays“ 7. Diesen Auftrag löste Jouvenel in dem „Nationalen Plan für die Jugend“ vom 4. März 19348 ein, der Mitbestimmung bei der Krisenbewältigung Frankreichs forderte, neuen „Sportsgeist“. Die mit der Weltwirtschaftskrise über Frankreich hereinbrechenden Notjahre lasteten auf der Jugend, prekäre Anstellungsverhältnisse waren an der Tagesordnung. Jouvenel forderte ein Umdenken: Etwa sollten ältere durch jüngere Arbeitnehmer ersetzt werden. Die zugehörige Ausbil-
6
Maurice BARRÈS, Colette Baudoche (1909), zitiert nach Ernst Robert CURTIUS, Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus, Bonn 1921, S. 184. 7 Vortrag Robert de Jouvenels zitiert nach Gilles LE BEGUEC [u. a.] (Hrsg.), Henry, Robert et Bertrand de Jouvenel. Crise et métamorphoses de l’Etat démocratique, Paris 2004, S. 31; vgl. Le rajeunissement de la politique, preface de Henry de Jouvenel, Paris 1932. 8 1941 deutsch abgedruckt in Bertrand de JOUVENEL, Nach der Niederlage, Berlin 1941, S. 236–239.
Liebold, Staatsdenken von Bertrand de Jouvenel
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dung in „korporativen Werkstätten“ plante er in neuen Jugendlagern auf staatlichen Domänengütern9. Doch dies ist ein Vorgriff. Woher kam Jouvenels radikale Kritik an der französischen Friedenspolitik gegenüber dem restlichen Europa, was bestimmte seine Jugend? Henry de Jouvenel, sein Vater, war Senator und Vertreter Frankreichs beim Völkerbund, später Sondergesandter in Rom – ein überzeugter dreyfusard mit Kontakt zum sozialistischen Premierminister Paul-Boncour. Claire Boas de Jouvenel, seine Mutter – aus jüdischer Familie mit holländischen und elsässischen Wurzeln – prägte ihn. Ganz eigenständig betrieb sie einen illustren Salon. Sie hatte als Generalsekretärin der auf Völkerverständigung ausgerichteten Gesellschaft „La Bienvenue française“ Bekannte in Regierungskreisen und fand so Unterstützer für Eduard Beneš in der Tschechoslowakei. Vom Tee kannte Jouvenel Marschall Foch, Baron Rothschild und den späteren Ministerpräsidenten der Radikalsozialisten, Herriot. „Le jeune Bertrand baigne donc, dès son adolescence, dans des milieux élitaires et cosmopolites“ 10. Damit nicht genug: 1912 heiratete der Vater die Schriftstellerin Colette (mit der Bertrand 1920/21 ein mehr als platonisches Verhältnis unterhielt). Jouvenels Schulbildung verlief – 11 größtenteils privat – recht chaotisch, er lernte fließend Englisch . Eingeschrieben für Recht und Medizin an der Sorbonne, stöberte er lieber an den Quais der Seine bei den bouquinistes. Schlagworte seiner Generation waren „Krieg“ und „Jugend“12. Die akademischen Gruppierungen wurden – das überrascht bei der Herkunft nicht – Jouvenels Bühne: Er engagierte sich im „Groupement d’études diplomatiques économiques et sociales“13 wie im „Groupement universitaire pour la Société des Nations“14, ferner in der „Fédération des Jeunesses laïques et républicaines“15. Wenig später stand er dem auf Austausch bedachten „Comité de la jeunesse française pour le rapprochement franco-allemand“ vor. 3. Vita im Wandel – autoritäres und liberales Denken Bertrand de Jouvenel vertrat wie Richard von Coudenhove-Kalergi die Idee zur Gründung der Vereinigten Staaten von Europa16. Daher engagierte er sich 9 Ebd., S. 239. 10 Olivier DARD, Bertrand de Jouvenel, Paris 2008, S. 18. 11 Nachlass Bertrand de JOUVENEL Fonds NAF 28143 in der Bibliothèque Nationale. 12 Olivier DARD, Existait-il une „Jeune Droite“ dans l’Europe des années trente?, in: DERS.
[u. a.] (Hrsg.), Les relèves en Europe d’un après-guerre à l’autre, Brüssel 2005, S. 21–52, hier S. 38. 13 DARD, Jouvenel, S. 34. 14 Christine M ANIGAND, La Fédération universitaire internationale pour la Société des nations, in: D ARD, Les relèves, S. 355–369, hier S. 359. 15 DARD, Jouvenel, S. 34–38. 16 Bertrand de JOUVENEL, Vers les Etats-Unis d’Europe, Paris 1930.
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in der „Ligue France-Europe“ und warb – mit 27 Jahren! – bei Vorträgen in seinen vielfältigen Gruppierungen für das Konzept der „Etats-Unis d’Europe“17. In dieser Zeit setzte Jouvenel dem erneuerten Nationalismus der europäischen Staaten die Idee einer institutionellen Vereinigung entgegen; er befürwortete Briands Verständigungspolitik von „Locarno“. Als Herausgeber der Zeitungen La voix und La lutte des jeunes forderte er die Ablösung altgedienter Politiker und eine auf internationalen Ausgleich ausgerichtete Politik der Nachkriegsgeneration18. Der Pariser Salons überdrüssig, bereiste er Europa – von Polen bis Portugal – mit dem Ziel, herauszufinden, welcher Staat in der Krisenzeit den förderlichsten Ausweg fand. Ein politischer Ausgleich Frankreichs mit NS-Deutschland war ihm wichtig. Auf Empfehlung von Hitlers späterem Pariser Botschafter Otto Abetz führte er auf dem Berghof ein verwegenes Interview mit Adolf Hitler, das Wellen nach links wie rechts schlug19. Nach einem kurzen Engagement für den Parti populaire français (PPF) widmete sich Jouvenel verstärkt der Arbeit für die Zeitschriften L’emancipation nationale, L’Europe nouvelle und Notre Temps, schrieb aber insgesamt für mehr als ein Dutzend Zeitungen. Daneben erhielt er durch Vorträge vor Diplomaten und Studenten zu staatsphilosophischen Themen breite öffentliche Resonanz. Sein Pensum sei exemplarisch an den Jahren 1938/1939 belegt: Nachdem er das Konzept zu Le Réveil de l’Europe fertig gestellt hatte, bereiste er bis Juni acht Staaten von Deutschland bis Marokko, schrieb zwischendurch einen Artikel „Das französische Weltreich“ für die Cahiers franco-allemands, um im Spätsommer wieder in Deutschland und in der Tschechoslowakei zu sein. Nach weiteren Reisen u.a. nach Palästina und in die Türkei veröffentlichte er am 1. April 1939 in der Revue de Paris „Le grand Empire allemand de 1918“20, worin er die Handlungsmacht des Deutschen Reiches in Südosteuropa anhand des Friedens mit Rumänien (geschlossen am 7. Mai 1918) nachzeichnete, und am 8. Juni 1939 in Gringoire Ideen über die „Unité allemande“. Unter dem Eindruck zunehmender Spannungen und Kriegsrüstung
17 18
Ein Manuskript ist im Fonds NAF 28143 der Bibliothèque Nationale nicht überliefert. Fonds NAF 28143, Inventaire 2, Box 11; ähnliche Auffassungen vertrat etwa Jean GUÉHENNO, Jeunesse de la France, Paris 1936; vgl. DARD, Jouvenel, S. 485 und 503. 19 Deutsches Nachrichtenbüro: Textfassung vom 28. Februar 1936, in: Paris-Midi vom 28. Februar 1936; erster auswärtiger Abdruck bei Norman H. B AYNES (Hrsg.), The speeches of Adolf Hitler. April 1922 – August 1939, Bd. 2, London 1942, S. 1266–1271. 20 Bertrand de JOUVENEL, L’Allemagne et l’Autriche pendant la dernière année de la guerre ou Le grand Empire allemand de 1918, in: Revue de Paris vom 1. April 1939, S. 543–569.
Liebold, Staatsdenken von Bertrand de Jouvenel
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begann er sein Werk De l’une guerre à l’autre21. Bei Kriegsausbruch berichtete er aus Danzig22. Die drôle de guerre im Winter 1939 nutzte Jouvenel als Auszeit; soldatisch engagierte er sich nach der Freiwilligmeldung nur kurz, obwohl ein Brief an einen Colonel ihn als Mitglied der Klasse 1923, Matrikel 2992, auswies23. Er verfasste „La Décomposition de l’Europe libérale“ und „Après la défaite“. Im Sommer 1940 wurde er Dozent an der Ecole libre des sciences politiques (heute „Sciences Po“), 1941 an der neugegründeten Ecole supérieure d’organisation professionnelle (ESOP). Hier vollzog sich ein geistiger Wandel – im Krieg entstand das liberale Denken. Ersichtlich ist dies am Lektüreplan eines Seminars von 1942 mit dem Titel „La confiance dans la démocratie“ mit Namen wie Madison, Constant und Tocqueville sowie Themen wie „Diktatur der Mehrheit“, „Rolle der Presse“ oder „Parlament in Deutschland ohne Machtzentrum“24. Für Jouvenel war es dringlich, die Unabhängigkeit Frankreichs wiederherzustellen. 1941 bis 1942 arbeitete er dem französischen und dem schweizerischen Geheimdienst zu25. Er ging im Herbst 1943 (mit seiner zweiten Frau Hélène) ganz in die Schweiz26. Die Art der Zuträge benannte der Direktor der Sécurité militaire, Paul Paillole, 1983 während des Sternhell-Prozesses 27. Jouvenel unterhielt Kontakte zu Mitgliedern der Résistance, hat aber zugleich – auch nach 1945 – die Freundschaft mit Alfred Fabre-Luce und Otto Abetz aufrechterhalten28. Er verfasste eine Schrift über die Wirtschaft in napoleonischer Zeit29. Zudem publizierte er einen Roman Les Français (unter dem Pseudonym Guillaume Champlitte); darin erzählte er die Geschichte dreier Freunde, die während der Niederlage getrennt wurden, und verarbeitete damit seine Erlebnisse während der deutschen Besetzung von Paris. Er zeichnete zudem die Flucht vieler Franzosen in die unbesetzte Zone nach. Interessanterweise wies er die défaite als Zentralproblem der französischen Geschichte
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In zwei Bänden erschienen 1940 und 1941. Fonds NAF 28143, Inventaire 2, Box 11, enthält die Artikel „Dantzig base de départ pour l’invasion de la Pologne“ (16. August) und „Dans Varsovie bombardée. Le premier reportage sur le front polonais“ (13. September), beide erschienen in Candide. 23 Fonds NAF 28143, Inventaire 2, Box 59. 24 Ebd., Box 31. 25 DARD, Jouvenel, S. 178. 26 Zur Exilzeit ausführlich ebd., S. 185–190. 27 Paul P AILLOLE, Services spéciaux (1935–1945), Paris 1975, zitiert nach ebd., S. 180. Im Vorwort zum Roman „Les Français“ nennt Jouvenel Martial Brigouleix seinen Bataillonskommandeur im „régiment bréviste“ als Kontaktperson zum Service de renseignements de l’armée. 28 Briefwechsel im Fonds NAF 28143, Inventaire 2. 29 Napoléon et l’Économie dirigée. Le blocus continental, Paris 1943.
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aus30. Weitere Aufsätze publizierte er bald als „Raisons de craindre, raisons d’espérer“31. 1945 erschien sein bekanntestes Werk überhaupt, Du pouvoir, das seinen Ruf als Theoretiker der Politik begründete32. Liberale Ideen prägten Jouvenel nach dem Krieg33. Er veröffentlichte 1948 ein beachtetes Buch über die Wirkung des Marshallplans und die Wirkung freiheitlicher Politik auf die Machtverhältnisse in Europa34. Im Herbst 1953 gründete er die Société d’études et de documentation économiques, industrielles et sociales (SEDEIS), die vom Folgejahr an hohe Fördergelder des Conseil national du patronat français (CNPF) erhielt und ein beachtetes Bulletin herausgab35. Er half beim Aufbau politikwissenschaftlicher Institute in Frankreich und sprach auf der maßgeblichen deutsch-französischen Tagung in Bad Neuenahr 1955 zur politischen Bildung nach dem Zweiten Weltkrieg36. Bekanntheit erlangte er durch Gastvorträge in aller Welt und nicht zuletzt durch die Verbindung mit Friedrich von Hayek in der Mount Pelerin Society. Weitere Arbeitsgebiete waren Ökologie und Zukunftsforschung, manifest in der Zeitschrift Les futuribles37. Jouvenel, der aus zwei Ehen vier Kinder hatte, verbanden unzählige Freundschaften mit so ungleichen Größen wie Raymond Aron oder Gaston Bergery. Illustre Gäste lud er auf seinen Landsitz Anserville (Département Oise) ein. Er starb 1987 in Paris. 4. Vereinigte Staaten von Europa Jouvenel erlebte die Gründung der Europäischen Union (als Zusammenschluss der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit den neuen Politikfeldern Inneres und Außenpolitik) durch den 1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht nicht mehr. Bereits in Jugendjahren hatte er jedoch die Lösung der europäischen Frage in Aktivitäten und Schriften als zentrale Herausforderung angesehen. Ausgangspunkt war für ihn der ungesicherte Frieden in 30 Zunächst als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Curieux, für die er auch Berichte schrieb, später als Buch erschienen (Paris 1979). 31 Aufsatzsammlung in zwei Bänden mit Artikeln aus Curieux und Gazette de Lausanne: „Quelle Europe?“ und „Les Passions en marche“, Paris 1947. 32 In neuer Ausgabe zuletzt 2006 erschienen. 33 Brian C. ANDERSON, Bertrand de Jouvenel’s melancholy liberalism, in: Public Interest 143 (2001), S. 27–32. 34 JOUVENEL, L’Amérique. Diese Einschätzung des Versailler Vertrags kann als Pendant zu John Maynard Keynes’ Werk gelten, The Economic Consequences of the Peace, London 1919, deutsch: Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, München 1920. 35 DARD, Jouvenel, S. 290–291. 36 Fonds NAF 28143, Inventaire 2, Box 57; vgl. Tagebucheintrag im „Cahier de travail“ 44 (im Nachlass Nr. 83). Auf der Tagung hielt Bundespräsident Theodor Heuß am 14. Oktober 1955 eine mit „Deutschland – Frankreich – Europa“ betitelte Rede, die die freundschaftlichen Beziehungen beider Länder ins Zentrum rückte. 37 Bis heute ist Jouvenels Sohn Hugues Herausgeber des Blattes.
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Europa nach dem Ersten Weltkrieg. Auf den Feldern der Diplomatie und öffentlichen Meinung begann ein erbitterter Kampf um den Frieden. Einigkeit über „gerechten“ Frieden erreichten die Staaten weder mit „Versailles“ oder „Locarno“ noch mit dem Briand-Kellogg-Pakt. Hatte Frankreich mit den Vertragsprinzipien Nichtaggression, Schlichtung, Verständigung, Garantie des Versailler status quo Erfolg? „Ni les traités de Locarno, ni le Pacte Kellogg, ces deux sommets de la diplomatie [de Briand] n’assurent le moins du monde, nous le verrons plus loin [sic], la sécurité de l’Europe“38. Paradox erschienen Jouvenel bereits die Versailler Forderungen des Jahres 1919: „Il est bien évident que ceux-ci se trouveront écrasés, ne pourront payer“39. Die diplomatischen Schlagworte justice und sécurité übersetzte er mit réparations und précautions40. Ihm zufolge handelten die Versailler Mächte, die laut Wilsons „14 Punkten“ nationale Selbstbestimmung zum staatenbildenden Mechanismus erklärt hatten, als „coalition des appétits contre les principes“ – sie gestanden den deutschen Minderheiten (etwa in Eupen und Malmédy, Memel oder Tirol) die Rechte nicht zu, die Tschechoslowaken, Polen und Rumänen selbstverständlich erhielten41. „Sans doute les Roumains de Transylvanie n’étaient point devenus Hongrois, mais ils n’étaient plus tout à fait Roumains. Et dans une moindre mesure, c’est vrai aussi de l’Alsace-Lorraine“42. Dezidiert bezog er Position zur Frage der Zugehörigkeit von Danzig: „Nous disons droit d’après les textes. Là-dessus l’Allemagne qui ne peut se faire rendre justice comme elle l’entend, part en 43 guerre [sic]“ . Jouvenel wies auf die Inkonsistenz hin, Polen strittige Gebiete zuzusprechen, dann aber nicht für deren territoriale Integrität zu garantieren. Auf die Frage einer möglichen Intervention Englands antwortete er 1930 mit der zu erwartenden Stimme Londons: „Nous ne ferons pas tuer un seul soldat anglais pour les frontières polonaises“. Damit ist der berüchtigte Artikel von Marcel Déat „Sterben für Danzig?“44 von 1939 vorweg genommen. Für den europäischen Denker Jouvenel war die Sicherheitsgarantie für Polen 1930 bereits zugunsten der absoluten Sicherheit Frankreichs aufgegeben. Ein hervorstechendes Prinzip des Versailler Vertrages war damit lange vor 1933 außer Kraft gesetzt, ein weiteres – die Volksabstimmungen – aufgrund der niedrigen Durchführungsrate sehr schwach (drei Viertel der geplanten Plebiszite fanden nicht statt). Bereits die Ankündigung einer solchen Abstimmung 38 JOUVENEL, Vers les Etats-Unis, S. 144; mit ähnlicher Kritik an der französischen Außenpolitik Alfred FABRE -LUCE, Locarno sans rêves, Paris 1927. 39 JOUVENEL, Vers les Etats-Unis, S. 35. 40 Ebd., S. 36. Die Begriffe nahm er 1947 nochmals auf. 41 Ebd., S. 43 und 53. 42 Ebd., S. 50. 43 Ebd., S. 141. 44 Abgedruckt in: L’Œuvre vom 4. Mai 1939.
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führte zu nationalistischem Streit: „Le résultat du plébiscite ne sera point net“45. Im diachronen Vergleich war erkennbar: „Le problème des minorités est mille fois plus brûlant que dans l’Europe d’avant-guerre“46. Jouvenel sprach von widerstreitenden Ansichten („deux principes contradictoires des nationalités et de l’unification“), die gemeinsame Politiken im Grunde unmöglich machten47. Wie war dem zweiten Prinzip zum Sieg zu verhelfen? Grundlage für die europäische Einigung war für ihn der Schutz von Minderheitenrechten48. Indes machte er keinen Vorschlag zu einem institutionellen Rahmen für das neue Ordnungsprinzip (ein angekündigter Folgeband ist nie erschienen). Zu fest waren selbst Verständigungspolitiker wie Aristide Briand in nationalen Restriktionen gefangen – mitunter wirkt europäische Politik auf den citoyen heute nicht anders: „Tant de conférences internationales, tant de pactes, tant de déjeuners intimes, [...] ne servent dans la méthode de M. Briand qu’à amuser l’opinion, et si j’ose dire à lenifier l’Europe“49. Die bloße Berufung auf Vertragstexte kritisierte Jouvenel harsch. Er resümierte im Jahr 1930 („après l’échec du traité d’assistance mutuelle“), das französische Ziel der sécurité sei durch den Völkerbund nicht erreichbar geworden. Wenn die „Vereinigten Staaten von Europa“ ein Ziel für Jouvenel waren, mutet es merkwürdig an, vom Scheitern internationaler Abkommen und vom Sinn bilateraler Verträge zu sprechen – er sah in ihnen die Chance, reale Machtpositionen von Staaten einzubeziehen. Abkommen wie ein möglicher Vertrag über die „Vereinigten Staaten von Europa“ brauchten demnach klare Mechanismen zur Konfliktregelung: Nichtaggression, Schlichtung, Verständigung, Garantie. Artikel 2 des Briand-Kellogg-Pakts schrieb zwar die friedliche Regelung aller künftigen Konflikte vor. Dies wurde jedoch nicht konkretisiert, wie Jouvenel monierte, weder durch précautions noch durch sanctions, und blieb daher wirkungslos. Ungerecht gegenüber Deutschland kamen ihm die Abrüstungsbestimmungen vor. Die Abrüstungsfrage gehörte 1930 zu einer europäischen Friedensordnung. Frankreich habe diese „Aggressionspolitik“ aus offenkundiger Angst heraus betrieben: „Plus faibles en population et en industrie que l’Allemagne, ces Etats veulent éviter à tout prix un conflit assez long pour que l’adversaire ait le temps de développer toute sa puissance“50. Damit verwies Jouvenel zugleich auf ökonomische Gründe für die tiefe Krise der Moderne, er kritisierte das liberale Amerika und postulierte für Europa: „On passera de la paix à la guerre en Europe, 45 JOUVENEL, Vers les Etats-Unis, S. 48. 46 Ebd., S. 49. 47 Ebd., S. 12. 48 Ebd., S. 51. Dies ist Grundlage der Europäischen
Union geworden, vgl. Frank-Lothar KROLL [u. a.] (Hrsg.), Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa, Berlin 2005. 49 JOUVENEL, Vers les Etats-Unis, S. 144. 50 Ebd., S. 168–169.
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comme de la hausse à la baisse en bourse“. Mit zeitlosen Worten analysierte er die europäische Krise von 1930: La Paix Politique n’a pu être fondée. La Paix Financière règne. Expliquonsnous. Que serait la Paix Politique? Ce serait une paix basée sur des institutions politiques, savoir: un organisme ayant des pouvoirs de juridiction lui permettant de trancher au fond les conflits entre nations, un organisme de coercition disposant d’une force exécutive, qu’elle lui soit propre ou qu’elle soit fournie par les Etats. La Paix Financière repose sur des institutions occultes, savoir: la solidarité des différents marchés financiers et des différentes banques d’émission51.
Mit der Regelung von Abrüstung und wirtschaftlicher Aufholjagd untrennbar verbunden ist die Frage nach der Wehrform – das Berufsheer bevorteilte Frankreich. „On serait plutôt tenté de croire qu’elle améliorerait notre position via-à-vis de l’Allemagne, puisque dans le système de la conscription les armées sont naturellement dans le même rapport que les populations. Tandis que dans le système de l’armée de métier, il est possible de fixer entre elles des proportions différentes, nous assurant, non seulement l’égalité, mais la supériorité“52. Um nicht abrüsten zu müssen, verwies Frankreichs Generalstab auf deutsche Technik. Jouvenel fügte an, dass alle Staaten, die die Abrüstung ablehnten (bis auf Italien), von Frankreich abhingen („pour la plupart, leurs armées ont été constituées par des officiers français sur le modèle français“53). Ein verantwortlich agierendes Frankreich hätte so kleinere Heereszahlen in Belgien, Jugoslawien, Polen, Rumänien und in der Tschechoslowakei durchsetzen können. Mit Vehemenz wandte sich Jouvenel gegen das im Völkerbund geltende Prinzip des gleichen Staatenrechts, das großen Völkern zu wenig Einfluss gebe (60 Millionen Deutsche hätten „nur“ genau so viel Einfluss wie 5 Millionen Schweizer)54. Zudem hielt er es für absurd, dass das Parlament eines einzigen Staates die Beschlüsse des ganzen Kontinents vereitelte. Er zählt genüsslich auf, welche im Völkerbund beschlossenen Verträge nie ratifiziert wurden: der Beistandspakt von 1923, eine Konvention zur Beschränkung des Waffenhandels von 1925, die einheitliche Schlichtungsakte von 1928. Mit den Worten des amerikanischen Verfassungsvaters Alexander Hamilton kritisierte er den Völkerbund als Vereinigung, die vom Willen der Einzelstaaten abhing: „L’égalité de suffrage entre les Etats est un des principes défauts de notre confédération [...]. La majorité des Etats ne forme qu’une très petite minorité de la population“. Hamiltons Schluss ist nicht nur auf das 51 Beide Zitate ebd., S. 176–177; vgl. DERS., La Crise du capitalisme américain, Paris 1933. 52 DERS., Vers les Etats-Unis, S. 178–179. 53 Ebd., S. 181. 54 Ebd., S. 183. Diese Unausgewogenheit ist in der Europäischen Union durch die „qualifizierte Mehrheit“ gemindert.
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Scheitern des Völkerbunds anwendbar, sondern sollte auch in der Gegenwart nachdenklich stimmen: „Son effet réel est d’embarrasser l’administration, de détruire l’énergie du gouvernement“55. Solange (nur) die Konföderation bestand, geschah, was geschehen musste: „Les résolutions de l’Union n’ont pas été exécutées“. Entschließungen des Völkerbunds waren für Jouvenel unzureichend. Große Aufgaben erfordern ihm zufolge große Kompetenzen – dazu Unabhängigkeit der Zentralinstanz von den Einzelstaaten. Wenn nun die 13 amerikanischen Kolonien einen föderalen Staat gründeten, mutete das antinational an. Doch Jouvenel wäre nicht Jouvenel, argumentierte er nicht umgekehrt: Die USA schufen in freiwilliger Kompetenzübertragung an die Zentrale eine neue, eine Stufe höher gelegene Einheit, die – nun selbst als Staat – nationaler Identitätskern für jeden Bürger wurde. Entsprechend forderte er ein Umdenken in Europa: Europa sollte als neue Nation begriffen werden! Er ging sogar noch einen Schritt weiter: „Je n’hésite pas à dire que ce qu’il faut, c’est susciter un nationalisme européen“56. Heute wäre dies am ehesten als europäischer Patriotismus zu verstehen. Jouvenel war Anhänger eines dritten Weges, als er sich gegen Kommunismus wie westlichen Kapitalismus wandte. Er unterschlug, dass Europa Angelpunkt zwischen Asien und Amerika war und stets mit beiden Erdteilen Handel trieb. Doch über beide Prinzipien habe sich Europa erhoben mit seiner caste intellectuelle. Einiges von Habermas nimmt er vorweg: „Les plus anciens insignes du pouvoir dans ce pays sont la balance et la main de justice. J’aimerais à les voir empreintes sur le drapeau européen. C’est tout l’essentiel de la pensée européenne que gouverner c’est peser les intérêts qui s’affrontent, [...] élever entre les passions en lutte une main forte et pacificatrice“57. Europa sollte Staatsqualität gewinnen, der den Deutschen zugeschriebene Etatismus gerät bei Jouvenel zur europäischen Konstante58. Wenn nur „starke Staaten“ Europa gestalten konnten, waren die geschwächten Demokratien (wie die Dritte Republik der 1930er Jahre) nicht dazu in der Lage: „Il est fort possible que ce soit précisement cette bataille menée par les partis démocratiques pour reconstituer un Etat fort, qui amène la fondation de l’Etat européen“59. Europa brauche daher eine veritable Regierung und eine unabhängige Zentralbank. Anstatt von immer neuen zwischenstaatlichen Vereinigungen auszugehen, trat er für die von Hamilton beschriebene „höhere Ebene“ 55 56 57 58
Ebd., S. 187. Wie viel mehr braucht das Europa von 2013 eine effektive Verwaltung. DERS., Vers les Etats-Unis, S. 191 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 194. Von diesem Denken löste sich Jouvenel während des Zweiten Weltkriegs. Da der starke Staat einen verheerenden Krieg möglich machte, trat Jouvenel fortan für den „Nachtwächterstaat“ ein, wie er etwa bei der Mount Pelerin Society darlegte. Der starke Staat lebt in Frankreich fort. 59 JOUVENEL, Vers les Etats-Unis, S. 195.
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ein, was unkluge Sanktionen entbehrlich mache („liquidation du système des transferts, liquidation de l’occupation rhénane, liquidation de la Commission de la Sarre“)60. Nach dem Prinzip „autre pouvoir, autre personnel“ verwahrte er sich gegen französische Spitzenpolitiker auf neuen europäischen Posten. Ein Schelm, wer bei folgender Kritik an die Europäische Union denkt: Solange sämtliche Entscheidungsgewalt bei den Nationalstaaten liegt, wird im Zweifel folgendes Votum jeden europäischen Entscheid zunichte machen – „A tout moment, par le droit de nullification, un Etat membre, peut, de son propre chef, déclarer que le pouvoir central n’était pas compétent pour accomplir ou ordonner tel ou tel acte“61. Jouvenel forderte am Ende des Werkes von 1930 die Einführung eines europäischen Föderalismus, der frappierende Ähnlichkeit mit dem deutschen Bundesstaatsprinzip hat. Er bezieht sich auf das deutsche Prinzip: „Le droit de l’Etat fédéral brise le droit des états membres“. Den Kompetenzbereich der Föderation bestimmt die höhere Ebene, Streit schlichtet ein Bundesgericht. Der Bundesstaat freilich unterliegt der Tendenz zum unitarischen Aufbau, wie Jouvenel an den USA und am deutschen Kaiserreich belegte. Sibyllinisch schloss er: „On peut dire que l’Europe tournera autour du peuple le plus avancé“. Das Credo Europas seit 1945 nannte Jouvenel bereits 1930: „On ne peut organiser la répression de la guerre qu’en faisant l’Europe“62. 5. Das Modell des autoritären Staates Hitlers Außenpolitik vor allem zwischen Münchner Abkommen und dem ersten Kriegsjahr lässt an einen Umkehrschluss denken: Die Wendung zum autoritären Staat, wie in Jouvenels Le Réveil de l’Europe (1938) demonstriert, bedeutete die Möglichkeit zum beherrschbaren Krieg durch „Ausspielen“ der europäischen „Karte“. Die faschistischen Staaten waren in der Krisensituation Frankreichs der 1930er Jahre für Jouvenel Vorbilder, sie hätten erfolgreich auf die Herausforderungen der Zeit reagiert. Insbesondere die Jugendpolitik war ihm ein Anliegen (wie im „Nationale Plan für die Jugend“ von 1934 dargelegt), die militärische Prägung der beiden Diktaturen kam Jouvenels Sehnsucht nach einem erneuerten europäischen Rittertum (und damit der Rückübertragung von Macht an alte Adelsfamilien) vermeintlich nahe. Daher konnten Italien und Deutschland (wie 1930 formuliert) als stärkste Staaten die weitere Entwicklung Europas bestimmen. Woher kam der Wandel in Jouvenels Staatsdenken? 60 61 62
Ebd., S. 197. Ebd., S. 199. Beide Zitate ebd., S. 205.
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Die Beschäftigung mit Deutschland diente der Suche nach einem Ersatz für das als überholt angesehene französische Regierungssystem mit einem mächtigen Parlament und rasch wechselnden Premiers. Er hatte bereits 1928 die „Kommandowirtschaft“ für Europa gutgeheißen und zum Programm der jungen Generation erhoben – der antiliberale Zug einte in jener Zeit Gelehrte fast jeglicher Couleur63. Am Parteiprogramm des PPF vom 14. November 1936 hatte Jouvenel Anteil – mit Pierre Drieu La Rochelle votierte er zugunsten der autoritären Regime. Beide hielten Eingriffe in die Gesellschaft durch eine führende Partei für erstrebenswert; der „neue Mensch“ sollte die dekadente Bourgeoisie ersetzen. Die Eliten sollten die Europaidee propagieren, schrieb Drieu übereinstimmend mit Jouvenel 1936 in L’Europe nouvelle, auf nationale Stärke und eine Koalition mit Italien setzen. Die Grenzveränderungen des Jahres 1919 gefährdeten für sie den Frieden aller. Der PPF forderte, auf Hitlers Verständigungsangebote einzugehen, um Frankreich aus der Defensive zu befreien 64. Darin irrten sie: Hitler war auf Krieg aus, nur blieb ein gegen deutsche Angriffe gerüstetes Frankreich eben Illusion. Das beklagten nach dem Frühjahr 1940 viele, die führend in der Résistance waren65. Im Programm findet sich auch fast im Wortlaut Jouvenels Begründung für sein Werk Le Réveil de l’Europe von 1938: Le rapprochement serait un immense progrès vers la mise en ordre de l’Europe, petit continent qui ne peut, sans cette réconciliation, reprendre son rôle historique. Il ne saurait s’agir d’un rapprochement dicté par la crainte, mais bien d’une entente inspirée par le bon sens et par la volonté de rendre à l’Europe occidentale sa mission d’ordonnatrice du monde.
Dem Parteiprogramm liegen Eindrücke von der Sommerolympiade, vom Nürnberger Parteitag und aus Jouvenels Interview mit Hitler vom Februar 193666 zugrunde – Ereignisse des „schönen Scheins“. Verfolgungen blieben Jouvenel bis dahin verborgen.
63 Bertrand de JOUVENEL, L’Économie dirigée. Le Programme de la nouvelle génération, Paris 1928. 1931 besuchte er die USA auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise. 64 L’Europe Nouvelle vom 14. November 1936, S. 1140–1141. Pierre Drieu La Rochelle übernahm Positionen Jouvenels in „Socialisme fasciste“, Paris 1934. Jouvenel hat den PPF ferner vorgestellt: Le Parti Populaire Français, in: Sciences Politiques 52 (1937), S. 363– 370. 65 Statt vieler sei hingewiesen auf Marc BLOCH, Die seltsame Niederlage – Frankreich 1940. Der Historiker als Zeuge. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Ulrich Raulff, Frankfurt a. M. 1995. 66 Im Interview stellte Hitler den Ausgleich mit Polen (Erklärung vom 26. Januar 1934) als vorbildhaft dar für einen Ausgleich mit Frankreich. Der entsprechende Vertrag mit Frankreich blieb ohne merkliche Wirkung: Deutsch-französische Erklärung vom 6. Dezember 1938, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 9 (1939/1940), S. 160–161.
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Auf einer Konferenz am 17. Dezember 1936 entwickelte Jouvenel ein profaschistisches Europabild, indem er ausführte, nur Deutschland, Italien und die Sowjetunion könnten durch ihren Staatsaufbau angemessen auf die neuen sozialen Anforderungen reagieren. Er bezog dies auf die französische Situation: „C’est ainsi que nous arriverons à définir peu à peu ce qui doit être le régime nouveau de la France et de l’Europe“ 67. Zugleich erhob er das Prinzip bilateraler Verträge (nach dem das Deutsche Reich und Italien agierten) zum Modell für die französische Außenpolitik, konstatierte (wie etwa auch Alfred Fabre-Luce) das Scheitern des Völkerbunds. Die Faschismusrezeption findet sich in den späteren Deutschlandstudien wieder68. Im Krieg verlagerte sich sein Denken zu Fragen, wie es zum totalen Staat und Krieg kommen konnte. So weist ein Entwurf „L’Etat et le soldat“ aus seiner Dozentenzeit an der ESOP die These auf, gegenwärtige Führer hätten größere Macht besessen als frühere „absolute“ Herrscher. Deutschland war im Krieg Vorbild bei militärischer wie wirtschaftlicher Mobilisierung, aber der Rubikon war überschritten: „Le processus en vient à tel point que sans doute il ne saurait aller plus loin“69. Nachdem die deutsche Gewaltherrschaft in Frankreich Einzug gehalten hatte, wandte sich Jouvenel von autoritären Ideen ab und dem liberalen Denken zu. 6. Le Réveil de l’Europe Wenn Jouvenel die Versailler Ordnung als Grundkonstante aller politischen Entscheidungen Deutschlands der 1930er Jahre betrachtete, lag darin eine zwingende Logik zur Revision. Sein Motto vom Herbst 1939 – für die Zwischenkriegszeit sei „eher ein klares denn ein gerechtes Bild nötig“70 – deutet die Voraussetzungen für seine Deutschlandstudien an: Er hinterfragte das überkommene Machtbewusstsein Frankreichs, vertrat die Ansicht, nur ein autoritär reformiertes Staatswesen könne einen neuen Konflikt bestehen: Die Machtlage würde Deutschland erlauben, seine Interessen eines Tages gegen Frankreich auszuspielen. Frankreich müsse auf der Hut sein. In dem 1939 abgeschlossenen Band De Versailles à Locarno analysierte Jouvenel zunächst die deutsche Lage bis 192571. 1941 zeichnete er in La décomposition de l’Europe libérale den Wiederaufstieg Deutschlands unter die europäischen Mächte bis 1932 nach – das erste Resümee der Zwischen-
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Fonds NAF 28143, Inventaire 2, Box 59. Bertrand de JOUVENEL, Le Réveil de l’Europe, Paris 1938, S. 149 und S. 223–268. Fonds NAF 28143, Box 7. Die Grenze war noch nicht physisch da – der Atombombenabwurf. 70 Bertrand de JOUVENEL, De Versailles à Locarno, Paris 1940, S. 9. 71 Vorstudien dazu im Fonds NAF 28143.
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kriegszeit72. Er kam mit der These der décomposition Europas als Folge der Instabilität Deutschlands während der Weimarer Zeit zu einem ähnlichen Schluss wie der NS-Gegner und spätere Résistance-Kämpfer Edmond Vermeil73. Jouvenel wäre aber nicht Jouvenel, wenn er dieser passiven Rede nicht eine aktive europäische Erneuerung oder: dynamische Restauration (im Sinn Italiens und Deutschlands) entgegengesetzt hätte. In Le Réveil de l’Europe, einer Studie zu antidemokratischen Bewegungen, erschienen am 11. März 1938, einen Tag vor dem Einmarsch Hitlers in Österreich, deutet sich Jouvenels Legitimation des Stärkeren an – dies ergänzt Vers les EtatsUnis d’Europe bruchlos insofern, als diese Schrift Macht ausbalancieren, nicht aufheben wollte. Daraus entstand im Europabuch von 1938 die Idee einer Verständigung auf der Basis autoritärer Regierungen. Dass dies keine Erfindung der NS-Zeit war, belegte er mit der rasanten wirtschaftlichen und technischen Entwicklung der 1920er Jahre, nicht zuletzt der Einführung von Radio und Kino. Im Gegenzug hätten sich Bewahrungstendenzen verstärkt. Der Streit um die Bewältigung der Modernitätskrise bestand zwischen Volksfront und Hitlerregime bloß fort: „La haine est justifiée, s’adressant à ceux que l’on croit coupables de provoquer la ruine de la civilisation“74. Aufgebrachte Massen waren für Jouvenel (und darin lag ein Grund für das gescheiterte Engagement beim PPF) kein Movens für Fortschritt. Er wandte sich zum Zweck einer europäischen Kooperation an die „aristocratie intellectuelle“. Bei der Suche nach einer neuen Ordnung für Frankreich war Deutschland Vorbild, die angelsächsischen Staaten schieden als Problemfälle aus75. Kern des britisch-französischen Gegensatzes waren politische Fehlentscheidungen: Großbritannien und die USA bewirkten 1919 die Befristung der Rheinlandbesetzung; Frankreich war für die ostmitteleuropäischen Staaten 1919 Vorbild im Staatsaufbau – London kritisierte die Übernahme des französischen Zentralismus insbesondere wegen hoher Anteile der Minderheiten an der jeweiligen Gesamtbevölkerung (Ungarn in Rumänien und der Tschechoslowakei, Deutsche in der Tschechoslowakei) 76. Frankreich hatte seit 1919 um des Friedens und der Demokratie willen seine Verfassung, Verwaltungspraxis und Kulturpolitik insbesondere in Ostmitteleuropa kopieren lassen, nun wendete sich ein Staat nach dem anderen von Frankreich ab und einer eigenen, meist autoritären Ordnung zu (die Tschechoslowakei war eine Aus72 Bertrand de JOUVENEL, La décomposition de l’Europe libérale, Paris 1941. 73 Edmond VERMEIL, L’Allemagne. Essai d’explication, Paris 1940. 74 JOUVENEL, Le Réveil, S. 13. 75 Vgl. DERS., L’Angleterre assume ses responsabilités, in: Revue de Paris
vom 1. Juli 1939, S. 86–94. 76 DERS., De Versailles, S. 123–127; vgl. die Sicht auf die Minderheitenfrage bei E. A. ALPORT, Rezension zu: De Versailles à Locarno, in: International Affairs Review Supplement 19 (1940), Heft 2, S. 107–108.
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nahme). Jouvenel konzedierte: Die Idee eines neuen Europa leitete sich aus dem Machtausgleich aller europäischen Nationen ab. Deshalb hielt er die deutsche Aufrüstung und vermeintliche Gleichberechtigung nicht für ein Mittel zum Zweck totalitärer Machtausübung und rassistischer Innenpolitik. „L’Europe nouvelle“ war für ihn kein nur von Nationalsozialisten gepachtetes Konstrukt77. Ein innerlich starkes Frankreich sollte eine neue militärische Auseinandersetzung bestehen können. Deutschlands rascher Weg aus der Weltwirtschaftskrise im Vergleich zu Frankreich zeichnete sich demnach bereits in den 1920er Jahren durch einen Modernisierungsschub in der Industrie ab, durch das autarke Wirtschaftssystem und die Bindung der Donaustaaten78. Zugleich habe Deutschland in der Zeit von „Locarno“ eine sparsame Verteidigungspolitik „mit anderen Mitteln“ betrieben: Während Frankreich rüsten musste, um seine Politik durchzusetzen, brauchte Deutschland „nur“ eine nach Westen gesicherte, nach Osten hin aber offene Grenzpolitik zu betreiben. Jouvenel forderte in dieser Lage eine offensive Sicherheitspolitik gemäß dem Prinzip „kollektiver Sicherheit“ zur Rettung der europäischen Ordnung: „Il ne faut pas seulement à la France un instrument défensif pour sauvegarder son territoire. Il lui faut aussi un instrument offensif qui la mette en mesure d’intervention pour sauvegarder le 79 statut de l’Europe“ . In De l’une guerre à l’autre äußerte er sich pessimistisch gegenüber den Möglichkeiten der Demokratie, im Mächtekonzert brauche Frankreich die Möglichkeit zur Dominanz: „Si elle cesse d’intervenir, elle cesse de dominer. Si elle cesse de dominer, elle perd les alliés que lui valait sa position maîtresse. Si elle perd ses alliés, elle se retrouve faible devant l’invasion“80. Jouvenel kritisierte die führenden Köpfe der französischen Sicherheitspolitik vehement: Herriot, Tardieu, Briand und Maginot machte er für die katastrophale Entwicklung verantwortlich. Gleichwohl habe das ganze Volk den Anspruch aufgegeben, für die demokratische Ordnung einzustehen81. Entgegen anderer Äußerungen über eine Politik der Stärke fuhr er konziliant fort, Frankreich habe keineswegs ein „régime de force“ gewollt. Die nur defensive französische Demokratie habe Raum für eine Ausbreitung der deutschen wie der italienischen Diktatur in Europa gegeben, womit sie ihre Daseinsgrundlage verspielte. Den „neuen“ Nationalismus Deutschlands fasste Jouvenel als Patriotismus auf: „Il faut le dire, le vigoureux réveil du sentiment patriotique en Alle77
Jouvenel war Redakteur der gleichnamigen Zeitung; vgl. Bernard BRUNETEAU, L’Europe nouvelle de Hitler. Une illusion des intellectuels de la France de Vichy, Paris 2003. 78 JOUVENEL, De Versailles, S. 382. 79 Ebd., S. 409. 80 Ebd., S. 411. 81 Vgl. DERS., La décomposition, S. III.
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magne a bénéficié chez nous de sympathies“82. Stimmte Jouvenel dieser Aussage zu, oder übte er im Sinn seiner Argumentation Kritik an der positiven Haltung Frankreichs am gestärkten deutschen Nationalismus? Die Anerkennung des deutschen „Patriotismus“ hätte Frankreich eine Vorherrschaft in Europa gleichsam als Geburtshelfer der jeweiligen faschistischen Nationalbewegung versprochen. Einen Vorteil hatte Deutschland nicht zuletzt aufgrund seiner demographischen Situation: Während Frankreich in den Weiten Nordafrikas nicht einmal mehr die „fonctions de commandement“83 besetzen konnte, hielt Jouvenel Deutschland im ersten Kriegsjahr für fähig, halb Europa selbst zu verwalten. Auch in der auswärtigen Kulturpolitik entdeckte er Modellhaftes, etwa in den Politiken deutscher Minderheiten in Ostmitteleuropa: Endlich sorgten sie dafür, dass junge Leute deutscher Sprache Gemeinschaftshäuser und Sportplätze erhielten, [...] um die sie die Jugend der Majoritäten beneidete. Sie bewirkten ein Bild von Deutschland, das den Anschauungen und Wünschen der neuen Generation entsprach84.
Offenkundig faszinierte die französische Rechte am Nationalsozialismus nicht zuletzt dessen Außenwirkung. Jouvenel sah die Konkurrenz der autoritären Führer Polens, Ungarns und Deutschlands um die erfolgreichere Mobilisierung der Massen als Anregung für Frankreich. Warum hielt Jouvenel Deutschland für ein Vorbild in Europa? Im Land rechts des Rheins sei eine „restauration de l’autorité“85 erfolgt, die tiefere Ursachen als die Weltwirtschaftskrise habe. Für ihn war die Krise nur Anlass zur Machtübernahme Hitlers 1933. Nachdem Deutschland im Ersten Weltkrieg seine Aristokratie verloren habe, die „über die Einhaltung des Allgemeinwohls wachte“86, beherrschte in „Weimar“ die Privatwirtschaft die Politik. Jouvenel war kein Monarchist, nationale „Disziplinierung“ sollte eine neue „Ordnungspartei“ erreichen, die die Unmoral bislang Privilegierter bekämpfte87 – er meinte unmissverständlich die NSDAP. Die NS-Bewegung charakterisierte Jouvenel als im Wortsinn schlagkräftige Verbindung von Kämpfern aus der Unterschicht und Personen aus den alten Eliten; ihr Ziel sei weder alt noch neu, sondern „permanent“, die angestrebten Gesellschaftsstrukturen „kehrten zu den Naturgesetzen menschlichen Zusammenlebens zurück“88. In der Tat deutet die Maxime vom „Recht des 82 83 84 85 86 87
Ebd., S. IV. Ebd., S. 26. DERS., Nach der Niederlage, S. 79. DERS., Le Réveil, S. 141. Ebd., S. 143. Eine entsprechende Rolle schrieb Thomas Mann dem Großbürgertum zu. Ebd., S. 144. Frankreich kritisierte etwa in der Stavisky-Affäre die Unmoral, siehe Olivier DARD, Les années trente. Le choix impossible, Paris 1999, S. 71–74. 88 JOUVENEL, Le Réveil, S. 145.
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Stärkeren“ auf primitive Urformen hin – allerdings meinte Jouvenel die Aussage ernst89. Der Faschismus habe nicht nur Konsum (für die Bourgeoisie wie der Kapitalismus bzw. für alle wie der Sozialismus) gewollt, sondern auch immaterielle Werte geschaffen, die Orientierung geben sollten. Jouvenel erlag der Rede von einer neuen „geistigen Kraft“, wenn er die Legitimität der Nationalsozialisten mit der friedlichen „Machtergreifung“ und dem „Führerglauben“ begründete. Hitlers „vigueur virile“ zeigte für ihn den erfolgreichen Kriegsherrn90. Jouvenels Überzeugung zufolge hat die lange Phase des Machtkampfes (bis zur Übernahme der Kanzlerschaft) die Idee des Nationalsozialismus bis in den letzten Winkel Deutschlands bekannt gemacht. Schon deswegen sei der italienische Faschismus, der sich schnell durchsetzte, schwächer. Hitler habe ein Diktum Napoléons befolgt: „A la paix générale, j’aurais institué une direction de la presse, composée des plus hautes capacités du pays, et j’aurais fait parvenir jusqu’au dernier hameau mes idées et mes intentions“91. Von dem kritischen Germanisten Lichtenberger übernahm Jouvenel eine Begründung für den Erfolg des Führerprinzips, nach dem die Macht aus allen sozialen Schichten und nach Leistung hergeleitet wird; auf allen Ebenen seien die Führer der nächsthöheren Ebene verantwortlich92. NS-Deutschland hatte – aus der Perspektive von 1938 und der Ideologie heraus – richtig gehandelt: So erscheint der französische Einfluss, der gemeinhin als positiv für Kultur, bürgerliches Recht und Machtidee gilt, als verhängnisvoll93. Die strategische Absicht hinter dem Münchner Abkommen lag für Jouvenel offen zu Tage: Die Grenzrevisionen waren nötig, um die „Aufgabe zu erfüllen, Zentraleuropa von Hamburg bis Konstantinopel zu organisieren“94. Dass er diese geopolitische Anmaßung für legitim hielt und so völkerrechtliche Grundsätze missachtete, macht den Bruch zum späteren liberalen Denken deutlich. Er verglich Hitler mit Napoleon und konstatierte, dass „die Schwungkraft der deutschen Revolution die germanische Macht weit über die vom nationalen Gedanken angestrebten Grenzen hinaus erweitert hat. Dasselbe Schicksal ist auch uns selbst zur Zeit der französischen Revolution widerfahren“95. Als Erzfeind habe Hitler Frankreich lediglich in 89 Die naturgemäße Gesellschaftsform sucht Jouvenel auch in dem Band: Reine Theorie der Politik, Neuwied 1967, S. 63–68, und findet sie im Nukleus der Familie. Er wendet sich gegen Vertragstheoretiker. 90 DERS., Le Réveil, S. 267. 91 Ebd., S. 246. 92 Vgl. Henri LICHTENBERGER, L’Allemagne nouvelle, zitiert nach ebd. 93 Vgl. JOUVENEL, Nach der Niederlage, S. 141–143, unter Rekurs auf Generalfeldmarschall Helmuth von MOLTKE, Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges von 1870–1871, Berlin 1891, und Louis REYNAUD, Histoire générale de l’influence française en Allemagne, 3. Aufl, Paris 1924. 94 JOUVENEL, Nach der Niederlage, S. 155, meint die Geopolitik. 95 Ebd., S. 160.
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der Annahme bezeichnet, dass die Dritte Republik ein mitteleuropäisches Reich niemals dulden würde. Zur deutschen Gesellschaft der 1930er Jahre wartete Jouvenel ex post mit der wenig überraschenden These auf: Eine straffe Staatsführung verbunden mit neuen Erziehungsmethoden für die Jugend und einer identitätsstiftenden Ideologie führten zum militärischen Sieg. Der Nationalsozialismus legte von Anfang an das Segelflugzeug in die Hände der jungen Menschen. Segelflug wurde in den Jugendlagern gepflegt, die in großer Meereshöhe gelegen waren. Die jungen Leute bekamen dort Geschmack am Leben in freier Luft, an der Wissenschaft vom Aufwind und den Böen, und sie gewöhnten sich an das Gemeinschaftsleben. Dort bildete sich diese neue deutsche Fliegerei, die [1940] einen so bedeutenden Anteil an unserer Zertrümmerung hatte96.
Jouvenel war nicht um eine soziologische Begründung verlegen: Man muss betonen, dass eine genaue Kenntnis der jugendlichen Seele es ermöglicht hat, diese Resultate nicht durch Zwang, sondern durch die geschickte Lenkung angeborener Neigungen zu erzielen, die sich in den demokratischen Staaten im blinden Spiel des Zufalls verzettelten 97.
Das großenteils freiwillige Engagement insbesondere in der Hitlerjugend verstellte Jouvenel den Blick auf die offen ausgegrenzten Kinder etwa von Sozialisten. Er gab daher seinen Landsleuten ein geschöntes Bild weiter. Ein Wermutstropfen blieb dem vom NS-Reich geblendeten Jouvenel: Der totale Staat beherrschte den Einzelnen so, dass die Autorität der Kirche verloren ging. Jouvenel forderte hingegen einen Platz für die Kirche (das macht seine Idee vom autoritären Staat realitätsfern): „Il en résulte que les concours spirituels les plus indispensables manquent aux restaurateurs, leur manquent doublement, pour les assister d’abord, pour les modérer ensuite“98. Er bezog sich mit dem Zitat auf die päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge“, wonach jede Ordnung auf die Kongruenz mit der Schöpfungsordnung zu prüfen ist. Damit vertrat Jouvenel autoritär anmutende Ideen, deren Mäßigung durch lateineuropäische Traditionen auffällt. 7. Vergleich der Europaideen bis Kriegsbeginn Mit Le Réveil de l’Europe wandelte Jouvenel 1938 Gedanken seiner Studie Vers les Etats-Unis d’Europe ab und verabschiedete sich vom pazifistischen Denken seines Vaters Henry de Jouvenel99. Bereits bei einem Vortrag von 96 97 98 99
Ebd., S. 211; zum Gemeinschaftsgedanken vgl. auch DERS., Le Réveil, S. 216. DERS., Nach der Niederlage, S. 211. DERS., Le Réveil, S. 283. Henry de JOUVENEL, La Paix française. Témoignage d’une génération, Paris 1932.
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1936 trat er für ein „régime nouveau“ in Europa ein, das er sich als antiliberale Ordnung von Nationalstaaten vorstellte. Im Europabuch nannte er konstruktive Änderungen, die der Krisenzeit angemessen schienen. Bezeichnend ist seine These, dass die NS-Außenpolitik nicht gegen die französische Völkerbundpolitik agierte, sondern eine Lücke füllte, die nach dem Zusammenbruch der pro-französischen Solidarität 1932 in Europa entstanden sei (die „décomposition de l’Europe libérale“). Jouvenel wollte soziale und ökonomische Ideen in die europäische Debatte einbringen: Die wirtschaftlichen Interessen jedes Landes bedurften je eigener Vertragssysteme – er wollte die deutsche strategische Kooperation mit Südosteuropa modellhaft auf Frankreich übertragen100. Der Krise des Kapitalismus hatten sich sowohl die Sozialgesetzgebung der 1920er Jahre als auch die Maßnahmen des Front populaire nicht gewachsen gezeigt. Einher mit der „collectivisation des capitaux“ sollte daher eine korporative Ordnung der Wirtschaft gehen, die an die Stelle des Profitdenkens das Wohl der Gemeinschaft setzte101. Ablehnend stand Jouvenel dem Autarkiegedanken in der Landwirtschaft gegenüber, das widerspreche dem komparativen Kostenvorteil102. Sein eigener Plan lehnte sich an die feudale Domänenwirtschaft an: Subsidiär sollte all das im Innern produziert werden, was nicht günstiger von außen zu beschaffen war103. Das gesellschaftliche Leben wollte Jouvenel „verjüngen“, die Jugend durch eine neue Erziehung zu mehr Verantwortung führen, deren Kreativität fördern und dies in praktischen Fortschritt ummünzen. Dabei sollten statt Recht und Individualität Disziplin und Mannschaftsgeist gelten: „Le triomphe du fascisme c’était d’abord celui de l’équipe“104. Obwohl er selbst individualistisch-elitär erzogen worden war, hieß Jouvenel die nach dem Prinzip von „Befehl und Gehorsam“ funktionierenden Jugendlager der faschistischen Staaten gut. Für alle Arbeiter Europas forderte er die Abkehr von der Siedlungspolitik der alten Industriestadt. Faschistische Führer verglich Jouvenel mit römischen Soldatenkaisern, die nur auf die Stärke der eigenen Person bauen konnten und vom Zuspruch der Untergebenen abhingen105. Eine geachtete Ordnung in Europa konnte für ihn nur entstehen, wenn die realen Machtverhältnisse sich darin widerspiegelten (Deutschland und Italien konnten als „aufstrebende“ Nationen eine größere 100 101 102
Bertrand de JOUVENEL, Le Réveil, S. 81; vgl. DERS., Nach der Niederlage, S. 83. DERS., Le Réveil, S. S. 99–100 und 139. Ebd., S. 84. Bis heute hat Jouvenels Kritik am nationalstaatlichen Agrarprotektionismus Gültigkeit. 103 Ebd., S. 176–177. 104 Ebd., S. 189–191 und 223 sowie 234. Den Gemeinschaftsgeist hatte Jouvenel bereits in seinem „Nationalen Plan für die Jugend“ von 1934 als Ideal für die Jugenderziehung gelobt. 105 JOUVENEL, Le Réveil, S. 236.
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Rolle beanspruchen). Dieses geopolitische Denken in Machtrelationen weist frappierende Ähnlichkeit mit dem von Carl Schmitt auf106. Hintergedanke war: Wenn Frankreich nicht europäische Vormacht sein konnte, sollte es an Einfluss zumindest mit den faschistischen Regimen „gleichziehen“. Die Illusion rechtsintellektueller Europaideen dieser Zeit fasste Pierre Gardère in der These zusammen, mit Deutschland und Frankreich träfen am Rhein zwei große Nationen aufeinander, die aufgrund abgegrenzter Aufgabenbereiche auf dem Kontinent bzw. in Afrika einen Ausgleich erreichen konnten107. Wo bleibt auf diesem Schachbrett die Grande Nation? Im Vergleich zeigt sich: ein „rayonnement intellectuel“ ging von Frankreich in dieser Zeit nicht aus108. Vielmehr galt Deutschland aufgrund kultureller, sozialer, politischer und historischer Bedingungen als „Motor“ der europäischen Entwicklung. Geopolitisch nahm Deutschland ebenso eine besondere Rolle ein, es gehörte plötzlich zum „Westen“, weil es sich selbst zum Schutzwall gegenüber dem stalinistischen Osten deklarierte109. In der europäischen Aufgabe, die französische Rechtsintellektuelle wie Jouvenel Deutschland damit zumaßen, findet sich eine radikale Abkehr von der bisherigen Position Frankreichs. Mit der Perversion der Gewalt im totalen Krieg, den Jouvenel überwiegend von Genf aus erlebte, entstand eine neue Geisteshaltung. 8. Quelle Europe? Der Zweite Weltkrieg legte den zunächst als autoritär wahrgenommenen Staat als totalitäres System bloß110. Jouvenels journalistisches Tagebuch des Kriegsendes und der alliierten Besatzungspolitik Quelle Europe? analysiert zum einen die politischen Ereignisse, belegt zum anderen den Wandel in 106 Carl SCHMITT, Großraum gegen Universalismus. Der völkerrechtliche Kampf um die Monroe-Doktrin (1939), in: DERS., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles, 2. Aufl., Berlin 1988, S. 295–302; vgl. Sebastian LIEBOLD, Großraum ohne Grenzen? Mitteleuropa bei Carl Schmitt in nationalsozialistischer Zeit, in: Hendrik T HOSS (Hrsg.), Mitteleuropäische Grenzräume, Berlin 2006, S. 21–38. 107 Vgl. bei Michel GRUNEWALD, Le couple France-Allemagne vu par les nazis. L’idéologie du rapprochement franco-allemand dans les Cahiers franco-allemands (1934–1939), in: Hans-Manfred BOCK [u. a.] (Hrsg.), Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Paris 1993, S. 131–146, hier S. 145. 108 Vgl. Gérard LOISEAUX , La littérature de la défaite et de la collaboration d’après Phenix ou cendres, Paris 1984, S. 448. Frankreich zog eine Vielzahl von Emigranten an, die nicht zuletzt aufgrund der noch geltenden Werte von 1789 ins Land kamen; vgl. Albrecht BETZ, Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre, München 1986. 109 Vgl. GRUNEWALD, Le couple, S. 144, zu den Thesen von 1935 in den DeutschFranzösischen Monatsheften. 110 Erst Carl Joachim Friedrichs grundlegendes Werk „Totalitarian Dictatorship and Autocracy“ (Cambridge/Mass. 1956) legte die Scheidelinie zwischen beiden Formen fest.
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Jouvenels Denken – die staatslastigen Ordnungsvisionen der Zwischenkriegszeit waren passé. Jouvenel kritisierte fortan das Wachstum des staatlichen Zugriffs auf die Gesellschaft111. Vom 20. Juli 1944 datiert ein Eintrag über die „balcanisation de l’Europe“ – Jouvenel kritisierte die Ausbreitung „kleiner“ Staaten parallel zur abnehmenden Macht der früheren großen Militärmächte (Frankreich, Preußen, Russland). Dies ließ ihn frösteln, da Miniaturmächte nicht den Anforderungen moderner Regierungstätigkeit genügten112. Der „Kalte Krieg“ mit neuen Supermächten war als Konstellation zu dieser Zeit noch unvorstellbar. Am 8. März 1945 schrieb er über Deutschland: „Il faut, dit-on, que cette fois le peuple allemand sente sa défaite“. Deutschland wie im Westfälischen Frieden aufzuteilen, würde zu neuer Gewalt führen („il ne peut retrouver le bonheur qu’avec la force“)113. Visionär ist sein wirtschaftspolitischer Vorschlag: „Enlevez au gouvernement de Berlin la maîtrise du Mark et remettez-là à un organisme international, vous aurez fait du désarmement effectif“114. Mit dem Waffenstillstand vom 7. und 9. Mai 1945 trat für Jouvenel ein bewaffneter Frieden ein („paix armée“), der nach allen Verbrechen und Kriegswirren durch Geltung übergeordneten Rechts eine stabile, einerseits dezentralisierte, andererseits „internationalisierte“ Ordnung etablieren helfen sollte. Er wies auf den stabilen Frieden von 1815 und den instabilen Frieden von 1918 hin. Ein neues Europa war für ihn nur dann erfolgreich, wenn es von der „idée-précaution“ zum „idée-principe“ wechselte115. Statt defensiver Sicherheit und quälender Reparationspolitik sollte eine gemeinsame, ideengeleitete Aufbaupolitik betrieben werden. Für Jouvenel war es dringlich, nach dem Ende des Faschismus keinen demokratischen Polizeistaat in einer Art negativen Dialektik zu errichten116. Zugleich warnte er vor kommunistischen Experimenten, indem er folgendes Paradoxon anführte: „Ils veulent aujourd’hui désarmer le pouvoir exécutif et lui confier le soin de régir toute l’économie“117. Für Europa suchte Jouvenel eine neue liberale Ordnung zu begründen, in der Frieden und Gemeinwohl aus wirtschaftlicher Freiheit und Wohlfahrt rentierten. Praktische Herausforderung war einmal, das zerstörte Europa neu
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Die These des schwächeren staatlichen „Durchgriffs“ im Ancien Régime behielt er bei; vgl. JOUVENEL, Le Réveil, S. 173-174, und DERS., Über die Staatsgewalt. Die Naturgeschichte ihres Wachstums (1945), Freiburg im Breisgau 1972, S. 14–21. 112 JOUVENEL, Quelle Europe?, S. 21 und 42–43. 113 Ebd., S. 64. Allerdings hat er Sympathie für souveräne Teilstaaten wie Sachsen („je souhaiterais que l’on retablît la Saxe“), S. 65. 114 Ebd., S. 66. 115 Ebd., S. 260. 116 Ebd., S. 91–92. 117 Ebd., S. 101.
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aufzubauen118, andererseits eine neue politische Grundlage für die Kooperation der Staaten zu finden. Gegenüber Institutionen auf europäischer Ebene hatte Jouvenel Vorbehalte, da seine europäischen Überlegungen der Zwischenkriegszeit in einer nicht intendierten Machtusurpation eines einzelnen Staats zu Lasten der anderen endeten119. Skepsis gegen neue Integrationsversuche resultierte aus der Angst, ein neuer „Leviathan“ würde sich Europas bemächtigen. Jouvenel kritisierte Vertragstheoretiker wie Rousseau vehement, er traf den Puls der Zeit mit dem naturrechtlichen Argument des Menschen als zoon politicon. Da der Mensch in sozialen Kreisen (Familie, Ortschaft, Region, Staat) lebte, erschienen ihm alle unveränderlichen Verträge als künstlich. Liberalismus funktionierte für ihn bei Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Der Schutz des Bürgers stehe vor der Durchsetzung jedweden staatlichen Interesses, weshalb Jouvenel (darin erneut Fabre-Luce ähnlich) Charles de Gaulle kritisierte, der die französische Zentralgewalt 1958 – nach den Erfahrungen der Vierten Republik – mit erheblich mehr Macht ausstattete. Schwierigkeiten bereitete ihm die Mächtevereinigung der UNO („une séconde Société des Nations“), da er die Schwächen des Völkerbunds nicht nur klar vor Augen, sondern ob der Aufgaben seines Vaters in Genf selbst miterlebt hatte. Sein Urteil über das noch undifferenzierte „super-gouvernement“ in New York schwankte daher zwischen Kritik an der Projektion zwischenstaatlicher Zwiste auf diese Ebene („Chamberlainisme“)120 und dem Lob für eine endlich wirksame Kraft zugunsten weltweit durchsetzbarer Menschenund Bürgerrechte. 9. Ausblick Das Urteil von Daniel Mahoney ist berechtigt – Jouvenels Denken gleicht einem „melancholy liberalism“121. Eine Kontinuitätslinie im Denken zeigt sich in den drei besprochenen Werken: Jouvenel vertrat in gewisser Weise stets nonkonformistische Positionen, da er 1930 eine supranationale Regierung (mit universalistischem Anspruch) befürwortete, und 1938 ein neofeudales Gesellschaftsbild propagierte, das zugleich personalistische wie föderale Ideen aufnahm. 1947 betonte Jouvenel besonders die Freiheit zu rechtlich 118 DERS., L’Amérique, sieht im Marshallplan eine effektive Möglichkeit, den Wiederaufbau mit der Durchsetzung liberaler Prinzipien zu verknüpfen. 119 Seine Bedenken ähnelten denen der amerikanischen Verfassungsväter, die die Zentralgewalt wirksam zu begrenzen wussten. 120 JOUVENEL, Quelle Europe?, S. 149. 121 Vgl. Daniel M AHONEY, Bertrand de Jouvenel. The conservative liberal and the illusions of modernity, Wilmington 2005. Zur weiteren Rezeption von Jouvenels Werk vgl. Sebastian LIEBOLD, Kollaboration des Geistes. Deutsche und französische Rechtsintellektuelle 1933–1940, Berlin 2012, S. 244–248.
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begrenzten Vereinigungen (um totalitäre Entwicklungen auszuschließen), die Respekt vor dem Individuum hatte. Dafür trat er nicht zuletzt mit Friedrich von Hayek in der Mount Pelerin Society ein. Wirtschaftsliberalismus verbindet in dieser Zeit politischen Realismus mit der Auffassung, eine antikommunistische Ordnung sei auf Dauer dem sowjetischen Gesellschaftsentwurf überlegen: Un tel régime, dont les piliers moraux sont la dignité de la personne et la responsabilité immédiate de la conscience, dont les aspects politiques sont le self-gouvernement le plus direct et la préeminence de la justice, est plus proprement appelé égalitaire et libéral que démocratique. Il implique [...] que toute groupe ayant une individualité propre a droit au même respect 122.
Jouvenel wandte sich in den 1950er Jahren der Ökologie und Zukunftsforschung zu. Er steht für die Verbindung von konservativem und progressivem Gedanken, eine Art schwarz-grüner Avantgarde, die sich bis heute in seiner Zeitschrift Les futuribles manifestiert. Er wandelte sich vom Befürworter der „Vereinigten Staaten von Europa“ und einem Kämpfer für ein autoritär geordnetes Europa (1938) zum liberalen Staatsphilosophen mit Europaskepsis. Die totalitäre Erfahrung machte ihn kritisch gegen jede Art von starker Intervention.
122 JOUVENEL,
Quelle Europe?, S. 215.
EUROPA-INSTITUTE UND EUROPA-PROJEKTE
UTB-Handbuch der Geschichte Europas – Versuch einer Würdigung Von
Wolfgang Schmale Der Abschluss des von Peter Blickle herausgegebenen Handbuchs der Geschichte Europas (HGE) in 9 Bänden bei UTB legt eine Reflexion über das Gesamtwerk nahe1. Es behandelt annähernd 3000 Jahre von ca. 1000 vor Christus bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein ursprünglich mitangekündigter zehnter Band zur Integration Europas 1945–1990 scheint nicht zustande gekommen zu sein; Blickle schreibt im Herausgebervorwort des 2012 als letzten Band erschienenen HGE 7 (1800–1850), dass das Handbuch neun Bände umfasse und nunmehr komplett sei. Da es an Darstellungen zur europäischen Integrationsgeschichte seit 1945 nicht mangelt, ist das chronologische Ende des HGE Mitte des 20. Jahrhunderts verschmerzbar, auch wenn es kein vergleichbares Einzelwerk ähnlichen Zuschnitts des HGE gibt. Es scheint das Schicksal solcher Handbücher sein zu müssen, dass, a), nicht unbedingt der chronologisch erste Band zuerst erscheint, und dass, b), der letzte Band ein Jahrzehnt oder später nach dem ersten erscheint (vgl. tabellarische Übersicht). Das liegt in der Natur der äußerst anspruchsvollen Sache, schafft aber beim jeweiligen Forschungsstand von vorneherein ein gewisses Ungleichgewicht. Gerade im Jahrzehnt zwischen 2002 und 2012, innerhalb dessen das HGE erschien, hat es zunehmend Publikationen europäischen Zuschnitts gegeben bzw. hat sich z. B. die Zugänglichkeit von Forschungen
1
Wolfgang SCHULLER, Das Erste Europa 1000 v. Chr. – 500 n. Chr. 18 Karten (HGE 1), Verlag Eugen Ulmer Stuttgart 2004; Hans-Werner GOETZ, Europa im frühen Mittelalter 500–1050. 8 Karten (HGE 2), Verlag Eugen Ulmer Stuttgart 2003; Michael BORGOLTE, Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250. 11 Karten (HGE 3), Verlag Eugen Ulmer Stuttgart 2002; Michael NORTH, Europa expandiert 1250–1500. 15 Karten, 5 Abbildungen, 8 Stammtafeln, 4 Tabellen, 2 Grafiken (HGE 4), Verlag Eugen Ulmer Stuttgart 2007; Günter VOGLER, Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1650. 19 Karten (HGE 5), Verlag Eugen Ulmer Stuttgart 2003; Heinz DUCHHARDT, Europa am Vorabend der Moderne 1650–1800. 16 Karten, 3 Tabellen (HGE 6), Verlag Eugen Ulmer Stuttgart 2003; Wolfgang VON HIPPEL / Bernhard STIER, Europa zwischen Reform und Revolution 1800–1850. 13 Karten, 4 Abbildungen, 8 Tabellen (HGE 7), Verlag Eugen Ulmer Stuttgart 2012; Jörg FISCH, Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850–1914. 19 Karten, 2 Grafiken, 18 Tabellen (HGE 8), Verlag Eugen Ulmer Stuttgart 2002; Walther L. BERNECKER, Europa zwischen den Weltkriegen 1914–1945. 17 Karten, 6 Tabellen (HGE 9), Verlag Eugen Ulmer Stuttgart 2002.
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zu Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa in ‚westlichen‘ Sprachen stark verbessert. Mit diesen Feststellungen sollen allerdings keine Argumente gegen das HGE eingeführt werden, bevor es überhaupt richtig vorgestellt worden ist, es können sich nicht einmal grundsätzliche Einwände dahinter verstecken, denn es handelt sich um Umstände, die jedes Handbuch immer so oder so betreffen. Sie berühren letztlich die Handhabung und sollten Studierenden, für die die UTB-Reihen ganz besonders konzipiert sind, verdeutlicht werden. Eine Einordnung des HGE in die vergleichsweise vielfältige Landschaft an deutschsprachigen Handbüchern zur Geschichte Europas führt zu dem Schluss, dass es im Grunde das von Theodor Schieder 1968 bis 1987 herausgegebene siebenbändige Handbuch (Band 7 in zwei Halbbänden) der europäischen Geschichte ersetzt2. Eine zunächst formale Ähnlichkeit besteht darin, dass jeder Band des HGE mit einem Überblickskapitel zum „Charakter der Epoche“, das heißt mit einer europäischen Perspektive beginnt. Das zweite Großkapitel enthält in der Regel Länderdarstellungen, soweit die jeweilige Epoche das sinnvoll erscheinen lässt. Länderdarstellungen sind auch ein Strukturprinzip des Schiederschen Handbuchs, bilden dort aber das Hauptinteresse, während in Blickles HGE in weiteren Kapiteln breite Aspekte europaübergreifend behandelt werden: Verfassung und Recht, Politik und internationale Beziehungen, Gesellschaft und Wirtschaft, Kultur und Religion. Den Abschluss bilden je ein Kapitel zur Forschungsentwicklung, eine ausführliche Bibliographie, eine Zeittafel, ein Kartenverzeichnis, ein Orts-, Personenund Sachregister sowie ein Autorenregister. Ausführliche Inhaltsverzeichnisse sowie Abkürzungsverzeichnisse stehen jeweils am Anfang, dazu außer dem sehr kurzen Standardvorwort des Gesamtherausgebers Blickle persönliche Vorworte der Autoren. Innerhalb dieses Schemas erweisen sich freilich nicht unerhebliche Eigensinnigkeiten der Autoren. Im Vergleich zum Schiederschen Handbuch wurde die allgemeine europäische Perspektive gestärkt, das HGE setzt zeitlich viel früher ein, die Länderdarstellungen stammen jeweils vom selben Autor oder Autorenpaar (Band 7). Gerade darin lag eine ganz besondere Herausforderung des HGE, die den Autoren eine Herkulesaufgabe zumutete. Damit dokumentiert des HGE zugleich auf sehr eindrückliche und eindrucksvolle Weise, was es heutzutage eigentlich heißt, „europäische Geschichte“ zu schreiben. Das von allen Autoren trotz der sympathischen Eigensinnigkeiten respektierte Grundkonzept gibt dem HGE eine darstellerische Geschlossenheit, die keine der alternativen Handbücher oder Reihen zur europäischen Geschichte 2 Vgl. zu diesem und anderen weiter unten genannten Handbüchern und Reihen zur europäischen Geschichte meine Literaturberichte in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht: Geschichte Europas, in GWU 55 (2004), S. 454–470, S. 625–636, S. 697–707; in GWU 60 (2009), S. 517–530, S. 594–603, S. 660–683, S. 660–683 sowie GWU 61 (2010), S. 58–75.
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aufweist. Die im Beck-Verlag erschienene Reihe „Europa bauen“ wollte ebenso wenig wie die im Fischer-Taschenbuchverlag publizierte europäische Geschichte ein geschlossenes Konzept umsetzen3; die Themenbände beider Reihen bleiben eine willkommene thematisch orientierte Vertiefung vieler der auch im HGE angerissenen Aspekte. Das Schiedersche Handbuch ist sicher nicht obsolet, viele der Beiträge dort behalten ihren Wert, gerade auch die zum Ende der Erscheinungsperiode von zwei Jahrzehnten hin geradezu monographischen Europaüberblicke sind unverändert lesenswert. Wie jemand ein Handbuch benutzt, kann man niemandem vorschreiben. Die modulartige Systematik des HGE erlaubt es, einerseits die Einzelbände, die als Epochenbände konzipiert sind, als Monographie unabhängig von den anderen zu lesen. In diesem Fall rentiert es sich, dass die Autoren jeweils ihre Bedenken gegenüber der Aufgabenstellung formulieren und die vorgegebene Epoche auf ihre Sinnhaftigkeit hin diskutieren. Dass die Autoren mit ihren Epochen unterschiedlich ‚glücklich‘ waren, versteht sich von selbst, wird im HGE aber in produktive Diskurse gelenkt. Andererseits kann man sich sehr gut epochenübergreifende ‚Pakete‘ zusammenstellen: Es ist sehr lehrreich, alle ersten Kapitel zum „Charakter der Epoche“ nacheinander zu lesen oder sich aus den Länderteilkapiteln epochenübergreifende Darstellungen der russischen, französischen, spanischen Geschichte etc. zusammenzustellen. Oder man konzentriert sich auf eine epochenübergreifende Lektüre von Recht und Verfassung. Und so fort. Dass es sich bei den Autoren um durchweg ausgewiesene und bestens geeignete Historiker handelt, versteht sich zwar von selbst, aber dies soll auch nicht unerwähnt bleiben, trägt dieser Umstand doch entscheidend zur Nützlichkeit, sprich Einsetzbarkeit des HGE bei. Diese steht und fällt ja mit der Disziplin der Autoren – und diese war über das übliche Maß hinaus für die Länderdarstellungen gefordert. Im Gegensatz zur nun schon etwas älteren, gleichwohl immer noch interessanten Propyläen Geschichte Europas sind im HGE einseitig westeuropäische Schwerpunktsetzungen überwunden. Byzanz und das Osmanische Reich sind durchgängig integraler Bestandteil der Darstellungen. Ebenso sind Verflechtungen und Vernetzungen mit nichteuropäischen Räumen ständige Themen wie expansive Bestrebungen schon im Mittelalter, und natürlich in der frühen und der späten Neuzeit. Im Detail innerhalb der großen Kapitelüberschriften werden unterschiedliche Ansätze wie Mentalitätsgeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Kultur- und Transfergeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Umweltgeschichte und anderes mehr ausgeführt. Judentum und Islam wird gebührende Aufmerksamkeit zuteil. Europabegriffe und -diskurse werden ausreichend reflektiert.
3
Vgl. Anm. 2.
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Das HGE präsentiert sich mit einer auf den ersten Blick nicht völlig konventionellen Epochengliederung, die auf den zweiten Blick dann aber doch nicht so ungewöhnlich ist. Das Einsetzen um 1000 v. Chr. begründet Schuller mit dem weitgehenden Neuanfang, den die griechische Kultur bedeutet habe. Wenn der Band zum Frühmittelalter mit ca. 1050 endet, denkt man unwillkürlich an das Kirchenschisma. 1650 als Scheidezeit der beiden Frühneuzeitbände verweist auf 1648 – und so fort. Jeder Band hat zudem einen individuellen Titel erhalten. Die Titel der Bände 7, 8 und 9 (1800–1945) sind einheitlich ‚gestylt‘, insoweit sie immer von einem „Europa zwischen…“ handeln: „zwischen Reform und Revolution“, „zwischen Wachstum und Gleichheit“, „zwischen den Weltkriegen“. Die Bände 3, 4 und 5 (1050–1650) setzen Europa als Akteur: „Europa entdeckt seine Vielfalt“, „Europa expandiert“, „Europas Aufbruch in die Neuzeit“. Lediglich Band 2 (500–1050) ist neutral als „Europa im frühen Mittelalter“ tituliert; Band 6 (1650–1800) bemüht im Grunde ein Bild: „Europa am Vorabend der Moderne“, Band 1 (1000 v. Chr. – 500 n.Chr.) klingt sehr programmatisch: „Das Erste Europa“. Die drei (chronologisch) letzten Titel suggerieren ein Hinundhergerissensein, wenn nicht ein Eingezwängtsein (HGE 9), während für die Jahrhunderte von 1050 bis 1650 sozusagen Europa als kraftvoller zielorientierter Akteur suggeriert wird. Im Vergleich dazu suggerieren die Titel für 500–1050 sowie für 1650 bis 1800 ein wenig die Idee des Wartesaals (was allerdings beide Autoren so nicht meinen), zunächst vor dem Entdecken, Expandieren, Aufbrechen, dann vor dem dreifachen Hinundhergerissensein. Das Erste Europa entspricht durchaus den Erwartungen an die ‚Rolle der Antike‘ für das ‚Werden‘ Europas. Die Reflexion über die gewählten Buchtitel ist insofern aufschlussreich, als alle Bände eigentlich von der Analyse zum Teil erheblicher dynamischer Wandlungsprozesse ausgehen, die sich mit den Epochenschnitten nicht gut vertragen. Darin liegt gerade der Vorzug der Darstellungen, dass keiner der Autoren sich zu sehr auf Epochensignaturen einlässt, obwohl die Mehrheit der Buchtitel genau diesen Eindruck erweckt. Zugegebenermaßen wäre es langweilig, einfach nur Jahre als Buchtitel zu wählen, andererseits verführt die Epocheneinteilung zur Formulierung von Epochensignaturen. Epochen sind nun einmal – heute – eher ein didaktisches Mittel denn Ausdruck von Wesenheiten, was ihr ursprünglicher Sinn seit dem 17. Jahrhundert gewesen war. Wolfgang Schuller konzentriert sich im ersten Band auf Griechenland und Rom. Die von ihm zu behandelnden 1500 Jahre (1000 v. Chr. bis 500 n.Chr.) „umfassen naturgemäß eine besonders große Fülle historischer Phänomene. Sie beginnen mit der Entstehung der griechischen Zivilisation beinahe aus dem Nichts, sie sehen den zunächst unbemerkt bleibenden Aufstieg einer weiteren, der römischen, sie verfolgen das Überlappen beider bis zum militä-
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risch-politischen Sieg der römischen, sie sehen die Vereinigung beider in einem das gesamte Mittelmeer umspannenden Reich, und sie enden mit dem Aufsteigen ganz neuer Mächte, vor allem des Islam, und der völlig veränderten Weiterexistenz eines bedeutenden Rests dieser Alten Welt in Gestalt des Byzantinischen Reiches. Dass diese Welt als Einheit dargestellt wird, liegt vornehmlich natürlich an ihr selbst, die eine Einheit tatsächlich war, aber auch daran, dass spätere Zeiten sie als Einheit gesehen haben […]. Der Einschnitt zwischen ihr und der Folgezeit ist nämlich tief und stark, die Kontinuitätslinien sind – mit Ausnahme des beide verbindenden Christentums – über die nicht zu Unrecht abermals so genannten Dunklen Jahrhunderte hinweg schwach, so schwach, dass die spätere europäische Geschichte tatsächlich als Neuanfang anzusehen ist […]“ (S. 18). Die griechische und römische Antike stellt nicht einfach die erste Phase einer Geschichte Europas dar, sondern sie bedeutet „eine erste Verkörperung dessen […], was später Europa genannt wurde“ (S. 18). Schuller hebt und führt aus die Bedeutung der Antikenrezeptionen bis in die Gegenwart für die Bewertung der Epoche als Teil der Geschichte Europas. Im Anschlussband hebt Hans-Werner Goetz allerdings Wandel und Transformation als Kennzeichen der von ihm zu behandelnden fünf Jahrhundert (500 bis 1050) hervor. Zur Epoche bemerkt er: Die Epoche des frühen Mittelalters, wie es gern geschieht, als „archaisch“ zu bezeichnen, würde sie als primitive Frühform einer späteren Entwicklung charakterisieren und ihren eigenständigen Charakter, der in diesem Band im Mittelpunkt stehen soll, verdecken. Aus solchen Gründen wurde dem Band auch nicht einer jener ebenso gängigen wie griffigen Buchtitel verliehen, die den „Startcharakter“ des frühen Mittelalters betonen, wie „Die Gestaltung des Abendlandes“ (C. Dawson), „Die Formierung Europas“ (J. Fried), „Grundlagen und Anfänge“ (F. Prinz) oder gar „Der Weg in die Geschichte“ (J. Fried). Der Gegenstand des Bandes ist nicht „Europa im Wandel von der Antike zum Mittelalter“, sondern die abendländisch-christlich-katholische Welt im frühen Mittelalter (S. 21).
Mit den beiden ersten Bänden ist somit klargestellt, dass von ca. 1000 vor bis ca. 1000 nach Christus nur mit den Augen der Nachwelt von einer „europäischen“ Geschichte gesprochen werden kann, die sich die Nachwelt freilich für ihre diversen Europavorstellungen zunutze machte. Auch Michael Borgolte (Band 3, 1050–1250) beginnt zurückhaltend: „Europa“ war im hohen Mittelalter kein Ort der Sehnsucht und des Schmerzes, nicht einmal ein Raum der Erfahrung, und nur wenige Zeitgenossen machten sich von ihm überhaupt eine Vorstellung. [(S. 11) …] Wo man nur die Anschauung des Besonderen, aber keinen Begriff des Ganzen hatte, konnte Europa im hohen Mittelalter natürlich nicht „gemacht“, also geplant und absichtsvoll geformt werden; allenfalls konnten aus kleinen größere Lebenskreise entstehen, die sich womöglich mit anderen überschnitten und so die Zusammenhänge weiter ausdehnten, in denen der
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Daran kann Michael North (Band 4, 1250–1500) anschließen: Jede Zeit konstruiert ihre eigene – auch ihre eigene europäische – Geschichte. Entsprechend wird die Geschichte Europas seit einigen Jahren oftmals als ein langer Einigungsprozess geschrieben. Der Historiker sollte sich dieser Teleologie seiner Perspektive bewusst sein, wenn er nach historischen Zeugnissen für die Beschäftigung mit Europa sucht. Vor diesem Hintergrund erscheint die dem Band zugrundeliegende Epoche seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert als eine Zeit der zunehmenden Wahrnehmung Europas und seiner Abgrenzung nach außen, auch wenn der damals geführte Europadiskurs nicht dauerhaft intensiv und wirkmächtig blieb. Dass aber bereits im 12. und vor allem seit dem 13. Jahrhundert sowohl bei der politischen Entwicklung Europas als auch in der Wirtschaft neue grundlegende Prozesse wahrnehmbar werden, ist in der Geschichtswissenschaft unstrittig. Die Geschichte Europas lebt seit dieser Zeit von einem Spannungsverhältnis zwischen dominierender Vielfalt und zahlreichen Gemeinsamkeiten (S. 13).
Das blieb auch in der Folgezeit so, aber Günter Vogler kann für seine Epoche (1500–1650) von einem stärker entwickelten Europadiskurs ausgehen, in dessen Rahmen eine europäische Einheit suggerierende Visualisierungen bereits eine größere Rolle spielen. Dennoch: „War Europa in der frühen Neuzeit eine Realität, eine Idee oder ein Mythos? Alle Beobachtungen verfestigen den Eindruck, dass die „Grundlegung“ oder das „Werden“ Europas, von dem für die Zeit des Mittelalters immer wieder die Rede ist [Anm. W.S.: genau das stellen die Autoren der Vorgängerbände des HGE im Gegensatz zu anderen Publikationen anderer Autoren in Frage], in der frühen Neuzeit nicht kontinuierlich in Richtung einer Vereinheitlichung fortgesetzt oder gar intensiviert wurde. Dominant wurde die Regionalisierung. Zwar bildete Europa einen historisch-geographischen Raum mit vergleichbaren politisch-gesellschaftlichen Strukturen, aber seine Signaturen waren der Staatenpluralismus und die ökonomische, konfessionelle und kulturelle Differenzierung. Das Einheitliche wurde nur in der Vielfalt reflektiert. Die Gewichte neigten sich zugunsten des Pluralismus, so dass die „Mannigfaltigkeit stärker als die Einheit“ war“ (S. 37).
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Heinz Duchhardt diskutiert im zweiten Frühneuzeit-Band (1650–1800) die Frage, inwieweit ein einziger die Epoche korrekt bezeichnender Begriff möglich ist und kommt insgesamt zu einem negativen Ergebnis. Daraus erklärt sich die „freilich auch weniger scharfe, weniger griffige und die Unübersichtlichkeit nur bedingt vermindernde Variante des ,Vorabends der Moderne‘ beziehungsweise der ,Vormoderne‘“ (S. 22). Die Frühneuzeit insgesamt habe den Charakter einer Übergangsepoche, in der Entwicklungen mit einer langen Laufzeit zu einem Ende kommen, Institutionen mit einer weit zurückreichenden Geschichte sich umformen, neu formieren oder absterben, Verhaltensmuster und Mentalitäten sich wandeln und Neuem Platz machen (S. 14).
Zweifellos steht am Ende des Zeitraums eine strukturelle Europäisierung von bis dahin nicht möglichem Ausmaß. Diese Europäisierung kann als Voraussetzung für die in den Bänden 7 bis 9 behandelte Zeit von 1800 bis 1945 gelten, und zwar in der Hinsicht, dass sich zutreffender als in Bezug auf frühere Jahrhunderte jeweils zwei Pole bezeichnen lassen, innerhalb derer sich europäische Geschichte entwickelt: Reform und Revolution (Wolfgang von Hippel und Bernhard Stier); Wachstum und Gleichheit (Jörg Fisch); schließlich stärker ereignisgeschichtlich akzentuiert das Europa von einem Weltkrieg zum nächsten (Walther L. Bernecker). Es fällt auf, dass im letzten Band „Religion“ nicht mehr in einer Teilkapitelüberschrift aufscheint und dass ihr Platz auch in den beiden Vorgängerbänden deutlich zusammengeschmolzen ist. Dies steht in einem gewissen Widerspruch zum Aufschwung der historischen Religionsforschung der letzten Jahre, die gerade auch das 19. Jahrhundert wieder stärker in den Blick bekommen hat. Der Platz des HGE in Bezug auf die vorhandenen und zum Teil älteren Handbücher zur Geschichte Europas wurde schon skizziert. Weitere, nochmals anders konzipierte mehrbändige Darstellungen erscheinen derzeit noch (Europa bauen, Beck), andere wie aus den Siedler- und KohlhammerVerlagen stehen zur Verfügung. Der interessanteste Vergleich ergibt sich jedoch mit „Europäische Geschichte online“ (EGO)4 am Leibniz Institut für Europäische Geschichte in Mainz, da hier dezidiert transnationale, transferund austauschgeschichtliche, vernetzungs-und verflechtungsgeschichtliche Ansätze gewählt sind. In dieser Beziehung hat aber auch das HGE schon einiges zu bieten. Dennoch stehen die beiden Werke nicht in Konkurrenz zueinander. Der monographische Charakter aller neun Teilbände des HGE unterstreicht die individuelle interpretatorische Leistung, derer es bedarf, um europäische Geschichte zu begreifen. Die Festlegung von Epochen hat einen didaktischen Vorteil und ermöglicht es dem Leser, die Bände im Licht verbreiteter epo4
http://www.ieg-ego.eu/.
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chenorientierter Stereotypen über Europas Werden und Geschichte zu lesen und zu einem eigenen Urteil zu gelangen. Wir haben es folglich nicht ausschließlich mit einem „Handbuch“ zu tun, das man zur Hand nimmt, um sich zu diesem oder jenen Problem sachkundig zu machen, sondern es steht die Einladung, jeden Band auch als Monographie, die für sich stehen kann, anzunehmen und ganz zu lesen.
Tabellarischer Überblick Band Autor Zeit Titel Publikationsjahr Kap. 1
HGE 1 Schuller, Wolfgang 1000 v. Chr. – 500 n. Chr. Das Erste Europa 2004 Charakter der Epoche
Kap. 2
Länder
Kap. 3
Verfassung und Recht/ Politik und Beziehungen zwischen den Staaten/ Gesellschaft und Wirtschaft/Kultur und Religion
HGE 2 Goetz, HansWerner 500–1050
HGE 3 Borgolte, Michael
Europa im frühen Mittelalter 2003
Europa entdeckt seine Vielfalt
Das frühe Mittelalter als Epoche: Kennzeichen und Entwicklungen Die politische Entwicklung in den einzelnen Reichen
Europa im hohen Mittelalter: Ereignisketten und historische Räume
Charakter der Epoche
Europa – ein Kontinent der Vielfalt. Charakteristik der Epoche
Die europäischen Monarchien: Eine Erfolgsgeschichte mit Widersprüchen
Geschichte der europäischen Staaten 12501500
Strukturgeschichte des frühen Mittelalters (Verfassung, Recht und Politik/ Gesellschaft und Wirtschaft/Kirche und Religion/ Kultur, Alltag, Mentalität)
Europa im Aufstieg – Europa im Wandel? Einheiten und Differenzen
Entwicklungstendenzen von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur (Religion wird unter 3.4. mit Kultur behandelt)
Geschichte der europäischen Staaten vom Ende des 15.bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts Entwicklungstendenzen von Staat und Gesellschaft (Staat, Verfassung, Politik/ Wirtschaftsleben/Entdeckung, Eroberung, „Europäisierung“/Gesellsch aftliche Strukturen/Reformation sbewegungen und Gesellschaftskonflikte/ Geistigkulturelle Tendenzen
1050–1250
2002
HGE 4 North, Michael
HGE 5 Vogler, Günter
1250–1500
1500–1650
Europa expandiert
Europas Aufbruch in die Neuzeit 2003
2007
Schmale, UTB-Handbuch der Geschichte Europas Kap. 4
Kap. 5 Abweichung Bibliographie Zeittafel
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Forschung, Forschungsstand und Forschungsperspektiven Schlusswort
Forschungskontroversen, -methoden, -perspektiven und -probleme = Bibliographie
Forschungsprobleme
Forschungsprobleme
Forschungsstand, Kontroversen, Perspektiven
= Zeittafel
= Bibliographie
= Bibliographie
317–359 Inhalte aus verschiedenen Sachgebieten, einspaltig
368–440 Dreispaltig: Politische Geschichte/ Kirchengeschichte/ Kulturgeschichte
397–432 Inhalte aus verschiedenen Sachgebieten, einspaltig
391–451 Vierspaltig: Politische Geschichte/ Kirchengeschichte/ Kulturgeschichte/Wirtschaftsge schichte
425–485 Inhalte aus verschiedenen Sachgebieten, einspaltig
HGE 6
HGE 7
HGE 8
HGE 9
Duchhardt, Heinz 1650–1800 Europa am Vorabend der Moderne 2003
Hippel, Wolfgang von/Stier, Bernhard 1800–1850 Europa zwischen Reform und Revolution 2012
Fisch, Jörg
Bernecker, Walther L.
1850–1914 Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 2002
1014–1945 Europa zwischen den Weltkriegen
Charakter und Einheit der Epoche Die Strukturen der Epoche: Institutionen, Akteure, bewegende Kräfte (Verfassung: Fürsten, Höfe, Verwaltung/ Die Beziehungen zwischen den Staaten: Krieg, Frieden, Völkerrecht/ Gesellschaft und Wirtschaft/ Kultur und Religion) Die „nationalen“ Entwicklungen
Charakter der Epoche
Der Charakter der Epoche
Die europäische Staatenwelt – Vielfalt des Kontinents
Die souveränen Staaten
Charakter der Epoche: Europa zwischen den Weltkriegen Nationalstaatliche Entwicklungen
Gesamteuropäische Aspekte (Bevölkerungsentwicklung/ Wirtschaftswelten/ Gesellschaftsaufbau, soziale Mobilität, gesellschaftlicher Wandel/Staat und Politik/ Politische Ideen, Strömungen und Bewegungen/ Religion und Kultur)
Die Lebensbereiche (Wirtschaft und Gesellschaft/Staat und Politik/ Religion und Kultur/Die europäische Staatenwelt zwischen Weltherrschaft und Selbstzerstörung
Band Autor Zeit Titel Publikationsjahr Kap. 1 Kap. 2
Kap. 3
2002
Der Zweite Weltkrieg
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Kap. 4
Forschungsstand
Die Epoche in der Forschung
Die Epoche in der Forschung
Kap. 5
= Bibliographie
= Bibliographie
= Bibliographie
Abweichung
Inhaltliche Abfolge: Kap.2 behandelt Stoff von sonst Kap. 3, Kap. 3 den Stoff von sonst Kap.2 394–429 Inhalte aus verschiedenen Sachgebieten, einspaltig
Statt Kapitel gibt es Teile
Bibliographie Zeittafel
478–510 Inhalte aus verschiedenen Sachgebieten, einspaltig
410–455 Inhalte aus verschiedenen Sachgebieten, einspaltig, z.T. datumsgenau
Strukturprobleme der Zwischenkriegszeit (Wirtschaft und Gesellschaft/Internationale Beziehungen/ Verfassungen und Recht Kultur und Kunst: Avantgarde, Vermassung, Propaganda) Forschungsstand, Forschungskontroversen und Forschungsperspektiven Kap. 6 = Bibliographie; eigenes Kapitel zum 2. WK
481–541 Inhalte aus verschiedenen Sachgebieten, einspaltig, z.T. datumsgenau
Autorenverzeichnis Professor Dr. Rafael FERNÁNDEZ SIRVENT, Universitat d’Alacant, Dpto. Humanitats Contemporànies, Ap. de Correus, 99 03080 Alacant, Spanien Professor Dr. Emilio LA PARRA, Universitat d’Alacant, Dpto. Humanitats Contemporànies, Ap. de Correus, 99 03080 Alacant, Spanien Dr. Sebastian LIEBOLD, Technische Universität Chemnitz, Philosophische Fakultät, Thüringer Weg 9, 09126 Chemnitz Professor Dr. Ute PLANERT, Bergische Universität Wuppertal, Fachbereich A – Geschichte, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal Professor Dr. Uwe PUSCHNER, Freie Universität Berlin, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstr. 20, 14195 Berlin Professor Dr. Wolfgang SCHMALE, Universität Wien, Institut für Geschichte, Dr. Karl-Lueger-Ring 1, 1014 Wien, Österreich Dr. Denis SDVIŽKOV, Deutsches Historisches Institut Moskau, Nachimovskij Prospekt 51/21, 117418 Moskau, Russland Associate Professor Dr. Rolf Harald STENSLAND, Nordland University, Department of History, 8049 Bodø, Norwegen